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German Pages 247 [248] Year 2002
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Wolfgang Braungart, Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel
Hubert Zapf
Literatur als kulturelle Ökologie Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Bibliografïsche Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografïsche Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-22063-5
ISSN 0344-6735
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz: Linsen mit Spektrum, Kirchentellinsfurt Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhaltsverzeichnis
I.
Theoretischer Teil
1. Allgemeine Vorbemerkungen 1.1 1.2 1.3
Fragestellung und Zielsetzung Exkurs zu Shakespeares The Tempest Subversion des Kultur/Natur-Gegensatzes Literarische Ökologie, Romantik und Modernisierung
3 3 8 10
2. Zum Begriff der Ökologie im kulturwissenschaftlichen Zusammenhang
21
3. Aspekte und Positionen der Literary Ecology
27
3.1
Politisch-ideologischer Aspekt: Pragmatische vs. Deep Ecology 3.2 Kulturanthropologischer Aspekt: Naturentfremdung und Biophilie-Hypothese 3.3 Ethischer Aspekt: Vom ego- zum eco-consciousness, vom Macht- zum Kooperationsmodell 3.4 Philosophisch-epistemologischer Aspekt: Vom linearen zum nichtlinearen Denken 3.5 Ästhetischer Aspekt: Analogien zwischen ökologischen und ästhetischen Prozessen 4. Literatur als kulturelle Ökologie 4.1 4.2
Literatur als kulturelle Ökologie im Kontext anderer Theorieansätze Triadisches Funktionsmodell: Literatur als kulturkritischer Metadiskurs, imaginativer Gegendiskurs und reintegrativer Interdiskurs
27 31 36 41 46 53 55
63
II. Interpretationsteil 1. Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter als Illustration des Grundmusters: Die subversive Selbsterneuerung der Kultur aus dem kulturell Ausgegrenzten
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VI
Inhaltsverzeichnis
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Das puritanische System und sein Anderes: Biophobie im prisonhouse of culture Der scarlet letter als Medium des imaginativen Gegendiskurses Reintegrativer Interdiskurs zwischen Katastrophe und Katharsis Kultur und Natur: Die Koppelung von Waldszene und Predigttext als Parabel literarischer Kreativität Fiktionale Geschichtsrekonstruktion und kulturelles Gegenwartssystem 1.5.1 Implizite Bezüge auf das kulturelle Gegenwartssystem 1.5.2 Explizite Bezüge auf das kulturelle Gegenwartssystem: „The Custom-House"
2. Herman Melville, Moby-Dick: Anthropozentrischer Machtanspruch und die unverfügbare Interrelation alles Lebendigen 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Die Krise des zivilisatorischen Realitätssystems Der Weiße Wal als Signifikant des Unverfügbaren und Inkarnation des imaginativen Gegendiskurses Rekonfigurationen der Kultur-Natur-Beziehung Das Schweigen des Wals als kreatives Prinzip und mythographischer Subtext des Romans Pips Wahnsinn und Ishmaels Seelenverwandtschaft Queequeg und die Kraft der Regeneration aus dem kulturell Anderen Ishmaels Überleben der Katastrophe und die symbolische Selbsterneuerung der Kultur
3. Mark Twain, The Adventures of Huckleberry Finn: Die Selbstemeuerung der Zivilisation aus dem Rückgang auf die vorzivilisatorische Natur 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Revitalisierung der Schriftkultur durch mündliches story-telling Dekonstruktion des zivilisatorischen Realitätssystems Viktorianische Todeskultur und symbolische Wiedergeburt in der Natur Huck, Jim und der Mississippi: Überwindung kultureller Trennungen aus der Evidenz geteilter Erfahrungsprozesse . . Performative Ästhetik: Huck als Trickster-Figur, story-telling als Überlebenskunst Jenseits des Individualismus: Individuality-in-context
73 75 77 80 83 85 89
93 93 96 100 105 106 108 110
113 113 115 118 119 123 127
Inhaltsverzeichnis
4. Kate Chopin, The Awakening: Dionysische Kunst als Vermittlungsmedium zwischen kulturellem Rollensystem und elementarem Lebensprinzip 4.1 4.2 4.3
4.4
4.5
Defizite des zivilisatorischen Realitätssystems als Ausgangspunkt des imaginativen Gegendiskurses Ambivalenz der Kreolenkultur zwischen Traditionalität und selbstbewusster Körperlichkeit Reflexiver versus relationaler Aspekt von Ednas „Awakening": Zwischen dem Individualismus der New Woman und der Sehnsucht nach dem Aufgehen im Anderen Die Romanze zwischen Edna und Robert: Turbulenzen menschlicher Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur Dionysische Kunst und unendliche Lebensmelodie: Tod und symbolische Wiedergeburt
5. Toni Morrison, Beloved: Fiktionale Geschichtsverarbeitung zwischen historischem Trauma und biophiler Regeneration 5.1 5.2 5.3
5.4 5.5 5.6
Geschichte und Fiktion Die Repräsentation der Sklaverei als traumatisierendes Realitätssystem und das death-in-life-Motiv Rememory und imaginativer Gegendiskurs: Die Aufarbeitung des Traumas und die Revitalisierung paralysierter Lebensenergien Die Figur von Beloved als Personifikation des imaginativen Gegendiskurses Die Verselbständigung des Imaginären und seine Reintegration mit der kulturellen Realwelt Die kulturökologische Dimension des Romans
6. Don DeLillo, Underworld: Literarische Ökologie zwischen zeitgeschichtlicher Müllverarbeitung und intermedialem Hypertext 6.1 6.2 6.3
6.4
Der Roman als symbolische Unterweltreise Baseball und Atombombe: Das System des Kalten Kriegs und das death-in-life-Μούν Zwischen gelebter Realität und globalisiertem Cyberspace: Transformationen des kulturellen Systems nach dem Kalten Krieg Klara Sax und der imaginative Gegendiskurs der Kunst: Vom waste land zur waste art
VII
131 134 139
141
144 149
155 158 160
163 168 173 177
181 184 188
195 199
Vili 6.5
Inhaltsverzeichnis
Traumatisierung und symbolische Wiedergeburt: Nick Shay und der reintegrative Interdiskurs des Romans . .
205
Bibliographie I. II.
Register
Theoretischer Teil Interpretationsteil 1. Bibliographie zu Nathaniel Hawthorne: The Scarlet Letter 2. Bibliographie zu Herman Melville: Moby-Dick 3. Bibliographie zu Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn 4. Bibliographie zu Kate Chopin: The Awakening 5. Bibliographie zu Toni Morrison: Beloved 6. Bibliographie zu Don DeLillo: Underworld
213 218 218 222 225 226 229 233 235
I. Theoretischer Teil
1. Allgemeine Vorbemerkungen
1.1 Fragestellung und Zielsetzung Dieses Buch ist der Versuch, eine spezifische Dimension imaginativer Literatur in ihrer Beziehung zur Kultur auf der Grundlage eines ökologisch definierten Funktionsmodells literarischer Texte herauszuarbeiten und an Beispielen des amerikanischen Romans zu demonstrieren. Es geht dabei nicht oder nicht in erster Linie um eine inhaltliche Untersuchung der Literatur auf Themen wie Naturentfremdung, Umweltkrise, Verhältnis von Mensch und nichtmenschlichen Lebensformen. Es geht vielmehr um Analogien zwischen ökologischen Prozessen und den spezifischen Strukturen und kulturellen Wirkungsweisen der literarischen Imagination. Es ist die These dieses Buchs, dass Literatur sich in Analogie zu einem ökologischen Prinzip oder einer ökologischen Kraft innerhalb des größeren Systems ihrer Kultur verhält. Gezeigt werden soll, dass Literatur im Haushalt der Kultur, in deren Kontext sie entsteht und auf die sie reagiert, Funktionen übernimmt und in eine symbolisch-kommunikative Gestalt bringt, die mit einem solchen kulturökologischen Ansatz in wichtigen Zügen beschreibbar sind. Diese Funktionen sind je nach Epoche, Autor, Gattung und anderen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen durchaus unterschiedlicher Art, zeigen aber durchgängig eine doppelte Sinnrichtung. Zum einen erscheint Literatur als Sensorium und symbolische Ausgleichsinstanz für kulturelle Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte, als kritische Bilanzierung dessen, was durch dominante geschichtliche Machtstrukturen, Diskurssysteme und Lebensformen an den Rand gedrängt, vernachlässigt, ausgegrenzt oder unterdrückt wird, was aber für eine angemessen komplexe Bestimmung konkret erfahrener menschlicher Realität innerhalb dieser Systeme und Entwicklungen von unabweisbarer Bedeutung ist. Zum anderen wird Literatur, gerade in der Artikulation des kulturell Verdrängten und in der Freisetzung von Vielfalt, Mehrdeutigkeit und dynamischer Interrelation aus der Dogmatik erstarrter Weltbilder und diskursiver Eindeutigkeitsansprüche, zum Ort einer beständigen, kreativen Erneuerung von Sprache, Wahrnehmung und kultureller Imagination. Die zusätzliche Bestimmung als .kulturelle' Ökologie soll dabei besagen, dass die Intentionalität und kritischkreative Energie der Literatur als ökologischer Kraft sich auf die Kultur und nicht weg von ihr richtet, dass sie sich zuallererst auf die kulturellen Systeme, Kategorien, Bewusstseins- und Kommunikationsformen bezieht, in denen wir
4
I. Theoretischer Teil
leben und von denen aus wir unsere Existenz interpretieren, auf Kultur also verstanden als „collectively structured meaning", wie sie in den Zeichenstrukturen einer Gesellschaft kodiert ist.1 Gleichzeitig ist es eine zentrale Implikation jedes wie auch immer gearteten ökologischen Ansatzes, dass Kultur, Bewusstsein und Zeichensysteme niemals in einer völlig selbstbezüglichen, autonomen Sphäre existieren, sondern noch in ihren abstraktesten Ausprägungen an ihre Ausgangsbedingungen in elementaren Lebensprozessen zurückgebunden bleiben. In diesem Sinn wirkt Literatur als ökologische Kraft innerhalb der Kultur in der Tat darauf hin, die Basisdifferenz der Kultur/Natur-Beziehung auf eine Weise neu zu bestimmen, dass deren essentialistisch-hierarchische Entgegensetzung, in der die Arroganz zivilisatorischer Macht, aber auch idyllische Gegenphantasien einer heilen Naturwelt wurzeln, durch ein Bewusstsein ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Interdependenz ersetzt wird. Wenn hier Kategorien aus dem Diskurs der Ökologie zur Klärung von kulturellen Funktionen der Literatur herangezogen werden, so geht es keineswegs darum, eine einfache Konvergenz oder Übertragbarkeit dieser unterschiedlichen Diskurse aufeinander zu postulieren. Wohl aber geht es darum, bestimmte Analogien herauszustellen, die helfen, die kulturelle Bedeutung, ja vitale Notwendigkeit imaginativer Literatur aus einer interdisziplinären Perspektive deutlicher hervortreten zu lassen. Dies gilt gerade im Hinblick auf den Modernisierungsprozess, der durch seine rasante ökonomisch-technologische Erfolgsgeschichte zugleich objektive und subjektive Krisenphänomene mit sich brachte, auf die sowohl die Ökologie wie die Literatur in je unterschiedlicher, aber dennoch ähnlich (über-)lebenswichtiger Weise reagieren. Bezieht sich der ökologische Diskurs ganz überwiegend auf die .äußere' Natur, ihre Eigengesetze und das prekäre Verhältnis des Menschen bzw. der menschlichen Zivilisation zu ihr, so bezieht sich der literarische Diskurs zunächst einmal überwiegend auf die ,innere' Natur des Menschen und auf seine Lebensbedingungen innerhalb der Kultur selbst, wobei allerdings, wie sich zeigen wird, zugleich das Verhältnis zur außermenschlichen Natur als physisches, psychisches, moralisches und ästhetisches Phänomen eine unhintergehbare Rolle spielt. Gibt es also zwar Affinitäten zwischen den beiden Diskursen, so sind sie aber nicht aufeinander reduzierbar, sondern in ihren unterschiedlichen Formen des Problemzugangs und der textuellen Verarbeitung von Realität grundlegend anders definiert und in jeweils anderer Weise kulturell relevant. Die Relevanz des ökologischen Diskurses besteht in seinem unmittelbaren Beitrag zur Erkenntnis und angestrebten Lösung objektiver Probleme der natürlichen und gesellschaftlich-ökonomischen Handlungswelt und
1
Zitiert als der allgemeinste und am breitesten akzeptierte, von Niklas Luhmann formulierte Kulturbegriff bei Siegfried J. Schmidt, Autonomie und soziale Orientierung: Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt: Suhrkamp, 1994: 203.
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
5
zu den dafür erforderlichen Veränderungen des kollektiven Wissens- und Wertesystems. Die Relevanz des literarischen Diskurses hingegen besteht eher indirekt in der symbolischen Repräsentation und imaginativen Bewältigung psychologischer und anthropologischer Krisenerfahrungen innerhalb einer auf hochgradig ambivalente Weise sich modernisierenden Kulturwelt. In der Bestimmung dieser spezifischen kulturellen Funktionen der Literatur kommt paradoxerweise gerade dem entpragmatisierten, scheinbar zweckfreien Raum des ,Ästhetischen' eine besondere Bedeutung zu. Die Suche nach Analogien zwischen Literatur und Ökologie führt nämlich zu dem überraschenden Befund, dass zentrale Kategorien der literarischen Ästhetik, wie sie sich in einer langen Reflexionsgeschichte herausgebildet haben, gerade in diesem interdisziplinären Licht neue Aktualität gewinnen. Das Ästhetische wird zwar nicht mehr in metaphysischer Autonomie im Sinn eines Gegensatzes von Werk und Leben, Imagination und Wirklichkeit gesehen. Wohl aber stellt es eine pragmatischen Alltagszwängen enthobene, meta diskursive Eigensphäre dar, die in ihrer Differenz und Konkurrenz zu anderen kulturellen Diskursformen dergestalt bestimmt ist, dass sie als symbolisch verdichtete Inszenierungs- und Steigerungsform lebensanaloger Prozesse innerhalb der Gesamtheit der kulturellen Diskurse aufgefasst werden kann. Der hier vorgeschlagene Ansatz knüpft an die seit längerer Zeit intensiv geführte kulturtheoretische Diskussion innerhalb der Literaturwissenschaften an. Er will Perspektiven zu einer produktiven Neuformulierung der Beziehung von Literatur und Kultur aufzeigen, die bei dieser Diskussion im Mittelpunkt steht, aber oft nicht zureichend geklärt wird. Kennzeichnend für viele kulturwissenschaftliche Zugänge, wie sie in den letzten Jahrzehnten insbesondere die angloamerikanischen Literaturstudien beherrscht haben, ist die weitgehende Einebnung des Unterschieds zwischen Text und Kontext, literarischen und nichtliterarischen Diskursen. Auch wenn unbestritten ist, dass von Ansätzen wie Poststrukturalismus und New Historicism, Gender Studies und postkolonialer Literaturkritik sowie den zum umbrella term gewordenen Cultural Studies wichtige innovative Impulse ausgegangen sind, ist doch dabei die spezifische Differenz der Literatur, ihre durch die Fiktionalisierung von Erfahrung und die Ästhetisierung sprachlicher Weltbezüge bedingte Eigendynamik als komplexes Reflexions-, Repräsentations- und Kommunikationsmedium kultureller Prozesse teilweise zu sehr aus dem Blick geraten. Wurde vor der Wende zur historischkulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der literarische Text als rein autonomes, selbstreferentielles Sprachgebilde behandelt und von seiner historischsozialen Umwelt isoliert, so wird er inzwischen vielfach in bruchloser Kontinuität mit anderen Diskursen und Artefakten der Kultur gesehen. Demgegenüber kommt es in der gegenwärtigen Situation darauf an, das charakteristische, die Eigenart, Leistungsfähigkeit und Produktivität der Literatur erst bedingende Spannungsverhältnis zwischen dem Text und seinem kulturellen Kontext wieder neu ins Auge zu fassen. Es gilt, die vielfältigen Wechselwirkungen zwi-
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1. Theoretischer
Teil
sehen den symbolischen Alternativwelten der Fiktion und den vorherrschenden Diskurssystemen der Kultur zu erforschen, auf die sie eine Antwort darstellen, zwischen der .entpragmatisierten' Eigendynamik imaginativer Texte und den Imperativen der geschichtlich-gesellschaftlichen Handlungswelt, die sich weder aufeinander reduzieren noch gegeneinander isolieren lassen. ,Ökologisch' kann diese Beziehung der Literatur zur Kultur genannt werden, weil Literatur das, was kulturell getrennt, pragmatisch instrumentalisiert und diskursiv vereindeutigt wird - etwa durch Politik, Wirtschaft, Recht, Moral, Ideologie, Wissenschaft - , wieder in einen lebendigen Zusammenhang untereinander und mit dem bringt, was ausgegrenzt oder marginalisiert wird, was aber zugleich für die Vitalität und Selbsterneuerungskraft der Kultur von entscheidender Bedeutung ist. Wenn Hauptmerkmale der Literatur als der symbolischen Repräsentation kultureller Erfahrung mit Begriffen wie .Vielfalt', ,Mehrdimensionalität', ,Prozesshaftigkeit', ,Konkretheit', ,Komplexität' oder ,holistisches Denken' umschrieben sind, so werden damit Aspekte benannt, die insbesondere für ein ökologisches Denk- und Beschreibungsmodell natürlicher und kultureller Phänomene charakteristisch sind. Literatur erfüllt so im Haushalt der Kultur die Aufgabe, eindeutige Welt- und Selbstbilder zu subvertieren und auf das von ihnen ausgeblendete Andere zu öffnen; eindimensionale Realitätskonstrukte in mehrdimensionale Bedeutungsprozesse zu überführen; das von dominanten kulturellen Diskursen Ausgegrenzte zu artikulieren und in seiner ganzen Vielgestaltigkeit der symbolischen Erfahrung zugänglich zu machen, d.h. für die Erneuerung kultureller Kreativität zu aktivieren. Das „first Law of Ecology" ist nach Barry Commoner „[that] everything is connected to everything else"; 2 in den Worten von Hans Peter Dürr sind komplexe ökologische Strukturen definiert als „verfilzte Strukturen", in denen „alles mit allem zusammenhängt" und in denen „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile".3 Analog dazu stellen literarische Texte eine Diskursform dar, die, anders als die die Phänomene trennenden und methodisch isolierenden (Natur-)Wissenschaften, und anders als die Eindeutigkeit anstrebenden Diskurse der politisch-moralischen Handlungswelt, solche Strukturen bevorzugt zum Ausdruck bringen und in besonderer Intensität die Reintegration und Rückkopplungsbeziehung der geschiedenen Elemente inszenieren kann. Literarische Texte ähneln in dieser Sicht metaphorischen Ökosystemen, in denen ideologische und lebenspraktische Vereinseitigungen und Grenzziehungen aufgehoben und voneinander abgespaltene Realitätsbereiche in konkret-ereignishaften Erfahrungsprozessen neu zusammengeführt werden,
2
3
Zit. in William Rueckert, „Literature and Ecology. An Experiment in Ecocriticism", in The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology, eds. Cheryll Glotfelty and Harold Fromm, Athens GA: U of Georgia P, 1996: 105-111, 108. Hans Peter Dürr, Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils, Freiburg: Herder, 1995: 102.
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
1
um so gegen institutionelle Systemzwänge den vitalen Wirkungszusammenhang des kulturell Getrennten wiederherzustellen. 4 Die Funktion der Literatur als kultureller Ökologie ist also sowohl die einer Erkenntnis wie einer Erfahrung einer Erkenntnis der Blindstellen und deformierenden Einseitigkeiten hegemonialer Macht- und Diskurssysteme; und einer explorativen und regenerativen Erfahrung für ihre Leser, die durch die sprachliche Aktivierung des kulturell Verdrängten, durch die Wiederherstellung von Komplexität und durch deren imaginativen Nachvollzug im Akt des Lesens selbst am Prozess der Erneuerung kultureller Kreativität Anteil nehmen, den die Literatur betreibt. Dieser kulturökologische Bilanzierungs- und Revitalisierungsimpuls der Literatur geht mindestens bis in die frühe Neuzeit, ja in bestimmten Aspekten bis in die Antike zurück. Aus ihrem doppelten, j e historisch situierten und zugleich anthropologisch motivierten Antrieb heraus hat sie das Verhältnis der jeweiligen Kulturwelt zu den Bedürfnissen und Gegebenheiten der menschlichen und außermenschlichen .Natur' in immer neuen symbolischen Szenarien beleuchtet und ausgehandelt. Seit jeher hat die Literatur die Grenzen des Rationalitätsglaubens aufgedeckt, der die Entwicklung der abendländischen Geschichte wesentlich mitgeprägt hat, indem sie die vorrationalen Anteile nicht nur am Bewusstsein und Verhalten der Menschen, sondern an einem verabsolutierten Vernunftprinzip selbst deutlich machte. Sie hat den Erkenntnisoptimismus der Wissenschaft und den Machbarkeitsglauben der Technologie von Anfang an kritisch beleuchtet und den zivilisatorischen Willen zur Macht über die Natur mit Erfahrungen der Unverfügbarkeit der Welt, des Selbst, des Lebens und des Schicksals konfrontiert. Sie hat den Traum unbegrenzter individueller Selbstverwirklichung in eindrucksvollen Bildern inszeniert, aber zugleich seine moderne Übersteigerung und seine Grenzen an den Realitäten des Nicht-Ich vorgeführt. Sie hat das lineare Fortschrittsmodell des neuzeitlichen Geschichtsbilds in Frage gestellt und es durch Elemente der Nichtlinearität, der zyklischen Wiederkehr, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen relativiert. Sie hat dem kulturellen und moralischen Überlegenheitsanspruch der westlichen Zivilisation gegenüber anderen Kulturen, von deren Ideologie sie unvermeidlich mitgetragen war, immer wieder auch
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Zur Idee des Textes als Ökosystem vgl. z.B. Jonathan Bate, „The ,Ode to Autumn' as Ecosystem", in The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism, ed. Laurence Coupe, London: Routledge, 2000: 256-61. Wie Dürr, 1995, ausführt, gibt es solche Kraftfelder auch auf dem Gebiet der Mikrophysik, wo die Wechselwirkungen zwischen den Phänomenen allerdings gegenüber den vorherrschenden, methodischisolierenden Zugängen eher verdeckt bleiben. Erst durch die moderne Quantenphysik rücken sie verstärkt in den Blick, die den Wellen-Charakter der Materie gegenüber der traditionelleren Auffassung ihres Partikel-Charakters betont und damit einen festen, objektiv fixierten Realitätsbegriff auflöst. Wirklichkeit wird von bloßer Faktualität zu einem Feld der Potentialität und Fluidität, wird nicht als starres Sein, sondern als ständiges Werden aufgefasst. (114ff.)
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/. Theoretischer Teil
entgegengewirkt, indem sie die Andersartigkeit fremder Kulturen als Element der Bereicherung, und deren naturbewusstere Lebens- und Ausdrucksformen als Quelle eigener künstlerischer Selbsterneuerung zu aktivieren suchte. 1.2 Exkurs zu Shakespeares The Tempest: Subversion des Kultur/Natur-Gegensatzes Nun gilt das eben Gesagte, so wird man einwenden, zweifellos nicht generell für alle literarischen Texte. Vielmehr ist ein geläufiger Vorwurf gegenwärtiger Literaturkritik, insbesondere derjenigen neuhistorischer und postkolonialer Provenienz, dass die Literatur selbst maßgeblich an der Formulierung einer eurozentrischen Ideologie mit ihrer repressiv-sublimierenden Ausgrenzung von Natur, Körper, Eros und kulturellem Anderen beteiligt war. Nehmen wir als prominentes Beispiel Shakespeares Drama The Tempest, das 1611 im Zeitalter der Entdeckungen und der Kolonialisierung entstand und das nach der einflussreichen These von Leo Marx eine symbolische Reaktion auf den sich herausbildenden Diskurs der Neuen Welt und damit einen Urtext der ,amerikanischen' pastoralen Tradition darstellt. Prósperos Insel, so die neuhistorisch-postkoloniale Lesart, ist zwar als naturnahe Gegenwelt der Humanität zur zivilisatorischen Realwelt des Unrechts, der Intrigen und egozentrischen Interessen konstruiert. Doch bleibt darin, zumal im Machtkampf zwischen Prósperos, weißer' Magie und der ,schwarzen' Magie Calibans bzw. seiner Mutter Sykorax, die kulturtypische Ideologie einer prinzipiellen Überlegenheit des Geistes über die Natur, des Intellekts über den Körper, der männlichen über die weibliche Sphäre, der westlichen über .primitive' Kulturen konnotiert. Die partielle Berechtigung solcher Lesarten soll hier nicht bestritten werden. Sie verweisen auf den Sachverhalt, dass Literatur untrennbar in die „circulation of cultural energy" (Stephen Greenblatt) ihrer Zeit und Kulturwelt verstrickt ist und daher auch in verschiedenster Weise deren vorherrschende Denkmuster und Wertvorstellungen mittransportiert. Etwas anderes aber ist es, wenn Literatur zum bloßen, ästhetisch verbrämten Recycling kultureller Ideologien herabgestuft wird. Denn dadurch wird verkannt, dass in künstlerisch ernstzunehmenden Werken jede eindeutige ideologische Lektüre fehlgehen muss, da die Stabilität der binären Denk- und Wertmuster, die in die fiktionale Welt einfließen, fortwährend dementiert und in einen Prozess der Bedeutungsöffnung und des ständigen Aufeinanderbeziehens der im Text sich ausspielenden gegensätzlichen Energien einbezogen wird. Dies kann bereits ein auch nur halbwegs genauerer Blick auf The Tempest zeigen. Denn zum einen ist der Geltungsanspruch der von Prospero errichteten Vernunftherrschaft nicht ungebrochen, sondern wird durch diktatorische Züge und unverkennbare Machtmotive seines Verhaltens nicht nur gegenüber Caliban, sondern auch gegenüber seiner Tochter Miranda fundamental in Frage gestellt. Umgekehrt wird die von Caliban personifizierte Realität des Körperlichen, Na-
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
9
turnahen, Präzivilisatorischen - die imaginierte Realität der Neuen Welt also, die der Europäer durch Kolonisierung seiner Kontrolle unterwerfen will - keineswegs nur durch Dämonisierung oder durch Komik entwertet; sie gewinnt vielmehr den Charakter einer stets präsenten, stets subversiven Gegenenergie zu der von Prospero errichteten kulturellen Macht- und Wertehierarchie. Im chaotischen Übergangsfeld von archaischer und modemer Welt, diffuser Begierde und sprachlicher Ordnung, Rausch und Bewusstsein, Anarchie und Disziplin lebend, nimmt die Figur Calibans Züge des Grotesken und ,Karnevalesken' (Bachtin) an und sprengt damit den Dualismus von Geist vs. Körper, Kultur vs. Natur, den Prospero und Miranda ihm gegenüber ideologisch aufrechterhalten: „What ho! Slave! Caliban! Thou earth, thou! Speak!" (I, 2). Das .Monströse' an Calibans Figur besteht nicht zuletzt darin, dass er Geist und Materie, den Menschen und seine naturhafte Lebensgrundlage als einen nie ganz kontrollierbaren Wirkungszusammenhang in sich vereint. Gerade das Groteske im Sinne Bachtins ist eine Gestaltungsweise, die eine besondere Nähe zu einem ökologischen Prinzip hat: „Originating in pictorial transgressions between the plant, animal and human realms, the grotesque is particularly suited for conveying man's kinship with all forms of life." 5 Aber auch die Figur Ariels, des Luftgeistes der Insel, der die verschiedenen Handlungsstränge des Stücks in verwirrend-entwirrender Weise aufeinander bezieht, ist zwar einerseits Medium der geistig-zivilisatorischen Macht Prósperos, die dieser aus seinen Büchern gewonnen hat. Doch personifiziert sie zugleich eine Kraft der elementaren Natur und ihrer infiniten Interrelation, die sich nach ihrer zeitweisen Dienstbarkeit für den Menschen am Ende wieder dessen Kontrolle entzieht. Die spannungsreiche Verbindung von Ideenwelt und sinnlicher Welt, die Ariel stiftet, wird möglich durch das Wirken der Musik, mit dem er assoziiert ist, d.h. durch die künstlerische Imagination selbst, die durch seine Figur ständig im Drama präsent ist.6 Auch und besonders Caliban hat an dieser Anteil, und seine besondere Nähe zu dem das Stück prägenden ästhetischen Prinzip wird durch den Umstand unterstrichen, dass gerade er, der scheinbar ganz einer vorbewussten Sinnenwelt verhaftete Vertreter des kulturellen Anderen, in der Lage ist, die Sphärenmusik zu hören. Die Musik, insbesondere die Sphärenmusik, galt in der Renaissance als Entsprechung einer kosmischen Har-
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Dieter Meindl, „Between Eliot and Atwood: Faulkner As Ecologist", in Faulkner, His Contemporaries, and His Posterity, ed. Waldemar Zacharasiewicz, Tübingen: Francke, 1993: 292-306. - In einer ironischen Metapher aus Margaret Atwoods Roman Surfacing gesprochen, fehlt Caliban, dessen polymorphes Aussehen auch mit einem Fisch verglichen wird, gleichsam der Hals - der Teil also der menschlichen Anatomie, der nach Atwood die Illusion des Getrenntseins des Kopfs vom Leib erzeugt und so die verhängnisvolle Geist-Körper-Dichotomie mitbefördert habe. Zur Rolle der Musik in The Tempest vgl. Leo Marx, The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America. New York: Oxford UP, 1964: 58ff.
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I. Theoretischer
Teil
m o n i e , 7 und s o ist die N ä h e Calibans zu d i e s e r H a r m o n i e z u g l e i c h eine kritische R e v i s i o n der vorherrschenden Fremd- und Selbstbilder der Zeit, die i m D r a m a verarbeitet werden. D e r D i s k u r s d e s kulturellen A n d e r e n , der sich i m E n g l a n d der R e n a i s s a n c e i m Z u s a m m e n h a n g mit d e m D i s k u r s der N e u e n Welt herausbildet, wird v o n S h a k e s p e a r e in einer W e i s e literarisch repräsentiert, dass s e i n e B l i n d s t e l l e n und Einseitigkeiten a u f g e d e c k t und auf das kulturelle Selbstbild zurückreflektiert w e r d e n , d e s s e n Produkt sie sind. W e d e r die u t o p i s c h e Idealisierung der N e u e n Welt und ihrer U r e i n w o h n e r i m D i s k u r s d e s noble n o c h ihre D ä m o n i s i e r u n g in Gestalt des satanic
savage,
savage
w i e s i e in d e m mit .Kan-
n i b a l i s m u s ' assoziierten Caliban a u f g e r u f e n wird, e r w e i s e n sich als tragfähig. 8 I d e o l o g i s c h e O p p o s i t i o n e n w e r d e n z w a r repräsentiert, aber z u g l e i c h unters c h w e l l i g a u f g e l ö s t und auf e i n e übergreifende, holistisch-subversive S i c h t w e i s e g e ö f f n e t , aus der das kulturell Getrennte und E n t g e g e n g e s e t z t e in seiner v i e l gestaltigen D i f f e r e n z und Interdependenz entfaltet wird. 9 1.3
Literarische Ökologie, Romantik und Modernisierung
W i e dieser kurze B l i c k auf das B e i s p i e l v o n The Tempest
bereits andeutet - auf
d e s s e n s e m a n t i s c h e und ästhetische V i e l s c h i c h t i g k e i t hier nicht annähernd ein-
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Vgl. Irene Naef, Die Lieder in Shakespeares Komödien. Gehalt und Funktion, Bern: Francke, 1976: 305. Vgl. auch meinen Aufsatz ,„To Sing and Speak in Many Sorts of Music': Musik und kommunikatives Handeln in Shakespeares Twelfth Night", Poetica, 22, 1-2, 1990: 21-45. Ein wichtiger Einfluß auf Shakespeare war hier offenbar Montaignes Essay I, 30, „Of the Canniballes". Wie Verena Olejniczak Lobsien zeigt, lässt Montaigne ebenfalls das kulturelle Andere in seiner Unverfügbarkeit bestehen, indem er die verfügbaren Kategorien des Sprechens Uber das Fremde kritisch auf diese selbst zurückspiegelt und weder die zivilisatorische Verachtung der ,Wilden' noch andererseits ihre „naive Assimilation als Edle Wilde" gelten lässt. Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur, München: Fink, 1999: 232ff., 235. In diesem Sinn sind die zahlreichen Neuinterpretationen, die The Tempest sowohl in der Literatur wie in der Literaturkritik aus postkolonialer Perspektive erfahren hat, nicht allein in Opposition zum Drama zu sehen, sondern als explizite Ausfaltung eines Rezeptionspotentials, das in diesem bereits als dessen semiotischer Subdiskurs implizit angelegt ist. Vgl. etwa Paula Willocet-Maricondi, „Aimé Césaire'sA Tempest and Peter Greenaway's Prospero's Books as Ecological Rereadings and Rewritings of Shakespeare's The Tempest", in Reading the Earth. New Directions in the Study of Literature and the Environment, Moscow, Idaho: U. of Idaho P, 1998: 209-33; oder, im Kontext der Diskussion von Literatur- und Kulturwissenschaften, Barbara Körte, „Kulturwissenschaft in der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Marina Warners Roman Indigo", Anglia, 114, 3, 1996, thematisches Heft Literaturwissenschaft und/ oder Kulturwissenschaft·. 425-45. „Die meisten Tempest-Rezeptionen der letzten Jahrzehnte - in Literatur, Theater oder Film - akzentuieren eine Textdimension des Shakespeare-Originals, der auch die Lesarten des Stücks durch den new historicism und cultural materialism sowie die postcolonial theory besondere Beachtung schenken: das Verwobensein von Shakespeares Drama in den Diskurs (und Gegendiskurs) des Kolonialismus im frühen 17. Jahrhundert." (431)
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
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gegangen werden kann - , lässt sich die spezifische kulturelle Bedeutung und Wirkungsweise der Literatur nicht adäquat erfassen, wenn ihre diskursive Eigenständigkeit ignoriert und sie auf die Reproduktion kultureller Ideologien oder auf eine allgemeine Textualität unter dem nebulösen Dogma einer .equality of all discourses' nivelliert wird. Eine Theorie der Literatur als kultureller Ökologie setzt sich von einer solchen vordergründig-politischen Funktionalisierung der Literatur ab und besteht auf der Notwendigkeit, gerade aus der genetischen Differenz und der historisch herausdifferenzierten Spezifik literarischer Formen und Funktionsweisen deren besondere und durch keine anderen Diskursformen in dieser Weise zu erfüllende kulturelle Relevanz zu bestimmen. Umrisse dieser Funktionsweise der Literatur als kultureller Ökologie ließen sich schon an The Tempest, einem Beispiel aus der Frühzeit der Moderne, erkennen. Wie schon gesagt, lässt sie sich in einem ganz allgemeinen Sinn auf alle Stufen der kultur- und literaturgeschichtlichen Entwicklung zurückverfolgen. Zwei der einflussreichsten Theorien der Literatur, die eine maßgeblich für die klassische Tradition, die andere maßgeblich für die literarische Moderne, haben das dynamische Spannungs- und Austauschverhältnis der Literatur zur Kultur in den Mittelpunkt gestellt und die vitale, kulturerneuernde Funktion der Literatur gerade in ihrer ästhetischen Transformation von Sprache, Erfahrung und Bewusstsein gesehen. Schon Aristoteles' Modell des Tragischen impliziert in seinem anthropologisch fundierten, rezeptionsorientierten Mimesiskonzept nicht nur eine kognitive, sondern eine kathartisch-therapeutische Ausgleichsfunktion der Literatur für kulturelle Spannungen und Krisen. Und stärker noch weist Nietzsches moderne Neubestimmung des Tragischen als Revitalisierung der durch apollinische Ordnung und sokratische Rationalität paralysierten dionysischen Lebensenergien der Kunst eine zentrale, zivilisationserneuernde Bedeutung zu. Das Kunstwerk ist sowohl ergon als auch energeia, ein exemplarischer Ausdruck des Prozesses von Werden und Vergehen, von Ordnung und Chaos, der das Leben selbst ist. 10 Darüber hinaus bildeten sich in der literaturgeschichtlichen Evolution bestimmte Gattungen heraus, die einer ökologischen Fragestellung im engeren Sinn verwandt waren. Die Traditionen der Bukolik, der Pastorale und der Idylle etwa können als Genres gesehen werden, die in ihren fiktionalen Kontrastwelten die Einheit des durch künstliche Zivilisationswelten entfremdeten Menschen mit dem natürlichen Lebenskreislauf symbolisch wiederherstellen." Auch die Gat-
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Zum Kunstverständnis Nietzsches vgl. Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen und Basel: Francke, 1993. Vgl. Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Hgg. Hans Ulrich Seeber und Paul Gerhard Klussmann, Bonn: Bouvier, 1986. - Wolfgang Iser hat in seinem Entwurf einer literarischen Anthropologie die Gattung der Bukolik als paradigmatisch für die Strukturen und Funktionsweisen der literarischen Fiktion überhaupt herausgestellt - ohne dabei allerdings auf die möglichen ökologi-
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I. Theoretischer
Teil
tungen des Grotesken und Komischen wurden von Kritikern, aufgrund ihrer transindividuellen, körpernahen und überlebensbezogenen Voraussetzungen, in die Nähe eines ökologischen Denkens gerückt.12 Insbesondere die unterschiedlichen Formen eines poetischen nature writing können als Ausprägung eines kulturökologischen Impulses gesehen werden, wie ihn etwa John Eider am Beispiel der amerikanischen Naturdichtung in folgender Weise umschreibt: „America's poetry of nature arises from the fever of cultural dividedness - man against nature, past against present, intellect against the senses - but discovers grounds for reconciliation in the inextricable wholeness of the world."13 Ist also die Funktion kultureller Ökologie in je unterschiedlichen Ausprägungen zwar generell ein Potential imaginativer Literatur, so gewinnt sie mit dem Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung insbesondere seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert besondere Bedeutung und Brisanz. Denn mit dem in England einsetzenden Prozess der fortschreitenden Industrialisierung, Urbanisierung, Technisierung, Kommerzialisierung, Akzelerierung und Mediatisierung der menschlichen Lebensverhältnisse, der im Lauf des 19. Jahrhundert auf andere Länder übergriff und insbesondere in den USA explosionsartig sich beschleunigte, wurden frühere Kernbereiche menschlicher Selbsterfahrung und Selbstdefinition immer mehr aus dem Zentrum der geschichtlichen Entwicklung und der sie tragenden Diskurse gedrängt und in die symbolischen Ausdruckswelten der Künste und der Literatur ausverlagert - insbesondere der im eigentlichen Sinn ,ökologische' Bereich der Natur und konkreten Lebensumwelt des Menschen, der Landschaft, der außerzivilisatorischen Wildnis, aber auch fundamentale menschliche Gegebenheiten und Grundbedürfnisse wie
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sehen Implikationen dieser pastoralen Gegenwelten zur soziopolitischen Realwelt einzugehen. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt: Suhrkamp, 1991. Vgl. Joseph Meeker, The Comedy of Survival: Studies in Literary Ecology, New York: Scribner's, 1972. - Bei Bachtin ist diese Koppelung des Grotesken und des Naturhaften vor allem über den Körper vermittelt, der im grotesk-karnevalesken Modus aus den Grenzen seiner zivilisatorischen Kontrolle und Domestizierung ausbricht und die isolierte Individualität auf das Kollektiv hin öffnet. „Mit diesem Aufgehen im kollektiven Körper des Volkes [wird] der groteske Körper zu einem unverbrüchlichen Teil des Kosmos mit seinen natürlichen Zyklen von Geburt und Tod." Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1995: 368ff; paraphrasiert bei Till R. Kuhnle, „Der Ekel auf der hohen See. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen im Ausgang von Nietzsche", Archiv für Begriffsgeschichte 16, 1999: 162-262, 216. John Elder, Imagining the Earth. Poetry and the Vision of Nature, U. of Illinois P, Urbana und Chicago, 1985: 1. - Im Hinblick auf die neueren englischsprachigen Literaturen hat neuerdings Norbert Platz einen ökokritischen Zugang gefordert: „Greening the New Literatures in English: A Plea for Ecocriticism", in Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings, eds. Bernhard Reitz and Sigrid Rieuwerts, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2000: 313-26.
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
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Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Emotion oder Imagination. Hans Ulrich Seeber hat dieses „funktionale Komplementärverhältnis" am Beispiel der Idylle aufgezeigt, die unter dem Druck der Industrialisierung und der daraus entstandenen „Komplexitätserfahrung ein ständig erneuertes Bedürfnis nach Natur" befriedigt und die auf die imaginative Wiederherstellung von „Einfachheit, Natürlichkeit und Überschaubarkeit" ausgerichtet ist.14 Idylle etwa und Pastorale sind Gattungen, die utopisch eingefärbte Szenarien einer Versöhnung von Mensch und Umwelt, Kultur und Natur entwerfen, wie sie im realhistorischen Prozess zunehmend infragegestellt wird. Selbst im Fall von Pastorale und Idylle aber, so ist sogleich hinzuzufügen, ist dies nur scheinbar ungebrochen der Fall, da im Versuch der literarischen Konstruktion einer idealen Kontrastwelt zur problembelasteten Zivilisation die Bedingungen der Moderne unterschwellig präsent bleiben.15 Die ökologische Wirkungsweise der Literatur innerhalb der Gesamtheit kultureller Diskurse, wie sie hier ins Auge gefasst wird, ist keineswegs die einer Vereinfachung und Harmonisierung, sondern gerade des Herausbringens konfliktorischer Kräfte und der Rekonstruktion und sprachlich-symbolischen Repräsentation von Komplexität. Denn Komplexität ist eine Grundgegebenheit der natürlichen, psychischen, kognitiven und sprachlichen Prozesse, in denen Kultur und menschliches Bewusstsein sich vollziehen. Es ist eine wesentliche Erkenntnis der modernen Ökologie, dass auch die Prozesse der Natur keineswegs durch Einfachheit, sondern durch irreduzible Vielgestaltigkeit und Komplexität gekennzeichnet sind. Sie stehen damit den Strukturen menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Bewusstseins nicht als objektive, rein äußerliche Kausalvorgänge gegenüber, sondern stehen zu ihnen in einem vielfältig rückgekoppelten Korrespondenzverhältnis. Insbesondere die Funktionsweise des menschlichen Gehirns, des evolutionär herausgebildeten Organisationszentrums der Selbsterhaltung des menschlichen Organismus, ist durch außerordentliche Komplexität gekennzeichnet, die sich aus der ständigen Interaktionsbeziehung zwischen Mensch und Umwelt ergibt.16 Und es ist gerade die fortwährende Reduktion dieser Komplexität zugunsten politischer, ideologischer oder kommerzieller Zwecke, die, zumal in der medialen Massenkommunikation, zur klischeehaften Verarmung und Stereotypisierung von Diskursen führt und der die Literatur
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Seeber, 1986: 7-8. William Empson spricht vom „pastoral process" als einem Verfahren „[of] putting the complex into the simple." Some Versions of Pastoral, Norfolk: New Directions Books, 1973: 23. Vgl. dazu Karl Kroeber, Ecological Literary Criticism. Romantic Imagining and the Biology of Mind, New York: Columbia UP, New York, 1994: „The brain, to use Edelman's comparison, is smaller but more complex than a jungle. The individuality of every human being, therefore, is most apparent, and most importantly manifested, in its brain functionings. The unique complexity of the brain, in fact, gives it the power of developing consciousness." (145)
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I. Theoretischer
Teil
entgegenarbeitet. Erst die bewusste Ausgestaltung von Komplexität, d.h. die Wiederherstellung unterdrückter Vielfalt und Interrelation, entlastet vom Druck der ungelösten Problemstrukturen, die durch eindimensionale Formen des Diskurses ständig fortgezeugt werden.17 Das Verhältnis von Literatur und Modernisierung ist also keineswegs als das einer bloßen Opposition zu sehen, sondern zutiefst ambivalent und interdependent. Denn einerseits partizipiert Literatur selbst am Prozess der Modernisierung, ja treibt diesen aktiv mit voran. Sind nach Egon Friedell vier Hauptmerkmale des Modernisierungsprozesses Rationalisierung', .Differenzierung', ,Individualisierung' und ,Domestizierung', 18 so ist die Literatur koevolutionär an allen vier beteiligt und vollzieht sie mit - im verstärkten Reflexionscharakter der Texte, in der Ausdifferenzierung von Gattungen und Darstellungstechniken, in der Individualisierung der Figuren und Themenstellungen, und in der verstärkten institutionellen Etablierung und diskursiven Kontexteinbettung ästhetischer Texte. Andererseits wirkt die Literatur gerade auch diesen Tendenzen, soweit sie sich historisch zunehmend verselbständigen, entgegen - durch die radikalisierte Aktivierung affektiver und ,magisch'-prärationaler Sprach- und Motivebenen, durch Gattungsmischung und gattungsiibergreifende Darstellungstechniken, durch kulturelle und intersubjektive Relationierung von Individualität, durch die ständige Selbstüberschreitung etablierter Diskursmuster und Textkonventionen. Die Funktion der Literatur als kultureller Ökologie entwickelt sich also zwar gegenläufig, aber doch auch koevolutionär und komplementär zum allgemeineren Prozess gesellschaftlicher Modernisierung, den Literatur aktiv mitgestaltet, kritisch reflektiert und zugleich imaginativ korrigiert. Es ist kein Zufall, dass die erste, im engeren Sinn ,ökologische' Epoche und Stilrichtung der Literaturgeschichte die der Romantik war, die in England als Reaktion auf die mit der Industrialisierung einhergehenden dramatischen Veränderungen entstand. Denn in der Romantik wurden nicht nur erstmals konsequent die vom historischen Prozess an den Rand gedrängten und krisenhaft problematisierten Daseinsbereiche in den Mittelpunkt gestellt, sondern auch ästhetische Konzepte entwickelt, die teilweise erstaunliche Ähnlichkeiten mit modernen ökologischen Welt- und Denkmodellen aufweisen. Stichworte sind
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch die interessante Beobachtung von Evelyne Keitel, dass die Menschen ein spezifisches, offenbar anthropologisch verankertes Bedürfnis nach komplexen Geschichten haben, die zugleich modellhaft für entsprechende Komplexitätserwartungen gegenüber der eigenen Lebensrealität stehen: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1998: 103f. Egon Friedell, Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, 1927-31, Neuausg. 1960, 3 Bde., zit. bei H.U. Seeber, „The Theory of Modernization and the Writing of English Literary History", in REAL 17, Literary History/Cultural History: Force Fields and Tensions, ed. Herbert Grabes, Tübingen: Narr, 2001: 101-14.
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
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hier vor allem die Ersetzung eines .mechanischen' durch ein .organisches' Denken, das eine spezifische, prozessual-offene Kunstauffassung impliziert, in der, nach Coleridges berühmter Formel der multeity in unity,'9 die Einzelphänomene in ihrer Vielfalt und individuellen Einzigartigkeit herausgestellt und doch zu einer lebendigen Einheit und Ganzheit verbunden werden; die Aufhebung des cartesianischen Geist-Natur-Dualismus und die Annahme einer kultur- und bewusstseinsbestimmenden Wechselbeziehung zwischen Mensch und außermenschlicher Welt; die Aufwertung der Natur vom Objekt menschlichen Handelns und Erkennens zum Subjekt, zum Agens eines vielgestaltigen Lebenszusammenhangs, an dem der Mensch auch noch in der höchsten Ausprägung seines Selbstbewusstseins teilhat und der zur unhintergehbaren Quelle für kulturelle und künstlerische Sinnproduktion wird; die Ablösung eines statischen durch einen dynamisch-prozessualen Realitätsbegriff, in dem sich evolutionäre Vorgänge der Höherentwicklung und der historischen Veränderung mit zyklischen Vorgängen der Rückkehr zum Ursprung und zu elementaren Lebensprozessen verbinden. Kunst wird zum Ort, an dem eine immer neue Balance der pluralen, aus ihrer paralysierenden Vereinseitigung und Oppositionsstellung freigesetzten kulturellen Energien hergestellt wird. Solche Grundvorstellungen der literarischen Romantik haben eine unverkennbare Affinität zu Schlüsselkonzepten der modernen Ökologie. Auch in dieser wird die Singularität und Eigenwertigkeit individueller Einzelphänomene betont, die doch gleichzeitig in komplexer Interrelation mit allen anderen Phänomenen in einem holistisch verstandenen Gesamtzusammenhang des Gegebenen gesehen werden; wird der überlieferte Gegensatz von Geist und Materie, Kultur und Natur überwunden zugunsten ihrer unaufhebbaren Wechselwirkung; werden Vorgänge der Emergenz und Kreativität erst aus ihrer Rückkopplung an vorgängige Lebenszusammenhänge verstehbar; bildet die Annahme des sowohl dynamisch-evolutionären wie zyklisch-selbstreproduzierenden Charakters der ,Realität' eine grundlegende Prämisse. Der einem ökologischen Denken zugrundeliegende Realitätsbegriff ist nicht statisch, sondern als lebendiger Prozess fortwährender Selbsttransformation gefasst. Daraus ergibt sich auch die Funktion literarischer Kunst, der stets drohenden Erstarrung kultureller Denk- und Lebensformen, aber auch der Konventionalisierung ihrer eigenen Ausdrucksformen im Sinn ständiger Selbsterneuerung entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die ersten Studien, die im Umkreis des sich in den letzten Jahren herausbildenden neuen Paradigmas eines Ecocriticism oder einer Literary Ecology entstanden, von der Literatur der Ro-
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Samuel Taylor Coleridge, „On the Principles of Genial Criticism, Essay Third", in Critical Theory Since Plato, ed. Hazard Adams, New York: Hartcourt Brace Jovanovich, 1971: 463.
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I. Theoretischer
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mantik und der von ihr initiierten Tradition des nature writing ausgingen.20 Die Romantik in England, allen voran Wordsworth, aber auch Coleridge, Shelley, Keats, Clare und andere, wurden als Begründer eines ökologischen Bewusstseins in der Literatur betrachtet, dessen Nachwirkungen bis heute unübersehbar sind. Im Bereich der USA ist die Schlüsselfigur hier eindeutig Henry David Thoreau, der in fast allen maßgeblichen Studien zum Thema Literatur und Ökologie eine zentrale Rolle spielt. Thoreaus Schriften, nicht nur sein bekannter, 1854 veröffentlichter Romanessay Waiden, or Life in the Woods über seinen Aufenthalt in einer selbstgebauten Hütte am Walden-See nahe Concord, Massachusetts, erscheinen in ihrer genauen Naturbeobachtung, ihrem Respekt für außermenschliche Lebensformen, und vor allem ihrem Aufspüren der vielfaltigen Korrespondenzbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt, geistiger und materieller Welt als exemplarische Ausprägung einer ökologischen Literatur, die, in den Worten von Lawrence Buell, „the closeness of felt interdependence between literary expression and the natural environment" überzeugend zum Ausdruck bringe.21 Aus der von Thoreau begründeten Traditionslinie eines ökologisch inspirierten amerikanischen nature writing ragen eine Reihe von Autorinnen und Autoren hervor, die nach und neben Thoreau verstärkte Aufmerksamkeit gefunden haben - John Muir, Mary Austin, Aldo Leopold, Joseph Wood Krutch, Rachel Carson, Gary Snyder, Edward Abbey. Dabei haben neben der Naturlyrik vor allem Formen der nichtfiktionalen Natur- und Landschaftsbeschreibung als einer bisher vernachlässigten Gattung der amerikanischen Literatur eine deutliche Aufwertung erfahren.22 Ebenso wurde die enge Beziehung der Native Americans zu ihrer natürlichen Umwelt zum Anlass, ihre Texte als Beispiele einer besonders hochentwickelten ökologischen Sensibilität ins Licht zu rücken.23 Ähnliches gilt für bestimmte Richtungen der Frauenliteratur, die sich vom machtorientierten Individualismus des amerikanischen self-made man als einer kulturellen Leitfigur absetzen und sich stattdessen, wie etwa Ursula LeGuin, auf ein kooperatives, mit Respekt für das,Andere' der Natur und des Lebens ausgestattetes Ethos berufen.24 Darüber hinaus wurde in
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Zu diesem Zusammenhang vgl. auch den Sammelband The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism, ed. Laurence Coupe, London: Routledge, 2000. Im Bereich der deutschsprachigen Literaturwissenschaft vgl. Literatur und Ökologie, Hg. Axel Goodbody, Amsterdam: Rodopi, 1998. Lawrence Buell, The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture, Cambridge, MA: Harvard UP, 1995: 16. Vgl. vor allem Buell, 1995. Dieses ökologische Potential der indianisch-amerikanischen Dichtung wird in aufschlussreicher Weise mit ähnlichen Merkmalen der Dichtung amerikanischer Mainstream-Autoren wie Dickinson, Stevens, Berry und anderen verglichen von Kenneth Lincoln in Sing with the Heart of a Bear. Fusions of Native and American Poetry, 1890-1999, Berkeley: U of California P, 2000. Vgl. Ursula LeGuin, „The Carrier Bag Theory of Fiction", in Glotfelty/ Fromm, 1995: 149-54.
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
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den letzten Jahren aber auch eine wachsende Zahl kanonisierter Autorinnen und Autoren der amerikanischen Literatur aus den verschiedensten Epochen und Gattungen einer solchen Betrachtungsweise unterworfen. Mit dieser gesteigerten Aufmerksamkeit der Literaturkritik für Fragen der Literary Ecology geht vielfach die Auffassung einher, dass ein solcher Ansatz nicht nur unverkennbare Affinitäten zur Epoche und Ästhetik der Romantik besitzt, sondern auch eine besondere Nähe zum amerikanischen Mythos und zu der um ihn sich formierenden Literatur- und Kulturgeschichte der USA. Nach der These von Leo Marx ist die amerikanische Literatur durch die starke Präsenz einer pastoralen Tradition gekennzeichnet, die die Vorstellung einer Versöhnung des Menschen mit der Natur, der Zivilisation mit der Wildnis als durchgängiges Leitmotiv transportierte und die in paradoxer Spannung zu einem kulturbeherrschenden technischen Fortschrittsglauben stand, der die zunehmende Macht über die Natur zum Signum des amerikanischen Experiments machte.25 Wie Uwe Döhn gezeigt hat, hat das Konzept des amerikanischen Traums selbst von Anfang an eine „imperiale", technologisch-expansive und eine „ökologische", naturbewusst-intensive Seite, die im „orphischen" Subdiskurs der Kunst bevorzugt artikuliert werde.26 Sowohl die Pathologien der Zivilisation wie die imaginierten Alternativen finden in der amerikanischen Literatur von Anfang an, insbesondere aber mit dem sich rasant beschleunigenden Modernisierungsprozess seit dem 19. Jahrhundert, symbolischen Ausdruck. Es ist also anzunehmen, dass sich an der Literatur der USA die Merkmale eines kulturökologischen Modells der Texte, wie es hier vorgeschlagen wird, besonders prägnant herausstellen lassen. Ich werde mich allerdings in diesem Buch gerade nicht auf die eher offensichtlichen Beispiele naturbezogenen Schreibens beziehen, wie sie der Ecocriticism bevorzugt behandelt. Ich werde weder auf die reich ausdifferenzierte Geschichte der Naturdichtung in den USA eingehen,27 noch auf die Tradition der nichtfiktionalen environmental imagination, wie sie Buell herausgearbeitet hat, noch auf die moderneren Beispiele einer explizit ökologisch beeinflussten amerikanischen Dichtung bis hin zur zeitgenössischen Ökofiktion. Da es mir hier auf ein allgemeineres, nicht von vornherein an ökologischen Inhalten festgemachtes Funktionsmodell der Literatur innerhalb ihrer Kulturwelt ankommt, werde ich nach einem allgemeinen theoretischen Einleitungsteil aus-
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Marx, 1964. - Zur Ausprägung dieser Spannung in der neueren Literatur vgl. die vorzügliche, von einer Verbindung von Kritischer Theorie und Ökologie inspirierte Studie von Heinz Tschachler, Ökologie und Arkadien. Natur und nordamerikanische Kultur der siebziger Jahre, Europäische Hochschulschriften 223, Frankfurt etc.: Lang, 1990. Uwe Döhn, Die verborgene Utopie: Das ökologische Motiv im amerikanischen Traum, Frankfurt/M.: Nexus, 1983. Vgl. hierzu vor allem Eider, 1985, sowie Englische und amerikanische Naturdichtung im 20. Jahrhundert, Hgg. Günter Ahrends und Hans Ulrich Seeber, Tübingen: Narr, 1985, Teil II.
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I. Theoretischer
Teil
g e w ä h l t e R o m a n e aus v e r s c h i e d e n e n E p o c h e n der amerikanischen Literaturgeschichte behandeln, d i e sich gerade nicht in erster L i n i e mit T h e m e n der Natur, sondern mit kulturellen nis von Kultur
T h e m e n , darunter allerdings g a n z zentral d e m
Verhält-
und Natur, auseinandersetzen. E s sind s e c h s R o m a n e , v o n d e n e n
die ersten drei zu den anerkannten Klassikern der amerikanischen Literatur g e hören, und v o n d e n e n die anderen als Resultat der neueren K a n o n r e v i s i o n b z w . aufgrund ihrer herausragenden Stellung in der z e i t g e n ö s s i s c h e n Literatur e b e n falls zu den b e d e u t e n d s t e n A u s p r ä g u n g e n d e s amerikanischen R o m a n s zu rechnen sind. 2 8 W e n n die A n n a h m e d i e s e s B u c h s zutrifft, n ä m l i c h dass nicht nur kein G e g e n s a t z , sondern ein innerer Z u s a m m e n h a n g besteht z w i s c h e n der künstleris c h e n Energie und der kulturellen R e l e v a n z literarischer Texte, s o sollte s i c h gerade an s o l c h e n R o m a n e n die Funktion der Literatur als kultureller Ö k o l o g i e e x e m p l a r i s c h demonstrieren lassen. 2 9 D i e behandelten Texte sind aus der Zeit der a m e r i k a n i s c h e n R e n a i s s a n c e N a t h a n i e l H a w t h o r n e s The Scarlet ( 1 8 5 0 ) und H e r m a n M e l v i l l e s Moby-Dick m u s Mark T w a i n s Huckleberry
Letter
( 1851), aus d e m Zeitalter d e s R e a l i s -
Finn ( 1 8 8 4 ) , aus der frühen M o d e r n e das erst i m
a u s g e h e n d e n 20. Jahrhundert w i e d e r e n t d e c k t e The Awakening
( 1 8 9 9 ) v o n Kate
C h o p i n , und aus d e m Zeitalter v o n P o s t m o d e r n e und Multikulturalismus Toni M o r r i s o n s Beloved
28
29
30
( 1 9 8 7 ) und D o n D e L i l l o s Underworld
{1997).30
D i e s e Texte
Selbstverständlich hätten auch viele andere Romane als Demonstrationsbeispiele dienen können. Doch es kommt hier nicht auf literaturgeschichtliche Repräsentativität an, sondern auf das exemplarische Herausarbeiten einer kulturellen Funktion der Literatur, die in den ausgewählten Romanen zwar in besonders prägnanter Weise ausgeprägt ist, aber prinzipiell auch an einer Vielzahl anderer imaginativer Texte in je unterschiedlicher Weise aufweisbar wäre. Andererseits ist mir wichtig, dass die hier besprochenen Romane nicht bloßes ,Demonstrationsmateriar für eine deduktiv angewandte These sind, sondern gerade auch als Einzeltexte, in ihrer unverwechselbaren ästhetischen Individualität und in ihrem je spezifischen und eigenständigen Beitrag zur hier aufgeworfenen Fragestellung zur Geltung kommen und damit ihrerseits zu einem wesentlichen Teil der Gesamtaussage dieses Buchs werden. In einem interessanten neueren Beitrag hat Karl Heinz Stierle zu recht den inneren Zusammenhang des Ästhetischen mit dem Werkbegriff herausgestellt und diesen rehabilitiert. Das einzelne Werk, das sich durch seine selbstgesetzten Grenzen konstituiert und als Mittelpunkt einer je eigenen Welt setzt, ist der genuine Entfaltungsraum des Ästhetischen, welches seine explorative Kraft erst dadurch gewinnt, daß es sich innerhalb des Werks in reflexiver Modellhaftigkeit realisiert. Erst in dieser Bindung an das Werk wird das Ästhetische zum Medium von kultureller Erkenntnis und Kreativität; umgekehrt wird das Werk dadurch zum exemplarischen Vollzugsorgan des Ästhetischen und seiner anthropologischen und kulturellen Funktionen. Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München: Fink, 1996. Die hier vorgenommene Begrenzung auf das Genre des Romans bedeutet nicht, dass nicht auch in anderen Gattungen die hier beschriebene Funktionsweise der Literatur aufweisbar wäre. Auch wenn der Roman aufgrund seiner spezifischen „Mehrdimensionalität" (Reinfandt) einen besonders großen Entfaltungsspielraum für die kulturökologische Wirkungsweise der Literatur zu bieten scheint, so wären doch auch im Bereich der Lyrik oder des Dramas entsprechende Studien durchaus reizvoll, gingen
1. Allgemeine
Vorbemerkungen
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lassen brennpunktartig typische Ausprägungsformen der kulturellen Imagination in Amerika nachzeichnen, die einerseits kritisch systembedingte Ideologeme, Erstarrungen und Krisensymptome herausstellen, andererseits aber auch die kreative Erneuerungs- und Regenerationsleistung sichtbar machen, die die Literatur auf immer neue Weise für ihre Kultur, aber auch für das Bewusstsein ihrer Leser erbringt.
aber über den Rahmen dieses Buchs hinaus. Ähnliches gilt im übrigen für das Medium des Films, das zweifellos ebenfalls prinzipiell für eine solche Fragestellung zugänglich wäre.
2. Zum Begriff der Ökologie im kulturwissenschaftlichen Zusammenhang
Ehe wir uns der Frage der Literatur als kultureller Ökologie inhaltlich näher widmen, empfiehlt es sich zu klären, wie in diesem Zusammenhang der Begriff .Ökologie' zu verstehen ist. Damit er nicht zum vagen Allgemeinbegriff wird, muss er bestimmte abgrenzbare und distinktive Begriffsinhalte denotieren. Aber damit er auch auf Gegenstände der Literatur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften anwendbar wird, muss er eine genügend große Breite der Begriffskonnotationen aufweisen, die es erlaubt, ihn aus einem engen, biologisch-naturwissenschaftlichen Bedeutungskontext herauszulösen und in einem so allgemeinen, interdisziplinär offenen Sinn zu definieren, dass er grundsätzlich auf andere Bereiche übertragbar wird. 1 Wenn ein wichtiges Anliegen ökologischen Denkens darin besteht, den überlieferten Gegensatz von Kultur und Natur in Frage zu stellen und stattdessen einen unauflöslichen Zusammenhang beider zu postulieren, so liegt es zweifellos in der Logik eines solchen Ansatzes, auch den Gegensatz von Kultur- und Naturwissenschaften in Frage zu stellen und eine Wiederannäherung der in der Moderne zunehmend voneinander getrennten Disziplinen anzustreben. Dies ist in der Tat auch der Anspruch bei vielen Vertretern des Ecocriticism oder der Literary Ecology, wie er sich seit den 80er und besonders den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Diese vor allem in den USA hervorgetretene Richtung der Literatur- und Kulturkritik tritt explizit in den Dialog mit der modernen Ökologie und wendet sich nachdrücklich der Beziehung der Literatur zur Natur zu, die in den kulturwissenschaftlichen Ansätzen, wie sie sich zuvor unter den Leitbegriffen von race, class und gender etabliert hatten, geradezu systematisch ausgeblendet worden war. Die Beziehung zur Natur zu thematisieren, galt gewissermaßen als politisch fragwürdig und erkenntnistheoretisch naiv im Verständnis der Cultural Studies,
' In diese Richtung zielen explizit die vielversprechenden Bemühungen von Peter Finke zu einer „evolutionären Kulturökologie", die er als neues, interdisziplinäres Forschungsparadigma in den Geistes- und Kulturwissenschaften etablieren will. Weiterführend ist dabei vor allem, dass er die Begriffe und Kategorien der Ökologie aus der Definitionsmacht der Naturwissenschaften löst und der Eigendynamik geistig-kultureller Phänomene gerecht zu werden versucht. Vgl. Peter Finke, „Kulturökologie", erscheint in Handbuch Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen, Methoden, Perspektiven, Hgg. Ansgar und Vera Nünning, Stuttgart: Metzler, 2002.
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I. Theoretischer Teil
die unter dem Eindruck des linguistic turn des Poststrukturalismus jeden vermeintlichen Naturbezug als sprachlich-kulturelles Konstrukt entlarvten, das in Wahrheit der ideologie- und interessengeleiteten Aktivität des Menschen entsprungen und somit auch der Veränderung und dem politischen Handeln zugänglich war. Unterdessen machte aber gleichzeitig der Druck der Interdisziplinarität, der gerade von den Kulturwissenschaften ausging und sie zunehmend auch für Erkenntnisse der Naturwissenschaften öffnete, eine Asymmetrie deutlich, die charakteristische wechselseitige Blindstellen hervortreten ließ. Während die Kulturwissenschaft alles Naturhafte als kulturell bedingt erklärte, tendierte die Naturwissenschaft dazu, alles Kulturelle als letztlich naturhaft determiniert zu betrachten. Gegen diese institutionalisierte Einäugigkeit rückt eine ökologische Literatur- und Kulturbetrachtung nun bewußt den Zusammenhang und die unaufhebbare Wechselbeziehung von Kultur und Natur in den Mittelpunkt. Die kulturwissenschaftlich verordnete Ausgrenzung der Natur wird im Ecocriticism massiv in Frage gestellt und als Ausdruck einer anthropozentrischen Verblendung gedeutet, die nicht nur ein hervorstechendes Merkmal literarischer Texte, nämlich eben die Thematisierung der komplexen Wechselbeziehung von Mensch und Natur, übersieht, sondern auch ganz grundsätzlich die materiellen Bedingungen menschlicher Kultur im Kontext der Biosphäre und der konkreten ökologischen Umwelteinbettung vernachlässigt, durch die Kultur überhaupt erst möglich wird. Die angestrebte Wiederannäherung von Sciences und Humanities sieht sich dabei allerdings auch innerhalb des ökologischen Diskurses beträchtlichen Hindernissen gegenüber. Der Begriff der Ökologie, wie er in der Biologie verwendet wird, unterscheidet sich deutlich von dem, wie ihn manche Kulturwissenschaftler verstehen. Bedeutet Ökologie im einen Sinn die empirische Beschreibung der Interaktion biologischer Organismen mit ihrer Umwelt, so bedeutet sie im anderen Sinn eine Bestandsaufnahme der entfremdeten und neu wiederherzustellenden Beziehung des Menschen zur außermenschlichen Natur. Ist sie in einem Sinn die Lehre von den Prozessen des Überlebens und der Evolution, die sich nicht zuletzt auf Darwins Prinzip der natürlichen Selektion und des survival of the fittest in einem stets prekären Gleichgewicht von Selbsterhaltung und Umweltanpassung beruft, so ist sie im anderen Sinn mit einer politischen, moralischen, psychologischen, emotionalen oder spirituellen Haltung zur Natur verbunden, die mit einer Neubestimmung der Situation des Menschen in der Welt und damit auch seines eigenen Selbstbildes einhergeht. Im einen Fall geht es um die quasi-objektive Untersuchung natürlicher Lebensphänomene unter Ausschaltung des menschlichen Bewusstseins, im anderen Fall gerade um die Art und Weise, in der das Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zu jenen Phänomenen bisher bestimmt wurde und möglicherweise neu zu bestimmen ist. Beide Ansätze sind mithin nicht einfach umstandslos aufeinander übertragbar. Zwar sind, wie immer wieder zu Recht hervorgehoben wird, auch naturwissenschaftliche Zugänge unaufhebbar von den kulturellen Bedingungen
2. Begriff der
Ökologie
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und erkenntnisleitenden Voraussetzungen geprägt, die ihre Untersuchungsziele bestimmen und deren angemessene Reflexion zu einem zeitgemäßen Wissenschaftsverständnis gehört. Und zwar werden andererseits die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Ökologie (wie z.B. Klimaveränderungen, Veränderungen in Flora und Fauna, Erkenntnisse über das Funktionieren von Ökosystemen usw.) Gegenstand kulturwissenschaftlicher Abhandlungen, ja sie gewinnen erst in dieser Perspektive ihre potentielle gesellschaftspolitische Relevanz. Doch so wenig sich die Beschreibungsmodelle natürlicher Umweltprozesse in der bloßen Reproduktion ihrer kulturellen Voraussetzungen erschöpfen, so wenig sind Phänomene der Kultur und des menschlichen Bewusstseins auf ein subjektloses Naturgeschehen reduzierbar. Sie folgen vielmehr ihrer eigenen, vom Denk- und Handlungsvermögen des Menschen, von intersubjektiver Kommunikation und sozialer Interaktion und nicht zuletzt von Techniken kultureller Arbeit und Produktivität wesentlich mitgetragenen und somit gegenüber natürlichen Umweltprozessen in hohem Maße eigenständigen Dynamik. Andererseits ist es gerade eine Grundannahme ökologischen Denkens - eines Denkens also, das sich auf seine eigenen ,Lebensgrundlagen' besinnt - , dass geistige Prozesse nicht völlig unabhängig von natürlichen Prozessen verstehbar sind. Um sie aufeinander beziehbar zu machen, ist mithin eine Vorgehensweise notwendig, die sowohl die Analogien zwischen den Bereichen aufdeckt als auch ihre irreduzible Differenz bewusst hält. Dieser analogisch-metaphorische Charakter der ökologischen Begrifflichkeit im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften wird an Begriffen wie Evolution, Energie, Fließgleichgewicht oder auch Natur selbst deutlich, die in der Anwendung auf Geschichte, Texte und kulturelle Artefakte zunächst einmal nur in einem ,übertragenen', medial vermittelten Sinn vorkommen. 2 Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Parallelen damit gewissermaßen wissenschaftlich entwertet und als inhaltsleere Konstrukte entlarvt wären. Vielmehr liegt in der Herstellung solcher Analogien zwischen den scheinbar heterogenen Bereichen, die zugleich deren Differenz bestehen läßt, ein beträchtliches Erkenntnispotential, wie insbesondere neuere Ansätze zu einem Dialog zwischen einer natur- und einer kulturwissenschaftlichen Ökologie gezeigt haben.3 Das Verhältnis der Menschen zu ihren Begriffen, zu ihrer
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Allerdings weist Peter Finke, 2002, darauf hin, dass Natur und Kultur gerade über den für beide unverzichtbaren Energiebegriff aufeinander bezogen sind, der somit nicht nur metaphorischen, sondern konstitutiven Charakter auch für kulturelle Prozesse gewinnt. Vgl. dazu neben Finke, 2002, Kroebers Studie Ecological Literary Criticism, 1994, in der er in erhellender Weise Verbindungen zwischen Literatur- und Naturwissenschaften unter Einbeziehung der Ergebnisse von Ökologie und Gehirnbiologie herstellt. - Ein Versuch einer Beschreibung literarischer Strategien und literaturtheoretischer Konzepte auf der Grundlage biologischer Erkenntnisse ist Joseph Carroll, Evolution and Literary Theory, Columbia and London: U of Missouri P, 1995. Carrolls Argument richtet sich hauptsächlich gegen die poststrukturalistische Annahme der epistemologisch-linguistischen Selbstreferentialität der Kultur und betont die biologisch-vitale
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I. Theoretischer
Teil
Sprache und ihrer Kultur ist ein Verhältnis zu den sekundären Medien, in denen sie ihre primären Welt- und Lebensbeziige deuten, gestalten, strukturieren und, in vielerlei Hinsicht, auch realitätswirksam verändern. Die Beziehung zur Sprach- und Zeichenwelt der Kultur ist also selbst wesentlicher Teil der Beziehung des Menschen zu seiner ,Umwelt' - zu der selbstgeschaffenen zweiten Umwelt, die ihm die erste Umwelt in bestimmender Weise auslegt und erst zugänglich macht. Im Verhältnis zur Sprache und Kommunikation und zu den darin ausgedrückten und kanalisierten geistig-psychischen Energien manifestiert sich mithin auch ein vitaler, lebensbestimmender Zusammenhang menschlicher Existenz, der in einer kulturökologischen Perspektive in diesen ,lebens'bezogenen Aspekten und Funktionen in den Vordergrund rückt. Der Begriff der Ökologie, wie er in den Naturwissenschaften verwendet wird, wurde 1866 von Ernst Haeckel eingeführt und als „gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt" gefasst. 4 Zwei zentrale Merkmale sind seither nach Kroeber für die naturwissenschaftliche Ökologie grundlegend: dass sie sich mit „total interrelationships of organisms and their environments" befasst, und dass sie auf „evolutionary thinking" beruht. 5 Die Wechselwirkungen von Organismen untereinander und mit ihrer Umwelt sind dabei immer zugleich räumlich und zeitlich, als simultan und als prozessual, gedacht. Aus der „shifting interdependence of unique historical entities" 6 ergibt sich als weitere Konsequenz die Betonung der Individualität von Organismen aufgrund der für das Überleben einer Gattung notwendigen, möglichst großen Varietät ihrer individuellen Ausprägungen. Für die biologische Ökologie folgt daraus das Axiom der Naturgeschichte, „that every organism is unique but that all organisms and environments are essentially interdependent." 7 In einem ökologischen Denken verbindet sich also ein holistischer, auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise gerichteter Erkenntnisansatz mit der Betonung individueller Einzigartigkeit. Die Vernetzung des Individuellen in einem Zusammenhang von Interrelationen ist hier kein Gegensatz von Individualität, sondern macht diese vielmehr erst möglich, ebenso wie umgekehrt die Ausprägung der Individualität der Einzelorganismen erst die (Über-)Lebensfähigkeit der ökologischen Systeme ermöglicht, denen sie angehören. Die Erhaltung und Bewah-
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Seite von Sprache und Literatur. Allerdings findet die Übertragung biologischer Konzepte auf die Literatur hier viel unmittelbarer und ungebrochener statt als etwa bei Kroeber, worunter die Dialogfähigkeit von Carrolls Ansatz mit aktuellen Positionen gegenwärtiger Literaturtheorie beträchtlich leidet. Ernst Haeckel, 1866. Zit. in Heinz-Ulrich Nennen, Ökologie im Diskurs. Zu Grundfragen der Anthropologie und Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991: 73. Kroeber, 1994: 23. Kroeber, 1994: 24. Kroeber, 1994: 23.
2. Begriff der Ökologie
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rung von Vielfalt und historisch-individueller Einzigartigkeit ist denn auch ein wesentliches ökologisches Anliegen - im Bereich der Natur, aber auch der Kultur. Im Lauf des 20. Jahrhunderts differenzierte sich dieser zunächst auf die Tierund Pflanzenwelt und deren vielfach vernetzte Ökosysteme bezogene Ansatz nicht nur in sich immer weiter aus, sondern fand zunehmend auch Eingang in andere Disziplinen wie Geographie und Landschaftsökologe, aber auch, unter dem Stichwort einer Human Ecology, in Anthropologie und Psychologie bis hin zu Philosophie und schließlich in die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften.8 Ökologie wurde zunehmend eine transdisziplinäre Wissenschaft, die freilich in den unterschiedlichen Disziplinen durchaus unterschiedliche Zugänge und Erkenntnisperspektiven hervorbrachte. Während sie sich in ihrer naturwissenschaftlichen Variante auf empirisches Datenmaterial und daraus ableitbare Gesetzmäßigkeiten bezieht, wird der ökologische Denkansatz in seiner Übertragung auf die Human- und Kulturwissenschaften von seinem Gegenstand, aber auch von seinen Inhalten und seinen Erkenntnisinteressen her in hochgradig vermittelte Interpretationszusammenhänge mit beträchtlicher Eigendynamik einbezogen. Das Bild, das die Humanwissenschaft von der Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt entwirft, hängt unauflöslich mit dem Selbstbild zusammen, das der Mensch von sich hat und das er über sein Verhältnis zum .Anderen' der Natur stets neu bestimmen muss. Ein Blick auf die vorliegenden, ökologisch inspirierten Ansätze in den Literatur- und Kulturwissenschaften zeigt beispielsweise, dass die Darwinsche Lehre der natürlichen Selektion, des Kampfs ums Überleben und der Höherentwicklung der Arten hier stark zurücktritt oder ganz ausgeblendet wird zugunsten einer Betonung von Kooperation, Symbiose und relativer Gleichwertigkeit der verschiedenen Entfaltungsstufen der biologischen und kulturellen Evolution. Der im 19. Jahrhundert noch mit der Evolution verbundene Fortschrittsgedanke wird umgedeutet in eine Haltung, die die Diversität und Dignität alles Gewordenen respektiert und die natürliche Welt als ganze affirmiert. So hat nach dem Sprachwissenschaftler Alwin Fill das Wort „Ökologie" die folgenden verallgemeinerbaren Bedeutungsaspekte: Die meisten Autoren rücken bei ihrer Verwendung des Begriffes den Aspekt der Wechselwirkung in den Vordergrund, des Spiels von Gleichgewicht, Verdrängung und Riickkoppelung, das bei einer prozesshaften Betrachtungsweise bei fast allen Erscheinungen dieser Welt beobachtet werden kann. Ökologie, das bedeutet aber auch Betonung von Gemeinsamkeit, nicht Wachstum auf Kosten des anderen, Ko-evolution statt reiner Selbst8
Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, London: Paladin Books, 1973; John W. Bennett, The Ecological Transition. Cultural Anthropology and Human Adaptation, New York: Pergamon, 1976; Nennen, 1991; Bernhard Glaeser, Hg., Humanökologie. Grundlagen präventiver Umweltpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1989; Tim Hayward, Ecological Thought. An Introduction, Cambridge: Polity Press, 1995; Goodbody, 1998.
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I. Theoretischer Teil Verwirklichung ..., Kontakt statt Isolation. Entscheidend ist aber für die ökologische Betrachtungsweise die Wertschätzung, ja Bevorzugung des Kleinen gegenüber dem Großen, eine Haltung, die sich gegen die weitere Ausdehnung der Mächtigen auf Kosten der Schwächeren wendet. Ökologie als wissenschaftliches Modell berücksichtigt die Prinzipien der Selbstorganisation ... und Vernetzung ...; sie betrachtet das Wechselspiel der Kräfte aber nicht wertneutral, sondern bevorzugt die Spannung zwischen vielen gegenüber dem Druck einiger weniger, verteidigt das Gleichbleibende und Schrumpfende gegenüber dem Wachsenden und sucht damit die Vielfalt der kleinen und mittleren Erscheinungen vor der Einfalt des Großen zu retten.9
Fill wendet diese Kriterien auf unterschiedliche Gebiete der Sprachwissenschaft an, vor allem im Sinn der Erhaltung und Förderung von Sprachenvielfalt und binnensprachlicher Differenzierung, die er als Korrektiv gegenüber hegemonialer Sprachpolitik und einheitssprachlicher Diskursmacht sieht. Seine Kriterien sind aber mutatis mutandis auch für andere kulturwissenschaftliche Bereiche von Relevanz. Welche Ausprägungen die Rezeption ökologischen Denkens in den Literatur- und Kulturwissenschaften im einzelnen erfährt und welche Probleme und Perspektiven damit verbunden sind, soll nun im folgenden näher diskutiert werden.
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Alwin Fill, Ökolinguistik. Eine Einführung, Tübingen: Narr, 1993: 1.
3. Aspekte und Positionen der Literary Ecology
3.1 Politisch-ideologischer Aspekt: Pragmatische vs. Deep Ecology Eine wesentliche Motivations- und Argumentationsebene des ökologischen Ansatzes innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaft und zweifellos auch ein wichtiger Grund für seine wachsende akademische Akzeptanz ist die Erkenntnis der zunehmend bedrohlichen Umweltkrise, die die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit sich gebracht hat. Damit einher geht die Analyse der Ursachen, die diese Krise bewirkt haben, eine Kritik der charakteristischen zivilisatorischen Denk- und Verhaltensmuster, die zu Naturentfremdung und Naturausbeutung geführt haben, sowie das Engagement für politisch-gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, die ein Umdenken und soweit möglich eine Korrektur der eingetretenen Fehlentwicklungen ermöglichen sollen. Der Grad an politischer oder moralischer Emphase ist dabei durchaus unterschiedlich, dennoch liegt hierin eine der Hauptantriebskräfte auch für die Entwicklung eines kulturund literaturwissenschaftlichen Ecocriticism. Bezeichnenderweise trägt der Einleitungsessay zu der ersten Bestandsaufnahme dieser Richtung der Literaturkritik den Titel „Literary Studies in an Age of Environmental Crisis."' In diesem Sinn beschreibt Glen A. Love die Motive und Ziele dieser neuen Richtung folgendermaßen: Race, class, and gender are the words which we see and hear everywhere at our professional meetings and in our professional publications. But curiously enough..., the English profession has failed to respond in any significant way to the issue of the environment, the acknowledgment of our place within the natural world and our need to live heedfully within it, at peril of our survival. 2
In der Reaktion auf dieses Defizit stehen sich zwei Positionen gegenüber, die eher pragmatischen Environmentalists, die konkrete Umweltprobleme aufgreifen, im öffentlichen Diskurs artikulieren und über eine Bewusstseinsverände-
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Cheryll Glotfelty, „Literary Studies in an Age of Environmental Crisis", in Cheryll Glotfelty and Harold Fromm (eds.). The Ecocriticism Reader: Landmarks in Literary Ecology. Athens, GA, London: U of Georgia P, 1996: XV-XXXVIII. - Eine Bestandsaufnahme der neueren amerikanischen Ökokritik ist Ecocriticism, ed. William Howarth, Themenheft New Literary History 30, 3, 1999. Glen A. Love, „Revaluing Nature: Toward an Ecological Criticism", in Glotfelty/ Fromm, 1996: 225-240, 226.
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/. Theoretischer Teil
rung einer möglichen Lösung zuführen wollen, und die sogenannten Deep Ecologists, die ein grundlegendes Umdenken und eine radikale .Umwertung aller Werte' fordern. Im einen Fall geht es um die vernunftgeleitete Erweiterung und Aktualisierung des gesellschaftlichen Problembewusstseins, im anderen um die Propagierung einer neuen Weltanschauung. Die pragmatisch-umweltbewussten Ökokritiker postulieren zwar ein neues Denk- und Wertsystem, in dem eine holistisch-organische an die Stelle einer atomistisch-mechanischen Sicht der Welt tritt nach dem Prinzip „the whole is greater than the sum of its parts".3 Auch für sie gilt das „first law of ecology", [that] „everything is connected to everything else" 4 und dass auch der Mensch unauflöslich in diesen Wirkungszusammenhang der Natur verwoben ist. Doch bleibt bei ihnen der Mensch die zentrale denkende, handelnde und wertsetzende Instanz, von der aus die aktive Gestaltung und Neuorientierung seiner Umweltbeziehungen allein ausgehen kann und auf die sie wesentlich bezogen bleibt. Gerade dies wird von den Deep Ecologists als eine letztlich immer noch humanistisch-anthropozentrische Haltung kritisiert und durch ein radikal ökozentrisches Wertsystem abgelöst, in dem gilt, dass „natural ecosystems preserve value in their own right, independent of human value judgment." 5 Während im ersteren Fall eher die Wechselwirkung von Kultur und Natur, Bewusstsein und Umwelt im Vordergrund steht, die durch ökologische Struktur- und Funktionsmuster adäquater und komplexer verstehbar und beschreibbar wird, geht es im zweiten Fall um eine klare Gegenübersetzung von menschlicher und außermenschlicher Welt und die Abdankung der Mittelpunktsstellung des Menschen in der Schöpfung. An ihre Stelle tritt die Auffassung, dass „all life on earth has intrinsic value" und dass die „richness and diversity of life" als zentraler, über die Selbstbehauptungsinteressen der menschlichen Gattung hinausgehender Wert zu gelten hat.6 Alle anderen Werte sind diesem „Inhumanism" (Oelschlaeger) unterzuordnen, der zu entsprechenden Änderungen der persönlichen Einstellung und der politischen Agenda verpflichtet. Aufgaben wie die weltweite Reduzierung der Bevölkerungszahl oder die Rücknahme von wirtschaftlichem, technischem und ideologischem Expansions- und Dominanzverhalten gegenüber der Umwelt gewinnen hier absoluten Vorrang vor allen anderen, .innergesellschaftlichen' Problemen. Dieses Programm, das Oelschlaeger als „Fundamentals of Deep Ecology" zusammenfasst, 7 wird teilweise zur weltanschaulichen Mission, die die tiefere Wahrheit ihrer Einsichten voraussetzt und in
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Max Oelschlaeger, The Idea of Wilderness: From Prehistory to the Age of Ecology, New Haven: Yale UP, 1991: 288. Barry Commoner, The Closing Circle: Nature, Man, and Technology, New York: Knopf, 1971: 29. Oelschlaeger, 1991: 294. Oelschlaeger, 1991: 294. Oelschlaeger, 1991: 303.
3. Literary
Ecology
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quasi-religiösem Ton die Sakralität der außermenschlichen Wildnis als letzten Wertungsmaßstab auch aller menschlichen Dinge feiert. Den pragmatischen Versionen eines Ecocriticism steht hier eine fundamentalistische Variante gegenüber, die die Totalrevision bisheriger kultureller Einstellungen, Denk- und Schreibweisen als einzige Alternative zu einem apokalyptisch gesehenen, in die Katastrophe führenden Humanismus und Anthropozentrismus ansieht. Allerdings gibt es auch Positionen einer ,Tiefenökologie', in der wie etwa bei Arne Naess weniger der Gegensatz zur humanistischen Kulturtradition als vielmehr neue Möglichkeiten ihrer Aneignung bzw. ihrer ökologisch orientierten Aktualisierung in den Blick rücken. 8 Zwischen den beiden Polen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen innerhalb des sich herausbildenden Spektrums einer Literary Ecology. Gemeinsam ist indessen den meisten von ihnen, dass sie Literatur zuallererst auf bestimmte Inhalte und ideologische Haltungen hin betrachten, wie sie durch die jeweilige ökologische Position vorausgesetzt werden. Ein vorgegebenes Weltbild wird zum Maßstab literarischer Texte, die z.T. nach expliziten Fragekatalogen auf ihre ecological correctness überprüft werden. Und eine solche Überprüfung fällt denn je nach Vorverständnis der Kritiker sehr unterschiedlich aus. So zählen Autoren wie J.F. Cooper, Willa Cather oder Ernest Hemingway bei den einen zu den Vertretern ,falschen', weil zu sehr anthropozentrisch angelegten Naturbewusstseins und bei den anderen zu den instruktiven Beispielen einer ökologisch inspirierten Literatur. Dabei wird teilweise ein naiv-realistischer Repräsentationsmodus für die Literatur vorausgesetzt, der deutlich hinter den Reflexionsstand der neueren Literaturtheorie zurückfällt und die medialen Besonderheiten der Texte als ästhetisch-kultureller Zeichensysteme nicht angemessen berücksichtigt. Dennoch ist der von solchen Untersuchungen ausgehende Impuls nicht nur insofern nützlich, als er die Aufmerksamkeit der Kritik auf oft vernachlässigte Aspekte literarischer Texte lenkt - die Rolle der Natur in Charakterisierung, Handlungskonzeption, Bedeutungs- und Wertkonstitution; die Raum- und ZeitStruktur (das Chronotop im Sinn Bachtins); die Wechselbeziehung von Figuren und Lebensformen mit der physischen Umwelt; die Einbindung der Literatur in einen allgemeineren gesellschaftlichen Diskussionszusammenhang über das Verhältnis von Kultur und Natur in Moderne und Postmoderne. Er vermag auch zur Relativierung allzu abstrakter, selbstreferentieller Theoriegebäude beizutragen, wie sie sich zeitweise im Poststrukturalismus, aber auch in anderen Richtungen der Critical Theory herausgebildet haben. Eine wichtige Implikation des Environmental Criticism, wie ihn etwa Lawrence Buell vertritt, liegt jedenfalls
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Vgl. Arne Naess, Ecology, Community, and Lifestyle, Cambridge: Cambridge UP, 1989; F.-Th. Gottwald und A. Klepsch (Hgg.), Tiefenökologie, München: Diederichs, 1995; Finke, 2002.
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I. Theoretischer Teil
darin, dass mit ihm eine Rückwendung zu einer wie auch immer vermittelten Referenz- und Repräsentationsfunktion der Literatur vollzogen wird.9 Eine solche Rückwendung zur Referentialität war bereits in einigen Versionen einer feministisch, multikulturell oder postkolonial orientierten Literaturkritik erkennbar, insofern sie auf die .angemessene' textuelle Repräsentation bestimmter inhaltlicher Geschichts- und Identitätsentwürfe hin ausgerichtet waren, die allerdings deutlich als kulturelle Konstrukte gekennzeichnet und so als Teil eines hermeneutisch-semiotischen Selbstauslegungsprozesses verstehbar waren. Im Fall des Ecocriticism indessen geht es um die empirisch noch konkreteren Kategorien des Naturbezugs, der physischen Umwelt, der spezifischen Gegebenheiten der Biosphäre, in denen die literarischen Handlungen und Figuren situiert sind. Die Verlockung der Rückkehr zu vereinfachenden mimetischen Konzepten der Literatur ist hier besonders groß. Doch nicht zuletzt davon, wie differenziert und theoretisch reflektiert die Rückwendung zur Referentialität vollzogen wird und wie weit sie die spezifischen Bedingungen literarischer Kommunikation berücksichtigt, wird auch im Fall des Ecocriticism die Tragweite und Überzeugungskraft seiner Einsichten abhängen. Diese Plausibilität ist in jenen Ansätzen besonders stark, in denen nicht nur inhaltliche, sondern auch strukturelle Gesichtspunkte eine Rolle spielen und in denen die ästhetische Dimension der Texte nicht von vornherein als Gegensatz zu ökologischen Denk- und Darstellungsmustern, sondern vielmehr gerade auch als deren Ermöglichung gesehen wird. Eines der noch eher seltenen Beispiele hierfür ist Gyorgyi Voros' Studie zu Wallace Stevens, in der er ausgerechnet an diesem experimentier- und imaginationsfreudigen Autor die Prinzipien einer literarischen Ökologie exemplarisch aufzeigt. Die Kriterien eines „ecological reading", die er aufstellt, umfassen dabei u.a. folgende: die Betonung auf „relationship/interrelationship" und Prozessualität; die Neudefinition der Subjekt-ObjektBeziehung als Wechselbeziehung, nicht als Dualismus; die Bestimmung des Selbst nicht im individualistischen Sinn, sondern als Individuum-im-Kontext; die Infragestellung von Kausalität und linearer Teleologie zugunsten zyklischreproduktiver und nichtlinearer Realitäts- und Handlungskonzeptionen; schließlich und alles übergreifend eine affirmative Haltung gegenüber dem Leben und der ,Erde'. 10 Anteile des Normativen sind also auch hier unübersehbar, doch wird durch die Konzentration auf bestimmte Problemstrukturen statt nur auf vorgegebene Inhalte die Transformation zwischen ökologischen Realitäts- und literarischen Textmodellen in flexiblerer und wechselseitig erheilenderer Weise möglich als in unmittelbarer inhaltsbezogenen Varianten der Ökokritik. Gemeinsam ist allerdings den verschiedenen Positionen, dass der Mensch als Teil eines
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Vgl. Buell, 1995, insbes. Chapter 3: 83ff. Gyorgyi Voros, Notations of the Wild: Ecology in the Poetry of Wallace Stevens, Iowa City: U of Iowa Press, 1997: 83ff.
3. Literary Ecology
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größeren Lebenszusammenhangs gesehen wird, zu dem er aufgrund der besonderen Aspekte seiner kulturellen Evolution in ein krisenhaftes Spannungsverhältnis geraten ist, dessen kritische Bewusstmachung und geistige wie gesellschaftliche Bewältigung nicht zuletzt eine ökologisch orientierte Literatur und Literaturkritik leisten sollen. 3.2
Kulturanthropologischer Aspekt: N a t u r e n t f r e m d u n g u n d Biophilie-Hypothese
Das Epistem der literarischen Ökologie hat ferner eine kulturanthropologische Seite. Es geht von der Diagnose einer Entfremdung von eben jenem vitalen Zusammenhang des Lebendigen aus, dem auch wesentliche Grundbedürfnisse des Menschen entsprechen - nicht nur das Bedürfnis nach einer engeren Beziehung zur natürlichen Umwelt, sondern nach einer vielseitigen Ausprägung der eigenen Persönlichkeit oder nach Einbindung in konkrete Gemeinschaftsbezüge. Mit dem „modern estrangement from nature", auf das die Ökokritik reagiert, haben sich zugleich spezifische „communal neuroses" im Zusammenleben der Menschen ergeben." Gerade die zunehmende Freisetzung des Individuums aus den Zwängen von Natur, Gruppe, Institution, Moral oder Religion scheint dabei das Bedürfnis nach den Wurzeln umso stärker werden zu lassen, von denen es sich abgeschnitten fühlt. Die Anonymisierung und Funktionalisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen in modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen und die Aufsplitterung des Individuums in verschiedene, miteinander konkurrierende Rollen und Selbstbilder haben die Suche nach persönlicher Identität ebenso verstärkt wie die nach Integration dieser Identität in eine community. Der Begriff der community, der bereits in einer kommunitaristischen Philosophie als Alternative zum abstrakten Kollektivismus des modernen Gesellschaftssystems Konjunktur hat,12 wird auch im Ecocriticism zu einer wichtigen Bezugsgröße, die gewissermaßen als postmoderne Wiederanknüpfung an prämoderne, .natürlichere' Lebensformen erscheint und sowohl dem Begriff der modernen Gesellschaft als auch dem für sie charakteristischen Individualismus gegenübergestellt wird. Das Theorem der individuellen und gesellschaftlichen Selbstentfremdung durch Entfremdung von der Natur hat bekanntlich ebenfalls seine erste nachhaltige Ausprägung bereits in der Romantik gefunden, und es hat, unter anderen Vorzeichen, in bestimmten Versionen der modernen Philosophie und Soziologie auch im 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt. Bergsons Konzeption des élan vital, die gegen Positivismus und Wissenschaftsgläubigkeit des späten
" Love, 1990: 233. 12 Vgl. z.B. Daniel Bell, Communitarianism and Its Critics, Oxford: Clarenden P, 1993; Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt: Campus, 1994.
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I. Theoretischer Teil
19. Jahrhunderts die Prinzipien der Spontaneität und des Einswerdens mit einem prärationalen Lebensstrom als Bedingungen kultureller Kreativität benannte; die Heideggersche Hermeneutik, die sich als sprachliche Auslegungsbewegung einer prozessual gefassten und in einen größeren Seinszusammenhang eingebetteten Existenzanalytik dem technologischen Verfügungswissen der Naturwissenschaften entgegensetzte; die von der Kritischen Theorie herausgearbeitete Dialektik der Aufklärung, die die Blindstellen und menschlichen Kosten einer zweckrationalen Fortschrittsmaschinerie aufdeckte und in der Kunst eine symbolische .Revolte der Natur' gegen ihre totale Instrumentalisierung sah; die Gesellschaftskritik und alternativen Gegenentwürfe der 60er Jahre, die die Überwindung des .eindimensionalen', in repressiver Scheinfreiheit gefangenen homo oeconomicus durch Rückkehr zu naturnäheren, Eros und Körper einbeziehenden gemeinschaftlichen Lebens- und Ausdrucksformen anstrebten - sie alle können in unterschiedlicherweise als Vorläufer jener Dialektik von System und Subversion, Macht und Sinn, Uniformität und Lebensvielfalt, Entfremdung und Regeneration gesehen werden, wie sie, freilich nicht immer theoretisch schon ausdifferenziert, vielen Ansätzen der Ökokritik zugrunde liegt. Der ökologische Diskurs wird damit auf einer Ebene zu einer Fortführung des kulturkritischen Gegendiskurses zu den hegemonialen Diskursen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, wie er sich im Lauf des 20. Jahrhunderts in den verschiedensten Ausprägungen herausgebildet hat. 13 Ich habe an anderer Stelle den hier angesprochenen kulturgeschichtlichen Entfremdungszusammenhang, im Anschluss an A.C. Zijderveld und andere, als Problemstruktur einer .abstrakten Gesellschaft' charakterisiert. 14 Mir scheint, dass in den Anliegen, die die Ökokritik formuliert, nicht zuletzt eine Gegenreaktion gegen spezifische Entfremdungsphänomene einer fortgesteigerten Modernisierung zum Ausdruck kommt, die dem anthropologischen Bedürfnis der Rückbindung abstrakter, situationsfern-ungreifbarer Systemstrukturen an konkrete Erfahrungs- und Kommunikationsstrukturen entspringt. Genau in der symbolischen Inszenierung konkreter, d.h. mit Naturprozessen rückgekoppelter,
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Linda Hutcheon hat in diesem Sinn die Ökologie in den größeren Zusammenhang von „postmodern counterdiscourses" eingeordnet: „Eruptions of the Postmodern: The Postcolonial and the Ecological", Essays on Canadian Writing. 20th Anniversary Issue, 51-52, Winter 1993 - Spring 1994: 146-63. Das Drama in der abstrakten Gesellschaft, Zur Theorie und Struktur des modernen englischen Dramas, Tübingen: Niemeyer, 1988. - Die Abstraktheit moderner Lebensverhältnisse ist auch Ausgangspunkt des beachtenswerten Beitrags von Geoffrey Hartman, The Fateful Question of Culture, New York: Columbia UP, 1997, der angesichts der Isolation der Individuen voneinander und von ihrer Umwelt und der daraus folgenden, phantomhaften Irrealität menschlicher Identitäts- und Beziehungsmuster, gerade auch nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust, die Notwendigkeit eines inklusiven, kommunikativen, lebens- und naturoffenen Kulturbegriffs betont und an literarischen Texten, aber auch an Filmbeispielen erörtert.
3. Literary Ecology
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persönlich erlebbarer und kommunikativ situierter Selbst- und Weltbezüge, die in einer abstrakten Gesellschaft zunehmend unverfügbar werden, ist in dieser Sicht eine wesentliche kulturökologische Ausgleichsfunktion der Literatur anzusetzen. Sie bietet damit die Möglichkeit der - oft durchaus schmerzhaften Bewusstmachung und symbolischen Wiederherstellung der gebrochenen Beziehung des Menschen nicht nur zu seiner Lebensumwelt, sondern zu seiner eigenen anthropologischen Konstitution. Nun gibt es zur Frage dieser anthropologischen Konstitution ein Spektrum unterschiedlicher Auffassungen, das von einer genetisch eher festgelegten Grundstruktur mit bestimmten Basisantrieben und programmierten Entwicklungsstufen bis hin zur völligen Offenheit im Sinn pragmatischer und soziopsychologischer Umweltanpassung reicht. Diese Frage kann hier auch gar nicht entschieden werden. Immerhin scheint es aber Anhaltspunkte dafür zu geben, dass im Licht des derzeitigen Wissensstandes keine dieser beiden Extrempositionen überzeugend aufrechtzuerhalten ist. Auf der einen Seite ist der Mensch gegenüber anderen Lebewesen durch eine weit größere Plastizität gekennzeichnet, und sind seine Überlebensstrategien gerade durch seine ungewöhnlich hochentwickelte Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen so erfolgreich geworden.15 Auf der anderen Seite scheint aber zugleich Einiges für die Annahme einer Art anthropologischen Grunddisposition zu sprechen, die zwar nicht inhaltlich festgelegt ist, aber doch eine grundlegende Antriebs- und Bedürfnisstruktur darstellt, die sich in langen evolutionären Zeiträumen herausgebildet hat und daher auch unter den Bedingungen der Moderne unterschwellig wirksam geblieben ist. Aus kulturgeschichtlicher Sicht sieht Zijderveld im Anschluss an Ian Romein diese in Jahrtausenden kultureller Evolution herausgebildete Motivations- und Bedürfnisstruktur des Menschen verankert im Common Human Pattern, der charakteristischen Erfahrungsform prämoderner Gesellschaften, in denen die Welt als sinnlich wahrnehmbare, sinnhaft geordnete und mit dem persönlichen Lebenshorizont der Menschen integrierte Ganzheit erfahren wurde, als eine „structured Gestalt of which he himself was an inherent part."16 Die Erfahrung kultureller Natureinbettung und personal erlebter menschlicher Sozial- und Beziehungsstrukturen, wie sie für vormoderne Gesellschaften kennzeichnend ist, hat sich demzufolge als anthropologischer Erwartungshorizont sedimentiert, der in der fortgeschrittenen Moderne zunehmend unerfüllt bleibt und daher zu tiefgreifenden Frustrationen, ja Traumatisierungen führt.
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Dies ist vor allem die Position Arnold Gehlens und der historischen Anthropologie. Vgl.dazu Martin Middeke, „Literatur und Anthropologie", in Theorien der Literatur, Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf (erscheint 2003, Francke, Tübingen). Anton C. Zijderveld, The Abstract Society. A Cultural Theory of Our Time, New York: Doubleday, 1970: 71.
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I. Theoretischer Teil
In der neueren Ökologie gibt es ebenfalls eine in unserem Zusammenhang interessante Annahme, nämlich die Hypothese der „Biophilie", d.h. einer Korrespondenz zwischen primären Lebensprozessen und einer anthropologischen Antriebsstruktur, in der ein affirmatives Verhältnis des Menschen zu jenen primären Lebensphänomenen angelegt ist. Diese Disposition wird von Edward O. Wilson in seinem Buch Biophilia in einem biologischen Kontext beschrieben,17 doch ihre Berücksichtigung auch innerhalb kultureller Aktivitäten wird dort als förderlich nicht nur für das körperlich-seelische Wohlbefinden des Menschen, sondern für die Entfaltung seiner theoretischen, praktischen und künstlerischen Potentiale dargestellt. Interessanterweise besitzt diese anthropologisch angelegte „capacity for bio-affiliation", 18 die aufgrund der evolutionsgeschichtlich verinnerlichten Präferenz des Menschen für komplexe lebende Systeme zugleich mit einer „love of complexity" einherzugehen scheint,19 zwar als Hypothese einige Plausibilität zu besitzen, aber nicht wissenschaftlich eindeutig identifizierbar oder beweisbar zu sein: „... the richness and depth of the subject preclude the possibility of achieving any definite ,proof'. We are forced to behave, instead, much like the blind men of the old allegory: convinced of the beast's existence but ready to confess to having little detailed understanding of its precise shape, form, content, structure, and function." 20 Es ist aufschlussreich, dass Stephen Kellert hier in seiner Einleitung zu dem Sammelband über die Biophilia Hypothesis auf eine literarische Analogie, eine Metaphorik von Erkenntnissuche und mythopoetischer Personifikation zurückgreifen muss, um die offenkundige Evidenz und gleichzeitige wissenschaftliche Inkommensurabilität des Phänomens zu verdeutlichen, um das es geht. Womöglich besteht also, umgekehrt gesprochen, in der spezifischen, bildhaft-metaphorischen Zugangsweise der Literatur eine besondere Möglichkeit, diesem tiefenanthropologischen Vorstellungs- und Motivationskomplex und der mit ihm gegebenen Bedürfnisstruktur des Menschen näherzukommen und sie imaginativ in immer neuen Konfigurationen zu vergegenwärtigen. Jedenfalls fällt auf, dass dieser Band mit interdisziplinären Beiträgen zur Biophilie-Hypothese, d.h. zur Hypothese einer „innate tendency to focus on life and life-like processes", 21 mit einem Naturgedicht eines amerikanischen Indianerautors sowie mit einem programmatischen Zitat aus Melvilles MobyDick über die „Siamese connexion [of humans] with a plurality of other mor-
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Edward O. Wilson, Biophilia, Cambridge MA: Harvard UP, 1984. Stephen R. Kellert and E.O. Wilson (eds.), The Biophilia Hypothesis, Washington: Island Press, 1993: 11. Madhav Gadgil, „Of Life and Artifacts", in Kellert/Wilson, 1993: 365-80, 375. Kellert/Wilson, 1993: 21. Kellert/Wilson, 1993: 4.
3. Literary Ecology
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tais" beginnt, die der Erzähler Ishmael in Melvilles Roman erkennt und auf der dessen Bedeutungsprozess wesentlich aufbaut. 22 In einer noch emphatischer sinnorientierten Form hat das Konzept der Biophilie auch Eingang gefunden in den Diskurs des Ökofeminismus. In einer radikalfeministischen, ins Esoterisch-Spekulative hinüberspielenden Variante umschreibt es eine ursprüngliche, mit erotischer Assoziation aufgeladene Lust am Leben, die der „Nekrophilie" des Patriarchats und seinem „hatred for and envy of Life" entgegengesetzt sei als „the Original Lust for Life that is at the core of all elemental Ε-motion; Pure Lust, which is the Nemesis of patriarchy, the Necrophilic State." 23 In einer eher historisch-emanzipatorischen Richtung des Ökofeminismus wird Biophilie als die für die Bewahrung der Schöpfung notwendige Fähigkeit gesehen, aus den destruktiven Mustern ausbeutender Dominanz gegenüber anderen Menschen, dem anderen Geschlecht und der Natur herauszutreten und eine neue ökologische Ethik der „biophilie mutuality" zu entwickeln. 24 „Our ontological grounding in God/creation has ethical consequences. Only if we act in this manner of biophilie mutuality with one another (across not only gender, class, and race, but also species lines) is there well being, while the exploitative domination of some by others violates this ontological ground ..."2S In beiden Fällen wird die Korrektur zivilisatorischer Fehlentwicklungen und Befreiung aus lebensfeindlichen Denk- und Verhaltensmustern dadurch angestrebt, dass eine neue Grundlage menschlicher Beziehungs- und Selbstverwirklichungsformen in ihrer Rückbindung an elemen-
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Kellert/Wilson, 1993: 3, 5. Der Band enthält ferner interessante Beiträge zur Beziehung zwischen Biophilie und Landschaftswahrnehmung, zur Gaia-Hypothese, zur Tiersymbolik als .cognitive biophilia', u.a.m.- In anderem Zusammenhang hat Bonheim unter Verweis auf die Chaostheorie, insbesondere auf James Gleicks Chaos: Making a New Science, New York: Penguin, 1988, naturhafte Formen als korrespondierend zu inneren Dispositionen des Menschen und somit auch zu den Formen seiner ästhetischen Wahrnehmung und Kreativität bezeichnet: „... there are also forms in the natural world (botanical, zoological, meteorological, geographical, astronomical etc.) to which we respond because the nature of human beings is .naturally' attuned to them." Helmut Bonheim, „The Nature/Culture Dyad and Chaos Theory", in Das Natur/Kultur-Paradigma in der englischsprachigen Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, Hgg. Konrad Gross et al., Tübingen: Narr, 1994: 8-21, 21. Vgl. Jeanne Cortiel, Biophilia, Bondage and Bonding: Feminist Theology in α ,PostChristian' Culture, Universität Essen: Laud, 1999: 7, zit. aus Mary Daly and Jane Caputi, Webster's First New Intergalactic Wickedary of the English Language, Boston: Beacon, 1990: 67. Trotz der esoterisch-spekulativen Übersteigerung bestehen hier doch auch Parallelen zur Literatur - etwa zur ,biophilen' Affirmation des eigenen physischen Selbst in Morrisons Beloved, oder zur .nekrophilen' Tendenz Edgar Hoovers in DeLillos Underworld (vgl. u. 188ff.). Rosemary Radford Ruether, Gaia & God. An Ecofeminist Theology of Earth Healing, San Francisco: Harper Collins, 1992. Ruether, Women and Redemption. A Theological History, Minneapolis: Fortress Press, 1998: 223.
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I. Theoretischer Teil
tare Sinnenergien gesucht wird, die mit einer wie auch immer zu definierenden ,Natur' assoziiert sind. 3.3 Ethischer Aspekt: Vom ego- zum eco-consciousness, Macht- zum Kooperationsmodell
vom
Wie schon deutlich wurde, stehen der teilweisen Kontinuität zu anderen Theoriepositionen in einem ökologischen Denkansatz wesentliche Diskontinuitäten gegenüber. Insbesondere ergeben sich signifikante Verschiebungen im zugrundeliegenden Wertsystem. Denn einerseits wird das bisherige, humanistisch-anthropozentrische Weltbild radikal infragegestellt und gegenüber zivilisatorischen Werten das .Leben' selbst als für sich bestehender und anzuerkennender Wertbereich etabliert. Andererseits wird damit zugleich gegenüber einem postmodernen Wertrelativismus eine neue moralisch-ethische Verbindlichkeit etabliert. Die vermeintlich eher unverfängliche Aufwertung der,Natur' zu einer ernstzunehmenden Wert- und Orientierungsinstanz hat gerade in diesem Bereich weitreichende Konsequenzen. Die Forderung, neben den Kategorien von gender, class und race auch die Kategorie land oder place als unverzichtbares Analysekriterium für Literatur einzuführen, mag dabei zunächst unmittelbar einleuchten und in sich gar nicht so neu erscheinen, sondern vielmehr als konsequente Fortsetzung und Intensivierung eines Zweigs der Literaturkritik, der sich seit langem mit der Naturdarstellung und der Rolle von Zeit, Raum und Lokalität in der Literatur beschäftigt hat. Doch in der Betonung des Bezugs der Texte zur physischen Umwelt, in der sie die dargestellten Figuren und Handlungen situieren, kommt eine massive Umwertung zum Ausdruck, die die ,Biosphäre', die die vom Menschen geschaffene ,Technosphäre' umgreift und durchwirkt, aus ihrer passiven Rolle als bloßes Objekt menschlicher Erkenntnis- und Handlungsinteressen in den Rang eines aktiven, energiespendenden Prinzips und einer unhintergehbaren Möglichkeitsbedingung menschlicher Existenz erhebt. Das Bild der Natur variiert dabei allerdings wiederum beträchtlich zwischen anthropofugalen Vorstellungen einer gerade durch ihr radikales Anderssein charakterisierten, dem Menschen gegenüber indifferenten .Wildnis', und eher anthropomorphen Vorstellungen der .Heiligkeit' der Natur, ihres Charakters als Mother Earth, durch die sie die benevolenten Züge einer lebensspendenden Quelle von Sinn, Fruchtbarkeit und schöpferischer Energie gewinnt. Letztere Position kennzeichnet insbesondere die vielfältigen Varianten eines Ecofeminism, die sich in den letzten Jahren in den USA herausbildeten. In ihnen wird von einer Parallele zwischen der Unterdrückung der Natur und der Unterdrückung der Frau ausgegangen, die aus ihrer gemeinsamen Entmündigung durch kulturelle Ideologien befreit und als alternative Wertsetzungsinstanzen etabliert werden. Frauen wird hier aufgrund intrinsischer Unterschiede zu Männern, aber auch aufgrund ihrer jahrhundertelangen kulturellen Rollenzuschreibung eine besondere Sensibilität für Zusammenhänge der Natur zugesprochen.
3. Literary
Ecology
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Im Gegenzug zur Naturablehnung der westlichen patriarchalen Rationalität werden dabei matriarchale Konzepte enger Mensch-Natur-Beziehung aus anderen Kulturen wiederbelebt, wie sie etwa im Mythos der Erdgöttin Gaia und seiner je verschiedenen kulturellen Ausprägungen verkörpert sind.26 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der besonderen Beziehung der Frau zur Natur verbindet sich mit der Aktualisierung des Mythos, der mit biographischer Deutungsmacht aufgeladen und zur geschlechtsspezifischen Sinnsuche mit z.T. stark spirituellem Einschlag genutzt wird. Kunst und Literatur werden zum Medium der Verbindung von moderner und archaischer Welt: By reclaiming ... goddesses and gynocentric figures as art objects, ecofeminist artists viscerally popularize the notion that life-affirming values prevailed for thousands of centuries before the arrival of patriarchy .... [W]hen ancient symbols are fused with modern meanings, highly charged energy is generated. The power of ecofeminist art lies in its potential to galvanize humankind, in part by tapping into our biophilic cellular memory. 27
Mit der engen Affinität von Frau und Natur, die hierbei konstruiert wird und mit der teilweise radikalen Zurückweisung von zivilisatorischer Rationalität zugunsten esoterischer Naturspiritualität laufen solche Auffassungen allerdings nicht nur Gefahr, ihren Wissenschaftsanspruch einzubüßen. Sie rücken in den Augen von Kritikerinnen in unfreiwillige Nähe zu überkommenen patriarchalen Ideologien, indem sie binäre Rollenklischees auf neue Weise bestätigen, die die gender-orientierte Literaturkritik längst überwunden glaubte. Es komme stattdessen darauf an, den Kultur-Natur-Gegensatz ebenso wie die Mann-FrauOpposition zu dekonstruieren und so den Freiraum für eine theoretisch bewusstere und konventionsüberschreitende Neukonzeption dieser Beziehungen zu gewinnen. 28
26
Die Gaia-These von der Erde als einem belebten, weiblich konnotierten Gesamtorganismus hat nicht nur, aber vor allem den Ökofeminismus beeinflusst und dort zu einer Wiederbelebung des Gaia-Mythos geführt. Vgl. Ruether, 1992; Riane Eisler, „The Gaia Tradition", in Reweaving the World: The Emergence of Ecofeminism, eds. Irene Diamond and Gloria Feman Orenstein, San Francisco: Sierra Club, 1990. - Auch in der unmittelbaren Rezeption der Darwinschen Evolutionslehre selbst werden Elemente solcher mythischen Naturkonzeptionen aufgenommen und in veränderter Form fortgeführt: „Darwinian theory takes up elements from older orders and particularly recurrent mythic themes such as transformation and metamorphosis. It retains the idea of natura naturans, or the Great Mother, in its figuring of nature." Gillian Beer, Darwin's Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction, Cambridge: Cambridge UP, 2000, 1983: 7.
27
Cathleen McGuire, „Ecofeminist Visions", http://eve.enviroweb.org/what_is/ index.html; 1993. Vgl. Catriona Sandilands Position, dargelegt von Marlene Longenecker, „Women, Ecology, and the Environment: An Introduction", NWSA Journal, 9, 3, 1998: 1-16. Vgl. auch Greta Gaard und Patrick D. Murphy, Ecofeminist Literary Criticism. Theory, Interpretation, Pedagogy, Urbana: U of Illinois P, 1998.
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I. Theoretischer Teil
In den vergangenen Jahren haben sich die unterschiedlichen Zugänge des Ökofeminismus, durch Internet-Websites verstärkt, geradezu explosionsartig vermehrt und z.T. miteinander verbunden. Der Akzent bei der Untersuchung literarischer Texte liegt dabei vor allem im alter-ego-Vtrhältnis von Frau und Natur, in affirmativen Repräsentationen des weiblichen Körpers, in der Verbindung der Kategorien von gender, class, race und nature zur Kritik hegemonialer Diskurse, und in der Etablierung einer alternativen Wertperspektive zur egozentrischen Machtorientierung der Gesellschaft. 29 Dabei bleiben deutliche Unterschiede zwischen ökologischen und klassisch-feministischen Positionen bestehen, die nicht einfach durch die bloße Addition vermeintlich .progressiver' Ansätze eines alles absorbierenden Cultural Radicalism überdeckt werden können.30 Kennzeichnend für den Ökofeminismus ist vielmehr eine eigentümliche Ambivalenz zwischen Kritik und Affirmation, Veränderungs- und Bewahrungsrhetorik, Zukunfts- und Traditionsbezug. Trotz der Übernahme (post-)moderner emanzipatorischer Anliegen sind die Werte, die er propagiert, teilweise aus traditionalen oder prämodernen Denk- und Lebensmodellen abgeleitet. „Ecofeminism is an emergent area of thought and political practice that embraces feminist, peace, environmental, spiritual, and multicultural concerns. One strain of this new constellation asserts that the traditional values and practices associated with women - nurturance, caretaking, and attention to relationships and webs of connection - are those which are needed to heal the planet." So definieren die Herausgeber der 1997 neugegründeten Zeitschrift ReEvolution: A Journal of Ecofeminist Politics, the Arts and Technologies, den Begriff Ökofeminismus, und die genannte Ambivalenz ist im Spannungsverhältnis zwischen dem ersten und zweiten Teil des Zitats offenkundig. Bedeutet die Anerkennung des Anderen der Natur in all ihrer Vielgestaltigkeit im Hinblick auf die außermenschliche Natur das Recht jeder Art und jedes Einzelwesens auf die ihnen eigentümliche Existenzform, so bedeutet sie im Hinblick auf die innere Natur des Menschen die Anerkennung seiner,animalischen' Seite, seiner inneren Verwandtschaft mit der Tierwelt, über die er sich durch Intelligenz, Technologie, Kultur und Kunst evolutionsgeschichtlich hinausentwickelt hat. Sie bedeutet gegenüber der Privilegierung des Verstandes die Aufwertung anderer Fähigkeiten des Menschen wie Sinnlichkeit, Gefühl, Leidenschaft und instinkthafte Antriebskräfte. 31 Und insofern der Wille zum Überleben und zur Selbsterhaltung eine Notwendigkeit und einen Teil des biologischen
29 30
31
Gaard/ Murphy, 1998. Zum Begriff des Cultural Radicalism vgl. Winfried Fluck, „Radical Aesthetics", REAL 10, Aesthetics and Contemporary Discourse, ed. Herbert Grabes, 1994: 31 —48. Insofern wird hier die einstige Hierarchie der traditionellen Psychologie menschlicher Grundvermögen, in der dem Verstand gegenüber Gefühl, Sinnlichkeit und Imagination die eindeutige Dominanz zukam, neu gewertet und im Sinn eines dynamischen Zusammenspiels umgedeutet.
3. Literary
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Antriebsprogramms darstellt, ist er auch beim Menschen in seiner fortentwickelten Ausprägung intelligenter Gefahrenkontrolle und ökonomischer wie technologisch-wissenschaftlicher Existenzsicherung gerechtfertigt - allerdings nur bis zu dem Grad, zu dem er diese Funktionen angemessen erfüllt. „Economic activity in its most general sense - the production, circulation and consumption of material necessities of life - is a sine qua non of human existence."32 Kennzeichnend für die ökologische Krise der Gegenwart ist es indessen, dass die evolutionäre Erfolgsgeschichte der Menschheit gerade durch den Versuch der Ausgrenzung des Außermenschlichen und der vollständigen Beherrschung der Natur den paradoxen Effekt hatte, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu unterminieren. Sind also einerseits die ökonomischen, technologischen und kulturellen Formen der Selbsterhaltung und Machtsteigerung, mit denen die Menschen ihr Überleben zu sichern versuchen, Teil einer anzuerkennenden anthropologischen Realität, so sind sie andererseits in dem Maß, in dem sie sich vollständig aus ihrer Zugehörigkeit zu dem sie tragenden, übergreifenden Lebenszusammenhang lösen wollen, ihrerseits zu einem (Über-)Lebensproblem geworden. Dass das Leben im Verhältnis der Menschen zur Natur und untereinander in vielerlei Hinsicht konfliktorisch und antagonistisch ist, wird in einem ökologischen Denken anerkannt. Dass es aber allein auf Konfliktmuster und destruktive Antagonismen beschränkt sei, wird bestritten. Der Weg der Organismen innerhalb natürlicher Ökosysteme etwa führt typischerweise von anfänglicher Konkurrenz zu fortschreitender Symbiose und Kooperation. Und mit der wachsenden Komplexität des jeweiligen Systems steigt auch der Grad der Kooperation innerhalb seiner konkurrierenden Teilelemente.33 Hier wird ein wesentlicher Unterschied zu einem poststrukturalistischen und neuhistorischen Geschichts- und Menschenbild deutlich, wie es vor allem im Anschluss an Nietzsche und Foucault formuliert und in dem Macht zur entscheidenden Antriebsenergie individueller und gesellschaftlicher Prozesse erklärt wurde. In einem ökologischen Denken wird die Betonung des Machtaspekts wenn nicht abgelöst, so doch erweitert durch die Betonung von Kooperation, Vernetzung und Komplexität. Dabei wird, wie oben schon angesprochen, die gängige Annahme korrigiert, natürliche Phänomene seien, im Gegensatz zu
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Hayward, 1995: 87. Hayward fährt fort: „Moreover, productive activity can be seen not only as the key to human survival, but also as a precondition of human flourishing in non-economic senses, to the extent that the arts, culture, science, benevolence, and the pursuit of humanistic ideals in genera] are made possible by the existence of a strong and secure economic basis." (87-88) Die ökologisch anzustrebende ,Ethik der Kooperation' hat nach Aldo Leopold ihre biologische Grundlage „in the tendency of individuals or groups to evolve modes of cooperation. The ecologist calls these symbioses. Politics and economics are advanced symbioses in which the original free-for-all competition has been replaced, in part, by cooperative mechanisms with an ethical content." Zit. in Hayward, 1995: 107-8.
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I. Theoretischer Teil
geistig-kulturellen, durch Einfachheit gekennzeichnet. „Die Natur ist nicht einfach, sondern komplex", ist ein Grundsatz ökologischen Denkens.34 Zugleich gibt es allerdings unterschiedliche Grade an Komplexität, und der Gang der Evolution läuft offenbar, ohne einem linearen Entwicklungsgesetz zu folgen, im ganzen auf eine Steigerung von Komplexität hinaus. Das Postulat einer Rückbindung geistig-kultureller an natürliche Prozesse beinhaltet mithin nicht eigentlich die Forderung nach Rückkehr zu einfacheren Denk- und Lebensformen. Es beinhaltet vielmehr die Anerkennung des inneren Zusammenhangs auch der hochentwickeltsten Ausprägungen des Lebens und Bewusstseins mit den Stufen, aus denen sie hervorgegangen sind. Ein ökologischer Realitätsbegriff etabliert also Konkurrenz, Kooperation und Komplexität als vitale Wertbasis, als irreduzible Grundeigenschaften lebendiger Prozesse, die im Bewusstsein des Menschen und in den symbolischen Formen seiner Kultur angemessen zu repräsentieren sind. Nun ist klar, dass eine einfache Übertragung von Naturprozessen auf ethische Normen menschlichen Verhaltens nicht möglich ist. Ethische Normen entstehen nicht aus sich selbst, sondern aus der Reflexion und intersubjektiven Konsensbildung der Menschen. Und auch die aus der Natur abgeleiteten Werte sind dieser nicht ,an sich' eigen, sondern entspringen einer interpretierenden Auslegung, sind menschliche Setzung und damit auf unhintergehbare Weise ein anthropozentrisches Konstrukt. Das heißt aber nicht, dass solche Konstrukte jeder Validität entbehren, denn dieser Setzungs- und Konstruktcharakter gilt prinzipiell für alle Werte. Sie können vielmehr durch die Plausibilität der Argumente, mit denen sie begründet sind, und durch den Grad ihrer analogischen Evidenz und intersubjektiven Akzeptanz einen hohen Geltungsgrad erlangen. Die Erkenntnis der überlebensnotwendigen Abhängigkeit des Menschen von der Natur legt es beispielsweise nahe, dass bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen natürlicher Ökosysteme auch für menschliches Verhalten Orientierungswert gewinnen können. Die Tatsache etwa, dass diese Systeme zwar auf Selbsterhaltung und innere Stabilität angelegt sind, aber zugleich - gerade für dieses Ziel - durch ständige Veränderungsbereitschaft und offene Systemgrenzen gekennzeichnet sind, lässt annehmen, dass auch für menschliche Identitätsund Kultursysteme das Vermeiden von geistiger Erstarrung und dogmatischer Abgrenzung durch Offenheit für Veränderung und tolerante ,Grenzregime' zu deren Überlebensfähigkeit notwendig sind.35 Und die Beobachtung der koevo34 35
Vgl. dazu u.a. Dürr, 1995: 102ff. Vgl. Finke, 2002, für den etwa Resignation, Dogmatismus und Xenophobie falsche Formen der Beziehung zu jenen primären ökologischen Lebensprozessen sind, auf denen auch die Kulturprozesse aufbauen. Finke findet für die Beziehung von Natur und Kultur die geläufige Metapher von Pferd und Reiter unangemessen, da sie die Illusion vermittelt, die Kultur könne, wie der Reiter ohne sein Pferd, auch ohne die Natur auskommen. Er schlägt stattdessen die Metapher des Epiphyten vor (wie etwa die Mistel), der in Symbiose mit einem anderen Organismus lebt und ohne diesen nicht überleben kann. Die Kultur bleibt in diesem Bild also unaufhebbar an die Natur gebunden, auch
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Ecology
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lutionären, kooperativen Aspekte der Naturgeschichte lässt den Schluss zu, dass auch eine Ethik der „biophilic mutuality" (Ruether) nicht ein reines kulturelles Postulat ist, sondern eine biologische Fundierung hat. Umgekehrt bleibt aber auch die Position jener Deep Ecologists, die in aller Radikalität die Ambivalenz der außermenschlichen Natur akzeptieren und deren makro- und mikrokosmisches Ineinanderwirken von Werden und Vergehen, Schönheit und Verfall, Leben und Tod als Wert an sich postulieren, noch in der Metaphorik der Zurückweisung einer anthropozentrischen Sichtweise unaufhebbar an eine solche gebunden. Zu fragen ist hier allerdings, welche Implikationen die Setzung der außermenschlichen Natur als höchstem Wert in einem solchen radikal-ökozentrischen Wertsystem hätte - ob etwa folgerichtig auch die destruktive Seite der Natur, das Gesetz von Töten und Getötetwerden im Rahmen eines allgemeinen Überlebenskampfs, auf menschliches Verhalten zu übertragen wäre; oder welche Konsequenzen aus dem Problem menschlicher (Über-)Bevölkerung zu ziehen wären, wenn, wie teilweise behauptet wird, das ökologische Gleichgewicht der Erde erst durch eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl um Milliarden von Menschen wiederherzustellen sei. Kriege und Katastrophen, die die Menschheit dezimieren, wären letztlich nichts Bedauerliches mehr, keine furchtbaren Tragödien, deren Eingrenzung oder gar Verhinderung oberstes Ziel einer global orientierten Moral und Politik sein müsste, sondern würden geradezu einen begrüßenswerten Beitrag zum Endziel einer derart fundamentalistischen ,Umweltethik' leisten. Es kann also nicht wirklich um eine außerkulturelle Begründung von menschlichen Werten gehen, oder gar um die Propagierung der außermenschlichen Welt als höchstem Wertmaßstab. Dies hätte vielmehr, konsequent betrieben, fatale politische, soziale und moralische Folgen. Es geht stattdessen um die Einbeziehung eines neuen, bisher vernachlässigten Wertespektrums, das durch eine ökologische Perspektive in den Blick gerückt wird und ins Gesamtsystem kultureller Werte zu integrieren ist. Insbesondere geht es darum, immer wieder neu eine Balance zwischen einem nichtrepressiven Verhältnis zur (außer-)menschlichen Natur und dem legitimen Interesse an menschlicher Selbsterhaltung und geistig-kultureller Selbstentfaltung herzustellen. Diese Balance aber ergibt sich niemals ,νοη selbst', sondern allein aus der bewussten Reflexion und dem durch sie bestimmten Handeln der Menschen. 3.4 Philosophisch-epistemologischer Aspekt: Vom linearen zum nichtlinearen Denken Ein ökologischer Denkansatz hat aber auch philosophische und erkenntnistheoretische Implikationen. Zunächst wird philosophisch von der Annahme einer Welt ausgegangen, d.h. in der traditionellen Unterscheidung von einem ,monisdann noch, wenn sie sich, wie etwa in der Gentechnik und in den aus ihr abgeleiteten utopischen Zukunftsszenarien, vollständig von ihr loszulösen meint.
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I. Theoretischer Teil
tischen' statt einem .dualistischen' Weltbild. Die geistig-kulturellen Phänomene gehören nicht einer separaten, transzendentalen Sphäre an, sondern sind prinzipiell ein wenn auch durchaus eigenständiger und vielfach vermittelter Ausdruck derselben Welt, der auch die materiellen und biologischen Phänomene angehören. Eine wichtige Rolle in dieser Wiederannäherung von Kultur- und Naturkonzeptionen, die wie eingangs schon gesagt mit einer Wiederannäherung von Geistes- und Naturwissenschaften einhergeht, spielt die Kritik eines , mechanistischen' Denkens und Weltbilds und dessen Ersetzung durch ein .organisches' Modell. Gerade hierin lag ja eine wichtige Vorreiterrolle der Romantik, die ein organisches Modell der Naturwirklichkeit mit einem organischen Modell des menschlichen Geistes, der künstlerischen Kreativität und des einzelnen Kunstwerks verband. Dabei besitzen die Hauptelemente Lebendigkeit, Prozesshaftigkeit, Individualität, Interrelation und Vielfalt-in-der-Einheit für die unterschiedlichen Bereiche gleichermaßen Gültigkeit. Allerdings erlangt die künstlerische Imagination eine besondere Bedeutung und Intensität als bewusste Selbsterkundung und Selbstdarstellung dieses kreativen Prozesses. In praktisch allen Arbeiten zur Literary Ecology wird diese Ablösung eines mechanischen durch ein organisches Denken vollzogen, wobei die Metaphorik des .Organischen' sehr weit gefasst ist (konstitutive System-Umwelt-Interaktion, selbstregulierende Energiekreisläufe, prekäre Fließgleichgewichte, offene Systemgrenzen) und die Anbindung an vergleichbare Entwicklungen in den Naturwissenschaften mehr oder weniger explizit erfolgt. Auch geistige Prozesse sind in diesem Verständnis Ausprägungen einer prinzipiell vergleichbaren .Lebendigkeit'. Die Attraktivität einer neueren, nichtmechanischen Sicht des menschlichen Geistes liegt gerade darin, „that it conceives of mental life as .alive' in the same way that all other vital entities of which we have knowledge are ,alive'." 36 Im Licht solcher Vorstellungen erscheint insbesondere ein linear-progressives Weltbild, wie es sich in der Moderne herausbildete, nicht mehr haltbar. Mit der evolutionären Konzeption eines ökologischen Weltmodells wird die Zeitlichkeit als Grundlage aller Phänomene angesetzt, die in irreversiblen Prozessen der Herausbildung, Konsolidierung und Selbsttransformation ihres jeweiligen Zustands sich befinden, welcher stets durch seine spezifischen Vergangenheitsbedingungen geprägt und doch zugleich auf Zukunft hin offen ist. „An ecosystem is a constantly self-transforming continuity. No ecosystem exists outside of time or is adequately representable as anything other than an encompassing ongoing process made up of diversely intersecting subordinate temporal processes."37 Zeitlichkeit, nichtlineare Dynamik, die Überlagerung evolutionär-progressiver und zyklisch-reproduktiver Prozesse sind charakteristisch für die Entwicklung der Kultur, die sich einerseits aus genetischen Determinanten gelöst
36 37
Kroeber, 1994: 151. Kroeber, 1994: 55.
3. Literary
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und gegenüber Naturentwicklungen einen hohen Grad an Eigenständigkeit gewonnen hat, andererseits gleichwohl prinzipiell an deren elementare Energiekreisläufe zurückgebunden bleibt. Lineare Fortschrittsmodelle stellen daher nur die eine, anthropozentrische Seite des Geschichtsprozesses dar, der auf der anderen Seite zugleich unaufhebbar an jene nichtlinearen und zyklisch-reproduktiven Prozesse gebunden bleibt, ohne deren Energien auch kulturelle und geistige Produktion nicht möglich wäre. Einerseits bildet die Fähigkeit zu Wandel und ständiger Selbsttransformation gegenüber drohender Erstarrung die Bedingung der fortgesetzten Evolutions- und Überlebensfähigkeit einer Kultur; andererseits steht aber auch gegenüber einem geschichts- und naturvergessenen Fortschrittsglauben das Bewußtsein der Bedingtheit aller Weiterentwicklung durch die vorausgehenden Entwicklungsstufen, die im jeweils erreichten neuen Zustand sowohl überschritten werden als auch unterschwellig präsent bleiben. Sind daher Flexibilität, Offenheit und Bereitschaft zum Wandel ökologische Basiswerte, so ist gleichzeitig der absolute Bruch des Neuen mit dem Alten, des Fortschritts mit der Geschichte eine Illusion. Die die Moderne bestimmende Idee linearer Progression muß daher durch Konzepte von Rückkopplungsbeziehungen, der variierenden Wiederkehr, der Rückbeziehung des konstruierenden, zukunftsbildenden Geistes auf seine geschichtlichen und naturhaften Vorbedingungen ergänzt und korrigiert werden. Der modernistischen Idee eines der Vernunft transparenten und dem planenden Geist verfügbaren Verlaufs von Zeit und Geschichte steht hier das Bewusstsein der Begrenztheit der Vernunft und ihrer Möglichkeit der vollständigen Kontrolle individueller und kollektiver Geschichte gegenüber. Die Anerkennung der Begrenztheit der Vernunft aus dem Wissen der unaufhebbaren Vernetztheit und Kontextabhängigkeit allen Denkens wird zum wesentlichen Bestandteil einer ökologischen Erkenntnistheorie. Diese Begrenztheit bezieht sich auch auf den Konstruktcharakter der Konzepte, mit denen wir an die Objekte des Erkennens herangehen. Auch ein ökologisches Denken kann keineswegs einen unmittelbaren Zugang zu außerkulturellen, außersprachlichen Wahrheiten beanspruchen. Es muss sich vielmehr des Konstruktcharakters aller unserer Erklärungs- und Deutungsmuster der Wirklichkeit ebenso bewusst sein wie etwa der Konstruktivismus - der allerdings aus dieser Einsicht die verabsolutierende Schlussfolgerung zieht, alles vermeintlich Wirkliche sei nur das Konstrukt des menschlichen Gehirns.38 Es ist hier nicht der Ort, sich grundsätzlich mit den Annahmen des radikalen Konstruktivismus auseinander zu setzen. Die neuere biologische Forschung scheint jedoch darauf hinzudeuten, dass die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zwar wesentlich in der Herausbildung von Konzepten und Kate-
38
Vgl. Siegfried J. Schmidt, (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, furt: Suhrkamp, 1987.
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gorien zum Zweck der Ordnung von Wahrnehmungen und Handlungen besteht, dass diese Kategorien aber zugleich in Reaktion auf die wechselnden Gegebenheiten der jeweiligen Umwelt einer ständigen „re-categorization" unterzogen werden.39 Das heißt, die konstruktive Tätigkeit des menschlichen Geistes ist nicht auf einen bloß selbstreferentiellen Denkapparat beschränkt, sondern als ständige Anpassungsleistung zwischen eigenen Vorstellungen und dem Realitätsdruck der Umwelt bestimmt. Diese Umwelt ist aber für das menschliche Gehirn nicht nur die natürliche, sondern zuallererst eine kulturelle Umwelt, mit der es über die Sprache und die allgegenwärtige Welt kultureller Zeichen entscheidend verknüpft ist. Auf der einen Seite ist klar, dass unser Zugang zur Welt, selbst in seinen scheinbar unmittelbarsten Formen sinnlicher Wahrnehmung, stets von vornherein strukturiert ist nicht nur durch die primären Muster ihrer neurologischen Verarbeitung und unbewussten Kategorisierung, sondern durch die sekundären Muster sprachlicher und kultureller Interpretation, durch die unsere typischen Reaktionen auf die Umwelt geformt werden. Wenn wir über Texte sprechen, so ist es noch offensichtlicher, dass Sprache, Rhetorik und textuelle Kodes und Konventionen aktiv an der Konstruktion der ,Realitäten' beteiligt sind, die sie zu vermitteln versuchen. Auf der anderen Seite scheint es aber plausibel anzunehmen, dass diese perzeptuellen Kategorien und textuellen Konventionen nicht vollkommen autonome Phänomene sind, sondern sich evolutionär im Prozess ständiger Anpassung und ständigen Austausche zwischen Mensch und Umwelt herausgebildet haben.40 Es scheint folglich sinnvoll zu sein davon auszugehen, dass diese Kategorien und Konventionen der Welterfassung weder bloß selbstbezügliche Konstrukte noch direkte mimetische Abbilder vorgängiger Realitäten sind, sondern dass sie stets eine dynamische, interaktioneile Struktur implizieren, eine dialektische Wechselbeziehung also zwischen Wahrnehmung und Konstruktion, zwischen dem rezeptiven Verarbeiten von Erfahrungen und deren aktiver Transformation in unterschiedliche Kontexte kultureller Bedeutungsgebung. Ist also Erkenntnis einerseits nicht völlig in der Blindheit bloß selbstbezüglicher Kategorien gefangen, so ist sie andererseits aber auch nicht aus unmittelbarer Einsicht in naturhaft-vorkulturelle Gegebenheiten begründbar. Möglich und geboten erscheint stattdessen ein neues Bewusstsein für die unhintergehbare, wenngleich diskursiv nie ganz verfügbare Wechselwirkung von Kategorie und Erfahrung, Sprache und Leben, Kultur und Natur, die in manchen Ausprägungen der Postmoderne mit oft apodiktischem Gestus auf den ersteren Pol verkürzt wurde.41 Eine solche Position bricht aus dem
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41
Kroeber, 1994, bes. 139ff. Vgl. dazu Carroll, 1995, der gegen konstruktivistische Auffassungen festhält, dass „cognitive and linguistic categories have evolved in adaptive relation to the environment. "(3) Wie Buell argumentiert, ist zwar hinter die Einsicht der sprachlich-medialen Bedingtheit aller Erkenntnis und literarischen Wirklichkeitsdarstellung nicht zurückzugehen. Den-
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Zirkel reiner Selbstreferentialität aus, o h n e in d e n u m g e k e h r t e n D o g m a t i s m u s e i n e s naiven, vorsprachlichen R e a l i t ä t s b e z u g s zurückzufallen. A l l e r d i n g s hat s i c h in e i n e m ö k o l o g i s c h e n Erkenntnismodell nicht nur die Seite der m e n s c h l i c h e n Erkenntnisaktivität, sondern auch die Seite d e s R e a len', auf die j e n e sich bezieht, g r u n d l e g e n d g e g e n ü b e r d e m klassisch-naturwiss e n s c h a f t l i c h e n M o d e l l der M o d e r n e geändert. Realität selbst ist nichts m e h r unveränderlich o n t o l o g i s c h G e g e b e n e s , sondern in e i n e m ständigen P r o z e s s der Veränderung und Selbsttransformation befindlich. S i e ist w e n i g e r Faktizität als Potentialität, ein u n e n d l i c h e s M ö g l i c h k e i t s f e l d , das sich in stets nur temporäre Konkretisationen umsetzt. 4 2 Ö k o l o g i e verbindet sich hier mit Erkenntnissen der neueren Physik, i n s b e s o n d e r e der Q u a n t e n p h y s i k , in der ein statischer Wirklichkeitsbegriff durch den B e g r i f f einer d y n a m i s c h e n Potentialität, einer sich ständig neu hervorbringenden und w a n d e l n d e n Welt transitorischer P h ä n o m e n e ersetzt wird. ... an ecological view of living nature, like the new physics, finds it inappropriate to view the world as an array of precisely demarcated things or substances. In place of this object ontology is proposed an ontology of events or field patterns: from this point of view each living thing is a dissipative structure, that is it does not endure in and of itself but only as a result of the continual flow of energy in the system. An individual organism, like an elementary particle, is, as it were, a momentary configuration, a local perturbation, in an energy field. This is holistic rather than atomistic, organic rather than mechanistic. 43
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noch aber bringt ein ökologischer Denkansatz die Annahme einer wie auch immer gearteten „referentiellen" und „repräsentierenden" Funktion der Texte mit sich. Vgl. Buell, 1995, bes. 83ff. Vgl. Dürr, 1995, bes. 96ff. Hayward, 1995: 29. - „Dissipative structures" sind nach Ilya Prigogine Strukturen, die sich nur durch ständige Transformation und ständigen Verbrauch von Energie aufrechterhalten und die ein nie völlig erkennbares oder kontrollierbares Moment des Unvorhersehbaren enthalten. (Vgl. Ilya Prigogine/Isabelle Stengers, Order out of Chaos, New York: Bantam 1984.) - Dieses Konzept lässt sich nach Paulson sowohl auf physischnaturhafte Energiesysteme wie auf kulturelle Informationssysteme - insbesondere auf literarische Texte - anwenden. Literarische Texte sind solche dissipativen Strukturen im Bereich der modernen Informationssysteme, die durch ihre Abweichung vom Erwarteten und Eingespielten als cultural noise wirken und damit spezifische Verfremdungs- und gleichzeitig Innovationsleistungen für die Kultur als ganze erbringen. Vgl. William Paulson, The Noise of Culture. Literary Texts in a World of Information, Ithaca and London: Cornell UP, 1988. - Auch Christoph Bode, Ästhetik derAmbiguität. Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen: Niemeyer, 1988, zieht in seiner funktionsorientierten Darstellung der gesteigerten Mehrdeutigkeit moderner Literatur (Joyce, Beckett) Vergleiche mit dissipativen Strukturen und evolutionären Prozessen, um die ständige Selbstüberschreitung der Literatur und die Entwicklung immer neuer Möglichkeiten ihrer sprachlich-medialen Selbstorganisation verstehbar zu machen. Offenheit, Selbsttranszendierung und Koevolution mit der außerliterarischen Entwicklung sind die Merkmale des literarischen Systems, das durch seine Entpragmatisierung und semiotische Selbstreferenz zum bevorzugten Ort kreativer Prozesse wird. (z.B. S. 250ff.)
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Eben darum resultiert die ideologie- und konventionsbedingte Erstarrung kultureller und sprachlicher Kategorien der Welt- und Selbstauslegung innerhalb spezifischer systemischer Ausprägungen der modernen Zivilisation nicht nur in einem kulturellen Sinn-, sondern auch in einem Erkenntnisverlust, dem die Literatur als dynamisch-prozessuale Exploration pluraler Bedeutungs-, Diskursund Erfahrungswelten entgegenwirkt. 3.5 Ästhetischer Aspekt: Analogien zwischen ökologischen und ästhetischen Prozessen Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, faltet sich ein ökologischer Denkansatz in verschiedene Aspekte auf, die wichtige Bereiche des literaturund kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses in neuem Licht erscheinen lassen. Die zuvor für die politisch-ideologische, kulturanthropologische, ethische und philosophisch-epistemologische Seite skizzierten Konsequenzen sind aber in dem hier besonders interessierenden Bereich von einiger Tragweite, nämlich im Bereich des Ästhetischen. Die Kategorie des Ästhetischen ist in der neueren angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie in ihrem Geltungsanspruch so sehr in Frage gestellt und mit einem grundsätzlichen Ideologieverdacht belegt worden, dass sie in maßgeblichen Ausprägungen der Cultural Studies lange Zeit kaum mehr eine Rolle gespielt hat. In den letzten Jahren sind allerdings deutliche Tendenzen zu einer Rehabilitierung des Ästhetischen festzustellen, die sich aus den unterschiedlichsten Argumentationslinien herleiten und vor allem ein Gegengewicht gegen eine rein politisch-moralische Sicht von Kunst und Literatur herstellen wollen, ohne die kulturelle Relevanz der Literatur preiszugeben - ja um sie auf diese Weise erst eigentlich wiederzugewinnen.44 Ein kulturökologischer Ansatz, wie er in diesem Buch anvisiert wird, fügt sich in diese Tendenz ein. Denn auf seiner Grundlage erfahren wichtige Merkmale, die in der Geschichte der Literaturtheorie mit dem ,Ästhetischen' assoziiert wurden, eine entschiedene Neubewertung. Schon in den vorstehenden Ab44
Vgl. etwa den gewichtigen Sammelband Why Literature Matters. Theories and Functions of Literature, eds. Rüdiger Ahrens und Laurenz Volkmann, Heidelberg: Winter, 1996; vgl. auch Wolfgang Iser, „Von der Wiederkehr des Ästhetischen", (ersch. in Theorien der Literatur, Hgg. H.-V. Geppert und H. Zapf, 2003) wo Iser die Wiederkehr des Ästhetischen und seine Ausweitung auf außerkünstlerische Bereiche (Werbung, Sport, Politik) als Signatur des heutigen Kulturzustands beschreibt. Das Ästhetische wird dabei aus seiner engen Bindung an die Kunst, die vor allem im frühen 19. Jahrhundert etabliert wurde, gelöst und, seiner mystischen Aura entkleidet, zu einem Mittel der sinnlichen Wirkungssteigerung in allen möglichen Kulturbereichen eingesetzt. Demgegenüber gilt die Aufmerksamkeit in diesem Buch - hierin eher Karl Heinz Stierles Position in Ästhetische Rationalität entsprechend - der nach wie vor als relevant betrachteten Verbindung des Ästhetischen mit der (literarischen) Kunst, in welcher das Ästhetische, aus den verschiedenen Formen seiner Instrumentalisierung und Zweckbindung freigesetzt, mit besonderer Intensität seine explorativen und imaginativen Energien entfalten kann.
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schnitten deutete sich immer wieder eine Verwandtschaft zwischen ökologischen und ästhetisch-literarischen Weltzugängen an. Diese Affinität bezieht sich nicht nur auf inhaltliche Realitäts-, Erfahrungs-, Wert-, und Wissensbereiche, sondern insbesondere auch auf bestimmte Strukturen der Weltauffassung. - Zunächst wird das Grundaxiom der Ökologie, „everything is related to everything else", also dass alles mit allem in potentiell infiniter Weise zusammenhängt, in der Literatur aus einem allgemeinem Denkpostulat zu einem konkreten Strukturprinzip der Texte gemacht. Dadurch unterscheidet sie sich nicht nur von den die Phänomene trennenden und isolierenden Naturwissenschaften und den konzeptuellen Reduktivismen von Ideologien, sondern überschreitet auch die situations- und interessensbedingten Begrenzungen pragmatischer Textsorten. Insbesondere der überlieferte Dualismus von Geist und Körper, Vernunft und Sinnlichkeit wird subvertiert und überschritten durch den Grundvorgang ästhetischer Repräsentation selbst als dem „sinnlichen Scheinen der Idee" (Hegel), d.h. der wechselseitigen Spiegelung und Durchdringung des Ideellen und Materiellen, des Abstrakten und Konkreten, die die literarische Inszenierung kultureller Erfahrung kennzeichnet. Die Rückkopplung geistiger mit konkret-sinnlichen Prozessen ist eine wesentliche Annahme der Ökologie, die zugleich einer wichtigen ,generativen Signatur' des Ästhetischen entspricht, wie Wolfgang Iser dies nennt.45 Die Konkretheit der Kunst ist in dieser Sicht nicht mehr, wie bei Hegel, ein vormoderner Anachronismus und ein bloßes Durchgangsstadium im Fortschreiten des sich selbst verwirklichenden Geistes, sondern vielmehr Ausdruck einer notwendigen Rückbindung begrifflicher Abstraktion und philosophischintellektueller Systembildung an sinnlich-konkrete Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse. Die Logik der Begriffe mit ihrer Tendenz zur Generalisierung und Klassifizierung, zur Inklusion und Exklusion, kurz: zur Hierarchisierung und Grenzziehung zwischen Bewusstseinsebenen und Daseinsbereichen, öffnet sich im Modus des Ästhetischen auf ein dynamisches Spannungsfeld sprachlicher Energien, die durch eine ständige Bewegung des Grenzüberschreitens, der Enthierarchisierung, des Aufeinanderbeziehens des Getrennten, der Annäherung des Systemisch-Konzeptuellen an die Vielgestaltigkeit konkreter Lebenszusammenhänge gekenn-
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Den Ausdruck .generative Signatur' verwendet Iser, „Von der Wiederkehr des Ästhetischen", für verschiedene Zuschreibungsmodelle, die das Ästhetische in jeweils wechselnden historischen Gestalten zu bestimmen versuchten und dessen Stationen für ihn vor allem durch Kant, Hegel, Adorno und schließlich neuere kybernetisch-funktionstheoretische Zugangsweisen markiert sind. Die hier von mir allgemein als solche bezeichnete .generative Signatur' des Ästhetischen als einer kulturellen Form, in der in bevorzugter, ja konstitutiver Weise die symbolische Rückkopplung des Abstrakten mit dem Konkreten, des Begrifflichen mit dem Sinnlichen, des Systemisch-Diskursiven mit dem Prozesshaft-Prädiskursiven stattfindet, weist allerdings eine relativ hohe kulturgeschichtliche Konstanz und Geltung über unterschiedliche historische Ausprägungen hinaus auf.
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I. Theoretischer Teil
zeichnet sind. Dies zeigt sich sowohl auf der Mikroebene der sprachlichen Zeichen, die durch Verfremdung ihrer konventionellen Verwendungsweisen und ständige Neukombinationen ,verflüssigt' und in einen Prozess der Bedeutungsverdichtung und Bedeutungspluralisierung versetzt werden.46 Es zeigt sich aber auch auf der allgemeineren Ebene kulturbestimmender Konzepte, Ideologeme und Deutungssysteme, die der literarische Text in ihren Geltungsgrenzen aufdeckt, indem er sie mit der Mehrdimensionalität konkret simulierter Figuren, Beziehungen und Handlungsszenarien konfrontiert. Kunstwerke sind in dieser Sicht gewissermaßen beides zugleich: Laboratorien der menschlichen Selbsterkundung, in denen Grundannahmen vorherrschender Deutungssysteme an simulierten Lebensprozessen ,getestet' werden, und imaginative Biotope, in denen sich die Ansprüche der von diesen Systemen vernachlässigten Lebensenergien Geltung verschaffen. Ebenso wird in der Literatur, anders als in anderen Textformen, der prozessuale, transitorische und sich ständig verändernde Charakter der Realität zum unmittelbaren Teil der Texterfahrung, die die linearen Muster menschlicher Teleologien mit deren unvorhergesehenen Konsequenzen und inneren Widersprüchen, aber auch mit den Turbulenzen und zyklischen Rekurrenzen elementarer Lebensprozesse konfrontiert. Zeitlichkeit wird zu einer Grundbedingung ästhetischer Erfahrung, die allein in ihrer je neu vollzogenen Prozeßhaftigkeit ihre Aussagekraft und explorative Intensität gewinnt. - Ein weiterer Punkt der Übereinstimmung ist der der Vielfalt-in-der-Einheit, der multeity-in-unity, wie sie bereits der englische Romantiker und Literaturtheoretiker Samuel Taylor Coleridge als Merkmal literarischer Texte hervorhob. Demnach wird im ästhetischen Repräsentationsmodus die Vielgestaltigkeit der geistigen wie der sinnlichen Anschauungs- und Erfahrungswelt solchermaßen zur Darstellung gebracht, dass auf der einen Seite die unverwechselbare Individualität und Diversität der Einzelphänomene betont und gegen deren Vereinnahmung durch vorgängige Systemzwänge mobilisiert wird, dass aber andererseits zugleich die unaufhebbare Interrelation dieser Phänomene untereinander, im Sinn ihrer jene vorgegebenen Systeme sprengenden, lebendigen Wechselwirkung erkundet wird. Dies gilt wiederum sowohl für die Ebene der einzelnen sprachlichen Zeichen, die im ästhetischen Modus ganz dezidiert in ihrer semiotischen Individualität und ihrem je unverwechselbaren Bedeutungsprofil herausgebracht werden und doch diese Individualität erst in einem über andere Zeichen sich entfaltenden Bedeutungsprozeß gewinnen. Es gilt ebenso sehr für die Ebene der größeren, sprachlich fingierten Welt sowie für die menschlichen Akteure, die sie bevölkern, deren individuelle Identität im literarischen Text radikaler als in anderen Textformen
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Diesen Aspekt haben vor allem die Formalisten in ihrem Ansatz einer Deviationsästhetik als Charakteristikum literarischer im Vergleich zu nichtliterarischen Texten herausgestellt. Vgl. dazu etwa Bode, 1988.
3. Literary Ecology
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erforscht und doch zugleich in komplexen Beziehungsgeflechten gezeigt wird, durch die sie wesentlich mitbedingt erscheint. Und es gilt schließlich auch für die Ebene des Werks selbst, das auf eine unverwechselbar individuelle ästhetische Gestalt angelegt ist und diese doch erst durch die vielfältigen kontextuellen und intertextuellen Bezüge erlangt, in denen es sich konstituiert. Diese relationale Qualität, die hier als wesentliches Merkmal des Ästhetischen sichtbar wird, ist aus ökologischer Sicht von besonderem Interesse. Die Zugangsweise der klassisch-modernen Naturwissenschaft hat wesentlich das Prinzip der methodischen Isolierung von real zusammengehörigen Phänomenen zum Zweck größerer Klarheit, Eindeutigkeit und der daraus resultierenden Verfügung über die Welt zur Grundlage. Damit geht jedoch eine Verkürzung und Verarmung des Wirklichkeitsbezugs einher, eine „atomistisch-mechanistische Betrachtungsweise" und „Fragmentierung der Wirklichkeit", da sowohl der innere Zusammenhang von Subjekt und Objekt wie der zwischen den beobachteten Phänomenen vernachlässigt wird, mithin „für das Grundverständnis" von Wirklichkeit „wesentliche Verbindungen durchtrennt werden."47 Dies gilt mutatis mutandis auch für politische, ideologische oder pragmatische Zugänge zur Wirklichkeit, sofern diese auf unmittelbare Zwecke der Machtsteigerung und Naturbeherrschung ausgerichtet sind. Gerade aber in der solchen unmittelbaren Daseinszwecken enthobenen, durch hochgradige Unbestimmtheit und Bedeutungspluralisierung gekennzeichneten Dimension des Ästhetischen kann dieser innere Zusammenhang des kulturell Getrennten symbolisch wiederhergestellt werden. Kunst und Literatur sind notwendig, um das „Gemeinsame unseres Seins aufzudecken, die wechselseitige Bedingtheit der verschiedenen Teile unserer Wirklichkeit und ihrer wechselseitigen Relevanz" zu beleuchten. 48 Der Mangel an Exaktheit und Eindeutigkeit literarischer Repräsentation von Wirklichkeit, die spezifische Unschärfe und Mehrdeutigkeit der Literatur, die ihr aus einer ökonomisch-zweckrationalen Sicht immer wieder vorgeworfen und zum Stigma ihrer gesellschaftlichen Funktionslosigkeit gemacht wird, wird somit zur Bedingung ihrer besonderen, kulturell wesentlichen Funktion. Sie nämlich ist das Signum einer Diskursform, die jene in logozentrischen, technokratischen, ökonomischen und ideologischen Zugangsformen gebändigte Vielgestaltigkeit und Mehrdimensionalität des Wirklichen erst zur Geltung kommen lässt. „Durch mannigfache Spiegelung kann Poesie bewirken, die Topologie, die Beziehungsstruktur von Wirklichkeit aufzuhellen. Hierbei erleichtert Unschärfe die Gestaltwahrnehmung, Verfremdung verhindert, dass das Gesagte wörtlich genommen wird."49 Die Unschärfe der Literatur hat also nichts mit Ungenauigkeit zu tun, denn Literatur lebt im Gegenteil gerade aus der höchsten Genauigkeit ihrer Be-
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Dürr, 1995: 113, 106. Dürr, 1995: 119. Dürr, 1995: 101.
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I. Theoretischer Teil
obachtungen und der extremen Ausdifferenzierung ihrer sprachlich-kommunikativen Ausdrucksprägnanz. Ihre Unschärfe entsteht vielmehr nicht zuletzt durch die Mehrdimensionalität und Simultaneität der sprachlich imaginierten Lebensprozesse, die sie zueinander in Beziehung setzt und mit der sie sich, gerade durch die Suspendierung direkter Wirklichkeitsbezüge, der prozesshaften Offenheit und komplexen Beziehungsstruktur des Wirklichen annähert. Ein hiermit angesprochenes, herausragendes Kriterium ästhetischer Texte, das aus ökologischer Sicht neue Legitimität und Aktualität gewinnt, ist ihre Komplexität. Das Studium komplexer Strukturen ist ein Zweig interdisziplinärer Wissenschaften, der in jüngster Zeit besondere Konjunktur hat und die Untersuchung unterschiedlichster Phänomene wie etwa des Klimas, der Wirtschaft, der Kultur, oder der Operationen des menschlichen Geistes in ihrer je spezifischen, nichtlinearen Dynamik beleuchtet.50 Literarische Texte scheinen sich nun dadurch auszuzeichnen, daß sie Komplexität - d.h. das spannungreiche Zusammenwirken von Widersprüchlichem und Miteinander-Verwobensein von Gegensätzlichem - nicht nur sprachlich erkunden, sondern in den verschiedensten kulturellen und naturhaften Kontexten zur Geltung bringen. Anders als nur mechanistisch erklärbare „complicated systems" sind komplexe Systeme, wie sie sich vor allem in der Literatur ausbilden, nach William Paulsons informationsund chaostheoretisch inspirierter Studie The Noise of Culture durch eine „discontinuity in knowledge between the parts and the whole" gekennzeichnet51 also durch ein Moment des Irregulären und Unbestimmbaren, das nicht eindeutig objektivierbar ist, dennoch aber eine unabweisbare Evidenz besitzt. Es handelt sich hier um keine künstliche Kompliziertheit oder einen elitären Kult des Schwierigen, sondern um eine partiell chaotische und doch zugleich hochstrukturierte Form der Komplexität, die vitalen Bedürfnisstrukturen und Selbstwahrnehmungsformen des Menschen zu entsprechen scheint. Die Wiederherstellung von Komplexität gegen vereindeutigende Reduktionsformen von Bewußtsein und Erfahrung durch Politik, Ideologie, Ökonomie oder Massenmedien erscheint von daher als ein wichtiger , ökologischer' Impuls der Literatur. Auch die damit zusammenhängende Annahme, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, ist eine Grundthese literarischer Ästhetik, die sich als keineswegs esoterisch erweist, sondern im Licht der modernen Ökologie neue Relevanz gewinnt. Das Prinzip „the whole is more than the sum of its parts" ist keine metaphysische Setzung, sondern das Ergebnis der Beobachtung konkreter Lebenssysteme (etwa eines Ameisenstaats, eines Fischschwarms, eines Biotops), das ein Moment der Inkommensurabilität und Unausrechenbarkeit in die kognitiven Erfassungsversuche der Wirklichkeit hineinbringt, das um so mehr für
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Vgl. z.B. Klaus Mainzer, Thinking in Complexity. The Dynamics of Complex Systems in Science and the Humanities, Berlin: Springer, 19962. Paulson, 1988: 108ff.
3. Literary
Ecology
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kulturelle Phänomene zu berücksichtigen ist. Es handelt sich dabei zwar um eine für ihre Umwelt offene, in ständigem Fluss befindliche und nie die einzelnen Elemente einfach unter sich subsumierende Ganzheit, aber doch um eine Ganzheit, die sich aus der Interaktion der Einzelelemente als deren Gravitationsfeld ergibt, auf das sie konstitutiv bezogen sind. Heinz-Ulrich Nennen hat solche Parallelen zwischen ökologischen und ästhetischen Strukturen am Beispiel der Landschaftsästhetik herausgestellt, wie sie sich zunächst in der Malerei, und später dann in der Literatur des 18. Jahrhunderts, entwickelte. Dabei rücken die Kriterien der „Ganzheit" des Bildes/Textes als einem „Ökotop", des Bezugs der Einzelelemente zum „Gesamt-,haushalt'" des Artefakts, der Balance und des Aufeinander-Abgestimmtseins der Elemente als „ökologisches Gleichgewicht", die Markierung der Außengrenzen des in sich distinktiven Bildes/Textes als „Biotop-Grenzen" und der nach innen hin kontinuierlich-prozesshaften Offenheit als „Energiefluss-,System'" in den Blick. 52 Der bei Nennen zugrundegelegte Kunstbegriff ist zwar eher klassisch-traditionell; die Einflüsse einer stärker dynamischen, chaotisch-nichtlineare Elemente einbeziehenden (post-)modernen Kunstkonzeption wären darüber hinaus zu berücksichtigen. Gleichwohl bedeutet das Gesagte prinzipiell auch für den literarischen Text, dass er erst adäquat betrachtet wird, wenn seine ästhetische Eigendynamik zunächst einmal akzeptiert wird, auch und gerade wenn seine Einbettung in größere Systemkontexte untersucht wird. Die Annahme wenn nicht einer Autonomie so doch einer semiotischen Sonderstruktur des literarischen Textes erhält hier unverhoffte Unterstützung sowohl gegen den radikal dezentrierenden Textbegriff des Poststrukturalismus wie gegen den entdifferenzierenden Kontextbegriff des Neuhistorismus und der Cultural Studies. Es scheint also auch unter diesem Aspekt, dass erst dann, wenn diese relative Autonomie, diese funktional herausgebildete Eigenständigkeit der ästhetischen Dimension anerkannt wird, auch die spezifische Leistungsfähigkeit der Literatur im Gesamthaushalt der kulturellen Diskurse angemessen erfassbar wird. Die Affinität ökologischer und ästhetischer Modelle bezieht sich schließlich auch auf die Rezeptionsseite der Literatur. So wie in ökologischer Sicht Geist und Selbstbewusstsein erst aus ihrer Rückbindung an Natur und Sinnlichkeit verstehbar sind, so ist in ästhetischer Kommunikation die Reflexion menschlicher Subjektivität stets an symbolisch vermittelte Prozesse der Wahrnehmung, des Erlebens und der psychologisch-emotionalen Erfahrung zurückgebunden. Die Freisetzung des Lesers aus den pragmatisch eingespielten Automatismen seiner Fremd- und Selbstwahmehmung ermöglicht eine Steigerung sowohl der reflexiven wie der affektiven Bewusstseinsaktivität. In dem sprachlich eröffneten, erfahrungs- und bedeutungsoffenen Wechselspiel zwischen Wahrnehmung
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Nennen, 1991: 114.
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I. Theoretischer Teil
und Kognition, sensation und reflection, bezeichneter Welt und interpretierender Zeichenauslegung wird eine ungewöhnlich große Breite und Intensität verschiedenster Bewusstseinsvermögen aktiviert, die sich nicht nur wechselseitig aufeinander beziehen, sondern auch ständig auf sich selbst zurückwirken.53 Dabei wird die Individualität des Lesers in immer neuen, bis dahin unrealisierten Möglichkeiten entfaltet, bleibt aber zugleich auf den im Rezeptionsprozess sich aufbauenden, wenngleich nie völlig einzuholenden Sinnzusammenhang des Textes bezogen. In der Polarität zwischen der produktiven Textrezeption des Lesers und deren gleichzeitigen Öffnung auf einen transindividuellen Bedeutungsvorgang spielt sich mithin eine kreative Rezeptionstätigkeit ab, die im Leseprozess noch einmal die in einem ökologischen Denkmodell charakteristische Dialektik von individueller Selbstentfaltung und bewusster Selbstbegrenzung vollzieht, welche gleichzeitig einen Akt der Selbstüberschreitung auf die im Text sich ausspielende Instanz des Anderen darstellt. Ja man kann wohl sagen, dass der Akt des Lesens als ein Sich-Einlassen auf die Andersartigkeit des Textes, die dennoch in der Vielfalt ihrer möglichen Beziehungen zum eigenen Selbst erkundet wird, einen paradoxen Akt der Selbstentfaltung durch bewusste Selbstbegrenzung darstellt, eine Steigerung der Möglichkeiten des Selbst durch die Steigerung der Sensibilität für dessen ,Anderes' - das Andere des Textes, der Subjektivität des Autors, der anderen Epoche, der fremden Kultur.54 Und es scheint, dass auch auf der Rezeptionsseite die .ökologischen' Merkmale ästhetischer Erfahrung einen Prozess beschreiben, der im Durchgang von der subjektiven ,Präfiguration' kulturellen Wissens über dessen symbolisch-narrative Konfiguration ' im Text zu seiner,Refiguration ' im Akt des Lesens in immer neuen historischen Gestalten die kreative Erneuerung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Kommunikation bewirkt.55
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Die „Steigerung eines komplexen Wahrnehmungsvermögens" als Folge des „Leistungsüberschusses menschlicher Vermögen", der sich in literarischen Werken manifestiert, ist auch nach Stierle ein wichtiger Aspekt ästhetischer Erfahrung, vgl. 1996: 17-18. Zur Analyse von Rezeptionsprozessen als generative Rückkopplungsschleifen von Leseaktivitäten vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München: Fink, 1972. - Vgl. hierzu auch bereits Coleridges Diktum: „the poet ... brings the whole soul of man into activity." S.T. Coleridge, „Biographia Literaria", Chapter XIV, in Critical Theory since Plato, ed. Hazard Adams, New York etc.: Harcourt Brace Jovanovich, 1971: 471. Insbesondere in Paul Ricœurs Hermeneutik kommt dieser Sachverhalt zur Geltung, daß der Leser erst durch das Sich-Verlieren im Anderen des Textes sich selbst finden kann. Das Selbst als ein Anderer, München: Fink, 1990, v.a. Kap. „Das Selbst und die narrative Identität": 173-206. Die Begriffe Präfiguration, Konfiguration und Refrguration stammen von Paul Ricoeur, der sie insbesondere im Hinblick auf die Transformationen der Zeiterfahrung in imaginativen Texten verwendet, vgl. Zeit und Erzählung, 3 Bde., München: Knopp, 1988: 91.
4. Literatur als kulturelle Ökologie
Im Durchgang durch die verschiedenen Aspekte und Positionen, die im Blick auf gegenwärtige Bemühungen zu einer Verbindung von Literatur und Ökologie als relevant erscheinen, dürften inzwischen die Konturen dessen deutlicher geworden sein, was hier unter Literatur als ,kultureller Ökologie' verstanden wird. Dabei ist immer zu bedenken, dass es sich nicht um eine einfache Übertragung des einen auf den anderen Bereich handelt, sondern um eine Analogiebildung, die erst durch das Bewusstsein der Differenz der Bereiche und der spezifischen Transformationen, die zwischen ihnen notwendig sind, ihren Erklärungswert erhält. Das ökologische Epistem stellt also eine Erweiterung, nicht eine Ersetzung der literatur- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik dar, und die Beschreibung ästhetischer Strukturen mit Hilfe ökologischer Begriffe beabsichtigt eine Ergänzung und transdisziplinäre Öffnung, keine Ablösung von Poetik und Ästhetik. Im Gegenteil sind umgekehrt auch deren Begriffe und Kategorien notwendig, um die Transformation der an primären Lebensprozessen orientierten Ökologie auf die Ebene der kulturellen Diskurse und Texte allererst zu ermöglichen. Diese Transformation, wie sie im Vorstehenden aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wurde, lässt eine doppelte, kritisch-subversive wie affirmativ-regenerative Seite der Texte sichtbar werden. Die Demontage einseitig-abgrenzender Ideologeme und erstarrter Weltbilder verbindet sich mit der symbolischen Vergegenwärtigung einer holistisch-vielgestaltigen, prozesshaft-offenen Lebensdimension, die die Texte im vielfach vermittelten und gebrochenen Beziehungsfeld zwischen ,Kultur' und ,Natur' erkunden und aus der sie ihre imaginative Energie beziehen. Literarische Texte sind, in ihrer Bannung übermächtiger Realitätssysteme und ihrem Aufbrechen kultureller Zwangsstrukturen, zugleich Parabeln wiedergewonnener Kreativität.1 Die Texte inszenieren selbst den
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Vgl. hierzu Finke, der die Literatur als „Experimentierfeld möglicher Kulturentwürfe" beschreibt, das die „kreativen Potentiale der Sprache(n) als wesentlicher Energieträger der kulturellen Ökosysteme" trainiere, und der die Kunst als bevorzugten Entfaltungsund Erneuerangsraum kultureller Kreativität betrachtet. „Deshalb ist die Kunst nicht nur als Selbstzweck, als eigenständige Kulturform von Bedeutung, sondern beinahe mehr noch als Vorrats- und Innovationsraum für alle möglichen kreativen Prozesse, wie sie überall in der kulturellen Sphäre zur Erneuerung ihrer Dynamik und fortgesetzten Evolutionskraft vonnöten sind, aber nur in der Kunst relativ frei gestaltet werden können." Diese kreative Energie der Kunst entsteht, wie Finke betont, aus ihrer Wen-
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I. Theoretischer Teil
Prozess, mit dem sie sich aus den konventionsbedingten Erstarrungen ihres kulturellen Ausgangssystems an die elementaren Lebensprozesse annähern, aus deren imaginativer Konfigurierung sie charakteristische Traumata ihrer Kulturwelt repräsentieren und symbolisch bewältigen. Dies bedeutet eine immer neue Überschreitung von der Ordnung zum Chaos, von der paralysierenden Statik eines Ausgangszustands zur Turbulenz krisenhafter Grenz- und Übergangszustände, aber auch die immer neue Einspielung einer Balance der ins Spiel gebrachten gegensätzlichen Energien. System und Krise, Ordnung und Chaos, Balance und Turbulenz sind die Strukturierungs- und Destrukturierungskräfte, mit denen Literatur sowohl in ihren expliziten narrativ-dramatischen Handlungsszenarien wie in ihren impliziten Bedeutungsprozessen charakteristischerweise arbeitet. Literatur als kulturelle Ökologie ist so nicht nur Kritik der Entfremdung und Bilanzierung zivilisatorischen Natur- und Sinnverlusts, sondern „stored energy" (Rueckert), ein semiotisches Kraftfeld innerhalb des Gesamtsystems kultureller Diskurse, das ein stets aktualisierbares Potential sprachlicher und kultureller Erneuerung in sich trägt, und zwar sowohl hinsichtlich der Zeit seiner Entstehung wie hinsichtlich seiner jeweils neuen Aktivierung in der Rezeption ihrer zukünftigen Leser. „A poem is stored energy, a formal turbulence, a living thing, a swirl in the flow. Poems are part of the energy pathways which sustain life. Poems are a verbal equivalent of fossil fuel (stored energy), but they are a renewable source of energy, coming, as they do, from those ever generative twin matrixes, language and imagination." 2 Es ist das Bemühen der Texte, sich in je eigener Weise auf diese unverzichtbaren, revitalisierenden Quellen der Kreativität zurückzubeziehen und sie für Sprache und Kultur immer neu verfügbar zu machen. Dies ist jedoch stets nur indirekt, in semiotischer Vermittlung, möglich, da die vorsprachlichen Ursprünge der Sprache und die vorzivilisatorischen Ursprünge der Zivilisation nur mit eben den Mitteln der Sprache und des zivilisatorischen Diskurses anvisiert werden können, denen sie letztlich unverfügbar bleiben. Diese paradoxe Leistung, das kulturell Unverfügbare dennoch kulturell verfügbar zu machen, ist eine Aufgabe der Literatur, die ihre spezifische Struktur und Wirkungsweise wesentlich mitbedingt. Sie ist nur möglich durch ihre imaginative Sprache und Darstellungsweise, die rationale Diskursformen auf die Bildersprache der Natur, der Sinne, des Unbewussten, des Mythos hinter-
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dung gegen die Erstarrungstendenz konventionalisierter Kultursysteme und -praktiken. Finke, 2002: 22-23. Vgl. auch Bode, 1988, der die Kreativität von Literatur als ,dissipativer' Textform in ihren Eigenschaften der Offenheit, Selbsttranszendierung und Koevolution mit außerliterarischen Entwicklungen verortet. Kreativität erscheint dabei als beschleunigte, durch Bewusstsein transformierte Evolution. (250ff.) Rueckert, 1996: 108. - Der Begriff der Energie wird zwar in Kultur und Literatur zunächst metaphorisch verwendet, bezeichnet aber in der Übertragung von der biologisch-materiellen auf die informationsbezogen-immaterielle Ebene textvermittelter Kommunikation und der psychischen Systeme der an ihnen beteiligten Personen (Autor/Rezipient) durchaus auch .wirkliche' Gegebenheiten - vgl. Finke, 2002: 16f.
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
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schreitet, ohne je ganz den Bereich des Diskursiven verlassen zu können. An dieses Potential und diese Geschichte der literarischen Imagination muss jeder Text anknüpfen, um seine Aufgabe kreativer Sprach- und Kulturinnovation innerhalb der je sich wandelnden historisch-kulturellen und sprachlich-literarischen Bedingungen erfüllen zu können. 4.1 Literatur als kulturelle Ökologie im Kontext anderer Theorieansätze Der Begriff der kulturellen Ökologie wurde zuerst in einem kulturanthropologischen Zusammenhang von Julian H. Steward verwendet und als Ausdruck für das jeweils evolutionär sich herausbildende Gesamtsystem der Beziehungen einer Kultur zur natürlichen Umwelt aufgefasst. 3 Dabei steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit die wechselseitige Beeinflussung von konkret-physischer Lebensumwelt und jeweiliger Kulturwelt in deren Ausprägungen von Technologie, Arbeitsformen, Wertsystemen und daraus sich ergebenden Verhaltensmustern. Annahme des Verfahrens ist, dass die Wechselbeziehung der je historisch und lokal unterschiedlichen Umweltgegebenheiten den Charakter einer Kultur in unverwechselbarer Weise mitbestimmt. Interessanterweise sieht Steward den Menschen dabei nicht allein als Teil eines organischen Lebenszusammenhangs, sondern zugleich in seiner Differenz als Geist- und Kulturwesen: „Man enters the ecological scene ... not merely as another organism which is related to other organisms in terms of its physical characteristics. He introduces the super-organic factor of culture, which also affects and is affected by the total web of life." 4 Steward betrachtet geschichtlich-kulturellen Wandel nicht als monolineares, sondern als multilineares Evolutionsgeschehen, das er an verschiedenen vormodernen, aber auch modernen Gesellschaftsformen aufzeigt. Dabei wird etwa der Zusammenhang zwischen geographisch-klimatischen Gegebenheiten, Produktionsformen, Religionen und Klassen als Aspekten einer miteinander zusammenhängenden, aber je unterschiedlich sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Gesamtentwicklung untersucht. Die ,Kulturökologie', die sich im Anschluß an Stewards Studien entwickelt hat,5 hängt eng zusammen mit Kulturanthropologie und Ethnologie und hat als ihren Gegenstand „die Beziehungen zwischen sozialen Systemen und ihren natürlichen Umwelten." 6 Es geht also 3
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Julian H. Steward, Theory of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution, Urbana: U of Illinois P, 1955. Steward, 1955: 31. Vgl. Bernhard Glaeser und P. Teherani-Krönner, Humanökologie und Kulturökologie, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. Thomas Bargatzky, Einführung in die Kulturökologie. Umwelt, Kultur und Gesellschaft, Berlin: Reimer, 1986: 92. Finke, 2002, ist wie oben bereits gesagt im Begriff, diesen Ansatz einer Kulturökologie in vielversprechender Weise weiterzuentwickeln. - In den Umkreis einer solchen allgemeinen Kultur- oder Humanökologie gehört die vorliegende Untersuchung jedoch nur im weiteren Sinn, da dort Kultur und Gesellschaft als ganze in ihrer Wechselbeziehung mit ihren jeweiligen Umwelten betrachtet werden,
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I. Theoretischer Teil
hier ganz unmittelbar um die realhistorische Basisdimension der Kultur-NaturBeziehung als grundlegendem evolutionären und kulturprägenden Faktor, der als allgemeiner Bezugshintergrund auch für die Literatur wichtig ist, nicht aber im engeren Sinn um die hier gemeinte innerkulturelle Funktionsweise der Literatur im Gesamtensemble kultureller Diskurse und Institutionen. Innerhalb unseres Zusammenhangs hat den Begriff .kulturelle Ökologie' meines Wissens bisher nur William Paulson in seinem kurzen Beitrag „Literature, Knowledge, and Cultural Ecology" verwendet.7 Sein „epistemocritical project", das der formalistischen oder ideologischen Marginalisierung von Literatur entgegenwirken will, hebt darauf ab, „that texts, woven of knowledge, know things that the disciplinary discourses do not or even cannot know."8 Welches diese spezifische Wissensform ist, bleibt allerdings in dem Aufsatz nur skizzenhaft angedeutet. Sie wird zunächst in der Konkurrenz mit anderen zeitgenössischen Medien verortet, vor allem dem Fernsehen als der „dominant epistemology", aber auch mit Film und Computer, gegenüber deren kollektiv vernetzten Kommunikationsformen sich die Literatur auf dem Rückzug befinde. Der Triumph kurzlebiger Denk- und Handlungsansätze in Medien, Politik und Ökonomie steht im Gegensatz zu den „long-term concerns" der Literatur, die etwa die französische epistemocritique (Michel Serres) als heilsames Korrektiv einer Hektik sich jagender Denkmoden ansieht. Doch Paulson ist skeptisch gegenüber einer zu stark retrospektiven Orientierung an großen Werken der Vergangenheit, da sie als Teil eines Museums der Texte gerade die ökologisch notwendige lebendige Austauschbeziehung mit Gegenwartsdiskursen und -interessen verlieren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass mit der zunehmenden Adaption aktueller systemischer, kybernetisch-holistischer Modelle, mit denen sie den sich beschleunigenden Rückkopplungsschleifen der modernen Gesellschaft folgt, auch die spezifische Differenz der Literatur, ihre Kritik dominanter Episteme und ihre Widerständigkeit gegen ideologische Systeme gerade aufgegeben zu werden droht. Paulson scheint die Aufgabe der Literatur irgendwo zwischen diesen Polen zu sehen - einerseits in ihrer Verbindung mit der zeitgenössischen systemischen Epistemologie und ihren globalen Vernetzungen, andererseits in ihrem Widerstand gegen sie als „archaic form of knowledge", ihrer „irreducible otherness, resistant to our schémas."9 Wie diese Aufgabe genauer
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während hier hingegen die Funktionen des Ästhetischen und der literarischen Imagination als einer aktiven, gewissermaßen in Bewusstsein transformierten und mit semiotischer Eigendynamik ausgestatteten Kraft innerhalb der Kulturwelt im Mittelpunkt steht. William Paulson, „Literature, Knowledge, and Cultural Ecology", SubStance. A Review of Theory and Literary Criticism, 22, 1993: 27-37. Paulson knüpft hier partiell an seine Studie The Noise of Culture an. Paulson, 1993: 27. Paulson, 1993: 35.
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
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aussieht, bleibt indessen bei Paulson unklar, auch wenn er zweifellos eines der charakteristischen Spannungsfelder umschreibt, in dem sich Literatur heute befindet. Der Begriff der Ökologie und seine Anwendbarkeit auf literarisch-kulturelle Zusammenhänge wird jedenfalls von ihm nicht näher definiert oder gar nennenswert ausdifferenziert. Funktionsorientierte Ansätze zu einer Beschreibung der Literatur als eines kulturellen Teilsystems innerhalb des Gesamtspektrums und im Konkurrenzverhältnis zu anderen Teilsystemen der Kultur sind nach beachtlichen, aber nur sporadisch weitergeführten Anfängen im funktionalen Strukturalismus10 neuerdings vor allem im Rahmen einer rezeptionsästhetischen Hermeneutik und Literaturanthropologie sowie in einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft entwickelt worden. In systemtheoretischer Sicht geht die Herausdifferenzierung des Sozialsystems Literatur mit der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft zu Ende des 18. Jahrhunderts zusammen, an dem sich auch Institutionen wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Politik als selbständige Teilsysteme etablieren, die sich zunehmend gegeneinander abschirmen und in Konkurrenz zueinander treten. Literatur folgt in dieser Sicht grundsätzlich ähnlichen Prinzipien wie andere Teilsysteme der Gesellschaft, nämlich denen der Selbstreferenz, Selbstorganisation und Autopoiesis. Die Systemtheorie geht dabei, wie ein ökologisches Denken, von einem „ganzheitlich-evolutionären Zusammenhang der Phänomene" aus,11 und betont andererseits die historisch herausdifferenzierte funktionale Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Teilbereiche. Die Besonderheit des Teilsystems Literatur als eines Kommunikationssystems wird unterschiedlich begründet - als die Fokussierung auf „Schönheit bzw. die Möglichkeit von Ordnung auch im Bereich des nur Möglichen" (Luhmann); als Strukturierung des Materials nach „Interessantheit", womit die Unterhaltungsfunktion der Literatur betont wird; als ihre Fähigkeit, das durch keine andere Diskursform abgedeckte Verhältnis von „psychischen zu sozialen Systemen" in seinen je historischen Konstellationen zu erkunden (Reinfandt); oder auch, bei S.J. Schmidt, als Bilanzierung und symbolische Bewältigung der krisenhaften Auswirkungen der Moderne, als „versuchte Überwindung der funktionalen Differenzierung und ihrer Folgeschäden für das Subjekt und die bürgerliche Gesellschaft." 12 Vor allem letztere Bestimmungen sind in unserem Zusammenhang von
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In Deutschland hat diesen Ansatz vor allem Lothar Fietz weiterentwickelt und praktisch umgesetzt: Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion, Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1976. Christoph Reinfandt, „Systemtheorie", in Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe, Hg. Ansgar Nünning, Stuttgart und Weimar: Metzler, 1998: 521-23, 521. Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt: Suhrkamp, 1989: 418.
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I. Theoretischer
Teil
Belang, zumal auch systemtheoretisch von einem modellhaften, durch komplexe Strukturiertheit und Selbstreferenz gekennzeichneten Werkcharakter des literarischen Textes ausgegangen wird, dessen zentripetale Kraft seiner Autopoiesis die zentrifugalen Kräfte der Gattungspoetik, der Intertextualität und Interdiskursivität bündelt und eigendynamisch restrukturiert, die in ihn hineinwirken. Es konturiert sich dabei ein Spannungsverhältnis heraus zwischen der aktiven Beteiligung der Literatur am Prozess der Modernisierung durch evolutionäre Herausbildung wechselnder Stil- und Gattungsprofile einerseits, und ihrer kritisch-bilanzierenden Rolle als Medium der Aufdeckung der vom Subjekt existentiell erlebten Kehrseite des Fortschritts, der kompensatorischen Inszenierung der psychischen Folgeschäden der Moderne andererseits. Die besondere Leistungsfähigkeit zumal der Gattung des Romans, die sich als erfolgreichste Gattung der Moderne etabliert hat, liegt dabei in der „Mehrdimensionalität", mit der sie den Sinnhorizont des Subjekts in der Moderne entfaltet, eine Mehrdimensionalität, die „von Anfang an zum zentralen Merkmal der spezifisch romanhaften Wirklichkeitsorientierung wird."13 Gibt es also gewisse Parallelen zum hier anvisierten kulturökologischen Funktionsmodell der Literatur, so bestehen doch auch signifikante Unterschiede. Denn gerade die über die - kultur- wie textspezifische - Systemlogik hinausgehende Dimension der Texte, ihr begriffs- und abstraktionskritischer Rückgang aufs Bildhaft-Anschauliche sprachlich imaginierter Lebensprozesse, die das ,Andere' dominanter Begriffe und Sinnsysteme symbolisch artikulieren, entzieht sich dem systemtheoretischen Zugriff. Literarische Texte folgen keinen quasi-automatisch funktionierenden, der Evolution der modernen Gesellschaft bloß parallel laufenden Regeln der Selbstorganisation, sondern sind in Produktion wie Rezeption auf die bewusste Gestaltungsenergie konkreter Subjekte und die durch sie ausgelösten generativen Prozesse angelegt. Und es hat den Anschein, dass diese Prozesse systemtheoretisch eben deshalb nicht adäquat erfassbar sind, weil die Möglichkeit von Kreativität offenbar wesentlich mit der
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Christoph Reinfandt, Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Anglistische Forschungen 252, Heidelberg: Winter, 1997: 381. - Stark an der Evolutionsbiologie orientiert ist Karl Eibl in seinem ebenfalls systemtheoretisch inspirierten Versuch, die ,Entstehung der Poesie' als einer eigenständigen, selbstreflexiven Diskursform im Umbruch zur Moderne am Beispiel des deutschen Sturm und Drang zu beschreiben: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt und Leipzig: Insel 1995. - Funktionen der Literatur im Licht der Zivilisationstheorie von Norbert Elias untersucht Reiner Wild, Literatur im Prozess der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 1982, wobei er didaktische, sensibilisierende, entlastende, erfahrungserweiternde, kritische, utopischantizipatorische und nicht zuletzt ästhetisch-affirmative Funktionen diskutiert, die in historisch wechselnden Konstellationen mit Literatur verbunden werden und die ihre besondere, sowohl zivilisationskritische wie zivilisationsfördemde Stellung ausmachen.
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
59
Einbeziehung des Irregulären, Asymmetrischen und Chaotischen in die kognitive und imaginative Organisation komplexen Erfahrungsmaterials zu tun hat.14 Es scheint das besondere Potential der literarischen Imagination zu sein, dieses Verhältnis von systemhaften Ordnungen und deren chaotischen Randbedingungen, von begrifflicher Diskursebene und erlebnishaft-irrationaler Erfahrungsebene in der Polarität von „symmetry and strangeness" (E.A. Poe) in seiner Gebrochenheit und seinen systemisch nicht vorgesehenen Wechselwirkungen zum Ausdruck zu bringen. Wie dieser paradoxale Modus des symbolischen Zur-Sprache-Bringens des diskursiv Unverfügbaren in der Literatur im Spannungsfeld von kulturellem Realitätssystem und imaginativer Transformation gedacht werden kann, hat Wolfgang Iser in seinem Entwurf einer literarischen Anthropologie ausgeführt.15 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dabei die Frage nach dem Fiktionsbedürfnis des Menschen, wie es in der Tatsache, dass seit jeher in allen Kulturen fiktionale Literatur produziert wurde, unabweisbar zum Ausdruck kommt. Iser geht in der Beantwortung dieser Frage nicht länger aus von der konventionellen Dichotomie von Fiktion vs. Realität, sondern von einer dreistelligen Relation von Realem, Fiktivem und Imaginärem, die in ihrem je unterschiedlich sich ausprägenden Verhältnis den funktionalen Zusammenhang von Geschichte, Literatur und Anthropologie beschreibbar machen soll. Das Imaginäre wird dabei als diffuse Vorstellungswelt der Phantasien gedacht, mit denen die Menschen stets neu auf die Gegebenheiten und Widerstände des Realen reagieren, die aber erst durch die spezifische Gestalt, die ihnen der Akt der Fiktionalisierung verleiht, subjektive und kommunikative Prägnanz gewinnen. Das Imaginäre bezeichnet also ein vorbegriffliches und vorsprachliches anthropologisches Antriebs-, Phantasie- und Vorstellungspotential, das in einer je sich ändernden Spannungsbeziehung zum real Gegebenen steht und in fiktionaler Literatur erst sprachlich-symbolisch artikuliert wird. Deren Leistung besteht nach Iser vor allem darin, die welterzeugende Fähigkeit der Imagination so ins Spiel zu bringen, dass ständige Möglichkeiten der Selbsterweiterung des Menschen in den Blick rücken. Durch die fiktionale Begegnung mit immer neuen Versionen des Selbst wird dieses sich seiner Plastizität und seiner potentiell unbegrenzten Möglichkeit zur Selbstüberholung bewusst. „As human beings' extensions of themselves, fictions are ,ways of worldmaking', and literature figures as a paradigmatic instance of this
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Vgl. Karl-Ludwig Pfeiffer, „Gilbert and Sullivan, or the Cultural Poverty of Systems Theory", Anglistentag 1997. Proceedings, eds. R. Borgmeier et al., Trier: WVT 1998: 337^16. - Vgl. auch Stierles gegen die Systemtheorie gerichtete Feststellung, daß jedes im ästhetischen Werk sich aufbauende System jeweils in Spannung zu dem von diesem System nicht Erfaßten, sich ihm Entziehenden und Unverfügbaren steht: Stierle, 1996: 13ff. Iser, 1991.
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I. Theoretischer Teil
process because it is relieved of the pragmatic dimension so essential to real-life situations."16 In einer solchen Auffassung bestehen ebenfalls Parallelen zum hier vertretenen kulturökologischen Literaturbegriff. Die Funktionsbestimmung von Literatur aus dem je historisch sich wandelnden Interaktionsverhältnis zwischen pragmatisch-sozialer Realität und anthropologischer Potentialität, das in den ,phantasmatischen Figurationen' der Literatur inszeniert wird, geht in ähnlicher Weise von einer Dialektik zwischen kulturellem System und imaginärem Gegendiskurs als grundlegender Konstellation aus, aus der sich die spezifische Aussageund Wirkungsweise ästhetisch-fiktionaler Texte ergibt. Andererseits ist Isers Zugang auf einer abstrakteren Ebene als der hier intendierten angesiedelt. Ein kulturökologischer Ansatz ist in mehrfacher Hinsicht konkreter. Zunächst bleibt bei Iser der fiktionale Prozess primär auf ein Möglichkeitsdenken und eine Selbsterweiterung des Subjekts bezogen, während Literatur mit der imaginativen Selbstüberschreitung des Subjekts oft gerade auch die Grenzen des Selbst an den Realitäten des Anderen, der Geschichte, oder des eigenen Unbewußten aufzeigt. Damit bleibt letztlich der Bezug der Texte zur Lebens welt bei Iser eher unterbelichtet. Zwar geht das Reale als Wiederholung einer außertextuellen Welt konstitutiv in die fiktionale Welt ein, durch die es gleichzeitig imaginativ überschritten wird; doch wird es ganz überwiegend unter philosophisch-konzeptuellen, kaum aber unter soziohistorischen, politischen, psychologischen oder biophysischen Aspekten abgehandelt. Dagegen ist in einer kulturökologischen Perspektive der - wie auch immer vermittelte - Geschichts- und Lebensweltbezug der Literatur im Sinn der symbolischen Verarbeitung drängender Problemstrukturen wesentlich, wobei die Aktivierung der Kultur/Natur-Differenz im weitesten Sinn eine wichtige Möglichkeit der im Text entfalteten Rückkopplungsbeziehung zwischen Fiktion und Leben darstellt. Isers Anthropologie der Literatur ist eine eher reflektorisch-intellektuelle Anthropologie, in der der Druck sozialer Anpassungszwänge und kultureller Machtstrukturen eine ebenso untergeordnete Rolle spielt wie die Dimensionen des Körperlichen, des Affektiv-Leidenschaftlichen und des Elementar-Naturhaften, die hingegen in kulturökologischer Sicht unverzichtbare Bedeutung gewinnen. Interessanterweise ist für Iser gerade die Gattung der Bukolik die paradigmatische Ausprägung literarischer Fiktionalität, weil in ihr das Imaginäre in seinem Widerstreit und seiner spannungsreichen Koexistenz mit dem Realen besondere, kontrastive Prägnanz gewinnt. Doch tritt bei ihm die bukolische Gegenwelt primär in ihrem Kunstcharakter, als artifizielles Konstrukt hervor, das sie zweifellos auch ist. Dagegen bleibt die Frage, ob nicht gleichzeitig in diesen imaginativen Kontrastszenarien
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Wolfgang Iser, Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropology, more: Johns Hopkins, 1989: 270.
Balti-
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
61
ökotopische Strukturen und naturnähere Formen des Weltzugangs symbolisch mitkonnotiert sind, ausgeblendet. Konkret-inhaltlicher ist die Literarische Anthropologie von Helmut Pfotenhauer gefasst, die den Menschen als „leibseelisches Ensemble" fasst und „im Gegensatz zu den herrschenden Denktraditionen die alte Aufspaltung von Sinnlichem und Vernunft in eine commercium mentis et corporis', eine Verbindung von Leib und Seele, umdeuten" will. „Darin ist Anthropologie mit der gleichzeitig sich entwickelnden Ästhetik verschwistert, die Subjektivität in ihren konkreten Erscheinungsformen in ihr Recht setzt."17 Auch bei Pfotenhauer hat also Literatur eine Ausgleichsfunktion gegenüber den Vereinseitigungen des Menschenbilds in der beginnenden Modernisierung, denen sie im Sinn einer „Reflexion auf die menschliche Ganzheit" entgegenwirkt, um so einen „durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluss über die Natur des Menschen" zu gewinnen.18 Pfotenhauer bezieht sich zwar speziell auf die Autobiographie im 18. und 19. Jahrhundert, in der dieses Zusammenspiel der verschiedenen, durch Ökonomie, Wissenschaft und Philosophie auseinanderdividierten Seiten des Menschen am exemplarischen Fall einer einzelnen Subjektivität durchgespielt werden kann. Doch ist dieser konkretisierende und reintegrierende Impuls aus der historischen Konvergenz von Literatur, Autobiographie und Anthropologie, in der er bei Pfotenhauer situiert wird, ablösbar und als verallgemeinerbares Grundmotiv der Literatur im Prozess der Modernisierung ansetzbar. Dabei ist allerdings der Unterschied zwischen einem anthropologischen und einem ökologischen Ansatz, dass letzterer eine stärker systemische, den Menschen in seinen natürlichen und kulturellen Umweltbedingungen situierende Betrachtungsweise impliziert, während anthropologische Literaturzugänge stärker am Subjekt und seinen immanenten Konstitutionsprozessen orientiert bleiben. Noch radikaler wird die physisch-prärationale Seite des Menschen in dem kühn ausgreifenden Entwurf einer kulturanthropologischen Medientheorie in Karl Ludwig Pfeiffers Das Mediale und das Imaginäre zur Geltung gebracht. Pfeiffer weitet hier letztlich das Ästhetische auf das Mediale aus und setzt Literatur vor allem mit Theater und Oper einerseits, und mit Sport und Körperinszenierung andererseits in Beziehung. Das Mediale ist bei ihm der Sammelbegriff für jene „extensions of man" (McLuhan), in denen durch sinnliche Präsenzsteigerung und spektakuläre Performanz Ausnahmezustände erlebbar werden, die vorsprachliche Energiequellen aktivieren und in einer logozentrischen Abstraktionskultur das Bedürfnis nach dem Elementar-Leidenschaftlichen zur Geltung kommen lassen. In der Intensität solcher Erfahrungen, wie sie etwa der Modus des Erhabenen vermittelt, findet die „Rückbindung medialer Erscheinungen an
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18
Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien te, am Leitfaden des Leibes, Stuttgart: Metzler, 1987: 1. Pfotenhauer, 1987: 1.
und ihre Geschich-
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/. Theoretischer Teil
das Selbstgefühl unserer eigenen Energien" statt.19 Für Pfeiffer sind diese medial vermittelten Momente intensiv-holistischer Selbsterfahrung in der Moderne weniger in der Literatur als in anderen Medien angesiedelt - Musik, Tanz, Oper, Sport. Doch liegt dies wohl vor allem daran, dass bei ihm der Aspekt des radikal Anderen der abstrakten Reflexions- und Zivilisationswelt als Grund der anthropologischen Faszination des Medialen besonders betont wird. Es sei hier auch gar nicht bestritten, dass es diese Faszination des Spektakulären und diese Mobilisierung von lebenssteigernden Erregungszuständen quer durch die verschiedenen, durch sinnlich-körperliche Inszenierungen gekennzeichneten Medien in stärkerem Maß geben mag als im textuellen Medium der Literatur. Dennoch spielt auch für eine Funktionsbestimmung der Literatur dieses Potential der bildhaft-szenischen Mobilisierung des Vorsprachlichen und Sinnlich-Körperlichen eine wesentliche Rolle. Allerdings ist gerade der entscheidende Differenzpunkt und gewissermaßen der mediale Komplexitätsvorteil der Literatur, dass in ihr das Vorsprachlich-Prärationale immer nur in der Transformation des Textes und das heißt in der Spannungs- und Wechselbeziehung zu den sprachlich-rationalen Bewusstseinswelten zum Ausdruck kommt, deren Anderes es darstellt, und dass gerade dadurch erst jener vielfach rückgekoppelte, mehrdimensionale Representations-, Explorations- und Kommunikationsprozess der Literatur zustande kommen kann, der hier als ,kulturökologisch' bezeichnet wird. Im speziellen Bereich des amerikanischen Romans hat Winfried Fluck mit seiner Studie Das kulturelle Imaginäre ein Funktionsmodell der Texte herausgearbeitet, das auf der Iserschen Triade vom Realen, Fiktiven und Imaginären basiert und an verschiedenen Entwicklungsstufen des amerikanischen Romans bis zum Ende des 19. Jahrhunderts charakteristische Ausprägungen dieses Spannungsverhältnisses aufzeigt.20 Das Fiktive ist dabei dasjenige kulturelle Medium, in dem das in sich diffuse und amorphe Imaginäre erst immer wieder strukturierte Gestalt gewinnt und in ein je neues Verhältnis zu den historisch-systemischen Gegebenheiten des Realen gesetzt wird. Das individuelle Imaginäre wird zum kulturellen Imaginären, indem es sich in fiktionaler Form konkretisiert. Fluck sieht dabei vor allem zwei funktionsgeschichtliche Tendenzen am Werk: einmal die zunehmende Freisetzung des Imaginären aus kollektiven Normen und den Beschränkungen des Realen; und zum anderen die Koppelung dieser Autonomisierung des Imaginären an eine zunehmende Selbstautorisierung des Individuums, eine Entwicklung, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Kate Chopins The Awakening kulminiert und die sich im 20. Jahrhundert konsequent bis hin zum „expressiven Individualismus" der Postmoderne fortsetzt. Fluck liefert
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20
Karl Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt: Suhrkamp, 1999: 163. Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790-1900, Frankfurt: Suhrkamp, 1997.
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63
hier eine in ihrer Weise exemplarische, um verschiedene Kerntexte herum angelegte Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, die diesen als „Medium kultureller Selbstverständigung", das „neben etablierte Sinnbildungssysteme wie Religion, Moralphilosophie und Philosophie" tritt,21 betrachtet und in seinen wichtigsten Entwicklungssträngen, kontextuellen Einbettungen und ästhetischen Wirkungspotentialen herausstellt. Die von Fluck unternommene Funktionsbeschreibung der Literatur hat ebenfalls eine gewisse Affinität zu dem hier vertretenen kulturökologischen Modell, insbesondere in der Bestimmung fiktionaler Literatur als kompensatorischer Artikulation unrealisierter Sinnbedürfnisse und zugleich als aktiv-diskursverändernder Instanz, in der das Imaginäre enthierarchisierend in die Definitionsmacht des Realen eingreift. Gleichzeitig geht es aber hier nicht um eine kontinuierlich erzählte Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, sondern um ein grundlegendes Modell der literarischen Transformation von Erfahrung unter dem doppelten Gesichtspunkt von Kulturkritik und kultureller Selbsterneuerung, der symbolischen Rückkopplung kultureller Systeme an Prozesse elementarer Kreativität. In diesem Licht stellt sich auch die bei Fluck aufgestellte These einer zunehmenden geschichtlichen Emanzipation des Imaginären und Individuellen etwas anders dar. Sie hat zwar ihre relative Berechtigung, ist aber zu erweitern durch die Annahme, dass sich auf jeder historischen und ästhetischen Evolutionsstufe der Literatur in jeweils neuer Weise das Imaginäre in komplexe Wechselbeziehungen zum Realen setzt, und dass die aus konventionellen Bindungen freigesetzte Individualität dennoch immer wieder in neue, wenn auch noch so multiple Beziehungsstrukturen eingebunden wird. Literatur als kulturelle Ökologie verbindet mithin eine reflexive und eine relationale Komponente. Sie eröffnet zum einen Spielräume der Entfaltung, Erweiterung und Pluralisierung individuellen Bewusstseins und der imaginativen Lebenssteigerung; und sie erkundet zum anderen das spezifische Erkenntnis- und Sinnstiftungspotential, das in der unauflöslichen Rückbindung und Vernetzung des einzelnen Individuums mit anderen Individuen, des Imaginären mit Erfahrung, der Kultur mit anderen Kulturen, der Zivilisation mit der Natur liegt. 4.2 Triadisches Funktionsmodell: Literatur als kulturkritischer Metadiskurs, imaginativer Gegendiskurs und reintegrativer Interdiskurs Das im folgenden vorgeschlagene Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie, das im weiteren Fortgang an ausgewählten amerikanischen Romanen auszudifferenzieren sein wird, schließt an die vorangegangenen Überlegungen an. Es leitet sich einerseits her aus den aufgezeigten Analogien zwischen ökologischen und ästhetischen Prozessen, und knüpft andererseits an an die dialekti21
Fluck, 1997: 18.
64
I. Theoretischer Teil
sehe Wirkungweise des Ästhetischen zwischen der Defiguration und der Refiguration vorgegebener Bedeutungsmuster, zwischen der verfremdenden Distanzierung des Realen und der gegendiskursiven Entfaltung des Imaginären, durch die es der Erstarrungstendenz kultureller Selbst- und Weltbilder stets aufs Neue entgegenwirkt. Auf der allgemeinsten Ebene läßt sich dieses Modell als Kombination dreier wesentlicher, miteinander zusammenhängender Verfahren und Funktionsweisen beschreiben. (1) Die Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten, Blindstellen und Widersprüche dominanter politischer, ökonomischer, ideologischer oder pragmatisch-utilitaristischer Systeme zivilisatorischer Macht. Diese Systeme werden charakteristischerweise als Zwangsstrukturen bloßgelegt, als teilweise traumatisierend erfahrene Vereindeutigungsversuche der Lebensvielfalt, die zu chronischen Zuständen der Selbstentfremdung, Kommunikationsstörung und Vitalitätslähmung führen und bevorzugt in Bildern des death-in-life, des waste land und des psychischen Gefangenseins der Figuren ausgedrückt werden. Hierbei spielt vor allem der Monopolanspruch zivilisationsbestimmender Realitätsund Diskurssysteme eine wichtige Rolle, in denen einseitig-hierarchische Oppositionen wie Geist vs. Körper, Vernunft vs. Emotion, Eigenes vs. Anderes, Ordnung vs. Chaos, Kultur vs. Natur vorherrschen und die tiefgreifende Entfremdungseffekte und Deformationen im ,biophilen', psychologisch-anthropologischen Grundhaushalt der Menschen hervorrufen. Um auf die nachfolgend behandelten Texte Bezug zu nehmen, so ist es etwa in Hawthornes The Scarlet Letter ein puritanisch-fundamentalistisches, in Melvilles Moby-Dick ein expansionistisch-imperiales, in Twains Huckleberry Finn ein ideologisch-domestiziertes, in Chopins The Awakening ein geschlechtsspezifisches, in Morrisons Beloved ein rassistisches und in DeLillos Underworld ein technologisch-mediales Zivilisationssystem, das in den Texten in seinen lebensfeindlichen Erstarrungen und sinnzerstörenden Auswirkungen repräsentiert und zugleich dekonstruiert wird. Diese Realitätssysteme und die sie tragenden Diskursmuster werden dabei durchaus in aller bedrängenden, z.T. alptraumhaft erfahrenen Übermacht herausgestellt, gleichzeitig aber werden sie durch distanzierende Repräsentation und semiotische Destabilisierung in ihrer determinierenden Macht gebrochen und gleichsam symbolisch .gebannt'. Sie werden als Ursache einer zutiefst gestörten Lebensbalance kenntlich gemacht, die zu einer krisenhaften Paralyse menschlicher Vitalität und kultureller Kreativität führt. (= Systemrepräsentation als kulturkritischer Metadiskurs). (2) Die Inszenierung dessen, was im kulturellen Realitätssystem marginalisiert, vernachlässigt oder unterdrückt ist. In ihren imaginativen Gegenwelten repräsentiert die Literatur, was in den verfügbaren Kategorien kultureller Selbstdeutung unrepräsentiert bleibt, was aber für eine angemessen komplexe Bestimmung des Menschen und seiner Stellung in der Welt unverzichtbar erscheint. Gegen die Uniformität des Konventionellen und Dogmatischen kommt in der Semiose der Texte eine Polyphonie des Lebendigen zur Geltung, die sich in der
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
65
Pluralisierung der sprachlichen Bedeutungskontexte und im Aufbrechen fester Selbst- und Weltbilder niederschlägt. In diesem Prozess vergegenwärtigt Literatur nicht nur das Verdrängte und hebt es ins Bewusstsein, sondern stattet es mit besonderer Gegenmacht zum kulturellen Realitätssystem aus. Sie aktiviert das kulturell Ausgegrenzte als Quelle ihrer eigenen Kreativität, indem sie es in je neuen Formen imaginativer Annäherung aus den amorphen Tiefenschichten des Unbewussten, aus dem diskursiv nicht zugänglichen Anderen der Natur oder aus den fremdkodierten Ausdrucksformen anderer Kulturen auf die Ebene des kulturellen Bewußtseins und der kulturellen Kommunikation transformiert. Diese imaginative Gegenenergie entfaltet sich nicht nur, im Sinn von Isers Akt des Fingierens, als ständige Grenzüberschreitung, Selbsterweiterung und Eröffnung immer neuer Möglichkeiten, sondern gleichzeitig im Rückgang auf vorgängige Bedürfnisse, Ausdrucks- und Erlebnispotentiale gemäß der paradoxen , Logik des Imaginativen' (Caillois), die sich vollzieht als „continual recovery of what human beings have never lost".22 In ihr schließt sich das Innovative mit dem Regenerativen, das Moderne mit dem Archaischen, die Grenzüberschreitung des Fingierens mit der Vorgängigkeit des Mythographischen in eigentümlicher Gegenläufigkeit zusammen. Dadurch wird das kulturell Ausgegrenzte in besonderer Weise ästhetisch markiert. Es wird sowohl mit der entgrenzenden Pluralisierung semiotischer Möglichkeiten als auch mit einer mythopoetisehen Sinnstiftungsenergie verbunden, die als eine Art .magische' Gegenkraft zum kulturellen Ausgangssystem aufgebaut und teils fiktional personifiziert, teils in naturnaher Zeichenhaftigkeit konnotiert wird. Der scharlachrote Buchstabe bei Hawthorne als machtvoll wirkender Signifikant des kulturell Stigmatisierten im puritanischen Machtsystem; der Weiße Wal bei Melville als Inkarnation des dämonisierten Anderen von Ahabs zivilisatorischer Hybris; der Mississippi-Fluß bei Twain als naturnaher Selbsterfahrungsraum gegenüber einer repressiv-artifiziellen Zivilisationswelt; das Meer als Gegenbereich eines dionysisch-elementaren Lebensprinzips zu restriktiven Rollenkonventionen bei Chopin; der Geist der toten Beloved als Personifikation des verdrängten Traumas der Sklaverei und Katalysator eines vielstimmigen story-telling bei Morrison; die verschiedenen, anarchisch-improvisatorischen Formen einer waste art als Gegenentwurf zum waste land des modernen Zivilisationsmülls bei DeLillo - sie alle sind in der textbestimmenden Rolle, die sie für die jeweiligen Romane gewinnen, Signaturen jener gegendiskursiven Energie, mit der die literarische Imagination das vom kulturellen Realitätssystem Ausgegrenzte zum Ansatzpunkt ihrer Selbstentfaltung macht. (=Inszenierung des Ausgegrenzten als imaginativer Gegendiskurs). (3) Die Reintegration des Verdrängten mit dem kulturellen Realitätssystem, durch das Literatur zur ständigen Erneuerung des kulturellen Zentrums von dessen Rändern her beiträgt. Diese Reintegration bedeutet keineswegs eine ober-
22
Roger Caillois, Versuch über die Logik des Imaginativen, München: Hanser, 1986.
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I. Theoretischer
Teil
flächliche Harmonisierung, sondern setzt vielmehr oft gerade durch das Zusammenführen des kulturell Getrennten konfliktorische Prozesse und krisenhafte Turbulenzen frei. Die literarischen Gegenwelten beziehen ihre besondere kognitive und affektive Intensität aus der Interaktion dessen, was durch Konvention und kulturelle Praxis voneinander getrennt ist - gegeneinander abgegrenzte Sprachregister und Bedeutungsmuster, aber auch die verschiedenen Sphären einer arbeitsteiligen, institutionell ausdifferenzierten Gesellschaft, soziale Rollen und privates Selbst, Öffentlichkeit und Intimität, Intellekt und Leidenschaft, Bewusstes und Unbewusstes und, alle durchdringend, die ökologische Basisdimension von Kultur und Natur. Dies gilt für die hier behandelten Romane, wie sich zeigen wird, in prinzipiell vergleichbarer, im einzelnen allerdings ganz unterschiedlicher Weise. Gerade der krisenhafte Prozess oder Moment des Zusammenbringens der kulturell getrennten Bereiche bzw. Diskurse erweist sich dabei häufig als Moment der Regeneration und der Wiedergewinnung von Kreativität. Dies wird immer wieder unterstrichen durch eine Bildlichkeit des Neubeginns oder der Wiedergeburt, durch die der anfängliche death-in-life-Zustand in Prozessen individueller oder kollektiver Erfahrung aufgebrochen wird. Auch wenn diese Prozesse am Ende scheitern, mit persönlichen Katastrophen einhergehen oder in neue Zustände der Stasis führen, so wird doch charakteristischer Weise mindestens momenthaft eine Revitalisierung und Balance der ins Spiel gebrachten gegensätzlichen Energien angedeutet und dem Leser im Rezeptionsprozess vermittelt. (=Aufeinanderbeziehen des Ausgegrenzten und des kulturellen Realitätssystems als reintegrativer Interdiskurs).23
23
Der Begriff des Interdiskurses wurde z.B. verwendet von Jürgen Link in „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse", in Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Hgg. J. Fohrmann und H. Müller, Frankfurt: Suhrkamp, 1992: 284-307. Diese Bemühungen, das Spezifische der Literatur durch ihren Charakter als kultureller ,Interdiskurs' zu beschreiben, zeigen Parallelen zu dem hier vorgeschlagenen kulturökologischen Modell. Nach Foucault bezeichnen Diskurse spezielle Wissensbereiche, deren Ordnung durch die Grenzen zwischen dem, was innerhalb ihrer Normen gesagt werden kann, und dem, was nicht gesagt werden kann, bestimmt wird. Der daraus entwickelte Begriff des Interdiskurses bezeichnet all jene Verfahren, die der „Re-Integration des in den Spezialdiskursen arbeitsteilig organisierten Wissens" dienen. Literatur ist in dieser Sicht einerseits ein von anderen gesellschaftlichen Diskursen unterschiedener Spezialdiskurs, dessen spezifische Konstitutionsregeln andererseits aber gerade darin bestehen, dass sie „hochgradig interdiskursiv" ist, insofern sie „in hohem Maß diskursübergreifende und -integrierende Elemente ins Spiel bringt. Literatur übernimmt also als Spezialdiskurs die Funktion interdiskursiver Reintegration." Jürgen Link et al., „Interdiskurs", in Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: 236-7. Allerdings ist festzuhalten, dass der Aussage- und Kommunikationsmodus der Literatur sich nicht auf die (inter-) diskursive Ebene beschränkt, sondern dass sie die Grenzen dessen, was innerhalb diskursiver Ordnungen sagbar ist, ständig auf das hin überschreitet, was in ihnen unsagbar bleibt. Gegen die Universalität eines alles determinierenden Diskurs- und Kulturbegriffs ist es die Funktion der Literatur, dessen .Anderes' immer wieder neu zur Sprache zu bringen, und sei es im - nur ästhetisch zu realisierenden - Modus des Unsagbaren.
4. Literatur als kulturelle
Ökologie
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Es ist klar, dass diese verschiedenen Verfahrensweisen nicht immer in dieser Abfolge oder dieser idealtypischen Trennung gegeben sind, sondern dass sie vielfach ineinanderwirken und sich gegenseitig bedingen, und auch dass der eine oder andere Faktor dieses Modells jeweils dominant sein kann. So scheint etwa in naturalistischer oder modernistischer Literatur eher die Erfahrung systembedingter Entfremdung und damit der erste Funktionsaspekt kennzeichnend, während in romantischer, aber auch in postmoderner Literatur eher der Entwurf imaginativer Alternativen und damit der zweite Funktionsaspekt vorherrscht. Im magischen Realismus und in der multikulturellen Literatur der Gegenwart hingegen, etwa in den Romanen der Native Americans oder der neueren afroamerikanischen und der hispanisch-amerikanischen Literatur, liegt der Akzent auf dem dritten Faktor oder genauer im expliziten Zusammenspiel der drei Funktionsaspekte, die alle drei in besonderer Prägnanz herausgebracht und in spannungsreicher Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Doch trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen scheinen mir hierin drei wesentliche Grundaspekte der Auseinandersetzung von Literatur mit ihrer Kulturwelt benannt zu sein. Es wird davon ausgegangen, dass die dreipolige Struktur dieser Auseinandersetzung zwischen kulturkritischem Metadiskurs, imaginativem Gegendiskurs und reintegrativem Interdiskurs in die Texte selbst hineingeschrieben ist, und sie zeigt, dass erstens ein gegebenes und vom Autor thematisiertes historisch-kulturelles Bezugssystem charakteristischerweise der Ausgangspunkt für die Entfaltung der Literatur ist; dass Literatur zweitens aus den Ausgrenzungen dieses Bezugssystems heraus implizite oder explizite symbolische Gegenwelten entwirft, in denen Alternativen zu den dominanten Realitätsmodellen imaginiert werden; und dass drittens die spezifische Erkenntnis- und Regenerationsleistung der literarischen Imagination daraus entspringt, dass sie die entworfenen Alternativen in komplexer Weise auf das kulturelle Realitätssystem zurückbezieht, die kreativen Energien also, die sie mobilisiert, immer wieder in den Gesamthaushalt der Kultur und der sie tragenden Diskurse einspeist. Literatur erfüllt hier eine Aufgabe, die in dieser Weise nicht von anderen Diskursformen erfüllt werden kann, die aber von vitaler Bedeutung für die geistige Selbsterhaltung und fortbestehende Evolutionsfähigkeit der Gesamtkultur ist. Sie konfrontiert einerseits die Kultur mit ihren inneren Widersprüchen und uneingelösten Geltungsansprüchen, andererseits bezieht sie sich in den Akten imaginativer Grenzüberschreitung, die sie vollzieht, zugleich auf jene präkulturellen Lebensprozesse zurück, auf die das kulturelle Bewusstsein noch in seinen scheinbar autonomen Ausprägungen angewiesen bleibt. Sie inszeniert die Rückkopplung des rationalen Bewusstseins mit seinen prärationalen Ursprüngen und wird so zu einem symbolischen Medium, das das diskursiv Unausdrückbare stets aufs Neue in das kulturelle Bewusstsein und Gedächtnis einschreibt. Sie erweist sich als unverzichtbare Instanz kultureller Selbstaufklärung, Selbsterhaltung und Selbsterneuerung, indem sie die Diskurse zivilisatorischer Rationalität an das lebendige Gedächtnis jener elementaren kreativen Energien zurück-
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I. Theoretischer Teil
bindet, das in der Geschichte der literarischen Imagination gespeichert ist. Um dies zu erreichen, muss Literatur auf der einen Seite nicht nur fortwährend die kulturellen Kategorien erneuern, die ihr Material sind, sondern auch ihr eigenes Repertoire symbolischer Formen und ästhetischer Verfahren. Auf der anderen Seite ist die innovatorisch-produktive Kraft der Literatur stets zugleich auch eine reproduktive und regenerative Kraft, die das so noch nie Dagewesene erst aus der Neuaneignung des immer schon Dagewesenen hervorbringt. Sie ist eine reflexive Form kultureller Selbsterneuerung, die in der Inszenierung ungelebter Lebensmöglichkeiten zugleich kollektive Verdrängungen an die Oberfläche bringt und so der Kultur die Erfahrung ihrer vitalen Komplexität zurückspiegelt. Erfolgreiche Werke der Literatur sind daher auf radikale Weise neu und alt, modern und archaisch, historisch und transhistorisch in einem. Literatur hält ihre Produktivität lebendig, indem sie das kulturelle Gedächtnis in immer neuer Weise an das biophile Gedächtnis der menschlichen Gattung zurückbindet.
II. Interpretationsteil
1. Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter als Illustration des Grundmusters: Die subversive Selbsterneuerung der Kultur aus dem kulturell Ausgegrenzten
Hawthornes The Scarlet Letter stellt einen Schlüsseltext der klassischen amerikanischen Literatur dar, der geradezu zum Testfall für den Geltungsanspruch von Theorien der amerikanischen Literatur geworden ist.1 Er soll daher auch in dieser Studie herangezogen werden, um die Tragfähigkeit des hier vorgeschlagenen kulturökologischen Ansatzes zu erweisen. The Scarlet Letter ist nach der gängigen Einordnung eine romance, Beispiel jener spezifisch amerikanischen Ausprägung des Romans, wie sie Hawthorne selbst begründet und zu einem distinktiven Merkmal amerikanischer Erzählliteratur erklärt hatte. Kennzeichnend für den Autor ist einerseits ein besonderes Interesse an der amerikanischen Geschichte, auf deren in die Gegenwart fortwirkender Macht er, wie später Faulkner oder Morrison, insistiert. Gleichzeitig wird aber für ihn die Vergegenwärtigung des Vergangenen nur möglich durch die imaginative Überschreitung des Gegebenen. Die romance Hawthornescher Prägung unterscheidet sich von der eher empirischen, an der sozialen Erfahrungswelt orientierten novel durch die Einbeziehung des Erfahrungstranszendenten, Traumhaften und Übernatürlichen. Dadurch erlaubt sie eine vorher nicht gekannte Freisetzung der Imagination aus vorgegebenen historischen Realitätsmodellen, bleibt aber andererseits an diese als ihr kulturelles Material zurückgebunden. In dieser Zwischenstellung wird die romance, und wird insbesondere auch The Scarlet Letter zu einem Vorläufermodell für moderne Versionen eines .magischen Realismus', wie sie sich
1
Vgl. Winfried Fluck, Theorien der amerikanischen Literatur, Konstanz: Universitätsverlag, 1987. - Neuere Deutungsansätze zu Scarlet Letter, dem wohl weltweit mit am stärksten rezipierten amerikanischen Roman, sind gesammelt z.B. in: Michael Colacurcio (ed.), New Essays on the Scarlet Letter, Cambridge und New York: Cambridge UP, 1985; David B. Kesterson (ed.), Critical Essays on Hawthorne's The Scarlet Letter, Boston: Hall, 1988; Gary Scharnhorst (ed.), The Critical Response to Nathaniel Hawthorne's The Scarlet Letter, New York: Greenwood, 1992; Harold Bloom (ed.), Nathaniel Hawthorne's The Scarlet Letter, New York: Chelsea House, 1996; Eileen Morey (ed.), Readings on The Scarlet Letter, San Diego: Greenhaven UP, 1998; Teresa Goddu and Leland S. Person (eds.), The Scarlet Letter After 150 Letters: A Special Issue. Studies in American Fiction, 29, 1, 2001. Ich kann hier nicht auf die nahezu unüberschaubare Breite und Vielzahl der vorliegenden Interpretationsansätze eingehen, sondern beschränke mich auf die aus der hier angelegten Fragestellung relevanten Aspekte des Romans.
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II.
Interpretationsteil
vor allem in den lateinamerikanischen Ländern ausprägten, und antizipiert gleichzeitig epistemologische und ästhetische Programme der Postmoderne. Der Roman setzt sich auf zwei Ebenen mit der amerikanischen Kultur auseinander, einmal explizit in historischer Rekonstruktion mit dem System des Puritanismus als eines fundierenden Macht- und Ideologiediskurses des frühen Amerikas, durch den entscheidende Elemente des kulturellen Selbstverständnisses der Neuen Welt geprägt wurden; und zum andern implizit mit Tendenzen der amerikanischen Kultur und Gesellschaft zur Entstehungszeit des Romans um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Beide Ebenen werden durch den einleitenden, autobiographischen Sketch „The Custom-House", der über Hawthornes Zeit als Zollinspektor im Salemer Zollamt berichtet, sowie durch verallgemeinerbare, symbolische Implikationen der Romanhandlung selbst miteinander verbunden. In den Kategorien von Ansgar Nünning gesprochen ist The Scarlet Letter ein „revisionistischer historischer Roman", der die grundlegenden Orthodoxien amerikanischer Geschichtsbetrachtung seiner Zeit in Frage stellt, und ein frühes Beispiel dessen, was Linda Hutcheon als „historiographische Metafiktion" bezeichnet, insofern er „den Akzent vom historischen Geschehen auf den Prozess der imaginativen Rekonstruktion von Geschichte" verlagert und sich „durch ein hohes Maß an ästhetischer Selbstreflexivität" auszeichnet. 2 Beide Pole - historische Rekonstruktion und ästhetische Selbstreflexion - sind im Roman gleichermaßen stark ausgeprägt und wirken dergestalt ineinander, dass ein komplexes Spannungsfeld von Wechselwirkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Imagination entsteht, das feste Bezugsrahmen und ontologische Hierarchisierungen destabilisiert. Während die kulturelle Vergangenheit mit Hilfe der literarischen Imagination aus der Verdrängung geholt und fiktional vergegenwärtigt wird, wird die Gegenwart in ihrem Realitätsanspruch suspendiert und für die Mehrdimensionalität und analogiebildende Explorationskraft des Imaginären geöffnet. 3 Der kulturökologische Prozess ist dabei auf beiden Ebenen des Textes gleichermaßen wirksam und verstärkt sich noch durch deren ständige Interaktion. Auf der Vergangenheitsebene ist er sowohl aufgrund der historischen Distanz wie aufgrund der überschaubareren gesellschaftlichen Strukturen stärker konturiert und in konkreteren Konfigurationen sichtbar. Aber der Grundvorgang ist auf beiden Ebenen vergleichbar. Das verbindende metafiktionale Zeichen für diesen Prozess ist der titelgebende scarlet letter selbst,
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Ansgar Nünning, Der englische Roman des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Klett, 1998: 151-3. In dieser erstaunlich aktuellen, bereits ,neuhistorisch' anmutenden literarischen Verarbeitung von Geschichte bei Hawthorne sieht etwa Charles Lewis eine Parallele zu Toni Morrisons Beloved'. „The Ironie Romance of New Historicism: The Scarlet Letter and Beloved Standing Side by Side", Arizona Quarterly, 1, 51, 1995: 32-60. Vgl. Caillois, 1986: 142: „the network of established analogy and hidden links that constitute the logic of the imaginative."
1. Hawthorne, The Scarlet
Letter
73
über den sich die Handlung der romance entfaltet und der als textbestimmendes Prinzip mit diskursiver Polyvalenz, aber auch mit der prädiskursiven Bedeutungsoffenheit sinnlich-konkreter Lebensvollzüge assoziiert ist. Als Signifikant des kulturell Ausgegrenzten, das vom Rand ins Zentrum des kulturellen Systems rückt, wird der scarlet letter zu einer semiotischen Energie, die nicht nur geschlossene Diskursmuster und eindimensionale Realitätsbilder sprengt,4 sondern auch Prozesse der imaginativen Selbsterneuerung der Kultur in Gang setzt. Er wird zur Allegorie der literarischen Imagination, die die metadiskursiven, gegendiskursiven und interdiskursiven Aspekte der Funktion von Literatur innerhalb der Kultur in einem textuellen Superzeichen miteinander verbindet und zu ständiger, selbstreflexiver Präsenz im Roman bringt. 1.1 Das puritanische System und sein Anderes: Biophobie im prisonhouse of culture Obwohl in letzter Zeit zu Recht darauf hingewiesen wurde, dass keineswegs die Puritaner allein die Entstehung der amerikanischen Kultur prägten, sondern dabei eine Vielfalt unterschiedlicher Einflüsse im Spiel war, so dürfte doch nach wie vor kein Zweifel daran bestehen, dass in der ideologisch-diskursiven Herausbildung des Selbstverständnisses des frühen Amerikas die Puritaner aufgrund der vorherrschenden Machtstellung Neuenglands eine dominierende Rolle spielten. Hawthornes Wahl dieses Bezugssystems ist nicht nur aus biographischen Gründen verständlich, weil seine Vorfahren maßgeblich in die repressiven Praktiken des Puritanismus verstrickt waren, um die es im Roman geht; sie ist auch für das Boston um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in dem die Romanhandlung spielt, historisch legitimiert.5 Ja sie lässt sich, trotz vieler anderer Einflussfaktoren, als repräsentativ über die puritanische Frühphase Amerikas hinaus verallgemeinern, insofern sich auch die Väter der Revolution und die spätere politischintellektuelle Führungsschicht des Landes überwiegend in der Kontinuität mit diesen ideologischen Prämissen sahen. Charakteristisch für das durch die Puritaner grundgelegte kulturelle Selbstverständnis waren religiöses Sendungsbewusstsein und Auserwähltheitsdenken,
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N. Natarajan spricht von „semiotic fission" und vergleicht Hawthornes „A" in dieser Hinsicht mit der Semiose des Buchstabens „V" bei Pyncheon: „Semiotic Fission in Hawthorne's ,A' and Pyncheon's ,V."' Indian Journal of American Studies, 23,1, 1993: 85-91. The Scarlet Letter ist voll von historischen Anspielungen, die die Ideologeme und Praktiken des Puritanismus in einem dichten Netzwerk von Bezügen in die Textur des Romans hineinarbeiten. Vgl. z.B. Deborah L. Madsen, „Hawthorne's Puritans: From Fact to Fiction", Journal of American Studies, 33, 3, 1999: 509-17. Dass insbesondere auch Aspekte der Geschichte von Frauen in Amerika in den Text einbezogen sind, zeigt Nina Tassi, „Hawthorne's Hester: Female History into Fiction", CEA Magazine: A Journal of the College English Association, 8, 1995: 5-14.
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II.
Interpretationsteil
sowie ein damit zusammenhängendes hierarchisch-binäres Weltbild, in dem sich christliche Zivilisation und heidnische Natur, eigene Kultur (gottgefälliges Amerika) und andere Kulturen (korruptes Europa, wilde Ureinwohner) gegenüberstanden. John Winthrop hatte diesen weltgeschichtlichen Auftrag und Anspruch bekanntlich schon 1630 im Bild einer city upon a hill formuliert, d.h. einer idealtypischen christlichen Gemeinschaft auf dem Boden der Neuen Welt, die ein moralisches Modellbeispiel für den Rest der Welt abgeben sollte und so das puritanische Siedlungsprojekt von vornherein unter einen hohen Erfolgs- und Idealisierungsdruck stellte. Cotton Mather brachte später diese Grundopposition in The Wonders of the Invisible World auf die Formel, die puritanischen Gemeinden in der Neuen Welt seien Inseln des Heiligen inmitten einer Welt des Bösen, Orte der „people of God ... in those which were once the devil's territories".6 Diese fundamentalistische Selbstidealisierung führte zu Symptomen des Selbstzweifels und der Doppelmoral, aber auch zu Praktiken der Fremdausgrenzung, der Verfolgung Andersdenkender, des Hexenwahns, der öffentlichen Ächtung und drakonischen Bestrafung von abweichendem sexuellen Verhalten, etwa des Ehebruchs. Aus der hier angelegten ,ökologischen' Perspektive betrachtet handelt es sich bei diesem System also um eine ideologisch hochgesteigerte Form von Grundoppositionen wie Eigenes vs. Anderes, Gut vs. Böse, Geist vs. Körper, Moral vs. Eros, Heiliges vs. Dämonisches und, alle übergreifend, von Zivilisation' vs. ,Natur', die in der strikten Aufrechterhaltung solcher Trennungen und wertenden Gegensätze die innere und äußere Ordnung der Kultur garantieren sollen, aber gerade dadurch immer neue Symptome der Entfremdung, der Krise und der inneren Destabilisierung jener Ordnung mit sich bringen. Genau an diesem Punkt setzt der Problemgrundriss von Hawthornes Roman an. Er repräsentiert das puritanische System auf eine Weise, dass der zivilisatorisch-moralische Überlegenheitsanspruch, auf den es gegründet ist, dekonstruiert und mit seinen inneren Widersprüchen und seiner repressiven, lebensparalysierenden Kehrseite konfrontiert wird. Die city upon a hill als der Inbegriff der neugewonnenen religiösen Freiheit und der Utopie des frühen Amerikas erscheint gleich zu Anfang des Romans im Bild eines Gefängnisses, eines prisonhouse of culture, aus dem sich die symbolische Romanhandlung entwickelt. In diesem Gefängnis, dieser „black flower of civilization", und an dem Pranger auf dem nahegelegenen Marktplatz finden sich, wie Hawthorne hervorhebt, nicht einfach gewöhnliche Kriminelle, sondern die Repräsentanten all dessen, was vom dogmatisierten Weltbild der Puritaner abweicht und seinen Geltungsanspruch in Frage stellt - religiös Andersdenkende, Hexen, Indianer, unbotmäßige
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Cotton Mather, The Wonders of the Invisible World. Observations as Well Historical as Theological, upon the Nature, the Number, and the Operations of the Devils (1693), Norton Anthology of American Literature vol. I, eds. Ronald Gottesmann et al., New York, 1979: 119.
1. Hawthorne, The Scarlet Letter
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Leibeigene und selbst unfolgsame Kinder.7 Eigens erwähnt wird zu Beginn die radikale Antinomistin Ann Hutchinson, die als Rebellin gegen den puritanischen Konformitätsanspruch ebenfalls einst im Gefängnis saß und unter deren Fußspuren der Legende nach ein wilder Rosenbusch gewachsen sei. In Vorwegnahme des Gesamtentwurfs des Romans wird diese kulturelle Außenseiterin sowohl mit der vorzivilisatorischen Natur als auch, durch die Charakterisierung als „sainted Ann Hutchinson" (76), mit jenem,Heiligen' in Verbindung gebracht, das dem offiziellen Diskurs nach gerade innerhalb des puritanischen Systems anzusetzen wäre. In der geistigen Gesellschaft all dieser Außenseiter und kulturell Ausgegrenzten befindet sich also die Protagonistin Hester Prynne, als sie zu Anfang des Romans mit ihrem Kind auf dem Arm und dem aufgenähten Buchstaben „A" aus dem Gefängnis tritt, in das sie wegen Ehebruchs gesperrt war. Vor der versammelten Gemeinde und Führungsschicht der Stadt wird sie an den Pranger gestellt, um von nun an einem Leben als stigmatisierte Außenseiterin am Rand der Gemeinschaft entgegenzusehen. Das Verhältnis zwischen dem .System' und dem ,Anderen des Systems', das hier symbolisch aufgebaut wird, wird bereits von dieser Anfangsszene her in doppelter Weise kodiert und in seiner binären Entgegensetzung destabilisiert. Was den Systempol anbelangt, so zeigt die Szene, wie sich die politisch-religiöse Machthierarchie der Gesellschaft durch spektakuläre Praktiken der öffentlichen Brandmarkung und Ausgrenzung dessen, was von ihrem normativen Selbstbild abweicht, zu bestätigen versucht. Zugleich wird sie aber durch die Schattenwelt des Gefängnisses, durch die Verarmung des Farbenspektrums auf Grau und Schwarz und durch die ideologische Erstarrung ihrer Vertreter mit einer death-in-life-Metaphotik assoziiert, die einen unterschwelligen Verlust an Substanz und Lebensenergie anzeigt und die tiefgreifende Krise des Systems an eben dem Punkt hervortreten lässt, an dem es sich selbst demonstrativ zu bestätigen versucht. 1.2 Der scarlet letter als Medium des imaginativen Gegendiskurses Demgegenüber wird zwar das in Hester und ihrem Kind personifizierte Andere des Systems zunächst mit Ohnmacht, Demütigung und Schuld verbunden, gleichzeitig gewinnt es aber durch die symbolische Assoziation mit einer weiblich konnotierten Sphäre von Natur, Eros, Emotion, Vitalität und Kreativität den Charakter einer imaginären Gegenenergie zum moralischen Rigorismus und zur institutionalisierten ,Biophobie' des kulturellen Ausgangssystems, die dessen Definitionsmacht in Frage stellt und seine starren, binären Bedeutungszuschreibungen aufbricht und in Bewegung bringt. Diese gegendiskursive Entmachtung
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Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter and Selected Tales, Harmondsworth: Penguin Classics, 1986 [1850]. Hier S. 77.
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¡nterpretationsteil
des Realitätssystems wird vor allem durch den Buchstaben A selbst veranschaulicht, der es stabilisieren soll. Als Zeichen, mit dem das System seine Macht über das kulturell Ausgegrenzte demonstrieren will („Adulteress"), gewinnt er stattdessen eine zunehmende Eigendynamik und wird im Verlauf des Romans zum Medium immer neuer, sich verändernder Bedeutungen, zu einem pluralen Zeichen, das sich schließlich jedem eindeutigen Bedeutungsanspruch entzieht. Er wird assoziiert beispielsweise mit ,able', ,angel', ,apocalypse', ,America' usf., und es gibt inzwischen zahllose Deutungsversuche, die den Roman von einer Bedeutung des A her interpretieren wollen, aber gerade damit zu kurz greifen. So wie sich aus dem Gefängnis als dem Ort der symbolischen Ausgrenzungsund Abgrenzungsgewalt des kulturellen Machtsystems die fiktionale Gegenwelt des Romans entwickelt, so entwickelt sich aus dem Buchstaben A als dem Signifikanten eines geschlossenen Zeichensystems ein Prozess der offenen Semiose, der die Dogmatik seiner kulturellen Ausgangsbedingungen übersteigt. Dies wird ebenfalls bereits in der Eingangsszene deutlich, in der das A als Zeichen ihrer öffentlichen Ausgrenzung und Ex-Kommunikation von Hester Prynne so kunstvoll und ,ästhetisch' ausgestaltet wird, dass es die ihm zugewiesene Negativbedeutung transzendiert: On the breast of her gown, in fine red cloth, surrounded with an elaborate embroidery and fantastic flourishes of gold thread, appeared the letter A. It was so artistically done, and with so much fertility and gorgeous luxuriance of fancy, that it had all the effect of a last and fitting decoration to the apparel which she wore; and which was of a splendor in accordance with the taste of the age, but greatly beyond what was allowed by the sumptuary regulations of the colony. (80)
Der Buchstabe an Hesters Brust ist einerseits kulturelles Produkt einer Imagination, die sich gerade in ihrer künstlerischen Ausgestaltung („It was so artistically done") in subversiver Differenz zum normativen Geltungsanspruch der Kultur herausbildet, den sie äußerlich bestätigt. Gleichzeitig wird er im Lauf des Romans gerade in dieser Differenz, in der Magie seiner roten Farbe und in seiner engen Beziehung zu Hesters Tochter Pearl zur semiotischen Inkarnation eben der biophilen Lebensenergien, die er als kulturelles Zeichen kontrollieren soll. Hester und das Kind auf ihrem Arm als Bild biologischer Kreativität, und Hester und der scarlet letter an ihrem Kleid als Bild kultureller Kreativität sind eng miteinander korreliert, ja werden von Anfang an als unauflöslich aufeinander bezogen eingeführt. Die hierin vollzogene Revision der puritanischen Kultur/Natur-Spaltung wird nicht nur motivisch dadurch betont, dass der wilde Rosenbusch, der am Gefängniseingang als Überrest der ursprünglichen Wildnis überlebt hat, nun auch mit Hester als symbolischer Nachfolgerin von Ann Hutchison assoziiert wird, sondern auch durch eine spielerisch-metafiktionale Geste des Erzählers, der dem Leser am Romananfang eine von diesem Busch gepflückte Rose gewissermaßen als symbolisches Korrelat der Erzählung als ganzer überreicht. (76) Diese Wechselwirkung von Kultur und Natur wird geradezu in der Figur Pearls perso-
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nifiziert, die im Roman als Doppelwesen charakterisiert ist und einerseits als wandelnde Verkörperung des Buchstabens A erscheint, andererseits, als das Produkt spontaner Leidenschaft, zugleich durch eine besondere Nähe zur ,wilden', vorzivilisatorischen Natur gekennzeichnet ist. Auch sie selbst wird Jahre später, als sie als junges Mädchen im Garten des Gouverneurs von den politisch-religiösen Wahrheitswächtern auf ihre Bibelfestigkeit getestet wird, auf die Frage, wer sie geschaffen habe, ihre Herkunft nicht wie erwartet von Gott, sondern ironisch von eben diesem Rosenbusch herleiten: „... the child finally announced that she had not been made at all, but had been plucked by her mother off the bush of wild roses, that grew by the prison-door." (134) Gerade in dieser Grenzstellung zwischen Kultur- und Naturwesen, inkarnierter Allegorie und spontaner Energie, kulturellem System („prison-door") und wilder Kreativität („wild roses") wird Pearl zu einer exemplarischen Figuration des Romanprozesses insgesamt. Denn als gemeinsame Tochter des Pastors und der kulturellen Außenseiterin ist sie nicht nur eine Instanz im Text, die die offiziell getrennten Bereiche von vornherein unterschwellig aufeinander bezieht. Sie gewinnt darüber hinaus eine ausgeprägte Fähigkeit zu Empathie und Imagination, die sie in Parallele zum Erzähler selbst setzt und, nicht nur von ihrem sprechenden Namen her, als Personifikation des ästhetischen Prinzips von Scarlet Letter erscheinen lässt. 8 1.3 Reintegrativer Interdiskurs zwischen Katastrophe und Katharsis Konstituiert sich also die Systemrepräsentation im Roman als kulturkritischer Metadiskurs, der fundierende Selbst- und Fremdbilder der Kultur zum Gegenstand nimmt und aus ihren normativen Erstarrungen holt, so wird gleichzeitig das kulturell Verdrängte zum Ausgangspunkt eines imaginativen Gegendiskurses, der die Überschreitung puritanischer Orthodoxie mit der Aktivierung naturhafter Prozesse der Kreativität verbindet. Der hieraus resultierende Gesamtprozess des Romans besteht aber, wie sich zeigen wird, ganz zentral auch darin, dass die kulturell getrennten Bereiche in neuer und vielgestaltiger Weise aufeinander bezogen werden. Der auffälligste Zug dieser Zusammenführung in der Handlungskonzeption liegt zweifellos in dem Umstand, dass sich Pastor Dimmesdale, der geistige Repräsentant des Systems, zugleich als Vater von Hesters illegitimem Kind erweist. Dies hat gewissermaßen seine ,semiotische' Parallele darin, dass der Buchstabe A als Zeichen des kulturell Anderen im Verlauf des Geschehens als psychosomatisches Symptom am Herzen des Pastors, d.h. im symbolischen Zentrum des kulturellen Systems selbst, heranwächst. Die doppelte Grundbewegung des Ästhetischen - Dezentrierung und Zerstreuung vor-
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Das Symbol der Perle bezeichnet bekanntlich die Fähigkeit der Kunst, aus Leiden Schönheit zu produzieren.
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II.
Interpretationsteil
gegebener Bedeutungen auf der einen Seite, neu hergestellte multiple Verknüpfungen auf der anderen - , wird gerade am scarlet letter sichtbar, der sich einerseits über die gesamte Kulturwelt bzw. deren diskursive Repräsentationsformen zerstreut, andererseits ein immer dichteres Netzwerk von Verbindungen zwischen dem kulturell Getrennten herstellt. Auf der Ebene des plot lässt sich diese ,reintegrative' Tendenz sehr gut an den drei Marktplatzszenen ablesen, den Szenen am Pranger, um die herum die Handlung strukturiert ist. In der ersten angesprochenen Szene, der öffentlichen Befragung und Stigmatisierung Hesters, erscheinen das System und sein Anderes noch scharf voneinander getrennt, auch wenn die repressive Ausgrenzungspraxis des Systems bereits unterschwellig problematisiert wird. Die politischreligiöse Elite einschließlich des Pastors Dimmesdale, von der das Urteil über Hester erging, sitzt würdevoll erhöht auf dem Prominentenbalkon, Hester und ihr Kind stehen allein und dem Blick der versammelten Menge ausgesetzt am Pranger. In der zweiten Szene sieben Jahre später hingegen, als Dimmesdale eines Nachts heimlich selbst auf das Schaugerüst steigt, um sich vom Druck seiner quälenden Schuldgefühle zu befreien, wird bereits deutlich, wie sich die zuvor getrennten Pole aufeinander zu bewegen. Auch wenn Dimmesdale noch nicht den Mut zu einem öffentlichen Bekenntnis findet, so gerät doch die bisher nach außen aufrechterhaltene Selbstkontrolle dieses puritanischen Repräsentanten auf teils grotesk-befremdliche, teils befreiend-anarchische Weise außer Kontrolle. Einem unwillkürlichen Antrieb folgend, stellt er sich genau an den Ort, an dem einst Hester mit Pearl stand, und statt wie in der ersten Szene mit wohlgesetzten Worten den Status quo aufrechtzuerhalten, stößt er einen wilden Schrei aus und wartet darauf, von den aus dem Schlaf gerissenen Bürgern entdeckt zu werden. Er stellt sich die noch unordentlich gekleidete, aus ihren Schlafkammern zum Marktplatz eilende Gemeinde vor, eine ,karnevaleske' Karikatur ihrer selbst,9 wie sie ihren für heiligmäßig gehaltenen Pastor an eben dem Ort der Schande auffände, an dem sie nur ihre größten Sünder vermuten würde. Doch auch als Dimmesdale angesichts der grotesken Komik dieser Vorstellung in lautes Gelächter ausbricht, bleibt er von der Öffentlichkeit unentdeckt; die Erkenntnis, dass das vermeintliche .Andere' des puritanischen Systems in dessen eigenem Zentrum zu suchen sei, bleibt vorerst noch auf seine Innenwelt beschränkt. Stattdessen aber antwortet ihm ein helles Kinderlachen, und er erkennt Pearl mit Hester, die auf dem Nachhauseweg vom Totenbett des soeben gestorbenen Gouverneurs Winthrop sind, des geistigen Begründers der city upon a hill, für den Hester das Totenkleid anfertigen soll. Auf Dimmesdales Bitte hin steigen die beiden zu ihm hinauf auf den Pranger, und als er Pearl an die Hand nimmt, wird er von einem überwältigenden Gefühl der Revitalisierung erfasst: 9
Bachtins Konzept des .Karnevalsken' wird auf Hawthorne angewandt von Eric Fretz, „Stylized Processions and the Carnivalesque in Nathaniel Hawthorne's Fiction: A Selected Sampling", Nathaniel Hawthorne Review, 19, 2, 1993: 11-17.
1. Hawthorne, The Scarlet
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[Hester] silently ascended the steps, and stood on the platform, holding little Pearl by the hand. The minister felt for the child's other hand, and took it. The moment that he did so, there came what seemed a tumultuous rush of new life, other life than his own, pouring like a torrent into his heart, and hurrying through his veins, as if the mother and the child were communicating their vital warmth to his half-torpid system. The three formed an electric chain.(172)
Immerhin auf persönlicher Ebene werden also hier die getrennten Pole bereits symbolisch zusammengebracht, und werden die durch Institution und Ideologie voneinander abgespaltenen Figuren zusammengeführt. Der Zustand der inneren Erstarrung und Isolation bricht auf, indem das Abstrakt-Spirituelle aufs Konkret-Körperliche, das Statische auf Bewegung, das Selbst aufs Andere, die intellektuelle Selbstkontrolle auf ein vitales Kommunikationserlebnis sich öffnet. Und genau an dem Punkt dieser Öffnung und Zusammenführung kommen für einen Augenblick die ,biophilen' Lebensenergien zum Durchbruch - „a tumultuous rush of new life" - , die in der selbstquälerischen, geisterhaften Tbd-imLeben-Existenz, in die sich der Pastor eingesperrt hat, paralysiert bleiben. Diese Öffnung beschränkt sich aber hier nur auf einen kurzen, nächtlichen Moment. Dimmesdale ist noch nicht wirklich zu dem von Pearl eingeforderten Schritt ins Tageslicht der Öffentlichkeit bereit. Die Szene wird zwar einerseits ins Schicksalhaft-Apokalyptische überhöht, mündet aber andererseits zurück in die deprimierende Realität. Am Himmel erscheint ein Zeichen, das dem Buchstaben A ähnelt und in dessen surrealem Licht plötzlich auch Dimmesdales sinistres alter ego sichtbar wird, Hesters Ehemann Chillingsworth, der als vermeintlicher Leibarzt Dimmesdales seine Rache an ihm vollzieht und ihn am Ende wieder nach Hause, zum Ort seiner langsamen Selbstzerstörung, zurückbegleitet. Der scarlet letter erweist sich auch in dieser Szene als das entscheidende auslösende und verbindende Medium: Dimmesdale wird zu seinem nächtlichen Auftritt durch den Schmerz getrieben, den der über seinem Herzen heranwachsende Buchstabe verursacht; als er mit Hester und Pearl am Pranger steht, hält er die Hand über eben diese Stelle, das A an Hesters Gewand leuchtet in der Dunkelheit und Pearl sieht selbst wie das Zeichen aus, „herseif a symbol, and the connecting link between those two" (173); und die allen sichtbare Erscheinung des A am Nachthimmel, die in offiziellen Deutungen auf Governor Winthrops Tod und Verklärung bezogen wird, stellt den impliziten Bezug dieses hier noch im privaten Bereich bleibenden Geschehens auf seine allgemeinere, öffentliche Bedeutungsdimension her. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs bleibt indessen hier noch auf den imaginativen Gegendiskurs beschränkt, der die Nachtseite, die kulturpsychologischen Tiefenschichten des puritanischen Systems zum Vorschein bringt. Sie wird erst voll realisiert in der dritten Marktplatzszene, in der Dimmesdale im Anschluss an seine Predigt zur Amtseinführung des neuen Gouverneurs vor den Augen der Öffentlichkeit mit Hester und Pearl noch einmal auf den Pranger steigt und der versammelten Gemeinde den scarlet letter enthüllt, der an seiner
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II. Interpretationsteil
Brust gewachsen ist. Dabei ist er durch das jahrelange Leiden an seinem inneren Widerspruch von Auszehrung gezeichnet, er muss von Hester gestützt werden „twine thy strength about me! Thy strength, Hester ..." (265) - , und stirbt unmittelbar nach seinem öffentlichen Bekenntnis. Auch wenn er in seinen letzten Worten nicht die versöhnliche Jenseitsvorstellung Hesters teilt, sondern die Strafe seines puritanischen Gottes fürchtet, so ist es doch der Einfluss Hesters und des mit ihr assoziierten Gegendiskurses gewesen, der ihn zu diesem Akt der katastrophisch-kathartischen Selbstbefreiung allererst befähigt hat. 1.4 Kultur und Natur: Die Koppelung von Waldszene und Predigttext als Parabel literarischer Kreativität Die Höhepunkte und Wendepunkte des Geschehens in The Scarlet Letter setzen also im Konflikt und in der Zusammenführung des im kulturellen System Getrennten Prozesse der Turbulenz und chaotisch-katastrophischen Grenzerfahrung, aber auch der Regeneration und kommunikativen Selbsterneuerung frei, die gerade durch das spannungsreiche Aufeinanderbeziehen dessen, was in den Diskursen der puritanischen Leitkultur voneinander abgespalten ist, ermöglicht werden. Dies zeigt exemplarisch eine Schlüsselszene des ganzen Buchs, die den Wendepunkt der ,inneren' Handlung darstellt und die Entwicklung zum äußeren' Krisen- und Höhepunkt des Schlusses im Kapitel „The Revelation of the Scarlet Letter" vorbereitet. Es handelt sich um die Szene im Wald, als Hester Dimmesdale nach sieben Jahren wiedertrifft, um ihn vor dem zerstörerischen Einfluss des mephistophelischen Chillingsworth zu warnen. In dieser Szene erwacht die Liebe zwischen beiden neu und sie beschließen, gemeinsam Salem zu verlassen und in Europa ein neues Leben zu beginnen. Dieser Plan erweist sich später als nicht realisierbar aufgrund der irreversiblen Konsequenzen der Vergangenheit für die Gegenwart, auf denen Hawthorne besteht. Aber wesentlich erscheint hier die Art und Weise, wie Hawthorne das kulturell Ausgegrenzte zu einem Motivkomplex zusammenführt, der dieses nicht nur als Quelle der Revitalisierung menschlicher Beziehungen, sondern auch als Bedingung literarischer Kreativität erscheinen lässt. Was den Aspekt menschlicher Beziehungen anbelangt, so ist es die Außenseiterin Hester, von der die Anregung zu dem Treffen ausgeht, und es ist ihr Einfluss, unter dem Dimmesdale seiner Depression kurzzeitig entkommt und neue Lebensfreude empfindet: „Do I feel joy again?" cried he, wondering at himself. „Methought the germ of it was dead in me! O Hester, thou art my better angel! I seem to have flung myself - sick, sinstained, and sorrow-blackened - down upon these forest leaves, and to have risen up all anew ..." (219)
Dieses Erlebnis von symbolischem Tod und Wiedergeburt wird ermöglicht durch die starke körperlich-emotionale, aber auch geistige Präsenz Hesters, die in ihrer gesellschaftlichen Randstellung zugleich mit der anarchisch-lebensemeu-
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ernden Kraft der Natur im Bunde scheint. Während Hester „fervently resolved to buoy him up with her own energy" (215), scheint die wilde Natur selbst, indem plötzlich die Sonne die Dunkelheit des Waldes durchbricht, mit der wieder aufgeflammten Liebe zwischen ihnen zu sympathisieren: „Such was the sympathy of Nature - that wild, heathen Nature of the forest, never subjugated by human law, nor illumined by higher truth - with the bliss of these two spirits!" (220) In dieser regenerativen Energie nimmt Hester hier die Züge einer Gaia-Figur an, einer Magna Mater,10 die an ökofeministische Vorstellungen erinnert und in deren Präsenz Dimmesdale sich erstmals wieder als ganzheitlicher Mensch erlebt: „Neither can I longer live without her companionship; so powerful is she to sustain, - so tender to soothe!" (219). Diese Stärke Hesters ist aber - und hier werden Geschlechterklischees sowohl patriarchaler wie ökofeministischer Art gesprengt - nicht nur auf Naturnähe, Körperlichkeit oder Emotionalität bezogen, vielmehr betrifft sie ebenso sehr die Dimensionen des Intellektuellen, des Geistig-Spirituellen und des Aktiv-Lebenspraktischen. „Think for me, Hester! Thou art strong. Resolve for me!" (213), ruft der entscheidungsunfähige Dimmesdale sie an. „Be thou strong for me!... Advise me what to do." (214) Die überlieferten Attribute der Geschlechterrollen - Denken und Aktivität beim Mann, Gefühl und Passivität bei der Frau - sind hier geradezu umgekehrt." Die Umwertung der kulturellen Werte, die in der Szene im Wald erfolgt, erfasst also auch den etablierten Geschlechterdiskurs auf eine Weise, dass die Zuordnung von Frau/Natur und Mann/Kultur und die zugehörigen Oppositionsmuster von Grund auf infragegestellt und in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis umgedeutet werden. Die subversive Selbsterneuerung der Kultur aus dem kulturell Ausgegrenzten, wie sie in The Scarlet Letter inszeniert wird, hat aber ihre besondere Pointe darin, dass sie von Hawthorne in unübersehbarer Weise auch auf die Funktionsweise der kulturellen - und literarischen - Kreativität bezogen wird. Dies wurde allgemein schon daran deutlich, dass der scharlachrote Buchstabe als eine Art metafiktionales Zeichen, ein semiotisches Prinzip des Textprozesses fungiert, das dessen Entfaltung in seinen drei Dimensionen als kulturkritischer Metadiskurs, imaginativer Gegendiskurs und reintegrativer Interdiskurs steuert. Es wird
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John Gatta sieht sogar die Züge einer Madonna-Figur in Hester, wie auch in anderen Frauenfiguren Hawthomes, angelegt: American Madonna. Images of the Divine Woman in Literary Culture, New York: Oxford UP, 1997: 15-20. Vgl. dazu bereits Robert E. Todd, „The Magna Mater Archetype in The Scarlet Letter", New England Quarterly, 45, 1972: 421-29. Mit etwas anderem Akzent beschreibt diese Umkehrung von Rollen Marylin Mueller Wilton, „Paradigm and Paramour: Role Reversal in The Scarlet Letter", In Scharnhorst, 1992: 220-32. Vgl. auch Viola Sachs, „The Breaking Down of Gender Boundaries in American Renaissance Mythical Texts", Social Sciences Information / Sur les sciences sociales, 27,1, 1988: 139-51.
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II.
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aber auch ganz spezifisch in der genannten Szene deutlich, in der Dimmesdales Erfahrung seiner .Wiedergeburt' durch die Begegnung mit Hester im Wald unmittelbare Konsequenzen für seine geistige Kreativität hat. Als er vom Wald zurückkehrt, um die geplante Predigt für die Inauguration des neuen Gouverneurs zu schreiben - der Höhepunkt in den Aufgaben eines puritanischen Geistlichen - , ist er in starke innere Turbulenzen gestürzt, aber auch zu neuer, ungewohnter Lebensintensität erwacht. Auf dem Weg zurück in die Stadt ist er von erotisch-blasphemischen Phantasien erfüllt, und zu Hause angelangt lehnt er die Medizin, die Chillingsworth ihm anbietet, ab und lässt sich stattdessen ein Essen kommen, das er mit einem lange nicht mehr gekannten „ravenous appetite" verschlingt. Er zerreißt den bereits angefertigten Entwurf seiner Predigt, wirft ihn ins Feuer und verfasst die ganze Nacht hindurch einen neuen Text, voll Inspiration und wie in trancehafter Produktivität nach seiner Begegnung mit Hester im Wald. Thus the night fled away, as if it were a winged steed, and he careering on it; morning came, and peeped blushing through the curtains; and at last sunrise threw a golden beam into the study, and laid it right across the minister's bedazzled eyes. There he was, with the pen still between his fingers, and a vast, immeasurable tract of written space behind him. (240)
Diese Szene, mit ihrer mythopoetischen Bildlichkeit von Pegasus, Nacht und rauschhafter Inspiration, die sich erst beim Anbruch des Tageslichts erschöpft, ist eine Parabel literarischer Kreativität, die sich genau an dem Punkt erneuert, an dem die kulturell getrennten Bereiche von Kultur und Natur, Geist und Körper, Spiritualität und Eros, Selbst und Anderes symbolisch zusammengeführt wurden. Es handelt sich in der impliziten Koppelung von Waldszene und Textgenese, von Wildnis und zivilisatorischem Diskurssystem um eine Schlüsselstelle, in der der Roman gleichsam die Voraussetzungen seiner eigenen Ästhetik inszeniert, die Paradoxie seiner diskursiven Produktivität aus der Einbeziehung des Prädiskursiven, und die Paradoxie kultureller Selbsterneuerung aus der symbolischen Artikulation und imaginativen Ermächtigung eben dessen, was diese Kultur ausgrenzt. Die Predigt wird, als Dimmesdale sie am Tag der feierlichen Amtseinführung des Gouverneurs hält, zum überwältigenden Erfolg. Sie markiert den Höhepunkt seiner Karriere als charismatischer Redner und Interpret spiritueller Wahrheiten, und die Verheißung einer großen Zukunft für das Projekt Amerika, die er in ihr entwirft, versetzt seine Zuhörer in Begeisterung. Die Ironie dieser Begeisterung, und die dem Publikum unbewusste Implikation der außergewöhnlichen Wirkung von Dimmesdales Rede ist, dass sie erst durch die Einbeziehung eben dessen zustande kommt, was dem offiziellen Selbstbild der Kultur diametral widerspricht, was aber in der vorausgehenden Waldszene als notwendige Bedingung und entscheidende Energiequelle dieses herausgehobenen Moments kultureller Kommunikation und Selbstrepräsentation sichtbar wurde. Es ist auffällig, dass Dimmesdales Predigt nicht direkt wiedergegeben, sondern nur in
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ihren nonverbalen, prädiskursiven Aspekten beschrieben wird, so wie sie von Hester und anderen von außerhalb der überfüllten Kirche wahrgenommen werden, in the shape of an indistinct, but varied, murmur and flow of the minister's very peculiar voice. This vocal organ was itself a rich endowment; insomuch that a listener, comprehending nothing of the language in which the preacher spoke, might still have been swayed to and fro by the mere tone and cadence. Like all other music, it breathed passion and pathos, and emotions high or tender, in a tongue native to the human heart, wherever educated. (256)
Dimmesdales „discourse" (256) wird hier also gerade in seiner semantischen Unbestimmtheit, seiner Rhythmisierung, seiner Analogie zur Musik, d.h. in spezifisch ästhetischen Aspekten herausgestellt. Er erscheint als Sprache jenseits der Wörter, die den expliziten verbalen Diskurs durch den ,orphischen Subdiskurs' (Döhn) 12 der Kunst unterläuft und in andere Dimensionen erweitert. Diese Dimensionen aber sind diejenigen, die die gesamte Geschichte des Scarlet Letter als imaginative Erkundung der Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen zwischen rationalem Zivilisationssystem und prärationalen Lebensenergien zum Ausdruck bringt, und die in der Genese und Wirkung des Textes von Dimmesdales Predigt noch einmal paradigmatisch zusammengebracht sind. Die unausweichliche Konsequenz dieser Selbstinszenierung textueller Kreativität ist, dass der Zugang zu jener höheren Wahrheit, wie sie die in einen geradezu dionysischen Zustand der „rapture" (261) versetzte Menge der Zuhörer aus Dimmesdales Predigt heraushört, nur durch Einbeziehung eben jener vitalen, aber potentiell chaotischen Lebensenergien möglich wird, die im offiziellen kulturellen Selbstbild unterdrückt sind, die aber in den Szenarien der ,kreativen Regression' aktiviert werden, wie sie die literarische Imagination im Spannungsverhältnis zu den etablierten kulturellen Diskursen entfaltet. 1.5
Fiktionale Geschichtsrekonstruktion u n d kulturelles Gegenwartssystem
Die kulturökologische Funktion des Textes bezieht sich aber, wie eingangs schon gesagt, nicht nur auf das puritanische System des frühen Amerikas, das die fiktionale Handlung als Vorgeschichte der kulturellen Gegenwartssituation rekonstruiert, aus der heraus Hawthorne seinen Roman schrieb. Sie bezieht sich auch auf das Verhältnis, in das der Text sich zu eben dieser kulturgeschichtlichen Situation des zeitgenössischen Amerikas setzt, aus der er entsprang und auf die er eine ästhetische Antwort darstellt. Nun haben Kritiker die verschiedensten Kontexte herangezogen, um die Bezüge des Scarlet Letter auf dieses kulturelle Gegenwartssystem zu erhellen. Zunächst herrschte lange Zeit F. O. Mathiessens
12
Vgl. Döhn, 1983.
84
II.
Interpretationsteil
A u f f a s s u n g vor, der R o m a n spiegle, w i e d i e anderen M e i s t e r w e r k e der can Renaissance,
Ameri-
d e n D i s s e n s d e s Autors g e g e n ü b e r politischer M a c h t und g e -
sellschaftlicher Konformität und sei darin der künstlerische A u s d r u c k d e s s p e z i fisch
a m e r i k a n i s c h e n G e i s t e s der Liberalität u n d D e m o k r a t i e , w i e er sich in
dieser E p o c h e h e r a u s g e b i l d e t habe. Seit der R e v i s i o n dieser T h e s e vor a l l e m durch S a c v a n B e r c o v i t c h d o m i n i e r e n seit den 80er Jahren eher politische u n d neuhistorische D e u t u n g e n , d i e i m G e g e n t e i l gerade die Haltung d e s K o n s e n s e s , des Kompromisses und des ideologischen Ausgleichs von Gegensätzen zum eig e n t l i c h e n Charakteristikum d e s R o m a n s erklären, das w i e d e r u m in Übereins t i m m u n g mit einer nun z w a r kritisch betrachteten, aber g l e i c h w o h l e b e n f a l l s als t y p i s c h deklarierten Mentalität oder I d e o l o g i e der U S A der Z e i t g e s e h e n wird.' 3 D e r Text wird z u m b l o ß e n R e f l e x d e s größeren politisch-kulturellen D i s k u r s s y s t e m s , d e m er zugehört und d e s s e n i d e o l o g i s c h e Voraussetzungen er in ä s t h e t i s c h e m G e w a n d reproduziert. 1 4 D i e b i s h e r i g e n A u s f ü h r u n g e n zu The
13
14
Scar-
Vgl. v.a. Sacvan Bercovitch, The Office of the Scarlet Letter, Baltimore: Johns Hopkins UP, 1991. So liegt für Jonathan Arac die implizite Politik des Romans gerade in seiner scheinbar unpolitischen Haltung, die letztlich auf die Bestätigung des politischen Status quo hinauslaufe: „The Politics of The Scarlet Letter", in Sacvan Bercovitch and Myra Jehlen (eds.), Ideology and Classic American Literature, Cambridge: Harvard UP, 1986: 2 4 7 66. Strukturell ähnlich, aber inhaltlich anders akzentuiert argumentiert Jane Tompkins, die The Scarlet Letter als Produkt eines männlich orientierten zeitgenössischen literarischen Establishments sieht, das vor allem aus seiner Konkurrenz mit den erfolgreichen Frauenromanen der Zeit zu sehen sei: Sensational Designs. The Cultural Work of American Fiction 1790-1860, New York und Oxford: Oxford UP, 1985. Wieder anders und doch methodisch vergleichbar ist die neuhistorische Lesart von Michael Gilmore, der The Scarlet Letter als Allegorie des letztlich ökonomisch motivierten Erfolgswillens des Autors auf dem Literaturmarkt der Zeit interpretiert, den er als Teilsystem des um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich durchsetzenden kapitalistischen Gesamtsystems der USA betrachtet: American Romanticism and the Marketplace, Chicago: U of Chicago P, 1985. Was diese Deutungen gemeinsam haben, ist der letztlich spekulativ bleibende Bezug des Textes auf ein allgemeineres Diskurssystem seiner Zeit, das jeweils anders bestimmt, aber als definierender Bezugsrahmen für die Ermittlung der Textbedeutung genommen wird. Es fallt auf, dass der Roman in diesen Ansätzen nur gewissermaßen als Illustrationsmaterial für die vorausgesetzte These verwendet wird und dass umgekehrt die herangezogenen Erklärungskontexte - etwa Sklavereidebatte, Kapitalismus, literarischer Markt - im Text selbst nicht vorkommen. Die Tür für diese z.T. willkürlich anmutenden Deutungen öffnet das Konzept eines .political unconscious' (Frederic Jameson), demzufolge das Latente gegenüber dem Manifesten aufgewertet wird und somit gerade das Nichtthematisierte einen besonderen Schlüssel zur Textbedeutung eröffnet. Ein solches Vorgehen mag durchaus interessante Fragestellungen aufwerfen, führt aber teilweise zu eher bizarren Interpretationsergebnissen - so wenn etwa Jay Grossman das im Roman sowohl mit Dimmesdale als auch mit Chillingworth in Verbindung gebrachte Motiv des ,Black Man' als Beleg dafür nimmt, dass der Roman sich mit dem Thema der .miscegenation' beschäftige bzw. genauer gesagt, dass der Diskurs der Sklaverei und der Angst der Weißen vor den Schwarzen, wie er im zeitgenössischen Amerika vorherrschte, gleichsam ohne Zutun des Autors in den Text
1. Hawthorne,
The Scarlet
Letter
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let Letter sollten demgegenüber gezeigt haben, dass solche monokausalen oder undialektisch-homologen Zuordnungen von Text und kulturellem System nicht haltbar sind. Es geht eben nicht um die Wiederspiegelung oder bloße Reproduktion vorgegebener Realitäten und Ideologien, sondern um die imaginative Transformation kultureller Erfahrung, die gerade aufgrund der ästhetischen Entpragmatisierung und Bedeutungspluralisierung des literarischen Diskurses ein spezifisches Potential kultureller Selbsterkenntnis und Selbsterneuerung eröffnet.15 Dies lässt sich nun auch für den Bezug des Romans auf die kulturelle Gegenwartsrealität zeigen. 1.5.1 Implizite Bezüge auf das kulturelle Gegenwartssystem Implizit angelegt ist dieser Bezug auf verschiedenen Ebenen der Gesamtkonzeption des Romans.16 Zum einen kann The Scarlet Letter, wie eingangs bereits angeführt, als Antwort auf den Mangel an kritischem Geschichtsbewusstsein im zeitgenössischen Amerika gelesen werden, das sich im emphatischen Bezug auf Gegenwart und Zukunft aus den Verstrickungen mit der Vergangenheit, insbesondere mit der Alten Welt, zu befreien versuchte. Die Geschichtsschreibung, die es durchaus bereits in großem Umfang gab, ging von einer Teleologie zivilisatorischen Fortschritts aus, die in der Herausbildung der amerikanischen Nation ihr gleichsam providentiell angelegtes Ziel fand. Sie konstruierte überwiegend ein Bild des frühen Amerikas mit der Besiedlung durch Puritaner und Pilgrim Fathers als glorreichem Anfangspunkt einer Entwicklung, die auf der Basis des in Europa verweigerten, in den neuen Kolonien dagegen erstmals verwirklichten Traums religiöser Selbstbestimmung zur schrittweisen historischen
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hineinwirke und seine .eigentliche' Aussage bestimme: ,„A' Is for Abolition?: Race, Authorship, The Scarlet Letter", Textual Practice, 1, 1, Spring, 1993: 13-30. - Demgegenüber wäre zu fordern, dass jede, wie auch immer neuhistorisch sich gebärdende Interpretation die spezifische Aussagestruktur und poetologische Eigendynamik des Romans angemessen berücksichtigen müsste, um Plausibilität zu beanspruchen. Zur Kritik der neuhistorisch verkürzten Text- und Kontextbetrachtung vgl. etwa T. Walter Herbert, „Mozart, Hawthorne, and Mario Savio: Aesthetic Power and Political Complicity", College English, 57, 4, 1995: 397^-09, der dem New Historicism einen mangelnden Sinn für die „aesthetic power" von imaginativen Texten vorwirft und für deren Fähigkeit, anderweitig nicht ausdrückbare Dimensionen und Interrelationen artikulierbar zu machen. „The inner subsystems light up together; attention is enlarged and multiplied ... As the shock of recognition ramifies through us, we are placed in communion with a social selfhood that is otherwise intangible, placeless, and unspeakable." (7) Vgl. hierzu auch meine Beiträge „Nathaniel Hawthorne: The Scarlet Letter", in Große Werke der Literatur III, Hg. Hans Vilmar Geppert, Tübingen: Francke, 1993: 103-20, sowie „Imaginative Counterworlds: Cultural Criticism in Nathaniel Hawthorne's Fiction", in Exploring New Worlds. Discovering and Constructing the Unknown in Anglophone Literature, eds. Martin Kuester, Gabriele Christ and Rudolf Beck, München: Vögel, 2000: 363-79.
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II. Interpretationsteil
Realisierung des American Dream führte. Die Vereinigten Staaten wurden im wesentlichen in Kontinuität mit dieser Vorgeschichte gesehen, wobei die Founding Fathers der Republik, die das Projekt Amerika im 18. Jahrhundert auch politisch aus seiner Abhängigkeit von der Alten Welt befreiten, sozusagen als aufgeklärte Fortführer dieses religiösen Anfangs erschienen. Hawthornes Roman kann auf einer wichtigen Ebene als Revision dieses idealistischen Selbstbildes interpretiert werden, das zu seiner Zeit relativ ungebrochen vorherrschte und in dessen Wirkungsgeschichte letztlich auch seine transzendentalistischen Zeitgenossen standen. Der Roman ist in dieser Sicht ein Stück revisionistische Geschichtsschreibung, die die offizielle Version der eigenen Vorgeschichte mit deren Widersprüchen und Deformationen konfrontiert, welche in dem Maß in die Gegenwart fortwirken, in dem sie nicht durchschaut und bewusst gemacht werden. Hawthorne betont, wie gesehen, nicht die errungene religiöse und politische Freiheit des frühen Amerikas, sondern die neu entstandenen Zwänge und Entfremdungseffekte, die das natur- und leibfeindliche Glaubens- und Machtsystem des Puritanismus mit sich brachte und in denen sich eine zivilisatorische Hybris niederschlug, die in der Aneignung des amerikanischen Kontinents und der Expansionshaltung gegenüber anderen Kulturen im 19. Jahrhundert in veränderter Gestalt fortwirkte. Auf einer weiteren Ebene kann der Roman als Reaktion auf den Geschlechterdiskurs um die Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Obwohl es erste Ansätze einer Frauenbewegung gab, herrschte insgesamt das viktorianische Frauenbild der Frömmigkeit, Häuslichkeit, sexuellen Unschuld und Unterordnung unter den Mann als dem Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung noch relativ ungebrochen vor und wurde in der sentimentalen Massenliteratur noch einmal breitenwirksam propagiert.17 Wie in kaum einem anderen Roman seiner Zeit wird in The Scarlet Letter dieses Bild durch die Figur Hester Prynnes in historischer Verfremdung, aber mit deutlich erkennbaren Gegenwartsbezügen konterkariert.' 8 Zwar bleibt ihr emanzipatorischer Spielraum durch die restriktiven Rollenmuster ihrer Epoche beschränkt, die sie teilweise verinnerlicht hat. Doch wird in ihrer freigeistigen Reflexion, ihrer sexuellen , Verfehlung', ihrer ambivalenten Übernahme und gleichzeitigen inneren Distanzierung von der Mutterrolle, und schließlich in ihrer gleichberechtigten, ja stärkeren Position in der persönlichen Beziehung zu Arthur Dimmesdale das Bild der Victorian Womanhood auf durchaus radikale Weise überschritten. Viele der zeitgenössi-
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Allerdings arbeitet ein Teil der Literatur von Frauen, wie Susanne Opfermann im Anschluss an Jane Tompkins und andere hervorhebt, bereits auf eine Differenzierung und kritische Subversion der vorgefundenen Ideologeme hin: Diskurs, Geschlecht und Literatur. Amerikanische Autorinnen des 19. Jahrhunderts, Stuttgart und Weimar: Metzler, 1996. Der z.T. geradezu reflexartige Verweis auf Hawthornes Polemik gegen die „scribbling women" geht daher erneut an den Gegebenheiten des Textes selbst vorbei.
1. Hawthorne, The Scarlet Letter
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sehen Leser fanden denn auch dieses Frauenportrait skandalös und .unamerikanisch' - „Is the French era actually begun in our literature?", fragte ein Rezensent - , weil Hester als fallen woman, die es auch in der Populärliteratur durchaus gab,19 zwar von der Gesellschaft bestraft wird, aber zugleich zur starken Persönlichkeit heranwächst. Die gewohnte Zuordnung von Geschlechterattributen wird wie gesehen in der Beziehung von Dimmesdale und Hester grundlegend in Frage gestellt und teilweise umgekehrt.20 Ja Hester wird, gleich in der ersten Prangerszene, durch ihre Nähkunst als Künstlerfigur eingeführt, die aus der kreativen Transformation des kulturellen Ausgrenzungszeichens A selbst das ästhetische Archi-Zeichen herstellt, von dem die Semiose des Gesamttextes ausgeht. Dadurch bleibt der Roman stets auf diesen ästhetischen Ursprungsakt und diese gewissermaßen intermediale geistige ,Mit-Autorschaft' durchsichtig, womit die erzählte Geschichte, auf einer Ebene, auch zu Hesters imaginativer Selbstrepräsentation wird. Der Roman kann ferner als Reaktion auf den Diskurs des amerikanischen Individualismus gesehen werden, wie er ebenfalls um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine fortschreitende kulturprägende Ausformung fand. Wie Gilmore in seinem Beitrag zur Cambridge History of American Literature ausführt, herrschte bis um 1820 ein eher kommunal orientierter, auf eine agrarisch-republikanische Gesellschaftsordnung bezogener Geist vor, während in den nachfolgenden Jahrzehnten mit der industriell-kapitalistischen Veränderung der Gesellschaft ein Geist des Individualismus sich durchsetzte, der sich auch auf die Literatur auswirkte und der in der Romantik seinen ästhetischen Ausdruck fand.21 Der ökonomischen Herausbildung der Idee des self-made man entsprach die literarischphilosophische Idee der self-reliance, die vor allem von Emerson propagiert wurde und die enorm wirksam für die weitere Mentalitätsgeschichte der USA sowohl im intellektuellen wie im ökonomischen Bereich wurde. Es dürfte wohl kaum übertrieben sein zu behaupten, dass diese Einstellung des Individualismus, die sich zwar schon weit vorher zu entwickeln begann, aber in dieser Zeit sich zunehmend durchsetzte, eines der Hauptmerkmale der amerikanischen Mentalität oder Ideologie generell darstellt. Auch Hawthorne ist für Gilmore und andere als romantischer Künstler ein Repräsentant dieses neuen, aus kom-
19
20
21
Vgl. David S. Reynolds, Beneath the American Renaissance. The Subversive Imagination in the Age of Emerson and Melville, New York, 1988. Person spricht von einer „feminization of a masculine poetics" bei Hawthorne: Leland S. Person Jr., Aesthetic Headaches: Women and a Masculine Poetics in Poe, Melville, and Hawthorne, Athens: U of Georgia P, 1988: 1. Für Gatta zeigt sich in der Figur der Magna Mater, als die der Autor Hester gestaltet, „his enduring faith in the sacred, saving force mediated through womanhood". Gatta, 1997: 11. Michael Gilmore, „The Literature of the Revolutionary and Early National Periods", Cambridge History of American Literature vol. I, ed. Sacvan Bercovitch, Cambridge: CUP, 1994: 539-693.
88
II.
Interpretationsteil
munalen Bindungen freigesetzten Individualismus, und bis zu einem gewissen Grad ist dies, was die neu entstandene Rolle des Schriftstellers als freischaffendem Produzenten auf dem Markt des literarischen Erfolgs anbelangt, sicher auch zutreffend. Doch wie The Scarlet Letter zeigt, wird dieser Individualismus im Roman gerade kritisch befragt und symbolisch überschritten. Denn anstelle eines individualistisch-selbstreferentiellen Denkens wird der Textprozess von einem relationalen, intersubjektiv vernetzten Denken bestimmt. Dies wurde bereits an der um den scarlet letter herum angelegten semiologischen Gesamtkonzeption und der aus ihr entwickelten Handlungsführung deutlich, lässt sich aber auch an der Erzähl- und Figurenkonzeption zeigen. Was die Erzählfunktion anbelangt, so kennzeichnet sie sich dadurch, dass sie sich ständig verändert, in wechselnde Perspektiven hineinverlegt wird, teilweise aber auch im kollektiven Bewusstsein der puritanischen community lokalisiert ist. Der Erzähler wird daher in seiner Position nie eindeutig greifbar. Er wird zu einem chamäleonartigen Medium der Vermittlung eines Geschehens, das keinen abgehobenen Wahrheitsstandpunkt zulässt und stets nur indirekt, im Zusammenwirken seiner verschiedenen, teilweise widersprüchlichen Deutungsversuche, eine kulturelle Wahrheit erschließbar macht. Was die Figuren und ihre Beziehungen anbelangt, so wird in ihrer Konzeption die Vorstellung eines vollständig selbstbestimmten, aus zwischenmenschlichen Bezügen herausgelösten Individualismus von Grund auf in Frage gestellt. So erscheint der Persönlichkeitsverfall Dimmesdales durch sein Abgeschnittensein von wesentlichen Kommunikationsbeziehungen mitbedingt, von denen er dennoch innerlich abhängt. Hester hingegen verleiht der scarlet letter eine besondere Empathiefähigkeit, die sie von einem (selbst-)destruktiv gewordenen männlichen Individualismus absetzt. Sie tritt zudem fast durchwegs nicht als Einzelperson, sondern zusammen mit Pearl auf, die wiederum ihrerseits ein intuitives Wissen um die zwischenmenschlichen Zusammenhänge besitzt, die äußerlich verschwiegen werden. Aber auch die anderen Figuren stehen nicht allein für sich; alle vier Hauptcharaktere sind vielmehr relational, als individuals-incontext verfasst, die in notwendiger Beziehung zu den jeweils anderen dreien stehen.22 Erst in diesem vielfältig verwobenen, teilweise unter der Oberfläche des Bewusstseins wirkenden Beziehungsgeflecht, in dem die einzelnen Figuren stets auch als alter egos der anderen Figuren erscheinen, ist die ,Individualität' der einzelnen Charaktere in diesem Roman bestimmt. Anstelle der individualistischen Anthropologie der Zeit entwirft Hawthorne eine kommunikative Anthropologie.
22
Zu den Figurenbeziehungen vgl. etwa Hans Abrahamsson, „The Main Characters of Hawthorne's The Scarlet Letter and Their Interrelationships", Moderna Sprak 68, 1974: 337-48.
1. Hawthorne, The Scarlet
Letter
89
1.5.2 Explizite Bezüge auf das kulturelle Gegenwartssystem: „The Custom-House" Waren die bisher genannten Bezüge des Textes auf seinen kulturellen Gegenwartskontext implizit in die Konzeption des Romans hineingearbeitet, so ist dieser Bezug explizit gestaltet in dem einleitenden Sketch „The Custom-House". Hier beschreibt Hawthorne seine autobiographische Erfahrung als Inspektor des Salemer Zollamts von 1846-1849 und führt sie als den außertextuellen Referenzrahmen ein, innerhalb dessen die Entstehung und Bedeutung des fiktionalen Binnentexts des Scarlet Letter situiert werden. Was Hawthorne in diesem satirisch-politischen Essay vor allem herausarbeitet, ist der Gegensatz zwischen der prosaischen Alltagsrealität der zeitgenössischen politisch-bürokratischen Institutionen und dem kreativen Impuls der literarischen Imagination, also der Konflikt zwischen kulturellem Systemdiskurs und imaginativem Gegendiskurs, der den Roman als ganzen kennzeichnet und der hier von der Geschichte auf die Gegenwart übertragen wird. In der Reflexion seiner eigenen Familiengeschichte stößt Hawthorne bereits auf eine Vorform dieses Konflikts, nämlich auf die Fiktions- und Imaginationsskepsis seiner puritanischen Vorfahren, die dem Schriftstellerberuf und den Phantasiegeschichten ihres Nachfahren ebenso verständnislos gegenübergestanden wären wie die Angestellten in Hawthornes Zollamt. ,„What is he?' murmurs one gray shadow of my forefathers to the other., A writer of story-books! What kind of a business in life, - what mode of glorifying God, of being serviceable to mankind in his day and generation, - may that be? Why, the degenerate fellow might as well have been a fiddler! "' (41-2) Diese puritanische Indifferenz, ja Feindseligkeit gegenüber der literarischen Imagination, die später durch politisch-rationalistische Einflüsse in säkularisierter Form fortwirkte, kennzeichnet nach Hawthorne in anderer Weise auch die Mentalität des zeitgenössischen Amerikas, wie er sie am Beispiel des Custom House vor Augen führt. Das Zollamt mit dem „enormous specimen of the American Eagle", der bedrohlich über seinem Eingang wacht und als institutionelles Machtsymbol erscheint, „[which] threatens mischief to the inoffensive community" (37), mit seinen parteipolitisch eingesetzten, inkompetenten Amtsträgern und seiner bürokratisch-geistlosen Atmosphäre wird zum Inbegriff eines literaturfeindlichen kulturellen Milieus, jenes „aggressive, anti-imaginative, mercantile temper that ruled in the nineteenth-century culture .,."23 Täglich umgeben von dieser Atmosphäre, verfällt der Autor in einen Zustand geistiger Lähmung, der ihn unfähig macht zu schreiben. Erst als er aufgrund eines Wechsels der politischen Administration von seinem Posten entlassen wird, kehren seine schöpferischen Fähig-
23
Gatta, 1997: 11. Diese ökonomische Seite des amerikanischen ,Zeitgeistes' kommt zwar stärker in The House of the Seven Gables heraus, ist aber auch im Porträt des Zollamts und der politischen Gegenwartsrealität des Scarlet Letter erkennbar.
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II.
Interpretationsteil
keiten zurück und er verfasst voll neugewonnener Inspiration den Roman The Scarlet Letter. Dieses Produkt der literarischen Imagination wird dabei als fiktionaler Gegenpol des kulturellen Realitätssystems eingeführt, gleichzeitig aber mit besonderem geschichtlich-anthropologischem Wahrheitswert ausgestattet. Dies wird verdeutlicht in einer Szene gegen Ende von Hawthornes Tätigkeit im Custom House, in der er den angeblichen Urtext des Scarlet Letter, die „nuclear phantasy" seines Romans, 24 im oberen Stockwerk des Zollamts entdeckt. Der Roman wird hier hochgradig selbstreflexiv, ein frühes Beispiel historiographischer Metafiktion, die in nuce die Bedingungen ihrer eigenen Entfaltung inszeniert. Das Custom House ist sowohl repräsentativ für Hawthornes Zeit und Gesellschaft, als auch für deren Verhältnis zur Vergangenheit. Denn in jenem oberen Stockwerk sind, verstaubt und unbeachtet, Dokumente über die Geschichte Salems Hawthornes Mikrokosmos von Neuengland - von dessen Anfängen an aufbewahrt. Ausgerechnet hier findet der Autor, der sich als einziger für diesen vergessenen Bereich des Zollamts interessiert und in den dort gestapelten Papierbergen herumstöbert, das angebliche Originalmanuskript des Scarlet Letter. Das Finden des - fiktiven - Manuskripts markiert genau jenen Moment im Text, an dem der autobiographische Diskurs von den Fakten zur Fiktion übergeht. Doch es ist bezeichnend, dass diese Fiktionalisierung des Realen zugleich als Akt der geschichtlichen Entdeckung gestaltet ist. Der angebliche Urtext der Erzählung von Hester Prynne sei nämlich, so der Autor-Erzähler, von einem seiner Vorgänger im Amt des Zollinspektors auf der Grundlage historischer Zeugenaussagen verfasst worden. Und als er diese „documents of a private nature" (69) in den verstaubten Aktenbergen aufspürt, findet er sie, zusammen mit einem verblichenen Stück scharlachrotem Tuch, das die Form des Buchstabens A hat, in ein offizielles Dokument eingewickelt. Hawthome präsentiert also den imaginativen Kern seines Romans als Entdeckung einer vergessenen Geschichte, die unter der Struktur des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens begraben ist. Und er präsentiert sie zugleich als Enthüllung einer privaten, persönlichen Innenansicht dessen, was in der amtlich dokumentierten Historie auf eine unpersönliche Außenansicht beschränkt bleibt. Diese kulturelle Archäologie des Erzählers entfaltet eine erstaunlich vitale Wirkung. Als er das Stück Tuch in der Form des A aufhebt und instinktiv an die Brust hält, fühlt er eine „burning heat... as if the letter were not of red cloth, but red-hot iron" (62), und lässt es zu Boden fallen. Von diesem Emblem der ver-
24
Zu dem Begriff vgl. Norman Holland, „Reading and Identity: A Psychoanalytic Revolution", Academy Forum 23, 1979: 7-9, bei dem er eine psychoanalytische Einfärbung hat, während er hier rein deskriptiv gemeint ist. Wohl aber soll er die komplexe Genese der imaginativen Romanhandlung aus einem Gemisch psychologischer, kultureller und ästhetischer Motive anzeigen.
1. Hawthorne, The Scarlet
Letter
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drängten Vergangenheit geht eine Intensität aus, die der Erzähler in seiner gegenwärtigen Umwelt schmerzlich vermisst. Die elektrisierende Energie, die das aufgefundene Zeichen bei ihm freisetzt, kündigt die Wiedergeburt seiner lange abgestorbenen Imagination an. Es ist Hesters eigenes Zeichen, das hier in der Nachwelt seine Wirkung entfaltet und den Erzähler zu seinem Roman inspiriert. Es initiiert nun auch auf der Gegenwartsebene einen imaginativen Prozess, der die Revitalisierung einer kulturellen death-in-life-Situation bewirkt, indem er die kulturellen Trennungen von Geschichte und Gegenwart, privater und öffentlicher Welt, Text und Leben überschreitet. Der Rahmentext des „Custom-House" perspektiviert den Binnentext des Romans auf eine Weise, dass dieser als Inszenierung des kulturell Ausgegrenzten zugleich zum Medium der Selbsterneuerung kultureller Erkenntnis und Kreativität wird.
2. Herman Melville, Moby-Dick\ Anthropozentrischer Machtanspruch und die unverfügbare Interrelation alles Lebendigen
Während Hawthornes Scarlet Letter sich eher aus historischer Tiefenperspektive mit der amerikanischen Kultur seiner Zeit auseinandersetzt, thematisiert der andere große Roman der American Renaissance, Melvilles Moby-Dick, weit unmittelbarer ökonomische und ideologische Prozesse seiner Epoche. Und während Hawthornes Roman sich stärker auf binnenkulturelle Phänomene und Krisensymptome konzentriert, erkundet Melville stärker die Außengrenzen der Kultur - in der Begegnung mit anderen Kulturen, mit dem außermenschlichen Kosmos, mit der vorzivilisatorischen Natur. Die Thematik von Moby-Dick ist von daher zunächst in einem offenkundigeren Sinn .ökologisch' geprägt als in The Scarlet Letter. Doch so wie sich dort an einer vermeintlich rein innerkulturellen Problemstellung eine ökologische Öffnung und Prozessualisierung kultureller Kategorien und Diskurse beobachten ließ, so gibt bei Melville die Art und Weise, in der die Kultur ihre Begegnung mit dem interpretiert, was vermeintlich außerhalb ihrer Grenzen liegt, Aufschluss über deren eigene fundamentale Beschaffenheit. Die Kultur und ihr Anderes, die Zivilisation und die präzivilisatorische Natur sind eben nicht - und hierin stimmen beide Romane überein - im Sinn binärer diskursiver Oppositionen voneinander abgrenzbar, sondern wirken in unaufhebbarer und nie ganz kontrollierbarer Weise ineinander. 2.1
D i e Krise des zivilisatorischen Realitätssystems
Genau mit diesem Versuch einer solchen zivilisatorischen Totalkontrolle über die außerzivilisatorische Natur setzt sich Moby-Dick auseinander. Ahabs Jagd auf den Weißen Wal ist der monomanisch übersteigerte Ausdruck eines anthropozentrischen Willens zur Macht über die Schöpfung, der alles vom eigenen Sinnanspruch Abweichende dämonisiert und zu eliminieren versucht. Ahab und sein Walfangschiff Pequod stehen dabei für eine aggressive Variante des Modernisierungsprozesses, wie er in der Expansionstendenz des politisch-ökonomischen Systems der USA seiner Zeit zum Ausdruck kommt. ,,[W]ith almost prophetic vision Melville wrote an allegory in which the quenchless American drive to dominate and destroy nature through the use of intelligence, science, and technology is portrayed in the character of Ahab". 1 Am Beispiel der weltum1
Richard L. Wixon, „Herman Melville: Critic of America and Harbinger of Ecological Crisis", in Literature and Lore of the Sea, ed. Patricia A. Carlson, Amsterdam: Rodopi,
1986: 143-53, 144.
94
II.
Interpretationsteil
spannend operierenden Walfangindustrie wird dabei die moderne Zivilisation in ihrem ungebremsten, vermeintlich providentiell sanktionierten Expansionsdrang mit ihren inneren Widersprüchen, ihren Geltungsgrenzen an den Sinnsystemen anderer Kulturen, aber auch an der grundsätzlicheren, unhintergehbaren Interrelation des Menschen mit dem vielgestaltigen Wirkungszusammenhang alles Lebendigen konfrontiert. Ausgangspunkt ist dabei wiederum die Erfahrung einer tiefgreifenden Krise menschlicher Sinnerwartungen innerhalb eines von Erstarrung bedrohten kulturellen Systems, wie sie, stellvertretend für viele andere, von dem Ich-Erzähler Ishmael empfunden und zum Hauptmotiv seiner Beteiligung an der Seereise wird. An Land fühlt er sich gefangen wie unzählige Zeitgenossen, die in einer bürokratisierten Welt leben, „tied to counters, nailed to benches, clinched to desks" (23), und stürzt in eine suizidale Depression, aus der heraus er zugleich die Phantasie der Seereise als imaginäre Gegenwelt entwickelt. Und doch wird er gerade auf dieser Seereise der gesteigerten Form jenes zivilisatorischen Willens zur Macht über die äußere und innere Natur begegnen, deren ökonomisch-bürokratischer Version auf dem Land er entfliehen wollte. Der death-in-life-Zustand, der ihn innerhalb der zivilisatorischen ,Normalwelt' heimsucht („a damp, drizzly November in my soul" [23]2) findet auf dem Walfangschiff keinen Gegensatz, sondern eine Verschärfung. Der Traum einer naturnahen Alternative zur modernen Entfremdung wird zum Alptraum, in dem das Schiff zum Gefängnis und zum Sarg eben jener zivilisatorischen Machtideologie wird, die am Ende Kapitän Ahab und seine Mannschaft in den Tod reißt und deren Vernichtungssog allein der Erzähler entrinnt, indem er symbolisch in den zuvor gestörten Gesamtkreislauf der Natur zurückkehrt. Auch in Moby-Dick bildet also das zivilisatorische Realitätssystem nicht einen bloß äußerlichen Rahmen der Romanhandlung, sondern reicht mitten in deren grundlegende Konzeption hinein. Ahabs Jagd nach dem Weißen Wal erscheint auf einer im ganzen Roman durchgehaltenen Referenzebene als Teil eines technologisch-ökonomischen Systems der Naturbeherrschung und Naturausbeutung, das sich in der bereits hochgradig modernisierten Walfangindustrie der Zeit manifestiert. Die praktischen, technischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen und physischen Aspekte des Walfangs werden mit großer Genauigkeit, ja Akribie wiedergegeben. Die Einzelheiten der Vorbereitung und Durchführung des Walfangs, die wiederholten Beschreibungen der Jagd auf die Wale, ihrer Tötung, Zerteilung und Verwertung, ihrer Verarbeitung zu Öl im Schiffsrumpf - all dies lässt ein Bild der Walfangindustrie zu Melvilles Zeit entstehen, das in seiner Genauigkeit und Differenziertheit seinesgleichen sucht. Allerdings ist bei Ahab - und als Konsequenz bei der ihm wie einem Magnet-
2
Zitiert wird aus folgender Ausgabe: Herman Melville, Moby-Dick or, The Whale, ed. Alfred Kazin, Boston: Riverside, 1956.
2. Melville,
Moby-Dick
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Zentrum folgenden Besatzung - eine bizarre Verfremdung und Übersteigerung dieses Realitätssystems eingetreten, indem es sich aus seinen ökonomischen Zwecken löst und zum Medium einer metaphysischen Quest, einer in den siegreichen Kampf gegen den Wal hineingedeuteten Sinnstiftungsmission wird. In dieser wird mithin unmittelbar das Verhältnis zwischen Kultur und Natur, zwischen dem Menschen und der Schöpfung zum Gegenstand, aus der er hervorgegangen ist und die sein Leben bestimmt und begrenzt. Das Ziel, Moby-Dick zu töten, der ihm bei einer früheren Walfangjagd ein Bein abriss, wird zum allesbeherrschenden „purpose", der Ahabs Individualität gerade in ihrer Verabsolutierung innerlich aushöhlt und einer eindimensionalen Handlungsteleologie unterwirft. In seiner dogmatischen Erstarrung wendet sich der zivilisatorische Wille zur Macht über die Natur von der „common vitality" (168) ab und richtet sich zerstörerisch gegen sich selbst. Nun ist Ahab keineswegs klischeehaft gezeichnet, sondern gewinnt in seiner für Grundstrebungen der Menschheit - und des zeitgenössischen Amerikas repräsentativen Statur, seiner Willensstärke und seiner ausgeprägten Reflexionsfähigkeit eine Faszinationskraft, die den Romanprozess wesentlich mitträgt. Auch seine Sprache ist dieser episch-heroischen, wenn auch sinistren Größe angeglichen, die ihn nicht nur als Personifizierung des imperial seif, der machtpolitischen Variante der amerikanischen Religion der self-reliance erscheinen lässt, sondern in ihrer bildhaften Dichte und rhetorisch-poetischen Kraft an eine Shakespeare-Figur erinnert. Diese hochgradig ambivalente, gebrochene und selbstreflexive Charakterisierung wird etwa im berühmten Monolog zu Beginn des Kapitels „Sunset" deutlich: I leave a white and turbid wake; pale waters, paler cheeks, where'er I sail. The envious billows sidelong swell to whelm my track; let them, but first I pass. Yonder, by the ever-brimming goblet's rim, the warm waves blush like wine. The gold brow plumbs the blue. The diver sun - slow dived from noon, goes down; my soul mounts up! She wearies with her endless hill. Is, then, the crown too heavy that I wear? This Iron Crown of Lombardy. Yet it is bright with many a gem; 1, the wearer, see not its far flashings; but darkly feel that I wear that, that dazzlingly confounds. 'Tis iron - that I know - not gold. 'Tis split, too - that I feel; the jagged edge galls me so, my brain seems to beat against the solid metal; aye, steel skull, mine; the sort that needs no helmet in the most brain-battering fight. (142)
Die Spur verbrauchten Lebens, die Ahabs rücksichtsloser Machtweg zieht, kontrastiert hier wirkungsvoll mit der klangvoll durchrhythmisierten und fast rauschhaft intensivierten Wahrnehmung des Sonnenuntergangs. Höchster Durchsetzungswille verbindet sich mit Leidensbewusstsein und poetischer Sensibilität, die doch zugleich dem Wahnsinn verwandt ist. Ahabs Selbstvision als Nachfolger christlicher Herrscherfiguren, deren Eiserne Krone der Legende nach aus einem Nagel des Kreuzes Christi gefertigt war und deren autosuggestive Präsenz Ahab Kopfschmerzen verursacht, als wäre er körperlich mit ihr verwachsen, stellt ihn in Kontinuität zu einer Geschichte des Christentums, das von einer Opfer- zu einer Täterreligion, von einer Solidaritäts- zu einer Machtstruktur sich
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II.
Interpretationsteil
wandelte. Das historisch Neue ist die Verlagerung dieser Machtsymbolik in die eigene, ins Kosmische gesteigerte Individualität, mit der aber für Melville zugleich der Umschlag des Heroischen ins Groteske einhergeht - in die Selbstentmenschlichung, die das surreal anmutende Bild des ,stählernen Schädels' ausdrückt und die Ahab als Gefangenen der vermeintlich selbstbestimmten Sinnziele zeigt, denen er nachjagt. 2.2 Der Weiße Wal als Signifikant des Unverfügbaren und Inkarnation des imaginativen Gegendiskurses Moby-Dick stellt sich im Roman in zwei grundlegend verschiedenen Versionen dar. Einmal, aus der Sicht Ahabs, inkarniert er all das, was seinem anthropozentrischen Allmachtsanspruch entgegensteht und ihm auf sinistre Weise unverfügbar bleibt: All that most maddens and torments; all that stirs up the lees of things; all truth with malice in it; all that cracks the sinews and cakes the brain; all the subtle demonisms of life and thought; all evil, to crazy Ahab, were visibly personified, and made practically assailable in Moby-Dick. (154)
Der Wal ist hier Inbegriff all dessen, was der planenden Vernunft, dem Glücksstreben, der Lebenskontrolle des Menschen zuwiderläuft. Er ist Projektionsfläche für die unbewältigten Probleme des modernen Kulturmenschen, der sich über den Wirkungszusammenhang des Lebendigen erhoben hat und die Entfremdungssymptome, die das gebrochene Verhältnis zu den eigenen Ursprüngen hervorruft, auf eben diesen naturhaften Lebenszusammenhang zurückprojiziert. Der Weiße Wal erfüllt somit für Ahab eine prinzipiell vergleichbare Funktion wie sie, in anderen Kontexten, etwa von Hexen, Häretikern, fremden Kulturen, dämonisierter Sexualität etc. erfüllt wird. Die Dynamik der Handlung wird durch diese Verselbständigung und paranoide Inversion der Kultur-NaturBeziehung wesentlich mitbestimmt. Dadurch wird die zivilisatorische Entfremdungssymptomatik zum Teil der Texterfahrung, die in der fortschreitenden Annäherung an den Weißen Wal als dem radikal Anderen des eigenen Kulturanspruchs zugleich die Verstrickung in einen tiefgreifenden Verblendungszusammenhang vor Augen führt. Dieser wird allerdings in der Anlage und im Prozess des Romans unterlaufen und durch einen .ökologischen' Gegendiskurs übergriffen, der die Dämonisierung der Natur auf den Kulturmenschen zurückspiegelt und gerade das kulturell Ausgegrenzte als sinn- und lebensnotwendige Dimension zur Geltung bringt. Ist der Weiße Wal also für Ahab Projektionsfläche einer kulturellen Ideologie, die das kreatürliche Andere des zivilisatorischen Selbstbilds gewaltsam auf dessen totalitäre Sinnmuster zurückholt, so wird er auf der Ebene des Textvorgangs selbst, der Ahabs Perspektive übersteigt, in seiner potentiell unendlichen Bedeutungspluralität entfaltet. Er wird zum Fokus der symbolischen Inszenierung eben dessen, was dem vereindeutigenden Zugriff zivilisatorischer Reali-
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tätskontrolle unzugänglich bleibt. Inszenierung in diesem Sinn ist ein ästhetischer Modus, der „dort in seine volle Funktion kommt, wo Wissen und Erfahrung als Weisen der Welterschließung an ihre Grenzen stoßen." 3 Als Repräsentant des radikal Anderen des zivilisatorischen Wissensanspruchs wird der Weiße Wal zu einem Signifikanten des Unverfügbaren, mit dem die literarische Imagination das kulturell Ausgegrenzte und Nicht-Repräsentierte auf paradoxe Weise in die ästhetische Erfahrung hereinholt. Der zeichenhafte Charakter des solchermaßen imaginativ vergegenwärtigten Unverfügbaren, insbesondere des Wals selbst, wird gerade in Moby-Dick besonders betont und durchgängig bewusst gehalten. Der Wal wird in den wechselnden Perspektiven, Kodes und Kontexten, in denen er präsentiert wird, seinerseits zu einem ,Text\ der je unterschiedlichen Auslegungen zugänglich gemacht wird, ohne sich freilich in einer von ihnen oder auch in allen zusammen zu erschöpfen. So erscheint der Wal in der Beleuchtung stets neuer Zugangsweisen, die in ihrem Erklärungspotential aktiviert werden und sich doch immer wieder als unzulänglich erweisen. Er wird durchdekliniert als Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher und naturgeschichtlicher Klassifizierungen, ohne daß sich diesen sein Wesen erschlösse. Er wird exponiert als Objekt ökonomischen Profitdenkens, in welchem sich die Mutation des modernen Menschen zum „money-making animal" (321) niederschlägt, wie sie emblematisch in der Goldmünze zum Ausdruck kommt, die Ahab als Preis für das erste Sichten des Weißen Wals aussetzt und an den Schiffsmast nagelt. Er wird zum Prüfstein metaphysischer Welterklärungsmodelle, indem er teils für das Göttliche, teils aber auch für das Satanische steht als Chiffre jener übernatürlichen Kräfte, die undurchschaubar das Schicksal der Menschen bestimmen. Er ist Zerrbild kultureller Ideologien, indem er als Verkörperung des Barbarischen, Präzivilisatorischen gebrandmarkt und dämonisiert wird, von dessen Eliminierung das Überleben des anthropozentrischen Zivilisationssystems abhängig gemacht wird. Er ist Konstrukt fiktionaler Konventionen, indem er in den hochliterarischen Traditionen von Epos und Tragödie, aber auch in populärliterarischen Muster des See-, Abenteuer- und Schauerromans konfiguriert wird, in denen er als übermenschlicher Antagonist des heroisch scheiternden Protagonisten erscheint oder als infernalisches Monster der Tiefe zur Verkörperung der Träume, Ängste und Schrecken der menschlichen Innenwelt wird. In den wechselnden Perspektiven der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Religion, der kulturellen Ideologie, der Mythologie, der literarischen Konventionen und Gattungen ergeben sich je unterschiedliche, zeichenhafte Manifestationen des Wals, die in sich durchaus heterogen, ja gegensätzlich sind, aber gerade darin in ihrem Verfügungsanspruch über das Unverfügbare dementiert werden. Die wechselweise ins Spiel gebrach-
3
Iser, 1991: 508.
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ten Signifikanten Moby-Dicks, die in der whiteness des Wals ihre magisch-polysemische Verdichtung finden, beziehen sich also, poststrukturalistisch gesagt, auf kein identifizierbares transzendentales Signifikat. Dem dogmatischen Textund Weltverständnis von Ahabs Zivilisationsbegriff, der alles außerhalb seines Geltungsbereichs Liegende seiner diskursiven Deutungsmacht unterordnen will, steht die offene Semiose gegenüber, in die der Wal als textbestimmendes Superzeichen gerät - „a dumb blankness but full of meaning" (163) - und in deren im Textverlauf sich verstärkenden ,Wirbel' alle festen Bedeutungszuschreibungen sich auflösen. Diese Offenheit des Zeichenprozesses heißt aber nun nicht, wie es einer poststrukturalistischen Lesart entspräche, dass damit der Bezug zu dem, was in ihm bezeichnet wird, gänzlich suspendiert wäre. Im Gegenteil eröffnet gerade die Herauslösung des Textvorgangs aus der Eindeutigkeit der je unterschiedlichen Formen ihrer semiotischen Verfügbarmachung die Möglichkeit, die vorsprachlichen Phänomene und Erfahrungsbereiche, denen der Text sich annähert, gleichsam in den Zwischenräumen und Interferenzen der Diskurse in ihrer lebendigen Vielgestaltigkeit und Interrelation herauszustellen. In der Pluralisierung der diskursiven Erfassungsschemata einerseits, und in dem Zur-GeltungKommen-Lassen der prädiskursiven Phänomenalität und Prozessualität des Lebendigen andererseits erweist sich in Moby-Dick paradigmatisch die Funktion der Literatur als symbolische Artikulation des kulturell Unverfügbaren, die dieses sowohl semiotisch repräsentiert als auch in seiner Andersartigkeit belässt. Diese Artikulation bleibt nicht inhaltsleer, sondern eröffnet immer neue Möglichkeiten der Vergegenwärtigung jenes ursprünglichen Lebenszusammenhangs, der niemals endgültig oder als ganzer erfassbar, dennoch aber in wechselnden Konfigurationen ästhetisch konkretisierbar und kommunizierbar ist. Die „dumb blankness" des Wals, die zentrale Leerstelle des im Roman entworfenen WeltTextes, ist eben kein leeres Zentrum, sondern „full of meaning". 4 Die Eröffnung einer imaginären Gegenwelt, die dem Zugriff zivilisatorischer Rationalität sich entzieht und in sprachlich-fiktionaler Annäherung zugänglich macht, was anderweitig nicht zugänglich wird, wird bereits ganz zu Anfang exemplarisch deutlich an der Stelle, als Ishmael seinen descensus ad inferos beginnt. Beim Eintritt in die Unterwelt seiner halb realen, halb traumähnlichen Seereise am Ende des ersten Kapitels imaginiert er den Wal als Chiffre seines eigenen Lebenszentrums:
4
Dem entspricht, auf allgemeinerer Ebene, Isers Beobachtung, dass die Mimesis der literarischen Imagination „ihre eigene, sich der Beschreibbarkeit entziehende Referentialität" erzeugt, welche konventionell prafiguriertc Bedeutungszuschreibungen im Prozess ihrer fiktionalen Configuration zur „Entdeckung ihrer Polysemie" transfiguriert: Iser, 1991: 494. Diese dreiphasige Aufgliederung des literarischen Verarbeitungsprozesses kultureller Erfahrung geht zurück auf Paul Ricoeur, 1988.
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The great flood-gates of the wonder-world swung open, and in the wild conceits that swayed me to my purpose, two and two there floated into my inmost soul, endless processions of the whale, and, mid most of them all, one grand hooded phantom, like a snow hill in the air. (26-7)
Die innerste Mitte des menschlichen Ichs, dessen Stimme den Roman trägt, wird hier mit dem Bild des Wals besetzt. Das ,Wesen' dieses Selbst wird durch die Figuration eines Anderen bestimmt, das außerhalb des Selbst liegt und es doch in seinen tiefsten Antriebskräften prägt. Der Einbruch der elementaren Bilderwelt, die das zivilisatorische Bewusstsein überflutet, gibt gleichzeitig in unwiderstehlicher Weise die Sinnrichtung der eigenen Selbstwerdung vor. Der amorphe Strom des Imaginären wird zu einem Medium ausartikuliert, in dem diese Rückkopplung von Kulturmensch und entfesselten Naturenergien sich vollzieht. Die Figuration des Seelischen erfolgt in der Bildlichkeit des Animalischen, des Unbewussten in der des Wassers, der imaginären Gegenwelt (der „wonderworld") zur zivilisatorischen Normalweh in der der unergründlichen Erhabenheit der Natur. Diese faszinierend-unheimliche Unterwelt, in die der Erzähler hier eintaucht und in der er durch die .Wildheit' seiner Imagination vorangetrieben wird, ist zunächst durch den chaotischen Ausbruch lang aufgestauter imaginärer Energie markiert, die sich der Kontrolle des bewussten Selbst entzieht. Sie nimmt aber zugleich auch Züge einer rituellen Ordnung an („two and two", „endless processions"), die gerade durch die Verbindung der Pole von Bewegung und Ruhe, Turbulenz und Balance, Fließen und Erstarrung, Begrenzung und Entgrenzung, des Einen und seiner Verdopplungen, des Kreatürlichen und des Heiligen gekennzeichnet ist.5 Und in deren Zentrum wiederum befindet sich der Weiße Wal („one grand hooded phantom"), der als unverfügbarer Grund und gleichzeitig als höchste Hervorbringung dieser Welt erscheint, die in der Art ihres Sich-Zeigens sich zugleich verbirgt. Die mythopoetische Sprache der Imagination wird hier dergestalt eingesetzt, dass sie den Bedeutungsprozess des Romans als Annäherung an ein verborgenes Lebenszentrum visualisiert, das die Energie, die das narrative Selbst auf den Weg zu seiner ästhetischen Bestimmung treibt, als dieselbe Kraft erweist, die den Gestalten und Metamorphosen des Lebendigen selbst zugrunde liegt. Das Verhältnis von Mensch und Wal, das das Grundthema des Romans bildet und metonymisch das Verhältnis von moderner Zivilisation und vorzivilisatorischer Schöpfung ausdrückt, stellt sich hier ganz anders dar als in Ahabs Perspektive. Während dieser in seiner Hybris vollständiger zivilisatorischer Naturbeherrschung in einen Teufelskreis destruktiver und selbstdestruktiver Regression hineingerät, durch den er sich zunehmend selbst in die Personifikation
5
Zur Dimension des Sakralen in Moby-Dick vgl. Lawrence Buell,,Moby-Dick as Sacred Text", in New Essays on Moby-Dick, ed. Richard H. Brodhead, Cambridge UP, 1986: 53-72.
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II.
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eben jenes dämonisierten Anderen verwandelt, das er auf den Weißen Wal projiziert, ist Ishmaels gegenläufige Annäherung an das Phänomen des Wals ein Beispiel jener .kreativen Regression' 6 zu den unverfügbaren Ursprüngen des eigenen Lebens, die der Text als ganzer vollzieht. Auf diese Weise bindet der Roman verselbständigte kulturelle Sinnsysteme, die in Ahabs Quest ins Wahnhafte übersteigert sind, symbolisch an den holistischen Lebenszusammenhang zurück, von dem jene sich mit fatalen Konsequenzen abgeschnitten haben. Die Erneuerung des Verhältnisses von Mensch und Natur durch das Ausagieren und symbolische Exorzieren seiner kulturpathologischen Verzerrungen ist mithin ein wesentliches Anliegen des Romans. Und indem Melville den gesamten verfügbaren Wissensstand seiner Zeit und das gesamte verfügbare Sprach- und Diskursrepertoire zum Thema Mensch und Wal einbezieht, wirkt sich diese Erneuerung auf allen Ebenen kultureller Selbstdefinition aus - als Erkenntnisprozess, als psychodramatische Selbsterfahrung, als Neubestimmung interpersonaler Beziehungen, als Revision kultureller Selbst- und Weltbilder, als Erneuerung von Sprache und literarischer Kreativität. 2.3 Rekonfigurationen der Kultur-Natur-Beziehung Sind die in verschiedenen Varianten wiederkehrenden Epiphanien des Wals in Moby-Dick als „phantasmatische Figurationen" 7 amorpher innerseelischer Antriebskräfte die eine Seite des kulturökologischen Gegendiskurses, in dem der Roman die Rückbindung zivilisatorischen Bewusstseins an seine vorzivilisatorischen Ursprünge inszeniert, so ist die umfassende Einbeziehung der außermenschlichen Natur und die Neubestimmung ihres Orts im kulturellen Selbstverständnis die andere. In dieser Hinsicht operiert der Roman an einem Nervenpunkt des Selbstverständnisses der amerikanischen Kultur seiner Zeit insofern, als diese sich in ihrer Abgrenzung vom hyperzivilisierten Europa dezidiert als .Nature's Nation' empfand. Die enge Wechselbeziehung von Zivilisation und Natur wird in Moby-Dick in der Tat in den Mittelpunkt gerückt und in der Expedition der Pequod an die Frontiers der „uncivilized seas" besonders herausgestellt. Ahabs Schiff sucht Moby-Dick in jenem letzten, unerschlossenen und für den Menschen bisher unzugänglichen Refugium der Wildnis auf, in das kein anderes Schiff mehr vorzudringen wagt und das auch auf den Karten, die Ahab zur Verfügung stehen, nicht mehr verzeichnet ist. Doch tritt gerade hier ein tiefgreifender Widerspruch innerhalb des nationalen Selbstverständnisses hervor: Das Konzept einer ,Nature's Nation' steht in diametralem Gegensatz zu jener Ideologie physischer und metaphysischer Naturbeherrschung, wie sie die Mission der Pequod bestimmt. Bis zu einem gewis-
6 7
Vgl. Tschachler, 1990. Iser, 1991: 504
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sen Grad hat das Unternehmen des Walfangs neben seinen ökonomischen auch durchaus ökologische Aspekte, die im Roman zur Darstellung kommen. In der Jagd auf den Wal folgt der Mensch einem .natürlichen' Motiv der Selbsterhaltung, der sich als Teil eines anthropologischen Antriebsprogramms und als kulturprägender Faktor archaischer Jäger- und Fischerkulturen in vorzivilisatorische Zeiten zurückverfolgen lässt. Die naturnahe Dimension des Walfangs, seiner Traditionen und Praktiken wird im Roman deutlich betont und ausgestaltet. Zunächst wird von Anfang an die Anziehungskraft des Wassers und des Ozeans als eines Gegenbereichs der Freiheit, Entgrenzung und Offenheit zum Land als dem Bereich der Begrenzung und der zivilisatorischen Konventionen ins Spiel gebracht. Ferner wird die .Wildheit' der Schiffsbesatzung hervorgehoben, die insbesondere durch die Anwesenheit der drei Harpunisten, des Südseeinsulaners Queequeg, des Indianers Tashtego und des Schwarzen Baboo augenfällig gemacht wird, die aber auch in der weißen Crew einschließlich ihres Kapitäns ungleich stärker ausgeprägt erscheint als auf dem Land. Die faszinierend-abenteuerliche Seite dieses Lebens wird durch Einbeziehung mündlicher Erzählformen, einer „lore of the sea",8 in vielfältiger Weise folkloristisch ausgeschmückt und mit der Aura des Verwegenen, Exotischen und Fabulösen umgeben. Die Szenen der Jagd auf die Wale, zumal von den zu Wasser gelassenen Booten aus, erinnern unmittelbar an archaische Jagdszenen und erfordern im lebensgefährlichen Kampf mit den Riesentieren in deren ureigenstem Element außergewöhnlichen Mut und außergewöhnliches Können. Durchgängig wird das nautische, technische und körperliche Geschick herausgestellt, das die erfolgreiche Durchführung des Walfangs erfordert und das eine hohe Vertrautheit mit natürlichen Gegebenheiten, insbesondere eine genaue Kenntnis der Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen des Wals, voraussetzt. Auf der Suche nach Moby-Dick folgt Ahab den natürlichen Wanderwegen der Wale über die Weltmeere, die er auf Karten einzeichnet und über die er den Lebensraum des Weißen Wals immer mehr einkreist, bis er ihn aufspürt. (164) Selbst die Verwertung der unterschiedlichen Teile des Wals - des Walspecks zu Lampenöl und Seife, des Spermazets zu Speisefett und Kerzenwachs, der Knochen zu Harpunen usw. - trägt zu einem gewissen Grad noch Züge eines ökologischen, weil auf nachvollziehbare Zwecke ausgerichteten und im Rahmen wiederverwertbarer Produkte bleibenden Arbeits- und Austauschverhältnisses von Mensch und Natur. Dennoch überwiegt der Eindruck, dass diese Beziehung - und dadurch die Beziehung des Menschen zu sich selbst - auf fundamentale Weise gestört ist, dass ursprünglich sinnvolle Verhaltensweisen in zunächst unmerklichem, dann aber katastrophal eskalierendem Maß außer Kontrolle geraten sind. Dies liegt zum einen an einem ökonomisch-technologischen, zum anderen an einem ideo-
8
Vgl. Patricia A. Carlson (ed.), Literature
1986.
and Lore of the Sea, Amsterdam: Rodopi,
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II.
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logischen Aspekt. Auf der einen Seite tritt mit der quantitativen Ausweitung und technischen Aufrüstung der Walfangindustrie auch ein qualitativer Umschlag ein, der bereits die globale Vernichtungsdimension der modernen Walfangindustrie unserer Tage vorausahnen lässt. Der Walfang wird zwar auf einer direkten Handlungsebene von konkreten Individuen betrieben, erscheint aber zugleich als Teil eines globalisierten Wirtschaftszweigs und eines Tötungs- und Verwertungssystems des Wals, das unter der erbitterten Konkurrenz der Nationen und der einzelnen Schiffe abläuft, und ist damit Symptom einer „all-grasping western world." (296) Die Häutung des Wals, das Abtrennen des Kopfes, die Zerstückelung in Einzelteile, über die Melville in mehreren Kapiteln in allen schaurig-objektiven Details berichtet, erweckt den Eindruck einer fast fabrikartig ablaufenden Tötungsmaschinerie, eines gigantischen Zerstörungswerks, das bei aller Bewunderung für das fachmännische Knowhow der Besatzung und des „scientific anatomical feat" (246), das sie etwa beim Köpfen des Wals vollbringt, als Missachtung gegenüber der Kreatur und als frevelhafte „desecration" (246) ihrer Würde und Erhabenheit erscheint. Entsprechend bringt die Sezierung des getöteten Wals, die der Erzähler mit minutiöser Genauigkeit nachvollzieht und mit der er sich von der Außenhaut her dem Inneren des Wals bis zum Skelett hin annähert, zwar die physische Anatomie des Kadavers, aber nicht das eigentliche Wesen des Wals zum Vorschein: „Dissect him how I may, then, I go but skin deep; I know him not, and never will." (295) Denn wie Ishmael später in seinen Betrachtungen über ein am Land aufbewahrtes Walfossil feststellt, kann der Wal erst in einer holistischen Sicht, in der Einheit mit seinem ureigensten Lebenselement, angemessen betrachtet werden: „only on the profound and unbounded sea, can the fully invested whale be truly and livingly found out." (349) Der Degradierung des Wals zum Material ökonomischer Verwertungsinteressen entspricht auf der anderen Seite die ideologische Selbstüberhebung des Menschen über die Natur, seine Hybris der vollständigen Herauslösung aus aller Naturbedingtheit. Der Mensch unter dem Leitbild des self-made man, das zunehmend Melvilles Epoche dominierte und auch in Ahabs unbedingtem Autonomiestreben, das sich in seinem Vernichtungsfeldzug gegen Moby-Dick äußert, zum Ausdruck kommt, will keine vorgängigen, transindividuellen Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge anerkennen, sondern zum Schöpfer seiner selbst und seiner Welt werden. Dies wird von Melville vor allem an einem Motiv verdeutlicht, dem von Ahabs künstlichem Bein, das das natürliche Bein ersetzt, welches er einst im Kampf mit Moby-Dick verlor. Im Gespräch mit dem Schiffszimmermann, der ihm ein neues Kunstbein anfertigen soll, spekuliert Ahab über diesen „pure manipulator" und „manmaker", diesen prometheischen Fabrikanten eines neuen Menschen. Er bestellt bei ihm „a complete man after a desirable pattern", einen Frankensteinschen Monstermenschen mit riesigen Ausmaßen, „ehest modelled after the Thames Tunnel", am Boden festgewachsen, ohne Herz und ohne Augen, dafür aber mit einem gewaltigen Gehirn - „a quarter of an acre of fine brains" (360) - und einem Licht, das nicht von außen
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kommt, sondern nur sein Inneres erleuchtet. Der Übermensch, den Ahab sich hier zurechtphantasiert, ist eine selbstbezügliche, allein von Macht und Verstand bestimmte und für alles außer ihr Seiende unempfindliche Mensch-Maschine. 9 Dies ist, ironisch übersteigert, aber doch mit unterschwelligem Ernst, Ahabs Idealbild des Menschen, der sich von der Natur löst und zur Inkarnation technomorpher Allmachtsphantasien wird, mit denen er den kreatürlich-emotionalen Verstrickungen des Menschlichen zu entkommen versucht. Die Selbstverwandlung des Menschen in sein künstliches, empfindungslos-unangreifbares Double - „canst thou not drive that old Adam away?", fragt Ahab den Zimmermann - , motiviert sich aus der Verdrängung der Natur, aber auch des Eros und der zwischenmenschlichen Dimension. Ahabs Kunstbein ist bereits der groteske Ersatz für diese Dimension: „And here's his leg! Yes, now that I think of it, here's his bedfellow! Has a stick of whale's jaw-bone for a wife!" (361)10 Im Gegenzug zur Selbstüberhebung des Menschen über die Natur, wie sie im Projekt der Pequod impliziert ist, findet im Roman sowohl eine Umwertung der menschlichen Aktivitäten wie eine Aufwertung der außermenschlichen Natur statt. Die Natur kommt in Ahabs puritanisch-allegorischem Weltbild nur in ihrer einen, lebensbedrohenden Seite vor. Die andere, lebensstiftende Seite wird hingegen im Roman in verschiedener Weise ins Spiel gebracht und zu einem eigenständigen Netzwerk von Bedeutungen verwoben, das der zivilisatorisch präfigurierten Kultur/Natur-Beziehung entgegenwirkt und ihre binären Wertungskategorien unterläuft. Dies geschieht vor allem in der durchgängig wiederkehrenden Metaphorik des Webens und des Gewebes, die einen stets neu entstehenden und wieder sich verändernden Zusammenhang alles Gewordenen anzeigt, in dem Werden und Vergehen, Tod und Leben sich gegenseitig bedingen und auseinander hervorgehen. Der Pazifik ist das „tide-beating heart of earth", ein „seductive god" (369), der immer neue Formen des Lebens aus dem Chaos hervorbringt. Diese Formen sind teilweise von faszinierender, aber auch unheimlicher Fremdartigkeit, so wie die weiße Riesenkrake, die die Mannschaft der Pequod sichtet: „We now gazed at the wondrous phenomenon which the secret seas have hitherto revealed to mankind. A vast pulpy mass, furlongs in length and breadth, of a glancing cream-color, lay floating on the water ... No perceptible face or front did it have; no conceivable token of either sensation or instinct; but undulated there on the billows, an unearthly, formless, chance-like apparition of life." (223). Vor allem aber Moby-Dick bietet bei seinem lang er-
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Die maschinenähnlichen Züge von Ahabs Charakter zeigen etwa Stephen C. Ausband, „The Whale and the Machine: An Approach to Moby-Dick", American Literature, 47, 1975: 199-200, oderWixon, 1986: 146 Dass das Autonomiestreben Ahabs auch maskuline Züge hat, zeigt Kim Long, „Ahab's Narcissistic Quest: The Failure of the Masculine American Dream in Moby-Dick", Conference of College Teachers of English Studies, 57, 1992: 42-50.
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warteten, ersten Auftauchen ein eindrucksvolles Naturschauspiel, das den Vergleich mit dem Wirken göttlicher Mächte nicht zu scheuen braucht und die souveräne Erhabenheit eines mit sich in Einklang befindlichen Lebensprinzips vermittelt: „A gentle joyousness - a mighty mildness of repose in swiftness, invested the gliding whale ... not Jove, not that great Majesty Supreme! Did surpass the glorified White Whale as he so divinely swam." (412) Sogar als die Jagd auf ihn begonnen hat, setzt der Weiße Wal seine Aggression nur zur Selbstverteidigung ein, richtet sie nicht aus Prinzip gegen den Menschen, wie Starbuck vergeblich Ahab klarzumachen versucht: „Moby-Dick seeks thee not. It is thou, thou, that madly seekest him!" (428) Diese Aufwertung der elementaren, außermenschlichen Natur zeigt sich vor allem in einem weiteren Zug des Romans, nämlich der Verwischung der eindeutigen Grenzen zwischen Mensch und Tier." Der Wal wird vermenschlicht, während der Mensch mit Attributen des Animalischen ausgestattet wird. Das „peculiar snow-white wrinkled forehead" (153) des Weißen Wals ist Zeichen der hochentwickelten Intelligenz, mit der er sich gegen seine menschlichen Verfolger wehrt. Er hat die Fähigkeit, sich unter den widrigsten Gegebenheiten zu behaupten und zu überleben - selbst unter dem Eis des Nordens behält er seine warme Körpertemperatur bei. Wenn also der Wal von Ishmael zum Vorbild des Menschen erklärt wird - „Oh man! Admire and model thyself after the Whale!" - , so ist damit sowohl seine optimale Angepasstheit an die natürliche Umwelt wie die Bewahrung seiner Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit, seiner „strong individual vitality" gemeint (245). Immer wieder wird die Bedeutung der Braue hervorgehoben, des „mark of genius" (273), das die rätselvolle, an eine Sphinx erinnernde Stirn des Wals ziert und das an Ausdruckskraft und Würde die höchsten geistigen Hervorbringungen des Menschen übertrifft (246ff.). Die geistigkulturelle Dimension wird in Bildern der Natur ausgedrückt, während umgekehrt die Natur mit Begriffen aus dem menschlichen Kulturbereich besetzt wird. Das Ergebnis ist eine Auflösung der absoluten Grenze zwischen Mensch und Tier, Kultur und Natur und der auf ihr aufbauenden Bilder von Selbst und Anderem. 12 In dem intuitiv-ganzheitlichen Wissen, das ihm in seiner vorsprachlichen .Genialität' zu eigen ist, steht der Wal für eine mythische Erkenntnisebene, die in den Büchern der Menschen erst immer wieder sekundär, aus der Erfahrung ihres Verlusts heraus rekonstruierbar ist. Das Verhältnis von Mensch und Wal ist hier also auch das Verhältnis von Buch und Wal, des Romans Moby-Dick und
" Eine solche Verwischung als Subversion anthropozentrischer zivilisatorischer Selbstbilder ist, wie Andreas Höfele an King Lear zeigt, bereits bei Melvilles Vorbild Shakespeare zu erkennen: „Bestiarium Humanuni: Lears Tierwelt", Anglia, 118, 3, 2000: 333-51. 12 Die Einbeziehung von Pflanzen-Bildlichkeit in diesen Prozess zeigt Jeanetta Boswell, „Plant Imagery in Moby Dick: Metaphor for the Unknown", University Forum, 41, 1987: 3-8.
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seinem Hauptthema, mit dem er sich aus der Evidenz einer vital-lebensnotwendigen, im kulturellen Bewusstsein aber erst wieder neu zu vergegenwärtigenden und zu repräsentierenden Sinn- und Erkenntnisdimension auseinandersetzt. 2.4 Das Schweigen des Wals als kreatives Prinzip und mythographischer Subtext des Romans Die vom Wal repräsentierte außermenschliche Natur ist der Bereich des kulturell Unverfügbaren schlechthin, das aber, gerade weil es nicht Teil der etablierten Diskurskonventionen ist, nur in poetisch-mythographischer Annäherungsform ausdrückbar ist. Der Roman ist auf einer Ebene gewissermaßen die Transkription jenes Schweigens, in dem sich die diskursiv unverfügbare Genialität des Wals zeigt. Das Schweigen des Wals in die imaginative Sprache des Romans zu .übersetzen' ist von daher ein ästhetisches Prinzip des Textes, das seine Inhalte und Strukturen mitbeeinflusst. Es ist eine rational unentzifferbare Ursprache des Lebendigen, die in den .Hieroglyphen' auf der Stirn des Wals zum Ausdruck kommt und in anderer Weise in den Hieroglyphen sich manifestiert, mit denen Queequeg als Sohn eines Südseehäuptlings tätowiert ist und die als Spuren einer archaischen Kultur seine Identität bestimmen, ohne für ihn noch entschlüsselbar zu sein. Ist die damit semiotisch markierte Dimension eines prädiskursiven Lebenswissens also nicht rationalisierbar, so ist sie doch ästhetisch repräsentierbar als eine Kraft, die in den Bildern, Figuren und Handlungssequenzen des Romans analogisch wirksam gemacht werden kann. Das Schweigen der Natur ist ein beredtes Schweigen voll kreativer Energie: Silence reigned over the before tumultuous but now deserted deck. An intense copper calm, like a universal yellow lotus, was more and more unfolding its noiseless, measureless leaves upon the sea. (247)' 3
Diese hinter dem Sichtbaren wirkende Verwobenheit und elementare Kreativität alles Lebendigen ist es auch, die Melville in der Metaphorik des Gewebes in die Textstruktur umsetzt, indem er die unterschiedlichsten Personen, Schicksale, Handlungsstränge - bzw. die sie ausdrückenden Texte, Geschichten und Zeichen - in komplexer Weise miteinander verwebt. Aus der unausschöpflichen Fülle solcher bedeutungsstiftender Vernetzungen innerhalb des Romans seien hier exemplarisch die Charaktere Pip und Queequeg in ihrer Beziehung zum Erzähler Ishmael herausgegriffen. Ihr Bewusstsein kennzeichnet sich durch eine je andersartige, aber ähnlich intensive Form des Zugangs zu jenem vorzivilisatorischen Lebenswissen, wie es im Schweigen des Wals konnotiert ist. Insbesondere Queequeg erscheint dabei geradezu als Personifikation jener Kraft, durch die sich im Text die symbolische Überwindung
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Die Lotus-Blume hat seit der Antike im Orient fundamentale Bedeutung als Symbol der Ganzheit, der Regenerationskraft und des inneren Zusammenhangs der Welt.
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jenes zerstörerischen Prinzips vollzieht, das den Gang der äußeren Handlung bestimmt. Beide Figuren sind Vertreter nichtwestlicher Kulturen - Pip ist ein Schwarzer, Queequeg ein Südseeinsulaner. Beide sind, wie Ishmael, Außenseiter in der kulturellen Welt, in die sie durch makrohistorische Vorgänge wie die Sklaverei (Pip), den Kolonialismus (Queequeg) oder die Entfremdungstendenzen der Modernisierung (Ishmael) hineingeraten sind. In der Charakterisierung sowohl von Pip als auch von Queequeg werden vorherrschende kulturelle Stereotypen aufgebrochen - Pip wird im Vergleich zu einem gleichaltrigen weißen Jungen als von ,Natur' aus intelligenter bezeichnet; Queequeg ist zwar Heide und Kannibale, dennoch aber weit menschlicher gezeichnet als die meisten, .christlichen' Weißen. Beide sind wesentlich für den Prozess der Bewusstseinserweiterung, den Ishmael durchläuft, indem sie ihm Dimensionen der Erfahrung und des Wissens zugänglich machen, die ihm ansonsten verschlossen blieben. 2.5 Pips Wahnsinn und Ishmaels Seelenverwandtschaft Pips Tragödie entwickelt sich unmittelbar aus den verselbständigten, gegen menschliche Überlegungen indifferenten Mechanismen des Walfangs. Er wird aus dem Boot geschleudert und verliert, als die andern ihn allein auf See zurücklassen, den Verstand. In dieser tragischen Regression auf einen vorbewussten Geisteszustand wird Pip einerseits zum Objekt des Bedauerns und des Mitleids für Ishmael. Sogar Ahab zeigt gegenüber Pip eine seltene Regung von Mitleid und stellt ihn unter seinen besonderen Schutz; doch er erlaubt sich diesen Anflug von Menschlichkeit umso mehr, als sich an seiner Entschlossenheit zum finalen Entscheidungskampf mit Moby-Dick nicht das Geringste ändert. Für den Erzähler hingegen wird Pip aber auch zum Medium tieferer Einsicht, da ihm, der von der menschlichen Zivilisation auf dem offenen Meer ausgesetzt und danach als ,Idiot' abgestempelt wird, eine subterrane Sphäre des Wissens zugänglich wird, die der Wal symbolisiert und die durch Empathie sich auch dem Erzähler erschließt. In den „wondrous depths" findet Pip den „celestial thought", das Wissen um das vielfältige, ständig neue Formen hervorbringende Gewebe des Lebens. Die den Anderen unverständliche Sprache des Wahnsinns wird zur imaginativen Transkription des vorsprachlichen, kulturell unverfügbaren Lebensprozesses selbst:14 ... from that hour the negro went about the deck an idiot; such, at least, they said he was. The sea had jeeringly kept his finite body up, but drowned the infinite of his soul. Not drowned entirely, though. Rather carried down alive to wondrous depths, where strange
14
Zu den Formen des Wahnsinns in Moby-Dick vgl. Paul McCarthy, „Forms of Insanity and Insane Characters in Moby-Dick", Colby Library Quarterly, 23, 1, 1987: 39-51. Das Motiv des Idioten als eines Mediums der imaginativen Vermittlung ansonsten unverfügbarer Wissensbereiche taucht in der Literatur immer wieder auf; im Bereich der amerikanischen Literatur ist wohl das bekannteste Beispiel William Faulkners The
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shapes of the unwarped primal world glided to and fro before his passive eyes ... He saw God's foot upon the treadle of the loom, and spoke it; and therefore his shipmates called him mad. So man's insanity is heaven's sense ... (322-22) D i e e n g e S e e l e n v e r w a n d t s c h a f t Pips zu Ishmael wird nicht nur an d i e s e r Stelle deutlich, w o er sich in die U n t e r w e l t v o n Pips U n b e w u s s t e m hineinversetzt, d i e e b e n s o sehr an d e n B e g i n n s e i n e r e i g e n e n , U n t e r w e l t r e i s e ' in d i e „ w o n d e r world" d e s O z e a n s z u r ü c k v e r w e i s t ( 2 7 ) w i e sie z u g l e i c h v o r w e g n e h m e n d sein späteres S c h i c k s a l parallelisiert - „and it w i l l then b e seen, w h a t like abandonm e n t b e f e l l m y s e l f ' ( 3 2 2 ) . S i e wirkt darüber hinaus u n t e r s c h w e l l i g a u c h in der unmittelbar f o l g e n d e n S z e n e nach, in der Ishmael z u s a m m e n mit den anderen S e e l e u t e n das f e s t g e w o r d e n e „sperm", d.h. das S p e r m a z e t des Wals, knetet, u m e s flüssig zu m a c h e n . D a b e i gerät er in e i n e n ähnlichen Zustand der Ek-Stase, d e s A u ß e r - S i c h - S e i n s , der auch d e n W a h n s i n n Pips kennzeichnet. D u r c h d a s E i n t a u c h e n seiner H ä n d e in d i e s e s e l e m e n t a r e L e b e n s g e w e b e wird er w i e in Trance versetzt, in e i n e Phantasie der V e r s c h m e l z u n g mit der w e i ß e n M a s s e , d i e s e m b e s o n d e r e n Teil d e s Walhirns, der zu M e l v i l l e s Z e i t z u g l e i c h als Ort der Intelligenz und d e s S a m e n s , d e s Ü b e r l e b e n s i n s t i n k t s u n d der Fortpflanzung betrachtet w u r d e und s o hier g l e i c h s a m d i e kreative Ursubstanz d e s L e b e n s selbst repräsentiert. In d i e s e m alle S i n n e e r f a s s e n d e n Erlebnis wird Ishmael s y m b o l i s c h aus der E n t f r e m d u n g in sein naturhaftes, g a n z h e i t l i c h e s S e l b s t zurückverw a n d e l t und kurzzeitig v o m Fluch der zivilisatorischen Z w ä n g e befreit, die A h a b personifiziert: ... as I bathed my hands among those soft, gentle globules of infiltrated tissues, woven almost within the hour; as they richly broke to my fingers, and discharged all their opulence, like fully ripe grapes their wine; as I snuffed up that uncontaminated aroma, - literally and truly, like the smell of spring violets; I declare to you that for the time I lived as in a musky meadow; I forgot all about our horrible oath; in that inexpressible sperm, I washed my hands and my heart of it ... I squeezed that sperm till I myself melted all into it; I squeezed that sperm till a strange sort of insanity came over me; and I found myself unwittingly squeezing my co-laborers' hands in it, mistaking their hands for the gentle globules. Such an abounding, affectionate, friendly, loving feeling did this avocation beget; that at last I was continually squeezing their hands, and looking up into their eyes sentimentally; as much as to say - Oh! My dear fellow beings, why should we longer cherish any social acerbities, or know the slightest ill-humor or envy! Come; let us squeeze hands all round; nay, let us all squeeze ourselves into each other; let us squeeze ourselves universally into the very milk and sperm of kindness. (323)
Sound and the Fury, wo das erste Kapitel aus der Perspektive eines der Sprache nicht mächtigen 33jährigen .Idioten' erzählt wird, der gleichwohl durch seine ausgeprägte vorsprachliche Sensibilität Wahmehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsweisen eröffnet, die ansonsten kulturell nicht zugänglich wären. Der Roman ist in dieser Hinsicht ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Funktionsweise der Literatur als kultureller Ökologie, als Artikulation des anderweitig nicht Artikulierten oder Artikulierbaren. Vgl. dazu meinen Aufsatz „William Faulkner, The Sound and the Fury", in Große Werke der Literatur, Bd. 4, Hg. Hans Vilmar Geppert, Tübingen: Francke 1995: 239-54.
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Interpretationsteil
Der übersteigerte, pathetisch-exaltierte Ton, in dem Ishmael dieses Einheitserlebnis des Menschen mit seinen naturhaften Ursprüngen wiedergibt, mag bis zu einem gewissen Grad ironisierend wirken. Er spiegelt indessen auch kompensatorisch die Intensität des Sinndefizits, das Ishmael empfindet. Die Metaphorik des Gewebes verbindet sich hier mit Bildern der Fruchtbarkeit, der Fülle, des Rausches, der Schönheit, der Reinigung, der Erneuerung und der Wiedergeburt, in denen das Pastorale und das Dionysische ineinander übergehen und kulturelle Kategorien und Trennlinien sich verflüssigen. Was im Licht der zivilisatorischen Realität als Wahnsinn erscheint, entfaltet sich als whitmanesk anmutende Gegenwelt eines Imaginären, in dem das Kreatürliche, das Erotische und das Kommunikative ineinander wirken und die unmittelbar-körperliche Begegnung mit der Sphäre einer naturhaften Kreativität zugleich die Befreiung der Emotionen und die Erneuerung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit sich bringt. Was hier zugleich aufscheint, ist die Utopie unentfremdeter Arbeit - denn es handelt sich ja um einen kollektiven Arbeitsablauf, der als Ausgangspunkt des imaginativen Gegendiskurses genommen wird - , eine demokratische Idee der Gleichheit und gegenseitigen Akzeptanz der Menschen aus der Erfahrung ihrer Zugehörigkeit zu demselben ursprünglichen Lebenszusammenhang. 2.6 Queequeg und die Kraft der Regeneration aus dem kulturell Anderen Eine andere Form des Zugangs zu diesem vorzivilisatorisch-naturnahen Lebenswissen wird durch die Figur Queequegs in den Roman hineingebracht, der nicht nur am Anfang eine Art Mentorenrolle in der Initiationsreise Ishmaels übernimmt, sondern dem auch im weiteren Verlauf, in dem er äußerlich stärker zurücktritt, eine entscheidende Rolle für den Sinnprozess des Romans zukommt. Queequeg ist Vertreter einer nichtwestlichen Kultur, deren Traditionen und Mythen er auch in der fremden kulturellen Umgebung aufrechterhält. Dies scheint ihm ein besonderes Sensorium für natürliche Lebensprozesse zu verleihen, das am Ende letztlich erst das Überleben des Erzählers ermöglicht. Obwohl er selbst untergeht, trägt Queequeg damit wesentlich zur symbolischen Überwindung der durch Ahabs Mission herbeiführten zivilisatorischen Katastrophe bei, die der Roman vor Augen führt. Das vormoderne Wissen, das er personifiziert, wird nicht nur in den naturreligiösen Ritualen deutlich, an denen er inmitten der modernen Welt festhält. Es zeigt sich auch daran, dass sein Körper mit Hieroglyphen beschriftet ist, die von einem Schamanen seiner Heimat eintätowiert wurden und „a complete theory of the heavens and the earth, and a mystical treatise on the art of attaining truth" enthalten, allerdings auch für ihn nicht mehr entzifferbar sind. Sein Körper ist so selbst ein „wondrous work in one volume" (368), ein mythographischer Ur-Text über den Kosmos, der ihm zwar nicht mehr bewusst zugänglich ist, ihn aber mit besonderer Sensibilität für die vorsprachlichganzheitlichen Wirkungszusammenhänge ausstattet, in denen der Mensch steht.
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Queequeg weiß um den Kreislauf von Leben und Tod, Werden und Vergehen und verkörpert statt des linearen, individualistischen Handlungskonzepts Ahabs ein zyklisches, transindividuelles Prinzip. Er lässt sich, als er erkrankt, einen Sarg zimmern, der aber nachher, als er wieder gesund wird, als Rettungsboot fungiert. Er ist aufgrund seines Zugangs zu elementaren Lebensvorgängen in der Lage, mit seiner bloßen Willenskraft über sein eigenes Sterben oder Weiterleben zu entscheiden. Dieses von Queequeg verkörperte intuitive Lebenswissen wird unterschwelliger Teil der Semiose des Gesamttextes, das der binären Vereindeutigung der Konflikte im Sinn des kulturbeherrschenden dualistischen Weltbilds entgegenläuft. Es stiftet ein Netzwerk von Beziehungen, das den Individualismus westlichen Denkens aus der Erkenntnis der unauflöslichen Interdependenz und des Aufeinander-Angewiesenseins der Menschen und Kulturen übersteigt. Dies gilt speziell für Queequegs Verhältnis zu Ishmael, das zu Anfang besonders eng, ja intim ist und zur Freundschaft des weißen Zivilisationsmenschen mit diesem ,edlen Wilden' aufgebaut wird, ohne dass hier eine vergleichbare Idealisierung stattfindet wie in anderen Versionen dieses Musters. Die beiden zeigen sich auch später, als die Situation der ganzen Mannschaft im Verhältnis zu Ahab in den Mittelpunkt rückt, unauflöslich aneinander gebunden. Dies wird in der Szene im Kapitel „The Monkey-Rope" besonders anschaulich, als Ishmael mit Queequeg, der an einem Seil zu einem am Schiff festgemachten getöteten Wal ins Wasser hinabgelassen wird, auf Gedeih und Verderb zusammengebunden ist. Er fühlt sich als Queequegs „inseparable twin brother" (253) und wird sich darin zugleich der „Siamese connexion with a plurality of other mortals" (254) bewusst, in die das vermeintlich autonome Individuum eingebunden ist. Diese besondere naturnahe Sensibilität und ganzheitlich-relationale Denkweise Queequegs wird auf der einen Seite instrumentalisiert, indem sie sich in den Dienst der zivilisatorischen Hybris stellt, die Ahabs Unternehmen trägt. Auch Queequeg schwört den Eid auf diesen dämonisch-charismatischen Führer und folgt dessen wahnwitzigen, gegen alle natürlichen Selbsterhaltungsinteressen gerichteten Befehlen bis in den Tod. Er ist, wie die anderen, in den morbiden Bann der Macht und in die Anpassungsmechanismen eines Kollektivs geraten, das nicht mehr nach dem Sinn des Ganzen, sondern nur noch nach dem Funktionieren der Teile fragt. Durch seine Versetzung in den Kontext der westlichen Zivilisation ist die Beziehung zu seinen eigenen Wurzeln nicht mehr stark genug, um ungebrochen zu überleben. Sie ist aber immer noch stark genug, um einen wirksamen Gegenpol zum destruktiven zivilisatorischen Machtwillen in den Text hineinzubringen und zu dessen symbolischer Korrektur beizutragen. Obwohl Queequeg also selbst von den Mechanismen von Ahabs Todeskultur erfaßt wird, geht von ihm eine Kraft der Regeneration und der symbolischen Erneuerung aus. Wiederholt tritt er im Roman als Lebensretter auf. Dies beginnt bereits am Anfang der Reise, als ein Mann, mit dem er in Streit gerät, ins Wasser fällt und er ihn vor dem Ertrinken rettet. Und es setzt sich fort in der Szene im
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Kapitel „Cistern and Buckets", als der Indianer Tashtego bei der Arbeit an einem getöteten Wal, aus dessen Kopf er eimerweise die weiße Spermmasse holt, abstürzt und im Inneren des Wals verschwindet. Die Versuche der anderen, ihn zu bergen, scheitern, und als der Wal durch sein Gewicht aus der Vertauung reißt und bereits ins Meer versinkt, gelingt es Queequeg in einer übermenschlichen Anstrengung, Tashtego im letzten Moment aus der Tiefe heraufzuholen. Das Motiv von Tod und Wiedergeburt ist hier besonders deutlich ausgeprägt. Das Verschwinden Tashtegos im untergehenden Wal erscheint wie ein symbolischer Tod, sein Wiederauftauchen wie eine Auferstehung aus dem Grab - sein Arm, der als erstes sichtbar wird, hebt sich aus dem Wasser „as an arm thrust forth from the grass over a grave". Und Queequegs Rettungsaktion wird ausgedrückt in der Metaphorik einer Geburt, bei der er als Hebamme fungiert: „with the next trial, he [Tashtego] came forth in the good old way - head foremost." (270) 2.7 Ishmaels Überleben der Katastrophe und die symbolische Selbstemeuerung der Kultur Am Ende des Romans, am dritten Tag der Jagd auf Moby-Dick, kommt es zur unvermeidlich gewordenen Katastrophe. Die Boote sind nach mehreren Angriffswellen zerstört, und im letzten entscheidenden Versuch Ahabs, den Weißen Wal doch noch zu besiegen, verheddert sich die Walfangleine mit der im Leib des Wals steckenden Harpune, und Ahab wird, mitsamt dem Schiff und der gesamten Mannschaft, von Moby-Dick in die Tiefe gezogen. In dieser Höhepunktsszene des Romans, in der Ahabs Leine ihn unentrinnbar an seinen Antagonisten bindet, kommt noch im gemeinsamen Untergang der unauflösliche Zusammenhang und das Aufeinander-Angewiesensein zwischen Mensch und Schöpfung, Kultur und Natur zum Ausdruck, das Ahabs zivilisatorischer Machtanspruch gerade geleugnet hatte. Doch auch in dieser Situation des vermeintlich endgültigen Scheiterns tritt Queequeg auf symbolischer Ebene noch einmal als Lebensretter und indirektes Medium der Wiedergeburt auf. Ishmael, der aus einem der Boote ins Wasser geschleudert wurde und aus bedrohlicher Nähe die apokalyptische Szene erlebt, wird unaufhaltsam in den Wirbel hineingezogen, den das sinkende Schiff verursacht. Doch als er im Zentrum des Vortex angelangt ist, hat dieser seine Gefährlichkeit verloren und ist zu einem „creamy pool" geworden, aus dessen „vital center" der zur „life-buoy" gewordene Holzsarg emporschießt, den Queequeg zimmerte und durch den dieser nun auch für Ishmael zum Lebensretter wird. Dieser Vortex, auf den das gesamte Geschehen des Romans zugelaufen ist, verbildlicht mithin sowohl den Abgrund, in den das zivilisatorische Projekt absoluter Naturbeherrschung steuert, als auch die .zyklischen' Kräfte der Erneuerung, die die Wiederherstellung der gebrochenen Beziehung des Menschen zu seinen naturhaften Ursprüngen freisetzt. Der moderne Zivilisationsmensch Ishmael erlebt durch die Vermittlung des vormodernen Kulturmenschen Queequeg seine
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Wiedergeburt in der Begegnung mit einer außermenschlichen Natur, die nach der Katastrophe ihrerseits verwandelt und wie von einem Fluch befreit scheint: „The unharming sharks, they glided by as if with padlocks on their mouths; the savage sea-hawks sailed with sheathed beaks." (432) Liegt in dem vormodemen Lebenswissen einer anderen Kultur, das Queequeg repräsentiert, der eine Aspekt, durch den Ishmaels Überleben - und damit das Erzählen der Geschichte - möglich wird, so liegt der andere in der Suche des Kapitäns der Rachel, Gardiner, nach seinem beim Walfang verlorenen Sohn, die ihn abseits der üblichen Schiffahrtsrouten in das abgelegene Gebiet segeln lässt, wo er den auf dem Sarg-als-Rettungsboot treibenden Ishmael findet. Ahab hatte zuvor noch die Hilfe, um die ihn die Rachel bei ihrer Suche bat, in seiner besessenen Jagd auf Moby-Dick abgelehnt, ein Verhalten, an dem die Dehumanisierung seines Charakters in der Fixierung seiner ganzen Existenz auf ein verabsolutiertes Sinnziel besonders deutlich hervortritt. Hingegen zeigt sich in dem vom ursprünglichen Ziel abweichenden Verhalten des Kapitäns der Rachel ein Impuls der Humanität, der erst, indem er von der zwanghaften Teleologie zivilisatorischer Naturbeherrschung wegführt, die Rettung Ishmaels ermöglicht. Queequeg und Gardiner, vormoderne Kultur und rehumanisierte Zivilisation wirken also in der Rettung Ishmaels zusammen, d.h. in der symbolischen Wiedergeburt der Kultur aus der Apokalypse ihrer erstarrten Ideologeme, die der Roman in der Erzählung dieses Überlebenden inszeniert. Blickt man von hier aus noch einmal auf den Roman als ganzen, so erweist sich die Funktion der Literatur als kultureller Ökologie in Moby-Dick im Spannungsfeld der drei oben genannten Funktionsaspekte als relativ deutlich konturiert. In der Repräsentation der Defizite von Ahabs imperialer anthropozentrischer Machtideologie baut sich ein kulturkritischer Metadiskurs auf, demgegenüber sich der Weiße Wal als Signifikant des kulturell Unverfügbaren zum Zentrum eines imaginativen Gegendiskurses entwickelt, der in mythographischer Semiose zur Geltung bringt, was jene zivilisatorischen Allmachtsphantasien unterdrücken. Am Ende nun, wo der Konflikt der beiden textbestimmenden Pole zum direkten Zusammenprall und zur Katastrophe eskaliert, rückt der Funktionsaspekt eines ,reintegrativen Interdiskurses' in den Vordergrund, der freilich zuvor schon in der vielfältigen Verknüpfung der antagonistischen Kräfte implizit wirksam gewesen war. Wie sich hier noch einmal ganz deutlich zeigt, hat diese Funktion der Reintegration kulturell getrennter Diskurs- und Erfahrungsbereiche nichts mit Harmonisierung zu tun, sondern setzt vielmehr gerade hochgradig konfliktorische und chaotische Prozesse frei. Wohl aber bedeutet sie ein radikales Zusammenbringen des kulturell Getrennten, das dergestalt in gegenseitige Interaktion und Transformation gebracht wird, dass Zivilisation und Wildnis, Mensch und Kreatur, Geist und Körper, Bewusstes und Unbewusstes, eigene und fremde Kultur, Moderne und Mythos aus ihrer konventionellen Entgegensetzung geholt und in ihren unaufhebbaien Wechselbeziehungen erkundet werden.
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Moby-Dick vollzieht diesen Prozess im historischen Bezugsrahmen Amerikas als einer rapide sich modernisierenden Gesellschaft, deren zentrale Konzepte im Roman aufgegriffen und kritisch revidiert werden - allen voran die Idee der Manifest Destiny, die als Idee der zivilisatorischen Überlegenheit über die Natur, aber auch über andere Kulturen die Expansion der Nation in dieser Zeit wesentlich bestimmte.15 So wie sich im Roman die Natur als unhintergehbare Sinn- und Energiequelle erweist, auf die jede noch so fortgeschrittene Zivilisation angewiesen bleibt, so erweisen sich andere, nichtwestliche Kulturen gerade in ihrer größeren Nähe zu diesen ursprünglichen Lebensenergien als notwendig für das Überleben der menschlichen Zivilisation. Moby-Dick bezieht einerseits das gesamte verfügbare moderne Sprach-, Diskurs- und Wissensmaterial zu seinem Thema ein, bindet es aber andererseits an Traditionen des Mythos und der literarischen Imagination zurück, in denen die Geschichte des Naturbezugs der Kultur und der Grundlagen ihrer Kreativität ständig fortgeschrieben und als biophiles Gedächtnis der Menschheit wachgehalten wird. Zwischen der Hochsteigerung gedanklicher und textueller Komplexität und der Aktualisierung archaischer Formen der Imagination entfaltet sich die charakteristische Spannung, aus der Moby-Dick seine innovative Energie bezieht. Als Markstein ästhetischer Erneuerung innerhalb der Geschichte der amerikanischen Literatur wird er zugleich zur Parabel der Erneuerung der Kultur als ganzer, indem er das von dieser Ausgegrenzte konsequent einbezieht und zur Quelle seiner imaginativen Produktivität macht.
15
Vgl.dazu auch Wixon 1986: 143, 147; Wai-Chee Dimock, „Ahab's Manifest Destiny", Century Literature: Nationalism, Exoticism, in Macropolitics of Nineteenth Imperialism, eds. Jonathan Arac and Harriet Ritvo, Philadelphia: U of Pennsylvania P, 1991: 184-212; Mark Niemeyer, „Manifest Destiny and Melville's Moby Dick·. Or, Enlightenment Universalism and Aggressive Nineteenth-Century Expansionism in a National Text", QWERTY, 1999, 9: 301-11. - Zur subversiven Rolle der Natur gegenüber Konzepten der Nation in Moby-Dick vgl. Viola Sachs, „Le Langage de la nature et la desarticulation de l'identité américaine", Europe: Revue Littéraire Mensuelle, 69, 744, 1991: 21-31.
3. Mark Twain, The Adventures of Huckleberry Finn: Die Selbsterneuerung der Zivilisation aus dem Rückgang auf die vorzivilisatorische Natur
Wie The Scarlet Letter und Moby-Dick gehört Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn zu den bedeutendsten und meistbesprochenen Werken der amerikanischen Literatur. Und stärker noch als diese ist es in den letzten Jahren in die Kontroversen hineingezogen worden, die sich im Gefolge der Etablierung einer politisierten Literaturkritik entwickelten und in denen Huck Finn mit dem Verdikt des Rassismus belegt wurde, so wie Hawthorne die Komplizität mit dem kulturellen Machtestablishment und Melville die Komplizität mit dem amerikanischen Individualismus und seiner imperialen Expansionstendenz vorgeworfen wurde. Wie im Fall der beiden anderen Autoren gerät in dieser Sicht der Text in seiner ästhetischen Entfaltungslogik aus dem Blick zugunsten der deduktiven Bestätigung vorausgesetzter Ideologeme und Ansprüche von political correctness, die oft genug Grundregeln der literarischen Hermeneutik außer Acht lassen und die eigene, z.T. beträchtliche Textblindheit mit rhetorisch-moralischer Emphase wettzumachen suchen.1 Wieder zeigt sich auch am Beispiel von Huck Finn, dass aus dem hier gewählten Blickwinkel der Literatur als kultureller Ökologie, d.h. der Annahme einer funktionalen Wechselbeziehung zwischen Text und kultureller Umwelt, die sich erst über die sprachlich-symbolische Eigendynamik des Textes erschließt, ein anderes, differenzierteres Bild entsteht. 3.1 Revitalisierung der Schriftkultur durch mündliches
story-telling
Wie bei Hawthorne und noch stärker bei Melville sind auch in Huck Finn unterschiedliche Stil- und Gattungskonventionen verarbeitet. Tall ία/e-Tradition des
1
Zur Heftigkeit der Kontroverse beigetragen hat vor allem der Artikel von Jane Smiley, „Say It Ain't So, Huck: Second Thoughts on Mark Twain's .Masterpiece'", Harper's, 1996, Jan., 292:1748, 61-67. Vgl. dazu auch z.B. Tom Quirk, „Is Huckleberry Finn Politically Correct?", in American Realism and the Canon, eds. Tom Quirk and Gary Scharnhorst, Newark: U of Delaware P, 1994: 190-200; Jonathan Arac, Huckleberry Finn as Idol and Target: The Functions of Criticism in Our Time, Madison: U of Wisconsin P, 1997; Joshua Chadwick, The Jim Dilemma: Reading Race in Huckleberry Finn, Jackson: U of Mississippi P, 1998. Eine die Polemik überwindende, differenziertere und textadäquatere Sicht scheint sich in neuesten Beiträgen abzuzeichnen, vgl. Carl F. Wieck, Refiguring Huckleberry Finn, Athens: U of Georgia P, 2000, der die „ingenious subversion of racism" in dem Roman herausstellt: Chapter 9, „On Black and White in Huckleberry Finn"'. 124.
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amerikanischen Südwestens, Abenteuerroman und bad èoy-Geschichten der Populärliteratur, Reisebericht, pikaresker Roman und Bildungsroman, Satire und Burleske, der illusionszerstörende Impuls des amerikanischen Realismus, aber auch die selbst wieder illusionsbildende Kunst spontanen improvisatorischen Geschichtenerzählens - all diese Elemente und Einflüsse sind in Twains Roman in unterschiedlicher und wechselnder Gewichtung präsent und tragen gerade aufgrund ihrer variablen, nie ganz ausrechenbaren Verbindungen zum offenen, .lebendigen' Charakter des Romans bei. Die wesentliche Neuerung gegenüber seinen Vorläufertexten besteht aber nicht nur im tragikomischen Register und dem humoristisch-satirischen Ton, in dem das Diskrepante, Ungereimte und Unvollkommene zu einer wichtigen Stil- und Erfahrungskategorie wird. Sie besteht vor allem in der Wahl einer neuen, ungewöhnlichen Erzählerstimme, die aus der Perspektive eines Dialekt sprechenden Jugendlichen das mündliche story-telling zum Prinzip der schriftlichen Repräsentation und Kommunikation kultureller Wirklichkeiten macht. Die etablierte Schriftkultur, wie sie von der genteel culture der Ostküste bestimmt wurde, wird also gleichsam von innen heraus mit ihrem .Anderen', d.h. mit der von ihr marginalisierten lebendigen Sprache der wirklichen Menschen, konfrontiert und von dieser zugleich subvertiert und regeneriert. Huck als Erzähler schreibt zwar - so ist die fiktionale Rahmensituation - selbst seine Erfahrungen nieder, aber er tut dies auf die spontanunmittelbare Weise einer simulierten mündlichen Erzählsituation gegenüber dem Leser, den er von Anfang an wie einen direkten Ansprechpartner, einen Zuhörer in einer persönlichen Dialogbeziehung, behandelt. „You don't know about me, without you have read a book by the name of The Adventures of Tom Sawyer, but that ain't no matter."2 Die etablierte Erzählsituation tritt also von Anfang an in ein Differenzverhältnis zur Schriftkultur, die in der Erwähnung des Buchs Tom Sawyer aufgerufen ist und von der sich Hucks persönliche Stimme konstitutiv abhebt, indem sie unübersehbar vom vernacular eines ungebildeten, der Schriftsprache nur unbeholfen mächtigen, dadurch aber auch „unverbildeten" Sprechers geprägt ist.3 Es wird also einerseits eine Kontinuität zwischen Tom Sawyer und Huck Finn hergestellt, andererseits aber ihre Diskontinuität in der Differenz zwischen Schriftkultur und mündlichem story-telling betont, die zum eigentlichen Erkennungsmerkmal des Nachfolgeromans und seiner kulturkritischen und kulturerneuernden Funktion wird. Die Paradoxie einer Sprechsituation, die das zivilisationstragende Medium der Schriftlichkeit zum fiktionalen Entwurf einer Erzählkonstellation nutzt, in der das Spontane, Vorschriftliche und Vorzivilisa-
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Zitiert wird aus folgender Textausgabe: Mark Twain, The Adventures of Huckleberry Finn, Haimondsworth: Penguin, 1974 [1884], - Wieck spricht von einer „magic" und einer „enlivening experience", die vom story-telling in Huck Finn ausgeht: Wieck, 2000: χ. Winfried Fluck, „Realismus, Naturalismus, Vormoderne", in Amerikanische Literaturgeschichte, Hg. Hubert Zapf, Stuttgart und Weimar: Metzler, 1997: 154-217, 187.
3. Twain, Huckleberry Finn
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torische zur Sprache gebracht werden soll, wird zum Ausgangspunkt eines Romanprozesses, in dem auf verschiedensten Ebenen und in verschiedensten Bereichen ähnliche Paradoxien durchgespielt werden. Sie dienen einerseits zur Kritik und Dekonstruktion zentraler Annahmen des viktorianischen Realitätssystems, andererseits werden sie zum Entfaltungsraum eines kulturell Ausgegrenzten, das sich als Quelle der Imagination und der Wiedergewinnung kultureller Kreativität darstellt. 3.2 Dekonstruktion des zivilisatorischen Realitätssystems Solche Paradoxien sind neben dem textbestimmenden Verhältnis von Schriftkultur und Mündlichkeit vor allem die amerikanische Grundparadoxie der Beziehung von moderner Zivilisation und präzivilisatorischer Natur, aber auch die epistemologische Paradoxie von Wahrheit und Illusion, die moralische Paradoxie von Gut und Böse, die soziale Paradoxie von christlichem Demokratieanspruch und feudalistisch-sklavenhaltendem Gesellschaftssystem, die kulturelle Paradoxie von Bildung und Ungebildetheit, sowie die sozialpsychologische Paradoxie von Selbst und Anderem, von eigener und fremder Kultur. Im offiziellen Selbstverständnis der viktorianischen Kultur der Zeit stellen sich diese Paradoxien als einfache Dichotomien dar - Zivilisation, Wahrheit, moralisch Gutes, Christentum, Bildung, eigene Kultur (einschließlich Sklaverei) versus präzivilisatorische Natur, Lüge, Böses, Heidnisches, Ungebildetheit, andere Kulturen. In Twains Roman werden sie aus diesen ausgrenzenden Oppositionsmustem, aus der „exclusionary, identity-building rhetoric" 4 (M. Boughn) des kulturellen Selbstbilds herausgeholt und in einer Weise inszeniert, dass sie gewohnte Denkmuster ironisch auf den Kopf stellen und gerade dadurch die Wahrheit einer verkehrten Welt zum Vorschein bringen. Aus dieser teils humoristisch-kamevalesken, teils satirisch-grotesken Auflösung geschlossener Weltbilder in Huck Finn entsteht zugleich jener Entfaltungsspielraum des Imaginären, in dem sich das zivilisatorisch Ausgegrenzte als semiotische Gegenmacht zur Macht des gesellschaftlichen Realitätssystems artikulieren und zur Geltung bringen kann. Das Verhältnis von Schriftkultur und fingierter mündlicher Erzählsituation gibt hierfür gewissermaßen den formalen, metadiskursiven Rahmen ab, innerhalb dessen sich die kulturökologische Auseinandersetzung mit dem ideologisch-institutionellen Komplex der Gesamtkultur (Gesellschaft, Religion, Schule, Erziehung, Feudalsystem, literarische Hochkultur, etc.) vollzieht. Als deren wesentliches Defizit, auf das der Roman reagiert, erscheint zu Beginn weniger ein moralisches Defizit denn ein Mangel an Vitalität, eine Paralyse spontaner Lebensenergien durch eine .domestizierte' Welt artifizieller Normen und rigider
4
Michael Boughn, „Rethinking Mark Twain's Skepticism: Ways of Knowing and Forms of Freedom in the Adventures of Huckleberry Finn", Arizona Quarterly, 52, 4, 1996: 31-48, 35.
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II.
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Ordnungen, wie sie im Haushalt der Widow Douglas herrscht und vor allem von ihrer Schwester Miss Watson personifiziert wird, die Huck mit dem „spellingbook" (50) traktiert und vergeblich auf ein normenkonformes Verhalten zu dressieren versucht, das er als Selbstauslöschung seines spontanen Ichs empfindet. In dieser Welt abstrakter „Vor-Schriften" (K. Müller)5 fühlt Huck sich wie lebendig begraben, und es ist in einem hohen Maß diese künstliche, blutleere Welt viktorianischer Konventionen, vor der er in die Gegenwelt des Flusses und der Natur flieht. Zum anderen freilich ist es auch der Mangel an Zugehörigkeit und menschlicher Emotion, der Huck aus der vertrauten, aber hochgradig fremdbestimmten Welt von St. Petersburg forttreibt. Ist nämlich das Leben in der matriarchalen Ersatzfamilie der Widow Douglas durch übersteigerte Künstlichkeit und Überzivilisiertheit gekennzeichnet, so sind andererseits seine realen Familienverhältnisse - bzw. was von diesen übrig blieb - durch Verwahrlosung und Verwilderung patriarchaler Autorität geprägt. Sein Vater, die einzige familiäre Bezugsperson für Huck, ist ein heruntergekommener Vertreter des white trash, ein Alkoholiker und Herumtreiber, der seinen Sohn tyrannisiert, ihn als Geldquelle missbraucht und jede eigenständige Entwicklung Hucks zu unterbinden sucht. Er nimmt ihn schließlich von der Schule und entführt ihn in seine Hütte auf einer Insel des Mississippi, wo er ihn wie einen persönlichen Sklaven hält. Er leitet somit zwar die Initiation Hucks in die vorzivilisatorische Wildnis ein, stellt aber umgekehrt zur karikaturhaften Überzeichnung der Zivilisationswelt in der domestic sphere der Widow Douglas seinerseits das Zerrbild einer menschlichen Verwilderung dar, die als pervertierte Kehrseite der viktorianischen Gesellschaft erscheint („rapscallions and dead beats is the kind the widow and good people takes the most interest in", 131) und, statt eine naturnahe Wertalternative darzustellen, gewissermaßen die Mentalität der Sklaverei im privaten Familienbereich reproduziert und so selbst zur emotionalen Traumatisierung Hucks beiträgt. Im Zustand des Delirium tremens bringt sein Vater Huck beinahe um, ehe dieser die Flucht ergreift. Und in seinen Hasstiraden gegen Regierung und Gesetze - die es beispielsweise erlauben, dass Schwarze in den Nordstaaten College-Professor werden und sogar wählen können (78) - kommt ein populistisches Ressentiment zum Ausdruck, das jede ungebrochene Hoffnung darauf dementiert, dass die moralische Erneuerung der Gesellschaft etwa von dem g e sunden Volksempfinden' des common man zu erwarten sei. Das populistische Ressentiment von Hucks Vater spiegelt vielmehr in krass zugespitzter Form die kollektiven Ideologien, Vorurteile und kulturellen Klischees der Gesellschaft
5
Kurt Müller, „Wider die Macht der (Vor-)Schriften: Spielformen intertextueller Enthierarchisierung in Mark Twains Huckleberry Finn", Poetica, 28, 1-2, 1996: 18199. Müller bezieht sich zunächst auf literarische Intertextualität in Huck Finn, aber auch allgemeiner auf die Rolle von kulturellen Konventionen und Stereotypen.
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wider - es ist eine geballte Mischung eben jenes Rassismus und aggressiven Individualismus, wie er im weiteren Verlauf des Romans kritisch hinterfragt und, in der Beziehung zwischen Huck und Jim, symbolisch überwunden wird. Die Stimme des ungebildeten ,einfachen Mannes' erweist sich hier nicht als unverbildet', sondern als zutiefst deformiert. In seiner anti-intellektuellen und antisozialen Mentalität stellt Pap Finn keine tragfähige Alternative zur künstlichen Zivilisationswelt bereit; und die Hoffnung auf einen New American Adam durch die Begegnung mit der wilden, unberührten Natur wird in seiner Figur parodiert, wenn er nach seinen im Straßengraben endenden Sauftouren aussieht wie „Adam, he was just all mud." (77) Von Anfang an werden also geläufige Gegensätze wie die zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen der Ideologie der bürgerlichen Mittelklasse und der Mentalität der sozialen underclass, oder zwischen institutionalisierter , Hochkultur' und anarchischer , Populärkultur' zwar deutlich im Text markiert, aber gleichzeitig als binäre Oppositionen infragegestellt. Und die Alternative, die Huck zusammen mit Jim im Lauf des Romans entwickelt, wird gerade an den Rändern solcher Grenzziehungen und in deren temporärer Überschreitung verortet, nicht aber als einfacher oder gar fundamentalistischer Kontrastentwurf gestaltet. Sie ergibt sich aus der Reaktion auf die bedrohlich-paralysierende Übermacht eines Realitätssystems, von dem Hucks Vater nur eine weitere, alptraumhafte Ausprägung darstellt und auf das die Ansätze einer Rückgewinnung selbstbestimmten und menschengerechten Lebens, die Hucks und Jims gemeinsame Flucht mit sich bringt, stets im Hintergrund bezogen bleiben. Dies gilt auch und erst recht für Jim, der vor der Gefahr flieht, an einen Sklavenhändler in den tiefen Süden verkauft zu werden. Die Situation ist ähnlich wie in H.B. Stowes Uncle Tom's Cabin - Jim erfährt wie Tom heimlich von dem Plan, ihn für einen hohen Preis zu verkaufen und damit seine Familie auseinander zu reißen; doch anders als Tom, der sich in sein Schicksal fügt, entscheidet Jim sich für die Flucht. Als fugitive slave personifiziert er in seiner Figur für Huck von Anfang an die zentrale Paradoxie der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die zugleich die zentrale Paradoxie des Buchs ist, dass nämlich Hucks ,uramerikanischer' Drang zu Freiheit und menschlicher Selbstbestimmung ihn zum Komplizen einer Illegalität macht, in die Jim durch denselben Impuls geraten ist, während zugleich die Rückkehr in die Legalität - für beide in unterschiedlicher Weise - die Rückkehr in die Gefangenschaft bedeuten würde. In der Gegenwelt der Wildnis, in die sie auf Jackson's Island gemeinsam eintreten, bleibt also das kulturelle Realitätssystem ex negativo als wesentliches Moment präsent, das die Beziehung der beiden Flüchtigen zueinander und zu ihrer Umwelt unaufhebbar mitprägt.
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II.
Interpretationsteil
3.3 Viktorianische Todeskultur und symbolische Wiedergeburt in der Natur Gleichwohl entfaltet diese Gegenwelt, die aus den Ausgrenzungen und verdrängten Widersprüchen der Kultur hervorgeht, eine zunehmend eigene Dynamik aus der imaginativen Aufwertung jener Bereiche, die in der zivilisatorischen Ordnung unterdrückt oder ideologisch entwertet werden - Natur, Gefühle, persönliches Gewissen, Spontaneität, Phantasie. Aufgewertet wird dabei nicht zuletzt auch eine andere, prärationale Form des Wissens über die Welt, nämlich das mythisch-folkloristische Wissen über den unauflöslichen Bedingungszusammenhang von Mensch und Natur, Geist und Materie, Sprache und Realität, wie es in Hucks, vor allem aber auch Jims .abergläubischer' Haltung zum Ausdruck kommt, die zwar immer wieder ironisch überzeichnet, aber doch in ihrer magischen Weltauffassung und ihrer Nähe zu vorchristlichen „natural rites"6 ein bedeutungstragender Teil der entworfenen naturnahen Alternativwelt wird. Gegenüber abstrakten zivilisatorischen Deutungsysteme der Realität, aus denen der konkrete Mensch in seiner kreatürlichen Bedürfnishaftigkeit herausfällt, wird hier die Vielgestaltigkeit des Lebens in seinen vitalen Wechselwirkungen mit der natürlichen Umwelt, mit anderen Lebewesen, mit den eigenen Instinkten, aber auch mit dem persönlichen und kulturellen Anderen wiederhergestellt und mit den Mitteln des oral story-telling, zu dem auch Jims Rede immer wieder beiträgt, sprachlich zur Geltung gebracht. Es ist in diesem Zusammenhang in der Kritik mit durchaus plausiblen Argumenten behauptet worden, dass Hucks Erzählstil seinerseits vieles gemeinsam hat mit afro-amerikanischen mündlichen Erzähltraditionen, ja sich möglicherweise in wichtigen Punkten sogar von diesen herleitet. Wenn auch Shelley Fisher Fishkins Behauptung überspitzt erscheint, die Stimme Huck Finns sei „in large measure a voice that is ,black'", 7 so ist doch das Ineinanderwirken der verschiedenen Erzählformen unbestritten und, gerade in einer Zeit des sich verschärfenden Rassismus der Reconstruction Period, in der der Roman entstand, bemerkenswert. Es wird also im Großentwurf des Romans handlungsmäßig, thematisch und sprachlich zusammengeführt und zur spannungsreichen Interaktion gebracht, was in der offiziellen Kultur voneinander abgespalten und in scharf demarkierte und hierarchisch gegliederte Bereiche getrennt ist. Und dies betrifft nicht nur die zentrale Spaltung der amerikanischen Gesellschaft der Zeit, nämlich die zwischen schwarzer und weißer Kultur, sondern damit zusammenhängend auch die 6
7
Michael Egan, „The Religion of Violence", in Mark Twain 's Huckleberry Finn: Race, Class and Society, ed. Michael Eden, London: Chatto and Windus, 1977: 103-34. Shelley Fisher Fishkin, Was Huck Black? Mark Twain and African American Voices. New York: Oxford UP, 1993: 1; sowie „Break Dancing in the Drawing Room: Mark Twain and African-American Voices", in Literary Influence and African-American Writers. Collected Essays, ed. Tracy Mishkin, New York und London: Garland, 1996: 65-96, 66.
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Spaltung von Geist und Körper, Moral und Wirklichkeit, Kultur und Natur, die im Roman einerseits in satirischer Schärfe herausgestellt, andererseits symbolisch rückgängig gemacht wird. Und gerade dieses sowohl ideologiekritischdekonstruktive wie holistisch-regenerative Zusammenbringen des kulturell Getrennten ist ja eine der Hauptfunktionen der Literatur als kultureller Ökologie. Das erneuerte Verhältnis des Menschen zur Natur spielt in diesem kulturökologischen Gegen- und Metadiskurs des Romans eine fundamentale Rolle. Natur kommt in Huck Finn schon von Anfang an vor, allerdings zunächst nur als Hintergrund und therapeutischer Fluchtraum vor dem Gefühl der Lähmung, der Gefangenschaft und Einsamkeit, die Huck in der Zivilisationswelt befällt: „I feit so lonesome I most wished I was dead." (51) Diesem Zustand eines ,Tod-imLeben' entflieht er sporadisch des Nachts, wenn er die Stimmen der Natur hört und mit Tom und anderen fiktive Abenteuer besteht, die in ihrer Nachahmung von Büchern auf ihn allerdings wie aus einem „Sunday-School picnic" wirken und nicht der konkreten Naturwahrnehmung und Empfänglichkeit für deren vielfältige Eindrücke entsprechen, zu der Huck fähig ist: „the stars over us was sparkling ever so fine; and down by the village was the river, a whole mile broad, and awful still and grand." (55) Erst nach seiner Flucht vor dem Vater auf Jackson's Island, wo er den ebenfalls entlaufenen Jim trifft, rückt die Natur als eine mit Leben und Überleben assoziierte und mit der Energie des Imaginären aufgeladene Gegenwelt in den Vordergrund, während die Gesellschaft als eine mit Tod assoziierte Welt des Gegebenen in den Hintergrund rückt, der freilich als stete Gefahrenzone präsent bleibt. Der Eintritt in eine andere Dimension wird motivisch unterstrichen durch die Bildlichkeit von Tod und Wiedergeburt, die diese Flucht begleitet. Huck täuscht seine Ermordung vor, um dem Terror des Vaters zu entfliehen, und wird von Jim prompt zuerst als ,Geist' wahrgenommen, der allerdings rasch wieder zum Leben zurückkehrt; während Jim, wie sich herausstellt, dieses fiktiven Mordes verdächtigt wird und gerade noch der Lynchjustiz der Weißen entkommen ist. Wieder wird die Paradoxie von Twain aufs äußerste zugespitzt: Der ,wiederauferstandene' Huck und sein vermeintlicher Mörder bilden in der Gegenwelt der Natur eine Freundschaft aus, die entgegen den destruktiven Projektionsmechanismen der Gesellschaft erst eine eigentlich zwischenmenschliche Wertsphäre aufbaut. 3.4 Huck, Jim und der Mississippi: Überwindung kultureller Trennungen aus der Evidenz geteilter Erfahrungsprozesse Gegenüber der skeptischen Distanz, die Twains Haltung zur sozialen Realität kennzeichnet, wird hier, wie Boughn gezeigt hat, ein immer affirmativerer Ton, ja eine zunehmend „intime" Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt erkennbar. Abstrakte Lebensverneinung wandelt sich zu einer lebensbejahenden Sicht, denn „what's at stake is what we call the world, literally its life or death. Mark Twain in The Adventures of Huckleberry Finn, evokes just such a
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Interpretationsteil
stake in the world, linking it to an examination of freedom, as if the life of the world, and this includes the life of something called America, depended on a certain practice of freedom, and as if both those things were dependent on an experience of intimacy that can only be described as knowing." 8 Dieses aus Intimität gewonnene Wissen ist zunächst eine ganz konkrete Fähigkeit zum Überleben in und mit der Natur, das sich in der genauen Kenntnis des Flusses, der Beherrschung der Tätigkeiten des Jagens und Fischens, der Respektierung der elementaren Lebensvorgänge niederschlägt, auf die die beiden zurückgeworfen sind. Diese fast archaische Welt bietet Schutz, ist ein Ort der Freiheit und unbegrenzten Weite, ist aber gleichzeitig ein Versteck und ein geheimzuhaltender Asylraum, der stets von der Unfreiheit und Enge der Zivilisation bedroht wird und in dem das Überleben des Menschen gegenüber den Zumutungen der Gesellschaft ganz unmittelbar von seiner Anpassungsfähigkeit an die Natur abhängt, womit der Roman „often reads precisely like a survivor's manual". 9 Geht dabei die Initiative zum Handeln oft eher von Huck aus, so zeigt doch Jim eine spezifische Fähigkeit, „to read the signs of nature", „a shamanistic power to interpret things",10 womit er umgekehrt zu einem Mentor Hucks wird. Als das Versteck von den Verfolgern Jims entdeckt zu werden droht, erfolgt wiederum im letzten Moment die Flucht der beiden auf das Floß, das von nun an zum Symbol der Freiheit ihres Lebens am und mit dem Fluss wird. Gerade im dauernden Kontrast mit der gefahrvollen, brutalen, durch artifizielle Sinnkonstrukte beherrschten und für die beiden Außenseiter nur durch ständiges Versteck- und Maskenspiel zugänglichen Welt der Gesellschaft werden Floß und Fluss als semiotische Gegenwelt markiert, in der das Fluide, Amorphe und Chaotische gegenüber den rigiden, sich selbst repetierenden Ordnungsmustern der „sivilisation" dominiert, also das „Dionysische" als ständiges Werden dem „Apollinischen" als erstarrter Form künstlich fixierten Seins gegenübersteht. '1 Der Fluss sowohl als Ort konkreter Erfahrungen wie als symbolischer Bedeutungsraum entspricht hierin dem Prinzip des narrativen Prozesses selbst, der ja ebenfalls von dem rigide Ordnungsmuster und artifizielle Sprachnormen aufbrechenden ,Fluss' der spontanen Assoziationen Hucks getragen ist. Dieser Kontrast wird besonders deutlich in der Grangerford-Episode, als Huck, nachdem das Floß von einem Dampfschiff gerammt und er von Jim getrennt wurde, beim Clan der Grangerfords aufgenommen wird, die sich in einer tödlichen Dauerfehde mit den Sheperdsons befinden. Die spontane, erfahrungsoffene Erzählhaltung Hucks trifft hier auf eine geschlossene, in konditionierten
8
Boughn, 1996: 32. Daniel G. Hoffman, in Mark Twain. A Collection of Critical Essays, ed. Henry Nash Smith, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice, 1963: 20. ,0 Hoffman, 1963: 3. " Vgl. dazu etwa George C. Carrington, Jr., The Dramatic Unity of Huckleberry Finn, Columbus: Ohio State UP, 1976: 34. 9
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Sprach-, Denk- und Verhaltensmustern festgefahrene Welt, in der das konkrete Leben der Menschen an den undurchschauten Widersprüchen ihrer fremdbestimmten Ideale zugrunde geht - ein Mikrokosmos, der in satirisch-parodistischer Übersteigerung charakteristische Widersprüche der Südstaatengesellschaft selbst widerspiegelt. Als Huck nachts dort Zuflucht suchen will, wird er wie in einer Festung von Bewaffneten kontrolliert, ehe er eingelassen wird; obwohl jeder der aristokratischen Familienmitglieder einen persönlichen Leibsklaven hat, sind die Wände mit Insignien der amerikanischen Demokratie, u.a. dem „Signing of the Declaration", behängt; und während alle beim Gottesdienst in der Kirche von der Predigt über „brotherly love" (169) beeindruckt sind, führt kurz darauf die verbotene Liebe einer Grangerford-Tochter zu einem Sheperdson zu einem blutigen Gemetzel, in dessen Verlauf auch der mit Huck gleichaltrige Buck, den er eben erst als Freund gewann, auf grausame Weise zu Tode kommt. Der aus Ritter- und Romanzentraditionen ererbte Mechanismus der feud, deren Herkunft niemand der Beteiligten mehr kennt, verselbständigt sich zum makabren Totentanz, in dem die Menschen als Marionetten falscher Ehrbegriffe eine Katastrophe anrichten, die für Huck eine schockartige, traumatisierende Erfahrung bedeutet: „I ain't going to tell all that happened - it would make me sick again if I was to do that. I wished I hadn't ever come to shore that night, to see such things. I ain't ever going to get shut of them - lots of times I dream about them." (175) Der Alptraum dieser Erfahrung einer ,Zivilisationswelt', die sich ein weiteres Mal als zutiefst lebensfeindlich erweist, ja aus der der natürliche Instinkt des Überlebens als Wert zugunsten anderer Werte ausgelöscht scheint, bleibt also unterschwellig präsent, wenn Huck anschließend sich mit Jim zusammen auf dem Floß wiederfindet und dieses als ihre eigentliche Heimat, als einen Ort der Freiheit und Zugehörigkeit empfindet: „We said there warn't no home like a raft, after all. Other places do seem so cramped up and smothery, but a raft don't. You feel mighty free and easy and comfortable on a raft." (176) Der Wert des Lebens und Überlebens jenseits fremdbestimmender Zwecke rückt hier selbst als wichtiger Aspekt des Romans in den Blick, der wiederum sowohl die erzählte Welt wie die Form ihrer Erzählung betrifft, die die Abstraktionen und Ideologeme der Kultur auf konkrete Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse und deren narrative Vermittlung zurückholt. Die vitale Freiheitsdimension, die der in Floß und Fluss konnotierte Gegendiskurs des Romans in der Stimme Hucks, die immer wieder dialogisch mit derjenigen Jims verwoben ist, entfaltet, hängt zutiefst von dieser Bereitschaft zur Erfahrungsoffenheit, zum Sich-Einlassen auf das Andere und zum ,Eintauchen' in einen größeren Sinnzusammenhang des Lebens ab, wie er unmittelbar im Anschluss an die traumatische Grangerford-Episode in der Beschreibung des gemeinsam erlebten Sonnenaufgangs am Fluss zur eindrucksvollen Epiphanie kommt.
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IL
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Two or three days and nights went by; I reckon I might say they swum by, they slid along so quiet and smooth and lovely ... we slid off into the river and had a swim, so as to freshen up and cool off; then we set down on the sandy bottom where the water was just about knee deep, and watched the daylight come. Not a sound anywheres - perfectly still - just like the whole world was asleep, only sometimes the bull-frogs a-cluttering, maybe. The first thing to see, looking way over the water, was a kind of dull line that was the woods on t'other side - you could't make nothing else out; then a pale place in the sky; then more paleness spreading around; then the river softened up away off, and warn't black any more, but gray; you could see little dark spots drifting along, ever so far away - trading scows, and such things; and long black streaks - rafts; sometimes you could hear a sweep screaking; or jumbled up voices, it was so still, and sounds come so far; ... and you see the mist curl up off the water, and the east reddens up, and the river, ... then the nice breeze springs up, and comes fanning you from over there, so cool and fresh, and sweet to smell, on account of the wood and flowers; but sometimes not that way, because they have left dead fish laying around, gars, and such, and they do get pretty rank; and next you've got the full day, and everything smiling in the sun, and the song-birds just going it! (177-8)
Zunächst ist interessant, wie die Zeiterfahrung sich hier gegenüber dem fieberhaft übersteigerten Tempo des verselbständigten Geschehens in der Grangerford-Episode verändert und selbst den Charakter des Fließens, des Eintauchens in den Strom eines überindividuellen Naturgeschehens annimmt, von dem die beiden getragen sind und der mit ihrem tieferen Selbst auf sinnstiftende Weise korrespondiert. Das Bad im Fluss und die Wahrnehmung des anbrechenden Tags vom Wasser aus, in dem sie sitzen, d.h. von dem Symbol des elementaren Lebensstroms aus, führt diese Bildlichkeit auf der Handlungsebene fort und lässt in der Wahrnehmung der beiden Freunde gleichsam die Welt neu entstehen. „... Huck figures the world as waking up, coming to life as if reanimated." 12 Es handelt sich um eine Szene symbolischer Wiedergeburt der Protagonisten wie auch der Welt selbst im Akt der ganzheitlichen, alle Sinne öffnenden Umweltwahrnehmung. Diese Erneuerung von Selbst, Welt und Sprache durch die Konkretheit der Sinneswahrnehmungen - das Spüren, Riechen, Hören und Sehen der je verschiedenen und doch einen Zusammenhang bildenden Umwelteindrücke - wird hier deutlich als Kontrast zur Abstraktheit kultureller Ideologien und zu deren künstlichen Trennlinien gestaltet. Sie ist zugleich in dem sozusagen endlosen, parataktisch fließenden Rhythmus der Sprache syntaktisch umgesetzt und dem enthierarchisierten Erlebnisstrom der beiden Figuren anverwandelt. Dieser ist aber inhaltlich gerade nicht wieder in umgekehrterWeise ,exklusiv', d.h. auf die Reinheit einer pastoralen Idylle zurückgenommen; er umfasst vielmehr in seiner unvoreingenommen ,inklusiven' Wahrnehmung auch die zivilisatorischen Erscheinungsformen des Lebens einschließlich seiner negativen Aspekte - etwa die Handelsboote, oder den Gestank der faulenden Fische als Zeichen sinnloser Naturvergeudung. Wenn Boughn also diese Spuren der Zivilisation aus dem Zitat ausblendet, um seine These einer „purity of the living world's relation to
12
Boughn, 1996; 32
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3. Twain, Huckleberry Finn
the white boy and the black man"13 zu belegen, so bedeutet dies eine falsche Verkürzung und Vereinseitigung der Textaussage. Denn es geht hier gerade darum, nicht nur eine utopische pastorale Gegenwelt zu konstruieren, sondern einen holistisch-offenen, die konkrete sinnliche Vielgestaltigkeit der Welt in sich aufnehmenden Diskurs hervorzubringen, der in seinem Impuls imaginativer Lebensaffirmation auch die negativen Folgen zivilisatorischer Naturverachtung einbeziehen muss, um diese symbolisch überschreiten zu können. 3.5 Performative Ästhetik: Huck als Trickster-Figur, story-telling Überlebenskunst
als
Dieser Impuls wirkt auch in die nachfolgenden Teile fort, in denen mit dem Auftauchen der Betrüger King und Duke die Zivilisation und ihre Widersprüche wieder stärker in den Vordergrund rücken. Der affirmative Bezug zum Leben ergibt sich dabei, über die Rückbindung an zyklische Naturprozesse hinaus, aus einem Überlebenswillen und einer Überlebenskunst innerhalb der Gesellschaft, die sich in der Fähigkeit zu improvisatorischer Situationsanpassung, im spontan wechselnden Rollenspiel und vor allem in der Erfindung immer neuer Geschichten zeigt, durch die drohende Gefahren abgewendet und neue Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden. In dieser Kunst der Verkleidung und des ständig neuen Geschichtenerfindens erscheint Huck als eine Art Trickster-Figur, die in beträchtlichem Maß das Selbst und die Welt miterschafft, über die sie berichtet. Darin ähnelt er bis zu einem gewissen Grad dem Betrügerpaar King und Duke, die als con-men ja ebenfalls in stets neuen Masken auftreten, Illusionen erzeugen, andere zu ihrem Nachteil zum Narren halten. Melville hatte im gleichnamigen Roman diesen Typus des Confidence-Mart, der unter Vortäuschung ernsthafter Absichten andere für eigene materielle Interessen ausnützt, als neu entstehenden Charaktertyp innerhalb eines sich nach ökonomischen Strukturen ausrichtenden Psychogramms der Zeit erstmals zentral thematisiert.14 Der Unterschied zwischen Melvilles confidence-man bzw. dem Betrügerpaar King und Duke einerseits und Huck andererseits ist freilich, dass sie dies quasi professionell und in der Absicht der Ausbeutung anderer tun, während Hucks Maskenspiel und narrative Improvisationskunst der Abwehr einer realen Bedrohung seiner - und vor allem Jims - Freiheit dient. Die „performative Ästhetik"15 Twains, und der performative Begriff von Realität und Selbst, der sich in Hucks Trickster-Rolle ausdrückt, ist also hier nicht, wie es vielleicht scheinen möchte, ein Gegensatz zu dem ökologischen Realitätsbegriff des Sich-Einfügens in einen größeren Lebenskreislauf, der in der oben zitierten Stelle impliziert war. Vielmehr ist er gewissermaßen dessen andere,
13 14 15
Boughn, 1996: 32. Herman Melville, The Confidence-Man: Fluck, 1997: 307.
His Masquerade,
1857.
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aktive Seite, nämlich Ausdruck eines Lebens- und Überlebensantriebs, der sich vital in jener vorgängigen ,Intimität' von Mensch und Umwelt äußert und in dem sich das Fluide, Offene und Vielgestaltige der Realität, wie es in der Epiphanie am Fluss zur Erscheinung kommt, in die charakteristische Form der Selbstbehauptung Hucks gegenüber den fixierten Welt- und Selbstbildern der Gesellschaft umsetzt. Realität im ökologischen Sinn erscheint nicht als objektiv Gegebenes, das authentisch den Fiktionen des Bewusstseins und der Gesellschaft entgegengesetzt werden könnte; sie erscheint hingegen als Feld einer Vielfalt individueller Lebensenergien, die in ständiger Selbstbehauptung und Interaktion sich befinden und gerade nicht, wie es das viktorianische System will, auf eindeutige, gleichbleibende Realitäts- und Identitätsmuster festlegbar sind. In der episodischen, teilweise sprunghaften und von überraschenden Wendungen und Neuinterpretationen des Geschehens gekennzeichneten Erzählweise des Romans lässt Twain, statt einem durchgehaltenen Plan oder System zu folgen, der narrativen Phantasie in der Fülle seiner Einfälle teilweise freien Lauf, was einerseits zu notorischen Vorwürfen der Unstimmigkeit geführt hat, andererseits aber gerade zur Leseintensität und zum Lesevergnügen wesentlich beitragen dürfte. Die „Epistemologie der Spontaneität", die die unberechenbare, aus thematischen, gattungsmäßigen und strukturellen Konsistenzerwartungen ausbrechende Kompositionsweise des Romans kennzeichnet,16 entspricht dem Versuch, die ,Lebendigkeit' der Stimme Hucks auch auf der Ebene der etablierten literarischen Diskursmuster zur Geltung zu bringen. Sie setzt eine Lust des Erzählers - und des Lesers - am narrativen Spiel mit der Wirklichkeit um, in dem alle scheinbar gültigen, festen Weltbilder aufgelöst und in einen Prozess ständiger Konstruktion und Dekonstruktion einbezogen werden, in dem es keine letzte, objektivierbare Realitätsebene mehr gibt. Dieser Prozess ist, wie Fluck richtig feststellt, illusionszerstörend, insofern er scheinbar gesicherte kulturtragende Vorstellungen über die Welt - vor allem die einer göttlich sanktionierten Ordnung der Gesellschaft und der Hierarchie der Menschen - als kollektive Fiktionen durchschaubar macht; er ist aber auf der anderen Seite gleichzeitig auch selbst immer wieder illusionsbildend, insofern die narrative Erfindung möglicher Welten gerade einen kreativen Gegenimpuls zur Erstarrung des Denkens und zur falschen ,Reifizierung' kultureller Abstraktionen darstellt. Der Zusammenhang zwischen dem ökologischen und dem performativen Realitätsbegriff, die im Buch einander abwechseln, aber auch einander bedingen, wird auch deutlich in der Szene der zentralen Gewissenskrise Hucks, der psychodramatischen Höhepunktsszene des Romans. Nachdem Jim von den beiden Betrügern gegen Lösegeld als runaway slave verraten und auf der PhelpsFarm gefangengesetzt wurde, steigert Huck sich, in der Erinnerung an die moralischen Drohpredigten der Sunday School, in eine Selbstanklage hinein, die ihm
16
Huck, 1997: 295
3. Twain, Huckleberry Finn
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aufgrund seiner mit dem Bannstrahl der Religion belegten Hilfe für einen entlaufenen Sklaven sein innerstes Ich als verworfen erscheinen lässt. „It was because my heart wam't right" (282), stellt er verzweifelt fest, und sucht sich aus dem krisenhaften Anfall von Schuldbewusstsein und Höllenangst durch einen Brief zu befreien, den er an Miss Watson schreibt, um ihr den Aufenthaltsort Jims zu verraten. Die Kategorien von Himmel und Hölle, gut und böse, wahr und falsch werden hier auf den Kopf gestellt, indem das Sklavensystem als moralische Norm, die Hilfe für den fugitive slave dagegen als „biggest [sin] of all" (282) erscheint, durch die Huck sich aus der Gemeinschaft der Guten verstoßen und zum Bösen verdammt fühlt. Doch der Terror von Hucks Über-Ich erweist sich als schwächer als sein spontanes Selbst, das sich freilich nur mit Mühe und unter Übernahme der andressierten Denkmuster aus dem sozialen Konformitätsdruck lösen kann: Er beschließt, den Brief an Miss Watson zu zerreißen und dafür die schlimmste aller Strafen auf sich zu nehmen: „,A11 right, then, I'll go to hell'" (283). Die Verkehrung der Kategorien ist hier ins Extrem getrieben: Hucks spontanes, auf konkret-menschliche Wahrnehmung der Realität und des Andern aufgebautes Selbst, das zugleich die entscheidende narrativ-explorative Energie des Romans darstellt, wird aus der von ihm verinnerlichten Systemperspektive als ,böse' entwertet, während es hingegen in der Sicht des Lesers zur zentralen wertund erkenntnisbildenden Instanz aufgewertet wird. Damit wird der Konflikt zwischen abstrakter kultureller Systemperspektive und konkretem Selbst- und Welterleben, wie es sich in Hucks Perspektive äußert, in den narrativen Prozess selbst hereingeholt. Die Sympathien des Lesers werden gegen den Geltungsanspruch des kulturellen Systems mobilisiert und auf die Seite des vermeintlich .Bosen' gezogen, das seit Beginn des Romans die Antriebskraft von Hucks Verhalten war und das sich nach seiner Entscheidung für seine naturgegebene „Verworfenheit" sofort in dem Entschluss äußert, eine weitere „Todsünde" zu begehen und Jim aus der Gefangenschaft bei den Phelps zu befreien. Aufschlussreich ist in unserem Zusammenhang vor allem das Motiv, das Huck zu seiner Entscheidung gegen den durchaus machtvollen Drang der Versöhnung mit dem moralischen Über-Ich der Gesellschaft bringt: Es sind die Erinnerungen an die Erlebnisse mit Jim, an seine Hilfsbereitschaft, an die starke gegenseitige Gefühlsbindung, alles eingebunden in die Erinnerung an die gemeinsame Flussreise: „And got to thinking over our trip down the river; and I see Jim before me, all the time, in the day, and in the night-time, sometimes moonlight, sometimes storms, and we floating along, talking, and singing, and laughing." (283) Mit anderen Worten, es ist genau die in den Naturkreislauf eingebettete, enthierarchisierte, dionysisch-lebensbejahende Existenzform, wie sie in der Epiphanie ganzheitlichen Lebens zu Beginn von Kapitel 19 entworfen wurde, die sich als Quelle von Hucks Widerstandskraft und subversiv-zwischenmenschlichem Verhaltensethos erweist. Dialog, Lebenslust, Humor sind die Merkmale dieser ursprünglichen Lebensform, die zugleich die Merkmale des Romans sind. In dem
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„floating along" wird hier noch einmal das Fluide, Offene, die ständige Bewegung selbst als eigentliches' Prinzip des Realen benannt, das der Erstarrung des Lebens in den verselbständigten Fiktionsweiten am Ufer entgegengerichtet ist und aus dem der Roman seine narrative Energie bezieht. Nun ist wahr, dass in der Phelps-Episode im Schlussteil des Romans, in der Huck zusammen mit dem wie ein Deus ex machina wiederaufgetauchten Tom Sawyer in abenteuerlich konstruierten Handlungsverwicklungen die Befreiung Jims aus seiner Gefangenschaft anstrebt, sich die performative, improvisatorische Seite des Erzählens zu verselbständigen droht. Daraus wurde dem Roman der Vorwurf gemacht, die zuvor in der Kritik des Sklavereisystems und in der Freundschaft zwischen Huck und Jim gewonnene moralisch-kulturkritische Dimension durch den Rückfall ins rein unterhaltende Abenteuergenre wieder zu verspielen. Die Befreiungsaktion gerät zur Farce, die nach von Tom Sawyer aufgestellten, aus der Romanzenliteratur abgeleiteten Regeln ausgeführt und zum burlesken Selbstzweck wird, zumal sich nachträglich herausstellt, dass Tom bereits weiß, dass Jim von Miss Watson vor ihrem Tod freigelassen wurde. Es liegt hier sicherlich ein Bruch vor, der dem Schlussteil einen anderen Charakter verleiht als etwa dem vorausgehenden Teil, in dem Huck seine schwere Gewissenskrise erlebt. Doch scheint mir der Bruch nicht so fundamental zu sein, wie oft behauptet. Denn zum einen besteht auch zuvor schon ein deutlicher Kontrast zwischen den Szenen am Mississippi einerseits und denen am Land andererseits, in welchen verschiedene soziale Mikrokosmen in oft satirischer und durchaus auch farcenhafter Weise präsentiert werden, um so die Konformitätszwänge und Illusionswelten der Gesellschaft in grotesker Zuspitzung und karnevalesker Verkehrung aufzubrechen - etwa in der Sherburn-Episode über Lynchmob und Selbstjustiz, den Shakespeare-Travestien von King und Duke, oder in ihrem Auftreten als Erbschleicher in der Wilks-Episode. Zum anderen ist der Unterschied zwischen Huck und Tom in ihrer Rolle und der Art, wie sie die Phelps-Episode erleben, beträchtlich. Tom inszeniert die Befreiung Jims im Wissen um dessen bereits gewonnene Freiheit als reines, aus Bücherwissen abgeleitetes Unterhaltungsspiel, das durchaus auch kritisch eingefärbt ist, weil es eine Rückkehr in jene Welt der „Vor-Schriften" (Müller) bedeutet, die schon zu Beginn des Romans dominierte, und weil die elaborierten Strategien, die angeblich die Befreiung Jims bringen sollen, für Huck - und den Leser - durchaus unangemessen, ja teilweise grausam wirken. „Der Leser, der z.B. Tom Sawyer im ersten Teil noch für einen harmlos-sympathischen Lausbuben gehalten hat, wird nun eher angewidert die ritualistische Zwanghaftigkeit registrieren, mit der er auf Kosten anderer seine Abenteuerphantasien zu befriedigen sucht."17 Hingegen bleibt die
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Müller, 1996: 195.
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3. Twain, Huckleberry Firm
Befreiung Jims für Huck das entscheidende Anliegen des Unternehmens, auch wenn er sich widerstrebend den Plänen des von ihm bewunderten Tom anpasst. Der wesentliche Unterschied in der Haltung der beiden wird von Tom selbst auf den Punkt gebracht: „Huck, you don't ever seem to want to do anything that's regular; you want to be starting something fresh all the time." (312) „Regular" ist, was autoritativ durch die von Tom nachgeahmte Schriftkultur vorgegeben wird und was letztlich mit den grand, narratives, dem allgemeineren, das System der Sklaverei einschließenden Normensystem der Gesellschaft zusammenhängt; „to be starting something fresh" hingegen entspricht der spontanerfahrungsoffenen Haltung und Erzählerstimme Hucks, die mit einer besonderen Sensibilität für das einhergeht, was in jenem System ausgegrenzt oder deformiert wird und die nicht nur der außermenschlichen Natur, sondern auch der kommunikativen Beziehung zum Anderen ein größeres Gewicht gibt als der regelkonformen Beziehung zu textuellen Autoritäten. Genau in dieser Haltung und Erzählerstimme, die sich trotz ihrer sprach- und tonbestimmenden Rolle immer wieder mit anderen Stimmen, vor allem der von Jim, aber auch zahlloser anderer Figuren zu einer Vielstimmigkeit menschlicher Selbstartikulation erweitert, liegt die Kraft der Revision und Revitalisierung etablierter Welt- und Selbstbilder, aus der dem Roman seine sprach- und kulturerneuernde Funktion erwächst. 3.6 Jenseits des Individualismus:
Individuality-in-context
Wenn man Huckleberry Finn in der hier vorgeschlagenen, kulturökologischen Weise interpretiert, ist auch die Frage des dem Roman und der Figur Hucks immer wieder zugeschriebenen „Individualismus" modifizierter zu beantworten. Zwar ist Hucks Individualität zweifellos eine wichtige Triebkraft der erzählerischen Energie und kulturkritischen Aussage des Romans. Doch ist dies, wie auch schon bei den anderen in diesem Buch besprochenen Texten gesehen, eben nicht eine isolierte, rein selbstbezogene und sich selbst hervorbringende Individualität im Sinn des amerikanischen self-made man, sondern stets eine in größeren Zusammenhängen definierte und durch diese mitbedingte individuality-incontext. Nach Myra Jehlen ist Huck Finn 's Rolle als amerikanischer Klassiker darin begründet, dass der Roman den Kernwiderspruch der amerikanischen Kultur, nämlich den zwischen Individualismus und moralischer Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft zum eigentlichen Thema habe, denn: „Classics typically mediate a culture's founding contradictions." 18 Für Jehlen vermittelt der Roman diesen Widerspruch in einer Weise, dass er ihn als unaufgelöste Disso-
18
Myra Jehlen, „Banned in Concord: Adventures of Huck Finn and Classic American Literature," in The Cambridge Companion to Mark Twain, ed. F.G. Robinson, Cambridge: Cambridge UP, 1995: 93-115, 113.
128
II.
Interpretationsteil
nanz bis zum Schiuse bestehen lässt, als Huck erneut vor den Verstrickungen der Zivilisation in die Freiheit der „territories" flieht. Diese Beobachtung ist zwar auf einer Ebene plausibel, greift aber zu kurz. Denn die kulturökologische Konzeption des Romans bringt es mit sich, dass das Ideologem eines vermeintlich autonomen Individualismus selbst radikal unterlaufen und reinterpretiert wird. Die Art von Individualität, die sich in Hucks Erfahrungsprozess herausbildet, ist gerade keine bloß individualistische, sondern von Grund auf durch ihre sowohl konfliktorische wie kooperative Wechselbeziehung mit Anderen bestimmt. Sie ist im mehrfachen Sinn eine individuality-in-contexf. im Kontext der physischen Umweltbedingungen, d.h. all der Erscheinungsformen der konkreten Biosphäre, in der sich menschliches Leben immer schon vollzieht und die im Roman durch das zur Wildnis wie zur Zivilisation offene Ökosystem des Flusses metonymisch repräsentiert ist; im Kontext der instinkthaften Antriebskräfte, der Emotionen und persönlichen Bindungen, die sich erst in dieser lebensaffirmierenden Erfahrungsoffenheit entgegen ihren zivilisatorischen Negationsformen ausprägen können; aber auch im Kontext der sozialen Bedingtheiten, der Ideologien, der Sprache, die unaufhebbar auch in der vermeintlichen pastoralen Gegenwelt präsent bleiben. All diese Kontexte tragen in ihrem widersprüchlichen Aufeinander- und Gegeneinanderwirken innerhalb der Gesamtpersönlichkeit Hucks erst zu dessen unverwechselbarer' Individualität bei und geben seiner außergewöhnlichen Wahmehmungs-, Beobachtungs-, und Artikulationsfähigkeit Entfaltungsraum. Individualität in diesem Sinn ist kein Gegensatz zu kommunikativer Moral, sondern erst deren Voraussetzung. Die binäre Entgegensetzung von Individualismus und gesellschaftlicher Verantwortung wird im Roman selbst als tiefgreifendes Missverständnis gezeigt, denn beides, Ausbildung der individuellen Eigenart und zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit, gehören in Hucks Entwicklung zusammen. Seine spezifische Autonomie hat zugleich eine „essential communal dimension", 19 die zum einen auf der Ebene des story-telling verortet werden kann, an dessen gemeinschaftsbildendem, kulturelle Grenzen überschreitenden Spiel interpretativer Selbstermächtigung Huck teilhat, die sich aber auch, wie gesehen, aus der symbolischen Wiederherstellung der lebendigen Wechselbeziehung des Menschen mit der äußeren und inneren Natur und mit anderen Individuen ergibt, die der Roman inszeniert. Der Mangel an Verantwortung liegt hier nicht beim einzelnen, sondern bei einer Gesellschaftsordnung, die kein menschenwürdiges Verhältnis zu ihren einzelnen Mitgliedern und zur natürlichen Umwelt herzustellen vermag, denen gegenüber ihre Verantwortung bestünde. Huckleberry Finn erscheint von hier aus als Text, der diesen Mangel sowohl deutlich macht als auch die kulturellen Voraussetzungen, die ihn bedin-
" Henry B. Wonham, „The Disembodied Yamspinner and the Reader of Adventures of Huckleberry Finn." American Literary Realism, 24, 1, 1991: 2-22, 4.
3. Twain, Huckleberry
Finn
129
gen, in einem Prozess kritischer Bilanzierung und kulturökologischer Erneuerung imaginativ übersteigt.20
20
Hierin liegt eine gewisse Ähnlichkeit zum Konzept der Individualität bei H.D. Thoreau, mit dem Huck Finn in Bezug auf die Idee der civil disobedience verglichen wurde: Frederik L. Rusch, „Res Privata versus Res Publica: Huck Finn As Unconscious Henry Thoreau", Journal of Evolutionary Psychology, 9, 1 - 2 , 1988: 154-63. Auch bei Thoreau liegt die Stimme des persönlichen Gewissens, die die „higher laws" einer übergesellschaftlichen Moral artikuliert, in einer Individualität begründet, die sich dieser „higher laws" im konkreten Erleben, Beobachten und Reflektieren der Natur gewärtig wird. Bei Twain allerdings ist diese Individualität einerseits weniger bewusst und intellektuell, andererseits ist sie stärker als bei Thoreau eine dialogische, auf die Beziehungen zu konkreten Anderen hin angelegte Individualität - auch wenn diese Beziehungen durchaus oft problematisch sind.
4. Kate Chopin, The Awakening: Dionysische Kunst als Vermittlungsmedium zwischen kulturellem Rollensystem und elementarem Lebensprinzip
Kate Chopins The Awakening ist, anders als Huck Finn, ein Roman, der nach seinem Erscheinen lange Zeit in Vergessenheit geriet, weil er in verschiedener Hinsicht nicht dem Erwartungshorizont seiner Epoche entsprach, aber auch weil über den größeren Teil des 20. Jahrhunderts eine Sicht der Literatur dominierte, die die Artikulation einer spezifisch weiblichen Erfahrungsperspektive und einer im Rahmen der amerikanischen Literatur ganz eigenständigen Kunstauffassung bei dieser Autorin nicht angemessen wahrzunehmen und anzuerkennen erlaubte. Wie andere Romane von Autorinnen - etwa Elizabeth Stoddards The Morgesons oder Zora Neale Hurstons Their Eyes Were Watching God - wurde auch The Awakening erst in den letzten Jahrzehnten im Zug der Herausbildung einer gender-orientierten Literaturwissenschaft wiederentdeckt, gehört aber inzwischen zu den meistbesprochenen Texten der amerikanischen Literatur überhaupt, und es ist mittlerweile in der Kritik unbestritten, dass Chopins Roman zu den künstlerisch wichtigsten und interessantesten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerechnet werden muss. Die Auffassungen darüber, wie der Roman in Stil und Aussage einzuordnen und zu verstehen sei, gehen indessen weit auseinander. Eine Richtung der Kritik sieht ihn als Dokument der Rebellion der New Woman des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegen die Geschlechterkonventionen der viktorianischen Gesellschaft, eine andere hebt gerade die Rücknahme der Rebellion durch die Flucht in den Tod hervor, durch die das emanzipatorische Potential des Textes wieder verspielt werde.1 Auf der einen Seite wird aus feministischer Sicht das Abdriften der Protagonistin in eine quasi-mystische Form der Sinnsuche durch Selbstaufgabe als pathologischer Irrweg betrachtet, der auch von der Erzählerstimme kritisch relativiert werde. Auf der anderen Seite wird in poststrukturalistischer Lesart gerade dieser Schritt von der sozialen Rollenbegrenzung zur ekstatischen Selbstentgrenzung des weiblichen Ichs als das eigentliche Anliegen und thema-
' Vgl. z.B. Emily Toth, „Kate Chopin's The Awakening As Feminist Criticism", Southern Studies, 2, 1991: 41; Patricias. Yeager, „,A Language Which Nobody Understood': Emancipatory Strategies in The Awakening", in The Awakening. Contexts for Criticism, ed. Donald Keesey, Mountain View, CA: Mayfield, 1994: 402-18; Dorothy H. Jacobs, „The Awakening: A Recognition of Confinement", in Kate Chopin Reconsidered: Beyond the Bayou, Lynda S. Boren et al. (eds.), Baton Rouge: Louisiana State UP, 1992: 80-94.
132
II.
Interpretationsteil
tisch-ästhetische Innovationspotential des Romans gesehen, in dessen Subtext sich die gegendiskursive Macht eines female imaginary ausspiele.2 Auch die Zuordnung des Romans zu literarischen Stilmodellen fällt unterschiedlich aus. Er kann gesehen werden als realistischer Roman im Sinn einer sozialen Desillusionierungsgeschichte à la Flauberts Madame Bovary; als local co/or-Geschichte über die spezifischen Lebensverhältnisse und Werteinstellungen der Kreolen von New Orleans unter besonderer Berücksichtigung der Frauenrolle; 3 als naturalistische Studie außer Kontrolle geratender Einflüsse von Umwelt und innerem Begehren, die die überforderte Protagonistin zunehmend der Persönlichkeitsauflösung entgegentreiben lassen;4 als impressionistischer Roman, der die experimentelle Erforschung sinnlicher Wahrnehmungsprozesse in der Moderne antizipiert; als neoromantische Neugestaltung der Dialektik von self-reliance und Aufgehen in der Alleinheit der Natur in der Nachfolge der Transzendentalisten; bis hin zur Charakterisierung als präraffaelitisch inspiriertes mythographisches Frauenportrait und als Jugendstilroman über Sinnlichkeit und elementare Weiblichkeit. All diese Aspekte fließen zusammen in der Sicht des Texts als musikanaloge Sprachkomposition und intermediales Gesamtkunstwerk, das unter der Leitidee einer dionysischen Kunstauffassung die verschiedenen Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst, Musik und Literatur für die wirkungsbewusste Steigerung der Darstellungs- und Kommunikationsintensität des Textes nutzt und miteinander verbindet.5 Dieses Spektrum unterschiedlicher Rezeptionsmöglichkeiten des Romans reflektiert nicht zuletzt seine Übergangsstellung zwischen viktorianischem und modernem Kultur- und Literaturbegriff, zwischen den sich ablösenden ästhetischen Idealen von normativer Selbstdisziplinierung und transgressiver individueller Selbstverwirklichung, zwischen gesellschaftsbezogener Realitätsdarstellung und der Freisetzung des Imaginären, die sich in The Awakening in aller Radikalität vollzieht. Mit dieser endgültigen Wendung von den sozialen Bedingungen und Verantwortungszusammenhängen des Einzelnen, die in der domestic novel und im realistischen Roman noch ihre faktische wie normative Bindekraft behalten, hin zur Emanzipation des Imaginären und zur Selbstautorisierung des Individuums als ästhetisch wertsetzender Instanz außerhalb aller Geltungsansprüche des Realen verkörpert The Awakening nach Fluck geradezu
2
3 4
5
Vgl. Jacqueline Budkam, „Dominant Discourse and the Female Imaginary: A Study of the Tensions between Disparate Discursive Registers in Chopin's The Awakening", English Studies in Canada, 21, 1, 1995: 55-76. Vgl. John R. May, „Local Color in The Awakening", Keesey, (ed.), 1992: 112-17. Nancy Walker, „Feminist or Naturalist: The Social Context of Kate Chopin's The Awakening", in Keesey, (ed.), 1992: 59-64. Vgl. zu diesen letzteren Aspekten vor allem die informative Studie von Benita von Heynitz, Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening, Tübingen: Narr, 1994.
4. Chopin, The
Awakening
133
in exemplarischer Verdichtung den Prozess der Geschichte des amerikanischen Romans bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, der sich in Moderne und Postmoderne in der hier vorgezeichneten Richtung weiterentwickelt. The Awakening beginnt demnach noch innerhalb des Rahmens eines realistischen Gesellschaftsromans und des dazugehörigen Figurenspektrums - kreolisches Oberschichtmilieu, viktorianisches Frauenideal, New Woman, etc. - , bewegt sich aber zunehmend auf die Inszenierung eines imaginären Begehrens zu, das die sinnliche Wahraehmungs- und Erlebnisperspektive der Protagonistin zur textbestimmenden Instanz erhebt und damit die „impressionistische" Erkundung einer vorsprachlichen, gerade nicht mehr realistisch mitteilbaren Erfahrungsdimension eröffnet. 6 Diese Sicht des Textes und seiner Schlüsselstellung in der amerikanischen Literaturgeschichte ist auf der Ebene der von Fluck nachgezeichneten Abfolge verschiedener Stil- und Funktionsmodelle des amerikanischen Romans, die das kulturelle Selbstverständnis der Nation im stets neu auszuhandelnden Konflikt zwischen zivilisatorischem Normenkonsens und imaginärer Energie in je unterschiedlicher Weise bestimmen, durchaus einleuchtend. Auf der Ebene der hier ins Auge gefassten, allgemeineren Funktionsbestimmung der Literatur als kultureller Ökologie erscheinen hingegen die verschiedenen Stilmodelle nicht in demselben Maß als distinktiv, sondern tritt vielmehr eine Kontinuität in der grundlegenden Struktur der Auseinandersetzung der Texte mit ihrer je sich wandelnden kulturellen und literarischen Umwelt hervor. Auch bleibt die Abfolge der Stil- und Textmodelle hier nicht mehr in demselben Maß linear und teleologisch, also dem Modernisierungsprozess im Prinzip analog, der bei Fluck als Individualisierungsprozess herausgearbeitet wird. Vielmehr wird in den verschiedenen Stufen der literarischen Bilanzierung des Modernisierungsprozesses in jeweils neuer Ausprägung eine dennoch fundamental gleichbleibende Konstitutions- und Wirkungsweise des literarischen Diskurses sichtbar, der den Prozess der Modernisierung sowohl mit vollzieht als auch imaginativ korrigiert, indem er ihn immer neu in ein Verhältnis zu den vitalen Lebensprozessen setzt, in die er eingreift und die doch seinen dominanten Selbstdeutungsmustem unverfügbar bleiben. Die spezifische Dynamik und Struktur dieser kulturökologischen Auseinandersetzung impliziert, dass das Individuum zwar in den symbolischen Alternativwelten der Literatur immer neue kognitive und affektive Entfaltungsspielräume zugewiesen bekommt, dass es sich aber gleichzeitig nie vollständig aus den soziokulturellen und bio-ökologischen Kontexten lösen kann, in deren diskur-
Fluck, 1997, 322ff. - Zum Verhältnis des Romans zur Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. auch Priscilla Leder, „Land's End: The Awakening and 19th Century Literaiy Tradition", Critical Essays on Kate Chopin, ed. Alice H. Petry, New York: Hall, 1996: 227-36.
134
II. Interpretationsteil
siv vermittelten Netzwerken es sich auch im Akt seiner Autonomisierung bewegen muss. Sie impliziert damit zugleich, dass das Reale noch in den Formen eines vermeintlich autonomen Imaginären in welcher indirekten Form auch immer präsent und mit diesen rückgekoppelt bleibt; und dass umgekehrt jeder noch so realistische literarische Diskurs Anteile des Imaginären aufweist, die alle vermeintlich eindeutigen Festlegungen des Realen als stets nur tentativ und ihrerseits imaginativ mitgeprägt erscheinen lassen. In je unterschiedlicher Gewichtung wird demzufolge im literarischen Text das nie ganz auflösbare Spannungsverhältnis ausgehandelt zwischen dem ,Realen' als dem, was zu einem historischen Zeitpunkt innerhalb bestimmter kultureller Prämissen autoritativen Wirklichkeitsanspruch erhebt, und dem ,Imaginären' als dem, was aus diesem Realitätssystem ausgegrenzt und in den es tragenden Diskursen unartikuliert bleibt, was aber dennoch auf seine Weise durchaus gelebte Wirklichkeit besitzt und als solche in den fiktionalen Gegendiskursen semiotisch zur Geltung gebracht wird. Dieses Modell ließ sich an so unterschiedlichen Romanen wie Scarlet Letter, Moby-Dick und Huckleberry Finn, d.h. an Beispielen der amerikanischen Renaissance wie des Realismus, als fundierendes Funktionsmodell der Texte identifizieren. Es kann, wie ich meine, auch in The Awakening zur Erhellung der kulturellen Aussage und Funktion des Textes unter den veränderten soziokulturellen und literarästhetischen Bedingungen der Jahrhundertwende herangezogen werden. 4.1 Defizite des zivilisatorischen Realitätssystems als Ausgangspunkt des imaginativen Gegendiskurses Worin besteht zunächst das Realitätssystem, das in The Awakening repräsentiert wird und gegen dessen Übermacht sich die Protagonistin - und der Roman imaginativ zur Wehr setzt? Es lässt sich im wesentlichen in vier verschiedene Bereiche aufgliedern, die aber für Edna am Ende in unterschiedlicher Weise miteinander zusammenhängen - einmal das ökonomische System des Börsenkapitalismus, das in Léonce Pontelliers Beruf als Makler an der Baumwollbörse von New Orleans und in den damit verbundenen Einstellungen und Aktivitäten im Roman präsent ist und das zwar als solches eher im Hintergrund bleibt, aber doch die dargestellten Lebensformen und Beziehungsmuster unverkennbar mitbestimmt; zum zweiten das viktorianische gender-System, das in seiner engen Verflechtung mit dem Wirtschaftssystem vor allem auch in seiner südstaatlichen Variante zu einer Polarisierung und hierarchischen Festschreibung der Geschlechterrollen führte, wie sie im 19. Jahrhundert sich herausbildeten und deren Anpassungsdruck der Hauptauslöser des im Roman entfalteten Konflikts ist; zum dritten die ethnische Sonderwelt der kreolischen Oberschicht von Louisiana als einer katholisch-französisch geprägten Enklave innerhalb der anglozentrischen USA, in die Edna Pontellier als streng protestantisch erzogene „Ameri-
4. Chopin, The Awakening
135
can woman" 7 hineinheiratet und in der sie letztlich Außenseiterin bleibt; und zum vierten schließlich die Prägung durch ihre puritanische Erziehung und ihren dominierenden Vater, einen dogmatischen Presbyterianer und früheren Colonel in der Südstaatenarmee, der für die patriarchale Struktur, die Doppelmoral und körperfeindliche Ideologie der konservativen Südstaatenkultur steht. All diese Bereiche haben Auswirkungen auf Ednas Lebenssituation, auf die sie im Prozess ihres ,Awakening' reagiert und die sie in dem Maß als lähmend empfindet, in dem ihr unter dem Einfluss elementarer Naturerfahrungen verdrängte, vitale Sinnbedürfnisse des eigenen Selbst bewusst werden. Diese artikulieren sich im Prozess des Romans immer deutlicher und stellen sich, durchaus widersprüchlich, sowohl als Bedürfnis nach individueller Selbstbestimmung wie nach „vital relationships", 8 d.h. nach der Einbindung des Selbst in eine ganzheitliche Beziehungs- und Lebensstruktur dar. Beides erscheint Edna in den genannten, institutionalisierten Realitätsbereichen immer weniger möglich, weshalb sie zunehmend außerhalb, in der Überschreitung normativer Grenzen, die Erfüllung ihrer unrealisierten Lebenshoffnungen sucht. Im eskalierenden Widerspruch Ednas zu den Geltungsansprüchen des Realitätssystems zeichnet sich die Spur fundamentaler Defizite in den Entfaltungsprozess des Textes ein, die die seltsame Allianz dieser teils spezifisch modernen, teils traditionalen Institutionen aus der Sinnperspektive des weiblichen Individuums mit sich bringt. Dabei sind die vier genannten Bereiche keineswegs homogen, sondern durchaus in sich unterschiedlich und widersprüchlich. Das ökonomische System abstrakter Börsentransaktionen, das die Arbeitswelt von Ednas Mann Léonce Pontellier darstellt und auf das sich der beträchtliche Reichtum seiner Familie gründet, spiegelt einen zentralen Aspekt der gesellschaftlichen Modernisierung der USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es stellt insofern einen Gegensatz zur traditionalen, auf gewachsene kommunale Sprach- und Lebensformen und ein unverkennbares Lokalkolorit bezogenen kulturellen Gemeinschaft der Kreolen dar, aus der Léonce stammt. Seine Beziehung zu dieser Gemeinschaft ist denn auch nur mehr äußerlich. Zwar liegt ihm alles an der Präsentation einer intakten Familie und der Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung seiner privaten Verhältnisse im Sinn der gesellschaftlichen Erwartungen. Doch gleichzeitig hat er seinen Dialekt abgelegt, besteht auf korrekten Formen, und wirkt noch im Kreis der ihm am nächsten stehenden Personen wie ein innerlich abwesender Fremder, der die Börsenberichte der Zeitung liest und für den die natürliche Umwelt von Grand Isle, in der der Roman eröff-
7
8
Es wird aus folgender Textausgabe zitiert: Kate Chopin, The Awakening. Complete, Authoritative Text with Biographical and Historical Contexts, Critical History, and Essays from Five Contemporary Critical Perspectives, ed. Nancy A. Walker, Boston: St. Martin's, 1993. Hier S. 23. Douglas Radcliffe-Umstead, „Literature of Deliverance: Images of Nature in The Awakening", Southern Studies, 1, 1990: 127-147, 133.
136
II.
Interpretationsteil
net, nur die dekorative Kulisse seines durchrationalisierten Lebenssystems darstellt. Er ist insofern das Produkt historischer Veränderungen, die sich gewissermaßen über den Köpfen oder jenseits der konkreten Lebensverhältnisse der Menschen abspielen und sie von ihren lokalen, kommunalen und persönlichen Wurzeln abschneiden. 9 Léonce hat dies in seiner eigenen Biographie erlebt, denn als Kind wuchs er in durchaus naturnaher Weise auf, an die er sich mitunter noch diffus erinnert, hat aber inzwischen jede innere Beziehung sowohl zu dieser Vorgeschichte des eigenen Ichs wie zur je aktuell erfahrbaren zwischenmenschlichen und naturhaften Umwelt verloren. Als Defizit, auf das Edna und der narrative Prozess des Romans zuallererst reagieren, erscheint von daher - in diesem Punkt vergleichbar mit Huckleberry Finn - genau diese Situationsabstraktheit, der Mangel an spontaner Selbstpräsenz und Daseinsoffenheit, der sich hinter dem Alleingeltungsanspruch vernunftgelenkter Realitätskontrolle verbirgt. Die „asymmetrischen Beziehungen zwischen sozialen Systemen und Erfahrungen" 10 werden zum Ausgangspunkt eines gegendiskursiven Prozesses der Imagination, der vor allem über erlebnisstarke Erfahrungen von Körperlichkeit und elementarer Naturbeziehung Kodierungen von Vitalität vornimmt. Schon in der Eingangsszene des Romans, als Edna mit ihrem Begleiter Robert Lebrun vom Strand zurückkommt, ist in nuce diese Grundspannung deutlich. Während Léonce in der Hitze des Tages Sonne und Wasser meidet, ist Edna gerade von einer besonders intensiven - und durchaus unvernünftigen - Begegnung mit ihnen geprägt: Ihr Gesicht ist von der Sonne verbrannt, was Léonce als „folly" verurteilt, „looking at his wife as one looks at a valuable piece of personal property which has suffered some damage." (2021) Und sie hat beim Baden im Meer mit Lebrun offensichtlich etwas Ungewöhnliches, Aufregendes erlebt, „some adventure out there in the water", an das die beiden sich unter gemeinsamen Lachen erinnern, das sich aber gegenüber dem skeptisch-distanzierten Mr. Ponteliier nicht vermitteln lässt und ihm vielmehr als „utter nonsense" (21) erscheint. Léonces Charakter ist dem Bezirk einer zivilisatorischen Rationalität zugewiesen, die physische Sicherheit, vernunftgeleitete Existenzplanung und ökonomische Realitätskontrolle einschließlich der dazugehörigen materiellen und persönlichen Besitzverhältnisse verkörpert, während Ednas Verhalten durch Spontaneität, Unberechenbarkeit und Entdeckungsfreudigkeit, aber auch durch potentielle Gefährlichkeit gekennzeichnet ist, die ihre Abweichung von den Normen des homo oeconomicus und ihr spielerisch-geheimnisvolles ,Abenteuer im Wasser' mit sich bringen. Von Anfang an wird damit eine besondere Beziehung
9
10
Das Konzept einer .abstrakten Gesellschaft' im Sinn von Zijderveld und anderen würde in diesem Sinn ein geeignetes analytisches Instrumentarium für die Erfassung einer wichtigen Ebene des Textes abgeben. Vgl. Zijderveld, 1970. So in einem anderen Zusammenhang K.L. Pfeiffer, 1999: 514.
4. Chopin, The Awakening
137
Ednas zur Sonne" und insbesondere zum Element des Wassers etabliert, die mit erotischer Lebensenergie aufgeladen ist und bisher unentdeckte Seiten ihrer Persönlichkeit erstmals zum Vorschein bringt. Mit den Mitteln von Wortspiel und andeutungshafter Symbolik wird an dieser Stelle bereits die Differenz zwischen besitzorientierter Fixierung und entgrenzender Offenheit der Lebensbezüge eingeführt, die sich nachfolgend zunehmend stärker herausbildet und zum textbestimmenden Konfliktfeld wird. Die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterdiskurs der Zeit erscheint von hier aus nicht als exklusives Anliegen des Textes, sondern als freilich wesentlicher Teil seines kulturökologischen Grundentwurfs. Unter dem Einfluss der See und des mit ihr assoziierten Versprechens imaginativer Erfahrungsintensität beginnt sich bei Edna erstmals auch der Widerstandsgeist gegen die weibliche Rollenfestschreibung zu regen, „the programme which [she] had religiously followed since her marriage". (69) Aus dem vermeintlich regressiven Aspekt eines Rückgangs auf präzivilisatorische Erfahrungsbereiche ergibt sich dabei paradoxerweise zugleich der spezifisch ,moderne' Aspekt von Ednas Bewusstseinsund Verhaltensprofil, der sie in die Nähe der zeitgenössischen, emanzipatorischen Figur der New Woman bringt, während umgekehrt Léonces .moderne' ökonomisch-rationalistische Lebenseinstellung sich problemlos mit der Forttradierung einer vormodernen, repressiv-patriarchalen Geschlechterhierarchie verbindet. Dabei geht er konform mit dem gender-System der viktorianischen Epoche, in dem die soziale und biologische Erfüllung der Frau allein in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau liegt und in dem die True Womanhood durch Eigenschaften wie piety, purity, submissiveness und domesticity gekennzeichnet ist.12 Die daraus abgeleiteten Erwartungen sind fester Bestandteil von Léonces durchgeplantem Lebenssystem, dem sich bisher auch Edna untergeordnet hat und das er, durch Ednas beginnende Veränderung verunsichert, mit durchaus willkürlich anmutendem Machtverhalten zu sichern versucht - womit er aber nur den Prozess der wachsenden Entfremdung und Selbständigkeit Ednas vorantreibt. Die erste Szene ihres Erwachens ergibt sich in der Nacht nach ihrem noch harmlosen ,Meerabenteuer' aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser Kräfte. Léonce, der nicht zum Dinner erschien und stattdessen in einem Salon um Geld spielte, weckt durch sein lautes Hereinkommen die schlafende Edna und wirft ihr vor, ihre Kinder zu vernachlässigen, der Sohn liege nebenan krank mit Fieber. Sein selbstgewisser Macht- und Wissensanspruch - „Mr. Pontellier was too well acquainted with fever symptoms to be mistaken" - wird allerdings dementiert, da sich Ednas Annahme bestätigt, dass der Sohn gar kein
" Vgl. Mylene Dressler, „Edna Under the Sun: Throwing Light on the Subject of The Awakening", Arizona Quarterly, 48: 3, 1992: 59-75. 12 Vgl. Barbara Welter, „The Cult of True Womanhood: 1820-1860", American Quarterly, Summer, 1966: 151-74.
138
II.
Interpretationsteil
Fieber hat. Und der „monotonous, insistent way", in dem Léonce die strikte Einhaltung der ihr zugewiesenen Geschlechterrolle einfordert, führt dazu, dass sie ihm jede Antwort verweigert. Als er eingeschlafen ist, ist sie ihrerseits „thoroughly awake" und geht nach draußen, wo sie im Schaukelstuhl sitzend die Geräusche der Nacht und „the everlasting voice of the sea" hört und plötzlich von einem heftigen Weinanfall überwältigt wird. Ednas elementarer Gefühlsausbruch geschieht in einer Situation, in der sie durch die Entfremdung von ihrem Ehemann besonders empfänglich für die Stimme der Natur ist, die Stimme der See, die wie ein „mournful lullaby" (24) die Nacht durchdringt und Edna in eine korrespondierende ,Flut' von Tränen ausbrechen lässt, die ihr Gewand und ihren Körper durchnässt. In gewisser Weise verkörpert sie hier bereits, in dieser vorsprachlichen, verstandesmäßig nicht erklärbaren Ausdrucksweise („She could not have told why she was crying") unbewusst selbst die elementare Kraft der See, der verdrängten Instinkte, Emotionen und imaginären Energien, die umgekehrt die See durch die Formung ihres chaotischen Urrhythmus in ein „mournful lullaby" in anthropomorpher Analogie zum Ausdruck bringt. Kindheit und Tod, Anfang und Ende, Glück und Trauer sind in dieser Urmelodie des Lebens miteinander vereint, die somit nicht einfach eine Harmonie von Ich und Welt, sondern ein tragisches Wissen um die Endlichkeit des Einzellebens innerhalb des unendlichen Kreislaufs der Natur ausdrückt. Insbesondere in der Verbindung zwischen dem Bild Ednas im Schaukelstuhl, „where she ... began to rock gently to and fro"(24) und dem melancholischen Wiegenlied des Meeres erinnert diese Stelle deutlich an Walt Whitmans „Out of the Cradle Endlessly Rocking", das insgesamt einen maßgeblichen Prätext des Romans darstellt und insbesondere auch für die Interpretation des Schlusses wichtig ist, der ja, wie Whitmans Gedicht, ebenfalls Ende und Anfang, Tod und Wiedergeburt symbolisch zusammenbringt. Der in sich geschlossene Diskurs des viktorianischen Geschlechtersystems, dessen Anpassungsdruck Léonce verkörpert, bricht sich an einer prädiskursiven, wahrnehmungs- und umweltoffenen Erfahrungsdimension, mit der eine innere Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur ins Spiel kommt, die zugleich affektive, imaginative und ästhetische Bedeutung gewinnt. Ednas Reaktion auf diese Erfahrung, die mit einem krisenhaften Verlust bisheriger Ordnungsmuster verbunden ist, ist höchst ambivalent und von extremen Stimmungsschwankungen gekennzeichnet. Sie besteht zum einen, wie in der geschilderten Szene, in tiefer Niedergeschlagenheit und Melancholie, zum andern in der Fähigkeit zu neuer, bisher ungekannter Lebensintensität, aus der Edna nachfolgend die außergewöhnliche Willenskraft bezieht, die sie zum Widerstand und zum Durchsetzen ihrer Selbstbestimmungswünsche gegenüber den konventionellen Erstarrungen des Geschlechterverhältnisses benötigt. Gerade dieses Chaotisch-Unberechenbare, diskursiver Verfügung sich Entziehende ist es, das dabei die Bewusstseinslage und das Verhalten Ednas zunehmend kennzeichnet und das auch den narrativen Prozess des Romans immer mehr bestimmt.
4. Chopin, The Awakening
4.2
139
Ambivalenz der Kreolenkultur zwischen Traditionalität und selbstbewusster Körperlichkeit
Die gesellschaftliche Realität, der sich Edna gegenübersieht, liegt indessen nicht nur in dem von ihrem Ehemann repräsentierten ökonomischen Modernisierungsdiskurs, sondern auch im ethnisch-sozialen Milieu der Kreolen, zu dem Edna wiederum eine zutiefst zwiespältige Haltung entwickelt. Zum einen ist dies eine sehr stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft, in der feste Regeln und Hierarchien gelten, deren gehobener Lebensstil auf der selbstverständlichen Grundlage einer schwarzen Dienerschaft beruht und die vor allem auch die viktorianischen Geschlechterrollen mit besonderer, quasi-religiöser Inbrunst kultiviert. Innerhalb ihres Normensystems erscheint Léonce geradezu als Mustergatte, als „best husband in the world" (26), womit der Konformitätsdruck auf Edna noch verstärkt wird. Hierzu trägt vor allem ihre Freundin bei, Madame Adèle Ratignolle, die eine idealtypische Inkarnation der viktorianischen True Womanhood darstellt und diese Rolle auch mit ideologischem Nachdruck, ja mit unverkennbarem Missionsdrang, gegenüber der ,moderner' eingestellten Edna verkörpert. Adèle bekommt ein Kind nach dem anderen, ist auch zu Beginn der Romanhandlung wieder schwanger, und hat zugleich ein völlig harmonisches, geradezu symbiotisches Verhältnis zu ihrem Ehemann, der in New Orleans einen Drugstore betreibt und der sie, außer wenn sie auf Grand Isle im Sommerurlaub ist, nicht von seiner Seite - und kaum aus dem Haus - lässt. Die perfekte Eheidylle hat ihre Kehrseite darin, dass hier die Partner völlig aufeinander fixiert sind und insbesondere Madame Ratignolle in ihre idealisierte Mutterrolle innerhalb der domestic sphere als eine Art goldenen Käfig eingesperrt ist. In dieser Hinsicht spielt sie denn auch eine wichtige Rolle für den äußeren plot des Romans und damit indirekt auch für die Dynamik der inneren Entwicklung Ednas. Denn zum einen ist Adèle Ratignolle diejenige, die, ganz dem „law and gospel" (39) ihrer Konventionsgläubigkeit verhaftet, Robert Lebrun schon früh vor einer zu engen Beziehung mit Edna warnt und so dazu beiträgt, dass dieser, für Edna völlig überraschend, gerade zum Zeitpunkt ihrer aufflammenden Leidenschaft Grand Isle verlässt und nach Mexiko geht. Und Adèle ist zum andern auch diejenige, die am Ende des Romans, als Robert nach New Orleans zurückgekehrt ist und für Edna nach vielen Verzögerungen und Missverständnissen die Erfüllung ihrer Liebe greifbar nahe erscheint, den erneuten und diesmal endgültigen Abbruch der Beziehung herbeiführt: Indem sie Edna zur Geburt ihres nächsten Kindes an ihr Bett holen lässt und zur Zeugin ihrer Geburtswehen macht, erinnert sie Edna in der fast märtyrerhaften Opferhaltung, die sie dabei zur Schau stellt, noch einmal demonstrativ an ihre vernachlässigten Mutterpflichten. Madame Ratignolle vertritt in ihrem handlungsbestimmenden Einfluss an diesen beiden entscheidenden turning points des Romans den Realitätsdruck eben desselben Systems der Geschlechterkonventionen, jener Festlegung der Frau auf die Mutter- und Ehefrauenrolle, die auch Léonce vertritt und aus
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II.
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deren Einseitigkeit und dogmatischer Erstarrung sich Edna gerade zu befreien versucht. Adèle Ratignolle und die Kultur der Kreolen, für die sie steht, hat aber neben der traditional-dogmatischen Seite auch eine andere Seite, die sie wesentlich vom Mainstream der viktorianischen Kultur, und vor allem auch von der puritanischen Herkunft Ednas unterscheidet, nämlich ihre starke Sinnlichkeit, ihr Akzeptieren des Körpers und des Eros - wenn auch innerhalb der vorgegebenen normativen Grenzen - , ihren ausgeprägten Schönheitssinn und ihre kommunikative Lebensoffenheit. In dieser Hinsicht stellen sie und der von ihr repräsentierte kreolische Kontext einen Gegensatz zu Léonce, aber auch zu Ednas eigener Sozialisation dar, durch den Edna in nicht geringem Maß zur Öffnung ihrer Persönlichkeit und zur Entdeckung ihrer bisher verdrängten Sinnlichkeit und Sexualität gebracht wird. Insofern ist Adèle Ratignolle keine typische Victorian woman, für die Körperlichkeit und Sexualität Tabus waren, da sie die spirituelle und moralische Bestimmung der Frau gefährdeten. Sie ist vielmehr selbst geradezu eine Verkörperung erotischer Attraktivität, eine „sensuous Madonna" (30), von deren Schönheit nicht nur die Männer, so einst auch Robert Lebrun, sondern auch Edna selbst angezogen sind. Die Tabus des Viktorianismus haben in der frankokatholischen Welt der Kreolen keine Geltung - es werden intime Realitäten angesprochen, erotische Geschichten erzählt und Bücher offen herumgereicht, die Edna sonst allenfalls heimlich lesen würde. Das „dual life" (32), in dem sie aufwuchs, also die puritanische Trennung von äußerem, normenkonformen Verhalten und geheimer, potentiell sündhafter Innenwelt, unter der sie Zeit ihres Lebens litt, wird hier aufgelockert, ein offenerer Austausch zwischen ÜberIch und Es, und zwischen Selbst und Anderem erstmals möglich. Maßgeblich trägt dazu die enge Freundschaft bei, die sich zwischen Edna und Madame Ratignolle entwickelt. Es ist genau ihre starke sinnlich-körperliche Ausstrahlung, der „excessive physical charme of the Creole" (32), und die Übereinstimmung von innerer und äußerer Persönlichkeit, die Edna an Adèle anzieht und die ein ganz eigenständiges und geradezu intimes Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Frauen entstehen lässt. Bei einer gemeinsamen Wanderung zum Strand kommen sie sich seelisch wie körperlich so nahe, als wären sie Liebende. Edna erzählt Adèle von einem Kindheitserlebnis, als sie auf der Flucht vor den religiösen Angstpredigten ihres Vaters durch eine Wiese mit hohem Gras lief, die endlos wie das Meer schien und in der sie sich traumhaft schwebend wie eine Schwimmerin im Wasser fühlte. Unter dem Eindruck des Meers und der sinnlichen Präsenz von Adèle Ratignolle wird hier ein lang vergessenes Erlebnis entgrenzender Mensch-Natur-Einheit vergegenwärtigt und dem Anderen mitteilbar, ein Erlebnis, dessen imaginäre Energie auf der Handlungsebene des Romans in Ednas innerer Annäherung an das Element des Wassers und in ihrem Schwimmenlernen aufgenommen und motivisch fortgeführt wird. Als Adèle ihre Hand in die Ednas legt, empfindet diese die Zärtlichkeit dieser halberotischen „gentle caress" (35) als etwas ganz Unbekanntes, Verwir-
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rend-Betörendes, das im Gegensatz zum intellektuell-distanzierten Verhältnis zu ihren früheren Freundinnen steht.'3 Sie erzählt Adèle die durchaus gebrochene Geschichte ihrer persönlichen Beziehungen, von den unerfüllt gebliebenen jugendlichen Romanzen bis zu der rein nüchternen Vernunftehe mit Léonce und dem zwiespältigen Verhältnis zu ihren Kindern - kurz, sie teilt ihr ihre innerste, bisher noch nie nach außen getragene Erlebnis- und Gedankenwelt mit und wird durch die ungewohnte Intimität ihrer Selbstaussprache von einem rauschhaften Gefühl der Befreiung erfasst: „It muddled her like wine, or like a first breath of freedom." (37) Der Einfluss der Natur und der Einfluß Adèle Ratignolles wirken also hier zusammen in der ,Erweckung' Ednas aus ihrer Selbstisolation und in der Aktivierung einer imaginären Energie, die die unterdrückte Austauschbeziehung zwischen Ich und Umwelt, Selbst und Anderem in neuer Weise öffnet und die als solche für Edna zunehmend zur bewusstseins- und handlungsbestimmenden Macht wird. Ironisch ist allerdings, dass Madame Ratignolle gerade durch dieses SichÖffnen ihrer Freundin die ,Gefahr' spürt, die Edna aufgrund ihrer inneren Veränderung von der Seite Robert Lebruns her droht, und diesen unmittelbar im Anschluss an die genannte Szene vor einem zu nahen Kontakt mit ihr warnt. Die sinnlich-kommunikative Seite der kreolischen Welt ist eben nur die eine Seite; ihre andere ist der moralische Druck der Konventionen, der sich letztlich auch bei Adèle als stärker erweist als die persönliche Beziehung zu ihrer Freundin. Die Wirkung der kreolischen Kultur auf Edna ist also hochgradig ambivalent: Einerseits trägt sie zum Erwachen ihres Eros bei, mit dem auch ihre innere Ablösung vom viktorianischen Geschlechtersystem zusammenhängt; andererseits holt sie sie immer wieder auf dessen Realitätsmacht zurück. Dies ist eines der zentralen Spannungsfelder, in denen Edna agieren muss, ohne sie ganz zu durchschauen, und der Weg zu sich selbst, den sie sich in ihnen sucht, ist notwendigerweise widersprüchlich. Er führt sie weg von bisherigen Selbstdefinitionen, ohne ihr klare Möglichkeiten neuer Selbstfindung zu eröffnen. 4.3 Reflexiver versus relationaler Aspekt von Ednas „Awakening": Zwischen dem Individualismus der New Woman und der Sehnsucht nach dem Aufgehen im Anderen Die Realitätssysteme, in denen Edna lebt - das ökonomische, gender-spezifische, kreolische und puritanische - sind alle in teils zusammenwirkender, teils gegeneinander wirkender Weise in ihrem Bewusstsein präsent und üben einen diffusen Konformitätsdruck aus, dem sie sich im Prozess des Romans immer mehr entzieht. Dabei gewinnt sie einerseits ungewöhnliche Stärke und setzt mit
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In dem Verhältnis der beiden Frauen schwingen darin auch lesbische Untertöne mit. Vgl. z.B. Elizabeth LeBlanc, „The Metaphorical Lesbian: Edna Pontellier in The Awakening", Tulsa Studies in Women's Literature, 15, 2, 1996: 289-307.
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außerordentlichem Selbstbewusstsein ihre emanzipatorischen Impulse in die Tat um, andererseits ist sie überfordert von der entstehenden Situation der völligen self-reliance, von ihren wechselnden Stimmungen, von der unkontrollierbaren Mischung aus Verlockungen und Zwängen, Zufallen und Manipulationen, in die sie durch die sich verstärkenden Asymmetrien zwischen Außenwelt und Innenwelt hineingerät. Die Erfüllung ihres Selbst außerhalb der Konventionen sucht sie einerseits in der individuellen Selbstbehauptung und unbegrenzten Entfaltung ihrer Persönlichkeit, andererseits aber und ebensosehr in der Beziehung zum, ja im Aufgehen im Anderen. Auf der einen Seite will sie jeder Fremdbestimmtheit entgehen und das Ich zur höchsten Selbstpräsenz befreien, auf der anderen Seite ist die Möglichkeit dieser vollen Selbstpräsenz wesentlich als eine beziehungshafte bestimmt, nämlich als Wiederherstellung der Beziehung zu einem allumfassenden Lebensprinzip, zu dem die Sinnenergien des Individuums wie nach einem inneren Magnetfeld aus der Vereinzelung immer wieder zurückstreben. Die eine, reflexive Seite dieser doppelten Antriebsstruktur, die von Edna seit dem Aufenthalt auf Grand Isle Besitz ergreift, lässt sich in relativ hohem Maß innerhalb der sozialen Realität umsetzen; die andere, relationale Seite ist letztlich durch deren Festlegungen und unüberwindliche Konventionalität nur immer ansatzweise realisierbar. Edna löst sich verhaltensmäßig aus der Bevormundung durch ihren Mann, der Streit zwischen ihnen eskaliert. Sie verweigert sich den sozialen Ritualen, die die öffentliche Selbstdarstellung und die ökonomischen Interessen der Pontellier-Familie sichern sollen. Sie steigert sich in Wutanfälle gegen ihre Gefühle des Gefangenseins hinein, so wenn sie ihren Ehering zu zertreten versucht. Sie geht nach eigenem Gutdünken aus und gibt jede „submissiveness" (76) der Victorian Woman einschließlich der sexuellen auf, was ihren Mann zutiefst verunsichert und ihn dazu bringt, einen Arzt aufzusuchen, der, freilich ergebnislos, Ednas .Krankheitszustand' begutachten soll. Gegenüber ihrem autoritären Vater, der zu Besuch kommt, weigert sie sich, mit zur Hochzeit ihrer Schwester zu reisen, da eine Heirat „one of the most lamentable spectacles on earth" (86) sei, und löst sich damit endgültig aus dessen rabiatpatriarchalischem Einfluss - „Put your foot down good and hard; the only way to manage a wife" (91), so des Vaters Ratschlag gegenüber seinem Schwiegersohn, um die widerspenstige Edna zu zähmen. Sie zieht schließlich, als Léonce zu Börsengeschäften in New York ist, nach einem grandiosen Abschiedsdinner aus dem repräsentativen Prachtbau der Familie aus und bezieht ein kleines Haus in der Nähe, das sie nach ihren eigenen Vorstellungen einrichtet. Sie beendet die finanzielle Abhängigkeit von ihrem Mann und bestreitet ihren eigenen Lebensunterhalt durch Malen. Und sie geht ganz offen ein Verhältnis mit Alcée Arobin ein, einem Don Juan der Kreolengesellschaft, den sie beim Pferderennen kennen gelernt hat. Nach den Kodes der Gesellschaft müsste sie sich nach all dem als „wicked specimen of the sex" (103) fühlen, empfindet aber keinerlei Schuldgefühle. Sie
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ist so in einer Hinsicht der Inbegriff einer New Woman, die sich aus früheren Rollenzuschreibungen löst, aktiv ihr Leben in die Hand nimmt und gestaltet, selbst für ihre materielle Existenzsicherung sorgt, geistig und künstlerisch aktiv ist und beginnt, ihre bisher unterdrückte Sexualität auszuleben. Ihr Malen verbessert sich zusehends, sie verkauft immer mehr Bilder, ihre künstlerische Ausdrucksfähigkeit „grows in force and individuality" (100). Und anstatt, wie es das Frauenbild des 19. Jahrhunderts vorsah und wie Léonce es behauptet, aufgrund ihres abweichenden Verhaltens ,krank' zu sein, wirkt sie inmitten der Krise ihrer bisherigen Lebensbeziehungen auf den hinzugezogenen Doktor Mandelet vielmehr voll neuer, innerer Kraft. Sie scheint ihm völlig verwandelt „from the listless woman he had known into a being who, for the moment, seemed palpitant with the forces of life ... Her speech was warm and energetic. There was no repression in her glance or gesture. She reminded him of some beautiful, sleek animal waking up in the sun." (90) Mit ihrer emanzipatorischen Ablösung von Konventionen und der Herausbildung einer selbstbestimmten Existenz, so radikal und energisch sie sie vollzieht, geht Edna aber nicht in der sozialen Rolle einer New Woman auf, die primär als bewusste Gegenfigur zum viktorianischen Frauenbild in einem intellektuellen oder politischen Sinn definiert wäre. Verbindungen zu den feministischen Kreisen ihrer Zeit hat Edna gerade nicht, auch wenn sie durchaus von Ideen der „eternal rights of women" (85) inspiriert ist. Das Bewusstsein, das sie immer mehr ausbildet, ist kein primär soziales, sondern ein durch intensivierte Sinneswahrnehmung geschärftes Bewusstsein ihres kreatürlichen Selbst und seiner elementaren Grundlagen, zu denen sie jenseits kultureller Kategorien zurückzufinden sucht. Es ist also ein Bewusstwerden, das zugleich auf die Aufhebung des Bewusstseins in einem vorbewussten Kontinuum des Lebendigen hinausläuft. In diesem Rückgang auf ein elementares Selbst weist Edna Züge eines mythischvitalistischen Frauenbilds auf, wie es im fin de siècle etwa im Jugendstil aufkam und dessen magisch-prärationale Dimension sich gleichsam archetypisch in den undulierenden Linien des weiblichen Körpers ausdrückte. Die Figur der Undine, der Wassernymphe, die durch die Liebe zu einem Menschen an Land gelockt wird und am Schluss, nach dem Zerbrechen dieser Liebe, wieder in ihr eigentliches Element zurückkehrt, ist eine Lieblingsgestalt des Jugendstils und weist unverkennbare Ähnlichkeiten mit der Figur Ednas auf. 14 Es ist diese andere Seite der doppelten Antriebsstruktur Ednas, ihre über die aktiv-bewusste Selbstrealisierung hinaus- bzw. hinter sie zurückgehende Suche
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Vgl. von Heynitz, 1994: 182ff. - In dieser mythographisch inspirierten Entdeckung der Körperlichkeit und ihres vielgestaltigen semiotischen Potentials lassen sich auch Parallelen zu einer poststrukturalistischen Sicht erkennen, die gerade in der Selbstentdeckung durch ekstatische Selbstentgrenzung die textuelle jouissance einer körperbewussten weiblichen Kreativität sieht.
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nach dem Aufgehen im Anderen, nach der Rückkehr in einen potentiell unendlichen, diskursiv unverfügbar bleibenden Einheitszusammenhang des Lebens, die ihre Entwicklung ebenso sehr bestimmt. Aus der Perspektive eines realistischen Romans stellt sich dies als zunehmende Dominanz des Imaginären über das Reale dar. Aus der Sicht des Romans als eines symbolisch aufgefassten, kulturökologischen Bilanzierungs- und Revitalisierungsprozesses stellt es sich als die narrative Ausfaltung einer Paradoxie dar, die von Anfang an dem Verhältnis des Menschen zum elementaren Lebensprinzip eigen ist, wie es an Edna gestaltet ist: Das kulturell Ausgegrenzte, das Andere des zivilisatorischen Realitätssystems wird mit sinnhafter Energie und semiotischer Gegenmacht aufgeladen, die einerseits der individuellen Lebenssteigerung der einzelnen dient, andererseits deren Individualität übergreift und sie letztlich in transindividuellen Kreisläufen von Werden und Vergehen, von Tod und Wiedergeburt auflöst. Hier wird ein an Nietzsche erinnernder dionysischer Kunstbegriff sichtbar, der dem Roman zugrunde liegt und in dem der Gegensatz von Kunst und Leben, Imagination und Wirklichkeit gerade überwunden wird. Kunst wird zu einer besonderen Form der Lebenssteigerung, zu einer alle Sinne aktivierenden Inszenierung eines tragisch-affirmativen Dramas, in dem die abstrakten Identitäts- und Realitätsbegriffe der Moderne suspendiert und in ein Denken der Potentialität, des Widerspruchs, der Metamorphose überführt werden, in eine komplexe ästhetische Erfahrung am Übergangspunkt von Kultur und Natur, von modernen und prämodernen Bewusstseins- und Erlebnisformen. An diesem Übergangspunkt operiert der Roman, ihn arbeitet er in aller Schärfe der Entfremdung, aber auch in seinem Potential der kreativen Erneuerung heraus. Er versetzt damit den modernen Kulturmenschen und den Diskurs zivilisatorischer Rationalität in die Grenzsituation einer ebenso faszinierenden wie abgründigen Ambivalenz, in der die höchste Entfaltung von Bewusstsein und Kultur erst in deren Rückbindung an jene elementaren Lebensprozesse möglich wird, aus denen sie allererst stammen und in die sie sich schließlich wieder aufheben. 4.4 Die Romanze zwischen Edna und Robert: Turbulenzen menschlicher Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur Eine besonders eindrückliche Form, die dieses Verhältnis von Kultur und Natur, von Bewusstsein und Unbewusstem, von .reflexiver' und .relationaler' Seite im dionysischen Drama des Erwachens von Edna annimmt und in der sowohl das Ineinanderwirken wie der Bruch zwischen beiden besonders deutlich hervortritt, ist die Romanze zwischen Edna und Robert. Als eine Form leidenschaftlicher Liebe, die gesellschaftliche Tabugrenzen überschreitet, ist diese Romanze ein Ausdruck elementarer Emotionalität, wie sie sonst in den konventionsbestimmten Beziehungen im Roman keinen Platz hat. Ihr Beginn mit dem gemeinsamen ,Abenteuer im Meer' verknüpft sie sofort mit diesem ureigensten Element Ednas, aus dem diese also sowohl die Kraft zu ihrer Emanzipation bezieht,
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als auch die erotische Energie ihrer sich entfaltenden Beziehung zu Robert. Das Ineinanderwirken der verschiedenen Bewusstseins- und Erfahrungsbereiche in der Entwicklung dieser Leidenschaft wird vor allem an dem Samstagabend deutlich, als Mademoiselle Reisz, die exzentrisch-egozentrische Künstlerin, ein Konzert gibt, von dem vor allem Edna aufs höchste beeindruckt und betroffen ist. Die Musik Chopins wird für Edna zu einem Medium, das ihre eigenen erwachenden Leidenschaften ausdrückt und zu einer Selbsterfahrung hochsteigert, die sie in ihrem Lebensnerv trifft: „The very first chords which Mademoiselle Reisz struck upon the piano sent a keen tremor down Mrs. Pontellier's spinal column." (44) Die elektrisierende Intensität des ästhetischen Erlebens, das die hochdifferenzierte Musik Chopins vermittelt, wird mit einer unmittelbar-körperlichen, ,animalischen' Reaktionsweise von Edna verbunden, die wiederum in ihrer bisher ungekannten, alle Vorstellungskraft überwältigenden Turbulenz dem Erlebnis der tosenden See gleicht. „... the very passions themselves were aroused within her soul, swaying it, lashing it, as the waves daily beat upon her splendid body. She trembled, she was choking, and the tears blinded her." (45) Es wird also hier unmittelbar die Verbindung hergestellt zwischen der Kunst als höchstem Ausdrucksmedium der ,Kultur' und der Erfahrung der Leidenschaft als Korrespondenz zur Erfahrung der wilden ,Natur', wie sie im Meer metynomisch verkörpert ist. In der künstlichen Ordnung der Töne wird ein ursprüngliches Chaos hörbar, in dem die Kontrolle über das Selbst und die Welt verloren zu gehen droht und aus dem doch jene Ordnung immer wieder erst die Energie zu ihrer Herausbildung und vitalen Selbsterneuerung beziehen kann. Hochartikulierte Kunst wird reflexiv an das unartikulierte Leben zurückgebunden, das seinerseits zum Gegenstand und Element des künstlerischen Darstellungs- und Kommunikationsvorgangs wird. Dies gilt auch für die Ebene des Romans, der im Spannungsfeld zwischen sprachlicher Artikulation und vorsprachlicher Erfahrung eben diese ,dionysische' Rückkopplung von Leben und Kunst, Kultur und Natur anstrebt, wie sie Edna in Mademoiselle Reisz' ChopinSpiel in existentieller Evidenz erlebt. Der Wechsel zum Medium der Musik verdeutlicht die vor- bzw. außersprachliche Dimension einer Erfahrung, die in Ednas subjektiver Wahrnehmung auch nicht mehr in die vertraute, visuelle Bilderwelt der Imagination übersetzbar ist, wie sie sich bei ihr als Malerin gewöhnlich beim Hören von Musik einstellt. „She waited for the material pictures which she thought would gather and blaze before her imagination. She waited in vain." (44-45) Die Imagination hinterschreitet sich selbst auf ein gestaltlos-vorimaginatives Erleben, das aber dennoch nur wieder in neuen Bildern, nämlich denen des chaotisch-überwältigenden Meers, artikulierbar ist. Ednas Zwischenstellung, ihre Übergangsposition zwischen Kultur und Natur wird schon vor dem Konzert am Beginn des Abends darin versinnbildlicht, dass sie außerhalb des Saals auf der Galerie sitzt, von wo sie sowohl das gesellschaftliche Geschehen im Haus im Auge hat wie auf das vom Mond beschienene Meer, das „distant, restless water" (43) hinausblickt. Wie eine Antwort auf
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diesen Anblick kommt Roberts Frage an sie, ob sie Mademoiselle Reisz spielen hören wolle, woraufhin diese von ihm herbeigeholt wird und eigens für Edna ihr Konzert gibt, das wiederum, wie gesehen, Ednas zuvor noch diffusen Emotionen in einer Weise ästhetisch Ausdruck gibt, dass sie sie als körperliches Erleben des Meers imaginiert. In der Verbindung von Kunst und Leben, Kultur und Natur, die sich hier symbolisch vollzieht, spielt Ednas Beziehung zu Robert also eine Art Katalysatorrolle, ohne dass die vielgestaltige motivische Bedeutungsentfaltung allein auf diese Beziehung reduzierbar wäre. Es ist hier besonders signifikant, dass unmittelbar im Anschluss an dieses Konzert, wiederum auf Roberts Vorschlag hin, die Gäste spontan zum nächtlichen Strand zum Baden gehen und Edna gerade an diesem Abend das Schwimmen lernt, das sie aufgrund ihrer Angst vor den Wellen zuvor vergeblich geübt hatte. Das Erleben der Musik als des bewussten, kontrollierten Ausdrucks einer unbewussten, unkontrollierbaren Realität gibt ihr also offenbar die Kraft, ihre Angst zu überwinden und erstmals ganz in die chaotisch-bedrohliche und zugleich lebensstiftende Elementarwelt der Natur ,einzutauchen', in der sie in der Überwindung angstbedingter Abgrenzung die Freiheit selbstbestimmter Lebensoffenheit entdeckt. Dennoch ist ihre Reaktion in charakteristischer Weise extrem und widersprüchlich. Sie wird zunächst von Begeisterung und einem rauschhaften Machtgefühl ergriffen, „as if some power of significant import had been given her soul", und will weit hinausschwimmen, „where no woman had swum before." (46) Es ist also zunächst vor allem der individuelle Selbststeigerungsdrang, der hier durch den Kontakt mit den vitalen Quellen des Ichs erst durch die Musik, dann durch das Meer, beflügelt wird. Doch dann, als sie sich zu weit hinauswagt, wird sie von Todesangst erfasst, einer Extremerfahrung, die sie den anderen nicht mitteilen kann - ihr am Ufer wartender Mann beruhigt sie anschließend, sie sei nie in Gefahr gewesen, denn er habe auf sie aufgepasst; und Robert, der sie vom Strand zurückbegleitet, versteht ebenfalls nur halb den Schrecken der Selbstauflösung, den sie seelisch erlebt hat. Immerhin aber vermag Robert im mythischen Bild einer lokalen Folklore-Erzählung das Besondere dieser Nacht auszudrücken, die für Edna eine traumhafte Hyperrealität erlangt, in der menschliche und außermenschliche Realität ineinander fließen - „I wonder if I shall ever be stirred again as Mademoiselle Reisz's playing moved me to-night. I wonder if any night on earth will ever be like this one. It is like a night in a dream. The people about me are like some uncanny, half-human beings. There must be spirits abroad to-night." (47-48). Robert ,bestätigt' ihre Anmutung, indem er die Sage vom Meergeist erzählt, der immer in dieser Nacht des 28. August bei Mondschein aus dem Wasser des Golfs steigt und sich auf die Suche nach einer Sterblichen begibt, die mit ihm für kurze Zeit die Fähigkeit zu höchster Lebensintensität teilt. Bisher sei der Geist stets enttäuscht ins Meer zurückgekehrt, aber an diesem Abend habe er Edna gefunden, die von nun an unauflöslich in seinen Bann geschlagen sei. Diese spielerisch-mythische Form des Ausdrucks eines Erlebens, das auf rationaler Diskursebene nicht mitteilbar ist,
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vermag jenseits ihrer vereinzelten Individualität doch ein tieferes Verstehen zwischen Edna und Robert herzustellen. Die reflexive Seite individueller Selbststeigerung durch trasgressive Selbstentgrenzung schließt sich mit der relationalen Seite der ersehnten Vereinigung mit einem Andern zusammen, das sich hier in Robert personifiziert: „No multitude of words could have been more significant than those moments of silence, or more pregnant with the first-felt throbbings of desire." (49) Die Bildlichkeit einer vorsprachlichen Kreativität bringt das Begehren des Anderen zum Ausdruck, das mit der Erfahrung des eigenen Erwachens einhergeht. Dieses Begehren des Anderen entwickelt sich am nachfolgenden Sonntag, an dem Edna mit Robert mit dem Schiff auf die Nachbarinsel Chênière Caminada zur Messe fährt, zur Romanze. Edna flieht mit ihm aus der beengenden Atmosphäre der Kirche und erlebt einen Tag der pastoralen Idylle, des paradiesischen Aufgehobenseins auf dieser Insel in einem abgelegenen Haus inmitten eines Orangenhains. Die Fahrt dorthin ist von demselben Geist des Meers inspiriert, der sie in der Nacht zuvor erfaßt hatte und der eine Befreiung von bisherigen, festen Bindungen mit sich bringt: „Edna felt as if she were being borne away from some anchorage which had held her fast, whose chains had been loosening - had snapped the night before when the mystic spirit was abroad, leaving her free to drift wherever she chose to set her sails." (53) Und der Ort selbst ist ein klassischer locus amoenus, an dem die Bedürfnisse des Menschen uneingeschränkt mit der Umgebung und mit denen des Andern korrespondieren und in dessen märchenhafter Atmosphäre Edna, wie es im Text heißt, aus einem hundertjährigen Dornröschenschlaf erwacht scheint. Schon kurz nach der Rückkehr zur Gesellschaft auf Grand Isle aber bricht die Romanze jäh ab. Robert, durch die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle verwirrt und die moralischen Warnungen Mme. Ratignolles verunsichert, bricht unvermittelt nach Mexiko auf, während Edna nach New Orleans zurückkehrt, wo sich ihr bereits beschriebener, offener Bruch mit dem gesellschaftlichen Macht- und Geschlechtersystem vollzieht, dem sie zuvor angehörte. Robert ist nun nur noch in ihrer Imagination im Roman präsent, und zwar hauptsächlich durch die Briefe, die er an Mademoiselle Reisz schreibt und in denen Edna das Hauptthema ist. Ist also das verbindende Element zwischen den beiden zum einen das Meer und die Natur, so ist es zum andern die Kunst, die in Mademoiselle Reisz personifiziert ist. In Ednas Besuchen bei ihr wiederholt sich der aufwühlend-inspirierende Einfluss der Musik, als Mademoiselle Reisz, während Edna einen Brief Roberts liest, dasselbe Impromptu Chopins wie auf Grand Isle spielt und dieses improvisierend in die Klänge von Isoldes Liebestod aus Wagners Tristan und Isolde übergehen lässt. Ednas in der Imagination und in der Vermittlung der Kunst fortgeführte Romanze mit Robert ist einerseits der Kontrapunkt zu den Konflikten ihrer gesellschaftlichen Emanzipation, andererseits bezieht sie aus ihr auch einen Teil der Kraft, die sie für diese Emanzipation benötigt. Mademoiselle Reisz' „divine art" (99) ist somit ein wichtiges Medium von Ednas Selbst-
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findung, aus dem sie den Mut zur Selbständigkeit und freigewählten Individualität gewinnt. Doch die Trennung der Kunst vom Leben und ihre vollständige Absonderung von der gesellschaftlichen Realwelt, die Mademoiselle Reisz' sozial isolierte Existenz kennzeichnet, ist gerade nicht das, was Edna und der Roman anstreben. Die Pianistin trägt ständig dieselben unansehnlichen Kleider und stets dieselbe künstliche Blume im Haar, ihre Wohnung ist steril und unwirtlich, die Büste Beethovens staubbedeckt. Erst durch ihre von Edna vollzogene Transformation in vitale Beziehungshaftigkeit wird die selbstreferentielle Kunst von Mademoiselle Reisz lebendig und gewinnt sie kommunikative Realität. Es ist kein Zufall, dass Edna von Roberts Rückkehr in Mademoiselle Reisz' Wohnung erfährt und dass sie ihn ausgerechnet dort nach ihrer langen Trennung überraschend wiedersieht. Und es ist andererseits - in der Logik der Motiventfaltung des Romans - ebenso wenig ein Zufall, dass sie Robert, nachdem er sich aus konventioneller Scheu von ihr fernhält, in dem pastoralen Ambiente eines versteckten Gartenlokals wiedertrifft, dessen naturnahe Atmosphäre an die Insel Chênière Caminada erinnert. Von hier aus treibt die Handlung, in einer Art symphonischen Hochsteigerung der verschiedenen Motive, ihrem mehrfach gebrochenen Höhepunkt zu. Zuerst wird Edna aus dem „promise of excessive joy" (124), den die fast schon erreichte Vereinigung mit Robert bringt, durch Madame Ratignolles Intervention gerissen und durch die wider Willen miterlebte Geburt und das Verschwinden Roberts in einen schockartigen Zustand der Desillusionierung versetzt. Danach erlebt sie eine erneute, radikale Stimmungsveränderung, als sie in einem wie traumatisierten Zustand zur Feriensiedlung nach Grand Isle fährt und dort, statt zu dem eigens für sie zubereiteten Dinner, zum verlassenen Meeresstrand geht. Auf dem Weg dahin streift sie die Gedanken an ihre problematischen zwischenmenschlichen Rollen und Beziehungen immer mehr ab, bis sie allein am Ufer steht und sich mit allen Sinnen dem überwältigenden Eindruck der See öffnet. Diese letzte Stufe des Erwachens Ednas im Roman ist kein Gegensatz zu den vorherigen Stufen, sondern deren konsequente Radikalisierung. Die Wiederherstellung der gebrochenen Beziehung von Kultur und Natur, Geist und Körper, den Edna von Anfang an und immer stärker erfährt und personifiziert, wird im Ablegen ihrer Kleider noch einmal verbildlicht und explizit als Erlebnis der Wiedergeburt imaginiert: „How Strange and awful it seemed to stand naked under the sky! How delicious! She felt like some new-born creature, opening its eyes in a familiar world it had never known." (136) Und es ist genau aus diesem Impuls des Erwachens, aus dem sie ins Wasser steigt und weit ins Meer hinausschwimmt, so weit, bis ihr keine Möglichkeit der Rückkehr mehr bleibt. Sie führt damit einen Wunsch ins Extrem, der bereits in jener Nacht, als sie im Anschluss an Mademoiselle Reisz' Konzert schwimmen lernte, von ihr Besitz ergriff: „to swim far out, where no woman had swum before." (46) Sie ist in diesem Sinn wie eine Pionierin, die ohne Rücksicht auf Gefahren eine neu zu entdeckende Dimension weiblicher Realität erkundet. Die erotische Einfärbung
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dieses nun existentiell gewordenen „adventure out there in the water", mit dessen harmloser Variante einst ihr .Awakening' und ihre Romanze mit Robert begann, ist deutlich nicht nur in ihrer Charakterisierung als „Venus rising from the foam" (134), sondern auch in der Anthropomorphisierung der See zu einer Art Geliebtem, von dem sie sich umfangen fühlt: „the touch of the sea is sensuous, enfolding the body in its soft, close embrace." (136) Der reflexive Aspekt ihres Erwachens im Sinn transgressiver individueller Selbstverwirklichung verbindet sich hier erstmals ungebrochen mit dem relationalen Aspekt des Aufgehens im Andern, das sie sich schon bei Robert wünschte - „we shall be everything to each other" (130) - , das aber erst hier, in ihrer Vereinigung mit dem mythologischen ,Meergeist', den Robert einst erwähnte, möglich wird. Das entschlossene Hinausschwimmen in die Wellen ist gerade nicht einfach ein resignatives InsWasser-Gehen, sondern ein bewusster Willensakt und eine Fortführung jenes Wegs zum aktiven, selbstbestimmten Verhalten, den sie gegangen ist; es ist aber gleichzeitig auch eine Selbstaufhebung und ein Aufgehen im Anderen der Natur, das sich als verlorene Einheit und tieferes alter ego des menschlichen Selbst darstellt. 4.5 Dionysische Kunst und unendliche Lebensmelodie: Tod und symbolische Wiedergeburt Nun wäre allerdings der Eindruck falsch, als würde die Entwicklung Ednas auf der Handlungs- und Charakterebene linear auf dieses Ende zulaufen. Vielmehr wurde oben schon betont, dass diese Entwicklung sowohl aufgrund unkontrollierbarer Umwelteinflüsse wie auch von widersprüchlichen Impulsen des eigenen Selbst vor allem durch Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit gekennzeichnet ist. Gerade die handlungs- und bewusstseinsbestimmende Rolle des Unerwarteten und Unausrechenbaren wird zu einem wesentlichen Merkmal des Textes, das dem Planungs- und Verfügungsdenken zivilisatorischer Vernunft entgegengerichtet ist. Wie Edna ist auch der Roman jenen „deeper undercurrents of life" (115) auf der Spur, die sich einem logozentrischen Zugriff entziehen und alle festgefügten Erwartungsmuster sprengen. In einer konventionell durchgeplanten Kulturwelt, in der sich Edna zu Beginn bewegt, kann sich der Drang nach ganzheitlicher Selbstfindung nur erratisch, in Form von ungeplanten Verhaltensweisen und Abweichungen vom Erwarteten äußem. Dies gilt auch für den Schluss des Romans, der sich wiederum aus einer unerwarteten Wendung des Geschehens - und des Verhaltens Ednas - ergibt. Die ständige Durchbrechung von Erwartungen, das Volatile und Unausrechenbare als Merkmal eines vertraute Kategorien überschreitenden Lebensprozesses kennzeichnet sowohl die Geschehensebene des Textes wie die Form seiner ästhetischen Kommunikation mit dem Leser. In dieser nichtlinearen, vom Erwarteten abweichenden Bewegung des Textes wird der Weg geöffnet für eine Entdeckung dessen, was einem linearen Handlungs- und Charaktermodell unzugänglich bleibt. Die
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symbolische ,Lösung' des Romanendes steht in dieser paradoxen Kontinuität des Nichtlinearen, dieser Ästhetik der Erwartungssteigerung durch ständige Erwartungsdurchbrechung, die ein immer neues ,Erwachen' aus der stets drohenden Verfestigung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen bewirkt. Dieses Abweichen vom Fixierten und Vermeiden dauerhafter Festlegungen ist also nicht nur negativ, als Absetzbewegung vom Konventionellen, konnotiert, sondern positiv als eigenständige kreative Energie, die die rational unverfügbare Dimension des ,Lebendigen' im Bewusstsein und in den Beziehungen der Figuren aufspürt und imaginativ zur Geltung bringt. Die zentrale Bildlichkeit im Roman für diese Verflüssigung fester Kategorien und Lebensbezüge ist die des Wassers, die mit Vorstellungen des Fließens, Strömens, der Wellenbewegung, ihrem Hin und Her und Auf und Ab verbunden ist. Dieser „oceanic discourse", wie ihn ein Kritiker nannte,15 kommt an den imaginativen Höhepunkten des Romans - dem Erleben der Musik im Konzert von Mademoiselle Reisz, und dem Erleben des Meers am Ende - am markantesten zum Ausdruck, wirkt sich aber auch auf die Entwicklung und Darstellung des sonstigen Geschehens aus. Er lässt Edna durch ihren Kontakt mit dem Meer in die eskalierenden Turbulenzen ihres Lebens stürzen, bildet aber auch mit seinem leitmotivisch aufgebauten Glücksversprechen einen Gegenpol, der die imaginäre Aufhebung der Gegensätze in einer kosmischen Einheit des Seins verheißt. Hierin entspricht er dem Kindheitserlebnis Ednas auf der Sommerwiese in Kentucky, bei dem sie ja bereits ihr Sich-Öffnen für das Leben im Bild des Schwimmens in einem ihr unendlich scheinenden Ozean imaginiert hatte. An dieses Erlebnis knüpft ihr Erwachen im Roman an, und noch bevor sie tatsächlich das Schwimmen lernt, fühlt sie sich auf Grand Isle in ihrem neu entdeckten Selbst in jenes Gefühl zurückversetzt: „sometimes I feel this summer as if I were walking through the green meadow again; idly, aimlessly, unthinking and unguided." (35) Das Hinausschwimmen ins Meer in der Nacht von Mademoiselle Reisz' Konzert, und dann wieder am Schluss des Romans, ist also eine narrative Ausfaltung dieses bereits von Anfang an Ednas Erwachen begleitenden ,ozeanischen Diskurses', der das Entdecken des Neuen zugleich als Wiederentdecken eines Vertrauten, und das Ziel seiner ex-zentrischen Bewegung als Rückkehr ins Zentrum des Lebens selbst inszeniert. Ednas innere Verbindung zu diesem transgressiv-regressiven Gegendiskurs, der die zivilisatorisch gebrochene Beziehung zu einer ursprünglichen Lebenseinheit ästhetisch zum Ausdruck bringt, wird vor allem durch das Leitmotiv der „voice of the sea" hergestellt, das sich in verschiedenen Variationen wiederholt.
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Christophe Den Tandt, „Oceanic Discourse, Empowerment and Social Accommodation in Kate Chopin's The Awakening and Henrik Ibsen's The Lady from the Sea," in G. Debusscher and Marc Maufort, (eds.), Union in Partition ': Essays in Honour of Jeanne Delbaere, Liège, 1997: 71-79.
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„The voice of the sea is seductive, never ceasing, whispering, clamoring, murmuring, inviting the soul to wander in abysses of solitude." (136) In der lautmalerischen Vergegenwärtigung dieses ewig wechselnden und doch gleichbleibenden Rhythmus und Klangs der See wird Ednas tieferes Selbst spürbar und in den ästhetischen Prozess des Textes umgesetzt. Nicht nur Ednas eigene Stimme ist „seductive" wie die der See, auch die Erzählerstimme wird an manchen Stellen, wo sie jede narrative Distanz aufgibt, in der variierenden Wiederholung derselben Sprach- und Motivsequenzen gleichsam selbst zu jener „voice of the sea", die der rationalen Realitätskontrolle die Verführung zum Eintauchen ins Transrationale, zum gefahrvoll-faszinierenden Abenteuer der Sinne und des Unbewussten gegenüberstellt. Sie gleicht darin dem Sirenengesang des Mythos, der in der geschichtsbestimmenden Dialektik der Aufklärung durch die Vernunft entmachtet wurde und der in Gestalt der Kunst als „Revolte der Natur" wiederkehrt. 16 Der Entzauberung der Welt durch die rationalisierte Moderne steht ihre Remythisierung durch die künstlerische Imagination gegenüber, die freilich nicht mehr konsistente Gegenentwürfe hervorbringt, sondern ihre Faszination aus den gleichsam imaginär freischwebenden „Suggestionen einer geistig-physisch oszillierenden Lebendigkeit und Vitalität" bezieht.' 7 Edna verlässt in dieser Sicht zunehmend den Bezirk vernunftgelenkter zivilisatorischer Selbstdisziplinierung und lässt sich vom Sirenengesang der ästhetisierten Natur ,verführen', bis hin zur letzten Verführung im Akt ihrer Selbstaufgabe an das Meer. Auf der Ebene des Romans entspricht dem eine leitmotivische Suggestions- und Kompositionstechnik, die die im Text aktivierten, heterogenen Stimmungen und Erfahrungsbereiche zum Klangteppich einer ,unendlichen Melodie' verwebt, ähnlich der in Tristan und Isolde realisierten Musikästhetik Richard Wagners, die mit Mademoiselle Reisz' Klavierspiel explizit in den Roman eingebracht wird. Alle wichtigen Motive sind von Anfang an im Roman präsent und laufen, in jeweils wechselnden Gestalten und Konfigurationen, auseinander und wieder zusammen, sind vielfach miteinander verflochten, bekämpfen und übersteigern einander, bis sie am Schluss zu einem spannungsreich-spannungsaufhebenden Finale zusammenfließen. Die Anklänge an Wagners Tristan in The Awakening sind zum einen auf der Handlungsebene unverkennbar, nämlich in der Romanze von Tristan und Isolde, die sich wie diejenige Ednas und Roberts in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als unrealisierbar erweist und ihre Erfüllung erst im Tod findet, im Liebestod Isoldes, deren Gesang bei der Vereinigung mit dem toten Geliebten wie ein intertextuelles Motto für das Ende von Chopins Roman wirkt: „In des Welt-
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Vgl. dazu Tschachler, 1990.· 7ff. - Vgl. auch den Aufsatz von Lynda S. Boren, „Taming the Sirens: Self-Possession and the Strategies of Art in Kate Chopin's The Awakening", Kate Chopin Reconsidered: 180-96. Pfeiffer, 1999: 35.
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II. Interpretationsteil
atems wehendem All / Ertrinken, Versinken / Unbewusst, höchste Lust." Der wesentliche Unterschied zu Tristan liegt allerdings darin, dass bei Chopin die symbolische Vereinigung des Selbst mit dem Anderen nicht mit einem menschlichen Liebhaber, sondern mit der außermenschlichen Natur stattfindet und dass sich die Bildlichkeit, die Isoldes innere Gefühlswelt beschreibt, gleichsam ins äußere Geschehen des Romanendes umsetzt. Zudem wird die starke Spiritualisierung des Eros in Tristan bei Chopin nicht mitvollzogen, sondern wird im Motiv des Schwimmens der Vollzug elementarer Lebenseinheit vielmehr ausdrücklich in das ,Medium' des Körpers verlagert. 18 Musikalische Grenzerfahrung setzt sich in körperliche Grenzerfahrung um, und beide sind Ausdrucksfelder derselben vorsprachlich-transrationalen Erfahrungsdimension, die Ednas Bewusstwerdungsprozess gegen die Verkürzungen einer zweckrational-konventionsbeherrschten Kulturwelt zur Geltung bringt. Gleichzeitig ist aber auch ästhetisch eine Affinität zu Wagners Musik und zum Prinzip des durch intermediale Erweiterung und Verdichtung des künstlerischen Ausdrucks gekennzeichneten Gesamtkunstwerks zu erkennen. Die u n endliche Melodie', die in Tristan das einheitsstiftende Element dieser die menschliche Individualität zu höchster Intensität steigernden und zugleich im präindividuellen Lebensstrom aufhebenden Kunst bildet, ist in The Awakening die Stimme der See und der den Text durchwirkende ,oceanic discourse'. Wie bei Wagner ist dies aber keine nur einstimmige oder harmonische, sondern eine vielstimmige, uneindeutige, von Dissonanzen durchsetzte Melodie. In der Unbestimmtheit seiner Chromatik, die das bis dahin gültige diatone Gefüge der abendländischen Musik aufzulösen beginnt, weist Wagners Tristan mit der Etablierung eines dionysisch-vormodernen Kunstbegriffs zugleich auf die Moderne, auf die Neue Musik des 20. Jahrhunderts, voraus. In ähnlicher Weise, wenn auch in weniger offensichtlicher experimenteller Radikalität, weist Kate Chopins The Awakening in seiner kreativen Regression auf die Unbestimmtheit der elementaren Natur, deren Bedeutungspotential erst durch die komplexe Adaption und Transformation intertextueller und intermedialer Einflüsse erschließbar wird, auf die literarische Moderne voraus. Der eine dieser Einflüsse, den Chopin verarbeitet, ist der der europäischen Avantgarde des späteren 19. Jahrhunderts 19 von Wagner über die Präraffaeliten bis hin zum Jugendstil, durch den Musik und Malerei, 20 Sport und Oper21 in den 18
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Das Schwimmen als Sport und Körperertüchtigung war, wie von Heynitz darlegt, erst der New Woman des ausgehenden 19. Jahrhunderts gestattet und Zeichen von deren Emanzipation aus der domestic role. Vgl. von Heynitz, 1994: 108ff. Vgl. hierzu Dieter Schulz, „Notes Towards a fin-de-siècle-Reading of Kate Chopins's The Awakening", American Literary Realism, 25, 3, 1993: 69-76. Zum Einfluss der Malerei vgl. Kathryn Lee Seidel, „Picture Perfect: Painting in The Awakening", Critical Essays on Kate Chopin, ed. Petry, 1996: 227-36. Hierin entspricht der Roman der These Pfeiffers, dass der literarische Text in der nachklassischen Zeit zunehmend die Einbeziehung anderer Medien betreibt, um das ge-
4. Chopin, The
Awakening
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Text einbezogen und auf vielfältige Weise miteinander verbunden werden. Der andere ist der des amerikanischen Transzendentalismus, der ja auf seine Weise eine enge Wechselbeziehung von Text und Leben, Kultur und Natur wiederherstellen wollte und der s.einen künstlerisch wohl stärksten Ausdruck in Whitmans Dichtung fand. Diese ist denn auch ebenfalls in The Awakening präsent, insbesondere mit „Out of the Cradle Endlessly Rocking", das gewissermaßen den Versuch darstellt, die rhythmischen Geräusche der Meeresbrandung in Dichtung umzusetzen. Der Versuch, die vorsprachliche Ursprache des Meers zu entziffern und als Quelle der eigenen poetischen Kreativität zu aktivieren, führt bei Whitman zur Herausformung des einen Schlüsselworts, des alles Leben erst ermöglichenden Wortes „death", mit dessen onomatopoetischer Wiederholung das Meer auf die Sinnfrage des Dichters antwortet: „Whereto answering, the sea / ... Lisp'd to me the low and delicious word death, / And again death, death, death, death". Auch The Awakening ist wie gesehen auf einer wichtigen Ebene der Versuch, die „voice of the sea", d.h. die vorsprachliche Sprache der Natur in ästhetische Form zu ,übersetzen.' Auch hier liegt die Antwort auf die mit dem Schicksal der Protagonistin gestellte Sinnfrage in der Akzeptanz des Todes als der untrennbaren anderen Seite des Lebens. Doch die Erkundung des Bedeutungspotentials des Meers, die am Schluss in Ednas Hinausschwimmen ihre narrative Klimax findet, endet nicht in der bloßen Hinnahme des Endes. Sie führt vielmehr in der Auflösung des bewussten Selbst zurück zu einem neuen Anfang. Nachdem Edna zunächst noch einmal Erinnerungen an ihren Mann, ihre Kinder und ihre Lebensängste durch den Kopf flackern, steigen, je weiter sie hinausschwimmt, Bilder aus der Kindheit in ihr auf, die sie am Ende in eine sinnlich-betörende Stimmung der sommerlichen Natur versetzen: „There was the hum of bees, and the musky odor of pinks filled the air." (652) - so lautet der letzte Satz des Romans. Am Ende von Ednas symbolischem Weg aus der kulturellen Entfremdung steht nicht der Triumph des Thanatos, sondern die erotisch eingefärbte Affirmation des Lebens. 22 Dieses ist allerdings hier nicht mehr individuell oder anthropozentrisch gefasst, sondern als elementarer Zusammenhang des Lebendigen, in dessen Prozess des Werdens und Vergehens der Mensch eingebettet ist. Die diony-
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schwundene Potential eigener spektakulärer Inszenierungen zu kompensieren. Wichtig erscheinen ihm hier vor allem die Oper auf der einen und der Sport auf der anderen Seite (Das Mediale und das Imaginäre). Ich meine allerdings, dass es nicht nur auf die Konstruktion möglichst spektakulärer oder erlebnisstarker Momente in der Literatur ankommt, sondern auf deren Einbeziehung in einen mehrdimensionalen, auch kognitiv produktiven sprachlichen Deutungs- und Bedeutungsprozess, in den Autor wie Leser in der ästhetischen Erfahrung, die stets zugleich ein Akt der Entdeckung und Selbstentdeckung ist, verstrickt werden. Zum Verhältnis von Thanatos und Eros im Roman aus feministisch-psychoanalytischer Sicht vgl. Cynthia-Griffin Wolff, „Thanatos and Eros: Kate Chopin's The Awakening", in Keesey (ed.), 1992: 241-55.
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II.
Interpretationsteil
sische Kunst Kate Chopins demonstriert hier noch in der äußersten Paradoxie des Romanendes die kulturökologische Funktion der Literatur, die die Erneuerung und Revitalisierung ihrer Kultur bewirkt, indem sie deren ausgegrenztes Anderes als Quelle ihrer Kreativität aktiviert und das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft an das biophile Gedächtnis der menschlichen Gattung zurückbindet. Die in der Kritik vieldiskutierte Frage, ob der Schluss des Romans als Resignation und Ednas ,Selbstmord' als Weltflucht und Ausdruck einer selbstzerstörenden Psychose, oder ob er als Erfüllung eines sinnhaften Prozesses der Selbstfindung im Sinn einer „literature of deliverance"23 zu sehen ist, lässt sich von hier aus neu formulieren, wenn man sie auf unterschiedliche Konzeptionen der Literatur und des Romans zurückführt. Denn die erste Lesart setzt ein realistisch-mimetisches Verständnis von Literatur voraus, das Literatur primär inhaltlich sieht und von ihr die identifikationsstiftende Darstellung menschlichen Verhaltens erwartet, während die zweite ein symbolisch-psychologisches Verständnis von Literatur impliziert, das diese als Medium imaginativ inszenierter Sinnprozesse auffasst, deren Bedeutungen sich eigendynamisch gegenüber der außertextlichen Realität aufbauen. Der hier nachgezeichnete Entfaltungsprozess des Romans zeigt, dass es sich sowohl um einen realistischen wie um einen hochgradig symbolischen Roman handelt und dass diese beiden Pole nicht im Sinn einer binären Opposition verstanden werden können, sondern gerade ihr ästhetisches Zusammen- und Gegeneinanderwirken den Textprozess bestimmt. Die kulturelle Realwelt wird in verschiedenen Aspekten in deutlich konturierter Weise repräsentiert - Kapitalismus, Kreolenwelt, Geschlechtersystem - , aber zugleich in einen symbolischen Verweisungskontext einbezogen, in dem sie kritisch distanziert und in ihrem Geltungsanspruch infragegestellt wird; und die symbolische Gegenwelt von Ednas Bewusstsein, ihrer Romanze mit Robert und ihrer mythopoetischen Beziehung zum Meer wird einerseits in ihren imaginären Anteilen voll herausgebildet, andererseits gewinnt sie als Gegenmacht zur kulturellen Realwelt ihrerseits erlebte Wirklichkeit. Die kulturökologische Dynamik des Textes, die hier herausgearbeitet wurde, erschließt sich weder einem nur realistisch-mimetischen noch einem rein symbolisch-mythographischen Zugang. Vielmehr ist gerade die funktionale Wechselbeziehung der Pole von Realitätssystem und imaginativem Gegendiskurs, von konfliktorischer Konturierung und komplexer Reintegration kulturell getrennter Erfahrungsbereiche der entscheidende Vorgang des Textes, der erst in der ästhetischen Kommunikation mit dem Leser sein individuelles und kulturelles Bedeutungspotential gewinnen kann.
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Radcliffe-Umstead, 1990.
5. Toni Morrison, Beloved: Fiktionale Geschichtsverarbeitung zwischen historischem Trauma und biophiler Regeneration
Der Sprung von Chopins The Awakening zu Toni Morrisons bekanntestem und erfolgreichstem Roman, Beloved, ist beträchtlich, einmal was die Thematik und die Stil- und Formkonzeption anbelangt, zum andern aufgrund des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds, aus dem heraus sie geschrieben sind. Der eine Roman beschäftigt sich mit dem individuellen Entfremdungs- und Selbstbefreiungsprozess einer Frau, der andere mit dem kollektiven Schicksal der unterdrückten Schwarzen zur Zeit der Sklaverei; der eine bedient sich der Mittel des Realismus und der künstlerischen Moderne, der andere verbindet Elemente der afroamerikanischen Folklore mit Zügen postmodemen und postkolonialen Erzählens; der eine ist aus der Perspektive einer weißen Oberschicht geschrieben, die sich auf einer gesicherten materiellen Lebensbasis mit ihren Sinn- und Identitätsproblemen auseinandersetzt, der andere aus der Perspektive von schwarzen Sklaven, die sich in einem ständigen, existentiellen Überlebenskampf befinden und deren unaussprechlichem Leid der Roman nachträglich eine Stimme verleiht. Beloved gilt manchen Kritikern geradezu als Modellfall für eine spezifische Ästhetik der afroamerikanischen Literatur, die aus der Matrix einer eigenständigen kulturellen Tradition heraus geschaffen und ausdrücklich für ein schwarzes Lesepublikum gedacht sei.' In der Tat ist bei Morrison der Einfluss afroamerikanischer Traditions-, Sprach- und Erzählformen prägend und unverwechselbar. Hierzu gehören die mündlichen Formen des story-telling, die das Buch nach Auffassung einer Kritikerin in einen „speakerly text", ein „talking book" verwandeln2 und maßgeblich zur Aufarbeitung der traumatisierenden Vorgeschichte der Charaktere beitragen. Dazu gehört die Rhythmisierung der Erzählweise im Stil von Blues und Jazz, die stets wie improvisierend zwischen dunklen und hellen Registern, Konsonanz und Dissonanz wechselt und disparate Motivstränge in überraschenden Verbindungen zusammen- und wieder auseinander führt, ohne je den Zustand einer abschließenden Synthese zu erreichen. Dieser Ein-
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Vgl. z.B. Trudier Harris, Fiction and Folklore: The Novels of Toni Morrison, Knoxville: U of Tennessee P, 1991. K.F.C. Holloway and Stephanie Demetrakopoulos, New Dimensions of Spirituality: A Biracial and Bicultural Reading of the Novels of Toni Morrison, N.Y., Greenwood Press, 1987.
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II.
Interpretationsteil
druck der improvisierenden Vorläufigkeit, Unbestimmtheit und open-endedness ist es, den Morrison von Jazz und Blues in ihre Romane übernimmt: „Jazz always keeps you on the edge. There is no final chord ... There is something underneath that is incomplete ... I want my books to be like that." 3 Die Straße, an der das Haus 124 steht, das den Mittelpunkt der Handlung bildet, heißt nicht zufallig Bluestone Road, was man einerseits als „Blue Stone", andererseits aber auch als „Blues-Tone", also den Ton des Blues repräsentierend, verstehen kann, der hier in seiner Mischung aus Melancholie und subversiver Lebensaffirmation den Grundton des Romans vorgibt. Die Fortführung afroamerikanischer Traditionen in Beloved bezieht sich aber auch auf schriftliche Formen der Literatur. Eine davon ist das slave narrative, die erste wichtige Äußerungsform der Schwarzen in der amerikanischen Literatur, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Klima des Abolitionismus und der zunehmenden Konfrontation zwischen Nord- und Südstaaten zu einer verbreiteten Textsorte wurde, deren vorgegebene Muster allerdings von Morrison auf die Innensicht der Schwarzen geöffnet werden und im radikalisierten Versuch der Annäherung an eine zutiefst problematische Vergangenheit ihre narrative Tragfähigkeit und Kohärenz verlieren. 4 Toni Morrison knüpft aber thematisch und stilistisch auch an eine Form des Schreibens an, wie sie in den 30er Jahren von Zora Neale Hurston geprägt und erst in den 1970er Jahren von Autorinnen wie Alice Walker als Inspirationsquelle einer weiblich geprägten schwarzen Literatur der Gegenwart wiederentdeckt wurde. Ziel und Inhalt von Hurstons Texten war es, über die kritische Konfrontation der weißen Zivilisation hinaus, die in der männlich geprägten Literatur der Schwarzen ihrer Zeit, etwa bei Richard Wright, vorherrschte, die Geschichte, Lebensweisen und kreativen Ausdrucksformen der afroamerikanischen community selbst, insbesondere auch aus der Erfahrung und Sichtweise von Frauen, in den Blickpunkt zu rücken und als kulturelles und ästhetisches Potential zu nutzen. In diesem Kontext der neueren afroamerikanischen Frauenliteratur muss Toni Morrisons Roman werk, und muss insbesondere Beloved gesehen werden, das in vielerlei Hinsicht geradezu als Kulminationspunkt dieser Entwicklung erscheint. 5
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N. McKay, „An Interview with Toni Morrison", Contemporary Literature, 24, Winter 1983: 413-29. Inhaltlich verändern sich vor allem zwei Dinge: einmal waren die slave narratives an ein weißes Publikum gerichtet und ließen daher alle für diese möglicherweise provozierenden Aspekte - vor allem Extremformen der Brutalität und jede Form der Gewalt gegen Weiße - aus; zum anderen fehlte in ihnen die Innensicht der Schwarzen, die in Morrisons Roman gerade in den Mittelpunkt gestellt wird. Vgl. dazu etwa C. Boyce Davies, Black Women, Writing, and Identity: Migrations of the Subject, London: Routledge, 1994; Gina Wisker (ed.), Black Women's Writing, New York: St. Martin's, 1993.
5. Morrison,
Beloved
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Von hier aus gesehen scheint zunächst die Kluft zu Klassikern des amerikanischen Romans wie Hawthorne, Melville und Twain, aber auch zu Chopin fast unüberbrückbar zu sein, denen als Vertreter des weißen literarischen Establishments in der Lesart der politisch-neuhistorischen Orthodoxie geradezu eine diametral entgegengesetzte Position zu der postkolonialen afroamerikanischen Schriftstellerin zugewiesen wird. Wenn die Romane hier dennoch unter dem Aspekt der kulturellen Funktion von Literatur zusammengebracht werden, so impliziert dies die Annahme einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit trotz aller historischen, ideologischen, kulturellen und ästhetischen Unterschiede, die hier keineswegs geleugnet oder überdeckt werden sollen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass es sich bei diesen Unterschieden nicht um bloße Gegensätzlichkeiten handelt, sondern dass es vielfältige Beeinflussungen und intertextuelle Wechselwirkungen gibt, in denen die Romane stehen und die weder in ethnischkultureller noch in literarisch-ästhetischer Hinsicht eindeutige Zuordnungen und Grenzziehungen ermöglichen. Morrison ist nicht auf eine in irgendeiner Weise ,reine' oder gar separatistische schwarze Literaturästhetik festzulegen. Charakteristisch für die postkoloniale Art des Schreibens, die sie praktiziert, ist nicht der monokulturelle, sondern der hybride Text, der eindeutige Identitäts- und Zuordnungsmuster eher verweigert als favorisiert. Gerade die spannungsreiche Verbindung von afro- und euroamerikanischen Literaturformen dürfte zur thematischen Explorationskraft und zur außergewöhnlichen sprachlich-ästhetischen Produktivität von Morrisons Romanen beitragen. Innerhalb der euro-amerikanischen Literatur ist Morrison wohl mit am deutlichsten von William Faulkner beeinflusst, mit dem sie, wie mit Hawthorne, die Erforschung der Vergangenheit als nachwirkender Vorgeschichte und unbewältigter Substruktur der jeweiligen Gegenwart gemeinsam hat.6 Vergleichbar mit Faulkner und doch auch wieder ganz anders gestaltet ist die hochgradig polyphone Anlage der Texte, der Perspektivenwechsel in die Innenwelten verschiedener Subjekte hinein, wodurch sich , Realität' aus einer vermeintlich objektiven, monolithischen Gegebenheit in eine Vielfalt von Aspekten, Erlebnisformen und Deutungsweisen auffächert, ohne andererseits ihre Verbindlichkeit als intersubjektiv wirksamer Bedingungshorizont individueller Erfahrungen und Lebensmöglichkeiten zu verlieren. Vergleichbar ist auch das nichtlineare Erzählverfahren, das verschiedene Zeitebenen mischt und so das unaufhebbare Ineinanderwirken von Vergangenheit und Gegenwart, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zum narrativen Prinzip macht. Die rationale Bewusstseinsebene wird hinterschritten auf das Unbewusste, das durch Verfahren wie den inne-
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Zum Verhältnis Monisons zu Faulkner vgl. z.B. Philip Weinstein, What Else but Love? The Ordeal of Race in Faulkner and Morrison, New York: Columbia UP, 1996; Unflinching Gaze. Morrison and Faulkner Re-Envisioned, eds. Carol A. Kolmerten et al., Jackson: UP of Mississippi, 1997.
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II. Interpretationsteil
ren Monolog, die Assoziationstechnik und den Bewusstseinsstrom in den Text einbezogen wird. Stärker noch als bei Faulkner ist der Erzählvorgang bei Morrison auf die Sicht und Erlebnisweise von Außenseiterfiguren, Ohnmächtigen, Gescheiterten und Sprachlosen fokussiert, denen im Text eine Stimme und eine anderweitig nicht gegebene Artikulationsmöglichkeit eröffnet wird. Dadurch wird mit den Mitteln der literarischen Imagination zur Sprache gebracht, was anderweitig nicht zur Sprache gebracht werden kann, und wird das in den verfügbaren kulturellen Kategorien Unsagbare gleichwohl in narrativ-symbolischen Annäherungsformen sagbar gemacht. In Morrisons Beloved ist diese literarische Grundparadoxie aufs Äußerste zugespitzt und ausgeweitet auf ein zentrales historisches Trauma der amerikanischen Geschichte, die Sklaverei, das der Roman aus der Sicht ihrer sprachlosen Opfer zur Sprache bringt, womit er zugleich einen Prozess der Vergegenwärtigung und symbolischen Bewältigung jenes kulturgeschichtlich verdrängten historischen Traumas leistet. 5.1
Geschichte und Fiktion
Beloved beschäftigt sich mit einer äußerlich gesehen weit zurückliegenden Epoche. Das Geschehen, das der Roman behandelt, spielt zwischen den 40er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, also zwischen der Zeit der Sklaverei, die 1873, in der Erzählgegenwart des Romans, schon eine Reihe von Jahren zurückliegt und aus der Sicht der unmittelbar Betroffenen erst in schmerzhafter Erinnerungsarbeit rekonstruiert wird, und der Zeit nach dem Bürgerkrieg und der Sklavenbefreiung, die noch massiv von den moralisch und psychologisch destruktiven Folgen der Sklaverei geprägt ist. Diese Phase erscheint gleichwohl als eine Schlüsselzeit in der Geschichte der USA, die auch heute noch von eminenter Aktualität ist. Für eine schwarze Leserschaft bedeutet sie die Erinnerung an erlittenes und fortwirkendes historisches Leid, dessen Langzeitfolgen bis heute in der Desintegration von Familienstrukturen, Wertsystemen und kulturellen Traditionen spürbar sind. Für eine weiße Leserschaft andererseits stellt jene Zeit insofern eine besondere Herausforderung dar, als Morrison das Skandalon der Sklaverei ganz unverkennbar als amerikanischen Holocaust präsentiert, dessen Aufarbeitung gerade auch für die Weißen, wie verspätet auch immer, unabdingbare Voraussetzung für ein angemesseneres Verständnis ihrer eigenen Geschichte und Gegenwart ist. Morrison hat in ihren Text so weit verfügbar dokumentarisches Material eingearbeitet, wobei ihr als Quelle u.a. das Black Book von 1973 diente, eine von Middleton Harris herausgegebene Sammlung, die ein breites Spektrum politischer, alltagsgeschichtlicher und populärkultureller Dokumente über das Leben amerikanischer Schwarzer aus verschiedenen Epochen enthält. 7 Beloved ist so-
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The Black Book, ed. Middleton Harris, New York: Random House, 1974.
5. Morrison, Beloved
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mit auf einer wichtigen Ebene bewußt als fiktionale Auseinandersetzung mit der ,realen' Geschichte der Schwarzen in Amerika angelegt. Die unterschiedlichen Quellen, die Morrison einbezieht, sind allerdings nicht explizit als solche kenntlich gemacht, sondern in ihren Inhalten in den Erzählvorgang und in die fiktionale Handlungs- und Figurenkonstellation integriert. Das historische Material wird also zugleich imaginativ transformiert, insofern es einerseits auf verallgemeinerbare typische Problemstrukturen und Lebensformen hin durchleuchtet und andererseits an individuellen Einzelschicksalen veranschaulicht wird. Hinzu kommt, dass die überlieferten Dokumente über die Schwarzen überwiegend aus der Sicht Weißer verfaßt oder durch sie mitgeprägt sind. Erst durch den Akt der Fiktionalisierung wird die Innensicht der Schwarzen, die Morrison vermitteln will, rekonstruierbar und repräsentierbar. Indem sie die vergessenen Opfer der Geschichte ins kulturelle Gedächtnis hebt, ermöglicht die literarische Imagination eine Annäherung an eine geschichtliche Wahrheit, die in den historisch überlieferten Fakten als solchen nicht in dieser Weise zugänglich wird. Gerade die, die in den Dokumenten der Zeit, aber auch in späteren Geschichtsdarstellungen, nur als sprachlose Objekte auftauchen, kommen in Beloved zu Wort und werden in ihren Gesprächen, Gedanken und Empfindungen in den Mittelpunkt gerückt. Erst aus der Polyphonie und dem Dialog ihrer Stimmen, ihrer subjektiven Erinnerungen und Erlebnisweisen heraus entsteht im Roman das Bild eines .Systems' der Sklaverei. Diese Einbeziehung und gleichzeitige fiktionale Transformation historischen Materials wird auch an der entscheidenden Szene deutlich, um die herum sich der Roman aufbaut. Sie geht auf einen authentischen Fall zurück, in dem das Problem der Sklaverei zu einem ausweglosen moralischen Dilemma auch für ihre Opfer zugespitzt ist. Es ist der Fall der Sklavin Margaret Garner, die 1856 mit ihren vier Kindern, ihrem Mann und dessen Eltern aus Kentucky nach Cincinnati, Ohio, also in den sklavenfreien Norden, flüchtete. Als sie dort von den durch die Polizei unterstützten Verfolgern gefunden wurde und keinen Ausweg mehr sah, schnitt sie ihrer kleinen Tochter die Kehle durch und versuchte vergeblich, auch die anderen Kinder zu töten, um sie vor der Rückkehr in die Sklaverei zu bewahren. 8 Morrison stellt also einen Fall in den Mittelpunkt, in dem eine Mutter zum ultimativen Tabubruch und zur schlimmsten vorstellbaren Gewalttat getrieben wird, dem Mord an ihrem Kind, um die Menschenwürde dieses Kinds aufrechtzuerhalten. Diese grundsätzliche Problemkonstellation wird in Beloved beibehalten. Gleichzeitig nimmt Morrison aber einige signifikante Veränderungen vor, die ein Licht auf die spezifische Art und Weise ihrer Fiktionalisierung der Geschich-
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Zum Fall der Margaret Gamer vgl. v.a. das Buch von Steven Weisenburger, Modem Medea: A Family Story of Slavery and Child-Murder from the Old South, New York: Hill and Wang, 1998.
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II.
Interpretationsteil
te werfen. Zum einen gelingt Sethe, der Hauptfigur von Beloved, allein mit ihren Kindern die Flucht und wird sie ohne ihren Mann und dessen Eltern von den Sklavenfängern aufgespürt, nachdem sie immerhin 28 Tage und nicht, wie Margaret Garner, nur wenige Stunden in Freiheit war. Daraus ergibt sich der zweite Unterschied, nämlich dass Sethe sich nicht, wie die Garners, zunächst in einem Haus verschanzt und mit Waffengewalt gegen die Festnahme wehrt, sondern beim Auftauchen der Verfolger sofort ihre Kinder in die Scheune bringt und mit ihrem blutigen Verzweiflungsakt beginnt. Und drittens wird Sethe nach der Tat zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und danach freigelassen, während die reale Margaret Garner in ihrem Prozess zwar viele Sympathien gewann, anschließend aber an ihren Besitzer zurückgegeben wurde. Die erste Veränderung deutet wohl darauf hin, dass Morrison der Rolle und Perspektive der Frau ein besonderes Gewicht verleihen und deren Überlebensfähigkeit noch unter den widrigsten Bedingungen, und unabhängig von konventionellen Rollenmustern, darstellen wollte. In der eigenständigen Flucht der hochschwangeren Sethe, die unterwegs ihr viertes Kind zur Welt bringt und es mit Hilfe einer jungen, geistesverwirrten weißen Frau und eines schwarzen Helfers der Underground Railroad schafft, sich zu ihrer bereits in Freiheit befindlichen Schwiegermutter Baby Suggs durchzuschlagen, wird deutlich ein feministischer Akzent gesetzt. Der Umstand, dass es bei Morrison, wiederum anders als in der historischen Realität, nicht zum Kampf zwischen den runaway slaves und den Sklavenjägern kommt, unterstreicht, dass es im Roman weniger um äußere als um psychologische und moralische Konflikte geht. Und dass schließlich Sethe nicht, wie Margaret Garner, nach ihrem Prozess in die Sklaverei zurückgebracht wird, sondern nach Verbüßung ihrer Strafe freikommt, verdeutlicht den affirmativen Zug des Textes, der die bloße Konfrontation vergangenen Schreckens übersteigt, indem er aus dessen imaginativer Aufarbeitung die Möglichkeiten eines Neuanfangs für die Figuren des Romans - und damit symbolisch auch für die Schwarzen in Amerika - erkundet. 5.2 Die Repräsentation der Sklaverei als traumatisierendes Realitätssystem und das death-in-life-Motiv Die Institution der Sklaverei wird in Beloved in unterschiedlichen, ja scheinbar gegensätzlichen Ausprägungen vorgeführt. Auf der einen Seite gibt es die völlig dehumanisierten, anonymen Menschenfarmen, auf denen die Schwarzen wie Arbeitstiere und Reproduktionsmaschinen gehalten werden. Dies gilt etwa für die Plantage, wo Sethe geboren wurde und auf der sie ihre Mutter nur als eine von vielen, anonymen Feldarbeiterinnen wahrnimmt. Es gilt für das Straflager in Alfred, Georgia, in das Sethes späterer Freund Paul D gebracht wurde, nachdem er einen tyrannischen Sklavenbesitzer attackierte, und das wie ein Konzentrationslager mit terroristischem Wachpersonal und ausgeklügelten Foltermethoden angelegt ist. Und es gilt vor allem für das brutale, rein auf ökonomisches
5. Morrison,
Beloved
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Kalkül aufgebaute Regime Schoolteachers, als dieser die Kleinplantage Sweet Home von dem unter dubiosen Umständen ums Leben gekommenen Vorbesitzer Mr. Gamer übernimmt. Sweet Home ist der ironisch so benannte Hauptschauplatz der Sklavenvergangenheit der wichtigsten Romanfiguren, um den sich die Vorgeschichte der mehrsträngigen Handlung zentriert. Hier wurde von Mr. und Mrs. Garner in der Tat zunächst für viele Jahre eine außergewöhnlich freie und ,humane' Form der Sklavenhaltung praktiziert, die über längere Zeit hinweg die Erfahrung der Romanfiguren bestimmte. Die Welt von Sweet Home konnte allerdings nur in der vollständigen Isolation von der größeren gesellschaftlichen Außenwelt existieren, und die positiven Selbstbilder, die die Schwarzen dort entwickelten, mussten sich nachträglich als bloße Illusion erweisen. Immerhin wurde keine Gewalt ausgeübt und wurden die Sklaven nicht, wie anderswo üblich, zwangsweise zum Zweck der Fortpflanzung miteinander gepaart. Sethe konnte sich sogar selbst ihren Mann Halle aussuchen und mit diesem sechs Jahre zusammenleben, und dieser konnte wiederum seinerseits durch mehrjährige zusätzliche Sonntagsarbeit seine Mutter Baby Suggs von Mr. Garner loskaufen und nach Cincinnati in die Freiheit bringen lassen. Aber der Schein der Selbständigkeit und Humanität überdeckte schon damals nur die tatsächlichen Verhältnisse. Im Regime Schoolteachers aber, der nach Mr. Garners Tod die Plantage übernimmt, kommt das eigentliche Wesen des kulturellen Realitätssystems, auf dem die Sklaverei aufbaut, gleichsam in ideologischer Reinform zum Ausdruck. Schon von seinem Namen und seiner Rolle her verkörpert Schoolteacher den dominanten Wissensdiskurs seiner Zeit. Sein Management der Plantage ist zwar einerseits besonders zynisch und nur auf wirtschaftlichen Profit hin angelegt, gründet sich aber andererseits zugleich auf die Autorität der Wissenschaft und auf den zivilisatorischen Überlegenheitsanspruch der christlichen Religion. Diese Ideologie zivilisatorischer Überlegenheit erlaubt es, die Schwarzen als Untermenschen zu betrachten, die auf den Status eines lebenden, selbstreproduzierenden Kapitals reduziert werden, und die dennoch erst in der Obhut der Weißen die wahre Bestimmung ihres Daseins finden können. Das Monströse und Diabolisch-Indifferente von Schoolteachers System der Sklaverei ist insofern in Morrisons Deutung kein Gegensatz zur modernen Zivilisation, sondern vielmehr deren Selbstpervertierung, die aus ihrer eigenen Fortschrittsideologie hervorging. In ihm finden die zentralen Szenen der Dehumanisierung statt, durch die die Haupthandlung des Romans - die Flucht Sethes, der Kindsmord, und die spätere Aufarbeitung ihres Traumas - initiiert wird. Eine dieser Szenen findet in der Schule statt, die Schoolteacher in Sweet Home für die beiden jugendlichen Neffen unterhält, die er auf die Plantage mitgebracht hat und von der die Schwarzen ausgeschlossen sind. Sethe wird zufällig von außen durchs offene Fenster Zeugin einer Unterrichtseinheit, deren Gegenstand sie selbst ist und in der unter Anleitung Schoolteachers und auf der Grundlage einer vorherigen Vermessung ihres Körpers von den Schülern ihre
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II.
Interpretationsteil
„menschlichen" und „tierischen" Eigenschaften aufgeschrieben und einander gegenübergestellt werden. Diese für das 19. Jahrhundert durchaus typische Erniedrigung zum Objekt pseudo-wissenschaftlicher Rassenstudien wird später von den beiden gelehrigen Neffen gleichsam in der Praxis angewandt, indem sie Sethe im Stall festhalten und ihr die Milch, die sie für ihre kleine Tochter in der Brust trägt, gewaltsam nehmen. Was diese Szene impliziert, ist nicht nur die Demütigung einer anderen Rasse, sondern auch die Negation der lebensspendenden Kraft der Frau innerhalb des natürlichen Versorgungskreislaufs und der körperlichen Austauschbeziehung mit ihrem Kind. Die Degradierung von anderer Rasse und weiblichem Geschlecht bedeutet mithin gleichzeitig auch die Verachtung der menschlichen Natur aus einer zivilisatorischen Selbstüberhebung heraus, wie sie Schoolteacher personifiziert. Er ist Asket mit strenger Arbeitsauffassung, umgeben von einer Atmosphäre der emotionalen Kälte, erotischen Sterilität und zwischenmenschlichen Indifferenz, der seine Neffen konsequent als Gehilfen für seine Zuchtanstalt des zivilisatorisch', d.h. hier vor allem ökonomisch zugerichteten Menschen heranzieht. Die Gewalt, mit der dieser Machtanspruch sich in Sweet Home äußert, zeigt sich symptomatisch, als Sethe auf Geheiß Schoolteachers hin von einem der Neffen ausgepeitscht wird, nachdem sie Mrs. Garner von dem Vorfall im Stall erzählte. Ihr Körper verwandelt sich in eine klaffende Wunde, die ihr noch achtzehn Jahre später, in der Erzählgegenwart des Romans, den Rücken zerfurcht und als groteske, einem Baum ähnelnde Narbenlandschaft zurückgeblieben ist. Zwar geht selbst Schoolteacher diese extreme Misshandlung zu weit, doch allein deshalb, weil sie in seinen Augen eine irrational übersteigerte Reaktion darstellt, die letztlich zu Sethes Flucht führt und so den Wert seines Eigentums schädigt. Bei allen wichtigen Romanfiguren bringt die Sklaverei solch traumatisierende Erfahrungen mit sich. Sie führen zur Paralyse vitaler Lebensimpulse und zu einem Zustand des death-in-life, dessen Motivik in verschiedensten Ausprägungen den Roman durchzieht. Bei Sethe tritt er ein nach der Tötung Beloveds und setzt sich gewissermaßen fest im Zustand der langjährigen Verdrängung der Vergangenheit und der Selbstisolation von der Gemeinschaft, in dem sie seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im Haus 124 außerhalb des Orts lebt. Das Haus wird von dem Geist des verstorbenen Kinds heimgesucht, als der symbolischen Präsenz der unbewältigten Vergangenheit. Erst als achtzehn Jahre nach der Flucht von Sweet Home und dem Kindsmord die Gegenwartshandlung des Romans mit der Ankunft Paul Ds einsetzt, der Sethe von Sweet Home her kennt, bricht der Lähmungszustand auf. Der Poltergeist wird von Paul D vorläufig vertrieben, woraufhin allerdings die Aufarbeitung der latenten Dauerkrise erst richtig beginnt, da die tote Beloved sich nun als reale Person innerhalb der Handlungswelt reinkarniert. Auch bei Paul D hatte die Sklavenvergangenheit traumatisierende Folgen. Nachdem er bereits auf Sweet Home den Wechsel von den Garners zum Terrorsystem Schoolteachers erlebte, ist der Tiefpunkt für ihn in der Strafkolonie in
5. Morrison, Beloved
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Alfred, Georgia, erreicht, wo er wie ein Tier in einen Käfig gesperrt wird und versucht, jedes Gefühl für das ,Leben' in sich völlig abzutöten. „Eighty-six days and done. Life was dead."9 Aus diesem ,Tod-im-Leben'-Zustand kann er sich nach der Flucht aus der Strafkolonie erst mühsam in vielen Jahren der Wanderschaft und schließlich in der gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit mit Sethe befreien. Auch Denver, Sethes auf der Flucht geborene jüngste Tochter, die allein mit ihr im Haus 124 wohnt, ist lange Zeit von den Folgen der Katastrophe betroffen, in die ihre Mutter geriet. Sie lebt in fast völliger Isolation von der Außenwelt und in Unkenntnis der Vorgeschichte Sethes als Kindsmörderin in einem Zustand bewusstloser Selbstentfremdung. Als sie schließlich zufällig davon erfährt, löst dies bei ihr einen Schock aus; sie wird für zwei Jahre taub, und wird von einem wiederkehrenden Alptraum heimgesucht, in dem ihr ihre Mutter den Kopf abschneidet und ihr anschließend die Haare flicht - ein Traum also, der die abgründige Ambivalenz ausdrückt, in die ihre Mutterbeziehung geraten ist. Auch bei ihr beginnt ein eigenständiges Leben erst neu zu erwachen, als mit dem Auftauchen Paul Ds und der Rückkehr von Beloved die Vergangenheit wieder lebendig wird und explizit mit der Gegenwart in eine neue Beziehung gebracht werden kann. 5.3 Rememory und imaginativer Gegendiskurs: Die Aufarbeitung des Traumas und die Revitalisierung paralysierter Lebensenergien Die Bilanzierung der destruktiven Auswirkungen der Sklaverei ist aber nun, wie bereits gesagt, nicht als objektiv identifizierbare Aussagebene des Textes zu sehen, sondern in die Erinnerungsarbeit der Figuren und des Romans selbst hineingewoben, in dessen Erzählvorgang verschiedene Szenen der Vergangenheit und Gedächtnisfragmente zeitlich ineinandergeschachtelt und assoziativ aneinandergereiht werden, so dass sich erst allmählich ihr innerer Zusammenhang herausbildet. Nicht in linearen Sequenzen, sondern in immer neuen Annäherungsbewegungen werden die ins Unbewusste abgesunkenen Schlüsselereignisse umkreist und aus jeweils unterschiedlich erlebten Perspektiven reaktiviert. Dies geschieht teils in unwillkürlich-reflexartiger, teils in bewusst-reflektierender, teils in dialogischer Weise, teils aber auch aus einem die Figuren übergreifenden Erzählerbewusstsein heraus, das etwa die Höhepunktsszene des Kindsmords aus wechselnden Blickwinkeln, einschließlich dem des Sheriffs und von Schoolteacher, schildert. Hier kommt das Prinzip der von Morrison so genannten rememory zur Geltung, das davon ausgeht, dass nichts, was geschieht, jemals ganz verschwindet, sondern als eine für sich bestehende Tiefenschicht der Realität stets virtuell präsent ist und daher der persönlichen oder kollektiven
9
Toni Morrison, Beloved, Harmondsworth: Penguin/Signet, 1991: 134. Die Seitenangaben in Klammern hinter dem jeweiligen Zitat beziehen sich auf diese Ausgabe.
164
II.
¡nterpretationsteil
Erinnerung zugänglich bleibt. Rememory ist eine Verbindung des Verbs remember und des Substantivs memory, und bezeichnet so das Zusammenwirken von aktiver Aneignung und eigendynamischer Wiederkehr des Vergangenen, aber auch von Fragmentierung und Wieder-Zusammenfügung des Getrennten, wie es in Beloved kennzeichnend ist. Aus diesem Prozess der Erinnerung des Verdrängten entfaltet sich ein imaginativer Gegendiskurs, der unmittelbar an die traumatischen Erfahrungen der Figuren anknüpft und mit besonderer semiotischer Intensität zur Geltung bringt, was in dem von Schoolteacher in Extremform repräsentierten ökonomisch-instrumentellen Zivilisationssystem ausgegrenzt und unterdrückt wird. Er stellt der aggressiv-hierarchisierenden Kategorisierung der Welt und der Negation des Natürlichen ein holistisch-kooperatives Prinzip der Dignität des Menschen in seiner Interrelation mit allem Lebendigen gegenüber. Er verbindet sich mit der Bildlichkeit der Natur, der Körperlichkeit, der Sinne, des Gefühls und insbesondere der Liebe, die schon vom Titel Beloved her den Text bestimmt und elementare Regenerationskräfte des Lebens für die Betroffenen wieder neu zugänglich macht. Diese gegendiskursive Umdeutung der traumatischen Vergangenheit wird exemplarisch deutlich an einem zentralen Symbol des Textes, der tief verzweigten Rückennarbe Sethes, die ihr von Sweet Home geblieben ist und die zugleich die Gestalt eines Baums angenommen hat. Die Semiose dieses Zeichens von der körperlichen Spur ihres Leids zum Zeichen eines regenerativen Lebenskreislaufs, den der Baum symbolisiert, ist ein Vorgang, der den Roman als ganzen kennzeichnet und in die verschiedensten Verzweigungen seiner Textur hinein wirksam ist. Auf der Ebene der Figurenbeziehung wird er vor allem am Verhältnis zwischen Paul D und Sethe sichtbar, das den Romanprozess wesentlich mitstrukturiert. Beide scheinen in besonderer Weise mit regenerativen Naturkräften und Sinnstiftungsenergien in Verbindung zu stehen. Als Paul D in der Strafkolonie von Alfred, Georgia, an dem Punkt angelangt ist, an dem er seinen Lebenswillen vollständig abgetötet zu haben meint, gelingt ihm und seinen Mitgefangenen mit Hilfe des einsetzenden großen Regens, also des im gesamten Roman wichtigen Elements des Wassers, auf fast wunderbare Weise die Flucht. Von den Cherokee-Indianera, die er versteckt vor den Weißen in entlegenen Wäldern trifft und die von einer mysteriösen Krankheit befallen auf ihr Ende warten, erhält er den entscheidenden Hinweis, wie er in die Freiheit gelangen könne, nämlich indem er zu Fuß der Baumblüte nach Norden folgt. Er hält sich an diesen Rat, der ihn schließlich, gewissermaßen als Botschafter des Frühlings und der in der abgestorbenen Naturwelt neu erwachenden Lebensenergie, nach Ohio und zu Sethe bringt, deren Rückennarbe, wie gesagt, ihrerseits die Gestalt eines Baums angenommen hat. Diese Natur und Gefühle ernstnehmende Haltung hat bei Morrison nichts mit Sentimentalität oder Idealisierung zu tun. Im Gegenteil hilft sie, die Phänomene jenseits vorurteilshafter Verzerrungen erst wieder als sie selbst wahrzu-
5. Morrison,
Beloved
165
nehmen: „Emotions sped to the surface in [Paul Ds] company. Things became what they were: drabness looked drab; heat was hot. Windows suddenly had view." (49) In dieser erneuerten Wahrnehmungsfähigkeit liegt gewissermaßen eine ,ästhetische' Komponente in Paul Ds Natur- und Realitätszugang, die durchaus auch für den Roman verallgemeinert werden kann. Denn auch in diesem verbindet sich die möglichst wahrheitsgetreue Wahrnehmung des So-Seins der Dinge einschließlich ihrer negativen Seiten, und entgegen ihrer Vereinnahmung durch abstrakte Schemata, mit einer affirmativen Haltung gegenüber der konkreten Vielgestaltigkeit des Seins, gegenüber den Energien eines sich ständig neu darstellenden und doch in wiederkehrenden Grundmustern sich reproduzierenden Lebensprozesses. Nichts an diesem Prozess ist endgültig fixierbar und isolierbar, alles ist Energie, Austausch, Wandel, Kontakt und Transformation. Und Paul Ds Rolle im Roman ist es, dieses Fließen und spannungsreiche Wechselspiel der Kräfte gegen die Erstarrung der Gefühle, des Denkens und der Lebensformen zur Geltung zu bringen, wie sie zu Beginn das Haus 124 beherrscht. Aber auch die Figur Sethes, die durch den Kindsmord zur Medea-Figur wird und unfreiwillig den Mechanismus des lebenszerstörenden Machtsystems fortsetzt, dem sie entkommen will, ist vor ihrem Verzweiflungsakt ebenfalls stark durch eine Motivik elementarer Lebensvollzüge und eine enge Austausch- und Korrespondenzbeziehung zu konkreten Naturprozessen charakterisiert. Schon das Motiv der Milch, die ihr in Sweet Home geraubt wird und die sie nachher für ihr auf der Flucht geborenes Kind wieder neu verfügbar hat, betont die in der afrikanischen Tradition wichtige Rolle der Mutter als Lebensspenderin, die freilich später im Roman sowohl übersteigert als auch ins Gegenteil verkehrt wird. Auf der Flucht von Sweet Home rettet das weiße Mädchen Amy sie mit Hilfe von Naturheilmitteln vor dem Tod, u.a. mit Spinnweben, die sie auf die vom Auspeitschen offene Rückenwunde legt: „,Your back got a whole tree on it. In bloom.' ... Amy returned with two palmfuls of web, which she cleaned of prey and then draped on Sethe's back, saying it was like stringing a tree for Christmas." (98) Nach der Ankunft im Haus 124 dauert Sethes neugewonnene Freiheit nicht zufällig 28 Tage, also einen weiblichen Fruchtbarkeitszyklus lang, bevor sie von Schoolteacher eingeholt wird. Darüber hinaus stellt ihr Name selbst diese Verbindung her. Sethe ist die weibliche Form des Namens Seth, des Mannes, den ihre Mutter liebte und nach dem sie ihre Tochter benannte. Seth ist einerseits in der altägyptischen Mythologie der Gegenspieler und Mörder seines Bruders Osiris, also eine negative, destruktive Kraft, wie sie ja auch Sethe in ihrem Kindsmord darstellt; Seth ist andererseits in den Apokryphen der Sohn von Adam und Eva, der nach der Legende vom Erzengel Michael einen Zweig vom verbotenen Baum im Paradies erhielt, um seinen sterbenden Vater Adam zu heilen. Da bei seiner Rückkehr sein Vater bereits tot war, pflanzte Seth den Zweig auf Adams Grab, wo er zu einem Baum heranwuchs, aus dessen Holz das Kreuz
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II. Interpretationsteil
gemacht wurde, an dem Jesus starb. 10 Die Motivik von Tod und Erneuerung, die mit dem Symbol des Baums verknüpft ist, ist also bereits in Sethes Namen mitkonnotiert. Sethes Tochter Denver trägt, als Vertreterin einer neuen Generation, in besonderem Maß das Potential von Veränderung und Neuanfang in sich, was bereits dadurch betont wird, dass sie genau am Ohio-Fluss, also an der Grenze zwischen Sklavenstaaten und freiem Norden, zur Welt kam und von dort unter lebensbedrohlichen Umständen in die Freiheit gebracht wurde. Für Stamp Paid, den Helfer der Underground Railroad, der sie im letzten Moment vor der Tötung durch ihre Mutter rettete, ist Denver „charmed", mit einem besonderen Überlebenszauber ausgestattet. Durch sie wird ihre Großmutter Baby Suggs zu einem großen Fest angeregt, zu dem alle Bekannten aus dem Ort eingeladen werden und das in einer Art wunderbaren Brotvermehrung biblische Dimensionen annimmt, aber aufgrund ebendieser ,Hybris' zugleich zum negativen Wendepunkt im Verhältnis von Haus 124 zur Gemeinschaft des Orts wird. Dennoch repräsentiert Baby Suggs auch nach ihrem Tod ein Erbe, an das die Figuren in der Handlungsgegenwart anknüpfen können. Baby Suggs, die von ihrem Sohn Halle einst von Sweet Home freigekauft wurde und zu der Sethe flüchtete, war zwar ebenfalls schwer von der Vergangenheit gezeichnet - ihre Hüfte war stark geschädigt, ihre acht Kinder tot oder vermisst - , doch hatte sie in ihrer spät gewährten Freiheit eine außergewöhnliche spirituelle Ausstrahlungskraft gewonnen, die sie zum kommunikativen Mittelpunkt der schwarzen Gemeinschaft machte. Das Haus 124 an der Bluestone Road wurde zum Nachrichtenzentrum und Treffpunkt der Underground Railroad, und in Zeremonien in einer Waldlichtung trat Baby Suggs als eine Art Prophetin und charismatische Priesterin auf, die einer vielköpfigen Versammlung von Schwarzen nach der Entmündigung der Sklaverei ein neues Bewusstsein ihrer selbst zu vermitteln versuchte. Zentrale Botschaft war die Liebe zum eigenen Körper und zum eigenen Selbst, das in der Sklaverei negiert wurde. Noch in der Erinnerung erscheint Baby Suggs für die von alptraumhaften Halluzinationen der Vergangenheit gequälte Sethe wie eine heilende Macht, die unmittelbar mit der Körperlichkeit, der Sprache und der Musik der Schwarzen verbunden ist: „She wished for Baby Suggs' fingers molding her nape, reshaping it, saying, ,Lay em down, Sethe. Sword and shield. Down. Down. Both of em down. Down by the riverside. Sword and shield. Don't study war no more. Lay all that mess down. Sword and shield.'" (105) Wie die Erinnerungen keine abgrenzbaren Vergangenheitsbereiche markieren, so sind also auch die Charaktere in Morrisons Roman nicht in sich abgegrenzte Identitäten, sondern repräsentieren Energiefelder, die über Zeit und Raum hinweg und über die Bewusstseinsgrenzen einzelner Individuen hinaus
10
Peter Calvocoressi, Who's who in der Bibel, München: DTV, 1990: 253.
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Beloved
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wirksam sind. Um diese transindividuelle und transrationale Dimension menschlicher Beziehungen zu vermitteln, ist indessen ein realistischer Modus der Präsentation nicht hinreichend. Die bisher skizzierte fiktionale Problemkonzeption bewegt sich zwar an der Grenze eines gewohnten Wirklichkeitsverständnisses, bleibt aber, was die Auffassung der dargestellten Welt anbelangt, noch weitgehend innerhalb eines wiedererkennbaren logisch-kausalen Realitätszusammenhangs. Der Roman bedient sich jedoch noch einer zusätzlichen Darstellungsform, die häufig mit dem Begriff „magischer Realismus" umschrieben wird und die nichtrationale, übernatürliche und phantastische Phänomene unmittelbar in die erzählte Geschichte einbezieht und innerhalb der dargestellten Realität selbst wirksam werden lässt." Beloved gehört hierin zu einer Grundrichtung der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wie sie vor allem in der lateinamerikanischen, indianisch-amerikanischen oder eben in der afro-amerikanischen Literatur verbreitet ist. Gegenüber dem rational-modernistischen Weltbild der abendländischen Kultur wird hier bewusst ein prämodernes, an mythische Traditionen nichtwestlicher Kulturen anknüpfendes Weltverständnis aktualisiert und fiktional umgesetzt. Im Fall von Morrison wird durch die Einbeziehung mündlicher Erzählformen, rituelle Sprachgestaltung, Songs, Rhythmisierung und surreale Wahrnehmungserweiterung nicht nur eine ästhetische Intensitätssteigerung erzielt, sondern wird ein magisches Weltbild reaktiviert, das durch die Verwendung phantastischer Elemente aus dem Umkreis der Voodoo-Tradition verstärkt und explizit gemacht wird. Der Voodoo oder Vodoun, der aus Nordwestafrika kommt, wurde zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert von Sklaven nach Haiti und anderen westindischen Inseln gebracht, mischte sich dort mit Elementen des Katholizismus und der einheimischen Naturreligionen und wurde im 20. Jahrhundert von Autorinnen wie Hurston oder eben auch Morrison bewußt für die literarische Selbstrepräsentation der Schwarzen genutzt.12 Dabei geht es weniger um den Voodoo als religiöses System als um ein eigenständiges, mythopoetisches Repertoire aus der kulturellen Folkloretradition der Schwarzen, das hier für die literarische Imagination aktiviert wird.
11
12
Der Begriff des magischen Realismus hat freilich eine Vorgeschichte in der europäischen Kunst und Literatur, die seine Verwendung im Bereich außereuropäischer Literaturtraditionen mit erheblicher Unschärfe belastet. Vgl. Michael Scheffel, Magischer Realismus: Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung, Tübingen: Stauffenburg-Verl., 1990. Immerhin weisen die Texte, die mit der Stilbezeichnung realismo magico innerhalb einer wichtigen Ausprägung der neueren lateinamerikanischen Literatur - die sich z.T. bis auf Hawthorne zurückberuft - charakterisiert werden, Parallelen zu ähnlichen Tendenzen in der Literatur der Schwarzen und der Indianer in den USA auf. Zu diesem weiteren Kontext des magischen Realismus vgl. Magical Realism. Theory, History, Community, eds. and intr. Lois Parkinson Zamora and Wendy B. Fans, Durham and London: Duke UP, 1995. Vgl. z.B. Sämi Ludwig, „Grotesque Landscapes: African American Fiction, Voodoo Animism, and Cognitive Models", in Mapping African America: History, Narrative Formation, and the Production of Knowledge, Maria Diedrich et al. (eds.), Hamburg, 1999: 189-202.
168 5.4
//.
Interpretationsteil
D i e Figur von B e l o v e d als Personifikation des imaginativen Gegendiskurses
Dieser Einbruch des Imaginären kommt in Beloved im wohl spektakulärsten Zug des Romans zum Ausdruck, der Rückkehr der getöteten Tochter als ,reale' Person in die Handlungswelt des Buchs. Ihr Status bleibt freilich von Anfang ein besonderer, aus der Normalwelt herausgehobener. Die Differenz des Imaginären zum Realen bleibt in ihrer Figur durchgängig als Irritationsmoment aufrechterhalten.13 In ihrem geheimnisvollen Auftauchen aus dem Wasser in voller Kleidung, ihrem inkongruenten Aussehen, ihrem teils zeitlupenhaft-schlafwandlerischen, teils spontan-bezaubernden, teils explosiv-unberechenbaren Verhalten wirkt sie weniger wie ein intaktes Individuum als wie eine hyperreale Erscheinung, die allerdings zugleich durchaus konkret-körperlich gegenwärtig ist und mit den anderen Figuren interagiert. Morrison beschreibt das Auftauchen Beloveds folgendermaßen: A fully dressed woman walked out of the water. She barely gained the dry bank of the stream before she sat down and leaned against a mulberry tree. All day and all night she sat there, her head resting on the trunk in a position abandoned enough to crack the brim in her straw hat. Everything hurt but her lungs most of all. Sopping wet and breathing shallow she spent those hours trying to negotiate the weight of her eyelids. The day breeze blew her dress dry; the night wind wrinkled it. Nobody saw her emerge or came accidentally by. If they had, chances are they would have hesitated before approaching her. Not because she was wet, or dozing or had what sounded like asthma, but because amid all that she was smiling. It took her the whole of the next morning to lift herself from the ground and make her way through the woods past a giant temple of boxwood to the field and then the yard of the slate-grey house. Exhausted again, she sat down on the first handy place - a stump not far from the steps of 124. By then keeping her eyes open was less of an effort. She could manage it for a full two minutes or more. Her neck, its circumference no wider than a parlor-service saucer, kept bending and her chin brushed the bit of lace edging her dress. (63)
Beloveds Auftauchen erinnert hier an eine Geburt, aber auch an eine Rückkehr vom Tod, sie wirkt wie eine Ertrunkene, die sich mühsam ins Leben zurückrettet, aber auch wie ein Wesen, das sich gerade im Zustand der Metamorphose befindet und im Begriff ist, einen neuen, unbekannten und doch instinktiv vorausgewussten Daseinszustand anzunehmen. Sie ist durchnässt, aber voll angekleidet und trägt somit als Naturwesen zugleich einen kulturellen Kontext mit sich. Die Spuren der Vergangenheit sind noch zu erkennen an dem dünnen, vernarbten Hals, den sie kaum gerade halten kann, und zwei Kratzern an der Stirn.
13
In diesen Qualitäten des Phantastischen und Telepathisch-Parapsychologischen, also der .magischen' Verkörperung gegendiskursiver imaginärer Energien ähnelt Beloved in ihrer Funktion dem scharlachroten Buchstaben bei Hawthorne, dem Vorläufer des ,magischen Realismus' des späteren 20. Jahrhunderts. Aber auch in der revisionistischen Haltung zur Geschichte gibt es deutliche Parallelen zwischen beiden Romanen: Vgl. Charles Lewis, „The Ironie Romance of New Historicism: The Scarlet Letter and Beloved Standing Side by Side", Arizona Quarterly, 5 1 , 1 , 1995: 32-60.
5. Morrison,
Beloved
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Beloved hat also von Anfang an etwas Faszinierendes, etwas Bemitleidenswertes und etwas Monströses, es ist, als fügten sich die Teile ihrer Person nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammen. Sie sieht zwar äußerlich einer menschlichen Gestalt gleich, wirkt aber innerlich „dismembered" wie Sethes reale Tochter, und sehnt sich gleichsam danach, durch die „rememory" der anderen ihre verlorene Ganzheit zurückzuerlangen. Ihr Verhalten, als sie ins Haus 124 einzieht, ist ebenfalls widersprüchlich. Einerseits zeigt sie wie ein zweijähriges Kind großes Zärtlichkeitsbedürfnis gegenüber Sethe, isst in großen Mengen Süßigkeiten und weiß nichts von ihrer Vergangenheit, andererseits ist sie völlig gebannt und ,nährt' sich gewissermaßen von den Geschichten, die Denver und Sethe ihr erzählen: „Sethe learned the profound satisfaction Beloved got from storytelling. It amazed Sethe... because every mention of her past life hurt. Everything in it was painful or lost. She and Baby Suggs had agreed without saying so that it was unspeakable ... But as she began telling ..., she found herself wanting to, liking it." (72-3) Beloved setzt also durch ihre spezifischen Bedürfnisse den dialogischen Prozess des story-telling erst in seiner ganzen aufklärenden Radikalität und therapeutischen Wirksamkeit in Gang und wird damit, stärker noch als Paul D, zum Auslöser einer rememory, in der sich die zurückkehrende Erinnerung an die vergessene Vergangenheit mit der zunehmenden Fähigkeit zu ihrer Bewältigung verbindet. Beloved ist daher weniger ein individueller Charakter als ein psychodramatisches Medium, Personifikation des imaginativen Gegendiskurses, der sich aus dem Alptraum des zivilisatorischen Realitätssystems entfaltet. Sie repräsentiert die aus der Verdrängung zurückgeholte Vergangenheit, und zugleich die zurückkehrende Kraft der Gefühle, die mit ihrer Tötung durch Sethe innerhalb der Realitätsmacht von Schoolteachers Regime symbolisch zerstört wurden. In der Vorstellungs weit des Voodoo gibt es die Figuren der Loas, Geister der Toten, die noch mehrere Generationen ins Leben eingreifen und dabei positiven oder negativen Einfluß ausüben können. 14 Beloved ist eine solche Loa-Figur. Sie verkörpert einerseits konkret die zweijährige Tochter Sethes, die nach achtzehn Jahren als äußerlich Erwachsene ins Leben zurückkehrt, um ihre Mutter zur Konfrontation und zur Wiedergutmachung ihrer Schuld zu zwingen. Allgemeiner betrachtet verkörpert sie aber auch die schwarzen Opfer der Sklaverei, die „Sixty million and more", denen das Buch gewidmet ist und die damit dem historischen Vergessen entrissen werden. Die Kraft der Liebe und des Geliebtwerdenwollens, die von Beloved ausgeht, kann sich jedoch nicht bruchlos in die veränderte Realität integrieren, sondern bildet sich aus als eine von der Außenwelt abgespaltene Sphäre der Zärtlichkeit, der Sehnsucht und des Begehrens, die in
14
Vgl. dazu Sämi Ludwig, 1999. Interessant an Ludwigs Beitrag ist vor allem, dass er gerade die kognitiven Potentiale nichtwestlicher, scheinbar bloß ,irrationaler' Denk-, Erfahrungs- und Repräsentationsweisen herausarbeitet.
170
II.
Interpretationsteil
ihrer kompensatorischen Übersteigerung durchaus auch etwas Problematisches gewinnt. Immerhin bewirkt ihr Auftauchen zunächst wie durch Zauberkraft das Aufbrechen der jeweiligen Traumatisierungen und die Rückkehr abgestorbener Empfindungen. Über ihre symbolische Opferrolle hinaus erhält Beloved darin zugleich Züge einer Trickster-Figur, wie sie immer wieder in der afroamerikanischen - und übrigens auch in der indianischen - Literatur auftaucht.' 5 Der Trickster verbindet spirituelle mit animalischen Zügen, ist sowohl schöpferisch als auch zerstörerisch tätig, und verkörpert in seiner ständigen Verwandlungsfáhigkeit einen Überlebensimpuls, der noch den schlimmsten Destruktionen konstruktive, regenerative Aspekte abgewinnt. Was nun Beloved anbetrifft, so wird schon ihr Auftauchen nicht zufällig mit dem Karneval parallelisiert, zu dem Paul D Sethe und Denver mitnimmt und durch den eine Öffnung der geschlossenen Familienstruktur stattfindet. Beloved bewegt sich teils träge, teils tanzend, sie lacht und murrt, ist zärtlich und eifersüchtig, wandelt ihre Gestalt, übt unberechenbare Wirkungen auf andere aus. In dieser Nähe zum .Karnevalesken' stellt sie bisher gültige Regeln auf den Kopf, gibt sie unterschwelligen Ängsten und Träumen der Figuren sichtbaren Ausdruck. Als Trickster-Figur bringt sie die anderen zum Erzählen, zum Aufarbeiten der Vergangenheit und ermöglicht damit einen Neuanfang gerade dadurch, dass sie sich selbst am Ende überflüssig macht. Diese hochgradig ambivalente Wirkung von Beloved zeigt sich zunächst gegenüber Paul D. Einerseits erscheint er ihr, wie auch Denver, als Störfaktor in der ersehnten symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Tochter, und wird daher systematisch aus dem Haus gedrängt. Andererseits aber kommt sie nachts zu ihm und ihr Bedürfnis nach Intimität bricht wie eine fremde, unwiderstehliche Gewalt über ihn herein, die ihn in einem Lebensnerv trifft und die Öffnung seiner im Innersten noch immer gelähmten Gefühle bewirkt: die verrostete Tabakdose, in die sein Herz sich seit den Erlebnissen in der Strafkolonie verwandelt hat, springt erstmals wieder auf. „So when the lid gave he didn't know it. What he knew was that when he reached the inside part he was saying, ,Red heart. Red heart,' over and over again. Softly and then so loud it woke Denver, then Paul D himself. ,Red Heart. Red heart. Red heart.'" (144) Die von Beloved eingeforderte Intimität, in der das Heilige sich mit dem Obszönen mischt, wird zu einem Auslöser der psychologischen Selbstbefreiung und der Rückkehr der Gefühle, die Paul D lange unterdrückt hatte. Beloved ist hier sehr stark mit den Rhythmen instinkthafter Naturprozesse assoziiert. Ihr erotisches Erglühen für Paul D gleicht, in der im Text verwendeten Metaphorik, dem Erröten einer Erdbeere (79), ihr Verhalten in der Sexualität dem der Schildkröte, der sie beim
15
Vgl. z.B. Jeanne Rosier Smith, Writing Tricksters. Mythic Gambols in American Literature, Berkeley etc.: U of California P, 1997.
Ethnic
5. Morrison, Beloved
171
Kopulieren zusah (143), und ihr geschlechtlicher Vereinigungsdrang wird mit dem Pulsschlag von Paul Ds sich öffnendem Herz analogisiert. (144) Dieser heterosexuellen Variante der Liebe steht bei Denver die der geschwisterlichen Liebe gegenüber, welche sie, die stets allein mit ihren Gefühlen war, in Beloved entdeckt. Der Blick Beloveds bedeutet für sie erstmals die uneingeschränkte Anerkennung als eigener Person, „being pulled into view by the interested, uncritical eyes of the other." (145). Und um sie an sich zu binden, befriedigt sie Beloveds unersättlichen Drang nach Geschichtenerzählen und trägt damit, gerade aus ihrer Verzauberung durch Beloved, aktiv zum Erinnerungsprozess bei. Gegenüber Sethe wiederum steht die Mutterliebe im Mittelpunkt, sowohl von Seiten Beloveds wie von Sethe selbst. Für Beloved ist Sethe das eigentliche Ziel und Zentrum ihrer Existenz, und um ihre Zuwendung kreisen ihre ganzen Bedürfnisse. Umgekehrt wird Beloved auch für Sethe zum Mittelpunkt ihres emotionalen Lebens. Sie hat lange vor Beloveds Ankunft von dieser geträumt (163), und fühlt sich durch ihre Anwesenheit umso mehr vom Alpdruck ihrer Schuld befreit, je mehr sie im Akt des erzählenden Erinnerns zu spüren glaubt, dass Beloved ihr ihre Tat vergeben hat. Erstmals kehrt Sethes verschwundenes Selbstwertgefühl zurück, ist sie in der Lage, sich selbst wieder als vollwertiger Mensch anzunehmen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die Zeit dar, als Paul D am Ende des ersten Teils des Romans, nachdem er erst jetzt von Sethes Kindsmord erfahren hat, das Haus verlässt, und sich eine symbiotische Beziehung zwischen den drei Frauen herausbildet. Damit geht ein immer tieferes Eintauchen in die Vergangenheit einher, die sich zugleich als Unterbewusstes der Figuren darstellt. Diese Annäherungsbewegung findet ihren Ausdruck in vier inneren Monologen, die nacheinander von Sethe, Denver und Beloved gesprochen werden und die im vierten Monolog ununterscheidbar ineinander übergehen. Jeweils steht dabei, in rituell anmutender Wiederholung und Variation, die Beziehung zu Beloved im Vordergrund: als Mutter, als Schwester, als sie selbst, sowie als Prinzip, das alle miteinander verbindet. Sethes Monolog drückt aus, wie sie sich aus dem Alpdruck befreit fühlt, der sie jahrelang nicht mehr ruhig schlafen ließ. „I can sleep like the drowned, have mercy. She come back to me, my daughter, and she is mine." (251) Denvers Monolog endet in der Überwindung ihrer Angstträume durch Beloveds Liebe: „And I do. Love her. I do. She played with me and always came to be with me whenever I needed her. She's mine. Beloved. She's mine." (258) Beloveds eigener Monolog ist zweifellos einer der sprachlichen Höhepunkte des Romans - auffällig fragmentiert, ein gebrochener, labyrinthartiger Diskurs ohne syntaktische Begrenzungen, in dem ihre persönlichen Ängste und Erinnerungen mit der kollektiven Vergangenheit der Schwarzen überblendet sind. Der Monolog ist gewissermaßen eine sprachlich verdichtete Radikalisierung des Prinzips des Romans, eine Unterweltreise ins Unbewusste der Figuren und in die Tiefendimension der Vergangenheit, die die Gegenwart unaufhebbar mitbestimmt. Er zeigt, wie die rememory die persönliche Erfah-
172
II. Interpretationsteil
rung einzelner in die überpersönliche Erfahrung vieler einbindet, und wie die Erinnerung unaussprechlichen Schreckens in einen wenn auch noch so gebrochenen Rhythmus der sprachlichen Aneignung überführt wird. I am Beloved and she is mine. I see her take flowers away from leaves she puts them in a round basket the leaves are not for her she fills the basket she opens the grass I would help her but the clouds are in the way how can I say things that are pictures I am not separate from her there is no place where I stop her face is my own and I want to be there in the place where her face is and to be looking at it too a hot thing All of it is now it is always now there will never be a time when I am not crouching and watching others who are crouching too I am always crouching the man on my face is dead his face is not mine his mouth smells sweet but his eyes are locked some who eat nasty themselves I do not eat the men without skin bring us their morning water to drink we have none at night I cannot see the dead man on my face daylight comes through the cracks and I can see his locked eyes ... (259)
Hinter dem scheinbaren Chaos dieser Sätze Beloveds werden dennoch die Umrisse konkreter szenischer Inhalte deutlich - zunächst kurz eine Szene, in der ihre Mutter Blumen in einen Korb sammelt, eine momenthafte pastorale Traumvision, vor die sich aber wie undurchdringliche Wolken die Entfremdungsgeschichte schiebt, die Erfahrung der Überfahrt der Schwarzen von Afrika auf der sogenannten Middle Passage, das Eingepferchtsein der Sklaven in den Schiffsrumpf, die allgegenwärtige Erfahrung von Verlust, Vergewaltigung und Tod, die Beloved hier in trancehaft intensivierter Form noch einmal durchlebt. Der Bewusstseinsstrom eines Kleinkinds, der Wellengang des Meers, und die fragmentierten Alptraumszenen eines kollektiven Unbewussten scheinen in diesem Monolog in einer zutiefst widersprüchlichen Bewegung zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen embryonaler Verschmelzungsphantasie und tödlicher Fremdheitserfahrung ineinander überzugehen. Der darauffolgende vierte Monolog schließlich beginnt zwar mit der Stimme Beloveds, wird aber bald zu einem mehrstimmigen Dialog der drei Frauen, in dem der Unterschied zwischen Ich und Anderem sich vollends aufhebt. „You went in the water/I drank your blood / I brought your milk/You forgot to smile/I loved you/You hurt me/You came back to me/You left me I waited for you/You are mine/You are mine/You are mine." (267) Die gemeinsame Unterweltreise der drei Frauen in die Abgründe des eigenen Unbewussten lässt einen ritualisierten, überindividuellen Lebensrhythmus hervortreten, der die desintegrierenden Mächte der Geschichte und des eigenen Ichs in neue Selbstbehauptungs- und Selbstheilungskräfte überführt. In dem inkantatorischen call and response-Muster, das hier mitschwingt, wird noch einmal die Anknüpfung an afroamerikanische Traditionen deutlich, die der imaginative Gegendiskurs des Romans aktiviert.16 Dieser Bezug geht
16
Zur Bedeutung des call and response-Musters für den Roman vgl. Maggie Sale, „Call and Response as Critical Method: African American Oral Traditions and Beloved", African American Review, 26, 1992: 41-50.
5. Morrison, Beloved
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zurück bis in die Zeit, als die mit Denver schwangere Sethe sich auf der Flucht von Sweet Home an die Plantage erinnert, wo sie geboren ist und an den „song and dance" (38) der Schwarzen, den Antilopentanz, den sie damals miterlebte. Dieser aus Afrika mitgebrachte Antilopentanz transformierte die Tänzer inmitten ihrer Gefangenschaft zu anderen, freieren Wesen, deren Bewegungen zugleich den Pulsschlag ihres tieferen Selbst ausdrückten: „And oh but when they danced and sometimes they danced the antelope. The men as well as the ma'ams, one of whom was certainly her own. They shifted shapes and became something other. Some unchained, demanding other whose feet knew her pulse better than she did. Just like this one in her stomach." (38) Auch die kleine Denver in ihrem Schoß verkörpert also diesen Geist der Antilope, diesen Überlebensgeist, der Sethe auf der Flucht immer wieder antreibt und vor dem Aufgeben bewahrt: „But she could not, would not stop, for when she did the little antilope rammed her with horns and pawed the ground of her womb with impatient hooves." (37) Diese revitalisierende Gegenmacht einer aus afrikanischen Ursprüngen bezogenen, gewissermaßen performativen Imagination zeigte sich in anderer Weise bereits in Baby Suggs kommunalen Zeremonien und Beschwörungen des Körpers, und sie kommt in personifizierter Gestalt in den verschiedenen Metamorphosen Beloveds zum Ausdruck. 5.5
D i e Verselbständigung des Imaginären und seine Reintegration mit der kulturellen Realwelt
Genau an dem Punkt der scheinbar erreichten Symbiose der drei Frauen ergibt sich aber ein Problem, das bald zunehmend eskaliert und sich zur Bedrohung für alle Beteiligten auswächst. In ihrem nachgeholten Bedürfnis nach Liebe strebt Beloved die totale Verschmelzung mit Sethe an, was zur Abspaltung der beiden von der Realwelt führt. Dadurch verändert sich der Charakter der imaginären Gegenwelt von einer sinnhaften Alternative zu einer zunehmend angespannten, in sich kreisenden Situation neuer Abhängigkeit und Erstarrung. Durch den Ausschließlichkeitsanspruch Beloveds gegenüber Sethe wird einerseits Denver, wie zuvor schon Paul D, aus der Gemeinschaft hinausgedrängt, andererseits wird Sethe zum Opfer von Beloveds maßlosem Liebesanspruch. Beloved nimmt immer mehr Platz ein und frisst sich dick, während Sethe und Denver anfangen zu hungern, da Sethe in ihrem Bemühen um Wiedergutmachung Beloved jeden Wunsch erfüllt, ihre Außenweltbeziehungen abbricht und schließlich ihren Job verliert. In dieser besitzergreifenden Form der Liebe wird Beloved zu einer destruktiven Kraft. Als wiedergekehrte Tote nimmt sie hier gemäß der Vodoun-Mythologie über die Rolle einer Trickster-Figur hinaus die Züge eines Vampirgeists an, der aus dem Jenseits die Seelen Lebender in Besitz nimmt, um ihre Vitalkraft auszusaugen' Beloved ate up her life, took it, swelled up with it." (307) Die imaginäre Gegenwelt hat sich aus einer lebenssteigernden in eine regressive, lebenszerstörende Energie verwandelt. Aus der
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II.
Interpretationsteil
Verdrängung der Vergangenheit ist deren Übermacht, und aus der Abtötung der Liebe ihr Übermaß geworden, das die lebendige Gegenwart zu ersticken droht. Erst die Wiederherstellung der Beziehung zur Gemeinschaft und zur gegenwärtigen Realität, wie sie im Schlussteil des Romans stattfindet, kann die regenerative Kraft des Imaginären für einen tragfähigen Neubeginn wirksam werden lassen. Die Figur, die diesen Kontakt zur Außenwelt wieder aufnimmt, ist Denver. Sie erkennt, dass nicht nur sie selbst an der Situation leidet, sondern auch Sethe daran zugrunde zu gehen droht. In ihrer Not sucht sie erstmals nach Jahren wieder die Lehrerin auf, bei der sie einst Unterricht hatte und die daraufhin die verarmte Familie mit Essen versorgt. Andere Mitglieder der community schließen sich an, und der Bann, mit dem seit Sethes Tat das Haus belegt war, scheint gebrochen. Überdies findet Denver Arbeit im Ort, durch die sie sich aus der Umklammerung der häuslichen Situation zu befreien hofft. Erst jetzt dringt auch das Gerücht in den Ort durch, dass die tote Beloved als Rachegeist zurückgekehrt sei und Sethe zugrunde richte. Dies wird der Auslöser für den Entschluss von dreißig Frauen, „[who] didn't like the idea of past errors taking possession of the present" (315), den ,bösen Geist' auszutreiben. Das spontan improvisierte Ritual des Exorzismus, zu dem sie sich vor Sethes Haus versammeln, verbindet christliche mit afrikanischen Elementen und hat selbst magisch-visionäre Züge. Als sie vor dem Haus ankommen, sehen sie auf der Treppe statt den Bewohnern sich selbst in verwandelter, verjüngter Gestalt, bewirtet auf jenem großen Fest von der wiederauferstandenen Baby Suggs. Was sie sehen, ist also eine Szene aus dem affirmativen Strang der kulturellen Imagination, den einst Baby Suggs verkörperte und der hier, als lebendig gewordene rememory, für die Gegenwart aktiviert wird. Aus dem Eindruck ihrer Verwandlung heraus beginnen die Frauen einen Gesang, einen hinter die Sprache und hinter die Wörter zurückgehenden „sound", von dessen Wellen Sethe überspült wird wie in einem elementaren Akt der Taufe: „... the voices of women searched for the right combination, the key, the code, that broke the back of words. Building voice upon voice until they found it, and when they did it was a wave of sound wide enough to sound deep water and to knock the pods off chestnut trees. It broke over Sethe and she trembled like the baptized in its wash." (321) Durch diesen Gesang der Frauen, der wie der Roman selbst improvisatorischinnovative mit archaisch-vorsprachlichen Elementen verbindet, findet also die Wiedergeburt Sethes und ihre Re-Initiation in die Gemeinschaft statt. Gleichzeitig ist auch Beloved verwandelt in die Gestalt einer betörend schönen, schwangeren Frau „The devil-child ... had taken the shape of a pregnant woman, naked and smiling in the heat of the afternoon sun." (321) Aus der bedrohlichen Opferund Rachegestalt, zu der sie sich entwickelte, wird sie, in ihrer erneuten Metamorphose als Trickster-Figur, zur Apotheose wiederhergestellter Weiblichkeit und natürlicher Kreativität. Der ,böse Geist', der zu exorzieren ist, hat indessen noch eine andere Seite. Er hat seinen eigentlichen Ursprung im Geist Schoolteachers und des pervertier-
5. Morrison, Beloved
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ten Zivilisationssystems, das er verkörpert. Konsequenterweise taucht auch er in dieser Szene noch einmal symbolisch auf. Hinter den Gesichtern der vor ihr versammelten Frauen sieht Sethe plötzlich die Gestalt eines weißen Mannes auf das Haus zukommen. Sie hält ihn für Schoolteacher, der ihr Beloved noch einmal nehmen will, und wie in Trance stürzt sie mit einem Eispickel auf ihn zu, um ihn zu töten, wird aber von Denver und den andern Frauen gewaltsam davon abgehalten. Beloved, in deren Perspektive die Erzählung dabei übergeht, sieht nur noch das turbulente Chaos des Geschehens vor sich, das Handgemenge und die übereinander fallenden Leiber der Schwarzen, und hinter ihnen, wie eine Erscheinung, die alles überragende Gestalt des weißen Mannes und Sklavenhalters als Ikone des Schreckens, unter dem Beloved und die Schwarzen in der Vergangenheit gelitten haben: „A hill of black people, falling. And above them all, rising from his place with the whip in his hand, the man without skin, looking. He is looking at her." (322) Der Geist des Opfers und der Geist des Täters stehen sich hier unmittelbar gegenüber, und der eine kann nur dann seine Mission erfüllen und verschwinden, wenn auch der andere endgültig ausgetrieben ist. Doch die Situation ist grundlegend anders als in der ersten, realen Szene von Schoolteachers Auftauchen im Hof und Sethes Kindsmord, die hier noch einmal psychodramatisch durchlebt wird. Zum einen richtet sich Sethes Akt des Widerstands und der Selbstbehauptung diesmal nicht gegen ihr eigenes Kind, sondern gegen den Unterdrücker selbst, verliert also seine selbstdestruktiven Züge. Zum anderen aber ist auch das kulturelle Realitätssystem in fundamentalem Umbruch, das der Weiße repräsentiert. Die Zeit der Sklaverei ist wenigstens äußerlich vorbei, und es ist nicht mehr Schoolteacher, der hier auftaucht, sondern der Abolitionist Bodwin, bei dem Sethes Tochter ihren neuen Job antreten wird. Die monströse Erscheinung des weißen Sklavenhalters, wie sie in Beloveds Vision auftaucht, verkörpert noch einmal die traumatische Vergangenheit, die in der Erinnerung der Schwarzen nachwirkt. Doch mit der Verhinderung von Sethes Gewalttat und der Klärung der Situation kann dieser böse Geist aus der Geschichte abtreten, ebenso wie Beloved selbst nach dieser Szene spurlos verschwunden ist wie ein mythisches Wesen, das in sein Element des Wassers zurückkehrt, aus dem es aufgetaucht ist, „a naked woman with fish for hair." (328) Von der Veränderung, die dadurch eintritt, werden alle Hauptfiguren erfasst. Denver löst sich aus dem Einfluss der Mutter und öffnet sich für die Gesellschaft. Sie wird selbständig und erwachsen. Sethe ist von der quälenden Besessenheit von Beloved befreit. Paul D, der inzwischen seine eigenen Traumata aufgearbeitet und Sethes Vergangenheit akzeptiert hat, kommt zurück, um mit ihr das vor der Rückkehr Beloveds begonnene, gemeinsame Leben auf einer neuen Ebene wieder aufzunehmen. „... me and you, we got more yesterday than anybody. We need some kind of tomorrow." (335) Er knüpft damit an eine Motivik und eine Geschichte des Überlebens an, die wie gesehen von Anfang an dialektisch mit der Geschichte der Opfer verflochten war. Ganz im Sinn von Baby Suggs' Botschaft holt er dabei Sethe aus der Fixierung auf ihr verlorenes
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II.
Interpretationsteil
Kind - „,She was my best thing'" - auf die Annahme ihres eigenen Selbst zurück: ,„ You your best thing, Sethe. You are. "' Das Verhältnis der beiden, das sich hier herausbildet, ist nicht mehr nur, wie am Anfang, auf Sexualität, und auch nicht mehr nur auf die gemeinsame Vergangenheit aufgebaut, sondern auf eine Beziehung, die zentral auch eine seelische und geistige Dimension umfasst. Dies wird prägnant ausgedrückt in den Worten, in denen einst sein Freund Sixo sein Verhältnis zu seiner Geliebten beschrieb und die Paul D gegenüber Sethe wiederholt: ,„She is a friend of my mind. She gather me, man. The pieces I am, she gather them and give them back to me in all the right order. It's good, you know, when you got a woman who is a friend of your mind.'" (335) Die Liebe als reintegrierende Kraft gegenüber einer desintegrierenden Erfahrungswelt, das ist hier am Ende des Romans eine wesentliche Bedeutung von „Beloved", die sich gleichsam aus einer fiktionalen Figur in eine symbolische Energie der Erneuerung und ganzheitlichen Regeneration des beschädigten Lebens verwandelt hat. Wenn also, wie am Schluss des Romans in einer Art Epilog beschrieben wird, Beloved als Figur in der realen Geschichte allmählich dem Vergessen anheimfällt, so wirkt der Text doch diesem Vergessen entgegen, indem er sie im Prozess der rememory zu seinem bedeutungsgebenden Prinzip macht. Dieses Prinzip stellt keine Verfügbarkeit des Lebens her, sondern lässt vielmehr dessen letztliche Unverfügbarkeit hervortreten. „This is not a story to pass on." (337), so heißt es, allerdings durchaus doppeldeutig, 17 gegen Ende des Romans. Die Unerhörtheit des erzählten Geschehens sprengt die Grenzen des story-telling, durch das allein es artikulierbar ist. Der Roman endet in der Selbstaufhebung des Geschichtenerzählens, von dem er lebt, in der Einsicht in die Unverfügbarkeit dessen, was er sich zum Gegenstand macht. Übrig bleibt die kontingente Welt des Gegebenen, die chaotische Prozesshaftigkeit der Phänomene. „The rest is weather," heißt es in ironischer Abwandlung von Hamlet. „Not the breath of the disremembered and unaccounted for, but wind in the eaves, or spring ice thawing too quickly. Just weather. Certainly no clamor for a kiss./Beloved." (338) So endet der Text, und bekräftigt damit noch angesichts der Realität des Vergessens die Notwendigkeit der Erinnerung, aus der er geschrieben ist. Gerade durch die unaufgelöste Dissonanz des Schlusses und die Verweigerung einer abschließenden Synthese beglaubigt er die Absicht Morrisons, eine offene, konzeptuelle Fixierungen sprengende Form der Literatur zu praktizieren, die sowohl der Dynamik afroamerikanischer Selbstrepräsentation wie den ästhetischen Bedingungen eines postmodernen und postkolonialen Zeitalters entspricht.
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Eine Geschichte, die nicht „weiterzugeben" ist - und eine Geschichte, die nicht zu „übergehen" ist.
5. Morrison,
Beloved
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5.6 Die kulturökologische Dimension des Romans Die vorstehende Analyse hat gezeigt, dass auch Morrisons Beloved die Relevanz des ästhetischen Transformationsmodells kultureller Erfahrung illustriert, das sich aus der Funktion der Literatur als kultureller Ökologie ergibt. Damit wird Beloved in einer wichtigen Hinsicht, nämlich was die Funktionsbestimmung von Literatur innerhalb ihrer Kulturwelt anbelangt, mit den anderen hier behandelten Romanen vergleichbar. Zwar gewinnt Morrisons Roman seine innovative Kraft vor allem aus der Einbeziehung afroamerikanischer Traditionen des story-telling, der Dialektsprache, der Folklore, der Musik, der mythischmagischen Imagination. Doch steht er in der polyphonen Erzählanlage, der Bewusstseinsstromtechnik und den vielfältigen intertextuellen Anspielungen zugleich im Kontext der modernen und postmodernen Literatur. Die dreistufige Anlage dieses Modells erweist sich auch in Beloved für den Struktur- und Bedeutungsprozess des Romans als konstitutiv. Die erste Stufe, die des kulturkritischen Metadiskurses, besteht in der Rekonstruktion der Sklaverei als eines zivilisatorischen' Machtsystems und der traumatisierenden, deformierenden Auswirkungen des ihm zugrundeliegenden ökonomisch-instrumentellen Weltbilds auf die Lebensmöglichkeiten und Beziehungen der Menschen. Diesem von Schoolteacher repräsentierten, übermächtigen Realitätssystem, dessen Fortwirken in die Zeit nach dem Bürgerkrieg, die Erzählgegenwart, durch das alle Figuren in unterschiedlicher Weise betreffende death-in-life-Motiv illustriert wird, steht ein imaginativer Gegendiskurs gegenüber, in dem das vom dominanten Zivilisationsdiskurs Ausgegrenzte und Unterdrückte in den Mittelpunkt gerückt und mit semiotischer Gegenmacht zum Realitätssystem aufgeladen wird. Dieser imaginative Gegendiskurs bezieht, wie gezeigt, seine Sinnstiftungsenergie zu einem beträchtlichen Teil aus aktualisierten Traditionen afroamerikanischer Kultur, die sehr stark mit Bezügen zur Natur, zum Körper, zu Gefühlen, zu spirituell-ganzheitlichen Formen des Selbstausdrucks verbunden werden, und findet seine markanteste Ausprägung in der Rückkehr der toten Beloved in die fiktional entworfene Handlungswelt. Wohl noch auffälliger als in den anderen hier behandelten Romanen ist in diesen Gegendiskurs ein dichtes Geflecht von Motiven eingewoben, die unmittelbar elementar-regenerative Lebenskräfte bezeichnen. Die ökologische Einbettung des Menschen in einen ganzheitlichen Zusammenhang von Natur und Kultur wird darin nicht nur ein wichtiges Thema, sondern ein die Sprache, Bildlichkeit und Textur des Romans mitbestimmendes Strukturmerkmal. So gewinnt etwa das Element des Wassers, wie in Moby-Dick, Huck Finn oder The Awakening, leitmotivische Bedeutung und ist in vielgestaltigerweise in den Text eingearbeitet: es hilft Paul D durch den großen Regen zur Flucht, spielt eine wichtige Rolle bei Denvers Geburt am Ohio-Fluss, und wird vor allem mit der Figur Beloveds verbunden, die bei ihrem Auftauchen dem Wasser entsteigt und am Ende wieder in ihr Element des Wassers zurückkehrt. (328) Als Trickster-Figur,
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II.
Interpretationsteil
die verschiedene Metamorphosen durchlebt, ist sie wie in gewisser Weise auch Chopins Edna Pontellier ein,Wassergeist', der mit einem ambivalenten, kreativdestruktiven Lebensprinzip im Bund ist. Ihr Unbewusstes wird in der Metaphorik einer Unterwasserwelt geschildert, und beim Sexualakt mit ihr hat Paul D Angst zu ertrinken, aber auch das Gefühl „[of] having been escorted to some ocean-deep place he once belonged to." (324) Ebenso wichtig ist die Motivik des Walds und des Baums als Bildfeld naturhafter Lebenskraft, wie es in Baby Suggs' Waldpredigten, in Paul Ds Weg auf den Spuren der Baumblüte zu Sethe, und in der Semiose von Sethes Rückenwunde zur Gestalt eines blühenden Baums zum Ausdruck kommt. Generell sind menschliche Lebensprozesse im Roman sehr stark mit naturhaft-körperlichen Prozessen assoziiert. Pflanzen und Tiere werden in vielgestaltiger Weise ins Geschehen einbezogen und repräsentieren nicht einen ganz andersartigen, inferioren Bereich, sondern sind Teil desselben übergreifenden Lebenszusammenhangs, dem auch die Menschen angehören. Sie bilden ein dichtes Gewebe von Wechselwirkungen, denen die menschlichen Lebensvollzüge nicht einfach hierarchisch übergeordnet, sondern in die sie unaufhebbar eingebunden sind. Es geht also gerade nicht darum, dass hier ein neuer Gegensatz von , Natur' und .Kultur' aufgebaut wird. Vielmehr läuft der Roman der binär-hierarchischen Entgegensetzung von Kultur und Natur, Geist und Körper, Verstand und Emotion entgegen, wie sie der zivilisatorischen' Arroganz Schoolteachers zugrunde lag und die in ihrer rassistischen Projektion auf die Beziehung von Weiß und Schwarz ihre fatale Wirkung entfaltete. Gegenüber den kategorialen Trennungen und aggressiven Grenzziehungen instrumenteller Rationalität entfaltet der Roman vielmehr eine Semiotik der vielfältigen Interrelation, die sich nicht allein auf eine Gegenposition zu kulturell-zivilisatorischen Weiten zurückzieht, sondern diese ihrerseits in komplexerer Weise neu zu bestimmen versucht. Der imaginative Gegendiskurs, der vor allem im zweiten Teil des Textes dominiert und dort die im Systemdiskurs vernachlässigten naturhaft-körperlichen und affektiv-psychologischen Dimensionen zur Geltung bringt, wird denn auch im dritten Teil, dem die Funktion eines reintegrati ven Interdiskurses' zukommt, in neuer Weise mit der kulturellen Realität und mit den Wertbereichen von aktiver Selbstbestimmung, Erkenntnis und Kommunikation in Zusammenhang gebracht. Es geht eben nicht um eine wiederum einseitige, wenn auch umgekehrt gewertete Bestimmung des Menschlichen, sondern um einen holistischen Ansatz, der die kulturell getrennten Bereiche zusammenbringt und so die Möglichkeit neuer Kreativität, neuer Lebensperspektiven eröffnet. Dies zeigt sich darin, dass Denver in die soziale Realität hineingeht, dass die Gemeinschaft die Ausgestoßenen wieder aufnimmt, und dass Paul D seine Beziehung zu Sethe auf einer nicht nur instinkthaft-körperlichen, sondern auch geistig-seelischen Ebene neu bestimmt. Am Punkt dieses Zusammenführens des kulturell Getrennten kommt die Motivik der rebirth, der Regeneration und Selbsterneuerung des Lebens, die
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bereits zuvor innerhalb des imaginativen Gegendiskurses in mehreren Strängen aufgebaut wird, zu ihrer vollen Ausprägung: in der,Taufe' Sethes und ihrer ReInitiation in die Gemeinschaft, aber auch in dem Erlebnis der Selbstverjüngung der Frauen als der Vertreterinnen der community, die sich in der Versöhnung mit ihrem ausgegrenzten Anderen selbst revitalisiert. Die symbolische Lösung, die der Roman anbietet, ist mithin nicht von einzelnen Individuen zu leisten, sondern ergibt sich erst aus deren vielfältiger Kooperation. Die handelnden Charaktere stellen nicht eine Summe isolierter Einzelner dar, sondern bilden ein Netzwerk von Beziehungen, durch dessen willkürliches Zerschneiden die verheerenden Deformationen entstanden, von denen der Roman handelt, und durch dessen Wiederherstellung am Schluss erst die Therapie und die ,Wiedergeburt' der Figuren als ganzheitlicher Personen möglich wird. Die Idee der Autonomie des einzelnen Individuums, wie sie einem zentralen Ideologem der USA, aber auch der Moderne generell, entspricht, wird also in diesem wie auch in den anderen hier besprochenen Romanen radikal relativiert. Zwar wird sie einerseits im Sinn des Rechts auf persönliche Selbstbestimmung und als Grundlage demokratischer Lebensformen nachdrücklich unterstützt. Gleichzeitig aber wird sie substantiell erweitert durch den unaufhebbaren relationalen und kommunikativen Aspekt, durch den konkrete Individualität sich, jenseits abstrakter Ideologeme, überhaupt erst als solche ausbilden kann. Die Ethik individueller Selbstbestimmung verbindet sich mit einer Ethik der Kooperation, und in dieser Verbindung dürfte ein Hauptaspekt der Vision kultureller Selbsterneuerung liegen, die der Roman aus der Aufarbeitung der zivilisatorischen Verirrungen der Vergangenheit entwirft.
6. Don DeLillo, Underworld'. Literarische Ökologie zwischen zeitgeschichtlicher Müllverarbeitung und intermedialem Hypertext
Im Unterschied zu Morrisons Beloved, das sich mit einer historisch weit zurückliegenden, wenn auch unterschwellig in die Gegenwart nachwirkenden Epoche der amerikanischen Geschichte befasst, thematisiert Don DeLillos magnum opus von 1997, Underworld, die jüngste Phase der amerikanischen Geschichte, die Zeit vom Beginn des Kalten Krieges bis zur ,Neuen Weltordnung', wie sie nach dessen Ende in den 1990er Jahren ausgerufen wurde. Der Roman stellt eine ungewöhnlich breit angelegte, vielgestaltige und vielschichtige literarische Auseinandersetzung mit der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika - und darüber hinaus - dar. Unter Einbeziehung der unterschiedlichsten medialen Präsentationsformen wie Erzählung, Dialog, Reportage, Performance, Video, Film bis hin zu Computer und Internet in eine dennoch wesentlich von der Repräsentationskraft der Sprache geprägte Textur werden ausschnitthaft und unter Auflösung jeder linearen Chronologie Szenen aus der Epoche des Kalten Kriegs rekonstruiert und zu einem Panoptikum alltäglichen Lebens im Schatten der Atombombe zusammengefügt, Szenen, die freilich zusätzlich aus der Retrospektive der veränderten Verhältnisse der 90er Jahre in ein neues Licht gerückt werden. Alle wichtigen Phasen und Ereignisse der amerikanischen Geschichte seit der Jahrhundertmitte sind in den Roman eingearbeitet - McCarthy-Ära, Bürgerrechtsbewegung, Kubakrise, Kennedymord, Vietnamkrieg. Allerdings werden sie nicht im gewohnten Fokus auf die politischen Hauptakteure, sondern aus der Sicht einer Unzahl verschiedener Charaktere, Lebenswelten, Sozialmilieus und aus einer kaleidoskopischen Vielfalt ethnischer, religiöser, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, psychologischer, künstlerischer und populärkultureller Blickwinkel dargeboten. Was dabei entsteht, ist eine Version von Geschichte, in der zentrale Ereignisse und Personen zurücktreten, während Randfiguren und persönliche wie kollektive Erlebnisformen des Zeitgeschehens das Zentrum der Erzählung besetzen, das sich freilich ständig verschiebt, verlagert, auflöst und neu bildet. Auf den ersten Blick entsteht dadurch der Eindruck eines auf chaotische Weise unzusammenhängenden Erzählvorgangs, der sich wie in einer fortgesetzten ,Kernspaltung' des Textes in heterogene Einzelsequenzen und atomistische Teilelemente zersetzt und in seinem „fissiparous multiplying of effects" 1 jede
' Peter Knight, „Everything is Connected: Underworld's, Secret History of Paranoia", Modem Fiction Studies, 45, 3, 1999: 811-36, 831.
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kohärente geschichtliche Wirklichkeit in eine potentiell unendliche Vielzahl sprachlich repräsentierter individueller Lebensenergien und Bewusstseinswelten auflöst. Der Roman explodiert logozentrische Einheits Vorstellungen der Welt und des Selbst und bringt die narrativen und medialen Kodes, die er in abrupten, collageartigen Schnitten wechselt, zu ständiger Überblendung und Kollision. Dadurch nähert sich die Kommunikationsform des Textes jenem white noise, jenem subversiven Störgeräusch und bedeutungsauflösenden ,Rauschen' in den eingefahrenen kulturellen Informationskanälen an, das DeLillo in seinem gleichnamigen früheren Roman als Phänomen beschrieben und zum Medium einer kulturkritischen Ästhetik entwickelt hatte. Auch nach neueren literaturtheoretischen Ansätzen ist die dekonstruktivistische Funktion eines „cultural noise" eine der wichtigsten Funktionen literarischer Fiktion, weil sie die Automatik systemischer Kommunikationsabläufe aufbricht und eine „perturbation of our cultural systems" bewirkt, die Spielräume für kritische Reflexion und kreative Wahrnehmungserweiterung schafft. 2 Gleichzeitig wird indessen nach einer eingehenderen Lektüre des Romans deutlich, dass die vermeintliche semiotische Anarchie des Textes mehr und mehr einem ganz anderen Eindruck weicht, nämlich dem, dass das vordergründig Heterogene in Wahrheit in vielfachen unterirdischen Verbindungslinien zu einem ungemein komplexen Netzwerk von Beziehungen verknüpft ist. Ja das Prinzip der zunehmenden interconnectedness aller Phänomene tritt im Lauf des Romans immer stärker als eine zentrale Einsicht und Erfahrung hervor, die er vermittelt. Dieses Prinzip hat wiederum eine in sich hochambivalente, doppelte Kodierung. Zum einen spiegelt es die weltweite Vernetzung der Aktivitäten, Menschen und Nationen im Zeichen einer primär ökonomisch verstandenen Globalisierung, wie sie im Schlusskapitel des Romans unter dem Titel „Das Kapital" am Beispiel der amerikanisch-russischen Kooperation bei der Zerstörung von Atommüll thematisiert wird. Zum anderen aber meint es eine dezentrierte Beziehungshaftigkeit kulturellen Lebens und menschlicher Existenzformen, die in ihrer Verbindung von unverwechselbarer Individualität und gleichzeitiger unaufhebbarer Interrelation genau dem ökologischen Grundsatz des „everything is connected to everything else" entspricht.3 Dem systemisch-abstrakten Vereinheitlichungsdruck, der vom Prozess der ökonomischen Globalisierung ausgeht, wird im Roman ein gegensystemischer Vervielfältigungsdruck des Konkreten, Heterogenen und Individuellen entgegensetzt, das dennoch in einem dichten
2
3
Wolfgang Iser, „Why Literature Matters", in Why Literature Matters, 1996: 13-22, 18. Iser bezieht sich hier auf William Paulson, The Noise of Culture, 1988. Diese Ähnlichkeit hat auch Knight festgestellt, 1999: 832: „.Everything Is Connected to Everything Else' is also, according to Barry Commoner's The Closing Circle (a seminal analysis of the environmental crisis), the .First Law of Ecology,' a science which constitutes a new mode of representation responsive to the previously invisible global interaction of .natural' and industrial forces."
6. DeLillo, Underworld
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Gewebe lebendiger Interrelationen miteinander verknüpft ist. Sowohl gegenüber der Mentalität des Kalten Kriegs mit seiner „rigid grammar of conspiracy" als auch gegenüber der Uniformität der supranationalen ökonomischen Vernetzung entfaltet sich im Roman, unter- und außerhalb der stets präsenten Systemebene, ein pluridimensionaler, „decentered circuit of interplotted relationships".4 In DeLillos Worten: „The language of the novel forms a syncopated reality in which diverse human voices ultimately come in conflict with a single, uninfected voice, the monotone of the state, the corporate entity, the product, the assembly line."5 Dieser Konflikt ist allerdings kein bloßer binärer Gegensatz, sondern zieht sich durch die verschiedenen Lebens- und Bewusstseinswelten als ein allgegenwärtiges und von den einzelnen stets neu zu lösendes Problem, da die persönlichen Selbstbehauptungsformen des Menschen im Einflussfeld übermächtiger politisch-ökonomischer und technologisch-wissenschaftlicher Systeme jeweils unterschiedlich und neu auszuhandeln sind. Der Diskurs des Kalten Kriegs und der ökonomische Globaldiskurs der Gegenwart, der ihn ablöste, bilden mithin die beiden aufeinanderfolgenden geschichtlichen Systemkonstellationen, auf die der Text reagiert, indem er die von ihnen verdrängten individuellen und interpersonalen Erfahrungsrealitäten in aller polyphonen Vielfalt, aber auch ihrem kakophonen Stimmengewirr zur Geltung bringt. Die vom Makrokosmos zum Mikrokosmos der narrativen Welt von Underworld reichenden Verknüpfungen des zunächst inkohärent wirkenden Geschehens laufen im Roman auf verschiedenen Ebenen ab: einmal auf àet figurateti Ebene, auf der die Geschichte von Nick Shay und seines Aufstiegs aus dem Slum der Bronx zum wohlsituierten Manager einer Spezialfirma zur Beseitigung von Problemmüll im Mittelpunkt steht, mit der wiederum kontrastiv die Geschichte von Klara Sax, der Künstlerin und einstigen kurzzeitigen Geliebten Nicks, verknüpft ist; zum zweiten auf der thematisch-motivischen Ebene, auf der einerseits die Atombombe, der Müll und die alltäglich-apokalyptischen Schattenseiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, andererseits der Baseball als Symbol einer ursprünglichen amerikanischen Identität als Hauptpole fungieren; und schließlich drittens auf einer strukturellen Ebene, auf der ein ungemein differenziertes Gewebe von Assoziationen, Parallelen, Kontrasten, Wiederholungen, Variationen, Symmetrien und Asymmetrien entfaltet wird, durch die sich der Text als ein komplexes dynamisches Eigensystem aufbaut, während er gleichzeitig die konkret gelebte Realität der Menschen in deren multiplen Sprechakten und Erfahrungsformen dezentral zur Geltung kommen lässt. Balance und Turbulenz, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, modernistische Komplexität und postmoderne Dissemination, künstlerische Meisterschaft und Populärkultur, strukturelle Durchkomposition und improvisieren-
4 5
Knight, 1999: 831. Don DeLillo, „The Power of History", The New York Times, web edition, Sept. 7,1997: 6.
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II. Interpretationsteil
de Performance Art, das sind die ästhetischen Grundpole dieses durchgängig doppelgesichtigen Romans.6 In seinem Charakter sowohl als System wie als Prozess, seiner Verbindung von referentieller und performativer Textauffassung, seiner Aufwertung des Kleinen gegenüber dem Großen, des konkreten Alltagslebens gegenüber historischen Monumentalereignissen, in seiner Betonung sowohl von unverwechselbarer Individualität wie von unbegrenzter Vielfalt und Interrelation entspricht der Roman dabei zunächst in einem ganz allgemeinen Sinn den Kriterien eines ökologischen Diskurses, wie sie einleitend dargelegt wurden. Die Entfaltungs- und Verknüpfungsmodi dieses ökologischen Diskurses ergeben sich aber nicht im direkten Zugang, nicht an der vermeintlich leicht zugänglichen Oberfläche der Phänomene, Texte und Bewusstseinswelten, sondern erst aus dem Durchgang durch deren verdrängte Kehrseite, durch die chaotische Unterwelt der Widersprüche, Unklarheiten, Deformationen, Begierden, Ängste und Traumatisierungen, die sich unter dieser Oberfläche verbirgt und die im Roman in ihrer ganzen Ambivalenz zwischen elementarer Lebensenergie und krimineller Verirrung, Spontaneität und pathologischem Zwang, Selbsterhaltungs- und Selbstzerstörungskräften zum Vorschein kommt. 6.1 Der Roman als symbolische Unterweltreise Der Roman vermittelt in einem maßgeblichen, vom Titel vorgegebenen Bildfeld den Eindruck einer Unterweltreise, einer Irrfahrt durch ein labyrinthisches Reich von seltsam schattenhaft wirkenden, wenn auch durchaus präzis und detailgenau beschriebenen Räumen, die von alltäglich-realistisch gezeichneten und doch zum Teil phantomhaft-suireal anmutenden Figuren bevölkert sind. Diese Unterwelt hat verschiedenste mögliche Bedeutungskontexte - physisch im Sinn der unterirdischen Räume, die als Handlungsorte den Roman durchziehen (U-Bahnen, Atomversuchsanlagen, Schutzbunker, Kellerräume); zeitlich im Sinn der Erkenntnis, dass die Vergangenheit die machtvoll nachwirkende, aber oft unerkannte Unterwelt der Gegenwart ist, in die der Prozess des Romans in seinem zeitlichen Rückwärtsschreiten sich zunehmend tiefer hineinbegibt; sozial im Sinn der Slums der Bronx, in deren anarchischem, von Armut und Kriminalität geprägten Milieu der nun im bürgerlichen Phoenix, Arizona lebende Nick einst aufwuchs und deren Verelendung in der Gegenwart noch zugenommen hat; psychologisch im Sinn des verdrängten Unbewussten, der lebensbestimmenden Traumata, an die Nick im Prozess des Romans erst allmählich wieder im Sinn einer Konfrontation der unverarbeiteten Vergangenheit - dem nie geklärten Verschwinden des Vaters, Nicks Verwahrlosung, und vor allem seiner fahrlässigen Tötung eines Menschen in seiner Jugend - zurückgeführt wird (hierin vergleich-
6
Vgl. dazu z.B. Philip Nel, „,A Small Incisive Shock': Modern Forms, Postmodern Politics, and the Role of the Avant-garde in Underworld," Modern Fiction Studies, 45, 3, Fall 1999: 724-52.
6. DeLillo,
Underworld
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bar dem Prozess der rememory in Morrisons Beloved)·, kulturgeschichtlich im Sinn der Aufdeckung der chaotisch-unverfügbaren Unterseite der scheinbar so geordneten, kontrollierten Oberfläche der kollektiven, bipolaren Deutungsmuster des Kalten Krieges. Auf der Systemebene selbst gesprochen stellt sich diese Kehrseite, diese .Unterwelt' der modernen Zivilisationsgesellschaft als Problem des Mülls dar, das ein Hauptthema des Romans ist und das die ökologische Thematik stärker als bei den anderen hier besprochenen Romanen unmittelbar in den Text hineinträgt. Die beiden Seiten des kulturellen Selbstverständnisses der USA sind hier in ihrer spätmodernen Ausprägung als Apokalypse ihrer optimistischen Voraussetzungen gestaltet - die .progressive' Seite des Glaubens an die Machbarkeit der Zukunft durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, die in der Atombombe und den dehumanisierenden Begleiterscheinungen des atomaren Rüstungswettlaufs ihren Triumph und ihr Scheitern erlebt; und die .pastorale' Seite der idealen Wechselbeziehung zwischen Kultur und Natur, die hier verlorengegangen und pervertiert ist, insofern , Natur' fast nur noch im Modus ihres kommerziellen Verbrauchs, als allgegenwärtiger Müll, vorkommt. Das „Valley of the Ashes" als alptraumhafte Gegenwelt zur kommerziellen Erfolgswelt des American Dream in Fitzgeralds The Great Gatsby hat sich sozusagen aus den Ghettos herausbewegt und, in unvorstellbare Dimensionen sich ausweitend, über die zivilisatorische Fortschrittswelt ausgebreitet. Diese Unterweltlandschaft des Romans ist ein Reich des Todes, eines death-in-life-Zustands, wie er auch in T.S. Eliots Waste Land, von dem DeLillo hier mitbeeinflusst ist, als Kehrseite der modernen Zivilisation herrscht und wie er im Druckbild von Underworld durch die mehrfach eingefügten schwarzen Seiten suggeriert wird. Es ist, als sei die Zeit vor dem befürchteten Atomschlag zugleich auch schon eine Zeit nach dem Atomschlag, eine von geistiger und realer Verwüstung gekennzeichnete Bewusstseins- und Gesellschaftssituation, für deren Zustand das apokalyptische Bild von Breughel, The Triumph of Death, das den ersten Teil des Romans betitelt, durchaus in vielerlei Hinsicht zutreffend wirkt. Die Unterweltreise des Romans ist aber zugleich und in wesentlicher Hinsicht eine literarisch-künstlerische Reise, eine Umsetzung des Orpheus-Mythos von der das Leben erneuernden Kraft der Kunst durch den Abstieg in die Unterwelt des Todes, der persönlichen und kollektiven Verdrängungen, der , bösen Geister' einer Kultur, d.h. durch die Bewusstmachung und ästhetische Artikulation dessen, was im offiziellen kulturellen Selbstbild unterdrückt oder ausgegrenzt wird. Durch die bewusste Konfrontation des drohenden Todes und der kulturellen Erstarrung rückt erst das Leben in seinen vielfältigen Ausprägungen, seiner Intensität und seinem nahezu unbegrenzten kreativen Potential in den Blick. DeLillos Roman offenbart hier entgegen dem zunächst pessimistischen Eindruck einen deutlich affirmativen Zug. Gemäß der chaosthoretischen Er-
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II.
Interpretationsteil
kenntnis, dass „noise or chaos amounts to a force for renewal", 7 mobilisiert er „the powerful nether energies of the imagination" 8 im Durchgang durch die verschiedenen Versionen und Dimensionen der Unterwelt, die er präsentiert. Aus der sprachlichen, intertextuellen und intermedialen Inszenierung des waste land wird eine waste art, eine imaginative Bewältigung der Schattenwelt und des Mülls der Geschichte durch ihre ästhetische Transformation, wie sie innerhalb des Romans Klara Sax mit ihrem Landschafts-Bomber-Projekt demonstriert, und in der immer wieder ein Aufbrechen des Tod-im-Leben-Zustands und eine wenigstens kurzzeitige Erneuerung des Lebens und der Kultur möglich erscheint. Auch der Müll selbst wird in den vielfältigen realen und metaphorischen Erscheinungsformen, in denen er im Roman auftaucht, durchaus nicht nur negativ, als bloßer, wertloser Abfall ökonomischer Produktions- und Konsumprozesse gesehen, sondern gewinnt einen eigenständigen, gleichsam kulturarchäologischen Wert. Der Müll gibt Aufschluss über Wirtschaftsformen, Lebensweisen, Moderichtungen, Kleidungsstile, Eßgewohnheiten, Sexualverhalten, usf., d.h. über die ganze Bandbreite einer Kulturwelt, und ist daher etwa in der Archäologie zu einer wichtigen historischen Informationsquelle geworden. Dies gilt auch für DeLillos Roman. Der Müll wird hier, als vernachlässigte Kehrseite der modernen Zivilisation, nicht nur in seiner allgegenwärtigen Präsenz spürbar gemacht, sondern auch in seiner Qualität als materielle Spur gelebten Lebens, dessen Manifestationen Respekt entgegenzubringen ist. „It is necessary that we respect what we discard",9 sagt Nick Shay, der waste manager. Müll hat verschiedene Eigenschaften, die im Roman besonders betont werden. Er ist aus dem pragmatischen Funktionszusammenhang gelöst, für den er einst gedacht war, und gewinnt dadurch gegenüber seinem kurzzeitigen Nutzwert einen zweckfreien Status. Er ist ganzheitlich, d.h. er betrifft alle Lebensbereiche, Kulturformen und Sozialschichten. Er ist heterogen und chaotisch, d.h. er bringt die unterschiedlichsten, in den kulturellen Ordnungssystemen getrennten Realitätsbereiche vom öffentlichen bis zum intimsten zusammen - „it all ends up here, newsprint, emery boards, sexy underwear ..." (185) In diesen Eigenschaften aber wird der Müll nun unmittelbar auch als Metapher für den Prozess und die Ästhetik des Romans relevant. Denn auch der Roman beschäftigt sich mit dem , Müll ' der Geschichte, der vergessenen, nicht in den offiziellen Archiven gespeicherten Geschichte konkret gelebten Lebens auf eine Weise, dass er ihre unterschied-
7
8
9
Eric Charles White, „Negentropy, Noise and Emancipatory Thought", in Chaos and Order: Complex Dynamics in Modern Literature, ed. Katherine Ν. Hayles, Chicago: U of Chicago P, 1991, 269. Jennifer Pincott, „Technoscience, Self, and Society in DeLillo's Underworld," Undercurrent. An Online Journal for the Analysis of the Present, gesehen am 10.3.2002, http://darkwing.uoregon.edu/~ucurrent/uc7/7-pin.html. Zitiert wird aus folgender Ausgabe: Don DeLillo, Underworld, New York: Scribner's/ Simon and Schuster, 1997. Hier 85.
6. DeLillo,
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lichsten Manifestationen in ihrem zweckfreien Eigenwert sieht; dass er sie ganzheitlich, also quer durch alle Lebensbereiche behandelt; und dass sie als chaotisch-heterogene, aus gewohnten Kontexten herausgelöste Eigenphänomene erscheinen, die in völlig überraschende neue Juxtapositionen und Interaktionen miteinander gebracht werden. In diesem Sinn wird auch der Roman, wie der Müll selbst, zu einer Form kultureller Archäologie, die „the secret history, the underhistory" enthüllt, „the way archeologists dig out the history of early cultures." (791) Indem er die verdrängten Aspekte der Kultur in ihrer chaotischen Diversität ans Licht bringt, gewinnt er eine komplexere und vitalere Sicht der menschlichen Realität gegenüber ihren institutionellen und ideologischen Zurichtungen zurück. Die besondere, hochgradig ambivalente Wirkung von DeLillos Roman dürfte sich vor allem daraus ergeben, dass die drei Funktionsaspekte der Literatur als kultureller Ökologie, wie sie in dieser Untersuchung angesetzt werden, stärker als in anderen Texten miteinander verwoben sind und ständig ineinander übergehen. Zwar ist etwa auch bei Morrison, wie gesehen, dieses Ineinanderwirken charakteristisch, doch sind bei ihr die einzelnen Funktionsaspekte jeweils für sich markanter ausgeprägt - der kulturkritische Metadiskurs in Schoolteachers Sklavereisystem, der imaginative Gegendiskurs in der magischen Figur Beloved, und der reintegrative Interdiskurs in der Wiedereingliederung Sethes in die schwarze Gemeinschaft. Insbesondere ist in Morrisons .magischem Realismus' die imaginative Dimension als eigenständige Sphäre einer mythographischen Bildersprache ausgestaltet, die der rational-zivilisatorischen Welt als originäres, naturnahes Sinn- und Energiefeld entgegenwirkt. Bei DeLillo ist hingegen das Imaginäre in eine durch und durch realistische Textur einbezogen, bleibt an konkret erlebte Alltagssituationen gebunden, wird nur immer kurzzeitig in Momenten reflexiver, emotionaler oder sprachlicher Intensität eingefangen. Der eigentümlich surreale Eindruck, der dem Roman dennoch auf weite Strecken anhaftet, ergibt sich aus mindestens drei verschiedenen Quellen. Einmal ergibt er sich aus dem angesprochenen literarischen Motivfeld der, Unterwelt' und des waste land, das indessen keine mythopoetische Eigensphäre bildet, sondern, wie die Thematik des Mülls zeigt, unmittelbar in die realistische Textoberfläche eingearbeitet ist. Zum zweiten resultiert er aus der entfremdenden Verselbständigung der Probleme und Phänomene, mit denen sich der einzelne Mensch angesichts der Entwicklung der modernen „technoscience", 10 die in der Atomwaffentechnologie des Kalten Kriegs kulminierte, konfrontiert sieht: „I mainly feel that I am part of something unreal", sagt Nicks Bruder Matt, der in den 70er Jahren in einer unterirdischen Atomforschungsanlage arbeitet, „When you hallucinate, the point of any hallucination is that you have a false perception that you think is
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Pincott, 2002, sieht den Roman hauptsächlich als Auseinandersetzung mit dem Regime der „technoscience".
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real. This is just the opposite. This is real. The work, the weapons, the missiles rising out of alfalfa fields. All of it. But it strikes me, more and more, as sheer distortion. It's a dream someone's dreaming that has me in it." (458) Zum dritten ist der Eindruck der Surrealität der in Underworld vermittelten Welt aber einer weiteren Entwicklung der neuesten Zivilisationsgeschichte zuzuschreiben, nämlich der dominanten Rolle der Medien in der Wahrnehmung dessen, was als ,Realität' betrachtet wird, insbesondere wie sie in der Vermittlung durch Film, Video, TV und Computer erscheint. Diese Dimension der medial simulierten Realität durchzieht den Roman als eine Instanz, vor deren autoritativen Bildern der Authentizitätsanspruch der selbsterlebten Wirklichkeit schwindet, während die mediale Reproduktion zur wahren Realität erklärt wird: „I looked at a million of photographs because this is the dot theory of reality, that all knowledge is available if you analyze the dots." (175) Die primäre Erfahrungswelt verwandelt sich in die Sekundärwelt der Bilder, der Monitore und des Cyberspace, der im world wide web seine globale Vernetzung findet und in dessen geschichtslosen digitalen Signalströmen sich das Geschehen am Ende des Romans aufzuheben scheint: „Everybody is everywhere at once." (805) Was bei Morrison die Welt der vormodernen Magie ist, ist bei DeLillo die postmoderne Welt der Simulakren (Baudrillard),11 die virtuelle Hyperrealität einer allgegenwärtigen Medienwelt, die nicht nur dem Einzelnen die eigene Erfahrungsgrundlage entzieht, sondern als Ort eines kollektiven Imaginären die individuelle und künstlerische Imagination in hohem Maß bereits besetzt und gewissermaßen kolonisiert hat. Dennoch wird sich zeigen, dass der Kampf um diese selbsterlebte individuelle Realität, um die Sprache, um die eigene Imagination ein wesentliches Anliegen des Romans ist, das ihn zu einer komplexen kulturökologischen Auseinandersetzung nicht nur mit politischen und ökonomischen Entwicklungen, sondern auch mit den Implikationen eines postmodernen Medienzeitalters werden lässt. 6.2 Baseball und Atombombe: Das System des Kalten Kriegs und das death-in-life-Motiv Auf einer zentralen Ebene ist der Roman ein kulturkritischer Metadiskurs über die Zeit des Kalten Kriegs. Die binäre Ideologie des Schwarz-Weiß-Denkens, die sich hinter den verschiedenen Erscheinungsformen der Epoche verbarg, wird immer wieder als größerer Kontext spürbar, innerhalb dessen sich die kollektive Mentalität der Zeit bewegt, auch wenn in der Präsentationsform des Romans die konkret erlebte Vielfalt der erzählten Welt im Vordergrund steht und historische Ereignisse stets nur in der perspektivischen Brechung unterschiedlicher indivi-
" Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Seitz, 1991 [1976],
Tausch und der Tod, München: Matthes und
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dueller Reaktionen auf sie vorkommen. Binäre Gegensätze spielen eine wichtige Rolle, und sie sind nicht nur mit den geläufigen Grundoppositionen West vs. Ost, Kapitalismus vs. Kommunismus, gottgefälliges Amerika vs. dämonisierte Sowjetunion assoziiert, sondern mit einer bestimmten Psychologie, in der Angst eine wesentliche Rolle spielt - die Angst vor Bedrohungen von außen wie den russischen Atomwaffen, und vor Bedrohungen von innen wie den Unruhen der Bürgerrechtsbewegung oder der Vietnamkriegsproteste, Angst aber auch vor den unkontrollierbaren Anteilen des eigenen Ichs, wie sie sich in Gefühlen, spontanen Emotionen oder der Sexualität äußern. Solche Ängste verlangen nach einem machtvollen, rigiden Ordnungssystem, und ein solches stellte das System des Kalten Kriegs dar, das auf die Maximierung der Sicherheit vor aller Bedrohung zielte, aber sich gerade dadurch selbst zu einer nie da gewesenen Bedrohung für das Überleben der Menschheit auswuchs. Mit Hilfe der modernsten Waffentechnologie, wie sie in der Atomwaffe erreicht war, sollte diese totale Sicherheit garantiert werden, die aber zugleich mit der Gefahr der Vernichtung der Menschheit erkauft wurde. Die Konsequenz war eine apokalyptische Endzeitatmosphäre, wie sie dem Geist des leitmotivischen Breughel-Bilds The Triumph of Death entspricht und die in der Kuba-Krise von 1962 ihren Höhepunkt fand. Diese Krise erscheint im Roman wiederum nicht in direkter historischpolitischer Wiedergabe, sondern hauptsächlich in den Kommentaren des Anarcho-Komikers Lenny Bruce, der in seinen Auftritten refrainartig den Ausruf „We're all gonna die" zu seinem Motto nimmt, das auch im Text des Romans mehrfach wiederkehrt und das er erst, nachdem die Katastrophe im letzten Augenblick abgewendet ist, abwandelt zu „We're not gonna die." Die beiden aufeinander bezogenen Hauptvertreter der Mentalität des Kalten Kriegs in Underworld sind J. Edgar Hoover, der CIA-Chef, und Sister Edgar, eine katholische Nonne und Lehrerin. Beide werden nicht nur durch ihren Namen, sondern durch ihre direkte Beziehung zu Breughels The Triumph of Death miteinander parallelisiert, durch die sie im Bedeutungssystem des Textes als death-in-life-Figuren markiert sind. Hoover befindet sich zusammen mit bekannten Personen des Showgeschäfts zu Anfang des Romans unter den Zuschauern des historischen Baseballspiels zwischen den New York Giants und den Dodgers im Jahr 1951, das mit dem Home Run von Bobby Thomson, der gegen den Dodgers-Pitcher Ralph Branca das schon verloren geglaubte Spiel für die Giants entschied, ins kollektive Gedächtnis der amerikanischen Nation einging. Während des Spiels wird Hoover, der gegenüber dem turbulenten, von einer Eruption von Emotionen begleiteten Drama auf dem Spielfeld teilnahmslos wirkt, von einem Agenten über einen geheimen Atombombenversuch der Sowjetunion unterrichtet. Die Nachricht trifft ihn offenbar hart, sie bestätigt seine tiefsten Ängste: „... it works into him, makes him think of the spies who passed the secrets, the prospect of warheads being sent to communist forces in Korea. He feels them moving ever closer, catching up, overtaking. It works into him, changes him physically as he stands there, drawing the skin tighter across his
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face, sealing his gaze." (23-4) Es ist eine Bildlichkeit der Bedrängung, des Überwältigtwerdens des Ichs von bedrohlichen Kräften, die Hoovers Reaktion hier kennzeichnet und eine Veränderung seiner Person beschreibt, die als Moment inneren ,Todes' charakterisiert ist (das sich zusammenziehende, verhärtende Gesicht, der erstarrende Blick). Doch andererseits braucht er die Bedrohung durch den Feind, um seine innere Leere und Unsicherheit auszugleichen: „But there is that side of him, that part of him that depends on the strength of the enemy." (28) Er empfindet eine klammheimliche Freude, als er sich die Reaktion der Verbündeten auf die Nachricht vorstellt, die ähnlich schockiert sein würden wie er: „The thought is grimly cheering. Over the years he has found it necessary to form joint ventures with the intelligence heads of a number of countries and he wants them all to die a little." (30, m. H.)
Hoover ist ein Technokrat der Macht, dessen Lust darin besteht, andere in ähnlicher Repression und Angst zu halten, aus der er selbst heraus agiert. Aufgewachsen in einer engen Welt der „bible school indoctrination" (29), hat er sich nicht zu einer voll ausgeprägten Persönlichkeit entwickelt, sondern allein seinen neurotisch-machtbewussten Intellekt auf Kosten aller anderen, körperlich-emotionalen Bedürfnisse und Fähigkeiten ausgebildet. Er ist ein „macrocephalic baby" (564), das in zölibatärer „abhorrence of the body" 12 lebt und in der Unterdrückung sexueller Regungen den Weg zum Heil sowohl für sich selbst wie für die Gesellschaftsordnung sieht, die ihm vorschwebt. Angesichts der gegenkulturellen Protestbewegungen der 60er Jahre sagt er zu seinem ihm bedingungslos ergebenen Agenten Clyde: „... it's the communists who are behind it all. And do you know where it begins? ... It begins in the inmost person ... Once you yield to random sexual urges, you want to see everything come loose." (564) In dem paranoiden Schwarz-Weiß-Bild der Wirklichkeit, das er auf der Basis dieser Phobien entwickelt, wird alles vom eigenen Ordnungssystem Abweichende als subversiv und,feindlich' gebrandmarkt. Das weitverzweigte Überwachungssystem, das Hoover als CIA-Chef aufbaut, beruht auf schwarzen Listen, mit denen er all diejenigen Gruppen und Individuen unter Druck setzt, die von seiner chemisch reinen Version des wahren Amerikas abweichen und über die er aufgrund seiner in die Intimsphäre hineinreichenden Informationen nahezu unbegrenzte Macht erlangt. Eine bekannte Modedesignerin etwa „had been in the files in a big way. She'd been accused at various times of being a lesbian, a socialist, a communist, a dope addict, a divorcee, a Jew, a Catholic, a Negro, an immigrant and an unwed mother." (561) Zu einer besonders beliebten Betätigung wird ihm die Aufdeckung von Homosexuellen im Regierungsapparat, von denen er, wie von feindlichen Spionen, die Stabilität des Landes untergraben sieht. Dabei ist sein Agent Clyde selbst homosexuell stark von ihm angezogen (573), wird aber
12
Ruth Helyer, .„Refuse Heaped Many Stories High': DeLillo, Dirt, and Disorder", Modem Fiction Studies, 45, 4, Winter 1999: 987-1006, 996.
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gerade durch die repressive Disziplin und rigorose Homophobie seines Chefs beeindruckt und zur völligen, selbstlosen Loyalität zu ihm gebracht. Hoovers Macht über andere basiert auf seiner konsequenten Selbstunterdrückung „Clyde believed that Edgar had earned his monocratic power through the days and nights of his self-denial, the rejection of unacceptable impulses." (573) Alles, was mit Unordnung, Unsauberkeit, mit unkontrollierbaren natürlichen Körperfunktionen zu tun hat, ist ihm zuwider, „separating himself from ... vegetable, animal and mineral matter." (42) In der Vorstellung einer keimfreien Existenz entspricht „dear germ-free Edgar" (50) der allgemeineren Mentalität einer wissenschaftsgläubigen Epoche, in der nicht nur von der Atomphysik die Endlösung aller politischen Probleme, sondern von der Chemie die Endlösung aller Gesundheits- und Lebensmittelprobleme erwartet wurde, wie es im Teil 5 „Better Things for Better Living Through Chemistry" an der Familie der Demings, deren desinfiziertes Haus wie eine Klinikstation wirkt, ironisch dargestellt wird. Die Ängste Hoovers und der von ihm repräsentierten Mentalität richten sich gegen das Spontane, Unordentliche des Leben selbst. Sie sind eine Form der zum System gewordenen Biophobie, von der sich die dominanten Denk- und Machtstrukturen der Epoche ableiten. Das solchermaßen Unterdrückte verschwindet aber nicht einfach, sondern erscheint verstärkt in dämonisierter Gestalt. Die zivilisatorische Machtphantasie der Totalkontrolle über die äußere und innere Welt bringt als ihre Kehrseite eine eigentümliche, abgründige Faszination mit Deformation, Zerstörung, Tod und Apokalypse hervor. Der Traum vollständiger Verfügung über die menschliche Existenz geht einher mit einem Zustand individueller und kollektiver Traumatisierung, einer Paralyse eigener Vitalität und zugleich einer Fixierung auf das, wovon man sich abgestoßen fühlt und in dem man doch uneingestanden einen verdrängten Teil seiner selbst erkennt. Das Bild The Triumph of Death spielt dabei motivisch eine maßgebliche Rolle. Hoover kommt mit ihm erstmals in Kontakt am Ende des erwähnten Baseballspiels von 1951, als er gerade vom Atombombenversuch der Russen erfahren hat, während um ihn herum das Stadion in Begeisterung explodiert und von den Zuschauerrängen ein Feuerwerk von Papierfetzen über dem Spielfeld niedergeht. Eine herunterfallende Zeitschriftenseite trifft ihn genau in dem Moment, in dem Thomson seinen Home Run schlägt. Es ist die eine Hälfte der Reproduktion des Breughel-Bildes, das im Li/e-Magazin abgebildet war und dessen andere, herausgerissene Hälfte ihm kurz hinterher auf seine „God-fearing breast" (49) flattert. Der spontane Lebenszusammenhang, den das Baseballspiel markiert und der im Titel der Zeitschrift ironisch aufgegriffen wird, wird hier gebrochen und überlagert durch ein Bild apokalyptischer Angst und Zerstörung, in dem in unzähligen drastischen Varianten Momente des Sterbens eingefangen sind und der Tod als allegorischer Herrscher der Welt erscheint. „The dead have come to take the living" (49), konstatiert der von dem Bild völlig gebannte Hoover, mit dem im Roman metaphorisch der Beginn des Kalten Kriegs und der mit ihm konnotierte Triumph des
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Thanatos über den Eros, der ,nekrophilen' über die ,biophilen' Kräfte in der Person Hoovers, aber auch in der kollektiven Psychologie der Epoche verbunden wird. 13 Eine Szene, die diese Psychologie der Biophobie und nekrophilen Todeskultur grell beleuchtet, ist der Schwarz-und-Weiß-Ball, den Hoover in den 60er Jahren in New York besucht. Führende Vertreter von Politik, Wirtschaft, Showgeschäft und Kultur sind hier versammelt und in schwarze und weiße Masken gekleidet, „[who] were doing the twist with all the articulated pantomime of the unfrozen dead come back for a day." (572) Eine Gruppe Protestierender tritt auf mit Masken von Rabengesichtern, Totenschädeln, Nonnen, Mönchen und Henkern, eine mittelalterliche Gruppe, die die Musik unterbricht und, angeführt von einem „executioner" und einer „nun", schweigend einen Totentanz aufführt, der der illustren Gesellschaft ihre verdrängte andere Seite vorspiegelt. (575f.) Wie in Edgar Allan Poes „The Masque of the Red Death" wird hier ein Maskenball durch das Auftauchen ungeladener, unheimlicher Gäste unterbrochen, die dennoch die verborgene Wahrheit über die Versammlung zum Ausdruck bringen. Allerdings tritt hier das Rot, das bei Poe zusammen mit anderen Farben einen Gegenpol zum Schwarz bildet, zurück, das Farbspektrum ist auf den SchwarzWeiß-Gegensatz reduziert, der ganz dem Weltbild der Versammlung - „yes, show your true colors", denkt Hoover - , und insbesondere seinem eigenen entspricht: „The ball tonight is a perfect setting for you.", sagt eine der weiblichen Gäste zu ihm. „Because you are very black and white to me. So you'll be totally in character, yes?" (562-3) Eine als Nonne maskierte Frau erinnert Hoovers Assistenten Clyde in ihrem befremdlichen, dämonisch-mittelalterlichen Aussehen an den Hip-Komiker Lenny Bruce, der vor wenigen Monaten unter dubiosen Umständen an einer Morphiumvergiftung zu Tode kam. Das Polizeifoto des toten Komikers befindet sich in Hoovers Akten, und angesichts des nackten, entstellt auf dem Toilettenboden liegenden Leichnams, der darauf zu sehen ist, fällt Clyde unwillkürlich der Titel The Triumph of Death ein, der Titel des gleichnamigen Breughel-Bilds, von dem Hoover zahllose Versionen, Reproduktionen und Detailausschnitte gesammelt hat, die er, als makabre .Unterwelt' seines modernen Machtapparats, in den Kellerräumen seiner CIA-Büros aufbewahrt. (574) Lenny Bruce, der mit seinen respektlos-scharfzüngigen, spontan-improvisierenden Auftritten und seinem Stil des rap mosaic und der cross-voices (586, 628), der abrupt wechselnden Stimmen, Register und Tonlagen eine der wichtigsten, polyphonen Gegeninstanzen im Roman gegen die Monotonie der Kal-
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Diese Begriffe von .Nekrophilie' vs. .Biophilie' werden u.a. von Ökofeministinnen verwendet und auf patriarchale bzw. ökofeministische Denkformen und Lebenseinstellungen bezogen, und sie passen in Underworld relativ genau auf die Kalte-KriegsMentalität Hoovers einerseits und auf die Künstlerin Klara Sax andererseits, die zwar kein ökofeministisches ,Programm' hat, aber im Text deutlich mit biophilen Energien assoziiert wird - vgl. Cortiel, Biophilia, Bondage and Bonding: 51 (vgl. Kap. 1, 3.3.)
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ten-Kriegs-Ideologie darstellt, wurde von der CIA überwacht und Gerüchten zufolge das Opfer von „shadowy forces in the government." (575) Er ist also möglicherweise Hoovers eigenes Opfer, der das Foto des Toten in die Objekte seiner nekrophilen Obsession einbezieht. Doch der Totentanz der Maskierten beim Schwarz-Weiß-Ball beunruhigt auch Hoover selbst. Er ruft einen „sheen of Last Things in his eye" hervor und lässt ihn in melancholischem Schauder und doch in professionellem Stolz an seinen eigenen Tod und sein Begräbnis denken, das er bereits bis ins letzte Detail durchgeplant hat mit einem aseptisch in Blei gefassten Sarg, „[to] protect his body from worms, germs, moles, voles and vandals. They were planning to steal his garbage, so why not his corpse? Lead-lined, yes, to keep him safe from nuclear war, from the Ravage and Decay of radiation fallout." (577-8) Er stellt sich seinen Tod wie eine Fortsetzung seiner bisherigen Existenz vor, eine Perfektionierung des Gefängnisses, in dem er lebt. Sein Sarg wird zum persönlichen Atombunker, abgedichtet gegen die chaotischen Kräfte des Lebens, aber auch geschützt vor den Gefahren, die das politisch-technologische System zivilisatorischer Machtsicherung hervorgebracht hat, in dessen Auftrag er handelt. Die Paradoxie der zivilisatorischen Machtsteigerung unter Inkaufnahme der Zerstörung der Zivilisation, der Bekämpfung der Lebensangst um den Preis der Aufgabe des Lebens selbst wird hier in der ironisch zugespitzten Form von Hoovers postmortaler Sicherheitsphantasie als schizophrene Signatur der Mentalität des Kalten Krieges deutlich. Denkt man bei der Figur des Henkers, der zusammen mit der Nonne den Totentanz der Maskierten anführt, an Hoover als das ausführende Organ des zivilisatorischen Machtapparats, so denkt man bei der Figur der Nonne an Sister Edgar, seine Namensvetterin und weibliches Pendant im Roman, die die religiös-metaphysische Überhöhung dieses Machtkomplexes liefert. Sister Edgar ist zu Hoover in mehrfacher Hinsicht in Korrespondenz gesetzt. Sie ist wie eine Figur aus dem Breughel-Bild, die in ihrer Ordenstracht und der scharfen Nase einem Raben ähnelt. „Sister Edgar, how remarkable", wird sie von ihrem früheren Schüler, dem späteren Philosophie-Lehrer Bronzini beschrieben, der sie nach vielen Jahren auf der Straße sieht: „the same blade face and bony hands, hurrying, a spare frame shaped by rustling garments. She wore the traditional habit with long black veil and white wimple and the starched clothpiece over the neck and shoulders, an iron crucifix swinging from her waist - she might have been a detail lifted from a painting from some sixteenth-century master." (233—4) In ihrer rabenhaften, skelettartigen Erscheinung und der schwarz-weißen Kleidung ist sie als Tod-im-Leben-Figur markiert, die freilich aus ihrer religiösen Selbstverleugnung ähnliche Machtgefühle bezieht wie Hoover. Als Lehrerin war sie einst diktatorisch und gewalttätig in ihrem absoluten Disziplinanspruch, eine Schreckensfigur für die Kinder der Schule. Angst, das Grundgefühl des Kalten Kriegs, ist auch das Prinzip ihres Unterrichts. Bevorzugt behandelt sie Edgar Allan Poes „The Raven", wobei sie sich gegenüber ihren Schülern mit Haut und
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Haar mit der magisch-terrorisierenden Macht dieses Gedichts und des Todesvogels identifiziert: „And she wanted to teach them fear. This was the secret heart of her curriculum and it would begin with the poem, with omen, loneliness and death, and she would make them shake in their back-to-school shoes ... She would recite the poem to them, crooking her finger at their hearts. She would become the poem and the raven both, the roman-nosed bird, gliding out of the timeless sky and diving down upon them." (776) Sister Edgar sorgt mit ihrem autoritären Einpeitschen des Katechismus mit für die Entstehung jener Mentalität, die auch Hoovers „bible-school indoctrination" (29) hervorbrachte. Wie bei Hoover ist die Dominanz der Angst mit Körperfeindlichkeit und einem paranoiden Kontroll- und Sauberkeitswahn verbunden: „... you could never clean a thing so infinitesimally that it didn't need to be cleaned again the instant you were done." (775) Wie Hoover zeigt sie eine zutiefst ambivalente, ja schizophrene Haltung gegenüber der Atombombe. Sie ist eine „cold war nun", die die Wände ihres Zimmers gegen radioaktiven Niederschlag abdichtet und in ständiger Furcht vor einem russischen Atomschlag lebt, und doch einen solchen zugleich heimlich herbeisehnt. „Not that she didn't think a war might be thrilling. She often conjured the flash even now, with the USSR crumbled alphabetically, the massive letters toppled like cyrillic statuary." (245) Ihren Unterricht unterbricht sie immer wieder mit Atomalarm, wodurch sie den Schülern nicht nur die ständig drohende Todesgefahr und die entsprechenden Gegenmaßnahmen eintrichtert - automatisierte, kollektiv eingespielte Reaktionsmuster wie in Deckung gehen, stillhalten, nichts berühren, den Mund mit dem Taschentuch bedecken - , sondern auch einen Sinn für die Größe und Erhabenheit der Bombe. Ja die Atombombe erhält in ihrer absoluten Zerstörungsmacht selbst die Züge einer religiösen, einer göttlichen Instanz, vor der Sister Edgar ihre Schüler beim Atomalarm sich zu Boden werfen lässt wie in einem heiligen Ritual, „in adoration of the cloud of power." (728) Nick Shays Bruder Matt, der mit außergewöhnlicher Intelligenz, aber geringem Selbstbewusstsein ausgestattet ist und von Sister Edgar unterrichtet wird, ist für diese passive Alarmstellung, diese die eigene Individualität aufgebende Verehrung von Wissenschaft, Macht und Religion besonders empfänglich, und so wird er nicht zufällig später zu einem Wissenschaftler in der Atomwaffenindustrie, der fasziniert ist von der Mathematik der Zahlenkombinationen und der „inner music of bomb technology" (404), mit der er sich beschäftigt. In der Atombombe erfüllt sich eine Sehnsucht nach übermenschlicher Größe, die die Selbstaufgabe des Einzelnen erfordert und den höheren Sinn des Lebens in der zivilisatorischen Aneignung der entfesselten Urmacht der Schöpfung selbst findet. Die Transzendenzerfahrung der Religion wird gewissermaßen durch die zivilisatorische Phantasie absoluter Macht, die die Bombe verkörpert, in die vom Menschen manipulierte Welt hereingeholt.
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6.3 Zwischen gelebter Realität und globalisiertem Cyberspace: Transformationen des kulturellen Systems nach dem Kalten Krieg In den Jahren nach dem Kalten Krieg zu Beginn der 1990er Jahre scheint sich Sister Edgar, die inzwischen alt geworden ist, mit den geänderten Verhältnissen selbst geändert zu haben. Das Unterrichten hat sie aufgegeben, und nun organisiert sie zusammen mit einer jüngeren Ordensschwester die Essensversorgung im armseligsten, heruntergekommensten Slum der Bronx, „the Wall", wie er genannt wird. Es ist eine gespenstische Mondlandschaft der Ruinen und des Mülls, in der die Ausgestoßenen der Gesellschaft als verwilderte underclass vegetieren, und in der Drogen, Gewalt, Krankheit und Tod zum Alltag gehören. Es sind vor allem auch Jugendliche und Kinder, die hier, von der Gesellschaft im Stich gelassen, in völliger Verwahrlosung leben und um die sich die beiden Schwestern, allerdings nur mit geringem Erfolg, kümmern. Slumtouristen besichtigen in Bussen die Elendsviertel und sind auch, als eines Tages ein Feuer in der U-Bahn ausbricht und Hunderte von Menschen aus rauchenden Kanalschächten ans Tageslicht steigen, mit ihren Kameras zur Stelle, während die Slumkinder abgestumpft daran vorbeilaufen, denn für sie ist „death interchangeable on the street and TV." Sister Edgar erinnert diese Szene unwillkürlich an die Skelette in den Katakomben Roms, die sie einst sah und die sie damals mit apokalyptischen Vorstellungen verband: „and she remembered thinking vindictively that these are the dead who will come out of the earth to lash and cudgel the living, to punish the sins of the living - death, yes, triumphant." (249) Doch diese nekrophile Obsession, diese Hooversche Rachephantasie des .Triumphs des Todes' hat Risse bekommen, Zweifel untergraben die früheren Gewissheiten. Sie fühlt sich ,,[s]afe, yes, scientifically shielded from organic menace. But also sinfully complicit with some process she only half understood, the force in the world, the array of systems that displaces religious faith with paranoia." Zwar wirkt die Paranoia des Kalten Kriegs unvermindert in ihr nach, hält sie sich klinisch sauber, trägt AIDS-Handschuhe, vermeidet jede körperliche Berührung in der Begegnung mit den Slum-Bewohnern, um ,feindliche' Parasiten von sich fernzuhalten, „submicroscopic parasites in their soviet socialist protein coats." (241) Doch zugleich ist sie eigentümlich angezogen von den Slumkindern, insbesondere von Esmeralda, einem allein wie ein Erdgeist zwischen den Müllhalden lebenden 13jährigen Mädchen, das die Schwestern immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen und das niemand im Viertel des „Wall" jemals einfangen kann. So wie Cotter Martin, der schwarze Junge aus der Bronx, der zu Beginn des Romans sich durch Mut und Geschicklichkeit dem Zugriff der Erwachsenen entzieht und als erster den Baseball des Jahrhundertspiels besitzt, der später durch viele Hände zu Nick Shay gelangen wird, so scheint auch Esmeralda „uncatchable." (14) Zu ihr entwickelt Sister Edgar, die sich nicht mehr wie einst in der Kontrolle der Ereignisse, sondern selbst wie ein „fraidy child" (248) fühlt,
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eine fast telepathische innere Beziehung. Von ihrer Wildheit und anarchischen Individualität ist sie fasziniert, und ahnt gleichzeitig prophetisch die tödliche Bedrohung voraus, die auf Esmeralda zukommt - die tatsächlich wenig später vergewaltigt und ermordet wird. Die in Esmeralda personifizierte, verlorene Kindheit wird für Sister Edgar geradezu zur Quelle einer Erlösungsphantasie. In der Nacht nach dem U-Bahn-Feuer hat sie einen Traum, in dem es Kinder sind, die als Schutzengel ihrer Eltern auftreten und diese aus den U-Bahn-Schächten befreien - „fathers and mothers, the lost parents found and gathered, shirtplucked and bodied up, guided to the surface by small faceless figures with day-glo wings." (250) Die Eltern werden zu verlorenen Kindern, die Kinder zu engelhaften Retterfiguren, die die Eltern aus den angstbesetzten Unterwelten des Erwachsenseins erlösen. Es ist eine eigentümliche Inversion, die hier stattfindet, eine Umkehrung des Catcher-in-the-Rye-Moti\s, die die Mentalität des Kalten Kriegs sowohl wiederholt wie auf den Kopf stellt. Für jedes tote Kind der Bronx wird von jugendlichen Graffiti-Malern an eine Riesenwand, die zwischen den Ruinen und Müllhalden steht, eine Engelsfigur aufgemalt, und auch Esmeralda ist nach ihrem Tod sofort als neuer Engel zu den vielen anderen auf diesem improvisierten Monument der Erinnerung hinzugekommen. Das Besondere in ihrem Fall ist allerdings, dass sie zum Anlass eines W u n ders' in der Bronx und dadurch subjektiv tatsächlich zu einer Rettungsfigur für Sister Edgar wird, die durch ihren Tod zunächst in eine tiefe Krise stürzt. Denn Esmeralda kehrt als Geist, als Erscheinung in die Bronx zurück, die eine wachsende Zahl von Pilgem und Neugierigen anzieht. Es handelt sich allerdings um eine postmoderne, in die technisch-kapitalistische Welt hineinversetzte Erscheinung: Esmeraldas Gesicht wird hinter einer Werbetafel für Orangensaft immer dann sichtbar, wenn ein Zug vorbeifährt und sein Scheinwerferlicht darauf fällt. Während ihre jüngere Kollegin die Echtheit des Phänomens in Frage stellt, ist die Erscheinung für Sister Edgar der Beweis der Transzendenz, der Auferstehung, des Lebens nach dem Tod, an dem sie bereits existentiell gezweifelt hatte. Sie wird durch diese Erfahrung völlig verwandelt. Erstmals legt sie ihre Distanz ab, taucht in die Menge ein, umarmt Unbekannte und fällt sogar dem vermeintlich AIDS-kranken Graffiti-Maler Munoz, zu dem sie vorher stets körperliche Distanz hielt, um den Hals. Und obwohl das Wunder in dem Moment endet, als die Reklame abgenommen wird, ist für Sister Edgar seine Wahrheit erwiesen. Sie fühlt sich zuinnerst mit dem Geist der toten Esmeralda verbunden und stirbt, nachdem sie im Leben von Unruhe und Angst gejagt war, in großer Ruhe und Zuversicht. Der Himmel, in dem sie sich wiederfindet, ist allerdings nicht der Himmel der katholischen Religion, sondern die virtuelle Welt des Cyberspace, der weltweiten digitalen Verknüpfungen im Internet, dessen unendliche Möglichkeiten der Datenkommunikation letztlich aus den militärischen Abwehrstrategien im Kalten Krieg hervorgingen. Entwickelt als Schutz gegen einen möglichen Datenzugriff des sowjetischen Feindes, trägt die neue Realität des Internet noch die
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Spuren des Kalten Kriegs, den sie scheinbar überwunden hat. Die Freiheit des Internet scheint für die in der Datenwelt wiedergeborene Sister Edgar seltsam unglaubwürdig, von hintergründigen Zwängen, Ängsten und Machtstrukturen durchsetzt, der „paranoia of the web, the net." (825) Für die persönliche Entwicklung, die sie am Ende ihres Lebens durchgemacht hat, ist in dieser elektronischen Welt kein Platz. Sie beginnt auf einmal zu verstehen, dass das geheime Zentrum der Zusammenhänge auf der home page der Wasserstoffbombe liegt. Für den Erzähler, der hier vor dem Computer-Bildschirm sitzt und die Tastenklicks in Sister Edgars digitaler Transfiguration ausführt, wird sie zum Medium, das mit ihrer vom Kalten Krieg geschulten Mentalität ein besonderes Sensorium für dessen Nachwirkungen besitzt. „When you decide on a whim to visit the HBomb home page, she begins to understand. Everything in your computer, the plastic, silicon and mylar, every logical operation and processing function, the memory, the hardware, the software, the ones and zeroes, the triads inside the pixels that form the onscreen image - it all culminates here." (825) Alles, was das Funktionieren des Netzes ermöglicht, ist Resultat der Anstrengungen des Kalten Kriegs, an denen Sister Edgars Schüler Matt, der Bruder der Hauptfigur Nick, als Atomforscher maßgeblich beteiligt war und deren materielle Hinterlassenschaft - den Atommüll - Nick selbst in seinem gegenwärtigen Beruf als waste manager zu entsorgen mithilft. Die dezentrierte Struktur des Internets hat also selbst ein verborgenes Zentrum, eine ,Unterwelt' der absoluten Hinordnung zivilisatorischer Energie auf die Atombombe, die den Kalten Krieg kennzeichnete und erst das Netz hervorbrachte. So ist es denn nur konsequent, dass Sister Edgar, die „cold war nun" (245), sich schließlich auf dieser Webseite wiederfindet, auf der die Daten aller bisherigen Atomexplosionen gespeichert sind und auf der sie diese nun als virtuelles Ereignis miterlebt. Sie fühlt „the power of false faith, the faith of paranoia" (825), die hier zum Ausdruck kommt, und hat sich in eine Realität verirrt, die aus ihren eigenen früheren Obsessionen, ihrer ,Religion' der Bombe, hervorgegangen ist. Die Erfahrung Gottes, den sie für einen Moment zu schauen meint, ist in Wirklichkeit die Explosion der größten Wasserstoffbombe aller Zeiten - ironischerweise einer sowjetischen Bombe - , die sich vor ihren Augen ereignet und in der sich ihre einstige „adoration of the cloud of power" (728) erfüllt. Folgerichtig ist es dann auch, dass sie in diesem Zentrum ihrer einstigen Machtphantasie, im grandiosen Inferno der virtuellen Atompilze den anderen Edgar wiedertrifft, ihren Bruder im Geist und master mind des Kalten Kriegs, Edgar Hoover, und sich mit ihm in digitaler Metamorphose vereinigt - „J. Edgar Hoover ... hyperlinked at last to Sister Edgar - a single fluctuating impulse now, a piece of coded information. Everything is connected in the end." Sister Edgars Geist, der sich in der Begegnung mit Esmeralda aus seiner vorherigen Erstarrung löste, wird eingefangen in der Materialität des Netzes und der Geschichte der technisch säkularisierten Transzendenz, die sich in ihm niederschlug. Es ist dies eine Form der Vernetzung und Verknüpfung, die auf das Verschwinden von
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Unterschieden und auf eine Aufhebung realer Differenzen zugunsten eines diffusen Vereinheitlichungsdrucks der digitalen Zeichen hinausläuft, „difference itself, all argument, all conflict programmed out." (826) Was sie hervorbringt, ist eine neue, in-differente Totalität des Cyberspace, die einerseits den genauen Gegensatz zur Mentalität des Kalten Kriegs darstellt, andererseits aber noch in seiner postmodernen Transformation als dessen Produkt kenntlich bleibt. Auch in ihr nämlich werden Differenzen unsichtbar, Individualitäten ausgelöscht, wird eine dezentrierte, plurale Sicht und Erfahrung der Realität nur an der Oberfläche vermittelt. Erst durch die Aktivierung der Sprache in ihrer Geschichtlichkeit, Lebendigkeit und welterzeugenden Kraft, und durch die von ihr geleistete Rückbeziehung des Cyberspace auf konkret erlebte individuelle und kollektive Erfahrungswelten diesseits der elektronischen Simulationswelt, kann die dezentrierte Vielgestaltigkeit der Welt und der menschlichen Existenz sowohl gegenüber der Schwarz-Weiß-Mentalität des Kalten Kriegs wie gegenüber dem Grau des omnipräsenten, depersonalisierten globalen Datenstroms sich behaupten und zum Ausdruck gebracht werden. Dies aber, so legt der Schluss des Romans nahe, scheint die besondere Möglichkeit und Aufgabe der literarischen Imagination zu sein. Auf dem Monitor, vor dem der Erzähler sitzt, formt sich aus den spektakulären Zerfallsprodukten des atomaren Hypertexts ein einzelnes, „seraphisches" Wort, das seine Präsenz aus seinen historischen Bedeutungsverzweigungen und lebendigen Verwendungsformen gewinnt, gleichzeitig aber den Blick des Erzählers vom Bildschirm weg durchs Fenster nach draußen lenkt, von wo er die Stimmen von spielenden Kindern hört. Das improvisierte Spielen der Kinder in der konkreten Erfahrungsumwelt von Hinterhöfen und unkrautbewachsenen Rasenflächen erinnert ihn an seine eigene Kindheit - „it's your voice you hear, essentially" (827). Es ist Ausdruck einer vitalen imaginativen Energie, die eine durchgängige, gegendiskursive Kraft im Roman gegenüber dem Vereinheitlichungsdruck der nationalen und globalen Systemdiskurse darstellt und bereits am Anfang des Buchs, in der spontan-improvisierenden Stimme und Lebensweise Cotter Martins, dessen Grundtenor mitbestimmt: „He speaks in your voice, American, and there is a shine in his eyes that's halfway hopeful." (11) Die Verwerfungen des Kalten Kriegs und die Transformationen des Computerzeitalters haben, so die Implikation dieser zyklischen, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannenden Rahmenkonzeption, dieses kreative Potential primärer, selbstgestalteter Lebensvollzüge nicht prinzipiell zerstört. Durch die Kinderstimmen angeregt, fällt der Blick des Erzählers auf die konkreten Dinge in seinem eigenen Raum, „offscreen, unwebbed, the tissued grain of the deskwood alive in light, the thick lived tenor of things ..." (827). Er versucht eine Verbindung herzustellen zwischen dem Wort, das durch die verblassenden Fragmente der Machtphantasien des Kalten Kriegs hindurch auf dem Bildschirm erscheint, und der sinnlichen Präsenz der Dinge um ihn herum, die er sieht und beschreibt. Nicht aus abstrakten Vernetzungen und automatisierten Abläufen,
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sondern aus der affirmativen Wahrnehmung und sprachlichen Vergegenwärtigung der lebendigen Interrelation und Vielgestaltigkeit der Welt in ihrem konkreten So-Sein geht die Erneuerung hervor, die das Wort durch seine imaginative Transformation der Erfahrung erreichen will: ... and you try to imagine the word on the screen becoming a thing in the world, taking all its meanings, its sense of serenities and contentments out into the streets somehow, its whisper of reconciliation, a word extending itself ever outward, the tone of agreement or treaty, the tone of repose, the sense of mollifying silence, the tone of hail and farewell, a word that carries the sunlit ardor of an object deep in drenching noon, the argument of binding touch, but it's only a sequence of pulses on a dullish screen and all it can do is make you pensive - a word that spreads a longing through the raw sprawl of the city and out across the dreaming bourns and orchards to the solitary hills. Peace. (827)
Die Unterweltreise durch das Todesreich des Kalten Kriegs mündet in eine Epiphanie des Friedens, die sich im letzten Wort des Romans konzentriert.14 Die unauflösliche Differenz zwischen den Zeichen im Bildschirm, die das Wort formen, und der Welt, der es sprachlich korrespondieren soll, bleibt dabei zwar bewusst. Sie wird aber zugleich produktiv entfaltet in der Poetisierung des Diskurses am Schluss, der sich von der elektronischen Welt des Computers über die rauhe Wirklichkeit der Stadt zur ländlich-pastoralen Natur jenseits der Zivilisation bewegt. Der Impuls der Erneuerung, den das Romanende inszeniert, führt hinter die dargestellte Zivilisationswelt zurück und über sie hinaus, bleibt aber gleichzeitig an den Akt der Fiktionalisierung der Welt gebunden. In minimalistischer Form wird hier der Grundvorgang des Romans, die kreative Selbsterneuerung der Kultur aus der imaginativen Überschreitung ihrer diskursiven Systemgrenzen erkennbar, die freilich erst durch die Vergegenwärtigung ihrer verdrängten Traumata möglich wird. Von daher ist auch das Ende des Romans, wie der Blick des Jungen, der an seinem Anfang beschrieben wird, „half-way hopeful." (11) 6.4 Klara Sax und der imaginative Gegendiskurs der Kunst: Vom waste land zur waste art Die geradezu utopische Transformation der Welt durch die Magie des Worts, die das Ende des Romans beschwört, weicht allerdings eher von der typischen Verfahrensweise des Textes ab. Diese besteht vielmehr in einem ständigen sprachlichen Präsentieren, Multiplizieren und Ausbalancieren heterogener Kraftfelder gelebter Realität, die sich in Myriaden individueller Teilenergien aufspalten, „the sand-grain manyness of things that can't be counted" (60), und doch in infiniten
14
Hierin liegt wiederum eine Parallele zu Eliots The Waste Land, das ebenfalls mit einer inkantatorischen Beschwörung des Friedens mit dem dreifach wiederholten Hindu-Wort „Shantih shantih shantih", dem formelhaften Ende der Erzählungen der Upanischaden, endet und das Eliot als „the peace which passeth understanding" übersetzt.
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Interrelationen aufeinander bezogen sind. Es geht gerade nicht um einen binären Gegensatz zwischen Realität und Imagination, Leben und Kunst, sondern um deren jeweils neues, je individuell oder situativ variierendes Ineinanderwirken. Es geht darum, die spontanen Lebensenergien sprachlich einzufangen, zu rekonstruieren und zu vergegenwärtigen, die am Prozess von Geschichte und Realität maßgeblich beteiligt sind, aber in den Systemen ihrer Deutung oder machtpolitischen Manipulation nicht erfasst werden. „This is the people's history and it has flesh and blood" (60), lässt die Erzählerstimme den Radioreporter Russ Hodges über das historische Baseballspiel denken, dessen Übertragung teilweise direkt in den Romantext einbezogen ist. ,,[W]e specialize in forgotten lives" (389), sagt analog Klara Sax, die waste artist, die für das ästhetische Programm des Buchs selbst steht, wenn sie „the ordinary life behind the thing,... an element of felt life" (77) in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellt. Statt der großen Metaerzählungen erkundet der Roman, im Sinn von Lenny Bruces rap mosaic, ,,[t]he secret history that never appears in the written documents of the time or in the public statements of the men in power." (594) Solche Momente der Lebensintensität werden im Text immer wieder in den verschiedensten Zeitphasen und Realitätsbereichen aufgesucht, und sie sind es, die den entscheidenden Gegenpol zu den Mächten eines death-in-life darstellen, wie sie in der Schwarz-WeißWelt des Kalten Kriegs oder, in anderer Weise, auch in den anonymen Informationsabläufen der elektronischen Medien zu kollektiv bestimmenden Realitäten bzw. Mentalitäten zu werden drohen. Gegenüber dem Triumph of Death, der sich im paranoiden Kontrollsystem Hoovers zeigt, aber auch etwa in der Obsession mit dem unzählige Male wiederholten Kennedy-Mord im Fernsehen, oder dem ähnlich oft wiederholten Abspielen eines Videobands, auf dem zufällig der Tod eines Opfers eines Serienmörders, des Texas Highway Killers, festgehalten ist („The more you watch the tape, the deader and colder and more relentless it becomes." 160), oder auch in der brutal unterkühlten Internet-Version von Esmeraldas Vergewaltigung und Ermordung - gegen all diese Beispiele medialer Todesobsession wird dabei eine affirmative Grundhaltung der Biophilie als Quelle der ästhetischen Energie erkennbar, die sich im Roman manifestiert. Insbesondere Klara Sax ist das bevorzugte Sprachrohr dieser impliziten Ästhetik des Textes und zugleich die markanteste Vertreterin eines imaginativen Gegendiskurses in der Figurenkonzeption des Romans. Für sie bringt Kunst das Unwiederholbare, Singulare von Ereignissen gegenüber dem Genormten, Gleichen, endlos sich Wiederholenden automatisierter Produktions-, Verhaltens- und Wahrnehmungsabläufe zur Geltung. Klara Sax, eine deutschstämmige Jüdin, arbeitet an einem gigantischen Projekt der landscape waste art, in dem Hunderte ausrangierter Bomberflugzeuge aus dem Kalten Krieg, die Atomwaffen transportierten und nun in der Wüste von Texas abgestellt sind, von ihr und ihrem Team farbig bemalt werden. Das Projekt ist betitelt Long Tali Sally nach einem Song der Rolling Stones, der die Flieger einst zum Aufmalen eines gleichnamigen Pinup Girls inspirierte, auf das wiederum Klara Sax Bezug nimmt. Es ist
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also eine prozessual-kooperative, nicht individualistische Kunstauffassung, die hier praktiziert wird, die aber dennoch die Individualität des in ihr ausgedrückten Lebens bewahrt. „But this is an individual life. And I want this life to be part of our project." (78) Die zur riesigen Müllhalde gewordenen, hochtechnisierten Todesmaschinen des Kalten Kriegs werden zum Ausgangspunkt einer imaginativen Transformation, die die destruktiven Seiten des zivilisatorischen Realitätssystems symbolisch überwindet, indem sie seine verselbständigten Automatismen ästhetisch aufbricht: See, we are painting, hand-painting in some cases, putting our puny hands to great weapons systems, to systems that came out of the factories and assembly halls as riear alike as possible, millions of components stamped out, repeated endlessly, and we're trying to unrepeat, to find an element of felt life, and maybe there's a sort of survival instinct here, a graffiti instinct - to trespass and declare ourselves, show who we are. The way the nose artists did, the guys who painted pinups on the fuselage. (77, m. H.)
Kunst in diesem weiten Sinn, die Populärkunst, Graffiti, Improvisationskunst einschließt, ist mithin Ausdruck eines vitalen Überlebensinstinkts, eines Bedürfnisses nach Selbstpräsentierung des Menschen innerhalb der seriellen Strukturen der technoscience, aus denen er zu verschwinden droht. Als Ausdruck kreativer Lebensenergien, die sich dem Vereinnahmungsdruck systemischer Uniformität entziehen, wird Kunst zu einer biophilen Gegenkraft, zu einem „sign against death" (78). Dabei wird die Natur, die Wüste zum wesentlichen Bestandteil dieser Kunst als das transhumane Energieumfeld, auf das die Zivilisation einwirkt und von dem sie unhintergehbar übergriffen wird. Solche Kunst bezieht die Gesamtheit der Lebensbedingungen mit in ihre Bedeutungskonstruktion ein, wird holistische, wenn auch stets nur vielstimmig-improvisierende, nie monologisch-totalisierende Kunst. Sie ist ökologische Kunst im eigentlichen Sinn, indem sie die Interaktion zwischen Zivilisation und Natur unter bewusster Konfrontation ökologischer Zerstörungen, aber auch der Aktivierung der vitalen Erneuerungskräfte des Lebens in den Mittelpunkt stellt. „This is a landscape painting in which we use the landscape itself. The desert is central to this piece ... The desert bears the visible signs of all the detonations we set off. All the craters and warning signs and nogo areas and burial markers, the sites where debris is buried." (71 ) Aber gleichzeitig hat Klara Sax nach langen Jahren die Bedeutung der Farbe wiederentdeckt, die in ihrer Leuchtkraft, erotischen Energie, ihrer rauschhaften Erlebnisintensität einen Kontrast zum Schwarzweiß und Grau der Systemdiskurse darstellt: „... after all this I am rediscovering paint. And I am drunk on color. I am sex-crazed. I see it in my sleep. I eat it and drink it. I'm a woman going mad with color." (70) Die Biophilie im ökofeministischen Sinn, als die „original lust for life",15 ist hier deutlich als Antriebskraft der ästhetischen Energie erkennbar, mit der Klara Sax
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Vgl. Cortiel, 1999: 7.
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das waste land des zivilisatorischen Technikabfalls in ein sinnlich erfahrbares, ganzheitliches Landschaftskunstwerk verwandelt. Die Vorgehensweise dieser Kunst ist sowohl die Inkorporation und Re-Präsentation der technisch-zivilisatorischen Objekte und ihrer Problemfolgen, als auch der Akt ihrer Verlebendigung durch persönliche Aneignung und ästhetische Grenzüberschreitung. Die Grenze zwischen Kunst und Leben wird dabei ebenso überschritten wie die zwischen Zivilisation und Natur. Gegenüber binären Gegensätzen wird das Prinzip der Wechselwirkung in den Mittelpunkt gestellt und als Erkenntnis- und Energiepotential genutzt. Dies ist jedoch nicht das Prinzip einer harmonischen Balance, sondern einer konfliktreichen, spannungsgeladenen Interferenz vielfältiger Einflüsse, von „field patterns"16 eher als von abgrenzbaren Objektbereichen, von interaktiven Kraftfeldern sinnlicher Energie. Gerade in ihrem „swerve from evenness" (444) vermag es die Kunst, kulturell getrennte Bereiche zu Reaktionsfeldern von irritierender Intensität zusammenzubringen, in denen sich diskursive Trennlinien und Systemgrenzen auflösen und erstarrte Realitätskonzepte und Erlebnismuster in produktive Turbulenz geraten. Die Wirkung solcher Kunst auf den Rezipienten zeigt sich exemplarisch an der Reaktion Nick Shays, der Klara Sax bei den Arbeiten am Projekt besucht und anschließend mit seiner Frau Marian anlässlich von deren Geburtstag eine Fahrt im Ballon unternimmt, bei der er das Projekt erstmals von oben und als ganzes in den Blick bekommt. Das noch nicht fertiggestellte Projekt strahlt dabei eine geradezu schockartige ästhetische Intensität aus, in der Technik und Natur, Plan und Spontaneität, Gedanken und Gefühle, Schönes und Hässliches, Geistiges und Körperliches ineinanderwirken. The painted aircraft took on sunlight and pulse. Sweeps of color, bands and spatters, airy washes, the force of saturated light - the whole thing oddly personal, a sense of one painter's hand moved by impulse and afterthought as much as by epic design. I hadn't expected to register such pleasure and sensation. The air was color-scrubbed, coppers and ochers burning off the metal skin of the aircraft to exchange with the framing desert. But these colors did not simply draw down power from the sky or lift it from the landforms around us. They pushed and pulled. They were in conflict with each other, to be read emotionally, skin pigments and industrial grays and a rampant red appearing repeatedly through the piece - the red of something released, a burst sac, all blood-pus thickness and runny underyellow. And the other planes, decolored, still wearing spooky fabric over the windscreen panels and engines, dead-souled, waiting to be primed. (83)
Was in der Kalten-Kriegs-Mentalität, deren Produkte die Atombomber sind, unterdrückt war, wird hier in radikaler Weise aktiviert - Sonne, Licht, Farbe, Gefühl, lebendige Kreatürlichkeit - und in spannungsreiche Wechselbeziehung mit dem gebracht, wovon es ausgegrenzt war. Im Austausch zwischen Technound Biosphäre wird ein fundamentaler Lebensrhythmus eingefangen, der die
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Hayward, 1995: 29.
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beiden übergreift: „The painted aircraft took on sunlight and pulse." Das Rot, das in der Schwarz-Weiß-Welt eines J. Edgar Hoover fehlte, wird als Farbe der Emotionen und des Eros zu elementarer Leuchtkraft gebracht. Die Bilder explosiver Farbigkeit und Lebensenergie verbinden sich dabei mit Bildern von Krankheit und aufbrechendem Geschwür, aber auch von befreiender Öffnung und Geburt. Der Akt der ästhetischen Transformation des ,toten' Kriegsmaterials wird deutlich als eine Geburt visualisiert, eine symbolische Erneuerung der Lebenskraft innerhalb einer technologischen Maschinerie, die, „dead-souled", ihre Auferstehung in den kreativen Prozessen der Imagination erlebt. Diese Motivik wird auf der Handlungsebene dadurch unterstrichen, dass Klara Sax ausgerechnet an dem Tag, an dem Nick sie nach vierzig Jahren wiedersieht, Geburtstag hat und auch der Ballonflug Nicks mit seiner Frau Marian, bei dem er diese intensive ästhetische Erfahrung macht, an deren Geburtstag stattfindet. Die adäquate Form der Rezeption ihres Werks ist nach Klara Sax eine ganzheitliche, bewusst verlangsamte Wahrnehmung - „She wanted us to see a single mass, not a collection of objects. She wanted our interest to be evenly spaced. She insisted that our eyes go slowly over the piece. She invited us to see the land dimension, horizonwide, in which the work was set." (83^1) Bei Nick, der sich an diese Anregungen hält, bewirkt der Anblick von Long Tali Sally ein Gefühl faszinierender Wildheit, aber auch beunruhigender Ausgesetztheit gegenüber den Kräften, die in dieser Interaktion zwischen zivilisatorischen Machtprodukten und präzivilisatorischen Elementarenergien freigesetzt werden. „I felt a kind of wildness all around me, the grim vigor of wheather and desert and those old weapons so forcefully rethought, the fittingness of what she'd done, but when I'd seen it all I knew I wouldn't stay another second." (84) Nick Shay, als die wichtigste Figur und Erzählerstimme des Romans, hat also zwar ein Sensorium für die radikale Erfahrung des Anderen, die subversive Transgression zivilisatorischer Systemgrenzen, die die Kunst vermittelt, aber geht auch in reflexartige innere Distanz zu ihr. Er nimmt, wie sich hier bereits zeigt, eine eigentümliche Zwischenstellung ein zwischen den gegensätzlichen Polen, die den Romanprozess bestimmen und für die der Komplex von Kaltem Krieg, Atomindustrie und Medientechnologie einerseits, und der Komplex von Kunst und kreativer Lebensintensität andererseits steht. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Leben ist dabei von beiden Seiten her fließend. Beinhaltet Klara Sax' Werk die Öffnung der Kunst auf die Realität und der zivilisatorischen Technosphäre auf die sie umgebende Biosphäre, so repräsentiert andererseits die Person der Künstlerin selbst die vitale Energie und Erneuerungskraft, aus der ihre Kunst hervorgeht. Obwohl schon 72 Jahre alt, hat sie auf den weit jüngeren Nick, den sie bereits als 17jährigen in die Sexualität initiierte und mit ihrer natürlichen Körperlichkeit beeindruckte („Klara conducted dialogues with her own body", 379; „she knew how to be naked", 750) - , eine unvermindert starke erotische Ausstrahlung (der Name „Sax" kann hier wohl als Wortspiel mit „Sex" gesehen werden). Auch in den anderen Beispielen
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zeitgenössischer Kunst, die im Roman eine Rolle spielen, wird dieser Zusammenhang zwischen Realität und Imagination, Leben und Kunst betont. Dies gilt etwa im Fall des jugendlichen Graffiti-Malers Moonman 157, der mit seiner Bemalung ganzer U-Bahn-Wagen in den 70er Jahren die Erfahrungen des Ghettos ausdrückte und nicht nur zu einer Kultfigur des Underground wurde, die niemals gefasst oder identifiziert werden konnte, sondern auch zu einem Vorbild für Klara Sax, von dem ihr Long Tall Sa/íy-Projekt mitbeeinflusst ist. Zwanzig Jahre später finden wir, nun unter dem Namen Ismael Muñoz, Moonman im Slum des „Wall" als Sozialhelfer wieder, mit dem Sister Edgar zusammenarbeitet und auf dessen Inspiration hin eine neue Generation jugendlicher GraffitiMaler die Engel der toten Kinder als Mahnfiguren auf eine Wand über dem waste land der Elendsviertel malen. Das Leben geht in seiner ganzen Wildheit, Anarchie, Brutalität, Expressivität und Sensibilität in die Kunst ein, in deren Ausdrucksmaterial auch die improvisatorisch-subversiven Äußerungsformen der populären Imagination zentral mit einfließen. Ziel der Kunst ist es, die Intensität gelebten Lebens zur Darstellung zu bringen, aber gerade nicht nur im distanzlos-identifikatorischen Aufgehen in der jeweiligen Gegenwart, sondern unter bewusster Einbeziehung der Vergangenheit. Für Klara Sax ist die Einbeziehung von Vergangenheit und Geschichte in ihre Kunstauffassung wesentlich - „She needed to be loyal to the past" (473). Sie lehnt den für amerikanische Kunst typischen, vollständigen Bruch mit der Vergangenheit ab, „American art, the do-it-now, the fuck-the-past - she could not follow that". (377) Wiederum gilt Ähnliches für den Roman selbst, der seine innovativen Effekte aus der Einbeziehung vergangener Formen der Kunst und Imagination, und die kreative Revitalisierung der Kultur, die er anstrebt, aus der Vergegenwärtigung ihrer verdrängten Vergangenheit gewinnt. Erst durch die Konfrontation der Vergangenheit kann Kunst die Vision einer menschlicheren Welt entwickeln. Dies zeigt auch der (fiktive) Sergeij Eisenstein-Film Unterwelt, der in der alternativen Kunstszene der 70er Jahre gezeigt wird und von dem Klara Sax fasziniert ist, weil er zum einen die Schrecken der Dehumanisierung der Menschen als Objekte eines wissenschaftlichen Terrorsystems darstellt, zum anderen aber auch eine Vision der Versöhnung entwickelt, in der sich am Ende des Films eines der in Großaufnahme gezeigten entstellten Menschengesichter wieder zusammenfügt, verjüngt, und schließlich in die Landschaft auflöst: „a sequence that occurred outside the action proper, a distinct and visible wish connecting you directly to the mind of the film, and the man sheds his marks and scars and seems to grow younger and paler until the face finally dissolves into landscape." (444—5) Als erfundener Film stellt Unterwelt eine weitere Ekphrase, eine intermediale Illustration der Ästhetik des Romans selbst dar. Er steht in deutlicher Parallele zur Unterweltreise in den Kalten Krieg und in Nick Shays Vergangenheit, die am Ende in Ansätze der persönlichen Regeneration und einer Mensch und Umwelt umgreifenden Friedensutopie mündet.
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6.5 Traumatisierung und symbolische Wiedergeburt: Nick Shay und der reintegrative Interdiskurs des Romans Die beiden erkennbar gewordenen Pole des Romans, die indessen wie gesehen unauflöslich miteinander zusammenhängen - Systemrepräsentation und biophile Subversion, Konformität und Individualität, kulturkritischer Metadiskurs und imaginativer Gegendiskurs - finden in der Hauptfigur Nick Shay, um dessen Perspektive und Lebensgeschichte herum der Erzählprozess bei aller Dezentrierung im wesentlichen angelegt ist, eine eigentümliche, widersprüchliche Koexistenz. Einerseits ist er in der Bronx aufgewachsen, ein Kind der italoamerikanischen Slums und eines halbmafiösen Milieus, der früh seinen Vater verlor und sich in jugendlichen Gangs in den Straßen und dubiosen Lokalen des Ghettos herumtrieb. Er verkörpert also jene rauhe, energiegeladene Lebenswirklichkeit und Selbstbehauptungsform der Bronx, die auch Moonman 157 in seinen Graffiti ausdrückt und zu der Klara Sax sich einst hingezogen fühlte, was sich in ihrem sexuellen Verhältnis zum 17jährigen Nick ausdrückte. Nick ist ferner in enge Beziehung zu dem Baseballspiel von 1951 gesetzt, das kontrastiv zum Beginn des Kalten Kriegs einen durchgängigen Bezugspunkt der Handlung darstellt und dessen Spielball sich, nach vielen Zwischenstationen, in seinen Händen befindet. Nick hatte einst eine intensive, ja existentielle Beziehung zum Baseballspiel, die er nach der historischen Niederlage seines Teams, den Dodgers, zwar äußerlich verlor, die aber doch immerhin so weit nachwirkte, dass er den authentischen Ball jenes Spiels für eine hohe Geldsumme erwarb. Er ist gedanklich und emotional offen für eine Vielfalt von Einflüssen und Personen und hat, wie gesehen, ein ausgeprägtes ästhetisches Aufnahmevermögen, das er auch sprachlich umzusetzen weiß. Dennoch wirkt er auf einer anderen Ebene seltsam distanziert und unterkühlt, ja wie innerlich abwesend aus der Welt, in der er lebt. Es ist, als existiere er nur mehr wie in einer unwirklichen Laborwelt, einem Umfeld künstlicher Erfahrungen, das nicht zuletzt durch die computerisierte Welt seines gegenwärtigen Berufs als waste manager geprägt ist: „You feel the contact points around you, the caress of linked grids that give you a sense of order and command. It's there in the warbling banks of phones, in the fax machines and photocopiers and all the oceanic logic stored in your computer." (89) Er identifiziert sich mit dieser Welt der zivilisatorischen Sicherheit und Ordnung, die einen diametralen Gegensatz zur Erfahrungswelt seiner Jugend darstellt. In der Tat führt der Weg seines Lebens aus der sozialen ,Unterwelt' der Bronx in den bronze tower der Firma in Phoenix, in der er arbeitet, aus dem kriminellen Milieu in die professionelle Oberschicht, aus dem Chaos seiner Jugend in ein wohlgeordnetes Berufsund Eheleben. Es ist also äußerlich betrachtet eine amerikanische Erfolgsgeschichte, die er hinter sich hat. Der Name der Stadt .Phoenix', der auf den Mythos der Wiedergeburt aus dem Untergang anspielt, scheint dies zu unterstreichen. Diese Namensbedeutung wird hier allerdings zugleich deutlich ironisiert.
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Denn es ist, als wäre bei allem äußeren Erfolg etwas in Nick abgestorben, eine ursprüngliche Vitalität, die freilich auch mit Verwahrlosung und Aggressivität verbunden war. Er scheint mit der Konstruktion einer glatten Persönlichkeitsoberfläche - „this is Nick - the technology, the logic, the esthetic" (163) - unterschwellige Chaosängste zu unterdrücken, die von der Vergangenheit her in ihm nachwirken. Der anonyme Konformitätsdruck der Arbeitswelt, dem er ausgesetzt ist, droht sein selbständiges Ich auszulöschen: „The third person sends his nobody to kill the first person's somebody." (119) Er genießt nun zwar materielle Sicherheit, ist ein gefragter Spezialist für Müllbeseitigung, insbesondere für atomaren Müll, reist als Vortragender durch die Welt und führt privat ein „quiet life in an unassuming house." (80) Gegenüber Klara Sax' beunruhigenden Imaginationsprozessen empfindet er sich als „reasonably in the real" lebend, eins mit der kollektiv geteilten Wahrnehmung der Wirklichkeit, in zivilisatorisch gesicherter, rationaler Kontrolle der Welt. Realität und Geschichte sind für ihn kein unendlich ausuferndes, dezentiertes Geschehen, sondern bilden eine einheitliche, geordnete Struktur, die in kohärent-übersichtlicher Weise nachvollziehbar ist, in „a single narrative sweep, not ten thousand wisps of disinformation." (82) Damit befindet er sich nicht nur in Gegensatz zu Klara Sax, der eine solche einheitlich-geschlossene Weltwahrnehmung gerade fehlt, sondern auch zur Konzeption des Romans selbst, der eben keine übergreifende monolithische Metaerzählung mehr liefert, sondern die unzähligen Brüche, Abwege, Irrwege, Sonderwege und Zufallswege der Geschichte bewusst in seine Präsentationsform einbezieht. Wenn Nick daher über seine derzeitige Lebensform in Phoenix sagt, „I liked the way history didn't run loose here. They segregated visible history. They caged it, funded and bronzed it, they enshrined it carefully in museums and plazas and memorial parks." (86), so steht er damit für eine Mentalität, die im Prozess des Romans gerade radikal in Frage gestellt und unterlaufen wird. Er vermeidet es gegenüber seiner Frau, von Problemen seiner Vergangenheit und von seiner Jugend in der Bronx zu erzählen. So wie die offiziellen Versionen des Kalten Kriegs dessen abgründige Traumata verdrängen, so verdrängt Nick die Traumata seiner eigenen Lebensgeschichte, die der Roman, analog zu denen der Gesellschaft als ganzer, in nichtlinearen zeitlichen Rückwärtsschritten aufdeckt und damit einer Bewältigung zugänglich macht. Im Fall von Nick handelt es sich dabei vor allem um drei traumatische Erfahrungen. Die erste ist das plötzliche Verschwinden seines Vaters, der eine Randfigur im Mafiamilieu war und unter mysteriösen Umständen die Familie verließ, als Nick noch Jugendlicher war, was eine nie ganz verheilte Wunde in seinem Unbewussten hinterlassen hat. Die zweite traumatische Erfahrung ist das von seinem Lieblingsverein verlorene Baseballspiel von 1951, das ihn wie eine persönliche Niederlage traf, ja parallel zu Hoovers Reaktion auf die gleichzeitige Nachricht von der russischen Atombombenexplosion auch bei ihm eine Art inneren ,Tod* bewirkt: „I died inside when they lost. And it was important to die alone. Other people interfered. I had to listen alone. And then the radio told me
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whether I would live or die." (93) Dass Nick hier das Baseballspiel allein auf einem Dach der Bronx am Radioapparat verfolgt und es, in adoleszenter Übersteigerung, als Entscheidungskampf um Leben und Tod erlebt, zeigt, wie sehr er seine existentiellen Probleme auf ein von anderen gespieltes und abhängiges Spiel projiziert hat. Die seltsam unbeteiligte Art, in der er später den von anderen jahrelang und mit großer Leidenschaft gesuchten Ball des Spiels erwirbt, ist noch eine Spätfolge dieser Niederlage, seit der er sich in seinem Selbstbild auf geradezu fatalistische Weise mit dem Verlierer, dem Dodgers-Pitcher Branca, identifiziert hat. (97) Der Ball ist einerseits ein Objekt der Erinnerung und Symbol einer Kontinuität mit einer Zeit, in der der singuläre Charakter real erlebter Ereignisse noch nicht durch ihr sofortiges Replay am Femsehen zerstört war. Er ist im Roman Gegenstand umfangreicher und geradezu archäologisch-kriminologischer Recherchen durch aficionados des Spiels, durch deren detailliert nachvollzogene Suche eine höchst persönliche, intensive Vergangenheitsbeziehung inmitten der jeweiligen Erzählgegenwart entsteht. Der Ball ist der „narrative counterpoint and DeLillo's peg for a countermemory of the Cold War period." 17 Der „white ball" wurde gar als wenn auch weniger spektakuläres Korrelat des „white whale" von Moby-Dick bezeichnet, der wie dieser eine magisch-imaginäre Gegeninstanz zur unpersönlichen Totalherrschaft der zivilisatorischen Technologie verkörpert. 18 Umso stärker fällt auf, dass Nick als der Besitzer dieser kulturellen Ikone ein so zwiespältiges Verhältnis zu ihm hat, dass er einerseits jede tiefere Beziehung zu ihm demonstrativ abstreitet und ihn irgendwo zwischen seinen Büchern verstauben lässt, dass er ihn aber andererseits in Momenten der Krise und nächtlichen Alpträume hervorholt und sich an ihn, wie an eine Erinnerung seiner verlorenen Identität, klammert. (132ff.) Die dritte und am stärksten nachwirkende traumatische Erfahrung schließlich ist die Schlüsselszene seiner Jugend, zu der sich der Roman erst in einem mühsamen Prozess der Erinnerung, der „rememory", annähert, nämlich der unfreiwillige Mord an George the Waiter, seinem Mentor und Freund aus dem Spieler- und Drogenmilieu. Die Tat, die am Tag nach dem Baseballspiel geschah, bedeutete den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben. Die Zeit im Gefängnis, zu der er verurteilt wird, sowie anschließend in einem von Jesuiten geleiteten Correction Center, bewirkt eine völlige Veränderung seines Bewusstseins und Charakters. Vom jugendlichen Anarchisten der Straße wandelt er sich rasch zum moralischen Konservativen und zum Unterstützer des Senators McCarthy, also zum geistigen Mitläufer der Kalten-Kriegs-Ideologie. Aufgrund seiner beachtlichen, durch die Jesuiten geschulten Sprachfähigkeiten steigt er beruf-
" Philipp Wolf, „Baseball, Garbage and the Bomb: Don DeLillo, Modern and Postmodern Memory", Anglia, 120, 2002: 81. 18 Jesse Kavadlo, „Celebration and Annihilation: the Balance of Underworld", Undercurrents, 1999, 7. http://darkwing.uoregon.edu/~ucurrent/uc7/7-Kava.html.
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lieh auf, macht sich, während andere politisch gegen den Vietnamkrieg protestieren, durch das erfolgreiche Schreiben von Reden für „corporate chairmen" (289) einen Namen, und wird schließlich anerkannter Experte im Bereich atomarer Müllentsorgung, der an maßgeblicher Stelle und in globaler Kooperation die Beseitigung der Abfallprodukte des atomaren Wettrüstens mitorganisiert. Die Verdrängung seiner Jugend und insbesondere der Tat, mit der sich sein Leben änderte, wird erst im Prozess des Romans, gegen den Widerstand des Verdrängten, allmählich rückgängig gemacht. Die Paralyse seiner innersten Persönlichkeit, der ,Tod-im-Leben'-Zustand, in dem er sich psychisch seit jenem Vorfall befindet, kann paradoxer Weise erst aufgebrochen werden, wenn er die traumatisierende Urszene noch einmal durchlebt. Auf diese Szene hin bewegt sich denn der Prozess des Romans, soweit er Nicks innere Entwicklung anbelangt. Den Anstoß zu dieser Öffnung und Konfrontation gibt die erwähnte Wiederbegegnung mit Klara Sax und ihrer Kunst im Teil I, deren zutiefst beunruhigenden Einfluss er zwar zunächst abzuwehren versucht, die aber die empfindungslos gewordene Oberfläche seiner Persönlichkeit durchbricht und die lange verdrängten Erinnerungen an die Jugend in der Bronx in teilweise schmerzhafter Intensität zurückkehren lässt. Dem Zentrum dieser Erinnerungen nähert er sich an, als verschiedene Szenen aus dem Unterweltmilieu in ihm auftauchen, in dem sein Vater sich bewegte und in dessen Umfeld Nick als Jugendlicher geriet. In einer Atmosphäre, die an Hemingways „The Killers" erinnert, trifft er in einem Lokal Leute, die seinen Vater kannten; einen Mafioso, der ihm versichert, die Mafia habe nichts mit dessen Verschwinden zu tun; ein späteres Opfer der Mafia, der wie Hemingways code heroes kühle Gelassenheit demonstriert. Und er lernt einen drogensüchtigen Kellner kennen, George the Waiter, der sich in seinen Arbeitspausen in einen Kellerraum der labyrinthischen Gebäudekomplexe zum einsamen Drogenkonsum zurückzieht und zu einer Art unfreiwilliger Mentorenfigur für Nick wird. George ist, wie der Leser aus einer anderen Perspektive erfährt - der des Lehrers Bronzini und damaligen Ehemanns von Klara Sax - , ein völlig gebrochener, gescheiterter Mann, der in seinem teilnahmslosen Starren auf leere Wände an die Todesfixierung von Melvilles Bartleby erinnert: „The man directed a dead stare at the facing wall." (770) Nick jedoch ist beeindruckt, als George ihn zusehen lässt, wie er sich die Nadel setzt, da Nick sich durch ihn in eine bisher unbekannte, geheimnisvoll-abenteuerliche Seite des Lebens initiiert fühlt. Und so lässt er sich dann eines Tages, als er George wieder in seinem Kellerraum aufsucht, auch auf das gefährliche Spiel ein, das sich entwickelt, als George eine abgesägte Schrotflinte hervorzieht und Nick zeigt. Nick nimmt wie im Film die Pose eines Gangsters ein, der auf George zielt, und als dieser behauptet, die Waffe sei nicht geladen, drückt er ab und trifft ihn tödlich mitten ins Gesicht. Nicks Schock über diese Szene wird noch in deren Rekonstruktion daran deutlich, dass ihm die gedankliche und sprachliche Kontrolle über seine Reaktionen verloren geht, dass der in einzelne Teilsequenzen aufgesprengte Vorfall sich wie
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automatisiert in seinem Kopf wiederholt. Dadurch entsteht der Effekt eines mehrfachen replays und einer zeitlupenhaften Intensivierung des Geschehens, das dessen völlig unverarbeiteten Anfangseindruck noch einmal unmittelbar sprachlich vergegenwärtigt und so erstmals einer möglichen Verarbeitung zugänglich macht. Die Schuldfrage bleibt dabei offen. Zwar ging Nick damals auch aus Imponiergehabe auf das Risiko ein, die Waffe auf George zu richten und abzudrücken. Doch spielt George dabei bewusst selbst mit seinem Leben, ja er weiß wohl, dass die Waffe geladen ist und wirkt in dieser selbstgewählten Grenzsituation zum Tod paradoxerWeise so .lebendig' wie nie zuvor. „And he had a look on his face that was more alive and bright than George had ever looked." (780). Für Nick ist dieser Moment der Wiedererinnerung der Moment, in dem sein inneres Trauma, sein Tod-im-Leben-Zustand aufbricht, in dem er den bösen Geist der Vergangenheit, der sein Unbewusstes gelähmt hatte, nochmals auferstehen lässt und dadurch exorziert. Damit geht eine nochmalige Veränderung, eine Öffnung von Nicks Persönlichkeit einher, wie der Epilog mit dem Titel „Das Kapital", der in der neuesten Zeit spielt, zeigt. Er gerät einerseits in größere Distanz zur Gegenwart, mit der er sich zuvor noch so selbstgewiss identifiziert hatte, und tritt andererseits in eine stärkere Identifikation mit seiner Vergangenheit, von der er sich zuvor noch wie in innerem Zwang distanziert hatte. Es ist oberflächlich gesehen keine radikale Veränderung. Nick übt weiter erfolgreich seinen Beruf als international tätiger waste manager aus, lebt in sauberen, wohlgeordneten Verhältnissen einschließlich sorgfältiger Hausmülltrennung, und führt eine stabile Ehe, die auch durch die Entdeckung des Verhältnisses seiner Frau zu seinem Kollegen und besten Freund nicht ernsthaft gefährdet wird. Unter dieser Oberfläche indessen spielen sich dennoch signifikante Veränderungen ab. Was seine Tätigkeit als waste manager anbelangt, so werden ihm bei einem Besuch in Kasachstan, wo von Russen und Amerikanern gemeinsam in unterirdischen Atomexplosionen Atommüll zerstört werden soll, an missgebildeten Föten und verstümmelten Kindern in aller Drastik die dehumanisierenden Folgen der Atombombenversuche des Kalten Kriegs vor Augen geführt. Diese Kehrseite des Kalten Kriegs, seine menschlichen .Abfallprodukte', die auch in den USA entstanden und lange Zeit vertuscht wurden, rücken die neue Ära der supranationalen Kooperation, die immer noch auf der Grundlage derselben zerstörerischen Technik abläuft, in ein durchaus fragwürdigeres Licht als es die offiziellen Versionen einer neuen, digital vernetzten Weltordnung verbreiten. Aber auch psychologisch hat er sich aus der Fixierung auf seine Rolle und auf die gegenwärtige Welt vermeintlicher zivilisatorischer Sicherheiten entfernt: „I long for the days of disorder. I want them back, the days when I was alive on the earth, rippling in the quick of my skin, heedless and real." (810) Er durchbricht gegenüber seiner Frau Marian sein Schweigen über die Vergangenheit und teilt mit ihr die Erfahrungen seiner Jugend, auch seine Initiation durch Klara Sax, wobei Marian sich so stark in ihn
210
II. Interpretationsteil
hineinversetzt, dass sie ihn selbst wie einen 17jährigen, d.h. wie einst Klara Sax wahrnimmt. Durch diese inneren Zeitverschiebungen erlebt er nun tatsächlich eine Art .Wiedergeburt', wie sie schon in der Wiederbegegnung mit der Künstlerin und ihrem Werk im Teil I anklang. Dies wird verdeutlicht durch die Motivik der Mutterfigur, die DeLillo hier einbezieht und mit der er den Zyklus von Tod und Leben, Werden und Vergehen aufgreift, der den Roman durchzieht und der eine Kontinuität kreativ-regenerativer Energie von der Vergangenheit bis in die Gegenwart stiftet. Klara ist aufgrund ihres deutlich höheren Alters eine Art Mutterfigur für Nick; die beiden vollziehen ihre sexuelle Beziehung in demselben Bett, in dem zuvor die Mutter von Klaras Mann Bronzini krank lag und starb; Klaras Kunst erscheint Nick im Bild der .Geburt' einer neuen Wahrnehmung und Beziehung zur Welt; und als Nicks wirkliche Mutter, die er aus der Bronx nach Phoenix geholt hatte, stirbt, fühlt er ihre Kräfte auf sich übergehen wie in einer tieferen, in Bildern naturhafter Energie ausgedrückten Selbstwerdung und Erweiterung seines Ichs: „When my mother died I felt expanded, slowly, durably, over time. I felt suffused with her truth, spread through, as with water, color, light. I thought she'd entered the deepest place I could provide, the animating entity, the thing, if anything, that will survive my own last breath, and she makes me larger, she amplifies my sense of what it is to be human." (804) Der Name Phoenix, der Stadt, in der sich Nicks .Wiedergeburt' vollzieht, gewinnt also hier am Ende doch einen deutlicher ausgeprägten Sinn als es zunächst scheinen mochte. Er gewinnt diesen Sinn allerdings nicht aus der fortschrittsgläubigen Verabsolutierung der Gegenwart, sondern aus der wiedergefundenen, lebendigen Kontinuität mit der Vergangenheit, von der sich Nick zugunsten geschichtsloser zivilisatorischer Realitäts- und Rollenkonstrukte abgeschnitten hatte und zu der er erst durch den radikalen Erinnerungs- und Selbstaneignungsprozess zurückfindet, den die Begegnung mit Klara Sax und ihrer Kunst in ihm auslöste. Durch sie wird auch die imaginative Kraft der Erneuerung für ihn wieder zugänglich, die sich aus der schockhaften Aufarbeitung der Deformationen der Zivilisationsgeschichte ergibt. Konsequenter Weise löst Nick sich in der Schlussszene des Romans auch noch aus dem Medium, in dem er aus dem Geist postmoderner Globalisierung die Vergangenheit des Kalten Kriegs aufgearbeitet hat, dem Internet, und blendet zur konkret erlebbaren Realität seiner natürlichen und sozialen Umwelt zurück. Er stellt damit nicht nur die Kontinuität zu seiner eigenen Vergangenheit wieder her, sondern zum kreativen Potential eines demokratischen Amerikas, das in der Artikulation seiner vergessenen Lebenshoffnungen, wie sie in den Kinderstimmen am Schluss, und in der Stimme des schwarzen Jugendlichen am Anfang des Romans zum Ausdruck kommen, auch erst wieder den Weg aus seiner zivilisatorischen Fortschrittsobsession zu sich selbst finden kann. Der Erzähler findet gewissermaßen seine eigene Stimme wieder, indem er die polyphone Stimmenvielfalt der Menschen zur Geltung kommen lässt, von der seine
6. DeLillo,
Underworld
211
Kultur, gegen deren soziale und diskursive Ausgrenzungen, getragen wird: „... and it's your voice, your hear, essentially" (827), und damit ist nicht nur der Erzähler, sondern auch der Leser gemeint, der hier in fast Whitmanesker Art in die demokratisch-affirmative Sinnerfahrung des Textes einbezogen wird. Der Prozess des Romans als ganzer lässt sich im Licht des Gesagten in seinen wesentlichen Entfaltungsschritten als kulturökologischer Prozess beschreiben, der bei aller Fragmentierung und Dezentrierung folgende Stationen durchläuft: Er beginnt im Prolog mit der rekonstruierenden Vergegenwärtigung eines intensiven Moments kultureller .Lebendigkeit' - dem Baseballspiel mit dem Home Run - , in den mit der Nachricht der russischen Atombombenexplosion der Beginn des Kalten Kriegs einbricht. Dieser führt zu einer kulturellen death('«-/¡/e-Situation, die bis in die Erzählgegenwart des Romans im Jahr 1992 nachwirkt und sich beim Erzähler Nick mit dessen persönlichem Trauma verbindet. Der Hauptteil des Buchs eröffnet in der Wiederbegegnung mit Klara Sax und ihrer Kunst einen Prozess der kulturellen und psychologischen Erneuerung durch die rückschreitende Aufarbeitung dieses doppelten Traumas, die mit der Konfrontation verdrängter Bereiche des kollektiven und individuellen Bewusstseins einhergeht. Der Durchgang durch diese .Unterwelt' fördert Zustände von Deformation, Selbstentfremdung und Gewalt zu Tage, mobilisiert aber auch anarchische, kritische und ästhetische Gegenenergien in den unverwechselbaren Momenten persönlich gelebten Lebens, die rekonstruiert und sprachlich vergegenwärtigt werden. Der Epilog bringt mit der historischen Fortführung und ambivalenten Überwindung der Epoche des Kalten Kriegs zugleich Ansätze einer Auflösung früherer Fixierungen und einer symbolischen Regeneration des individuellen und kulturellen Lebens mit sich. Dieser Prozess ist in höchstem Maß vielstimmig und plurimedial angelegt. Auf diese Weise wird ein ungewöhnlich breites Spektrum anderweitig nicht artikulierter Perspektiven und Erfahrungen artikuliert, und werden infinite Interrelationen zwischen ansonsten getrennten kulturellen Bereichen gestiftet, durch die überraschende Zusammenhänge aufgedeckt und beträchtliche ästhetische wie kognitive Synergieeffekte erzielt werden. Das Fragmentarische und Heterogene moderner Wirklichkeitserfahrung wird im Roman einerseits in extremer Form herausgebracht, andererseits mit holistisch-regenerativen Prozessen zusammengeführt. Die binären, biophoben Trennungen der modernen Zivilisation - Geist/Körper, Rationales/Emotionales, Realität/Imagination, Technik/Kunst, Kultur/Natur - werden dabei sowohl aufgegriffen als auch ständig überschritten. An eben diesen Trennlinien entlang ist der kulturökologische Fokus des Romans geführt. Dadurch ergibt sich der Effekt, dass kulturkritischer Metadiskurs, imaginativer Gegendiskurs und reintegrativer Interdiskurs ständig ineinander übergehen. Es gibt zwar Passagen, in denen der kulturkritische Metadiskurs dominiert, d.h. die Herausstellung der Defizite und systembedingten Vereinseitigungen einer kulturellen Mentalität, wie in den Szenen mit Hoover und Sister Edgar. Und es gibt auch Passagen, in denen der imaginative Gegendiskurs
212
II.
Interpretationsteil
stärker hervortritt, wie in den Szenen mit Klara Sax und ihren Kunstprojekten. Doch werden diese Funktionsaspekte hier stärker und unmittelbarer im Wechselspiel miteinander entwickelt als in anderen hier behandelten Texten. Wichtigster Träger dieses kulturökologischen Prozesses im Roman ist indessen nicht die Handlung und sind auch nicht die Figuren, sondern ist die Sprache, die alle anderen Medien einbezieht, ihre Potentiale nutzt und sich doch aus ihrem determinierenden Zugriff befreit. Als historisch geprägtes und je situativ moduliertes Medium der Beobachtung, Benennung, Differenzierung, Relationierung und Mitteilung ist Sprache selbst ein Teil gelebter Wirklichkeit, die durch sie im Text zur Geltung gebracht werden kann. Sprache ist in diesem Roman stets Repräsentation und Performanz zugleich, Darstellung kultureller und individueller Erfahrungsprozesse und zugleich Medium ihres bewussten, lebendigen' Vollzugs. Die Sprache im Roman wurde zu Recht als „performance art" bezeichnet, die auch magisch-animistische Züge einschließt.19 Im Spannungsfeld zwischen der Unverfügbarkeit vorsprachlicher Erfahrungen, die sie ästhetisch verfügbar macht, und dem Verfügungsanspruch zivilisatorischer Mediendiskurse, die sie auf ihre Kehrseite des Unverfügbaren öffnet, sucht sie ihre Eigenständigkeit zu bewahren und zu behaupten. Sie führt den Dialog der Kultur mit ihrem Anderen, des Vertrauten mit dem Fremden, der Diskurssysteme mit der prädiskursiven Erfahrungswelt auf eine Weise, die sowohl radikal kritisch als auch radikal affirmativ ist. Die Sprache selbst wird gewissermaßen zum Medium biophiler Energien, das der latenten Biophobie moderner Zivilisation und modernen Bewusstseins entgegenwirkt, indem es ihre undurchschauten Zwangsstrukturen aufbricht, ihre Verdrängungen bewusst macht, ihre imaginativen Potentiale entfaltet.20 Damit stellt der Roman die Möglichkeit der kritischen Reflexion, aber auch der symbolischen Erneuerung einer hochkomplexen Zivilisationswelt dar, wie sie in anderen Medien nicht in derselben Vielschichtigkeit, Bewusstheit und holistischen Intensität möglich ist.
19
20
Nel, 1999: 727ff. - Zum magischen Aspekt vgl. Paul Gediman: „DeLillo's prose tends towards the oracular. His frame of reference is ... pagan, indeed animistic ...". „Visions of the American Beserk", Boston Review 1998, http://bostonreview.mit.edU/BR22.5/ gediman.html. DeLillo umschreibt dies in ähnlicher Weise, wenn er in „The Power of History" über die Sprache in Underworld sagt, sie arbeite „in opposition to the enormous technology of war that dominated the era and shaped the book's themes." DeLillo, 1997: 6.
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Register
A
c
Abstraktheit, abstrakt 118, 119, 121, 122, 124, 125, 135, 136, 144, 145, 165, 179, 182, 198 abstrakte Gesellschaft 32, 33 American Adam 117 American Dream 86, 185 American Renaissance 84, 93 Anthropologie, anthropologisch 32, 33, 34, 39, 59, 64, 88, 101 Anthropozentrisch 36, 41, 93, 96, 97, 153 Archaisches, archaisch 37, 65, 67, 101, 105, 112, 120, 174 Aristoteles 11 Ästhetisches, ästhetisch 5, 14, 30, 46-52, 53, 61, 63, 76, 77, 85, 87, 105, 132, 138, 144, 145, 146, 150, 153, 154, 165, 167, 182, 186, 200, 202, 203, 204, 211
Caillois, Roger 65, 72 Chaos, Chaotisches, chaotisch 54, 59, 80, 99, 103, 111, 120, 138, 145, 146, 172, 175, 176, 181, 184, 185, 186, 187, 193, 205, 206 Chopin, Kate 145, 157 Chopin, Kate, The Awakening 18, 62, 131, 147, 131-153, 155, 177 Christentum, christlich 95, 115, 161, 174 city upon a hill 74, 78 Common Human Pattern 33 community, communal 31, 88, 128, 156, 174, 179 Cultural Studies 5, 21, 46, 51
Β Bachtin, Michail M. 9 Bercovitch, Sacvan 84 Bergson, Henri 31 binäres Denken 74, 75, 93, 103, 117, 154, 178, 183, 188, 211 binäre Gegensätze 117, 154, 189, 200, 202 Biologie, biologisch 22, 24, 25, 34, 41, 42, 43, Biophilie, biophil 31, 34, 35, 37, 41, 64, 67, 76, 112, 154, 155, 200, 201, 205, 212 Biophobie, biophob 73, 75, 191, 192, 211, 212 Biosphäre 22, 30, 36, 128, 203 Biotop 48, 51 Blues 155, 156 Boughn, Michael 115, 119, 122 Buell, Lawrence 16, 29 Bukolik 11, 60 Burleske, burlesk 114, 126
D death-in-life-Motiv 64, 75, 91, 94, 160, 162, 177, 185, 188, 189, 200, 211 Deep Ecology 27, 28, 41 Dekonstruktion, dekonstruktiv 115, 119, 124, 182, 183 Demokratie, demokratisch 121, 179, 210, 211 DeLillo, Don, Underworld 18, 64, 65, 181-212 descensus ad inferos 98 Dialektik der Aufklärung 151 dissipative structure 45 Diversität 28, 48 Dionysisches, dionysisch 108, 120, 125, 131, 132, 144, 145, 149, 152, 153, domestic novel 132 domestic sphere 116, 139 E eco-consciousness 36 Ecocriticism 15, 17, 21, 27, 29, 31 Ecofeminism 36 Eliot, T.S. The Waste Land
236
Register
Energie 23, 24, 43, 45, 47, 53, 54, 67, 75, 77, 82, 91, 119, 125-127, 133, 140, 144 150, 165, 166, 176, 202, 211 Entfremdung 31, 32, 64, 86, 153, 172 Environmental Criticism 29 environmental imagination 17 Environmentalists 27 Eros 32, 75, 82, 103, 140, 141, 152, 192, 203 Erotisches, erotisch 108, 137, 145, 148, 153, 170, 201, 203 Evolution, evolutionär 22, 24, 25, 32, 40, 42, 44, 55, 63, 67
Hermeneutik 32, 53 Heynitz, Bettina von 152 historiographische Metafiktion 72, 90 holistisch 100, 102, 119, 123, 164, 178, 201, 211, 212 holistisches Denken 6, 15, 28, 45, 53, 56 homo oeconomicus 32, 136 Humanökologie 25 Hurston, Zora Neale 156, 167 Hurston, Zora Neale, Their Eyes Were Watching God 131 Hutcheon, Linda 72 Hutchinson, Ann 75, 76
F
I
Faulkner, William 157, 158 female imaginary 132 feministisch 30, 38, 131, 143, 160 Fill, Alwin 25 Fishkin, Shelley Fisher 118 Fitzgerald, The Great Gatsby 185 Flaubert, Madame Bovary 132 Fluck, Winfried 62,63, 114, 123,124, 132, 133 Foucault, Jacques 39 Fortschrittsmodell 7, 17, 43, 85, 185 fugitive slave 117, 125, 160
Idylle 11, 13 Imaginäres 59, 62-63, 72, 99, 108, 115, 119, 132, 134, 144, 167, 173, 188 imaginäre Energie 133, 140, 141, 198 Imagination 42, 72, 77, 91, 112, 145, 158, 159, 167, 188, 198, 203, 204, 206 imaginativer Gegendiskurs 63-65, 75, 79, 96, 111, 134, 163, 168, 169, 172, 177179, 199, 200, 205, 211, 212 impressionistisch 132, 133 Individualismus, individualistisch 16, 30, 62, 87, 88, 109, 113, 117, 127, 128, 141, 201 Individualität 24, 42, 48, 52, 96, 127, 128, 144, 146, 182, 184, 196 Individuum 133, 179 individuality-in-context 88, 127, 128 Interdisziplinarität, interdisziplinär 22, 34 intermedial 132, 181, 204 Internet 196, 197, 200, 210 Interrelation 24, 30, 42, 48, 93, 164, 182, 183, 184, 199, 200, 211 Iser, Wolfgang 47, 59-61, 97, 182
G Garner, Margaret 159, 160 Gegendiskurs, gegendiskursiv 121, 134, 150 gender 13, 137 Gender Studies 5, 37 Gesamtkunstwerk 132, 152 Geschlechterdiskurs 81 Geschlechterkonvention 131, 138, 139 Geschlechtersystem 147 Gilmore, Michael 87 Globalisierung 182, 210 Groteskes, grotesk 9, 12, 78, 96, 103, 115, 126
J Jazz 155, 156 Jehlen, Myra 127 Jugendstil 152, 143
H Haeckel, Ernst 24 Hawthorne, Nathaniel 156, 157 Hawthorne, Nathaniel The Scarlet Letter 18, 64, 65, 71-91, 93, 113, 134 Hegel, G.W.F. 47 Heidegger, Martin 32 Hemingway, „The Killers" 208
Κ Kalter Krieg 181, 183, 185, 188, 189, 191, 192-193, 195, 197, 198, 200, 202, 203, 204, 206, 207, 209, 211 Karneval 170 Karnevaleskes, karnevalesk 78, 115, 126, 170
237
Register Kellert, Stephen 34 Koevolution, koevolutionär 14, 40 Kolonialisierung 8, 9 Kolonialismus 106 Komisches 12, 78 kommunal 87, 135, 136, 173 Komplexität, komplex 6, 7, 13, 14, 34, 39, 40, 50, 62, 112, 182, 183 Konstruktivismus 43f. Kooperation, kooperativ 25, 36ff., 39, 40, 128, 164, 179, 201, 208, 209 Körper, Körperlichkeit, körperlich 8, 9, 12, 32, 38, 60, 61, 62, 79, 80, 81, 82, 108, 119, 136, 139, 140, 146, 152, 161, 164, 166, 173, 177, 178, 190, 195, 203 Kreativität, kreativ 42, 52-55, 63-67, 75, 77, 80-82, 91, 100, 105, 115, 124, 144, 147, 150, 153, 154, 174, 178, 201, 203, 204 kreatives Potential 185, 198, 210 Kritische Theorie 32 Kulturanthropologie, kulturanthropologisch 31, 55, 61 kulturelle Ökologie v.a. 53-68 kulturkritischer Metadiskurs 63, 64, 77, 111, 177, 211 Kulturökologie 55f. L Lebensenergie 124, 137, 163, 164, 182, 184, 200, 201, 203 LeGuin, Ursula 16 Literarische Anthropologie 57, 59-61 Literary Ecology 15, 17, 21, 29, 42 local color 132 Love, Glen Α. 27 Luhmann, Niklas 4, 57
Medientechnologie 203 Mehrdimensionalität 6, 18, 49, 50, 58, 72 Melville, Herman 157, 208 Melville, Herman, Moby-Dick 18, 34, 64, 65, 93-112, 113, 123, 134, 177 Melville, Herman The Confidence-Man: His Masquerade 123 Metamorphose 168 Moderne, modern 31, 33, 43, 108, 110, 111, 132, 133, 137, 144, 151, 152, 155, 161, 177, 185, 186, 211, 212 Modernisierung, modernisierend 5, 10, 12, 14, 17, 32, 58, 61, 93, 106, 112, 133, 135, 139 Morrison, Toni, Beloved 18, 64, 65, 155, 156-179, 181, 185, 187 Müller, Kurt 116, 126 multikulturell 30 Musik 9, 83, 132, 144, 146, 151, 152, 166, 177 mythographisch 65 Ν Native Americans 16 native writing 12, 16 Nature's Nation 100 Naturwissenschaften, naturwissenschaftlich 6, 22, 23, 24, 25, 45, 47 Nennen, Heinz-Ulrich 51 Neuhistorismus, neuhistorisch 8, 39, 51, 157 New Woman 131, 133, 137, 141, 143 Nichtlinearität, nichtlinear 7, 30, 41, 43, 51, 149, 157, 206 Nietzsche, Friedrich 11, 39, 144 Nünning, Ansgar 72 O
M Magie, magisch 98, 118, 167, 143, 174, 187, 199, 212 magischer Realismus 67, 71, 167, 187 Magisches 14, 65, 76 Malerei 145, 152 Manifest Destiny 112 Marx, Leo 8, 17 Mather, Cotton 74 matriachal 37, 116 McLuhan, Marshai 61 mechanisches Denken 15, 28, 42, 45 Mediales 13, 61, 62 Medien 24, 61, 62, 188,
oceanic discourse 150, 152 Ökofeminismus, ökofeministisch 35, 38, 81, 201 Ökokritik 30, 31, 32 Ökologie v.a. 2 1 - 2 6 Ökonomisch 39, 97, 101, 102, 123, 134, 135, 136, 137, 139, 164, 177, 182, 183, 188 Ökosystem 6, 25, 39, 40, 42, 128 Ökotop 51 ökozentrisch 28, 41 organisches Denken 15, 28, 42, 45
238
Register
Ρ
romance 71, 73
Paradoxie 115, 117, 119, 144, 158, 193 parodistisch 121 Pastorales, pastoral 11, 13, 17, 108, 128, 148, 172, 199 pastorale Idylle 122, 147 Patriachat, patriarchal 35,37, 81, 116, 135, 137, 142 Paulson, William 50, 56 Performance Art 184,212 Performanz, performativ 124, 126, 173, 212 performative Ästhetik 123 Pfeiffer, Karl-Ludwig 59, 6 1 - 6 2 Pfotenhauer, Helmut 61 pikaresker Roman 114 Poe, Edgar Allan, „The Masque of the Red Death" 192 Poe, Edgar Allan, „The Raven" 193 Postkolonial 5, 30, 155, 157, 176 Postmoderne, postmodern 31, 36, 38, 44, 51, 62, 67, 72, 133, 155, 176, 177, 183, 188, 196, 210 Poststrukturalismus, poststrukturalistisch 5, 22, 29, 39, 51, 98, 131 prämodem 31, 38, 144, 167, Prozeßhaftigkeit, prozessual 6, 15, 42, 48, 50, 53, 176, 201 Puritanismus, puritanisch 72, 73, 74, 75, 78, 85, 86, 88, 89, 135, 140
Romantik, romantisch
R Rassismus, rassistisch 113, 117, 118, Rationalität, rationalistisch, rational 137, 151, 157, 167, 178, 206 Realismus, realistisch 114, 133, 155, 184 rebirth 178 Reconstruction Period 118 Referentialität, referentiell 30 Regeneration, regenerativ 32, 53, 80, 108, 109, 164, 170, 176, 178, 211 Reinfandt, Christoph 57, 58 Reintegration 173 reintegrativer Interdiskurs 63, 65-67, 80, 111, 178, 187, 205, 211 Relationalität, relational 49, 63, 88, 141, 142, 147, 149, 179 Religion, religiös 193, 194, 196, 197 Rezeption 51, 52
178 136, 167,
66, 204,
77109,
10,14,15,31,42,67
S Salinger, J.D. Catcher in the Rye 196 Satire, satirisch 114, 115, 121, 126 Schmidt, S.J. 4 self-made man 102, 127 self-reliance 95, 132, 142 Semiose 76, 87, 98, 109, 164, 178 Semiotik, semiotisch 73, 144, 177 Shakespeare, William 8-10, 126 Sklaverei, sklavenhaltend 106, 115, 125, 126, 155, 158, 159, 160, 161, 162, 166, 169, 175, 177 slave narrative 156 Stevens, Wallace 30 Steward, Julian H. 55 Stoddard, Elizabeth, The Morgesons 131 story-telling 113, 114, 118, 123, 128, 155, 169, 176, 177 Stowe, H. B., Uncle Tom's Cabin 117 Strukturalismus 57 Systemtheorie, systemtheoretisch 57, 58 Τ Tandt, Christophe Den 150 Technosphäre 36 Theorie der Literatur 11, 29, 46, 71, 182 Thoreau, Henry David 16, 129 Tiefenökologie 29 Tod-im-Leben 119, 162, 186, 193, 208, 209 transindividuell 52, 109, 167, 144 Transzendentalisten, Transzendentalismus 132, 153 Traumatisierung, Trauma, traumatisch 116, 121, 148, 155, 158, 160, 162, 163, 164, 175, 184, 199, 205, 206, 207, 208, 211 Trickster-Figur 123, 170, 174, 177 True Womanhood 137, 139 Twain, Mark 157 Twain, Mark, Huckleberry Finn 18, 64, 65, 113-129, 131, 134, 177
υ Umwelt 44, 119, 122 Underground Railroad 166 Unterweltreise 171, 172, 184, 199, 204
239
Register V Victorian Womanhood, Victorian Woman 86, 133, 137, 139, 140, 142, 143 Viktorianische Kultur 115, 116, 118, 124, 131, 132, 140 viktorianisches gender-System 134, 138, 141 Voodoo, Vodoun 167, 169, 173 vormodern 33, 108, 110, 137, 152, 188 Voros, Gyorgyi 30 Vortex 110 W Wagner, Richard 151, 152 Wagner, Richard, Tristan und Isolde 152
147,
Walker, Alice 156 waste art 186, 199, 200, 202 waste land 64, 186, 187, 199, 204 Wechselwirkung 25, 44, 48, 118, 178, 202 Weisenburger, Steven 159 whitmanesk 211 Whitman, Walt „Out of the Cradle Endlessly Rocking" 138, 153 Wiedergeburt 66, 174, 179, 203, 205, 210 Wildnis 29, 36, 82 Wilson, Edward O. 34 Winthrop, John 74, 78 Wissenschaft, wissenschaftlich 97, 161, 191, 194, 204 Wright, Richard 156