Stille Wasser - tiefe Texte?: Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts [1. Aufl.] 9783839419298

Die Oberfläche hatte gegenüber der Tiefe lange Zeit nur einen nachgeordneten Rang - das änderte sich im 19. Jahrhundert.

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German Pages 312 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. ORDNUNGEN VON OBERFLÄCHE UND TIEFE
Oberfläche und Tiefe Zur Genese einer Unterscheidung
Der Abgrund hat keine Decke
Die Tiefe (in) der Bibel
Tiefe des Herzens
Wie dick ist die Oberfläche?
Flächig oder flächlich?
Metapher, Unterscheidung, Topologie
Von der Tiefe an die Oberfläche
Schichten und Sedimente: Der Grund der Erde
Lavaters Physiognomik und die Tiefe des Körpers
Eine Ästhetik des Wassers? Winckelmanns Meer
II. WIE TIEF SIND STILLE WASSER? LITERARISCHE KONSTELLATIONEN VON OBERFLÄCHE UND TIEFE IM 19. JAHRHUNDERT
Einleitung
Schwimmen oder Tauchen? Zweimal Nicola Pesce
Tauchen: Schillers Ballade „Der Taucher“
Schwimmen: „Nicola Pesce“ (C.F. Meyer)
Raum der Projektionen Romantische Durchblicke auf den Meeresgrund
Orientierungsverlust. E.T.A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“
Durchsicht oder Spiegelung? Heinrich Heines „Seegespenst“
Die Tiefe der Vergangenheit
Tiefe als Spiegelungseffekt: „Der Hochwald“ (Adalbert Stifter)
Tiefe als Projektion: „Immensee“ (Theodor Storm)
Vereisung der Oberfläche Fontanes Roman „Der Stechlin“
Schluss
Literaturverzeichnis
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Stille Wasser - tiefe Texte?: Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts [1. Aufl.]
 9783839419298

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Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte?

Lettre

Vera Bachmann (Dr. phil.) forscht und lehrt im Bereich Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Erzähltheorie, der Mediengeschichte und der Literatur des Realismus.

Vera Bachmann

Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Zugl.: München, Univ., Diss. 2010.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Vera Bachmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1929-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

I. O RDNUNGEN VON O BERFLÄCHE UND T IEFE Oberfläche und Tiefe Zur Genese einer Unterscheidung | 25 Der Abgrund hat keine Decke | 25

Die Tiefe (in) der Bibel | 30 Tiefe des Herzens | 36 Wie dick ist die Oberfläche? | 39 Flächig oder flächlich? | 44 Metapher, Unterscheidung, Topologie | 48 Von der Tiefe an die Oberfläche | 55

Schichten und Sedimente: Der Grund der Erde | 56 Lavaters Physiognomik und die Tiefe des Körpers | 60 Eine Ästhetik des Wassers? Winckelmanns Meer | 71 II. W IE TIEF SIND STILLE W ASSER ? L ITERARISCHE K ONSTELLATIONEN VON O BERFLÄCHE UND T IEFE IM 19. J AHRHUNDERT Einleitung | 87 Schwimmen oder Tauchen? Zweimal Nicola Pesce | 89

Tauchen: Schillers Ballade „Der Taucher“ | 91 Schwimmen: „Nicola Pesce“ (C.F. Meyer) | 124 Raum der Projektionen Romantische Durchblicke auf den Meeresgrund | 143

Orientierungsverlust. E.T.A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ | 145 Durchsicht oder Spiegelung? Heinrich Heines „Seegespenst“ | 16 8

Die Tiefe der Vergangenheit | 193

Tiefe als Spiegelungseffekt: „Der Hochwald“ (Adalbert Stifter) | 195 Tiefe als Projektion: „Immensee“ (Theodor Storm) | 218 Vereisung der Oberfläche Fontanes Roman „Der Stechlin“ | 245 Schluss | 279 Literaturverzeichnis | 285

Einleitung

Die sogenannte Postmoderne war verliebt in die Oberfläche. Wohin man auch blickte, überall sah man plötzlich, was lange Zeit vernachlässigt und als sekundäre Erscheinung geringgeschätzt worden war: Oberflächen. Bis dahin scheinbar nur Begleiterscheinung einer Tiefe, um die es eigentlich ging, gewann die Oberfläche nun an Eigenwert. 1990 ließ Elfriede Jelinek programmatisch verlautbaren „Ich möchte seicht sein!“1, 1993 lobte Vilém Flusser die Oberflächlichkeit,2 die Zeitschrift Plurale startete 2001 mit einer Nullnummer zur Oberfläche3 und die Neue Rundschau widmete dem Thema Tiefe Oberflächen 2002 ebenfalls ein eigenes Heft.4 Martin Kurthen diagnostizierte in seinem Aufsatz Lob der Oberfläche einen Schwund der Tiefe: „Statt Verdrängung, Kontrast, Dialektik findet man nur noch sich potenzierende Oberflächen: Der Teich des Unbewußten ist einfach ausge-

1

Elfriede Jelinek, „Ich möchte seicht sein!“ In: Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Hg. von Christa Gürtler. Frankfurt a.M. 1990, S. 157-161. Zu Elfriede Jelineks Oberflächenästhetik siehe den Sammelband Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. Hg. von Thomas Eder u. Juliane Vogel. München 2010.

2

Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. In: Ders., Schriften. Hg. von Stefanie Bollmann u. Edith Flusser. Bd. 1. Mannheim 1993.

3

Plurale. Zeitschrift für Denkversionen. Heft 0: Oberflächen. Hg. von Mirjam

4

Neue Rundschau 4/2002: Tiefe Oberflächen. Hg. von Hans Jürgen Balmes, Jörg

Goller u.a. Berlin 2001. Bong u. Helmut Mayer. Frankfurt a.M. 2002.

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trocknet.“5 Ihab Hassan nennt den „Verlust von ‚Ich‘, von ‚Tiefe‘“ als eines der Merkmale, die das kulturelle Feld der Postmoderne bestimmten: „Das Ich löst sich auf in eine Oberfläche stilistischer Gesten, es verweigert, entzieht sich jeglicher Interpretation.“6 Oberfläche und Oberflächlichkeit wurden zu einem der Schlagwörter, mit denen sich das Genre der Popliteratur charakterisieren lässt, so Eckhard Schumacher: „Zitate, Beobachtungen, Klischees und alltägliche Merkwürdigkeiten werden nicht ideologiekritisch oder tiefenhermeneutisch analysiert, sondern über Oberflächenbeschreibungen aufgenommen und in sachlich protokollierender oder gezielt manierierter Form reproduziert.“7 „Es gibt ja nichts anderes als die Oberfläche“8, begründete beispielsweise Benjamin von Stuckrad-Barre sein ästhetisches Programm. Über Andy Warhol, der immer wieder als Gründungsfigur einer postmodernen Oberflächenästhetik genannt wird, bemerkt Harry Walter, dass es „ihm auf radikalste Weise gelungen sei, auf öffentliche Art oberflächlich zu sein. [Seine Werke] verweisen auf kein Dahinter, sondern zeigen nur, [...], dass es außer dieser Oberfläche nichts gibt.“9 ‚Dass es außer der Oberfläche nichts gibt‘ – das ist die Grundannahme der postmodernen Oberflächenfeier. Wenn die Postmoderne sich als Epoche der Oberfläche stilisiert und die Popliteratur Poetiken der Beschreibung ebendieser entwirft, so wird hiermit versucht, ein zentrales Paradigma der abendländischen Kultur zu verabschieden: die Tiefe. Ihr wird abgeschworen, der Oberfläche eine eigenständige Existenz zugeschrieben. Dieses Programm wird dabei aber selbst immer wieder unterlaufen. So kündigt bei-

5

Martin Kurthen, „Lob der Oberfläche. Die Psyche nach dem Unbewussten“. In: Hans Rudi Fischer u. Siegfried J. Schmidt (Hg.), Wirklichkeit und Welterzeugung. In memoriam Nelson Goodman. Bonn 2000, S. 244-255, hier S. 253.

6

Ihab Hassan, „Postmoderne heute“. In: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 4756, hier S. 50.

7

Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2003, S. 34. Siehe auch den Sammelband Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Hg. von Olaf Grabienski u.a., Berlin 2011.

8

Zitiert nach: Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 33.

9

Harry Walter, „Die Radikalisierung der Oberfläche“. In: Neue Rundschau 4/2002, S. 9-22, hier S. 20.

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spielsweise der Sammelband Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater10 im Vorwort an, „sich dem Sog der Tiefe zu entziehen, nicht hinter die Dinge, sondern auf sie zu blicken und nach ihrer Darstellung zu fragen.“11 Wenn dann allerdings in der Einleitung davon gesprochen wird, die Metaphorik der Oberfläche „ausloten“12 zu wollen, so wird deutlich, wie schwer es fällt, die Kategorie der Oberfläche ohne die Tiefe zu denken. Das hängt aber mit dem Begriff der Oberfläche selbst zusammen, der die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe voraussetzt: Die Oberfläche ist keine plane Fläche, sondern eine Ober-fläche. Sie ist nicht nur plastisch, sondern situiert sich über einem „Darunter“ – der Tiefe. Sie ist ein dreidimensionales Konstrukt, die obere Begrenzung von etwas, das man verabschieden oder dessen Verlust man beklagen kann, das im Begriff der „Oberfläche“ aber jedenfalls erhalten bleibt. Die Rede von der Oberfläche ruft zwangsläufig eine Vorstellung von Tiefe auf, auch wenn diese Tiefendimension als Leerraum vorgestellt wird. Selbst die postmoderne Feier der Oberfläche kommt nicht los von der Größe, gegen die sie sich eigentlich richtet: die Tiefe. Es geht in dieser Arbeit, das sei gleich vorweg gesagt, jedoch weder um eine Rehabilitation der Tiefe noch um eine weitere Parteinahme für die Oberfläche, sondern es ist das Zusammenspiel beider Größen, das hier ganz unvoreingenommen beobachtet werden soll. Dabei soll der Blick zurückgelenkt werden auf das 19. Jahrhundert, in dem jene Schreibweisen zu Hause sind, gegen die sich die Popliteraten abgrenzen. Gleichzeitig vollzieht sich im 19. Jahrhundert aber auch eine langsame Aufwertung der Oberfläche gegenüber der lange bevorzugten Tiefe – es geht in dieser Arbeit also auch um die Vorgeschichte der postmodernen Oberflächenfeier. Die allmähliche Emanzipation der Oberfläche lässt die Kategorie der Tiefe zu einer von ihr abhängigen Größe werden. Oberfläche und Tiefe werden zu zwei Seiten einer Unterscheidung, deren eine Seite jeweils nicht ohne die andere zu haben ist. Sie werden zu einem räumlichen Denkmodell, zu einer epistemologischen Metapher. Es sind die topologischen Konstellationen und Trans-

10 Hans-Georg von Arburg u.a. (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. Zürich/Berlin 2008. 11 Ebd., „Vorwort“, S. 7. 12 Isabelle Stauffer, Ursula von Keitz, „Einleitung“. In: Ebd., S. 13-31, hier S. 13.

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formationen dieses Denkmodells im 19. Jahrhundert, die hier betrachtet werden sollen. Nach Michel Foucault ist die Unterscheidung von Oberfläche der Dinge und Tiefe der Bedeutung ein Kennzeichen der modernen Episteme. In seiner Studie über Die Ordnung der Dinge zeichnet Foucault nach, wie die Ordnung der Repräsentation, die das Wissen der klassischen Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts organisiert habe, gegen Ende des 18. Jahrhunderts ins Wanken geraten sei:13 „Die Repräsentation hat die Kraft verloren, von ihr selbst ausgehend, in ihrer eigenen Entfaltung und durch das sie reduplizierende Spiel die Bande zu stiften, die ihre verschiedenen Elemente vereinigen können. Keine Zusammensetzung, keine Zerlegung, keine Auflösung in Identitäten und Unterschiede kann mehr die Verbindung der Repräsentation miteinander rechtfertigen. [...] Die Bedingungen dieser Verbindungen ruht künftig außerhalb der Repräsentation, jenseits ihrer unmittelbaren Erscheinung (visibilité), in einer Art Hinterwelt, die tiefer und dicker als sie selbst ist.“14

Die zweidimensionale Ordnung des Wissens der klassischen Episteme, wie sie Foucault im Bild des Tableaus beschreibt, wird zu einer dreidimensionalen; das Tableau bekommt eine Tiefendimension, die nicht direkt zugänglich scheint. Die Repräsentation eröffnet einen „inneren Raum, der für unsere Repräsentation außerhalb liegt“15. Als Konsequenz daraus spalte sich, so Foucault, das moderne Wissen auf: in „Metaphysiken jenes nie objektivierbaren Grundes, von dem die Gegenstände zu unserer oberflächlichen Erkenntnis kommen; und auf der anderen Seite Philosophien, die sich allein die Beobachtung genau dessen zur Aufgabe machen, was einer positiven Erkenntnis gegeben wird.“16 Die „Metaphysiken der ‚Tiefen‘“17 stehen nunmehr getrennt neben dem Positivismus, der sich auf Oberflächenbeschreibungen beschränkt. Als Beispiel für erstere Wissensform beschreibt Foucault die Entwicklung der Philologie im 19. Jahrhundert, die

13 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1974. 14 Ebd., S. 295. 15 Ebd., Herv. i.O. 16 Ebd., S. 302. 17 Ebd.

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von einem neuen Denken der Sprache geprägt sei: „Vom neunzehnten Jahrhundert an verschließt sich die Sprache, erhält sie ihr eigene Mächtigkeit, entfaltet sie eine Geschichte, Gesetze und eine Objektivität, die nur ihr gehören.“18 Die Sprache erlangt, schreibt Foucault, eine „rätselhafte Dichte“19 – die Philologie wird entsprechend zur „Analyse dessen, was in der Tiefe des Diskurses gesagt wird“20. In eine ähnliche Richtung wie die Überlegungen Foucaults gehen die Ausführungen von Roland Barthes zur Struktur des Zeichens. In Die Imagination des Zeichens21 legt Roland Barthes dar, dass die verschiedenen Beziehungstypen des Zeichens, die symbolische, die paradigmatische und die syntagmatische Beziehung, bestimmte Raummodelle implizieren. So sehe das Symbolbewusstsein „das Zeichen in seiner Tiefendimension, da das Symbol in seinen Augen durch die Übereinanderlagerung von Bedeutendem und Bedeutetem konstituiert wird.“22 Das Symbolbewusstsein, das historisch gesehen bis zum Strukturalismus die dominante Imagination des Zeichens darstelle, nehme das Zeichen also vor allem in einer Art vertikaler Beziehung wahr. Barthes spricht von seiner „geologischen Dimension“ 23 und der entsprechenden „Tiefenimagination“24: „Es erlebt die Welt als die Beziehung zwischen einer vordergründigen Form und einem vielgestaltigen mächtigen Abgrund.“25 Diese vertikale Struktur des Zeichens prägt, wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, auch die Literatur der Zeit – zum Ende des 19. Jahrhunderts hin aber wird das dahinterstehende ,Symbolbewusstsein‘ im Zeichen der Oberfläche in Frage gestellt. Gegenüber der Tiefe war die Oberfläche lange Zeit nur eine sekundäre Erscheinung. Während die Tiefe seit der Antike als Metapher für das schwer Zugängliche, Undurchdringliche und Unerforschbare dient, steht ihr Gegenbegriff, der der Oberfläche, metaphorisch für das leicht Zugängliche,

18 Ebd., S. 360. 19 Ebd., S. 363. 20 Ebd. 21 Roland Barthes, „Die Imagination des Zeichens“. In: Ders., Literatur oder Geschichte. Frankfurt a.M. 1969, S. 36-43. 22 Ebd., S. 38. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 42. 25 Ebd.

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das Offen- und Naheliegende. Während die Oberfläche Evidenz suggeriert, steht die Metapher der Tiefe für den Bereich einer eigentlichen Wahrheit und der Bedeutung, die positiv konnotiert ist. Erst dort, wo die Tiefe unter einer ganz anders gearteten Oberfläche verborgen ist, wie in der metaphorischen Rede über das Menschenherz, erscheint sie als potentiell bedrohlich. Ab dem 18. Jahrhundert, so die These dieser Arbeit, wird die Ausnahme einer Verborgenheit der Tiefe zunehmend zum Regelfall. Seither werden die Gegenbegriffe von Oberfläche und Tiefe nicht mehr nur gegeneinander ausgespielt, sondern aufeinander bezogen: Tiefe und Oberfläche werden zu zwei Seiten einer Unterscheidung und scheinen sich in einigen Bereichen gegenseitig zu bedingen – die Tiefe wird unter der Oberfläche der Dinge gesucht, und als Oberfläche wiederum wird diejenige Größe begriffen, die die Tiefe bedeckt. Was sich mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe formiert, ist ein topologisches Raummodell und eine epistemologische Metapher, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts verschiedene Bereiche des Wissens strukturiert. Der Bezug der Oberfläche zur Tiefe kann sich dabei unterschiedlich gestalten: Die Oberfläche kann die Zeichen der Tiefe tragen oder sie verbergen, sie kann durchsichtig sein oder den Blick ablenken – in jedem Fall erzeugt sie eine Erwartungshaltung: Die Oberfläche ist nie nur eine plane Fläche, sondern eben Ober-Fläche, die Begrenzungsfläche eines Raumes, der durch seine Begrenzung zum Reservoir von Erwartungen, Projektionen und Spekulationen, kurz: von Bedeutung wird. Oberfläche und Tiefe, könnte man auch sagen, stabilisieren sich gegenseitig, indem sie ein Modell der Unverfügbarkeit simulieren: Tiefe ist als Konstrukt eines ,Hintersinns‘ zu verstehen, der hinter oder unter der Oberfläche der Dinge vermutet werden kann. Entsprechend ist Oberfläche das Konstrukt einer Grenze, die auf ein Dahinter verweist. Die Unergründlichkeit von Tiefe wird aufrechterhalten, indem sie von einer Oberfläche bedeckt wird. In diesem Sinne ist das Modell konstitutiv für das moderne Denken von Sprache, Geschichte und Seele. Von der Physiognomik bis zur Psychoanalyse, von der Hermeneutik bis zur frühen Semiotik basieren verschiedene Bereiche des Wissens auf der Annahme einer Oberfläche, an der sich die Tiefe zeichenhaft manifestiert – aber eben nur als Zeichen der Oberfläche. Um 1800 spielt die Oberfläche in verschiedenen Diskursen eine zentrale Rolle. Die Geologie beispielsweise verwandelt die Tiefe in ein Schichtensystem ehemaliger Oberflächen. Die Physiognomik bemüht sich, von

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den Zeichen an der Oberfläche des Körpers auf dessen Inneres zu schließen. Und die Ästhetik, die hier am Beispiel Winckelmanns verhandelt wird, diskutiert das Wesen der Kunst an einem Statuenkörper, der als tiefelose Oberfläche konzipiert ist. Für die Literatur ist die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe deshalb von besonderer Relevanz, weil sie wohl seit den Anfängen der Hermeneutik auch ein Strukturmodell des Textes darstellt, nämlich das von textueller Oberfläche und tieferer Bedeutung. Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe soll hier deshalb vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden. Im 19. Jahrhundert, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, wandert die hermeneutische Metaphorik in die Texte ein – Oberfläche und Tiefe werden zu einer poetologischen Metapher, in der sich die Texte selbst reflektieren. Die Literatur der Epoche ist geprägt von vielfältigen Tiefenimaginationen, die sich als Beziehungstypen einer unterschiedlich gearteten Oberfläche und einer darunterliegenden Tiefe gestalten. Und trotz der dominierenden Tiefenorientierung der Zeit lässt sich an der Literatur eine allmähliche Emanzipation der Oberfläche beobachten, auf die Tiefe zunehmend bezogen wird. Dabei kennt vor allem die Literatur des Realismus kaum mehr eindeutig lesbare, sondern vielmehr opake oder mit Spiegeleffekten ausgestattete Oberflächen. Da diese Entwicklung jedoch kaum flächendeckend darzustellen ist, beschränkt sich die folgende Untersuchung auf ein Zentralmotiv der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe: auf das Motiv des (stillen) Wassers. Am Beispiel des Wassermotivs lassen sich komplexe Verhältnisse von Oberfläche und Tiefe beobachten: Die Oberfläche kann durch die Absenz von Zeichen auf die Existenz einer tieferen Dimension verweisen, sie kann aber auch Zeichen der Tiefe tragen oder sie verbergen. Verschiedene Abstufungen einer Durchsichtigkeit der Oberfläche sind möglich: Sie kann den Blick in die Tiefe zulassen oder zumindest ein Durchscheinen der Tiefe an der Oberfläche erlauben, andererseits kann sie aber auch opak sein und jede Durchsicht verwehren, sodass die Tiefe verborgen bleibt oder sich gar als Effekt einer spiegelnden Oberfläche entpuppt, die den Blick auf den Betrachter zurücklenkt. Man kann die Tiefe eines Gewässers ausloten oder auf den Grund tauchen, es kann aber auch etwas von der Tiefe an die Oberfläche steigen. Schließlich kann das Wasser gefrieren und seine Tiefendimension unter sich bedecken. Die Tiefe des Wassers erstreckt sich dabei nicht

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nur vertikal, sondern, vor allem im Motiv des Meeres, aufgrund der großen Ausdehnung auch in die Horizontale. Das Wasser ist ein Medium der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, und es sind seine medialen Eigenschaften, die einen Zusammenhang von Oberfläche und Tiefendimension stiften. Es gibt ein altes Sprichwort, das diesen Zusammenhang als gesetzmäßiges Verhältnis zu fassen versucht: „Stille Wasser gründen tief.“ Es formuliert eine wohl ursprünglich aus dem Bereich der Schifffahrt stammende Erfahrung, die immer auch eine Weisheit über den Menschen transportierte. So heißt es schon im Mittelalter: „Fac ut deuites sub falso corpore mites: Non credas undam placidam non esse profundam. Mach, dass du die meidest, die unter falschem Wesen mild sind! Glaube nicht, dass das ruhige Wasser nicht tief ist!“26 Es handelt sich dabei allem Anschein nach um eine sehr alte und weitverbreitete Erfahrung, denn ähnliche Formulierungen finden sich auch schon im Lateinischen und auch in anderen europäischen Sprachen wird gemutmaßt, dass stillen Menschen und stillen Wassern nicht zu trauen ist.27 Sie alle präsentieren ihre Weisheit als Warnung: In der Tiefe lauert Gefahr, weil sich in ihr etwas verbirgt, das von oben weder zu sehen noch zu hören ist: „[Z]ugrunde liegt die vorstellung, stehendes oder ruhig flieszendes wasser ist tief, nicht durchschaubar, gefährlich“28, heißt es noch im Grimmschen Wörterbuch. Und wo von den tiefgründenden Wassern in Analogie zum Menschen die Rede ist, da geht es um Heuchelei, Verstellung und Betrug: „nimm dich vor heuchelei der stillen leut in acht, / am tiefsten ist ein flusz, der kein geräusche macht“, heißt es beispielsweise bei Opitz.29

26 Zitiert nach: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Bd. 12. Berlin/New York 2001, S. 370. Hier auch Quellen aus dem Lateinischen, Spanischen, Niederländischen, Italienischen, Französischen und Englischen. 27 Vgl. ebd., S. 370ff. Im Altfranzösischen heißt es beispielsweise. „En gens coys tricherie habunde: L’eaue coye est la plus parfonde. – Bei ruhigen Leuten ist viel Betrug. Das stille Wasser ist das tiefeste“ (ebd., S. 371). 28 Vgl. Deutsches Wörterbuch. Von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. Leipzig 1854-1960. Bd. 18, Sp. 2944 (Eintrag „still“). 29 Zitiert nach: Deutsches Wörterbuch. Bd. 18, Sp. 2944.

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Im Laufe der Zeit ist der Charakter einer Warnung, den das Sprichwort einst hatte, milder geworden. „Ein stilles Wasser sein: seine Gefühle und Ansichten nicht zeigen, ruhig, verschlossen, auch: undurchsichtig sein“, umschreibt das Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten den heutigen Gebrauch des Sprichworts,30 und lässt dabei offen, worin die verborgenen Ansichten und Gefühle bestehen könnten. „In diesem Sprichwort wird eine – in der Regel auf den Charakter von Personen bezogene – Aussage darüber getroffen, dass ein scheinbar ‚ruhiges, unbewegliches‘ Wesen entgegen diesem äußeren Eindruck durchaus auf den ersten Blick nicht offensichtliche (bzw. dem Eindruck widersprechende) Eigenschaften hat, die sich als ‚beweglich, aktiv, tätig‘ o.ä. beschreiben lassen.“31 Die Bedrohlichkeit der Tiefe unter der ruhigen Oberfläche wird heute auf den Gegensatz von Ruhe und Aktivität reduziert. Die Tiefe ist hier kein eindeutiger Raum des Bösen und der Verstellung mehr. Lexika der Gegenwartssprache führen sogar eine vage positive Konnotation der Tiefe unter der Oberfläche auf: „Es kann verschieden verstanden werden“, heißt es im Lexikon der Redensarten, „Geläufig ist die Interpretation: Auch äußerlich ruhigen und ehrbaren Menschen ist nicht immer zu trauen. Sie steht neben der [...] Lesart, dass man ruhige Menschen leicht unterschätzt.“32 Menschen ruhigen Charakters besitzen demnach eine gewisse ‚Tiefe‘, sie scheinen über Qualitäten zu verfügen, die der flüchtige Kontakt nicht offenbart. Worin diese aber bestehen – die stille Oberfläche gibt darüber keine Auskunft. Sie verrät nur die Existenz einer tieferen Dimension und verschweigt, was diese ausmacht. Das Sprichwort formuliert ein Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, in dem sich die Oberfläche einerseits durch eine verbergende und verdeckende Funktion auszeichnet, damit aber andererseits die Existenz der Tiefe verbürgt. Lediglich die Konnotation der Tiefe unter den stillen Wassern des Sprichworts hat sich im Lauf der Zeit geändert. Die literarischen Texte, die in dieser Arbeit betrachtet werden sollen, haben die Gesetzmäßigkeit, die das Sprichwort formuliert, in eine Frage

30 Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg 1991. Bd. 5, S. 1698f. 31 G.L. Permjakov, Die Grammatik der sprichwörtlichen Weisheit. Mit einer Analyse allgemein bekannter deutscher Sprichwörter. Hg. und übersetzt von Peter Grzybek. Hohengehren 2000 (= Phraseologie und Parömiologie Bd. 4), S. 193. 32 Lexikon der Redensarten. Hg. von Klaus Müller. Gütersloh 1994, S. 650.

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verwandelt: Wie tief sind stille Wasser? Sie haben das Motiv des (stillen, also nicht fließenden) Wassers gemein, das unterschiedliche Tiefendimensionen verbirgt, die von den Texten auf verschiedene Weise er- oder verschlossen werden. In den ausgewählten Texten spielt das Wasser aber eine anspruchsvollere Rolle als die eines bloßen Motivs – es ist eine poetologische Metapher, in der die Texte ihre eigene hermeneutische Verfasstheit reflektieren, indem sie die Metaphorik von Oberfläche und Tiefe wörtlich nehmen und sie topographisch umsetzen. Und wenn die Texte die Frage nach der Tiefe unter der Oberfläche auch ganz unterschiedlich beantworten, so zeichnet sich in der Linie der hier untersuchten Texte doch eine Tendenz ab, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts verstärkt: nämlich die Tendenz, die Frage nach der Tiefe zunehmend in der Form zu stellen, wie sie das Sprichwort vorgibt: nämlich als Frage an die Oberfläche. Vorliegende Arbeit basiert auf vielfältigen Vorarbeiten. Zur Semantik der Tiefe sind vor allem Walter Rehms 1957 erschienene Untersuchung über Tiefe und Abgrund in Hölderlins Dichtungen33 und Alfred Dopplers Studie zum Motiv des Abgrunds34 von 1968, sowie der neuere Aufsatz von Inka Mülder-Bach Tiefe. Zur Dimension der Romantik35 zu nennen, der „Tiefe“ auch auf (Ober-)Flächen bezieht, indem er zeigt, dass Raumtiefe in der Romantik durch „Vertiefung“ und Transgression von Flächen erzeugt wird. Burkhard Meyer-Sickendiek beschäftigt sich in seinem Buch Tiefe. Über die Faszination des Grübelns36 u.a. auch mit der Metaphorik von Tiefe und Tiefsinn, mit dem dieses Grübeln spätestens seit der Romantik verbunden ist. Während zu Begriff und Semantik der Tiefe also mehrere Untersuchungen vorliegen, spiegelt sich die traditionelle Geringschätzung der Oberfläche auch in der geringen Aufmerksamkeit, die ihr bisher von der Forschung gewidmet worden ist. So gibt es im Historischen Wörterbuch

33 Walther Rehm, „Tiefe und Abgrund in Hölderlins Dichtungen“. In: Ders., Begegnungen und Probleme. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1957, S. 89-154. 34 Alfred Doppler, Der Abgrund. Studien zur Bedeutungsgeschichte eines Motivs. Graz/Wien 1968. 35 Inka Mülder-Bach, „Tiefe. Zur Dimension der Romantik“. In: Dies. u. Gerhard Neumann (Hg.), Räume der Romantik. Würzburg 2007, S. 83-102. 36 Burkhard Meyer-Sickendiek, Tiefe. Über die Faszination des Grübelns. München 2010.

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der Philosophie einen Eintrag zu „Tiefe, Tiefsinn“37, aber keinen zu „Oberfläche“. Und noch im Wörterbuch der philosophischen Metaphern findet sich ein Eintrag, in dem es sehr viel um die Oberfläche geht und um die Beziehung von Oberfläche und Tiefe, der aber die Überschrift „Tiefe“ trägt.38 Hans-Georg von Arburg hat in seiner 2008 erschienenen Studie Alles Fassade die theoriegeschichtliche Karriere des Begriffs der Oberfläche in der Architektur- und Literaturästhetik von 1770 bis 1870 verfolgt und dem auch eine Begriffsgeschichte zur „Oberfläche“ vorangestellt.39 In seinen Untersuchungen zu Goethe und Vischer sowie den Architekten Schinkel und Semper kommt er zu Ergebnissen, an die vorliegende Arbeit anknüpfen kann. Ausgehend von der Architektur, deren Austauschbeziehung mit der Literaturästhetik von Arburg nachgeht, formuliert er die These einer „allmählichen Aufwertung der Oberfläche in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts zu einer Größe, mit der künftig zu rechnen sein sollte.“40 Der erste Teil der Arbeit („Um 1800“) widmet sich dabei dem „Paradigma Archäologie“41, der zweite Teil („Um 1850“) dem „Paradigma Mode“42. Demgegenüber geht es in dieser Arbeit um das ‚Paradigma Wasser‘, das für die poetologische Dimension der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe von zentralem Stellenwert ist. Im ersten Teil der Arbeit werden systematische und historische Ordnungen von Oberfläche und Tiefe abgesteckt. Er beginnt mit einer Begriffsgeschichte von Tiefe und Oberfläche, da vor allem der Begriff der Oberfläche und die Diskussion um die Verdeutschung dieses Lehnwortes aufschlussreich ist für das, was mit dem Begriff gedacht wird. Sodann zeichnet das Kapitel nach, wie Oberfläche und Tiefe zu zwei Seiten einer Unterscheidung werden, die sich gegenseitig bedingen. Ausgehend von einer Darstellung der alten Semantik der Tiefe, die seit jeher metaphorisch

37 Artikel „Tiefe; Tiefsinn“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 10. Darmstadt 1998, Sp. 1192-1194. 38 Thomas Rolf, „Tiefe“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. von Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, S. 458-470. 39 Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. „Oberfläche“ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770-1870. München 2008. 40 Ebd., S. 15. 41 Ebd., S. 47. 42 Ebd., S. 247.

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für das Verborgene, Abgründige, aber auch für die Wahrheit und Weisheit steht, soll gezeigt werden, wie diese ab dem 18. Jahrhundert zunehmend in den Bann der Oberfläche gerät. Das Wort ‚Oberfläche‘ wird im 18. Jahrhundert als Lehnübersetzung aus dem Lateinischen in den deutschen Sprachwortschatz eingegliedert. Die Oberfläche tritt als eine Gegen- oder Bezugsgröße zur Tiefe auf, die bald ohne sie kaum mehr zu denken ist. Die Oberfläche ist eben nie plane Fläche, sondern Grenzfläche eines Raumes, der durch seine Begrenzung zum Reservoir von Projektionen, Spekulationen und Erwartungen wird. Sie stellt eine Grenze dar, die auf ein ‚Darunter‘ verweist, die Tiefe. Diese fügt sich in ihre neue Rolle: Sie wird zu einem ‚Darunter‘ oder ,Hintersinn‘, der nur noch vermittelt durch die Oberfläche zu erschließen ist. Dies soll für die Zeit um 1800 beispielhaft an drei Diskursen illustriert werden: erstens an der Bedeutung der Erdoberfläche, die ins Zentrum des Interesses verschiedener Wissenschaften gerät, zweitens an der Physiognomik Lavaters, die die Zeichen der Körperoberfläche entschlüsselbar zu machen verspricht und drittens an der Ästhetik Winckelmanns, der die Oberfläche des Statuenkörpers von allen störenden Einflüssen von außen und innen zu reinigen versucht. Dabei wird von besonderem Interesse sein, weshalb Winckelmann zur Beschreibung des Statuenkörpers immer wieder auf eine Metaphorik des Wassers zurückgreift. Im zweiten Teil der Arbeit soll gezeigt werden, wie die Literatur die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe fruchtbar macht. Er verfolgt die Konstellationen, die Oberfläche und Tiefe in der Literatur des 19. Jahrhunderts eingehen, von Schiller bis zum Realismus des späten Fontane am Motiv des (stillen) Wassers. Dass die hier diskutierten Texte ausschließlich den Genres der Prosa und der Lyrik angehören, ist dabei vor allem motivisch bedingt. Im Drama, so meine Vermutung, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann, wird das beschriebene Phänomen in anderen Raumordnungen reflektiert, etwa der von Vordergrund und Hintergrund. Zunächst werden mit der exemplarischen Analyse zweier Bearbeitungen der Sage vom Fischmenschen, Schillers Ballade Der Taucher und C.F. Meyers Gedicht Nicola Pesce, zwei gegensätzliche Positionen im Umgang mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe bezeichnet, die sich auf den Gegensatz von Tauchen und Schwimmen bringen lassen. Schillers Ballade Der Taucher (1797) markiert in der Entwicklungslinie, die diese Arbeit nachzeichnet, den Pol der Tiefe. In seinem Meeres-

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schlund vereint Schiller verschiedene Aspekte der alten Semantik der Tiefe, sie ist mehrfach kodiert, und sie ist vor allem auch eine ästhetische Kategorie. Tiefe und Unergründlichkeit sind für Schiller Kennzeichen der modernen Kunst und des Genies. Und diese Unergründlichkeit der Kunst inszeniert Schiller im Taucher durch eine Art Beobachtung zweiter Ordnung: er stellt nicht erhabene Natur dar, sondern den scheiternden Versuch einer Darstellung erhabener Natur. C.F. Meyers Sonett Nicola Pesce (1882) ist eine Bearbeitung des gleichen Sagenstoffes wie Schillers Taucher, doch Meyer versuchte, den Sagenstoff wieder von Schillers Interpretation (und den Interpretationen, die Schillers Ballade seither erfahren hatte) zu befreien. Was Meyer präsentiert, ist eine Fortsetzung Schillers: geschildert wird ein Zustand, der die Faszination für die Tiefe hinter sich gelassen hat. Vertikale Ausblicke werden gekappt, alles wird auf Fläche reduziert. Die Tiefe wird hier als unter der Oberfläche lauernde Gefahr konzipiert, der das Ich des Gedichtes trotzend widersteht. Während Schillers Taucher noch beherzt in die Tiefe springt, erschließt die Romantik den Tiefenraum des Wassers indirekt: arrangiert werden etwa Blicke auf den Meeresgrund, die sich als Projektionen erweisen. So beispielsweise in Hoffmanns Novelle Die Bergwerke zu Falun (1819/21), in der die Bildbereiche von Bergwerk und Meer überblendet werden. Denn während das Bergwerk zur Entstehungszeit der Novelle bereits als Symbol des Unbewussten konventionalisiert war, lässt sich im Motiv des Wassers auch die dieser Symbolisierung zugrundeliegende Projektionsanordnung abbilden. Der so erschlossene Tiefenraum bleibt bei Hoffmann dennoch verschlossen: der Versuch, seine Logik an die Erdoberfläche zu übersetzen, mündet in Chaos und Auflösung. Heinrich Heine verleiht in seinem Gedichtzyklus Die Nordsee (1827) dieser eine literarische Tiefendimension, wobei er sich der Metapher der Tiefe selbst bedient: Im Gedicht Seegespenst wird ein Blick unter die Oberfläche des Wassers inszeniert, eine Durchsicht auf den Grund des Meeres, der in romantischer Tradition als Blick in die Tiefe des Herzens oder der Seele dargestellt wird. Doch was das Ich dort sieht, ist nicht die Wahrheit des Subjekts, seine geheimen Wünsche und Regungen, sondern erweist sich als Zitatenschatz, als eine Collage von heterogenen Versatzstücken aus Gelesenem und Gesehenem, literarischen, politischen und historischen Anspielungen.

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In der Literatur nach der Romantik sind solche Durchblicke auf den Grund des Wassers, wie sie noch Heine (wenn auch scheiternd) inszeniert, nicht mehr möglich. Denn im späteren 19. Jahrhundert blickt man auf Oberflächen – die Tiefe, die man darunter vermutet, gerät in den Verdacht, womöglich nur ein Effekt der Spiegelung zu sein. Das Wasser trübt und verdunkelt sich und nährt so den Verdacht (oder die Hoffnung) auf Tiefe. Die Oberfläche wird zu einer Deckfläche, die die Tiefe verbirgt, wenn diese auch als Verborgene das Geschehen anzutreiben scheint: In den Erzählungen Storms und Stifters geht es um eine verborgene Logik des Gangs der Geschichte, die metaphorisch als Tiefe beschrieben wird und die durch die Opazität der Oberfläche dem Zugriff entzogen bleibt. In Storms Novelle Immensee und Stifters Erzählung Der Hochwald wird die vertikale Tiefe von einer horizontalen Tiefendimension überlagert, die nach den Gesetzen der zentralperspektivischen Projektion konstruiert ist. Die Tiefe, die sich unter der Oberfläche verbirgt, ist in dem Szenario eines in die geschichtliche Tiefe reichenden Blicks ein nicht zugänglicher Bereich, der die geheimen Triebkräfte des Geschehens zu verbergen scheint. Stifters Erzählung Der Hochwald (1841) geriert sich als historische Erzählung, die den narrativen Rückgang in die Vergangenheit als perspektivischen Fernblick inszeniert. Endpunkt dieses Tiefenblicks ist die schwarze Fläche eines Sees, hinter bzw. unter die der Blick aufgrund der spiegelnden Qualität der Wasseroberfläche nicht dringen kann. Während die Romantik durch das Verfahren der Spiegelung einen Tiefenraum eröffnet, hat die Spiegelung in Stifters Text den gegenteiligen Effekt: hier wird der Raum durch die Spiegelung geschlossen. Diese Struktur kennzeichnet nicht nur Naturdarstellung und Wahrnehmung der Protagonisten, sondern betrifft auch die Narration als historische Fiktion, die immer wieder zu dem faktischen Zustand zurückkehren muss, von dem die Erzählung ihren Ausgangspunkt genommen hat. In Storms Novelle Immensee (1851) überlagern sich zwei Dimensionen der Tiefe: eine horizontale Tiefendimension des perspektivischen Fernblicks der Erinnerung und die vertikale Tiefendimension des Immensees. Der Immensee und seine zweischneidige Wasserlilie symbolisieren die Spaltung in Oberfläche und Tiefe. Der Bereich der vertikalen Tiefe als Bereich des Verdrängten stört dabei die perspektivische Projektionsanordnung der Erinnerung und wird von dieser ,unterdrückt‘.

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In Fontanes Roman Der Stechlin (1897) wird der See als ein Medium naturgeschichtlicher Ereignisse eingeführt, der mittels eines aus der Tiefe aufsteigenden Hahns Botschaften aus der Ferne in die märkische Provinz überträgt. Für den Roman Stechlin entspräche das der Programmatik des bürgerlichen Realismus: der Roman als Medium sozialer Veränderungen. Dazu in Kontrast steht jedoch das tatsächliche Verhalten des Sees: er bleibt während der gesamten Romanhandlung vollkommen ruhig, über weite Teile der erzählten Zeit ist er sogar zugefroren. Die Tiefendimension des Sees erweist sich zudem als ein Netz von Querverbindungen und zeigt damit, wie schwierig es am Ende des Jahrhunderts wird, Tiefe überhaupt noch zu suggerieren. Der gefrorene Stechlin liefert ein ganz anderes Strukturmodell für den Roman als das des kosmopolitischen Mediums, das die Anwohner in ihm sehen möchten. Nur als gefrorene, schneeüberdeckte Eisfläche kann der See noch die Existenz einer tieferen Dimension nahelegen. Er gleicht einer weißen, unbeschriebenen Seite, die imaginativ mit Symbolik und Bedeutung aufgeladen wird. Tiefe wird hier endgültig zu einem Effekt der Oberfläche.

I. Ordnungen von Oberfläche und Tiefe

Oberfläche und Tiefe Zur Genese einer Unterscheidung

D ER A BGRUND

HAT KEINE

D ECKE

In seinem Wörterbuch der deutschen Sprache (1807-1811)1 definiert Joachim Heinrich Campe die alte Kategorie der Tiefe völlig neu und anders, als es bisher üblich war. „Tief“ sei das, schreibt er, was „unter einer angenommenen Fläche, z.B. der Wasserfläche, oder unter der Fläche des Gesichtskreises, näher nach dem Mittelpunkte der Erde“2 liegt. Als Beispiele nennt Campe: „Ein tiefer Fluß, dessen Grund weit unter der Oberfläche des Wassers ist“ oder „ein tiefer Schnee, hoher, vieler Schnee, von dessen Oberfläche der Grund weiter entfernt ist als gewöhnlich.“3 In der Geschichte der Tiefe markiert Campes Lexikoneintrag damit einen entscheidenden Einschnitt: hier wird die Tiefe erstmals in Abhängigkeit von der Oberfläche definiert – einer Größe, die aus dem Diskurs der Tiefe fortan nicht mehr wegzudenken sein wird. Begriffsgeschichtlich betrachtet haben die beiden Seiten der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe ein sehr unterschiedliches Gewicht: Während die Tiefe auf eine lange Begriffs- und Metapherngeschichte zurückblicken kann, ist die Oberfläche um 1800 ein relativ junges Konzept. Um den Einschnitt zu verdeutlichen, den das Auftreten der Oberfläche für

1

Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache. Vierter Theil.

2

Ebd., S. 823.

3

Ebd.

Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1810, Hildesheim 1969.

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die Kategorie der Tiefe bedeutet, soll im Folgenden zunächst ein Abriss der Begriffs- und Metapherngeschichte der Tiefe gegeben werden. Ausgehend von Campes Definition der Tiefe als Erstreckung zwischen Grund und Oberfläche scheint es fast verwunderlich, wie lange die Semantik der Tiefe ohne die Bezugnahme auf Oberflächen auskam. Als Kategorie des Raumes ist ‚Tiefe‘ zunächst keine feste Ortsangabe, sondern abhängig von einem Standpunkt und einer Blickrichtung: ‚Tief‘ ist nicht nur alles, was sich weit nach unten erstreckt, sondern kann auch nach oben (‚tief im Himmel‘) gemessen werden. Schon im Griechischen wie im Lateinischen können die Adjektive altus (auch profundus) bzw. βαθύς ebenso ‚tief‘ wie ‚hoch‘ heißen – sie beziehen sich also auf die vertikale Erstreckung generell und bezeichnen räumliche Distanz. Entsprechend kann ‚Tiefe‘ auch die Bedeutung von ‚weit in etwas‘ annehmen (z.B. profunda silvarum).4 Schon Schiller wies darauf hin, dass die Tiefe seit jeher nicht nur nach unten gemessen wurde. In den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände bemerkt er: „Das Große im Raum zeigt sich entweder in Längen oder in Höhen, wozu auch die Tiefen gehören: denn die Tiefe ist nur eine Höhe unter uns, so wie die Höhe eine Tiefe über uns genannt werden kann. Daher die lateinischen Dichter auch keinen Anstand nehmen, den Ausdruck profundus auch von Höhen zu gebrauchen: ni faceret, maria ac terras coelumque profundum / quippe ferant rapidi secum.“5

Das lateinische Adjektiv altus, eigentlich Partizip Perfekt passiv von alo (‚hoch‘- bzw. ‚großmachen‘) kann allgemein übersetzt werden als „in seiner Räumlichkeit vergrößert“6. Insofern, als in der Antike ‚Raum‘ als Ansammlung von einzelnen Körpern vorgestellt wird, ist ‚Tiefe‘ noch kein allgemeines Attribut des Raumes. Erst in dem Maße, in dem der moderne

4

Vgl. den Eintrag „profundus“ in: Heinrich Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Hannover 1972, Sp. 1970-1971.

5

Friedrich Schiller, Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von Norbert Oellers u.a. Weimar 1943ff [im Folgenden zitiert als NA]. Bd. 20, S. 239f. Das von Schiller angeführte Zitat stammt aus Vergils Aeneis (I, 58).

6

Eintrag „altus“ in: Reinhold Klotz (Hg.), Handwörterbuch der lateinischen Sprache. Bd. 1. Graz 71963, S. 333-335, hier S. 333.

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„Systemraum“ den antiken „Aggregatraum“ ablöst,7 kann Raum abstrakt als System von Relationen zwischen Höhe, Tiefe und Breite gedacht werden. Mit der Erfindung der Zentralperspektive im 15. Jahrhundert wird Tiefe auch in die Horizontale gemessen – als auf der Bildfläche erzeugte Illusion von Raum, der sich zwischen Augenpunkt und Standpunkt des Betrachters erstreckt.8 Die Semantik der Tiefe ist jedoch nicht auf die Dimension des Raumes beschränkt. Auf die Zeit übertragen bezeichnet ‚Tiefe‘ den Abstand vom Moment der Beobachtung – schon im Lateinischen ist alta nox die ‚tiefe Nacht‘, alta vetustas das ‚hohe Altertum‘.9 Allgemein bezeichnet Tiefe also einen Standpunkt und eine Richtung, sie ist die Entfernung von einem (zeitlichen oder räumlichen) Bezugsort und einem Betrachter.10 Als ‚tief‘ erscheint von dort aus, was nicht direkt zugänglich ist, und dem damit der Bedeutungsaspekt der Unergründlichkeit, des Versteckten zukommt.11 Im Lateinischen bezeichnet profundus im Unterschied zu altus die bodenlose, unergründliche Tiefe12 – auch im übertragenen Sinne. So schreibt Cicero Demokrit die Aussage zu, die Wahrheit sei in der Tiefe versenkt („et ut Democritus in profundo ueritatem esse demersam“13) – Tiefe kann entsprechend zum Attribut von Wahrheit werden.14 Dass auch Literatur in diesem Sinn Tiefe hat, ist eine Vermutung, die so alt ist wie die Geschichte der Textauslegung selbst. Der griechische Allegoriebegriff ist Erbe des Ausdrucks hyponoia, das einen tieferen, unteren Sinn bezeichnet, eine versteckte Meinung, einen Verdacht oder eine Vermu-

7

Erwin Panofsky, „Die Perspektive als symbolische Form“. In: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hg. von Hariolf Oberer u. Egon Verheyen. Berlin 1985, S. 99-167, hier S. 109f.

8

Vgl. Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive. München 2002.

9

Vgl. den Eintrag „altus“ in: Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Sp. 347-349.

10 Vgl. ebd., Sp. 347. 11 Ebd., Sp. 348. 12 Vgl. Klotz, Handwörterbuch der lateinischen Sprache, S. 927. 13 Cicero, Acad. 1, 44; zitiert nach: Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Sp. 1971. 14 Vgl. „Tiefe; Tiefsinn“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Hg. von Joachim Ritter u.a. Darmstadt 1998, Sp. 1192-1194.

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tung,15 zu dem der Zugang nicht jedem offensteht. „Der (vermeintliche) Vorgänger und zeitweilige Konkurrent des Allegoriebegriffs, die griech. hyponoia (ύπόνοια) oder ‚Tiefenbedeutung‘“, so bemerkt Anselm Haverkamp, „hatte den eher gelehrten, esoterischen Charakter der Allegorie unterstrichen“16. Nach Sokrates beispielsweise bedarf es eines „delischen Tauchers“, um die Aussprüche Heraklits zu ergründen. 17 Neben der Literatur erhebt vor allem die Philosophie einen besonderen Anspruch auf die Tiefe. Das Wörterbuch der philosophischen Metaphern zumindest reklamiert die Metapher der Tiefe ganz für sich und spricht gar von einer „Wahlverwandtschaft“: „Die Metapher der Tiefe ist seit den Anfängen im Diskurs der Philosophie verankert, so fest, dass man beinahe von einer Wahlverwandtschaft zwischen philosophischer Reflexion und geistigem Tiefgang, also von einer originären Verbindung der philosophischen Denkanstrengung mit der Tiefe als demjenigen Ort sprechen kann, zu dem die eingeschlagenen Denkwege des Denkenden führen sollen. Tiefe ist, so betrachtet, eine umfassende bildliche Angabe der Richtungen und Zielorte einer Praxis, die im ganzen Philosophieren heißt.“18

Als „Zielort“ ist die Tiefe ein Orientierungspunkt, der zwar eine Richtung vorgibt, den erreicht zu haben aber kaum je vorgegeben wurde, selbst von der Philosophie nicht. ‚Tief‘ ist das Unzugängliche und weit Entfernte – und metaphorisch das Unübersehbare, das schwer Erforschbare oder Verborgene. Dabei ist Tiefe aber durchaus bedrohlich: Ihr nachzuforschen ist nicht ungefährlich, wie schon die Anekdote vom Brunnenfall des Thales zeige: „Im Zuge der Wahrheitssuche, die sich als Streben nach Wille einer tieferen Erkenntnis der Natur darstellt, schlägt der Gang in die Tiefe des Erkennbaren in einen manifesten Sturz in den Abgrund um.“19 Die ‚Wahl-

15 Vgl. Jean Pépin, Mythe et allégorie. Les origines grecques et les contestations judéo-chrétiennes. Paris 1976, S. 85-92. 16 Anselm Haverkamp, „Allegorie“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u.a. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2000, S. 49-104, hier S. 55. 17 Vgl. „Tiefe; Tiefsinn“, Sp. 1192-1194. 18 Rolf, Tiefe, S. 458. 19 Vgl. ebd.

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verwandtschaft‘ von Philosophie und Tiefe kann dieser auch zum Verhängnis werden. In diesem Sinn griff Gottfried Wilhelm Leibniz die Metapher in der Theodizee auf. Dort schreibt er, die gesamte Philosophie selbst sei nichts anderes als ein „tiefer Abgrund, in den wir stürzen, wenn wir ihn untersuchen wollen“20. Auch begriffsgeschichtlich spiegelt sich die doppelte Codierung der Tiefe als erstrebenswertes Ziel und gefahrvolles Verhängnis: sowohl lateinisch profundus als auch barathrum und abyssus bezeichnen einerseits die bodenlose Tiefe, den Schlund oder Abgrund, andererseits die Unermesslichkeit oder Unergründlichkeit, die Wahrheit und das Bedeutungsvolle. Der Abgrund ist, rein formal betrachtet, das Muster einer ‚offenen‘ Tiefe, in die man von jenseits einer Grenze, wie beispielsweise dem Rand einer Klippe, hinabblicken kann. Sein Gefährdungspotenzial ist vor allem von seinem Rand aus erfahrbar, ohne den der Abgrund nicht zu denken ist. „Das Totenreich ist aufgedeckt vor ihm, und der Abgrund hat keine Decke“ (Hiob 26,6), heißt es in der Bibel.21 Der Abgrund klafft auf, er ist ein Schnitt oder Riss in einer Oberfläche und nicht von dieser bedeckt. Bedrohlich ist der Abgrund vor allem deshalb, weil hier dem Blick in die Tiefe der beruhigende Grund entzogen ist. Der ‚Grund‘ ist der Gegenbegriff des Abgrunds. Er steht für ein ganz anderes Konzept von Tiefe bzw. muss überhaupt nicht zwingend als tief imaginiert werden. Vor allem im Wortschatz des Pietismus finden sich eine ganze Reihe von Komposita wie Liebesgrund, Wundergrund, Gnadengrund, Ankergrund, Friedensgrund, Herzensgrund oder Seelengrund, denen jeder Hauch von Unergründlichkeit und Abgründigkeit fehlt. Die damit verbundene Vorstellung von Tiefe entspricht vielmehr der in der Lutherbibel dominanten Bedeutung des Grundes als Grundlage und fester Unterlage, die vertikale Erstreckung tritt dabei gegenüber der horizontalen Ausbreitung zurück. Beispielhaft ist die Rede vom „Grund Gottes“, in den der pietistische Mensch vertrauensvoll seinen Anker wirft.22

20 Zitiert nach ebd., S. 464. 21 Alle Bibelzitate im Folgenden nach der revidierten Fassung der Lutherübersetzung von 1984, zitiert nach der Ausgabe: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985. 22 Vgl. August Langen, Der Wortschatz des Pietismus. Tübingen 21968, S. 161.

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Campe definiert in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache die „tiefe Erkenntnis“ als eine, „die bis auf den Grund gehet, eine sehr gründliche. Tief denken, im Denken bis auf den ersten Grund zurückgehen, alles ergründen. Ein tief denkender Mann. ‚Tiefere Denker.‘ (Lavater)“23. Der „erste[] Grund“, den der tiefe Denker gründlich ergründet, begrenzt die Tiefe und gibt ihr eine Grundlage, auf der alles Übrige aufbaut und zu der man zurückkehrt, um sich ihrer zu versichern. Campes Formulierung hat zudem eine temporale Konnotation, bezeichnet der „erste[] Grund“ doch Ursprung und Anfang. ‚Tiefe‘ markiert hier weniger einen Ort, sondern die Strecke, die die Erkenntnis überwinden muss, um zu diesem ‚Grund‘ zu gelangen.

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In der Bibel wird der chaotische Zustand der Welt, in dem sie sich zu Beginn der Schöpfung befindet, als Abgrund bezeichnet, in der Septuaginta als άβυσσος24, in der Vulgata als abyssus25. Der Abgrund steht am Anfang der Schöpfung als der göttliche Urgrund,26 der die Erde bedeckt hatte bevor Gott sein Werk der Grenzziehung begann und Wasser, Erde und Himmel voneinander schied. In Luthers Übersetzung wird daraus die „Tieffe“,27 und die ist in der Bibel vor allem ein Attribut Gottes. Der Abgrund hingegen ist eindeutig negativ konnotiert, er spielt vor allem für das Ende der Welt eine Rolle: am Tag des Jüngsten Gerichts wird die Erde vom „Engel des Abgrunds“ (Off 9,11) geöffnet und gibt die Schrecken der Tiefe frei:

23 Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 823. 24 Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred Rahlfs. Stuttgart 1935. 25 „In principio creavit Deus caelum et terram / terra autem erat inanis et vacua / et tenebrae super faciem abyssi / et spiritus Dei ferebatur super aquas“ (Gen 1-2). Zitiert nach: Biblia Sacra. Iuxta vulgatam versionem. Stuttgart 1969. 26 Vgl. Doppler, Der Abgrund, S. 9f. 27 Martin Luther, Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft. Deudsch auffs new zugericht. Wittenberg 1545. Hg. von Hans Volz u.a. 3 Bde. München 1974. Bd. 1, S. 25. Vgl. auch Joachim Grage, Chaotischer Abgrund und erhabene Weite. Das Meer in der skandinavischen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 2000, S. 74f.

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„Und der fünfte Engel blies seine Posaune; und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde; und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf, und es stieg ein Rauch aus dem Brunnen wie der Rauch eines großen Ofens, und es wurden verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch des Brunnens.“ (Off 9,1-2)

Die vertikale Achse der göttlichen Weltordnung manifestiert sich durch die Schöpfung der Elemente räumlich – ihre Pole sind eindeutig konnotiert: Wird Gott in der Höhe, im Himmel gedacht, so ist der entgegensetzte Pol der Ort der Unterwelt und der Bedrängnis.28 Als topographische Angabe ist Tiefe in der Bibel als Ort der Gottverlassenheit und Verzweiflung durchweg negativ besetzt. Jacob Böhme greift später die Metapher von der „Tiefe Satans“ aus der Apokalypse (Off 2,24; 20,1) wirkungsmächtig wieder auf und beschreibt den Abgrund des Bösen als höllische Tiefe, die mit Kraft empor dringt und den Menschen ins Verderben lockt.29 Der Abgrund der Seele erscheint als leere, alles verschlingende Tiefe30 und als ins Verderben ziehender Schlund, dessen dämonische Tiefe für die Gefahr des Sturzes steht.31 In der Bibel ist Tiefe aber nicht nur Abgrund, sondern eben auch eine positiv konnotierte Qualität der Unergründlichkeit, die zunächst der göttlichen Weisheit zugesprochen wird,32 wobei Sinn und Wahrheit nicht selten

28 „Denn deine Güte ist groß gegen mich, du hast mich errettet aus der Tiefe des Todes“ (Psalm 86,13, ähnlich auch Sir 51,6); „Ja, hinunter zu den Toten fuhrest du, zur tiefsten Grube (Jes 14,15). „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“ (Psalm 130,1). 29 Vgl. Rehm, Tiefe und Abgrund, S. 91f. 30 Vgl. ebd., S. 92. 31 Eine Motivgeschichte des Abgrunds in Philosophie und Literatur bietet Doppler, Der Abgrund. 32 „Herr, wie sind deine Werke so groß! Deine Gedanken sind sehr tief“ (Psalm 92,6); „Meinst du, daß du weißt, was Gott weiß, oder kannst du alles so vollkommen treffen wie der Allmächtige? Die Weisheit ist höher als der Himmel: was willst Du tun? tiefer als die Hölle; was kannst Du wissen?“ (Hiob 11,7-8); „Denn ihr Sinn ist reicher als das Meer und ihr Rat tiefer als der große Abgrund“ (Sir 24,39). Gleichzeitig ist Gott der, der „herniederschaut in die Tiefe“ (Psalm 113,6): „er offenbart, was tief und verborgen ist“ (Dan 2,22).

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mit tiefem Wasser verglichen werden.33 Tief ist das, was sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht, es mag sich dabei um die Verborgenheit des göttlichen Tuns oder um die Geheimnisse Satans handeln. 34 Gemeinsam ist der positiven und negativen Konnotation von Tiefe in Altem wie Neuem Testament das Moment der Undurchdringlichkeit: „Auch die Welt, soweit sie als (feindliche) Tiefe begegnet, zeigt im NT ihre Tiefe nicht auf als etwas Vorhandenes, sondern als eine sich durch ihre Undurchdringlichkeit entziehende und darin bedrohende Macht.“35 Im Alten Testament wird der Unterschied unterstrichen zwischen der Tiefe der Erde und der metaphorischen Tiefe der Weisheit. Wer letztere sucht, findet sie nicht in der Erdentiefe. Dorthin drängt es den Menschen aus niedrigeren Gründen – statt um Einsicht geht es ihm hier um Profit, das Interesse am Unterirdischen ist rein ökonomischer Natur. Die Bibel warnt, wie im „Lied von der Weisheit Gottes“ aus dem Buch Hiob geradezu davor, dasjenige aufdecken zu wollen, was Gottes Schöpfung dem menschlichen Auge entzog: „Es hat das Silber seine Gänge und das Gold seinen Ort, wo man es läutert. Eisen bringt man aus der Erde, und aus dem Gestein schmilzt man Kupfer. Man macht der Finsternis ein Ende, und bis ins Letzte erforscht man das Gestein, das im Dunkel tief verborgen liegt. Man bricht einen Schacht fern von da, wo man wohnt; vergessen, ohne Halt für den Fuß, hängen und schweben sie, fern von den Menschen. Man zerwühlt wie Feuer unten die Erde, auf der doch oben das Brot wächst. Man findet Saphir in ihrem Gestein, und es birgt Goldstaub. Den Steig dahin hat kein Geier erkannt und kein Falkenauge gesehen. Das stolze Wild hat ihn nicht betreten, und kein Löwe ist darauf gegangen. Auch legt man die Hand an die Felsen und gräbt die Berge von Grund aus um. Man bricht Stollen durch die Felsen, und alles, was kostbar ist, sieht das Auge. Man wehrt dem Tröpfeln des Wassers und bringt, was verborgen ist, ans Licht. Wo will man aber die Weisheit finden? Und wo ist die Stätte der Ein-

33 „Die Worte in eines Mannes Munde sind wie tiefe Wasser, und die Quelle der Weisheit ist ein sprudelnder Bach“ (Spr 18,4); „Das Vorhaben im Herzen eines Mannes ist wie ein tiefes Wasser, aber ein kluger Mann kann es schöpfen“ (Spr 20,5). 34 „Die nicht erkannt die Tiefen des Satans“ (Off 2,24). 35 Artikel „βαθύς“ in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. von Gerhard Kittel. Bd. 1. Stuttgart 1933, S. 515.

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sicht? Niemand weiß, was sie wert ist, und sie wird nicht gefunden im Land der Lebendigen. Die Tiefe spricht: ‚In mir ist sie nicht‘; und das Meer spricht: ‚Bei mir ist sie auch nicht‘.“ (Hiob 28,1-14)

Die Tiefe Gottes ist in der Tiefe der Erde nicht zu finden: metaphorische und topographische Dimension des Begriffs dürfen nicht verwechselt werden. Eine metaphorische Tiefendimension wird von ihren Auslegern dafür der heiligen Schrift selbst zugesprochen. Der Begriff der ‚Tiefe‘ spielt dabei in der frühen Bibelhermeneutik eine eher geringe Rolle – was vielleicht mit dem breiten Bedeutungsspektrum der Tiefe in der Bibel zusammenhängt. Hans-Jörg Spitz, der sich der gewaltigen Aufgabe gewidmet hat, das Metaphernfeld der Bibelhermeneutik (zumindest für das erste christliche Jahrtausend) abzustecken, es zu klassifizieren und zu ordnen,36 nennt die Deckmetaphorik als meistverbreitete Illustrationsweise der Schrift und ihrer Auslegung: die einzelnen Sinndimensionen der Bibel werden in das Verhältnis von Hülle und Verhülltem, von Schale und Kern oder von Gold in der Erde gesetzt, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Schrift wird als etwas Zusammengesetztes dargestellt, das in Oberfläche und Inneres unterschieden werden müsse und deshalb des Kommentars bedürfe. Das, was unter der Oberfläche liegt, wird jedoch weniger als eine sich entziehende, unergründliche Tiefe gedacht, sondern als greifbarer Kern, der durch die Exegese lediglich freigelegt werden müsse. Und bei allem Respekt, den die Exegeten dem Bibeltext zollen, erscheint ihre Textoberfläche in diesem Zusammenhang als Vorhang, Hülle oder Schale, als ein literaler Sinn, der andere Bedeutungsebenen verbirgt. In diesem Sinne spielt Augustinus im zwölften Buch seiner Bekenntnisse Oberfläche und Tiefe der Schrift gegeneinander aus: „Wunderbar die Tiefe deiner Aussprüche! Ihre Oberfläche liegt offen vor uns und zieht die Kleinen an, aber wunderbar ihre Tiefe, mein Gott, wunderbar ihre Tiefe! Frommer Schauder überkommt einen, will man in sie eindringen, Schauder der Ehrfurcht und liebevolles Erzittern.“37

36 Vgl. Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972. 37 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Hg. u. übers. von Kurt Flasch u. Burkhard Mojsisch. Stuttgart 1989, S. 343.

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Gregor der Große vergleicht die Schrift und ihre Auslegung mit einem Fluss, aus dem Wasser geschöpft wird.38 In Anschluss an Hiob 28,11 heißt es bei ihm: „[Deus] profunda fluviorum scrutatus est, et abscondita in lucem produxit.“39 Die Metapher des Stromes lässt, so Hans-Jörg Spitz, „die Geschichtlichkeit des Verstehens, den jeweils aktuellen Sinnbezug der Schrift, bewusst werden, wenn Gregor die Ausleger täglich ihre Gefäße füllen sieht, während die Schrift, angetrieben von ihrer Sinnfülle, an ihnen vorbeifließt, so dass die Exegeten gezwungen sind, die unausgelegte Fülle, die im Geheimnis ihrer Tiefe liegt und sich nicht fassen lässt, vorüberziehen zu lassen.“40 Im 7. Jahrhundert nach Christus empfiehlt Isaak von Ninive zur Reinigung der Gedanken ein Versenken in das „Meer der Geheimnisse der

38 Vgl. Spitz, Metaphorik, S. 122. 39 Zitiert nach ebd. 40 Ebd., S. 124. Spitz weist allerdings auch darauf hin, dass die Metaphorik von Oberfläche und Tiefe des Wassers Gregor vor allem dazu dient, die christliche Bibelauslegung gegen die jüdische auszuspielen. Das Schöpfen von der Oberfläche weist Gregor nämlich der jüdischen Form des Schriftverstehens zu, die an der Oberfläche bleibe, während die christliche Auslegung durch Gott das in der Tiefe Verborgene ans Licht bringe. Im Zusammenhang lautet die zitierte Stelle: „Sed horum fluminum Judae seciem tenuit, dum litterae superficiem servans, eorum profunda nescivit. Nos vero qui veniente Domino in eis interna spiritalia quaerimus, eorum profunda rimamur. Quod ipse Dominus facere dicitur, quia id nos agere ipso donante praevalemus. Per nos ergo qui non litteram quae occidit, sed spiritum qui vivificat sequimur, profunda fluviorum Dominus scrutatur, et abscondita in lucem producit, quia dicta legis, quae caliginosa nimis historia obscurat, nunc expositio spiritualis illuminat.“ Die jüdische Hermeneutik wiederum ist allerdings selbst von einer Metaphorik der Tiefe gekennzeichnet. Spitz verweist in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Damaskusschrift, eine jüdische Sektenschrift aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, in der das Forschen in der Tora als Brunnengraben bezeichnet wird (vgl. Spitz, Metaphorik, S. 110, Anm. 5). Auf die Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Hermeneutik kann hier nicht weiter eingegangen werden, es sei an dieser Stelle auf die Schriften Erich Auerbachs (v.a. auf den Aufsatz „Figura“. In: Archivum Romanicum 1938, S. 436-489) sowie Pierre Legendres verwiesen.

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Schrift“, das paradoxerweise auch dann schon von Nutzen sein soll, wenn es an der Oberfläche bleibt: „Wenn auch der Geist nur an der Oberfläche ihrer Wasser schwimmt und mit seinen Bewegungen nicht bis auf deren tiefsten Grund eindringen und alle in ihren Abgründen verborgenen Schätze schauen kann, so vermag diese Erforschung in ihrem Liebeseifer doch die Gedanken zu mächtig durch jenen einen wunderbaren Gedanken zu fesseln, dass sie verhindert werden, zur körperlichen Natur hinzueilen.“41

Diese Unterteilung des Bibeltextes in eine Oberfläche und eine Tiefendimension kennzeichnet auch die Lehre des mehrfachen Schriftsinns, die in der mittelalterlichen Theologie unangefochten Geltung hatte.42 Bonaventura hat seine Schrift Breviloquium, deren Prolog als wichtigste Theorie hochscholastischer Bibelhermeneutik gilt,43 entsprechend in Abschnitte zu Breite, Länge, Höhe und Tiefe der Schrift gegliedert, wobei sich letzterer Abschnitt auf die verschiedenen Schriftsinne bezieht: Unter der Oberfläche des Literalsinns verbergen sich allegorischer, tropologischer und anagogischer Sinn des Bibeltextes. Der Wortsinn hat für ihn keine eigenständige Bedeutung, er erscheint lediglich als Hülle, in den die anderen Wortsinne eingebunden sind.44

41 Der Syrer Isaak von Ninive, „Über das tugendhafte Leben I“. Zitiert nach: Texte der Kirchenväter. Eine Auswahl nach Themen geordnet. Hg. von Alfons Heilmann. Bd. 4. München 1964, S. 323. 42 Vgl. Henning Graf von Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. Band II: Von der Spätantike bis zum Ausgang des Mittelalters. München 1994, S. 221. 43 Vgl. ebd., S. 217. 44 Vgl. ebd., S. 222. Auch Bonaventura vertritt dies in Abgrenzung zum Judentum und dessen Festhalten am Wortsinn (vgl. ebd.).

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T IEFE

DES

H ERZENS

Es ist Augustinus, der die Vorstellung des göttlichen Abgrundes aus der Bibel auf das menschliche Herz und Gewissen bezieht, und die Tiefe zu einer spezifischen Eigenschaft des menschlichen Herzens erklärt.45 Hatten Ovid oder Vergil von der Tiefe des menschlichen Herzens oder seiner Seele gesprochen, so vermuteten sie dort finstere Absichten, Heimlichkeit und Verstellung46 – es ist also die negative Konnotation der Tiefe, die die Übertragung auf den Menschen zunächst bestimmt. Der Abgrund des Herzens bedeutet eine unauslotbare Gefahr. Anders Augustinus, dem es um die Unergründlichkeit des Herzens geht: „Ein Abgrund ruft den Abgrund“, kommentiert er die Psalmstelle „abyssus abyssum invocat“ (Ps. 41,8), „wenn Tiefe Abgrund heißt, glauben wir dann, das Menschenherz sei kein Abgrund? Was nämlich ist tiefer als dieser Abgrund? Reden können die Menschen, gesehen können sie werden durch die Handlungen ihrer Glieder, gehört in Worten, aber in wessen Gedanken dringt man ein, wessen Herz wird erkannt? was er innen treibt, was er innen kann, wer begreift es?“47 Die Tiefe des menschlichen Herzens basiert bei Augustinus auf einem spiegelbildlichen Verhältnis. Mit dieser Beschreibung zeichnet er die Linie für die spätere Metaphorik von der Mystik bis zum Konzept des modernen Subjekts vor, und dies nicht nur, indem er die Vorstellung des Abgrunds auf das Menschenherz überträgt, sondern auch, indem er Tiefe als eine Qualität beschreibt, die einem spiegelbildlichem Verhältnis entspringt: Ein Abgrund ruft den anderen, zwei Tiefen stehen einander gegenüber. Tiefe kennzeichnet sowohl das Innere des Menschen als auch den Modus des wechselseitigen Eindringens in Mensch und Gott. Die Vorstellung der menschlichen Herzens- und Seelentiefe wird vor allem in der Mystik in vielerlei Variationen entfaltet. Für die Mystik ist die Tiefe als das Unbegreifliche und Unergründliche nicht nur eine Qualität Gottes, sondern ebenso Kennzeichen der Seele als seinem Gegenüber und Spiegelbild. Tiefe bezeichnet den Ort der unio mystica und den Weg zu Gott, der immer wieder als ein Versenken, Vertiefen oder tiefes Eindringen

45 Vgl. Art. „Tiefe; Tiefsinn“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Siehe auch: Rehm, Tiefe und Abgrund, S. 90. 46 Vgl. Klotz, Handwörterbuch der lateinischen Sprache, Sp. 335ff. 47 Zitiert nach Doppler, Der Abgrund, S. 12.

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beschrieben wird.48 Die Vorstellungsbereiche von Grund und Abgrund werden dabei ebenso verschränkt wie die von der Tiefe Gottes und der Tiefe der Seele. In die mystische Tiefenmetaphorik geht einerseits das Bild des Herzens als Abgrund im Sinne von Augustinus ein, andererseits das der höfischen Literatur entnommene Bild vom „Grund des Herzens“, das sich erstmals bei Walther von der Vogelweide findet: „Die nicht geriuwent zaller stunt hin abe unz ûf des herzen grunt“49. Neben dem abgrunt ist auch der Terminus grunt eine zentrale Metapher der Mystik, die gleichermaßen für Gott wie für die menschliche Seele stehen kann und auf diese räumliche Merkmale überträgt.50 Im Bild des Abgrundes veranschaulicht Meister Eckhart die Unbegreiflichkeit, Unergründlichkeit und Unzugänglichkeit des göttlichen Seins.51 Der Wirklichkeit Gottes kommt eine nicht auslotbare Tiefe und unermessliche Ausdehnung zu: „dâ enkan si in niemer begrîfen in dem mer sîner gruntlôsicheit“52. Gott ist verborgen „in sîner gruntlôsen tieffi“. Wie Gott, so sind aber auch die inneren Gedanken und Sinne des Menschen unausschöpflich und unbegreifbar, gruntlôs. Diesem spiegelbildlichen Verhältnis entsprechend ist das Innere des Menschen, seine Seele, auch der Ort, an dem Gott in seiner Unbegreiflichkeit zu begreifen ist. Der ,Grund‘ der Seele ist Ort der unio mystica.53 Er gestaltet sich als plane Fläche, die die Vorstellung vermittelt, dass Gott im

48 Vgl. Michael Egerding, Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik. Bd. 2. Paderborn 1997, S. 279-309. 49 Zitiert nach: Hermann Kunisch, Das Wort „Grund“ in der Sprache der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts. Osnabrück 1929, S. 4. 50 Die kausale Bedeutung von ,grunt‘ als ,causa‘ ist in der mittelalterlichen Mystik sehr selten und leitet sich aus dem Bedeutungsaspekt des Grundes als Ursprung im Sinne von „Grund, aus dem etwas wächst oder quillt“ (Kunisch, Das Wort „Grund“, S. 24) ab. Vgl. auch Grete Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. München 1926, S. 188. 51 Vgl. Egerding, Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, S. 288. 52 Zitiert nach ebd. 53 Zur Unterscheidung der Semantik von Herzensgrund und Seelengrund vgl. Kunisch, Das Wort „Grund“, S. 12f.

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Grunde jenseits aller Mannigfaltigkeit als Einheit erfasst werden kann. 54 Gleichzeitig geht aber auch Augustinus’ Vorstellung vom Abgrund in den Seelengrund ein:55 So wie Gott beschrieben wird als ein „grunt, der grundelôs ist“56, so ist der Seelengrund der Ort, an dem Gottes Abgründigkeit erst erfahrbar wird. Das spiegelbildliche Verhältnis, in dem die Tiefe bei Augustinus steht, wird von Meister Eckart potenziert: die Tiefe Gottes und der Seele enthalten sich wechselseitig. Der Weg zu Gott führt nach innen, da Gott als im grunt der Seele inkludiert gedacht wird. Um an den Grund Gottes und dessen Innerstes zu gelangen, gilt es, den eigenen ‚Grund‘ aufzusuchen.57 Der Grund ist dabei beides: festes Fundament und Abgrund, Nährboden und Bodenlosigkeit. Sowohl die flächenhafte Ausbreitung als auch die unergründliche Tiefe beschreiben Gott und das Innerste der Seele. Die mystische Konzeption von Tiefe denkt Grund und Abgrund auf paradoxe Weise zusammen. Grund und Abgrund, Fläche und Tiefe sind in der Mystik keine eindeutigen Orte oder Raumkoordinaten, sondern Objekt metaphorischer Übertragungen und Verschiebungen. Während beispielsweise bei Mechthild von Magdeburg die Dimension der Tiefe noch recht eindeutig im Bild des tiefen Brunnens vertreten ist, das zur Darstellung der Unergründlichkeit Gottes dient,58 findet sich bei Johannes Tauler auch häufig das Oxymoron der grundelôse grund59, das die (nur scheinbare) Antithese von Grund und Abgrund bezeichnet, diese aber gleichzeitig verschränkt. Er denkt sie wie Meister Eckhart als korrelative Begriffe – es ist die Abgründigkeit der Tiefe, die den grunt gleichermaßen zum Attribut Gottes wie der Seele werden lässt und Voraussetzung einer Vereinigung beider in der unio mystica darstellt.60 Der Grund wird ins Bodenlose verlegt – ein Versuch, die Unbestimmtheit im Paradoxon einzufangen, denn in ihrem Grund ist die Seele, wie Gott, unaussprechlich: „Waz diu sêle in irem grunde sî, dâ en-

54 Vgl. Egerding, Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, S. 279-309. 55 Vgl. Kunisch, Das Wort „Grund“, S. 91. 56 Zitiert nach: Egerding, Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, S. 288. 57 Vgl. ebd., S. 284. 58 Vgl. Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik, S. 105. 59 Vgl. ebd., S. 188. 60 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3. München 1999, S. 509.

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weiz nieman von“61, heißt es bei Meister Eckhart. ‚Tiefe‘ bezeichnet die Schwierigkeit des Menschen, das göttliche Wesen zu begreifen: „hîr ist ein tûfe sunder grund“62, und diese kann nicht anders als auf paradoxe Weise ergründet werden. In der Mystik formiert sich, so kann man zusammenfassend sagen, eine Semantik der Tiefe, die bis heute weiterwirkt. Zwei Aspekte sind dabei besonders wichtig: Zum einen die paradoxe Struktur der Tiefe als grundloser Grund, als Zielort, der nie erreicht werden kann, zum anderen die spiegelbildliche Struktur der Tiefe, die Außenwelt und Innenwelt bestimmt und im übertragenen Sinn dem Erkennenden wie dem Subjekt der Erkenntnis selbst zugesprochen wird.

W IE

DICK IST DIE

O BERFLÄCHE ?

Verglichen mit der altehrwürdigen Semantik der Tiefe ist die Oberfläche ein relativ junges Konzept. So allgegenwärtig die Rede von der ‚Oberfläche‘ in der heutigen Alltagssprache ist, so überschaubar kurz ist doch ihre Begriffsgeschichte: Der Ausdruck ‚Oberfläche‘ ging erst im 17. Jahrhundert als Lehnübersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche ein. In einem Werk über Kriegsbaukunst soll der Sprachreiniger Zesen die wörtliche Übersetzung ‚Oberfläche‘ für superficies geprägt haben.63 In Justus Georg Schottelius’ Ausführlicher Arbeit von der Teutschen HaubtSprache von 1663 findet sich erstmals, im Kapitel über die Präpositionen, die deutsche Entsprechung „Oberfläche“ für „superficies“64.

61 Zitiert nach: Egerding, Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, S. 285. 62 Meister Eckhart, Granum sinapis. Zitiert nach: Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. München 21989, S. 47. 63 Vgl. Zeitschrift für Deutsche Wortforschung. Hg. von Friedrich Kluge. Beiheft zu Band 14: Der Wortschatz der Mathematik nach Alter und Herkunft untersucht von Alfred Schirmer. Straßburg 1912, S. 49. Vgl. zur Begriffsgeschichte der ‚Oberfläche‘ auch von Arburg, Alles Fassade, S. 20-24. 64 Justus Georg Schottelius, Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663. Buch 2, S. 641.

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Adelung versucht dem super des lateinischen Begriffs in der ersten Ausgabe seines Wörterbuchs65 (erschienen 1774-1786) Rechnung zu tragen, in dem er die Oberfläche beschränkt auf „die obere oder oberste Fläche eines Dinges, im Gegensatze der Unter- oder Grundfläche“66. Die Oberfläche ist nicht nur die obere Fläche, sondern die „oberste Fläche“, die sich zudem durch einen Gegensatz bestimmt: sie ist das, was von der „Unter- oder Grundfläche“ weitest möglich entfernt ist. Diese Definition überträgt Adelung auch auf kugelförmige Körper: „Die Oberfläche der Erde oder einer jeden anderen Kugel ist dem Mittelpunkte und den um demselben befindlichen Theilen entgegengesetzt.“67 Die Oberfläche kann also einerseits eine zweidimensionale Ebene, andererseits eine gewölbte Außenseite sein. Darüber war man sich zunächst uneins. In der Mathematik, wo der Begriff sich zunächst durchsetzte, bezeichnete der deutsche Begriff der ‚Oberfläche‘, wie bei Christian Wolff, zunächst die ‚Außenfläche eines Körpers‘ im Gegensatz zur Fläche (‚jedes zweidimensionale Gebilde‘).68 In seinem Mathematischen Lexicon69 von 1716 verwendet Wolff noch das Fremdwort superficies. Unter dem Eintrag „Superficies, eine Fläche“ erklärt er diese als „eine Größe, die lang und breit, aber nicht dicke ist.“70 Die gleiche Formulierung findet sich in dem zwischen 1731 und 1754 erschienenen und von Johann Heinrich Zedler herausgegebenen Universallexikon71, dem umfangreichsten enzyklopädischen Werk des 18. Jahrhunderts. In Band 9, der

65 Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Leipzig 1774-1786. 66 Ebd., Bd. 3, Sp. 866. 67 Ebd. 68 Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch. Hg. von Walther Mitzka. Bd. 5. Berlin 1954, S. 5. 69 Christian Wolff, Mathematisches Lexicon, darinnen die in allen Theilen der Mathematik üblichen Kunst-Wörter erkläret und zur Historie der Mathematischen Wissenschaften dienliche Nachrichten ertheilet, auch die Schriften wo jede Materie ausgeführet zu finden angeführet werden. Leipzig 1716. 70 Ebd., Sp. 1342. 71 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig/Halle 1731-1754.

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1735 erschien, wird „Fläche, Lat. Superficies“ als „die Extension derer Cörper an ihren Extremitäten oder Grenzen“72 beschrieben. Während aber „die Notion des Cörpers das continuum Spatium von einem angenommenen Orte gegen alle Gegenden in sich fasset, dieses aber den Begriff von einer Dicke oder Höhe mit sich führet, so fällt solche bey der Notion einer Fläche weg, und bleibet nichts übrig, als daß sich an den Extremitäten des Cörpers eine Extension nach der Länge und Breite äussere; derowegen pfleget man auch die Flächen zu definieren, dass sie grössen seyn, welche lang und breit, aber nicht dicke sind.“73

Die Vorstellung einer dünnen Haut, die die Beschreibung evoziert, wäre noch zu körperlich gedacht, handelt es sich bei superficies doch um eine zweidimensionale Fläche ohne jede eigene Tiefendimension, eine Extension ohne Intension.74 Sie ist dabei nicht auf eine horizontale Erstreckung festgelegt – neben der ebenen Fläche, „superficies plana“, führt Zedlers Artikel auch krumme, erhabene oder hohle Flächen (superficies curuae, conuexa, concaua) sowie Kugelflächen auf.75 Schwierigkeiten bereitet anscheinend, superficies vom continuum spatium des Körpers zu unterscheiden; sie als reine Extension zu denken und dennoch an den Extremitäten des Körpers zu verorten. Weiter heißt es: „Wenn wir nun einen solchen Cörper als endlich betrachten, so muß er in gewisse Grenzen eingeschlossen seyn, diejenige Extension oder Continuitas Spatii nun, so ein Cörper an diesen seinen Grenzen formiret, wird eine Fläche genannt. Es sind aber die Grenzen nicht von der Beschaffenheit, von welcher der Cörper selber ist, der umgrenzet wird [...]“76. Einerseits ist der Körper eine Einheit, andererseits hat er Grenzen, die man von ihm ‚abgrenzen‘ kann. Die Oberfläche ist ein Teil des Körpers und doch wieder nicht: jeder Körper hat eine Oberfläche, aber die Oberfläche hat keinen Körper, sie ist eine Grenze und keine eigenständige Größe.

72 Ebd., Bd. 9, Sp. 1125f. 73 Ebd., Sp. 1125. 74 Zu den Gegenbegriffen ‚Extension und Intension‘ siehe Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Göttingen 2004. 75 Vgl. ebd., Sp. 1125f. 76 Ebd., Sp. 1125.

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Die gleiche Unsicherheit bezüglich der Zuordnung der Oberfläche zu ihrem Körper findet sich auch noch in Georg Simon Klügels Mathematischem Wörterbuch von 1808: „Oberfläche ist die Gränze eines geometrischen Körpers, welche etwas zu dem Körper gehöriges ist, ohne einen Theil davon auszumachen.“77 Die Oberfläche stört die Einheit des Körpers. Sie setzt ihn einer Unterscheidung aus, verleiht ihm eine „Gränze“, die gesondert betrachtet werden kann, wenn sie auch andererseits nicht vom Körper zu trennen ist. Sie ist keine Haut oder Hülle, aber, folgt man Klügel, auch kein Teil des Körpers. Die Oberfläche nimmt damit eine Zwischenstellung zwischen den Dimensionen ein, ist sie doch eine zweidimensionale Größe, die an eine dreidimensionale Größe gebunden ist. Sie ist die äußere Grenze eines Körpers oder Raumes, und als solche von ihm nicht zu trennen. Eigenständig ist sie dennoch nicht: Die Oberfläche existiert nur in Zusammenhang mit einem Darunter, das sie bedeckt. Die Schwierigkeit der Unterscheidung der Oberfläche von dem Körper, an den sie gebunden ist, bezieht man im 18. Jahrhundert auch zurück auf den Bereich, dem der lateinische Begriff superficies entstammt: dem römischen Bodenrecht. Der lateinische Terminus superficies, der bei Zedler wie bei Wolff als Äquivalent zur deutschen ‚Fläche‘ verwendet wird, ist eigentlich eine Zusammensetzung aus super und facies und so fast schon ein Pleonasmus, bezeichnet doch facies bereits eine äußere Beschaffenheit oder Form bzw. das Gesicht, superficies geht also über jede Äußerlichkeit hinaus, es ist das alleräußerste Äußere. Diese irritierende Doppelung erklärt Zedler nun damit, dass der Begriff ursprünglich eine Kategorie des römischen Miet- oder Pachtrechts darstellte.78 Das „Jus Superficei“79 beschäftigte sich, so die Tendenz des Eintrags, vorrangig mit der Verpachtung von Häusern und Gebäuden, während „Emphyteutis“ ein Vertrag war, „den man bey der Eingebung oder Verpachtung derer Aecker oder Ländereien zu

77 Georg Simon Klügel, Mathematisches Wörterbuch oder Erklärung der Begriffe, Lehrsätze, Aufgaben und Methoden der Mathematik mit den nöthigen Beweisen und litterarischen Nachrichten begleitet in alphabetischer Ordnung. Erste Abteilung: Die reine Mathematik. Band 3. Leipzig 1808, S. 694. 78 Vgl. den Eintrag „Superficies oder superficium“ in: Zedler, Universallexikon. Bd. 41, S. 302-320. 79 Ebd., Sp. 306.

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schliessen pflegt.“80 Die Vermietung von Häusern bedarf gegenüber der von Land einer eigenen Vertragsform, weil das römische Recht zwischen dem, was sich über der Erde befindet und dem, was darunter ist, strikt unterscheidet. Superficies bezeichnet in diesem Zusammenhang also nicht nur die „äusserliche Fläche einer Sache“81, sondern „dasjenige, was jemand auf den Grund-Platz gebauet hat“82, ein „auf oder übergebauetes“83, also tatsächlich das, was über die Fläche hinausgeht: „alles, was über der Erden ist, und ins Gesichte fällt, als da sind die Gebäude, Weinstöcke, Bäume, Pflanzen, Saat und dergleichen“84. Den Gelehrten des 18. Jahrhunderts bereitet diese Trennung Schwierigkeiten. Während für die Römer die Oberfläche der Erde eine feste Grenze markierte, die zwei Vertragsformen forderte, ist das aus Sicht Zedlers und seiner Zeitgenossen alles andere als klar. Die von Zedler referierten Meinungen über den Unterschied zwischen Superficium und Emphyteta gehen in der Frage auseinander, ob denn nicht der Bau eines Hauses mit seinem Fundament auch den Grund der Erde betreffe, ob also eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Rechtsformen überhaupt möglich sei.85 Superficies kann nicht ohne weiteres auf dasjenige, was sich über einer Fläche befindet, beschränkt werden, da es unweigerlich diese Fläche berührt und zum Teil sogar durchdringt. Der Oberfläche habhaft zu werden, gelingt auch rechtlich kaum: Bei jedem Versuch, sie zu fassen, geht sie in einem Darüber (Saat, Bauten) oder Darunter (Fundamente, Wurzeln, vergrabene Schätze) auf. Wie der Mathematik, so fällt es auch dem Recht schwer, die Oberfläche von dem zu trennen, was sie begrenzt. Entfernt man eine Oberfläche, käme darunter nur eine neue zum Vorschein. Die Oberfläche ist eben keine Haut, keine Schale, Decke oder Hülle, sondern eine Abstraktion.

80 Ebd. 81 Ebd., Sp. 302. 82 Ebd., Sp. 303. 83 Ebd. 84 Ebd., Sp. 302. 85 Vgl. ebd. Sp. 303.

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F LÄCHIG

ODER FLÄCHLICH ?

Schneller als das Nomen „Oberfläche“ verbreitet sich in der Alltagssprache das zugehörige Adjektiv. ‚Oberflächlich‘ ist alles, was keinen Tiefgang hat. Schon im Lateinischen bedeutet die Ableitung superficialis ‚ungenau‘, ‚nicht gründlich‘ oder ‚nicht tiefsinnig‘ – letzteres ein Adjektiv, das im Deutschen ebenfalls erst Ende des 18. Jahrhunderts im heutigen Sinne gebräuchlich wird.86 Joachim Heinrich Campe stellt 1792 in seinem Zweitem Versuch deutscher Sprachbereicherungen die Adjektive „oberflächlich oder flächlich“ als deutsches Pendant zum französischen „superficiel“ zur Auswahl.87 Darauf bezieht sich Johann Friedrich Heynatz in seinem Versuch eines deutschen Antibarbarus von 1796/9788 und gibt eine dritte Alternative an: „flächlich schlägt Campe neben oberflächlich für superficiell vor. Ich schreibe lieber oberflächig. Adelung hat keins von allen dreien.“89 Adelung holt dieses Versäumnis in der zweiten Ausgabe seines Wörterbuches, dem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,90 das in vier Bänden von 1793 bis 1801 erschien, nach. „Oberflächlich“ definiert er dort als Adjektiv, „welches nur im figürlichen Verstande gebraucht wird, im Gegensatze des gründlich. Eine oberflächliche Gelehrsamkeit, welche man auch eine seichte zu nennen pflegt. So auch die Oberflächlichkeit.“ 91 Und Campe geht in der zweiten Auflage seines Wörterbuchs zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Aus-

86 Vgl. Duden Etymologie, S. 709. Das Adjektiv „tiefsinnig“ entstand bereits im 16. Jahrhundert, allerdings in der Bedeutung von ‚scharfsinnig, schlau‘. 87 Johann Heinrich Campe, Zweiter Versuch deutscher Sprachbereicherungen oder neue starkvermehrte Ausgabe des ersten. Braunschweig 1792, S. 93. 88 Johann Friedrich Heynatz, Versuch eines Deutschen Antibarbarus oder Verzeichniß solcher Wörter, deren man sich in der reinen Deutschen Schreibart entweder überhaupt oder doch in gewissen Bedeutungen enthalten muß, nebst Bemerkungen einiger, welche mit Unrecht getadelt werden. 2 Bände. Berlin 1796-1797. 89 Ebd., Band 1, 2. Abteilung, S. 413. 90 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1793-1801. 91 Ebd., Bd. 3. Leipzig 1798. Reprint Hildesheim/New York 1970, Sp. 560.

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drücke92 von 1813 noch einmal auf Heynatz ein, um seine Präferenz für den Terminus ,oberflächlich‘ zu rechtfertigen: „Heynatz will statt oberflächlich lieber oberflächig gesagt wissen. (Zus.) Oberflächig heißt aber, was eine Oberfläche hat, nicht was der Oberfläche gemäß ist, damit übereinstimmt. Man will den Begriff, auf der Oberfläche hin, nur die Oberfläche berührend durch superficiell ausdrucken. So wie wir aber das Gegentheil durch gründlich und nicht durch gründig bezeichnen, so müssten wir auch hier oberflächlich und nicht oberflächig sagen.“93

Campe fasst wie Adelung ‚oberflächlich‘ als analoge Wortbildung zum Gegenbegriff ‚gründlich‘ auf. Die Wahl des Suffixes erscheint also als keineswegs beliebig – die Semantik des Begriffs hängt mit ihr zusammen. Nicht als Adjektiv, sondern als Adverb will Campe das Fremdwort superficiell übersetzt wissen, ist die Oberflächlichkeit für ihn doch kein Attribut eines Gegenstandes, sondern bestimmt den Modus des Umgangs mit diesem. Dass die Dinge in Oberfläche und Tiefe bzw. Grund unterschieden werden können, setzt Campe als ebenso bekannt voraus wie die Tatsache, dass die Oberfläche einen Körper oder einen tieferen Grund bedeckt. Während die Oberfläche in der Geometrie vom Inneren des Körpers her bestimmt und als Gegensatz zu Grundfläche oder Mittelpunkt definiert wurde, denkt Campe die Kategorie von außen her. Die Analogbildung zum Adjektiv ‚gründlich‘ verdeutlicht noch die Abhängigkeit des Begriffs von seinem Gegensatz. Statt den Dingen ‚gründlich‘ auf den Grund zu gehen, beschreibt ‚oberflächlich‘ eine Gleitbewegung, die nur berührt, ohne tiefer einzudringen. Entsprechend erklärt auch Adelung die „eigentliche“ Bedeutung von „oben“ mit der Formel: „Oben schwimmen, auf der Oberfläche des Wassers“94; über Tiefe heißt es entsprechend: „Besonders wird ein tiefes Wasser, und der tiefste Theil einer großen Sammlung Wassers die Tiefe ge-

92 Johann Heinrich Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern. Braunschweig 21813. 93 Ebd., S. 575. 94 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Bd. 3, Sp. 560.

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nannt. Auf die Tiefe fahren, auf das hohe Meer.“95 Auch die genannten Synonyme entstammen häufig dem Bildbereich des Wassers: „Seicht“ nennt Adelung als Synonym für oberflächlich, „gründlich“ als dessen Antonym.96 Die Verhältnisse von Oberfläche und Tiefe werden im Bildfeld des Wassers beschrieben, und nicht als (Fest-)Körper wie in der Geometrie. Mit der Metaphorik des Wassers geht aber auch eine Änderung des Blicks auf die Oberfläche einher: War superficies im römischen Recht vor allem das, was sich auf bzw. über der Erdfläche befindet, so ist es in der deutschen Begriffsprägung der Oberfläche vor allem die Frage nach dem Darunter, die interessiert. Die Unsicherheit bezüglich der Tiefe, die die Oberfläche verbreitet, und die auch in dieser Arbeit immer wieder von Bedeutung sein wird, ist eine Spezialität der deutschen Begriffsbildung. Im Französischen beispielsweise gibt es zwei Begriffe, die mit dem deutschen Wort ‚Oberfläche‘ übersetzt werden können: sûrface und superficie. Während sûrface die Oberfläche eines Körpers bezeichnet, ist superficie die Fläche und plane Ebene, eine horizontale Erstreckung, deren Darunter nicht von Interesse ist. Von letzterem Begriff wird das Adjektiv superficiel/le abgeleitet, das so der Zweideutigkeit der deutschen Begriffsbildung entgeht, wie sie sich in der Diskussion zwischen Heynatz und Campe niederschlägt. Wer an der Oberfläche bleibt, der vernachlässigt die Frage nach dem, was darunter ist. Darauf zielen die von Campe aufgezählten pejorativen Bezeichnungen, die sich (bedauerlicherweise) nicht durchsetzen konnten: „Luther hat auch flachgelehrt: ‚Einige flachgelehrte Schwätzer.‘ Für diese findet sich auch das Grundwort der Seichtling. [...] Einen superficiellen Menschen können wir auch einen flachköpfigen oder mit Einem Worte einen Flachkopf nennen. Lessing hat auch obenabgeschöpft dafür gesagt: ‚Was er anführet ist so kahl, so obenabgeschöpft.‘ Lenz hat für den superficiellen Kopf auch Oberflächler vorgeschlagen.“97

95 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Bd. 4, Sp. 601. 96 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Bd. 3, Sp. 560. 97 Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Sp. 575.

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Was Campe zunächst auseinanderhalten wollte, fällt hier zusammen: das Adverb wird zum Adjektiv, das Attribut des Oberflächlichen geht vom Modus des Objektbezugs oder einer Tätigkeit (hier des Sprechens) auf deren Subjekt über. Es wird zum „Flachkopf“, zum „Oberflächler“, der selbst keine Tiefe hat. Damit kehrt die Frage nach der Tiefe wieder, die Campe ausblendete, solange er sich mit seiner Definition nur „auf der Oberfläche hin“ bewegte. Denn indem Campe „oberflächlich“ allein als Adverb verstand, das den Modus des „nicht tiefer Eindringens“ bezeichnet, konnte er die Oberfläche unabhängig von der Tiefe betrachten; auch seine eigene Definition musste nicht tiefer eindringen. Durch die Zitate von Luther, Lenz und Lessing drängt sich aber die Frage nach der Beschaffenheit der Tiefe unter der Oberfläche doch wieder in seine Definition. So zeichnet sich ein „superficieller“ Mensch dadurch aus, dass er nur oben abschöpft – aber wie tief das Wasser ist, aus dem er da zu schöpfen scheint, bleibt ungewiss. Der „Seichtling“ und der „Flachkopf“ legen allerdings nahe, dass es sich bei dem bildspendenden Wasser eher um einen Tümpel handeln muss. Der deutsche „Seichtling“, den auch Adelung schon aufführte, der „Flachkopf“ und der „Oberflächler“: sie entbehren aber nicht nur der Fähigkeit, die etwaige Tiefe zu ergründen, sondern dieses Manko wirkt auf sie zurück, indem ihnen selbst jede Tiefe abgesprochen wird. Oberflächlichkeit wie Tiefe sind gleichermaßen Qualitäten des Subjekts wie Modi des Objektbezugs und bezeichnen ein spiegelbildliches Verhältnis: Tief ist derjenige, der unter die Oberfläche der Dinge dringt, andernfalls wird er selbst als oberflächlich bezeichnet. Oberflächlich ist dann nicht mehr nur das, was eine Oberfläche hat oder das, was nur die Oberfläche berührt, sondern es ist das, was keine Tiefe hat oder dies zumindest befürchten lässt. Daher rührt wohl auch das Misstrauen gegenüber der Oberfläche und die negative Konnotation, die der Oberflächlichkeit anhaftet. Oberflächlichkeit und Gründlichkeit bezeichnen Gegensätze, die qualitativ abgestuft konnotiert sind. Schon früh zeichnet sich hier ab, was die Geschichte der Oberfläche weiterhin bestimmen wird: die Unsicherheit über die Existenz einer tieferen Dimension, eine Unsicherheit, die sich mit der Oberfläche über die Tiefe legt. Was bzw. ob überhaupt etwas unter ihr verborgen ist – diese Frage lässt die Deckfläche der Oberfläche offen. Die Oberfläche ist ein doppeldeutiges Konstrukt: Einerseits ist sie ganz „flächlich“, andererseits birgt sie immer auch das Versprechen von Raum, die Ahnung einer tieferen Dimension. Als ‚Ober‘-Fläche ist sie eben nicht

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nur einfach flach, seicht oder plan, sondern die obere oder äußere Begrenzung eines Raumes bzw. Körpers, mit dem sie in Relation steht. Und dem Konzept der Oberfläche wäre kein solcher Erfolg beschieden gewesen, wenn die durch sie entstehende Verunsicherung nicht auch als Verheißung verstanden werden könnte. Denn mit der Oberfläche taucht immer auch die Frage nach der Tiefe auf.

M ETAPHER , U NTERSCHEIDUNG , T OPOLOGIE So abgründig die Tiefe – so schillernd die Oberfläche: per Begriffsgeschichte sind die beiden Größen kaum dingfest zu machen. Vielmehr spiegelt sich in der Begriffsgeschichte selbst ihre Vieldeutigkeit und Ambivalenz. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, zu präzisieren, um was es sich eigentlich handelt bei diesem Begriffspaar, um das es im Folgenden gehen wird. Zunächst ist für beide Begriffe von Beginn an der metaphorische Gebrauch kennzeichnend. Und wie die Diskussion um die Begriffe der Oberfläche und Oberflächlichkeit zeigt, sind es nicht zuletzt die lexikalischen Versuche der Begriffsklärung, die immer neue Bilder und Metaphern hervorbringen. Eine Begriffsgeschichte von Oberfläche und Tiefe kann deshalb nur als Metapherngeschichte geschrieben werden. Hans Blumenberg hat das Verhältnis seiner Metaphorologie zur Begriffsgeschichte einmal als eines der Dienstbarkeit beschrieben und zur Präzision eine Reihe weiterer Metaphern angefügt: „die Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen [...].“98 Die „Substruktur“ oder der „Untergrund“: das sind Ausprägungen einer Oberflächen-Tiefen-Metaphorik, der sich Blumenberg in der Beschreibungssprache bedient. Die Metaphern dagegen, denen sich seine Studien widmen, sind meist bildhaft. Verglichen mit den von ihm untersuchten Metaphern wie der des Buchs der Natur, der Höhle

98 Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 2

1999, S. 13.

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oder der Schifffahrt99 sind Oberfläche und Tiefe abstrakte Größen. Dass Blumenberg ausgerechnet diese zur Charakterisierung seines Projekts einer Metaphorologie aufruft, mag Zufall sein – es zeigt aber vielleicht doch, wie sehr die Metaphorik von Tiefe und Oberfläche im Denken verankert ist. So ,fundamental‘ nämlich, dass es unmöglich ist, darüber zu sprechen, ohne sich der Metaphorik selbst zu bedienen. Oberfläche und Tiefe stellen in diesem Sinn epistemologische Metaphern dar, die verschiedene Bereiche des Wissens grundlegend strukturieren. Die Vielschichtigkeit der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe anzudeuten, war das eine Anliegen obiger Begriffsgeschichte. Das andere Anliegen war, auf die Abhängigkeit der Begriffe von jeweils einer Bezugsgröße aufmerksam zu machen. Das gilt nicht nur für die Oberfläche, die sich per se als ein ‚Darüber‘ definiert, sondern auch für die Tiefe, die immer einen Bezugspunkt braucht, von dem aus sie sich erstreckt. Mit dem Aufkommen des Konzepts ‚Oberfläche‘ wird diese zur wichtigsten Bezugsgröße für die Tiefe, die mehr und mehr zu einem ‚Darunter‘ wird. Die Oberfläche verändert die Semantik der Tiefe und beginnt, diese langsam zu dominieren. Tiefe und Oberfläche bilden einen Dualismus, dessen Teile voneinander abhängig sind: die Oberfläche wird im Gegensatz zur Tiefe definiert und umgekehrt. Beide Größen bedingen sich gegenseitig. Dort, wo Oberfläche und Tiefe zusammen auftreten, handelt es sich also nicht um zwei eigenständige Metaphern, sondern um ein gemeinsames Denkmodell. Die Einheit des Denkmodells stiftet eine Unterscheidung: die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. Und ausgehend von diesem Lieblingsbegriff Niklas Luhmanns lohnt es sich vielleicht, einen kurzen Umweg über die Systemtheorie zu nehmen. Diese basiert bekanntlich auf der Annahme, Sinn konstituierende Systeme (seien es das psychische System des Individuums oder gesellschaftliche Systeme) generierten Informationen aufgrund spezifischer Unterscheidungen. Luhmann nennt diesen Vorgang „Beobachtung“100. Beobachten heißt also wiederum: unterscheiden. In diesem Punkt ist die Systemtheorie konstruktivistisch: Systeme beobachten ih-

99 Vgl. z.B. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981; ders., Höhlenausgänge. Frankfurt a.M. 1989; ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1979. 100 Vgl. z.B. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft I, Frankfurt a.M. 2

1999, S. 44-78.

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re Umwelt mit Hilfe binärer Codes oder besser: in binären Codes – das heißt aber auch, dass die Codes die Umwelt des Systems für dieses konstruieren. Mit jeder Beobachtung wird also nicht nur eine Seite einer Unterscheidung aufgerufen (also z.B. „Recht“ und nicht „Unrecht“ im juristischen System), sondern es wird das ausgeblendet, was jenseits der binären Struktur des Codes liegt (im Rechtssystem, um beim Beispiel zu bleiben, etwa ,Moral‘. Luhmann bezeichnet dies als „Umwelt“ des Systems). Die systemtheoretische Verbindung von Unterscheidung und Beobachtung macht also auf einen Aspekt aufmerksam, der für das Denkmodell von Oberfläche und Tiefe wichtig ist: dass es etwas Bestimmtes zu sehen ermöglicht – und anderes ausschließt. Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe gehört nun nicht zu den binären Codes, auf denen ganze Funktionssysteme aufbauen, und Luhmann geht auch meines Wissens nach nicht auf diese spezielle Unterscheidung ein. Doch auch wenn sie nicht ,systemrelevant‘ im Sinne Luhmanns sind, so bedienen sich doch ab dem 19. Jahrhundert verschiedene Systeme oder Subsysteme der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe und bringen mittels dieser Beobachtungen hervor. Ein weiterer Gedanke Luhmanns ist der, dass jede erste Unterscheidung, die Beobachtungen leitet, weitere Unterscheidungen generiert, die an diese anschließen und sich gegenseitig plausibilisieren. Im Fall der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe wäre zu denken an Unterscheidungen wie innen und außen, sichtbar und unsichtbar, offen und verdeckt, zweidimensional oder dreidimensional, Vordergrund und Hintergrund. Sie werden in die folgenden Untersuchungen hineinspielen und nicht immer von der Unterscheidung Oberfläche/Tiefe exakt zu trennen sein. Bei alldem darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe zunächst ein Raummodell darstellt. Damit ist allerdings noch nicht viel gesagt, hat es doch in den vergangenen Jahren eine Konjunktur des Raumes und der Räumlichkeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften gegeben, infolge deren eine Reihe programmatischer Schriften erschienen sind, die eine wesentliche Komplexitätssteigerung im Umgang mit der Kategorie des Raumes bewirkt haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um unterschiedliche Raumbegriffe, um Raumpraktiken, um Arten der Raumerzeugung oder Raumlektüren hat begriffliche Präzisierungen hervorgebracht, die auch zur Konturierung des hier interessierenden Raummodells von Oberfläche und Tiefe hilfreich sind. Die

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Raumdebatte der vergangenen Jahre vollzog sich in verschiedenen programmatisch ausgerufenen „turns“, die jeweils den Schwerpunkt auf unterschiedliche Aspekte von Räumlichkeit gelegt und damit gezeigt haben, wie viel Heterogenes unter dem Begriff des Raumes eigentlich subsumiert wird. Ein 2010 von Stephan Günzel herausgegebenes „interdisziplinäres Handbuch“ zum „Raum“101 verzeichnet vom historischen über den körperlichen oder poetischen bis hin zum epistemischen Raum vierzehn verschiedene Arten von Räumen und zählt drei bis vier verschiedene „Raumkehren“: Während der spatial turn Ende der 1980er Jahre eine Revalorisierung der Kategorie der Räumlichkeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften vorantrieb und auch in den Literaturwissenschaften eine „geographische Emphase“102 auslöste, konzentrieren sich die Arbeiten, die unter dem Schlagwort des topographical turn erschienen, auf die mediale Seite der Erzeugung von Räumlichkeit, insbesondere durch die Kartographie. Dieses Paradigma hat sich auch für die Literaturwissenschaft als besonders anschlussfähig erwiesen, die betonte, dass literarische Texte Räume nicht nur darstellen, sondern zuallererst konstruieren.103 Hier interessiert aber vor allem eine weitere Ausdifferenzierung der Raumparadigmen: der topological turn, dem es weniger um konkrete Räume als um Lagebeziehungen geht. Der topological turn plädiert für eine Sichtweise des Raumes, die sich nicht mehr, wie der spatial turn, mit der Aufwertung der Kategorie des Raumes begnügt, sondern, so Stephan Günzel, „sich vielmehr vom Raum abwendet, um Räumlichkeit in den Blick zu nehmen.“104 Und während sich die Untersuchung von Topographien mit ‚konkreten‘ geographischen Räumen beschäftige, die zwangsläufig die Frage nach geographischer Referenz impliziere, widme sich die Untersu-

101 Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010. 102 Ebd., S. 94. 103 Vgl. ebd., S. 297, sowie den von Robert Stockhammer herausgegebenen Band: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. München 2005. 104 Stephan Günzel, „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“. In: Jörg Döring u. Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 219-237, hier S. 221.

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chung der Topologie abstrakten Raumrelationen, die nicht notwendigerweise von physischen Räumen ausgehen müssten. Raum wird in diesem Sinn nicht als vorgegebener, dreidimensionaler Erfahrungsraum verstanden, sondern, im Anschluss an Leibniz und die mathematische Topologie, als Feld zwischen Körpern, als Lagebeziehung.105 „Topologische Untersuchungen konzeptualisieren eher die Struktur, Architektur, Form oder Figurativität des Textes, während topographische sich sowohl mit Beschriftungsprozessen als auch mit Fragen der Darstellbarkeit von konkreten und imaginären Räumen befassen“106, so erklärt Sylvia Sasse im Handbuch Raum den Unterschied beider Erkenntnisinteressen. Für die Literaturwissenschaft bietet die Topologie damit ein Konzept, „das anti-essentiell sowie anti-substantiell thematische und formale Verformungen benennt, wie sie in Kunstwerken feststellbar sind [...]“107 . Topologien sind demnach nicht nur Raumordnungen, die von Texten sprachlich repräsentiert würden, sondern betreffen die Anlage und Poetologie der Texte selbst. Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe stellt eine ,topologische‘ Figur dar, die in dieser Arbeit am Beispiel des Wassermotivs als einer ,topographischen‘ Raumordnung analysiert wird. Dabei geht es nicht um eine Rückbindung der Topologie an einen konkreten Raum – vielmehr treten vor dem Hintergrund der konkreten Raumordnung des Wassers die unterschiedlichen topologischen Relationen von Oberfläche und Tiefe nur umso deutlicher hervor. Es ist dabei auch nicht in erster Linie die Raumordnung oder die Raumerzeugung, die hier untersucht werden soll, sondern diese interessiert im Hinblick auf die unterschiedlichen Konstellationen von Oberfläche und Tiefe und die (topologischen) Verformungen, die diese in der Literatur bewirken. Thomas Anz hat in einem eher kritischen Beitrag vor der „geradezu inflationären Verwendung des Raumbegriffs in den gegenwärtigen Kultur-

105 Vgl. auch Kirsten Wagner, „Topographical Turn“. In: Günzel (Hg.), Raum, S. 100-109, hier S. 105. 106 Günzel, Raum, S. 304. 107 Thomas Eder, Juliane Vogel, „Vorbemerkung der Herausgeber“. In: Dies. (Hg.), Lob der Oberfläche, S. 7.

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wissenschaften“108 gewarnt, der in den letzten Jahren dazu geführt habe, die eigene wissenschaftliche Herangehensweise mit Vorliebe als ,Kartierung‘, ,Mapping‘ oder als ,Vermessung‘ zu benennen. „Statt sich an der Produktion von Raummetaphern blindlings zu beteiligen, wäre es für die Literaturwissenschaft wohl angemessener, sie zu analysieren [...]“109, schreibt Anz. Ebendies soll (ohne die Raummetaphern auf eine ,eigentliche Bedeutung‘ zurückführen zu wollen)110 hier unternommen werden. Die Arbeit verfolgt den Wandel der Semantik einer räumlichen Unterscheidung mit dem Ziel zu zeigen, inwiefern die topologischen Figuren von Oberfläche und Tiefe Aufschluss geben über die Poetik der durch sie geformten Texte.

108 Thomas Anz, „Raum als Metapher. Anmerkungen zum ,topographical turn‘ in den Kulturwissenschaften. In: Literaturkritik.de, Nr. 2 (Februar 2008). http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11620 (3.1.2013) 109 Ebd. 110 So die Kritik von Michael C. Frank an Thomas Anz. Vgl. Michael C. Frank, „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“. In: Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 53-80, hier S. 62f.

Von der Tiefe an die Oberfläche

Mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe formiert sich ab dem 18. Jahrhundert ein Raummodell, das den Rang einer epistemologischen Metapher einnimmt und verschiedene Bereiche des Wissens strukturiert. Dort, wo Oberfläche und Tiefe gemeinsam auftreten, wird auch die Entscheidung für die Tiefe an der Oberfläche getroffen. Die Oberfläche beginnt damit die alte Semantik der Tiefe langsam zu dominieren. Was man in der Tiefe vermutet, sucht man zunehmend an der Oberfläche, die wiederum zum Zeichenträger der Tiefe wird. Das soll im Folgenden zunächst in einem Querschnitt um 1800 an drei Beispielen dargestellt werden: erstens geht es um den Blick auf den Erdboden, der sich vor dem Hintergrund von Geologie, Archäologie und Kartographie wandelt. Zweitens geht es um den sich verändernden Blick auf den Menschen, der am Beispiel der Physiognomik gezeigt werden soll. Diese etabliert sich um 1800 als Wissenschaft des modernen Subjekts und will dessen Tiefe über die Zeichen an seiner Oberfläche ergründen. Drittens geht es um den Blick auf die Kunst, der um 1800 paradigmatisch an der Plastik verhandelt wird. Winckelmann greift dabei, zur Bestimmung der Verhältnisse von Tiefe und Oberfläche des Kunstwerks, immer wieder auf eine Metaphorik des Wassers zurück. Und um diese spezielle Ausprägung der Oberflächen-Tiefen-Metaphorik wird es im Hauptteil der Arbeit gehen.

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S CHICHTEN

UND

S EDIMENTE : D ER G RUND

DER

E RDE

Es gab im späten 18. Jahrhundert Veränderungen in den Wissenschaften, die den Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzogen. Zumindest den Boden, wie sie ihn bisher kannten. Denn der Grund, auf dem man bislang wandelte, rückte plötzlich ins Zentrum des Interesses verschiedener neuer Spezialwissenschaften und avancierte zu dem Ort, der Antwort geben sollte auf die drängenden Fragen der Zeit: Wie ist die Erde entstanden? Hat Gott sie einmalig erschaffen, oder hat sie sich entwickelt? Welchen Anteil hatten Naturkräfte daran, und waren diese vulkanischer oder ozeanischer Natur? All diese Fragen werden um 1800 an die Oberfläche der Erde gestellt. Die Wahrnehmung der Erdoberfläche verändert sich im Bewusstsein eines Darunter: Sie wird zur obersten Decke einer ganzen Reihe von Schichten, die im Laufe der Zeit angewachsen sind und deren oberste der Gegenwart entspricht. Der Däne Nikolaus Stensen, genannt Steno, formulierte bereits 1669 in seiner Schrift Vorläufer einer Dissertation über die in Festgestein natürlicherweise enthaltenen festen Teile das Altersgesetz der Gesteinsschichten. Er hatte beobachtet, dass in unterschiedlichen Gesteinsarten verschiedene Arten von Fossilien eingeschlossen waren und daraus geschlossen, dass sie in verschiedenen Phasen der Sedimentation entstanden sein mussten, wobei sich jede Schicht nur auf fester Unterlage bilden konnte, während sich darüber nur Wasser befand.1 Bis heute sind seine Beobachtungen Grundlage jeder relativen Altersbestimmung der Sedimente: Je tiefer eine Schicht liegt, desto älter ist sie. Der Blick in die Tiefen der Erde gewinnt so auch eine temporale Dimension: Der Grabung entspricht ein Rückgang in die Vergangenheit. Doch auch die Oberfläche der Erde gewinnt durch diese Beobachtungen Geschichtlichkeit: sie ist nicht mehr einfach Oberfläche eines homogenen Erdkörpers, sondern temporär die oberste Schicht einer Reihe von Schichten: sie entspricht der Gegenwart und wird in Zukunft von anderen Schichten überlagert werden. Abraham Gottlob Werner, der an der Bergbauakademie in Freiberg lehrte, gilt als einer der Begründer der Geologie in Deutschland. Gleichzeitig war er der prominenteste Vertreter des Neptunismus, also der Lehre ei-

1

Vgl. Otfried Wagenbreth, Geschichte der Geologie in Deutschland. Stuttgart 1999, S. 19f.

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ner Erdentstehung aus dem Wasser. Werner hatte den in Sachsen häufig vorkommenden Basalt fälschlich als Sediment gedeutet und daraus die Theorie eines Urozeans mit absinkendem Wasserspiegel entwickelt, in dem sich nach und nach verschiedene Gesteinsschichten abgelagert hätten. Im Streit zwischen den Fraktionen der Neptunisten und Vulkanisten geht es darum, ob die aktuelle Beschaffenheit der Erdoberfläche durch eine allmähliche Umbildung, oder durch Erdbeben und Vulkane entstand, bzw. um die Frage, ob die Oberfläche der Erde der Grund eines ehemaligen Meeres oder die oberste Schicht herausdrängender Erdmassen sei. Seinen Anfang nahm der Streit 1787 durch ein Preisausschreiben zur Deutung des Basalt, den ein Wernerschüler und Vertreter des Neptunismus gewann. Dieser Streit findet unter anderem Eingang in Wilhelm Meisters Wanderjahre: Goethe lässt seinen Helden dort einem Tischgespräch lauschen, in dem die verschiedenen Positionen der damaligen Debatte verhandelt werden: „Mehrere wollten unsere Erdgestaltung aus einer nach und nach sich senkend abnehmenden Wasserbedeckung herleiten; sie führten die Trümmer organischer Meeresbewohner auf den höchsten Bergen sowie auf flachen Hügeln zu ihrem Vorteil an. Andere heftiger dagegen ließen erst glühen und schmelzen, auch durchaus ein Feuer obwalten, das, nachdem es auf der Oberfläche genugsam gewirkt, zuletzt ins Tiefste zurückgezogen, sich noch immer durch die ungestüm sowohl im Meer als auf der Erde wütenden Vulkane betätigte [...].“2

Zugunsten der vulkanischen Entstehung entschieden wurde die Auseinandersetzung erst durch Leopold von Buch, ebenfalls ein Schüler Werners3 – doch die Frage, wer Recht hatte, ist hier von weniger Interesse als die Art, wie die Debatte geführt wurde: Denn die Frage nach der „Erschaffung und Entstehung der Welt“4 wird allein an die Erdoberfläche gestellt. Ihr Aussehen und ihre Beschaffenheit sind Argumentationsgrundlage der verschiede-

2

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethes Werke. Hg. von der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. Weimar 1887-1919. Nachdruck München 1987 [im Folgenden zitiert als WA]. Abt. I, Bd. 25, S. 27.

3

Wagenbreth, Geschichte der Geologie, S. 39.

4

Goethe, Wilhelm Meister, WA Abt. I, Bd. 25, S. 26.

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nen Parteien. Wilhelm Meister, der den Schöpfungsbericht der Bibel bis dahin nie hinterfragt hatte, reagiert irritiert: „Ganz verwirrt und verdüstert ward es unserm Freund zumute, welcher noch von alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche funfzehn Ellen über die höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinn hegte und dem unter diesen seltsamen Reden die so wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen schien.“5

Die Szene veranschaulicht, welche Bedrohung die geologischen Entdeckungen für das christliche Weltbild hatten. Eine ganze Weltordnung stand angesichts der Erkenntnis, dass die Erdoberfläche eine eigene Geschichte hat, vor dem Zusammenbruch. Beide Positionen, der Neptunismus wie der Vulkanismus, stehen in Opposition zur biblischen Schöpfungsgeschichte, die Wilhelm Meister noch vor Augen hat. Das ausgeschlossene Dritte verdeutlicht auch hier, was die Einheit der Unterscheidung von Vulkanismus und Neptunismus ausmacht: es ist nicht mehr die Bibel, also die Schrift, die die Frage der Entwicklung der Welt beantworten soll, sondern es sind Beobachtungen an der Oberfläche der Erde. Mit ihrer Deutung (als ehemaliger Grund eines Wassers oder als Oberfläche vulkanischer Ablagerungen) steht und fällt die Frage nach der Erdentstehung. In der Person Abraham Gottlob Werners überschnitt sich die Geologie aber auch mit einer anderen Wissenschaft der Erdoberfläche: der Kartographie. Die Vermessung der Welt, wie sie im 18. Jahrhundert zunehmend betrieben wurde, war nicht nur ein Projekt der Grenzziehung und Rasterung der Erdoberfläche, sondern erforderte auch eine Projektion der dreidimensionalen Oberflächengestalt der Erde auf die zweidimensionale Fläche der Karte. Karten dienten also nicht nur der Abgrenzung hoheitlicher Macht, sondern auch der Darstellung der Morphologie der Erdoberfläche. Während im Mittelalter die Gebirgsdarstellung in der sogenannten Maulwurfshügelmanier erfolgte, Erhebungen also durch Zeichen (meist kleine Hügel in schematisierter Seitenansicht) markiert wurden, vollzog sich im 16. Jahrhundert der Übergang zu einer individuelleren Formendarstellung und zu

5

Ebd., S. 28f.

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Schrägansichten.6 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Geländerelief noch grundrissartig durch Schraffen dargestellt, die eine Illusion von Plastizität vermitteln. Eine Darstellung durch Höhenlinien, die die Karte vollends zu Fläche macht, wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts technisch möglich. Es sind aber nicht nur die Erderhebungen, die Karten markieren: auch das, was unter der Erdoberfläche verborgen ist, wird von Karten verzeichnet (zumindest insofern es wirtschaftlich verwertbar ist): um 1800 entstanden Karten, die das Vorkommen von Bodenschätzen anzeigen, also auf das verweisen, was unter der Erdoberfläche liegt. Werner nun erhielt 1788 von der Regierung des Kurfürstentum Sachsens den Auftrag, die Steinkohlevorkommen des Landes zu kartieren. Das Projekt blieb durch den Tod Werners 1817 unvollendet, gilt aber dennoch als erste geologische Landesaufnahme Deutschlands.7 Die Vermessung der Welt durch die Kartographie hat also auch eine vertikale Dimension: sowohl das, was sich über eine abstrahierte Grundfläche der Erde erstreckt, als auch das, was sich darunter befindet, werden auf der zweidimensionalen Fläche der Karte verzeichnet. 1802 erschien ein Buch mit dem Titel Versuch einer Physiognomik der Erde oder die Kunst aus der Oberfläche der Erde auf ihren obern Inhalt zu schließen.8 Parallel zu Lavaters Vermessung des Subjekts, um die es im folgenden Kapitel gehen wird, liest die Physiognomik der Erde die Zeichen auf der Erdoberfläche als Indikatoren unterirdischen Reichtums: Anhand von Geröll, Vegetation und Gewässerqualitäten einer bestimmten Gegend lässt sich, so die zugrundeliegende Beobachtung, ein Rückschluss auf Rohstoffvorkommen unter der Erde vornehmen. Der Grund der Erde ist um 1800 zu einer Oberfläche geworden, die auf ein vielgestaltiges Darunter verweist.

6

Vgl. zum Folgenden: Günter Hake, Dietmar Grünreich u. Liqiu Meng, Kartographie. Visualisierung raum-zeitlicher Information. Berlin/New York 82002, S. 533-543.

7

Vgl. Wagenbreth, Geschichte der Geologie, S. 34.

8

Karl Friedrich Struve, Versuch einer Physiognomik der Erde oder die Kunst aus der Oberfläche der Erde auf ihren obern Inhalt zu schließen. Leipzig 1802.

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L AVATERS P HYSIOGNOMIK

UND DIE

T IEFE

DES

K ÖRPERS

Der ‚Unergründlichkeit‘ des Seelengrundes, welche die Mystik für das Gegenüber Gottes in Anspruch genommen hatte, steht in der Moderne eine ebenso ,unergründliche‘ Außenseite gegenüber. Denn die Abgrenzung eines von außen unzugänglichen Innenraums avanciert um 1800 zur Leitunterscheidung des modernen Subjekts. Als tief und abgründig mag die Seele oder das Herz seit langem vorgestellt worden sein, doch es war kein abgegrenzter Innenraum, der von außen per se unzugänglich gewesen wäre. Genau das gilt aber für das moderne Subjekt, das sich durch die Unterscheidung eines geheimen, uneinsehbaren, privaten Innenraums von einem Außenraum der Gesellschaft definiert. Soziologisch betrachtet wird die Ausdifferenzierung einer Tiefe des Subjekts durch die funktionalen Erfordernisse der Moderne bedingt. Nach Luhmann ist die Unterscheidung von innen und außen eine Folge der Teilbarkeit des „In-dividuums“, eine „Spaltung von taktischer und innerer Individualität“9, die nötig geworden war, um auf die Ansprüche der verschiedenen Funktionssysteme flexibel reagieren zu können: „Entsprechend schiebt sich allmählich die Unterscheidung innen/außen an die Stelle, die vordem die Unterscheidung oben/unten eingenommen hatte.“10 Nicht mehr die Verortung im hierarchischen Gefüge der stratifizierten Gesellschaft ist es, die dem Individuum seinen Platz anweist, stattdessen wird das ‚Innere‘ des Menschen, seine Seele, zunehmend als eigentlicher Sitz der Individualität bestimmt.11 Die Unterscheidung von innen und außen überschneidet sich mit der von Oberfläche und Tiefe. Denn ‚außen‘ bezeichnet nicht nur den Außenraum, sondern auch und vor allem das Äußere, eine Oberfläche und Grenzfläche zwischen zwei Bereichen. Die Oberfläche ist ein Drittes, das sich in die Unterscheidung von innen und außen drängt. Sie demonstriert die Unergründlichkeit des Inneren, ist aber auch der einzige Ort, der über das Innere Auskunft geben kann, das Medium der Kommunikation zwischen in-

9

Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a.M. 2

1999, S. 1019f.

10 Luhmann, Gesellschaft, S. 1020. 11 Vgl. auch Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Band 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 231258.

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nen und außen. Die soziale Interaktion ist auf die Körperoberfläche angewiesen, die zum Schauplatz des Ausdrucks echter und falscher Gefühle, Empfindungen oder Verstellungen wird, welche die wahren Intentionen in der Tiefe verbergen. Kleidung, Masken und Schminke vervielfachen die Oberflächen und ihre Zeichen – sie lassen das ‚Innere‘ des Subjekts, sein Bewusstsein und seine Gefühle, nur als umso tiefer und unzugänglicher erfahren. Das Äußere hingegen gerät allgemein in den Verdacht des Truges,12 es wird zu einer opaken Oberfläche, die den Blick in die Tiefe verwehrt. In Reaktion darauf entwickeln sich neue Lesarten des Subjekts, die seiner Oberfläche mehr entlocken wollen als nur den Verweis auf dessen Unergründlichkeit. Zeichen an der Oberfläche werden nun gesucht, mithilfe derer die Tiefe des Subjekts entschlüsselt werden soll, eine Tiefe, die nicht mehr dem Modell des offenen Abgrundes entspricht, sondern eine verborgene Dimension unter der Oberfläche darstellt, von der sie zunehmend abhängig wird. Den prominentesten Versuch, die Körperoberfläche des Menschen in eine Zeichenfläche für das Innere zu verwandeln und lesbar zu machen, unternahm Johann Caspar Lavater. Seine Wissenschaft der ,Physiognomik‘ gründete er auf der programmatisch verkündeten „Fertigkeit durch das Aeußerliche des Menschen sein Inneres zu erkennen“ 13. Sein Ziel war es, das Verhältnis von außen und innen in einen entschlüsselbaren Code zu überführen – was natürlich vehementen Widerspruch hervorrufen musste. Interessant dabei ist, dass sich die Kritik daran entzündete, wie das „Aeußerliche“ bei Lavater konzipiert ist. Während die Oberfläche bei Lavater droht, auf eine zweidimensionale Zeichenfläche reduziert zu werden, insistieren Lichtenberg und Herder auf der Dreidimensionalität der Oberfläche, die die Existenz einer Tiefe verbürgt. Eine exakte Entsprechung des Inneren mit dem Äußeren war für Lavater so wenig selbstverständlich, dass er ihre Selbstverständlichkeit immer wieder unterstreichen musste: „Sagt uns die Vernunft nicht, daß jedes Ding in der Welt eine äußere und innere Seite habe, welche in einer genauen Be-

12 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 1022. 13 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Hg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, (Erster Versuch, „Von der Physiognomik“), S. 21.

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ziehung gegen einander stehen?“14 Die Frage ist offensichtlich rhetorischer Natur – und so sind es zwei Annahmen, die Lavater hier seinem Leser als unumstößliche Fakten anbietet: erstens die eines grundsätzlichen Unterschiedes von innen und außen, zweitens die Tatsache, dass beide Seiten der Unterscheidung in einem Zusammenhang stehen. Physiognomik ist damit eine Doppelbewegung: einerseits macht sie Sinn generell zum Hintersinn, zu einer tieferen, verborgenen Bedeutung, andererseits garantiert das Entsprechungsverhältnis von Oberfläche und Tiefe die Verfügbarkeit dieses Tiefensinns – zumindest für den, der die Zeichen zu lesen weiß (also den Physiognomen). Die Verheißung, einen sicheren Weg von außen nach innen gefunden zu haben, begeisterte Lavaters Publikum: seine Neuauflage dieser alten Wissenschaft scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Die Physiognomik wurde zu einer Modewissenschaft. Goethe schrieb rückblickend in Dichtung und Wahrheit über Lavater: „Niemand hat so viel aus der Zeit und in die Zeit geschrieben als er, seine Schriften sind wahre Tagesblätter, welche die eigentlichste Erläuterung aus der Zeitgeschichte fordern [...].“15 Dabei war Lavaters Projekt alles andere als originell, sondern reihte sich in eine lange Tradition der Physiognomik ein.16 Schon in der pseudoaristotelischen Physiognomonica aus dem 3. Jahrhundert vor Christus wurden bestimmten Körpermerkmalen spezifische Charaktereigenschaften zugewiesen, wobei die methodischen Überlegungen, die die Physiognomonica auch enthält, die Lavaterschen Überlegungen an Komplexität

14 Johann Caspar Lavater, Von der Physiognomik. Leipzig 1772, S. 11. Das räumliche Vorstellungsmodell von innen und außen, das Lavaters Physiognomik zugrunde liegt, deckt sich in seinen Schriften mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. Lavater verwendet den Terminus „Oberfläche“ synonym mit dem „Äußeren“: „Im weitesten Verstand ist mir menschliche Physiognomie – das Aeußere, die Oberfläche des Menschen in Ruhe oder Bewegung, sey’s nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde.“ (Ebd., S. 22) 15 WA Abt. I, Bd. 29, S. 141. 16 Vgl. Aleida Assmann, „Zeichen – Allegorie – Symbol“. In: Jan Assmann u. Theo Sundermeier (Hg.), Studien zum Verstehen fremder Religionen. Bd. 6: Die Erfindung des inneren Menschen. Gütersloh 1993, S. 28-50.

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bei weitem übertreffen.17 Die Zuordnung von Körpermerkmalen und Charaktereigenschaften basiert aber nicht auf einer Dichotomie von innen und außen, sondern stützt sich auf den Vergleich mit als bekannt vorausgesetzten Tiercharakteren. Vielleicht erklärt sich die Popularität von Lavaters Unternehmen durch die Ambivalenz gegenüber dem, was das moderne Individuum Luhmann zufolge ausmacht, der Spaltung in innen und außen. Einer Physiognomik als Kunst des Zeichenlesens bedarf es schließlich erst dann, wenn das Innere nicht einfach zugänglich ist, sondern über sein Äußeres entschlüsselt werden muss. Vor dem Hintergrund dieser Spaltung verspricht die Physiognomik die verlockende Aussicht auf eine einfache und zuverlässige Decodierung der Zeichen des Äußeren. Ihre Wissenschaft besteht darin, einen festen Satz von Zeichenbedeutungen aufzustellen, die von den Körperzeichen des Individuums direkt auf dessen Inneres zielen und so die Spaltung in innen und außen zu überwinden hoffen lassen. Es ist das Versprechen, mit Lavaters Büchlein plötzlich „den Schlüssel zu allen Tiefen der menschlichen Natur“18 in Händen zu halten, das auf das Publikum große Anziehungskraft ausübte. Lavaters Wissenschaft ist dabei freilich nicht nur als Folge und Reaktion auf die neue, verunsichernde Kategorie der Individualität zu sehen, sondern sie ist auch deren Motor. Das Problem, als dessen Lösung die Physiognomik auftritt, wird, wenn auch sicher nicht von ihr erschaffen, so doch jedenfalls durch sie in aller Schärfe herausgestellt und prozessiert. Die Trennung eines Innenraums des Subjekts von seinem Äußeren ist die Voraussetzung der Physiognomik, die diese Kluft selbst zu überbrücken vorgibt. Die generalisierenden Merksätze, zu denen sich Lavater immer wieder hinreißen ließ (z.B. „Je moralisch besser, desto schöner. Je moralisch schlimmer, desto häßlicher“19) sind auch als Ausdruck einer Verunsicherung zu deuten, die sie zu beseitigen versuchen. Lavater verwandelte alles in lesbare Oberflächen, auf deren untrüglicher Zeichenhaftigkeit er bestand. Auch das, was eigentlich tief innen im Körper liegt, wie die menschlichen

17 Aristoteles, Physiognomonica. Übersetzt und kommentiert von Sabine Vogt. Berlin 1999 (= Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Helmut Flashar. Abt. VI, Bd. 18). 18 Lavater, Von der Physiognomik, S. 9. 19 Lavater, „Von der Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit“. In: Ders., Physiognomische Fragmente, S. 45-84, hier S. 53.

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Organe, kann dem physiognomischen Blick zu einer lesbaren Oberfläche werden: „Man kann durch die Zergliederung Theile des Menschen zu Oberflächen machen – gewisse innere Theile können besonders beobachtet werden, entweder durch äußere Endungen, oder durch Aufschließen der Körper. Die Fertigkeit von diesen Aeußerlichkeiten auf gewisse innere Beschaffenheiten zu schließen, wäre die anatomische Physiognomik; diese beschäfftigt sich mit der Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muskeln, der Eingeweyde; der Drüsen, der Adern und Gefäße, der Nerven; der Banden und Gebeine.“20

Das Innere des Menschen, dort wo es durch „Aufschließen der Körper“ ganz konkret zugänglich wird, verwandelt sich unter der Hand bzw. unter dem Blick des anatomischen Physiognomen wiederum in Oberflächen, die nicht weniger deutungsbedürftig sind als die Außenfläche des Körpers. Die Unterscheidung von innen und außen setzt sich nach innen hin fort. Doch auch nach außen hin wuchert der Zuständigkeitsbereich der Physiognomik. Neben der anatomischen Physiognomik kannte Lavater noch die „Temperamentsphysiognomik“, die „medicinische“, die „moralische“ die „intellectuelle“ Physiognomik21 – schon in Lavaters eigenen Schriften beginnt die Physiognomik benachbarte Wissenschaften zu affizieren. Die Ausweitung lässt den Unterschied zwischen Physiognomik und einer allgemeinen Semiotik allerdings verblassen, weshalb auch Lavater selbst zugestand, dass seine Ausführungen auch erhellten, „wie unendlich weitläufig die Physiognomik, und wie schwer es ist – ein ganzer Physiognomiste zu sein“22. Mit der Zahl der sichtbaren Oberflächen vergrößert sich das Zuständigkeitsgebiet der Physiognomik. Und unter den Augen des „Physiognomisten“ wird nahezu alles zu Oberflächen, die eine tiefere Bedeutung verbergen und doch ihre Zeichen tragen, die der Physiognomiker entschlüsseln kann. Dass das Objekt der Physiognomik eigentlich der lebende Mensch sein sollte, und, wie Ursula Geitner schreibt, also „die Modellsituation physiognomi-

20 Ebd., S. 22f, Herv. i.O. 21 Ebd., S. 23. 22 Ebd. Herv. i.O.

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scher Lektüre die face-to-face-Interaktion ist“23, geriet dabei allerdings immer wieder in Vergessenheit. Bereits das Titelbild der 1772 erschienen Schrift Von der Physiognomik24 offenbart diese Problematik. Ein puttenhaftes Kleinkind ist darauf zu sehen, das vor sich ein aufgeschlagenes Buch liegen hat, sich aber einer hinter ihm stehenden Zeichentafel zuwendet, die die Abbildung von fünf Gesichtern im Profil zeigt. Der Blick wechselt also zwischen dem Buch, wohl Lavaters eigenem, und den Abbildern von Gesichtern. Lebendige ‚Charaktere‘ kommen in diesem Verfahren nicht vor – das einzig plastisch Hervortretende in diesem Titelbild ist das rundliche Kleinkind, hier das Subjekt der physiognomischen Erkenntnis. Dass es Gesichter sind, die auf der Zeichentafel zu sehen sind, und nicht etwa menschliche Gestalten, stellt eine Reduktion dar, die in Lavaters Physiognomischen Fragmenten die Regel ist. Der menschliche Körper scheint an physiognomischer Signifikanz hinter der Zeichenfläche des Gesichts deutlich zurückzustehen. Dieser Reduzierung des Körpers auf eine begrenzte Zeichenfläche entspricht auch, dass Lavater seine Wissenschaft mit Vorliebe an planen Zeichnungen und vor allem an Schattenrissen übte, die, so Ursula Geitner, „für reine, unverstellte, unmittelbare, nicht-mediale Präsentation stehen, natürliche Darstellung natürlicher Gegebenheiten sein [sollen],“25 nebenbei aber vor allem eine Komplexitätsreduktion der menschlichen Physiognomie bewirken. Die Zeichen tragenden Außenflächen nehmen da-

23 Ursula Geitner, „Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters.“ In: Rüdiger Campe u. Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Freiburg i.Br. 1996, S. 357-385, hier S. 358. 24 Lavater, Von der Physiognomik. 25 Geitner, Klartext, S. 371. Vgl. auch zum Folgenden Geitner, S. 371f. Zur Diskussion um Lavaters Verwendung der Silhouette siehe auch Liliane Weissberg, „Literatur als Repräsentationsform. Zur Lektüre von Lektüre“. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Stuttgart 1992, S. 293-313 und Claudia Schmölders, „Das Profil im Schatten. Zu einem physiognomischen ‚Ganzen‘ im 18. Jahrhundert“. In: HansJürgen Schings, Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart/Weimar 1994, S. 242-259.

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bei in solchem Maße überhand, dass dem Inneren, dessen Spuren sie tragen sollen, die metaphorische Räumlichkeit abhanden kommt. 26 Die ‚Verflachung‘ des menschlichen Körpers, die Lavater mit seiner Physiognomik bewirkte, war einer der wichtigsten Ansatzpunkte der Kritik, die immer wieder die Tiefe des Subjekts gegen die Physiognomik anführte. In diesem Sinne weichen schon die Beigaben Goethes zu Lavaters Fragmenten die Fixierung der Physiognomik auf zweidimensionale Zeichenflächen auf. Dabei sind Goethes Entwürfe nicht als Kritik formuliert, sondern erschienen im Gegenteil ohne anderweitige Autorangabe in Lavaters Fragmenten und konnten erst nachträglich durch philologische Untersuchungen Goethe zugeordnet werden. Die Problematisierung von Lavaters einfachen Zeichenschlüssen ist nicht explizit, sondern unterläuft ihnen gewissermaßen. In Goethes Beiträgen tritt eine Unsicherheit zutage, was das Äußere eigentlich sei. Sie führt ihn dazu, das bedeutungsschwangere Äußere metaphorisch über die Körperoberfläche hinaus zu erweitern: „Aber was ist das Aeußere am Menschen? Warlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Geberden, die seine innern Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn. Durch diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, [...] scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu sein. Nur getrost! Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modificieren lässt, modificiert er wieder rings um sich her.“27

Kleidung oder Hausrat, Gewohnheiten oder Gebärden 28 können hier als Zeichen für das „Innerste“ gelesen werden, wo dieses selbst nicht mehr ‚enthüllt‘ werden kann.29 Durch Wechselwirkungen mit seiner Umwelt wu-

26 Vgl. Rotraut Fischer u. Gabriele Stumpp, „Die Allegorisierung des Individuums in der Physiognomik Johann Caspar Lavaters und Carl Gustav Carus‘“. In: Natur nach Maß. Physiognomik zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Hg. von Rotraut Fischer, Gerd Schrader u. Gabriele Stumpp. Marburg 1988, S. 11-58, hier S. 24f. 27 Goethe, „Zugabe“. In: Lavater, Physiognomische Fragmente, S. 24f. 28 Vgl. ebd., S. 24. 29 Goethe scheint die Metaphorik von Hülle und Kern näher zu liegen als die Zeichensuche auf der Oberfläche. Zumindest formulierte er in der Einleitung in die

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chert sein Äußeres, sodass aus der Beziehung von Innerem und Oberfläche bei Goethe eine von Innerem und Außenraum wird. Goethe löst die Physiognomik von der Fixierung auf die Körperoberfläche, er verwandelt die Zeichenfläche in einen Zeichenraum, ein Geflecht verschiedenster Verweisungszusammenhänge. Auf die Verwendung von Zeichnungen und Schattenrissen zielt auch die Kritik, die Lichtenberg an Lavater übt. Gegenüber dessen radikaler Reduzierung des Körpers auf eine plane Zeichenfläche führt er in seiner Schrift Über Physiognomik, wider die Physiognomen seine Plastizität ins Feld. Dabei geht er von einem gänzlich anderen Zusammenhang von Oberfläche und Tiefe aus als Lavater. Die Körperoberfläche markiert in seiner Perspektive eine Grenze, sodass das unter der Oberfläche Liegende nicht nur innen ist, sondern vor allem tief: „Was für ein unermeßlicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele! Hätten wir einen Sinn die innere Beschaffenheit der Körper zu erkennen, so wäre jener Sprung noch immer gewagt.“30 Die Gefahr, ein Fehlurteil zu fällen, hängt nicht nur mit der Waghalsigkeit zusammen, die ein Sprung in die Tiefe ausmacht, sondern geht auch von den Oberflächenzeichen selbst aus, die Fehllektüren provozieren können: „Der Beweis wird sehr kurz, wenn man sagt: Unsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen, und alles andere sind Schlüsse daraus. Besonders Tröstliches folgt hieraus für Physiognomik, ohne nähere Bestimmung, nichts, da eben dieses Lesen auf der Oberfläche die Quelle unserer Irrtümer und in manchen Dingen unserer gänzlichen Unwissenheit ist. Wenn das Innere auf dem Äußeren abgedruckt ist, steht es deswegen

Propyläen (1798) ganz ähnlich: „Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muß ihr Inneres entblößen [...]. Der Blick auf die Oberfläche eines lebendigen Wesens verwirrt den Beobachter, und man darf wohl hier, wie in anderen Fällen, den wahren Spruch anbringen: Was man weiß, sieht man erst!“ (Johann Wolfgang von Goethe, „Einleitung in die Propyläen“, In: WA Abt. I, Bd. 47, S. 13). 30 Georg Christoph Lichtenberg, „Über Physiognomik, wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und der Menschenkenntnis“. In: Ders., Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. von Wolfgang Promies. Darmstadt 1972, S. 256-295, hier S. 258 (Einleitung zur zweiten Auflage).

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für unsere Augen da? Und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren, die wir suchen?“31

Lichtenbergs Kritik zielt auf die unterkomplexe Struktur von Lavaters physiognomischem Denkmodell. Dessen Rede vom „genauen unmittelbaren Zusammenhange“32 verkompliziert Lichtenberg, indem er das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe spezifiziert. So unterscheidet er zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit möglicher Zeichen an der Oberfläche und stellt infrage, ob die Zeichen tatsächlich auf das Gesuchte verweisen. Er geht von einer Schichtung und Konkurrenz von Zeichen aus, die einfache Schlüsse verhindern. Zudem deutet Lichtenberg die Verweisungsverhältnisse an der Körperoberfläche anders als Lavater: Las dieser die Zeichen des Körpers allein als Ausdruck der Seele, so können sie nach Lichtenberg ebenso auf Eindrücke von außen zurückzuführen sein: „So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden, erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach“33, er gleicht einem „Wachsbilde“34, das von außen verformt werden kann. Lichtenbergs Körper ist als ein Drittes zwischen innen und außen konzipiert: er ist ein Medium, das die Zeichen verschiedenster Einflüsse zur Schau stellt. Durch die Vielfalt der möglichen Zeichenbedeutungen aber wird ihre Deutung immer unsicherer: Die menschliche Physiognomie gleicht nach Lichtenberg einem Palimpsest, dessen Zeichen sich gegenseitig be- und verdecken und auf innere und äußere Einflüsse verweisen. Durch ihr massenhaftes Auftreten drohen sie ihren Zeichenstatus zu verlieren und verweisen kaum mehr auf die Seele in der Tiefe. Die gleiche Stoßrichtung hat auch die Kritik Herders an der Physiognomik. Ihm ist vor allem die Verwendung der Silhouette, diesem „um-

31 Lichtenberg, Über Physiognomik, S. 260. 32 Lavater, Physiognomische Fragmente, S. 25 („Ueber die menschliche Natur“). 33 Lichtenberg, Über Physiognomik, S. 266. Vgl. dazu auch Claudia Kestenholz, „Oberflächen. Physiognomisch-pathognomische Überlegungen zur Sichtbarkeit im Schönen bei Johann Joachim Winckelmann“. In: Wolfram Groddeck u. Ulrich Stadler (Hg.), Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Berlin/New York 1994, S. 76-94, hier S. 80. 34 Ebd.

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schränkte[n] Nichts“35, ein Dorn im Auge. Je weiter die zu bestimmenden Eigenschaften in der Tiefe lägen, desto problematischer werde auch das physiognomische Urteil: „Wer aber aus der Schönheit auf einen tiefen Verstand, auf eine starke und wirklich tugendhafte Seele schließen will, wird zehn falsche Schlüsse gegen einen wahren begehen.“36 Anders als Lichtenberg bezweifelt Herder nicht die Signifikanz von Körperzeichen für die Tiefe der Seele, sondern kritisiert den Modus ihrer Lektüre und Entschlüsselung. Die Verwendung von Zeichnungen und Schattenrissen geht, wie er 1778 in seiner Schrift Plastik schreibt, einher mit einer Abwendung vom konkreten Körper und dessen „körperliche[r] Wahrheit“37: „Was für ein Wagstück, eine flache Linie hin zu malen und auf sie Dinge zu bauen, die eigentlich nur aus dem treusten Genuß und Gefühl und Innewerden des leibhaften Körpers entspringen können? Vorausgesetzt, daß diese Linie treu ist (und wie schwer es sei, einen Körper zur Fläche, ein ganzes Lebende in die Figur einer Linie zu bringen, weiß jeder, ders versucht hat) gehört nun noch immer der plastische Sinn dazu, die Linie wieder in Körper, die platte Figur in eine runde lebende Gestalt zu verwandeln? und wie wenige das können, mag Gott und die Physiognomik wissen!“38

Herder geht es um die sinnliche Erfahrung am konkreten Körper oder zumindest an der Plastik; er entwickelt eine Ästhetik des Gefühlssinns, die den in der philosophischen Tradition unterprivilegierten haptischen Sinn gegenüber dem dominierenden visuellen aufzuwerten sucht. Denn wenn der Tastsinn (oder ein Sehen, das sieht, als ob es taste)39 doch auch nicht weiter

35 Johann Gottfried Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. In: Ders., Werke in zehn Bänden. Hg. von Jürgen Brummack u. Martin Bollacher [Im Folgenden zitiert als FHA]. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1994, S. 243-326, hier S. 281. 36 Johann Gottfried Herder, „Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele?“ In: Ders., FHA 1, S. 135-148, hier S. 145f. Herv. i.O. 37 Herder, FHA 4, S. 301. 38 Ebd., S. 281. Herv. i.O. 39 Siehe hierzu Inka Mülder-Bach, „Ferngefühle. Poesie und Plastik in Herders Ästhetik.“ In: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsge-

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vordringen kann als bis zu der Grenze, die die Körperoberfläche für die tastende Hand darstellt, so durchbricht er doch zumindest die zweidimensionale Fläche, auf die der visuelle Sinn alles Sichtbare reduziert. Für den Gesichtssinn existiert diese weitere Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe des Körpers nicht. Ihm ist alles „sichtliche Lichtfläche“40, die kein Dahinter kennt: „Dinge hinter einander, oder solide, massive Dinge als solche dem Auge zu geben, ist so unmöglich, als den Liebhaber hinter der dicken Tapete, den Bauer innerhalb der Windmühle singend zu malen.“41 Der tastende Finger hat demgegenüber zumindest den Vorzug, erahnen zu können, dass hinter dem, was er fühlt, anderes verborgen ist. Auch für den haptischen Sinn ist die Körperoberfläche eine Grenze, die durch ihre Dreidimensionalität jedoch als Grenzfläche bewusst wird. Herders Aufwertung des Tastsinns stellt so gewissermaßen ein Gegenprojekt zu Lavaters Physiognomik dar, das dem Körper seine dreidimensionale Räumlichkeit zurückerstatten möchte und ihm dabei eine Tiefe zuspricht, die auch der tastenden Hand unzugänglich bleibt. Die Kritik, die Lichtenberg und Herder an Lavater üben, richtet sich auf die Verwandlung des Körpers in eine plane Zeichenfläche, eine reine Oberfläche ohne jede Tiefendimension, gegen die sie die Körperlichkeit und Plastizität des Erkenntnisobjekts Mensch ins Feld führen. Durch die starre Zuordnung von äußeren Merkmalen und inneren, charakterlichen Entsprechungen droht die Physiognomik in dieser Perspektive den lebenden Menschenkörper zu mortifizieren, dem damit seine tiefere Dimension bzw. jede ‚tiefere Bedeutung‘ abhanden kommt: was er ist, liegt für den, der die Zeichen zu lesen vermag, offen zutage. Ausgehend von der Kritik Lichtenbergs und Herders erscheint ausgerechnet Lavaters Physiognomik, der „Fertigkeit durch das Aeußerliche des Menschen sein Inneres zu erken42 nen“ , als Schritt weg vom Vorstellungsmodell des Körpers. Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe wird hier zu einer zwischen den beiden Größen, die von Lavater kurzerhand zugunsten der Oberfläche entschieden

schichte und Chancen einer Relektüre. Hg. von Tilmann Borsche. München 2006, S. 264-277. 40 Herder, FHA 4, S. 247. 41 Ebd., S. 248. Herv. i.O. 42 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente S. 21 (Erster Versuch, „Von der Physiognomik“).

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wird. Mit dieser Entscheidung fällt die Unterscheidung von innen und außen zusammen: die Tiefe des Subjekts ist hier nur noch ein Zeichen einer planen Fläche. Die Diskussion um die Physiognomik ähnelt in auffallender Weise der Auseinandersetzung der Wörterbuchautoren um den Begriff der Oberfläche: In beiden Fällen geht es um ihr Verhältnis zur Tiefe: Ist sie eine ablösbare (Zeichen-)fläche oder die äußere Begrenzung eines dreidimensionalen Körpers? Sind Lavaters Thesen oberflächlich oder oberflächig? Aus Sicht Lichtenbergs und Herders träfe letzteres zu: seine Physiognomik verwandelt das Subjekt in eine zweidimensionale Zeichenfläche. Doch auch für seine Kritiker, die auf der Tiefe und Unergründlichkeit des Subjekts beharren, gilt: diese ist nur an der Oberfläche erfahrbar.

E INE Ä STHETIK

DES

W ASSERS ? W INCKELMANNS M EER

Während die Physiognomik die Differenz von Oberfläche und Tiefe des Subjekts voraussetzt, wird der menschliche Körper im zeitgenössischen Diskurs der Ästhetik als Modell von Ganzheit und Einheitlichkeit angesprochen. Die Frage nach dem Schönen in der Kunst wird in der klassischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts vorrangig am Beispiel der antiken Skulptur verhandelt; Schönheit wird also als körperliche Schönheit gedacht. Doch so sehr die Einheit und harmonische Ganzheit des Statuenkörpers auch beschworen werden mag, so schwer fällt es, diesen ohne Differenzen zu denken. Ausgerechnet in Winckelmanns Statuenbeschreibungen, einem Höhepunkt klassischer Ästhetik, drängt sich die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe in das Konzept des Körpers. ‚Edle Einfalt‘ und ‚stille Größe‘: die zu Schlagworten geronnenen Begriffe aus Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755)43,

43 Johann Joachim Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“. In: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer u.a. Frankfurt a.M. 1995, S. 11-50. Zur Herkunft des Topos der ‚edlen Einfalt‘ siehe Wolfgang Stammler, „Edle Einfalt. Zur Geschichte eines kunsttheoreti-

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die schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer der meistzitierten und -gelesenen Textstellen gehörten,44 transportieren eine Vorstellung von harmonischer Ruhe und Einheit des Statuenkörpers, die ganz die spannungsreiche Dynamik unterschlägt, welche Winckelmanns Konzept des Statuenausdrucks eigentlich kennzeichnet. Die Vorstellung von Einheit und Einheitlichkeit, von Ganzheit und Vollkommenheit des Statuenkörpers ist dabei für Winckelmanns Kunstbegriff zentral: Sie macht zu einem großen Teil jene „Regel der Schönheit“45 aus, die Winckelmann aus der sinnlichen Erfahrung des historisch verwirklichten Ideals gewinnt. Es handelt sich dabei um eine körperliche Schönheit, die in ihrer harmonischen Vollkommenheit, proportionalen Ausgewogenheit und ihrem „edlen Contour“46 von der Ausgeglichenheit und Ruhe der Seele zeugt.47 Wenn Winckelmann den zeitgenössischen Künstlern die Nachahmung der steinernen Überreste einer vergangenen Blüte der Kunst empfiehlt, so deshalb, weil dort noch ,ganz‘ sei, was in der Moderne als ,geteilt‘ erscheint: „Wenn der Künstler auf diesen Grund bauet, und sich die Griechische Regel der Schönheit Hand und Sinne führen lässet, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur führen wird. Die Begriffe des Gantzen, des Vollkommenen in der Natur des Alterthums werden die Begriffe des Getheilten in unserer Natur bey ihm läutern und sinnlicher machen [...].“48

schen Topos“. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag. Hg. von Gustav Erdmann u. Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 359-382. 44 Vgl. Helmut Pfotenhauer, „Vorbilder. Antike Kunst, klassizistische Kunstliteratur und ‚Weimarer Klassik‘“. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Stuttgart/Weimar 1993, S. 42-61, hier S. 48. 45 Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung, S. 24. 46 Ebd., S. 24 u. öfter. 47 Claudia Kestenholz hat gezeigt, dass Winckelmanns Schönheitsideal nicht in erster Linie auf Kalokagathie beruht. Wichtiger als die physiognomische Schönheit des Körpers sei Winckelmann dessen Ausdruck in der Schönheit. Siehe Claudia Kestenholz, Oberflächen. 48 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, S. 24.

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Die als defizitär empfundene Gegenwart bedarf der Läuterung durch die antike Kunst, deren Ganzheit und Vollkommenheit Winckelmann gegen die durch ihre Gespaltenheit gekennzeichnete Moderne ausspielt. Und doch hat, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch das moderne „Getheilte“ seinen unverkennbaren Anteil an Winckelmanns Konzept idealer Schönheit. Im Zuge seiner Bemühungen, das griechische Ideal wiederzubeleben und den kalten Marmor damit zurück ins Leben zu holen, schreibt er ihm immer wieder Differenzen ein. Schon bei der Darstellung des antiken Statuenkörpers als Einheit hilft Winckelmann etwas nach. Seine Beschreibungen arbeiten unermüdlich an der Rundung und Glättung der Körper. Das Ideal der Schönheit, das Winckelmann schließlich präsentiert, ist eine von allen Erhebungen und Einstülpungen gereinigte, makellose Oberfläche. Sorgfältig geht er auf alles ein, was die glatte Ebenmäßigkeit der Haut stören könnte: Falten, Runzeln, Warzen und hervortretende Adern werden aus dem Konzept des Idealkörpers, wie ihn die griechische Kunst verkörpere, gewissenhaft getilgt: „Diese Meisterstücke zeigen uns eine Haut, die nicht angespannet, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdehnung füllet, und bei allen Beugungen der fleischigten Teile der Richtung derselben vereinigt folget. Die Haut wirft niemals, wie an unsern Körpern, besondere und von dem Fleisch getrennete kleine Falten.“49

Die klassisch-ästhetische Codierung des Körpers ist, wie Winfried Menninghaus darlegt, nichts anderes als eine ausgefeilte Strategie zur „Ekelvermeidung“50. Sie wendet, „rigoros wie irgendeine andere Codierung, auf ihr Material durchweg die Unterscheidung Glattheit vs. Unebenheit und Ganzheit vs. ‚Lostrennungen‘ an.“51 Stärker noch als die Erhebungen scheinen Winckelmann allerdings die Öffnungen des Körpers zu stören, die, so Menninghaus, „das eigentliche Skandalon der klassischen Ästhetik und Politik des Körpers“52 darstellen. Die Ohren, Nasen und Münder, ganz

49 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, S. 22. 50 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 2002, S. 85. 51 Ebd., S. 80. 52 Ebd., S. 86.

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zu schweigen von den Öffnungen im unteren Bereich des Körpers, von denen nur andeutungsweise gesprochen wird, stören nicht nur die Einheit und Geschlossenheit des Körpers, sondern eröffnen einen Blick ins Innere, einen Ort, der, so Menninghaus, in den Theorien des klassisch-idealen Körpers nicht vorkommt. Der Körper wird dort als Hohlkörper vorgestellt: als hauchdünne Schale und luftige Oberfläche von fragiler Zerbrechlichkeit, deren Materialität auf ein Minimum reduziert wird: „Die Gestalt muss so aussehen, als ob sie kein Körperinneres habe; oder anders: sie muß so aussehen, daß jeder Gedanke an ein Körperinneres suspendiert wird.“53 Wo Winckelmann von der Plastik spricht, ist eigentlich immer nur ihre Außenfläche gemeint. Seine Überlegungen basieren dennoch auf der Unterscheidung einer Oberfläche von einer Tiefe, die in seinem Konzept zwar eine untergeordnete, doch notwendige Rolle spielt. In seiner Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst gibt Winckelmann zu bedenken: „der höchste Vorwurf der Kunst für denkende Menschen ist der Mensch, oder nur dessen äußere Fläche, und diese ist für den Künstler so schwer auszuforschen, wie von den Weisen das Innere desselben [...].“54 Spricht Winckelmann vom Menschen oder seiner Nachahmung in der Statue, so ist es die äußere Fläche, die interessiert – so wie die klassische Ästhetik allgemein am sinnlich, insbesondere am visuell Wahrnehmbaren orientiert ist. Das geläufige Schema von sichtbarer Außenseite und unsichtbarem Innerem variiert Winckelmann allerdings, indem er eine Eigenschaft, die sonst exklusiv dem Inneren zugesprochen wird, nämlich dessen Unergründlichkeit, auch auf die Außenfläche überträgt. Die Geheimnisse der Haltung und Proportion, die sich am Äußeren des Menschen zeigen, seien für den Künstler so „schwer auszuforschen“, dass das Innere völlig außer acht gelassen und in den Zuständigkeitsbereich der „Weisen“ verwiesen wird. Was diesen allerdings im Inneren des Körpers jenseits seines Knochengerüstes oder seines organischen Aufbaus zu erforschen überlassen bleibt, ist in Winckelmanns Konstruktion einigermaßen unklar, denn das, was die „Weisen“ traditionell jenseits der Körperoberfläche vermuten, ist ja nicht

53 Ebd., S. 85. 54 Winckelmann, „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst“. In: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer u.a. Frankfurt a.M. 1995, S. 174-180, hier S. 176.

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etwa seine materiale Substanz, sondern die immaterielle Seele. Doch diese und ihr Ausdruck wird von Winckelmann keineswegs den Weisen überlassen, sondern ist zentrales Thema seiner Auseinandersetzung mit der antiken Plastik. In der Tiefe sucht Winckelmann die Seele allerdings nicht. Zur ‚Beseelung‘ des kalten Marmors greift Winckelmann vielmehr auf drei Unterscheidungen zurück, deren Seiten er jeweils gegeneinander ausspielt, um sie dann in Einklang zu bringen: Die Unterscheidung von Ruhe und Bewegung, die Unterscheidung von zweidimensionaler Ebene und plastischem Relief sowie zuletzt die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. Bei allen drei Unterscheidungen bedient sich Winckelmann des Vergleichs mit dem Wasser, das als bewegtes Element dem steinernen Statuenkörper Dynamik verleihen soll. Das Bild des Meeres ist für Winckelmanns Konzeption des Statuenkörpers als tiefenlose Oberfläche zentral. Die Konvergenz von Ruhe und Bewegung macht Winckelmann beispielsweise in der Beschreibung des Torso im Belvedere zum Kennzeichen der betrachteten Plastik: „So wie in einer anhebenden Bewegung des Meers die zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, wo eine von der andern verschlungen, und aus derselben wieder hervorgewälzet wird: ebenso sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andre, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheint, verlieret sich in jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen.“55

Die Dynamik, die Winckelmann an der Statue entdeckt, kommt hier nicht aus der Tiefe, sondern ist ein Oberflächenphänomen. Die Bewegung der Oberfläche verdankt sich dem Vergleich mit dem Wasser. Der Wechsel von stiller Fläche und spielenden Wellen, wie er sich am Meer beobachten lässt, wird von Winckelmann auf die Statue übertragen. Der harmonische ‚Fluss‘

55 Johann Joachim Winckelmann, „Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom“. In: Ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walter Rehm. Berlin/New York 22002, S. 169-173, hier S. 171. Zu dieser Textstelle siehe auch Claudia Kestenholz, die argumentiert, gegenüber der Beschreibung Laokoons sei hier das „Verhältnis von innen und außen [...] ein symbolisches geworden und bedingt eine erheblich komplexere pathognomische Lesart der Oberfläche.“ (Kestenholz, Oberflächen, S. 92).

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der Muskelbildung soll einerseits die Einheit und Homogenität der Oberfläche verbürgen, andererseits überträgt der Vergleich mit dem Meer das langsame An- und Abschwellen der Welle auf die Muskelbildung der Statue und schreibt dem starren Statuenkörper dadurch eine räumliche und zeitliche Bewegung ein. Die „stille Fläche“ gerät in „Unruhe“: aus der zweidimensionalen Ebene wird ein dreidimensionales, dynamisches Gebilde. Das bewegte Element liefert eine Dynamik, die Winckelmann auch im statischen Körper der Plastik entdecken will. Doch nicht allein die Bewegung ist Kennzeichen des Meeres, sondern, genauer, die plötzliche Entstehung der Bewegung aus der Ruhe der „stillen Fläche“. Aus dem Nichts heraus hebt die Bewegung an und entfaltet einen Sog, der auch den Blick zu verschlingen droht. Auf diese plötzliche Belebung des stillen Meerwassers durch eine aufkeimende Dynamik scheint Winckelmann auch beim Anblick der Statue gefasst zu sein – jeden Moment erwartet er eine Belebung, die die Kluft überbrücken ließe zwischen der Gegenwart und der Antike, dem emphatischen Betrachter und dem kalten Marmor. Winckelmanns Statuenbetrachtung und -beschreibung partizipiert damit, wie Inka Mülder-Bach gezeigt hat, an der Konjunktur, die der Mythos des Pygmalion im 18. Jahrhundert erlebte: „Die imaginative Intensivierung der Anschauung steht [...] im Dienst einer Verlebendigung, die nichts weniger sein will als eine erotische Rekreation.“56 Es ist der erotisierende Blick des Betrachters, der die Statue in der Betrachtung verwandelt und ihre lebendigen Kräfte entfesselt.57 Durch seine Einbildungskraft wird das Werk selbst zu einem Subjekt, das die Wahrnehmung seines Gegenübers dirigiert. Die Möglichkeit einer plötzlichen Verwandlung von Passivität in Aktivität entlehnt Winckelmann dem Bild des Meeres, mit dem der Wind spielt. Analog zur plötzlich aufkeimenden Wellenbewegung, die das träge Element dynamisiert, könnte auch Bewegung in den starren Stein geraten. Immer wieder steht das Meer in Winckelmanns Kunstbetrachtung in diesem Sinn als Drittes zwischen kaltem Marmorkörper und belebter Statue. So heißt es beispielsweise in der Geschichte der Kunst über die Schönheit jugendlicher Gestalt:

56 Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der Darstellung im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 24. 57 Vgl. ebd., S. 22.

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„Ein schönes jugendliches Gewächs aus solchen Formen gebildet, ist wie die Einheit der Fläche des Meeres, welche in einiger Weite eben und stille wie ein Spiegel erscheint, ob es gleich alle Zeit in Bewegung ist und Wogen wälzt.“58

Der Betrachter nähert sich hier langsam der Statue, die sich dabei unter seinem Blick verändert.59 Ruhe oder Bewegung werden hier zu einer Frage der Rezeption aus Distanz oder Nähe: was aus der Ferne als glatte Fläche und ruhiger Spiegel erscheint, offenbart aus der Nähe betrachtet seine Bewegung. Der glatte, harte Spiegel und die bewegliche Oberfläche des Wassers transportieren zunächst völlig unterschiedliche Konnotationen,60 fallen im Verlauf der Betrachtung jedoch zusammen: Die Einheit der Differenz von Ruhe und Bewegung wird durch den langsamen, kontinuierlichen Annäherungsprozess des Rezipienten gewahrt. Im Näherkommen verwandelt sich der Spiegel in das Meer: der Betrachter sieht nicht sein Bild, sondern die Bewegung der Wasserfläche. Wieder dient das Meer als Mittel der Belebung, findet in ihm der Einklang von ruhiger Fläche und wogender Bewegung sein Vorbild. Ganz gleich, ob die Bewegung an der Wasserfläche selbst vernommen wird oder in der Annäherung des Betrachters an die Statue seinen Grund hat, zielt der Vergleich mit dem Meer jeweils darauf, Ruhe und Bewegung zu vereinbaren, eine Bewegung aus der Ruhe heraus zu ermöglichen. Dabei ist es jeweils die Oberfläche des Meeres, an der sich die Zustandsveränderung ablesen lässt – und man könnte sagen, dass Winckelmann wie am

58 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 152. 59 Vgl. hierzu Klaus Schneider, Natur – Körper – Kleider – Spiel. Johann Joachim Winckelmann. Studien zu Körper und Subjekt im späten 18. Jahrhundert. Würzburg 1994, S. 156f. 60 Vgl. Barbara Maria Stafford, „Beauty of the Invisible: Winckelmann and the Aesthetics of Imperceptibility“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 43 (1980), S. 65-78, hier S. 67. Stafford weist darauf hin, dass der Spiegel in oder auf seiner harten, glatten Bildfläche etwas zeige, während die Wasserfläche etwas unterhalb ihrer bewegten Oberfläche verberge. Winckelmann scheint aber weniger auf die Opposition von Zeigen und Verbergen, als auf die von Ruhe und Bewegtheit zu zielen. Die Unterscheidung von Fläche und Tiefe und damit die Vorstellung eines verborgenen Inneren spielt an dieser Stelle meines Erachtens keine entscheidende Rolle.

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Körper so auch am Meer nur dessen Oberfläche interessiert, wenn nicht in einem weiteren Meeres-Zitat Winckelmanns dessen Tiefe ebenfalls in den Blick käme: Auch in der zentralen Stelle aus den Gedancken über die Nachahmung, der zudem als Kerngedanke klassischer Ästhetik Karriere gemacht hat, greift Winckelmann auf das Bild des Meeres zurück: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als auch im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“61

Durch den Vergleich mit dem Meer wird hier eine Größe ins Spiel gebracht, die Winckelmanns Statuenbeschreibung sonst nicht kennt: eine Dimension der Tiefe, des Inneren, das vom Äußeren divergiert. In die eben beschworene edle Einfalt und ihre stille Größe wird ein Moment der Differenz eingeschrieben, sodass sich das Ideal Winckelmanns bei näherer Betrachtung als wesentlich komplexer und spannungsvoller erweist, als es die zu Schlagworten geronnenen Begriffe vermuten lassen. Die Meeresanalogie ist, wie Helmut Pfotenhauer bemerkte, „als dialektisches Bild aufgebaut“62. Und Peter Szondi wies darauf hin, dass die Metapher des Meeres „ein Moment des Gegensatzes, gar des Konzessiven, in die Rede von der edlen Einfalt und stillen Größe [bringt], ein Moment, das nicht übersehen werden darf und die beiden Ausdrücke beinahe zu Oxymora, d.h. zu in sich widersprüchlichen, gegensatzgeladenen Adjektiv-Substantiv-Verknüpfungen, stempelt.“63 Die metaphorische Verortung der Seele in der Tiefe ist bei Winckelmann gewissermaßen ein Nebeneffekt seiner Anstrengungen, die Statue zu verlebendigen. Durch die Übertragung der Tiefe des Meeres auf die Statue gewinnt diese, die bislang nur als Außenfläche in den Blick kam, erstmals eine Tiefendimension. Der Vergleich mit dem Meer bricht die

61 Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung, S. 30. 62 Pfotenhauer, Vorbilder, S. 50. 63 Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Hg. von Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt a.M. 1974, S. 44.

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Einheit des Körpers auf und verleiht ihm eine Tiefe, die nicht unbedingt in Einklang stehen muss mit dem, was sich an der Oberfläche abspielt. Kennzeichnend für den Idealkörper Winckelmanns ist also, bei aller Glättung und Homogenisierung der Außenfläche, seine Gespaltenheit – ein Aspekt, der in der Rezeption Winckelmanns allzu oft unbeachtet blieb, wie Szondi bemerkt: „An dem Klassizismus im schlechten Wortsinn ist nicht die durch Winckelmann sprichwörtlich gewordene Formel von edler Einfalt und stiller Größe schuld, sondern das Mißverständnis, die Mißachtung der Tatsache, daß Winckelmann in Gegensätzen sprach.“64 Die Komplexität des Winckelmannschen Ideals besteht allerdings nicht allein in dem ihm eingeschriebenen Gegensatz, sondern erweist seine Schwierigkeit auch bei der Frage der Zuordnung von Oberfläche und Tiefe zum Ausdruck von Leidenschaften bzw. von Ruhe. Szondis Lektüre ordnet die bewegte Meeresoberfläche der von Leidenschaften bewegten Seele zu, die ruhige Tiefe des Meeres dem Gesichtsausdruck Laokoons. Er urteilt daher: „Die Metapher mag wenig glücklich gewählt sein, da man den Gesichtsausdruck einer Plastik eher der Oberfläche als der unsichtbaren Tiefe verglichen sehen möchte, doch was die Metapher meint, ist klar. [...] Obwohl die Oberfläche wütet, bleibt die Tiefe ruhig; obwohl das Gesicht ruhig ist, wüten hinter ihm die Leidenschaften.“65 Szondi geht es an dieser Stelle vor allem um das Moment des Gegensatzes zwischen Oberfläche und Tiefe, weswegen er Winckelmanns Vergleichskonstruktion leichtfertig umkehrt. Denn nach Winckelmann wüten die Leidenschaften gerade nicht hinter, sondern an der Oberfläche, während die ruhige Seele in der Tiefe verortet wird. Die Meeresoberfläche steht nicht für das Innere, sondern, ganz konventionell, für das Äußere.66 Szondi macht aus Winckelmanns Vergleich ein „Programm der Selbstbeherrschung“67, das die innere Bewegtheit nicht

64 Ebd., S. 45. 65 Ebd. 66 Vgl. auch Burkhardt Lindner, „Der Schrei des Laokoon. Winckelmann, Lessing ... Peter Weiss“ In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta KolkenbrockNetz, Gerhard Plumpe u. Hans Joachim Schrimpf. Bonn 1985, S. 65-87, der Szondis Lesart als „Lektüre gegen den Strich“ (S. 67) bezeichnet, die aber durchaus Plausibilität besitze, vergleiche man sie mit anderen Äußerungen Winckelmanns. 67 Schneider, Natur – Körper – Kleider – Spiel, S. 158.

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an die Oberfläche dringen lässt, verfehlt damit aber einen zentralen Aspekt des Vergleichs. Lessing hatte diese Gefühlsbeherrschung in seinem Laokoon ausdrücklich den „feinern“ Europäern als Nachkommen der Barbaren zugeschrieben, während für die Griechen das Schreien als natürlicher Ausdruck des Schmerzes gegolten habe. Dort heißt es: „Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tränen. [...] Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust des liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts.“68

Während die Erben nordischen Heldentums ihre Gefühlsregungen verbergen, indem sie ihren Ausdruck an der Oberfläche unterdrücken, entstammt Winckelmanns Bild der ruhigen Meerestiefe dem Kontext des Stoizismus, den Winckelmann über den Umweg des Neostoizisten Justus Lipsius sowie durch Pseudo-Longinus’ Schrift Vom Erhabenen rezipierte.69 Gemäß der stoischen Vorstellung der Seelenstärke, die von äußerlichen Übeln kaum zu erschüttern ist,70 ist bei Winckelmann die Tiefe „allzeit ruhig“, während die Oberfläche des Meeres von außen bewegt wird, von den Winden der Leidenschaften, die ihre Kraft nicht bis in die Tiefe entfalten können.71 Zwischen innen und außen gibt es hier keinerlei Beziehung: weder findet eine

68 Gotthold Ephraim Lessing, „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei“. In: Ders., Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. von Wilfried Barner. Bd. 5.2. Frankfurt a.M. 1990, S. 11-322, hier S. 19. 69 Siehe Balbina Bäbler, „Laokoon und Winckelmann: Stadien und Quellen seiner Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe“. In: Laokoon in Literatur und Kunst. Hg. von Dorothee Gall u. Anja Wolkenhauer. Berlin/New York 2009, S. 228-241, hier S. 234f. Die Vorstellung der stillen Seelentiefe ist auch im Wortschatz des Pietismus zu finden, die Meeresmetapher dient in diesem Kontext allerdings eher der Darstellung der Unendlichkeit Gottes. 70 Vgl. ebd., S. 236f, sowie Reinhard Brandt, „[...] ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe“. In: Thomas W. Gaethgens (Hg.), Johann Joachim Winckelmann 1717-1768. Hamburg 1986, S. 41-53, hier S. 53. 71 Vgl. ebd., S. 158.

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Übertragung, noch eine Unterdrückung statt. Die Erregungsübertragung erfolgt vom Außenraum auf die Außenfläche, ohne dass die Tiefe daran einen Anteil hätte. Die Oberfläche ist „in erster Linie Eindrucksfläche, nicht Ausdrucksfläche“72. Die Tiefe äußert sich nicht durch Zeichen an der Oberfläche, sondern bleibt völlig unbeteiligt an und unbeeindruckt von dem, was sich an der Oberfläche abspielt. Allenfalls ist das Innere, wie Claudia Kestenholz bemerkt, „eine aus der Tiefe wirkende Seelenkraft, die die Affektionen von außen einzudämmen versucht.“73 Die ruhige Tiefe des Meeres ist ja keineswegs an der wütenden Oberfläche abzulesen, die wiederum nicht auf eine ruhige Tiefe verweist. Beide Instanzen stehen nicht in einem zeichenhaften Zusammenhang – und doch äußert sich die Tiefe, wie Winckelmann durch seine Analogie nahelegt, an der Oberfläche: „So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“74 Abgesehen davon, dass es tatsächlich dem Wissensstand der Tiefseeforschung zur Dynamik der Weltmeere entspricht, ist Winckelmanns Konzept von der bewegten Wasseroberfläche und der ruhigen Tiefe ein Paradox: Winckelmanns eigener Konzeption zufolge gibt sich die Stille und Ruhe der Seele durch die „Unbezeichnung“ der Gestalt kund, also gerade durch Zeichenlosigkeit bzw. die Absenz jenes Ausdrucks, der bei Winckelmann ja stets Ausdruck von Leidenschaften ist. Ein Ausdruck von Stille ist demnach eine paradoxe Konstruktion – die „große und gesetzte Seele“ kann sich nur negativ, durch die Abwesenheit von Zeichen, an der Oberfläche zeigen. Da diese Oberfläche aber bedeckt ist von den Zeichen der Leidenschaften, könnte man die zeichenlose Ruhe der Seele allenfalls, wie Claudia Kestenholz es tut, als Milderung von deren Ausdruckskraft denken,75 wenn der Begriff der ‚Milderung‘ nicht auch die Vorstellung von Differenz mildern würde, die für Winckelmanns Oberflächenlektüre zentral ist.

72 Kestenholz, Oberflächen, S. 86. 73 Kestenholz, Oberflächen, S. 84. 74 Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung, S. 30. 75 Kestenholz, Oberflächen, S. 85: „Erkennbar ist sie [die ruhige Seele] nur negativ, sie mildert die aufgebrachte Sinnlichkeit und deren ungehemmten Ausdruck in Gesicht und Stellung“.

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Wenn sich selbst die metaphorische ‚Tiefe‘ nur negativ an der Oberfläche zeigt, so steht sie in keiner Kausalbeziehung zu ihr. Ohne dass die Oberfläche ausdrücklich als opak beschrieben würde, kann der Blick sie nicht durchdringen. Jede Verbindung zwischen Tiefe und Oberfläche ist gekappt: weder trägt die Oberfläche Zeichen der Tiefe, noch gibt sie den Blick nach unten frei. Die Tiefe des Körpers stellt eine Abstraktion dar, sie bezeichnet den Ort der Ruhe, die sich durch die „Unbezeichnung“, also negativ, an der Oberfläche zeigt. Es wäre also fraglich, weshalb Winckelmann die Dimension der Tiefe, die er in seinen übrigen Statuenbeschreibungen vernachlässigt, an dieser Stelle überhaupt aufruft, wenn sie nicht in seinem Argumentationszusammenhang doch eine wichtige Funktion hätte: denn Winckelmann schreibt den betrachteten Statuen stets Differenzen ein, deren Einheit auf anderer Ebene jeweils verbürgt ist. So wurde die Einheit von Stille und Dynamik durch die Plötzlichkeit der aufkeimenden Wasserbewegung gewahrt und die Einheit von glattem Spiegel und gekräuselter Oberfläche durch die kontinuierlich-langsame Annäherung des Betrachters gestiftet. In diesen Zusammenhang gehört auch Winckelmanns Rückgriff auf die Tiefendimension der Statue bzw. des Meeres: Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe und damit die von Ruhe und Gemütsbewegung verleiht der Statue trotz aller edlen Einfalt eine spannungsreiche Dynamik, die die Einheit des Ausdrucks jedoch unberührt lässt. Die Oberfläche der Statue kann so gleichermaßen die Zeichen der Leidenschaften tragen wie sie als zeichenloser Ausdruck von Ruhe gedeutet werden kann. Um beide Ausdrucksarten unterscheiden zu können, ordnet Winckelmann sie zwei verschiedenen Ursprüngen zu: dem Äußeren, dessen Winde die Oberfläche der Statue in Aufruhr versetzen und dem Inneren, der Tiefe der Statue, die von dieser Bewegung nicht berührt wird. Sie ist der Ort der Ruhe, wenn die Winde der Leidenschaften die Oberfläche bewegen. Winckelmanns klassisches Ideal beruht so auf der nahezu paradoxen Konstellation, dass es die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe ist, die die Einheit des Ausdrucks der Statue verbürgt. Winckelmanns Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe des Körpers folgt keinem physiognomischen Interesse, auch wenn seine Kunstbetrach-

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tung zunächst zumindest pathognomisch organisiert zu sein scheint.76 Seine Beschreibungen zielen gerade nicht darauf, ein verborgenes Inneres zu entdecken und freizulegen. Der steinerne Marmorkörper wird in Außenhaut und darunter befindliche Tiefe unterschieden, ohne dass beide Seiten der Unterscheidung in ein kausales oder zeichenhaftes Verhältnis gesetzt würden, wie es die Physiognomik mit der Unterscheidung von innen und außen tut. Das, was auch immer Winckelmann als die Schönheit, den Ausdruck, das Wesentliche der Statue sucht – er vermutet es nicht in einer verborgenen Tiefe, die von der Oberfläche verdeckt würde oder als deren Zeichenträger sie herhalten müsste. Die Tiefe spielt in diesem Konzept also eine, wenn auch notwendige, so doch buchstäblich untergeordnete Rolle. Sie muss sich von der Oberfläche unterscheiden, damit in die Einheit des Statuenkörpers die Differenz eingezogen werden kann, die erst ihre Lebendigkeit ausmacht: die Differenz von Ruhe und Bewegung, von Stille und Ausdruck, mit der Winckelmann die Statue belebt. Die Verlebendigung der Statue in der Beschreibungssprache des Betrachters ist eine Geburt aus dem Wasser – zumindest verdankt sich die ruhige Tiefe unter der bewegten Oberfläche, die Winckelmann als „stille Größe“ der Statue kennzeichnet, der Metapher des Meeres. Durch seine Verwandlung in eine Wasseroberfläche lässt sich am Körper der Statue eine Dynamik wahrnehmen, die dem starren Stein kaum zuzutrauen ist. In diesem Sinn greift Winckelmann immer wieder auf die Metapher des Meeres zurück und vergleicht die antiken Statuen mit dem Wasserkörper, dessen stoische innere Ruhe von den Winden im Außenraum nur oberflächlich in Unruhe versetzt werden kann. Aber diese Bewegung reicht aus, um einen Eindruck von Eigendynamik zu erwecken, die dem passiven Element Leben einhaucht.

76 Vgl. Christian Begemann, „Klassizismus und Physiognomik. Aspekte der klassizistischen Körperkonzeption“. In: Evidenze e ambiguità della fisionomia umana. Hg. von Elena Agazzi u. Manfred Beller. Viareggio 1998, S. 87-102; siehe auch Claudia Kestenholz, Oberflächen.

II. Wie tief sind stille Wasser? Literarische Konstellationen von Oberfläche und Tiefe im 19. Jahrhundert

Einleitung

Es ist um 1800 üblich geworden, Dinge als Oberflächen zu betrachten, die eine Tiefe verbergen. Die Physiognomik (und ihre Kritiker) denken auf diese Weise den Menschen, die Kartographie die Erde, die Ästhetik die Kunst. Das topologische Denkmodell von Oberfläche und Tiefe dient verschiedenen Diskursen als zentrale Metapher. In den folgenden Kapiteln soll gefragt werden, wie die Literatur des 19. Jahrhunderts die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe fruchtbar macht. Die leitende Beobachtung dabei ist die, dass die Literatur von vielfältigen Tiefenimaginationen geprägt ist, welche sich als Beziehungstypen einer unterschiedlich gearteten Oberfläche und einer darunterliegenden Tiefe gestalten. Trotz der von Foucault diagnostizierten dominierenden Tiefenorientierung der Zeit1 lässt sich in der Literatur eine allmähliche Emanzipation der Oberfläche beobachten, auf die Tiefe zunehmend bezogen wird. Dabei kennt vor allem die Literatur des Realismus kaum mehr eindeutig lesbare, sondern vielmehr opake oder mit Spiegeleffekten ausgestattete Oberflächen. Welche Rolle diese Oberflächen für die Erzeugung einer Tiefenillusion spielen, ist die Frage, der die folgenden Kapitel nachgehen. Diese Frage wird am Beispiel eines bestimmten Motivs entwickelt: am Motiv des (stillen) Wassers, des Meeres oder des Sees. Gewählt wurde dieses Beispiel, weil sich am Motiv des Wassers komplexe Verhältnisse von Oberfläche und Tiefe beobachten lassen: Die Oberfläche kann Zeichen der Tiefe tragen oder sie verbergen bzw. durch die Absenz von Zeichen die Existenz einer tieferen Dimension nahelegen. Verschiedene Grade der Transparenz der

1

Foucault, Ordnung der Dinge, S. 302.

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Oberfläche sind möglich: Sie kann den Blick in die Tiefe zulassen oder ein Durchscheinen der Tiefe an der Oberfläche erlauben, sie kann aber auch opak sein und jede Durchsicht verwehren, sodass die Tiefe verborgen bleibt oder sich als Effekt einer spiegelnden Oberfläche entpuppt, die den Blick auf den Betrachter zurücklenkt. Man kann die Tiefe eines Wassers ausloten oder auf den Grund tauchen, etwas kann von der Tiefe an die Oberfläche steigen. Schließlich kann das Wasser gefrieren und seine Tiefe unter sich bedecken. Das Wasser ist ein Medium der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, und es sind seine medialen Eigenschaften, die einen Zusammenhang von Oberfläche und Tiefendimension stiften. Es sollen hier jedoch nicht nur Varianten eines Motivs vorgestellt, sondern gefragt werden, was die Literatur mit oder in diesem Motiv eigentlich denkt. Ausgewählt wurden deshalb Texte, in denen das Motiv des Wassers mehr darstellt als ein bloßes Motiv. Sie stehen für jeweils unterschiedliche Konstellationen von Oberfläche und Tiefe und werden von der Klassik über die Romantik bis zum bürgerlichen Realismus verschiedenen Epochen zugeordnet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem bürgerlichen Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; der Rückgriff auf Schiller soll dazu einen Kontrast bieten, die spätromantischen Texte einen Übergang markieren. Verglichen mit Schillers Taucher, einem Höhepunkt der alten Semantik der Tiefe, kann gefragt werden, wie sich die Semantik der Tiefe im 19. Jahrhundert wandelt und welche Rolle das Konzept der Oberfläche dabei spielt. Was sich ändert, ist der Zugang zu dem, wofür die Tiefe steht. Die Lektüre der Texte leitet dabei zudem die Vermutung, dass das Denkmodell von Oberfläche und Tiefe im Motiv des Wassers auf seine Bedeutung für die Literatur hin befragt wird. Es dient als poetologische Metapher, in der sich die Texte selbst reflektieren. Dass die gewählten Texte ausschließlich den literarischen Gattungen Lyrik und Prosa zuzurechnen sind, hängt in erster Linie mit der Motivwahl zusammen. Darüber hinaus scheint das topologische Modell von Oberfläche und Tiefe für das Drama aber auch von geringerer Bedeutung zu sein. Was hier mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe gedacht wird, wird auf der Bühne in anderen Raumordnungen verhandelt, etwa der Unterscheidung von Vordergrund und Hintergrund. Demgegenüber scheint für ,Papiergenres‘ aufgrund ihrer eigenen Medialität die Frage nach dem Verhältnis von Fläche und Raum von besonderer Relevanz – eine Frage, die auch mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe zusammenhängt.

Schwimmen oder Tauchen? Zweimal Nicola Pesce

Tauchen oder Schwimmen: Auf diesen Gegensatz kann man Schillers und C.F. Meyers Bearbeitungen des italienischen Sagenstoffs um den Fischmenschen Nicola Pesce bringen. Zwischen Schillers Ballade Der Taucher (1797) und C.F. Meyers Gedicht Nicola Pesce (1881/2) liegt ein knappes Jahrhundert. Doch nicht nur historisch, sondern auch systematisch markieren die beiden Gedichte zwei Pole einer Entwicklung, der im Weiteren nachgegangen werden soll: Beide Autoren entwerfen mit ihren Versionen der Sage vom Fischmenschen auch eine symbolisch aufgeladene Raumordnung. Bei Schiller geht es um die Tiefe, genauer, den tiefsten Meeresgrund, bei Meyer um die Frage nach der Möglichkeit, dieser Tiefe zu entsagen und an der Wasseroberfläche zu bestehen. Die beiden Gedichte stellen damit zwei gegensätzliche Positionen im Umgang mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe dar. Welche Rolle die Größen von Oberfläche und Tiefe in den Gedichten spielen und was damit verhandelt wird, darum soll es im Folgenden gehen. Nicht erst C.F. Meyer, sondern auch schon Schiller griff mit seiner Ballade einen bereits vielfach bearbeiteten Sagenstoff auf. Der Name „Nicolaus Pesce“ tauchte für Schiller allerdings buchstäblich aus dem Nichts auf. Als Herder ihm bezüglich der Ballade Der Taucher mitteilte, ihn habe sein „alter Nicolaus Pesce in dieser veredelnden Umarbeitung sehr erfreuet“2, da vermutete Schiller eine Anspielung auf einen Schriftstellerkollegen, über den er bei Goethe nähere Erkundigungen einholte: 2

Herder, Brief an Schiller vom 28. Juli 1797. Zitiert nach NA 37,1, S. 83. Herv. i.O.

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„Herder hat mir nun auch unsere Balladen, die ich ihm communiciert hatte, zurückgeschickt, was für einen Eindruck sie aber gemacht haben, kann ich aus seinem Briefe nicht erfahren. Dagegen erfahre ich daraus, daß ich in dem Taucher bloß einen gewißen Nicolaus Pesce, der dieselbe Geschichte entweder erzählt oder besungen haben muß, veredelnd umgearbeitet habe. Kennen Sie etwa diesen Nicolaus Pesce, mit dem ich da so unvermuthet in Concurrenz gesetzt werde?“3

Erst durch Goethes Antwort erfährt Schiller, dass es sich bei dem ominösen Konkurrenten nicht um den Dichter, sondern um den Helden des von Schiller gestalteten „Märchens“ handelte, einen „Taucher von Handwerk“4. Dessen unerwartetes und plötzliches Erscheinen an verschiedenen Orten im Küstengewässer Siziliens gehört allerdings zu jenem Teil der weitverbreiteten Sage, die Schiller in seiner Ballade außen vor ließ und die er in der überraschten Reaktion auf Herders Brief nachzuholen scheint. Schließlich kennzeichnet das wiederholte Auftauchen des Nicolaus Pesce auch die Sagengeschichte selbst, die seit der Antike in ganz Europa in einer Unzahl von Varianten und Bearbeitungen kursierte.5 Der Protagonist hieß darin Nicola oder Nicolaus, Niclas oder Pesce-cola, Cola der Fisch oder einfach Fischnickel. Als dieser knapp hundert Jahre nach Schillers Taucher in Form eines Gedichts von C.F. Meyer wieder einmal in der deutschen Literatur auftauchte, war er für die Leser immer noch (oder erst recht) ein Unbekannter. Das Publikum konnte, so Peter von Matt, wenig mit dem 1881/1882 veröffentlichten Sonett Nicola Pesce von C. F. Meyer anfangen: „So gebildet war man nun auch wieder nicht in jenen besseren Kreisen, an die der Dichter beim Schreiben an die seinen zu denken liebte. Niemand kannte Nicola Pesce, einen Italiener anscheinend, aber gleich eingestehen mochte

3

Schiller, Brief an Goethe vom 7. August 1797. Zitiert nach: NA 29, S. 115.

4

Goethe, Brief an Schiller vom 12. und 14. August 1797. Zitiert nach: NA 37,1,

Herv. i.O. S. 96. Goethe schrieb an Schiller: „Der Nikolaus Pesce ist, soviel ich mich erinnere, der Held des Märchens, das Sie behandelt haben, ein Taucher von Handwerk. Wenn aber unser alter Freund bei einer solchen Bearbeitung sich noch der Chronik erinnern kann, wie soll man’s dem übrigen Publiko verdenken, wenn es sich bei Romanen erkundigt: ob das denn alles fein wahr sei?“ 5

Vgl. dazu Klaus J. Heinisch, Der Wassermensch. Entwicklungsgeschichte eines Sagenmotivs. Stuttgart 1981.

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man das auch nicht – vielleicht war’s doch eine peinliche Lücke.“6 Meyers Verleger Hermann Haessel drängte sogar darauf, das Gedicht anlässlich einer geplanten Neuausgabe aus der Sammlung zu entfernen und begründete diesen Wunsch Meyer gegenüber damit, dass „dessen Inhalt mir für Sie nicht bedeutend genug ist“7. Hätte Haessel gewusst, dass selbst der große ,Dichterfürst‘ Schiller die Sage vom Fischnickel einst für bedeutsam genug gehalten hatte, sich daran zu versuchen, wäre sein Urteil sicher anders ausgefallen. Doch in C.F. Meyers Sonett verrät (bis auf den Namen im Titel, den wiederum Schiller nicht nennt) nichts den prominenten Vorgänger, und das nicht ohne Grund: C.F. Meyers Gedicht bietet einen konsequenten Gegenentwurf zu Schiller – einen Kommentar des späten 19. Jahrhunderts zur Ästhetik der Tiefe, die Schiller mit seinem Taucher entwarf. T AUCHEN : S CHILLERS B ALLADE „D ER T AUCHER “ Den tiefsten Meeresgrund zu ergründen – darum geht es in Schillers Ballade Der Taucher.8 Der Inhalt von Schillers Version der Tauchersage ist schnell zusammengefasst: Ein König, der mit seinem Gefolge auf einer Klippe über dem tosenden Meer steht, wirft einen goldenen Becher in das auf und nieder schäumende Wasser. Dreimal fordert er seine Ritter und Knappen auf, hinunter zu springen, bis ein Edelknecht den Sprung wagt. Er kommt tatsächlich zurück, sinkt dem König zu Füßen und erstattet Bericht darüber, was er in der Tiefe erlebt hat. Er hatte sich an einem Felsenriff festgehalten, bevor ihn der Wasserstrudel nach unten reißen konnte und hatte dort auch den Becher gefunden. Dem König reicht das nicht – er möchte wissen, was auf dem tiefsten Grund des Meeres zu sehen ist. Er

6

Peter von Matt, „Der Meermensch“. In: Ders., Die verdächtige Pracht. Über

7

Hermann Haessel, Brief an Meyer vom 19. Mai 1883. Zitiert nach: Conrad Fer-

Dichter und Gedichte. München 1998, S. 126f, hier S. 126. dinand Meyer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller u. Alfred Zäch [Im Folgenden zitiert als HKA]. Bd. 3, Bern 1967, Anmerkungen, S. 359. 8

Friedrich Schiller, „Der Taucher. Ballade“. In: NA 1, S. 372-376. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden unter Angabe des Verses im Fließtext gekennzeichnet als NA 1.

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wirft den Becher ein zweites Mal und erhöht den Gewinn, den er dem Edelknecht in Aussicht stellt, um die Hand der Königstochter. Der Taucher kann nicht widerstehen, springt, und kehrt nicht wieder. Der tiefste Grund wird nicht ergründet. Im Folgenden wird die These vertreten, dass es sich bei Schillers Taucher um eine poetologische Ballade handelt: was hier verhandelt wird, ist nicht nur der Grund des Meeres, sondern auch die Tiefe der Kunst. Dazu ist zunächst einmal darzustellen, was die Tiefe und der Sprung in die Tiefe eigentlich konnotiert. Denn erst bei genauer Lektüre von Schillers Ballade zeigt sich, mit welch vielschichtiger Bedeutung die Dimension der Tiefe hier aufgeladen ist. „Dort unten aber ists fürchterlich“ Den Grund des Meeres hat auch Schiller nie zu Gesicht bekommen. Für seine Ballade Der Taucher begnügte er sich mit dem Studium der Funktionsweise einer Mühle,9 und das, wie zu vermuten ist, vom sicheren Ufer aus. Ansonsten stützte er sich auf literarische Quellen, was ihn „vielleicht bei der Natur erhalten habe“10 – so schrieb er es zumindest an Goethe. Was für die Beschreibung der Charybdis gilt, scheint nicht für den von Schiller verarbeiteten Sagenstoff als solchen zu gelten, da ihm der Name von dessen Helden unbekannt war (siehe oben). Angesichts der Vielzahl der kursierenden Sagenvarianten um die Tauchergestalt aus Sizilien ist es durchaus möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass Schiller der Name „Nicolaus Pesce“ dabei nicht begegnete. Es ist deshalb eher zu vermuten, dass er keine der Quellen in schriftlicher Form kannte, sondern von dem dem Taucher zugrundeliegenden Sagenstoff im Gespräch mit Goethe erfahren hatte. Dieser war während seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten auf das 1665 erschienene Werk Mundus subterraneus von Athanasius Kircher gestoßen,11 worin die Geschichte des sizilianischen Tauchers Nicolaus er-

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Vgl. Heinrich Viehoff, Schiller’s Gedichte. Erläutert und auf ihre Veranlassungen und Quellen zurückgeführt, nebst Variantensammlung und Nachlese. Neue, größtentheils umgearbeitete Auflage in drei Bänden. Dritter Theil. Stuttgart 1856, S. 26.

10 Schiller, Brief an Goethe vom 6. Oktober 1797. Zitiert nach: NA 29, S. 146. 11 Vgl. Albert Leitzmann, Die Quellen von Schillers und Goethes Balladen. Bonn 1911, S. 48; Viehoff, Schiller’s Gedichte; Ernst Elster, „Schillers Balladen“. In:

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zählt wird, der wegen seiner ungewöhnlichen Ausdauer im Schwimmen nur Nicolaus der Fisch, also ‚Pesce cola‘ genannt wurde. Nicolaus habe vom Verkauf von Austern und Korallen gelebt und sei oft mehrere Tage auf dem Meer geblieben, während derer er sich von rohem Fisch ernährte. Außerdem habe er sich als schwimmender Briefbote betätigt und sei immer wieder auch während des wildesten Seegangs von Schiffern gesichtet worden, die ihn zunächst für ein Seeungeheuer gehalten hätten. Allmählich seien zwischen seinen Fingern Schwimmhäute gewachsen und seine Lunge soll sich so geweitet haben, dass er genug Luft für einen ganzen Tag unter Wasser fassen konnte. Eines Tages habe der König von Sizilien von dem Taucher gehört und diesen aus Wissbegierde, die Charybdis zu erforschen, zu sich gerufen. Soweit der erste Teil der Sage, der in Schillers Taucher keine Rolle spielt. Der wagemutige Taucher ist hier kein erfahrener Schwimmer, sondern ein einfacher Knappe. Der weitere Gang der Handlung bei Kircher gleicht jedoch weitgehend Schillers Ballade: Der König wirft eine kostbare Schale in den Schlund der Charybdis, die Nicolaus erfolgreich wieder ans Land bringt. Während es in der Sage auch beim zweiten Tauchgang die Lockungen des Geldes sind, denen Nicolaus nicht widerstehen kann (der König wirft erneut eine Schale ins Wasser und verspricht dem Taucher zusätzlich einen Beutel Geld), so wird er bei Schiller durch die in Aussicht gestellte Hand der schönen Königstochter (und das damit verbundene Machtversprechen) motiviert. Doch auch der Nicolaus Pesce Athanasius Kirchers kommt nach dem zweiten Tauchgang nicht mehr zum Vorschein.12 Die Frage, woher Schiller die Sage des Tauchers kennen konnte, ohne den Namen des Protagonisten zu erfahren, hat die Schillerforschung lange nicht losgelassen – die Suche nach „Schillers Quelle“ wird teilweise mit einer Dringlichkeit verfolgt, die ein tiefes Misstrauen gegen die Flüchtigkeit

Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 3 (1904), S. 265-305; Heinisch, Der Wassermensch; Reinhard Breymayer, „Der endlich aufgefundene Autor einer Vorlage von Schillers Taucher“. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 83/84 (1983/1984), S. 54-96. 12 Der lateinische Originaltext Kirchers ist abgedruckt in: Leitzmann, Quellen, S. 3-5. Vgl. auch die deutsche Übersetzung der Passage Kirchers von Heinrich Viehoff, Schiller’s Gedichte, S. 5-7.

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und Allgegenwärtigkeit des Sagenstoffes vermuten lässt.13 Die Bemühungen, eine bestimmte und schriftliche der unzähligen möglichen Bezugstexte Schillers zu identifizieren, erinnern fast schon an die in einigen der Sagenvarianten erwähnten Versuche der Landbewohner, den Fischmenschen an Land zu bringen und zu zivilisieren (darin berühren sie sich mit den Melusinensagen), ihn mit ordentlichen Kleidern auszustatten und mit einer regelmäßigen bürgerlichen Tätigkeit zu versehen.14 Die auf- und niederbrausenden Wassermassen Schillers werden auf ihre ‚Quelle‘ zurückzuführen versucht, als ob man sie damit bändigen könnte. Dass Schiller selbst die Meerestiefen nie gesehen hat, scheint auch durch seine zoologische Bestimmung der Meeresbewohner deutlich zu werden. Die Drachen, Molche und Salamander, die sich in seinem Meeresschlund tummeln, könnten tatsächlich einfach nur Schillers Unkenntnis demonstrieren, hätte er sich nicht extra ein Buch über Fische von Goethe geliehen und hätte nicht schon Wilhelm von Humboldt frühzeitig auf den Fehler hingewiesen und Schiller aufgefordert, ihn zu beheben: „Da alle Schilderungen in Ihrem ‚Taucher‘ eine so große Wahrheit haben, so wollte ich, daß Sie die ‚Molche und Salamander‘ aus dem Grunde des Meeres wegbrächten. Sie sind zwar Amphibien, wohnen indes nie in der Tiefe und mehr nur in Sümpfen. Mit den ‚Drachen‘ kann man schon liberaler umgehen, da sie mehr ein Geschöpf der Fabel und der Phantasie sind.“15

Die Frage, auf was Literatur eigentlich rekurriert, begleitet schon die Entstehungsgeschichte von Schillers Ballade. Von Beginn an geht es um die Frage nach den literarischen Quellen, um die ‚Wahrheit‘ der Darstellung. Diese findet dort ihre Grenzen, wo sie nicht auf eigener Erfahrung und Anschauung beruhen kann, und so gesteht Humboldt den Fabelwesen eine größere Daseinsberechtigung in Schillers Ballade zu als den Tieren, die 13 Vgl. dazu die Übersicht über die Vermutungen der Forschung zur Quellenfrage bei Klaus Heinisch, der sich ebenfalls an den Spekulationen beteiligt, in: Ders., Der Wassermensch, S. 274-281. 14 Zu diesem hauptsächlich in Spanien beheimateten Strang der Sagengeschichte vgl. Heinisch, Der Wassermensch, S. 231-238. 15 Wilhelm von Humboldt, Brief an Schiller vom 9. Juli 1797. In: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. 2 Bde. Hg. von Siegfried Seidel. Berlin 1962, Bd. II, S. 109.

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sich nach zoologischem Wissen nicht am Meeresgrund finden lassen. Schiller ließ sich von der Kritik Humboldts jedoch nicht beirren und hielt an seiner zoologischen Zusammenstellung fest, ohne auch nur dazu Stellung zu nehmen. Es ist also keinesfalls Unwissenheit, die Schillers Schilderung der Meeresfauna hervorbrachte, sondern Charakteristikum einer bestimmten Perspektive: schließlich ist es die Stimme des Tauchers, die die Lebewesen der Tiefe schildert, und dass dieser, ein unerfahrener Knappe, von Salamandern und Molchen spricht, hat vielleicht mehr „große Wahrheit“ als eine exakte zoologische Bestimmung. Dem Knappen steht zur Beschreibung der Tiefseeerfahrung nur ein begrenztes Vokabular zur Verfügung, das sich einerseits aus der heimischen Fauna (Molche und Salamander), andererseits aus dem Reservoir von Sagen und Märchen speist, deren Personal genauso unwirklich ist wie die nie gesehenen Bewohner der Meerestiefen. Mit seiner ‚unkorrekten‘ zoologischen Angabe zitiert Schiller so das Phantasma mit, das die Meerstiefen für die Landbewohner darstellen. Der Schauplatz der Ballade ist ohnehin weniger ein geographisch als literarisch lokalisierbarer: In der zweiten Strophe wird der Meeresschlund als „Charybde“ (V. 10) bezeichnet und damit auf Homers Odyssee verwiesen, die, in der ersten Auflage der Übersetzung von Heinrich Voss, die einzig sichere literarische Quelle für Schillers Taucher darstellt. 16 Im zwölften Gesang beschreibt Homer Charybdis und Skylla: „Seufzend ruderten wir hinein in die schreckliche Enge: Denn hier drohete Skylla, und dort die wilde Charybdis, Welche die salzige Flut des Meeres fürchterlich einschlang. Wenn sie die Flut ausbrach; wie ein Keßel auf flammendem Feuer, Brauste mit Ungestüm ihr siedender Strudel, und hochauf Spritzte der Schaum, und bedeckte die beiden Gipfel der Felsen. Wenn sie die salzige Flut des Meeres wieder hineinschlang; Senkte sich mitten der Schlund des reißenden Strudels, und ringsum Donnerte furchtbar der Fels, und unten blickten des Grundes Schwarze Kiesel hervor. Und bleiches Entsezen ergriff uns.“ 17 16 Vgl. Gerhard Kaiser, „Sprung ins Bewußtsein“. In: Norbert Oellers (Hg.), Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996, S. 201-216, hier S. 208. 17 Odyssee, 12. Gesang, Vers 234-243. Zitiert nach der Ausgabe: Homers Odyssee von Johann Heinrich Voss. Abdruck der ersten Ausgabe vom Jahre 1781. Stuttgart 1881.

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Anders als Schillers Taucher lässt Homers Odyssee tatsächlich bis auf den Grund blicken. Und dort offenbart sich nichts ungewöhnliches, sondern einfach (in der von Schiller benutzten Übersetzung von Voss) „schwarze Kiesel“, griechisch ψάμμω κυανέη. Das „bleiche Entsezen“, das dieser Anblick bei den Gefährten auslöst, ist nicht dem was, sondern dem dass geschuldet. Es wird durch die Tatsache ausgelöst, dass man den Grund sieht – seine Beschaffenheit scheint dabei nebensächlich. Dabei entgeht den Gefährten allerdings die eigentliche Gefahr, die von oben droht: „Während wir nun, in der Angst des Todes, alle dahinsahn, Neigte sich Skylla herab, und nahm aus dem Raume des Schiffes Mir sechs Männer, die stärksten an Mut und nervichten Armen. Als ich jetzt auf das eilende Schiff und die Freunde zurücksah; Da erblickt’ ich schon oben die Händ’ und Füße der Lieben, Die hoch über mir schwebten; sie schrien und jammerten alle Laut, und riefen mich, ach! zum letztenmale! beim Namen.“18

Schiller hingegen verzichtete auf eine Konkretisierung dessen, was auf des Meeres „tiefunterstem Grunde“ (V. 138) wartet und lässt diesen Ort, auf den sich die Wissbegierde des Königs richtet, offen für Spekulationen und Vermutungen, die durch das genährt werden, was dem Taucher in den oberen Regionen der Charybdis begegnet ist. Bis zum Grund kommt der Taucher nämlich gar nicht. In der Tiefe wiederholt sich vielmehr die räumliche Anordnung der „Höh“ (V. 7). Vom Strudel nach unten gesogen, hält sich der Knappe an einem Felsenriff fest, von dem aus es noch unendlich weit hinab geht. So wie der König und sein Hofstaat sich auf der sicheren Klippe sammeln und von dort aus in den Abgrund der rauschenden Wasser blicken, so stellt auch das Korallenriff in der Tiefe einen Felsvorsprung dar. Von dort, wo sich der Knappe festhalten kann und wo sich auch der Becher verfangen hatte, richtet sich der Blick weiter ins „Bodenlose“ (V. 108). Die klare Grenze, durch die das sichere Ufer der Klippe von dem Abgrund des Wassers getrennt ist, findet sich, etwas abgeschwächt, auch hier. Sprachlich wird diese Grenze durch ein Enjambement markiert, das den ersten bis dritten Vers der zweiten Strophe umfasst:

18 Ebd., V. 244-250.

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„Der König sprach es, und wirft von der Höh Der Klippe, die schroff und steil Hinaus hängt in die unendliche See,“ (V. 7-9)

Die Versgrenze, die in den Satz eingezogen ist, bewirkt, so Gerhard Kaiser, „daß die Rede selbst für einen Moment wie ins Leere hinaushängt“19. Dem wäre hinzuzufügen, dass die Kluft bis ins einzelne Wort hineinreicht (wenn dies auch im Zuge der Rechtschreibreform heute nicht mehr sofort auffällt): „Hinaus hängt“ die Klippe, die nur unsicher mit dem sicheren Festland verbunden zu sein scheint. Doch wenn die Raumordnung in der Tiefe zunächst als Wiederholung des Schauplatzes auf der Klippe erschien, wandelt sie sich gleich darauf in eine Spiegelung, die die Polarität von oben und unten verkehrt: „Bergetief“ (V. 109), berichtet der Taucher, lag es unter ihm, und so wundert es nicht, dass sein Auftauchen an die Wasseroberfläche einem Fall gleicht. Die Charybdis als „Doppelstrom“ (V. 100) und Wirbel macht alle räumlichen Orientierungen zunichte und unterwirft den Taucher ihrer Eigendynamik. Anders als in vielen Balladen Schillers, die durch die Gleichförmigkeit ihrer Metrik leicht zum Herunterleiern verleiten,20 ist die Metrik des Tauchers so unruhig wie die bewegten Wasser der Charybdis. Hier herrscht kein gleichförmiger Ruderschlag wie in Goethes Auf dem See, sondern ein, Verse wie Strophen kennzeichnender, unregelmäßiger Wechsel von Trochäen und Daktylen, meist (aber nicht immer) mit Auftakt. Verbindende und trennende Effekte treffen oft aufeinander, sodass eine ständige Reibung bewirkt wird: erster und zweiter Vers gleiten regelmäßig ineinander über, ihre Zusammengehörigkeit wird zudem durch den Einschnitt markiert, den die Dreihebigkeit des zweiten Verses bewirkt (alle anderen Verse sind vierhebig). Dieser Verbundenheit aber läuft das alternierende Reimschema entgegen, das den ersten Vers an den dritten, den zweiten an den vierten bindet.21 Den gleichen Effekt attestiert Gerhard Kaiser den vielen Konjunktionen: „Im übrigen sind die letzten beiden Zeilen der Strophen fast durchgehend durch ‚Und‘ an die vorhergehende Strophe angehängt, ein Wort, das sowohl bindet als auch trennt“22. Die Dynamik, die das Gedicht dabei 19 Kaiser, Sprung ins Bewußtsein, S. 203. 20 Vgl. die Anekdote Kaisers, ebd., S. 201. 21 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 203. 22 Ebd., S. 203.

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entfaltet, ist ein Sog nach unten, der sich, so Kaiser, bereits in der ersten Strophe andeutet, wo die Reimfolge „Knapp – Schlund – hinab – schwarzer Mund“ darauf hinweist: „Den Knappen bringt nichts wieder.“23 Schoß und Mund der Charybdis Wenn Schiller die schwarzen Kiesel Homers auch ausspart, so übernimmt er doch eine zentrale Metapher zur Beschreibung der Charybdis von ihm, nämlich die des Schlundes (V. 2, 26 und 49), des Mundes (V. 4) oder Rachens (V. 48 und 114) mit dem die Charybdis alles verschlingt und in die Tiefe zieht, was ihr zu nahe kommt. Der Schlund als das „sperrangelweit geöffnete Tor ins Körperinnere“24 ist nach Bachtin der Hauptbestandteil des grotesken Körpers: der reduziere sich dadurch „auf den Mund, den aufgerissenen Mund, alles andere ist nur Umrahmung dieses Mundes, Umrahmung der klaffenden und verschlingenden Bodenlosigkeit des Körpers“25. Vor dem Hintergrund der Ästhetik seiner Zeit, in der schon ein leicht geöffneter Mund einer Statue größtes Unbehagen auslöst,26 tritt das Groteske dieses Meeresschlundes nur umso deutlicher hervor. Schiller verwendet die Metapher aber, anders als Homer, nur für einen Aspekt der Charybdis. Bei Homer dient der Schlund sowohl zur Verbildlichung des Verschlingens als auch des Ausspeiens der Wassermassen, während Schiller die Metapher des Schlundes nur aufruft, wenn es um die Einverleibung und den Sog nach unten geht. Wo die Ausscheidung der Wassermassen und der verschlungenen Gegenstände und Lebewesen aus der Tiefe beschrieben werden, tritt im Taucher an Stelle des Mundes das Bild des Schoßes: „Als wollte das Meer noch ein Meer gebähren“ (V. 36), so kommt die Flut aus der Tiefe zurück und so gleicht auch das Auftauchen des Knappen einer Wiedergeburt aus dem „finster flutenden Schooß“ (V. 73). „Und wie mit des fernen Donners Getose / Entstürzt es brüllend dem finstern Schoose.“ (V. 71f). Neugeboren scheint nicht nur der Körper, sondern auch die „lebende Seele“ (V. 84), die dem „Höllenrachen“ (V. 114) noch einmal entkommen konnte. Die Wiederkehr des Tauchers aus der Tiefe: sie ist eine Geburt aus dem „Grab“ (V.

23 Ebd., S. 205. 24 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1987, S. 381. 25 Ebd., S. 358. 26 Siehe Lessings Laokoon.

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64). Wie die Schaumgeborene taucht er, „schwanenweiß“ (V. 74), aus der „strudelnden Wasserhöhle“ (V. 83). Die Tiefe in Schillers Taucher ist überdeterminiert, sie ist Schlund und Schoß, Grab und Grund, Höhle und Höllenraum, und so ist auch der Sprung des Knappen in die Tiefe mehrfach motiviert.27 Er changiert zwischen inzestuöser Fantasie und Übergangsritus, Brautwerbungsschema und Tabuübertretung, Unterwerfung und Selbstermächtigung. Die vertikale Achse, die der Taucher eröffnet, ist trotz der Entgegensetzung von „Höllenrachen“ (V. 114) und „himmlische[m] Licht“ (V. 80) keine eindeutig religiöse mehr, sondern sie ist überlagert von einer Körpermetaphorik (Schlund und Schoß) mit sexuellen Konnotationen. Diese Sexualmetaphorik muss den „Generationen von Schulmeistern“ entgangen sein, die, so Gert Ueding, die Balladen Schillers gern auf eine klare Moral reduzierten, um so „auf eindeutige, wenngleich selten aufdringliche Weise die bürgerlichen Tugenden und Ideale als ihr fabula docet heraus[zu]stellen“28. Die Beschreibung der Tiefe

27 Darin liegt die Schwierigkeit der oftmals unternommenen Versuche, die Ballade auf eine allgemeine Idee festzulegen. Die Vorstellung einer allgemeinen Idee, auf die sich Schillers Gedichte reduzieren ließen, gilt heute ohnehin selbst als Allgemeinplatz der Schillerforschung. Nach Helmut Koopmann sind die Gedichte der klassischen Phase Schillers immerhin gekennzeichnet durch einen allegorischen Grundzug: „die Bilder stehen nicht für sich selbst, sondern sind ein Vehikel der Erkenntnis, sollen diese faßlich machen, erläutern und demonstrieren.“ Schillers Balladen haben, so Koopmann, „didaktische Intentionen, sie sind gleichsam klassische Kalendergeschichten in versifizierter Form. [...] Manche Balladen enthalten geradezu moralische Handlungsanweisungen, schildern Modellfälle mit der Absicht, zur Nachahmung zu bewegen.“ Helmut Koopmann, „Schillers Lyrik“. In: Ders. (Hg.), Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 303325, hier S. 317 bzw. S. 321f. 28 Gert Ueding, Friedrich Schiller. München 1990, S. 76. Dass die vermeintliche Reduzierbarkeit der Balladen auf eine sittliche Idee oder moralische Anweisung und ihre damit verbundene Popularität den Balladen in der Literaturwissenschaft eher geschadet als genutzt hat, diese Beobachtung bestätigt auch Wulf Segebrecht in seinem Aufsatz „,Im Abgrund wohnt die Wahrheit‘. Über die unpopuläre Popularität der Gedichte und Balladen Schillers“. In: Klaus Manger (Hg.), Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung. Heidelberg 2006, S. 583-600: „Aber gerade die Popularität der klassischen Balladen hat nicht wenig

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als „Schacht“ (V. 98), in dem ein „Doppelstrom“ (V. 100) wütet, erinnert stark an Freuds Traumdeutung, in der er einen „Tunnel, durch den die Züge in verschiedenen Richtungen hinein- und herausfahren“ als Symbol für den Geschlechtsverkehr deutet.29 In der Traumdeutung erwähnt Freud ferner eine Reihe von Wasserträumen, denen meist „Phantasien über das Intrauterinleben, das Verweilen im Mutterleibe und den Geburtsakt“30 zugrunde lägen. Auch die Träume, die vom Sturz ins Wasser handeln, zählt er zu dieser Kategorie: „Träume dieser Art sind Geburtsträume; zu ihrer Deutung gelangt man, wenn man die im manifesten Traume mitgeteilte Tatsache umkehrt, also anstatt: sich ins Wasser stürzen – aus dem Wasser herauskommen, d.h.: geboren werden.“31 So wie nach Freud die geträumte Wiederholung der Geburt noch einmal Anlass gibt, den Ort aufsuchen, von dem wie von keinem anderen mit Sicherheit behauptet werden kann, „daß man dort schon einmal war‘“32, der Inzestwunsch also dahintersteht, so richtet sich auch im Taucher das Begehren eindeutig auf das Innere des „finster fluten-

dazu beigetragen, daß ihre oft versteckte Brisanz nicht bemerkt wurde; man glaubte immer schon zu wissen, um welche humanen Ideen es darin geht, und man begnügte sich mit der bequemen Bestätigung vorgefaßter Urteile“ (ebd., S. 590). Als Beispiel wird Rüdiger Safranski zitiert, der in seiner SchillerMonographie die Balladen als Werke abtut, „mit denen Schiller bewies, daß hoher geistiger Anspruch und Volkstümlichkeit sich durchaus miteinander verbinden ließen; Werke von solch wunderbarer Deutlichkeit, daß man sie nicht zu kommentieren braucht“ (vgl. Rüdiger Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. München/Wien 2004, S. 464f). Dagegen lenkt Segebrecht den Blick auf die die Ballade in mehrerlei Hinsicht bestimmende Thematisierung des Königtums und unterstreicht die Vielschichtigkeit der Handlungsmotivation, die, v.a. was den zweiten Sprung des Knappen angeht, nicht auf die „im Text nur angedeutete erwachende Liebesempfindung des Knappen zu der Königstochter“ reduziert werden dürfe, sondern ein „raffiniertes Wechselverhältnis zwischen dem Herrscher und seinem Untertan entwirft“ (Segebrecht, Im Abgrund wohnt die Wahrheit, S. 592). 29 Sigmund Freud, Die Traumdeutung. In: Ders., Studienausgabe. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1982, S. 383. 30 Ebd., S. 390. 31 Ebd., S. 391. 32 Ebd., S. 390.

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den Schooß[es]“ (V. 73), der als Mutterschoß einen tabuisierten Ort darstellt.33 Während bei Freud der Sturz etwas Manifestes ist, das als latente Geburtsfantasie gedeutet werden kann, so bringt Schiller die beiden Elemente in eine narrative Ordnung: Was bei Freud hintereinander liegt, ist bei Schiller ein Nacheinander: Auf den Sturz bzw. den Sprung folgt die Geburt, die den regressiven Inzestwunsch hinter sich gelassen hat und symbolisch für die Selbstermächtigung des Jünglings steht. Es ist ein „Sprung ins Bewusstsein“34, den Schiller hier symbolisch inszeniert. Der erste Sprung des Knappen in die Tiefe entspricht exakt dem von Victor Turner beschriebenen Schema des Übergangsritus.35 Das Geschehen der Ballade ist unterteilt in eine präliminale Phase auf der Klippe, die eine deutliche Grenze markiert, dann folgt die liminale Phase in der Tiefe der Charybdis. Nach Turner ist sie eine Anti-Struktur, d.h., in ihr gelten andere Regeln und Logiken als in der liminalen Phase, auch ist sie mit einem Verlust der (alten) Identität verbunden. Darauf schließlich folgt die postliminale Phase, in der der Taucher einen Statuswechsel vollzieht. Vom unmündigen Knaben wird er zum vollwertigen (d.h. sprechenden) Mitglied der Erwachsenengesellschaft, er steht nach der bestandenen Mutprobe auf einer höheren Stufe. Die Wiederkehr des Tauchers ist als Selbstermächtigung konzipiert, die aber nicht etwa an eine körperliche Bezwingung des Wasserschlundes geknüpft ist, sondern an das Sprachvermögen: Zum Mann macht den Taucher die Erzählung der erlebten Schrecken. Er springt als

33 Nach Jan-Oliver Decker („Problematische Grenzen – begrenzte Probleme. Grenzerfahrung in Schillers ,Der Taucher‘ und Goethes ,Die Braut von Corinth‘“. In: Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 71-94) ist der Sprung „ein sexuell aufgeladener Penetrationsvorgang“ (ebd., S. 79). Ob der Kontrollverlust des Tauchers in der Tiefe, wie Decker schreibt, „äquivalent dem Kontrollverlust des männlichen Subjekts beim Geschlechtsakt“ (ebd., S. 77) ist, der Tiefpunkt also ein Höhepunkt ist, kann von der weiblichen Verfasserin allerdings nicht beurteilt werden. 34 So der Titel des Aufsatzes von Gerhard Kaiser über Schillers Taucher; siehe Kaiser, Sprung ins Bewußtsein. 35 Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M./New York 1989.

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Knappe, etymologisch also als Knabe,36 und kommt verwandelt wieder aus dem Wasser hervor. Erst durch den Sprung erhält er eine Geschlechtsidentität, wird vom „es“ zum „er“: „Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß, Und er ists, [...]“ (V. 76f)

Vom unmündigen Knaben ist er zum ‚mündigen‘ Mann geworden, der nun, erstmals in der Ballade, das Wort erhält. Doch auf seinen Aufstieg in der räumlichen Vertikale – von der Tiefe der Charybdis an die „Höh“ der Klippe, folgt nun eine Unterwerfung, die auch eine Unterwerfung in der vertikalen Achse der Gesellschaftsordnung ist.37 Er sinkt dem König zu Füßen und beginnt seine Rede mit einem Herrscherlob: „Lang lebe der König!“ (V. 91). Die Geschichte von Macht und Unterwerfung, die der Taucher auch erzählt, behindert die Selbstermächtigung des jungen Knappen. Der Übergangsritus wird nachträglich in ein Brautwerbungsschema umgedeutet. Der Sprung auf Verlangen des Königs folgt dem Schema der gestaffelten Bewährungsproben (meist sind es drei). Diese sind ebenfalls eine Art der Initiation, die den Knappen in die Erwachsenenwelt führt und zuletzt die Hand der Königstochter und die Thronnachfolge verspricht, doch es ist eine Art der Initiation, die gleichzeitig eine Unterwerfung unter Willen und Gesetz des Brautvaters darstellt. Nicht der Knappe ist es, der den Verlockungen der Tiefe nicht widerstehen kann, sondern der König selbst, der den Knappen deshalb zum erneuten Sprung veranlasst. Das Brautwerbungsschema mit seiner Wiederholung und Steigerung von Bewährungsproben überlagert und stört in Schillers Ballade allerdings die Struktur des Übergangsritus, als die der erste Sprung in die Tiefe zunächst konzipiert ist. Der zweite Sprung ist nicht einfach eine Wiederholung des ersten Sprungs, sondern hat einen ganz anderen Status. Denn anders als der erste Sprung stellt er die Übertretung eines Tabus dar, das der Knappe selbst aufgerichtet hatte. Das Herrscherlob, mit dem er seine Rede nach der er-

36 Vgl. Gerhard Kaiser, Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978, S. 63. 37 Vgl. auch Wolfgang Struck, „Elysium auf der Kerkerwand? Friedrich Schillers Balladendichtung“. In: Krah, Ort (Hg.), Weltentwürfe, S. 53-70, hier S. 60.

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folgreichen Rückkehr aus der Tiefe beginnt, bricht nach wenigen Worten ab und schlägt in eine Warnung um, die allen gilt, die das Glück haben, im „rosigten Licht“ (V. 92) zu atmen – also auch dem König.38 „Lang lebe der König! Es freue sich, Wer da athmet im rosigten Licht. Da unten aber ists fürchterlich, Und der Mensch versuche die Götter nicht, Und begehre nimmer und nimmer zu schauen Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“ (V. 91-96)

Das Tabu, das der Taucher hier formuliert, ist, wie alle Tabus nach Freud, ambivalent,39 und wird erst nach seiner Übertretung errichtet:40 Die Handlung des Tauchers entspricht Freuds Beschreibung der Entstehung des Tabus in der „Urhorde“. Nach der Tötung und dem gemeinsamen Verzehr des übermächtigen Vaters macht sich in der Brüderhorde der „nachträgliche

38 Vgl. hierzu auch Gerhard Kaiser, nach dem das „das Verdikt aus dem Munde des Knappen auch ein Verdikt über den König ist. Er versucht die Götter, indem er die Menschen versucht, die Götter zu versuchen, und so mit ihnen spielt.“ Kaiser, Von Arkadien nach Elysium, S. 62. Die Warnung adressiert auch den König und macht diesen, seinen Machtmissbrauch kritisierend, zum „Menschen“, der gleich allen anderen den Göttern untergeben ist. Auch Benno von Wiese rückt die Figur des Königs ins Zentrum seiner Interpretation des Tauchers, vereindeutigt aber die Zuweisung von Gut und Böse: „Schlimmer noch als alle Gefahren, die von dem Gräßlichen der Natur ausgehen, ist diese Macht des Bösen, die das Edelste durch Mißbrauch vergiftet und das höchste Schöne, Liebe und Edelmut, zerstört. Das ist der gleichnishafte Sinn dieser zur dramatischen Kurzgeschichte gewordenen Balladen-Parabel, in der ein hochgesinnter Jüngling nicht am Element, wohl aber an einem König zugrunde geht, der sich in böser Versuchung des Elementes bedient, um ein ,Spiel‘ besonderer Art zu treiben.“ Benno von Wiese, Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 615. 39 Vgl. Freud, Totem und Tabu. In: Ders., Studienausgabe. Bd. 9, Frankfurt a.M. 1982, S. 287-444; v.a. Kap. II: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, S. 311-363. 40 Vgl. ebd., S. 426f.

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Gehorsam[]“41 breit: „Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten.“42 Die Brüder ersetzen die Tat des Vatermordes durch das Wort des Tabus: sie widerrufen, erklären, versagen nun und errichten damit sprachlich ein Tabu, an dem sie sich fortan selbst orientieren. Diese Logik des nachträglichen Gehorsams, der auch Schillers Ballade folgt, bietet eine mögliche Erklärung dafür, warum der Taucher nicht ein zweites Mal erfolgreich aus der Tiefe zurückkehren kann. Dem Taucher tritt seine Grenzüberschreitung erst nachträglich ins Bewusstsein, und erst nachdem das Tabu formuliert wurde, wird seine Übertretung auch bestraft.43 Anders als der erste Tauchgang stellt der zweite einen bewussten Verstoß gegen ein selbst ausgesprochenes Tabu dar, erst er ist eine Übertretung und wird sanktioniert. Diese Struktur von Verbot und Übertretung ist wesentlich komplexer als beispielsweise in Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais aus dem Jahr 1795, in dem zunächst eine ganz ähnliche Warnung formuliert wird wie im Taucher. Dort wird einem ‚Jüngling‘ ein verschleiertes Standbild gezeigt, das, so der Führer, die Wahrheit verberge. Das Geheimnis der Wahrheit zu lüften, ist jedoch mit einem Verbot der Gottheit selbst belegt: „Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund, / Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe“ (V. 66f).44 Der wissbegierige Jüngling, der es dennoch

41 Ebd., S. 427. 42 Ebd. 43 Vgl. hierzu auch Karl Otto Sauerbeck: „Er darf nicht mehr, was er durfte; denn er ist durch sein erstes Erleben vom Jüngling, dem Wagnis, ja Leichtsinn gemäß ist, zum wissenden Mann geworden, an dem Vermessenheit tadelnswert ist.“ Karl Otto Sauerbeck, „Der Taucher und Thomas Rhymer in balladesker und in märchenhafter Gestaltung. Ein Vergleich“. In: Wirkendes Wort 36 (1986), S. 38, hier S. 4. 44 In seinem Aufsatz „Vom Erhabenen“ erwähnt Schiller die Aufschrift des IsisTempels in Sais als Beispiel für das Kontemplativerhabene, da die Verhüllung, wie alles Geheimnisvolle, zum „Schrecklichen“ beitrage (NA 20, S. 191). Kant bemerkt in der Kritik der Urteilskraft zu der Inschrift des Tempels von Sais, dass „vielleicht nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden“ ist. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 2006, S. 205.

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wagt, den Schleier des Bildes zu lüften, um die Wahrheit zu sehen, wird wahnsinnig und kann oder will vom Gesehenen anschließend keinen Bericht erstatten: „Was er allda gesehen und erfahren, / Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig / War seines Lebens Heiterkeit dahin, / Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe“ (V. 78-81). So wie die Wahrheit im Bild zu Sais verschleiert ist, so wird im Taucher die Tiefe vom „Grauen“ als einem Pendant des Schleiers bedeckt: „Und der Mensch versuche die Götter nicht, / Und begehre nimmer und nimmer zu schauen / Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen“ (V. 94-96). Die Verknüpfung von Verbot und Übertretung ist aber eine andere: Während im verschleierten Bild zu Sais erst das Verbot ausgesprochen wird, bevor Übertretung und Strafe folgen, wird im Taucher das Verbot rückwirkend formuliert. Die Unterschiede betreffen aber vor allem die Rolle der Sprache: Während im Bild zu Sais derjenige, der den Schleier der Wahrheit zu lüften wagte, seine Sprache verliert, wird im Taucher das Verbot nachträglich durch die Stimme dessen artikuliert, der sich seiner Übertretung soeben bewusst wurde. Die beiden Gedichte folgen also gegensätzlichen Logiken: während auf der einen Seiten der Verbotsübertritt mit dem Verstummen sanktioniert wird, wird auf der anderen Seite etwas mit dem Sprachgewinn belohnt, was erst durch die Sprache zur Überschreitung wird. Tabubruch und Selbstermächtigung fallen hier zusammen: der Taucher selbst ist „des Orakels Mund“, der das Verbot formuliert, gegen das er soeben verstoßen hat. Im verschleierten Bild zu Sais wird zudem bereits der Blick unter den Schleier bestraft, das Sehen der Wahrheit führt in den Wahnsinn und zur Unfähigkeit oder Verweigerung, das Geschehene in Worte zu fassen. Während der Jüngling zu Sais verstummt, kommt der Knappe, der zunächst keine eigene Stimme hat, nach seiner Wiederkehr aus der Tiefe erstmals in der Ballade selbst zu Wort. Mit der Schilderung des Erlebten trotzt der Knappe aber wiederum dem, was der Erzähler in seiner einzigen Intervention in der zehnten Strophe der Ballade feststellte: „Was die heulende Tiefe da unten verhehle, / Das erzählt keine lebende glückliche Seele“ (V. 59f). Zielte die vom Taucher formulierte Warnung, wie im verschleierten Bild zu Sais, auf den visuellen Sinn – sie verbot, das „zu schaun“ was die Götter bedeckten –

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so gilt der Einschub des Erzählers dem Erzählen dessen, was dort unten nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören wäre.45 Neben dem Tabu des Sehens, das der Taucher selbst formuliert, ruft die Ballade im Modus des Erzählereinschubs also ein zweites Verbot auf, das zwar – wie das Gebot der Gottheit im verschleierten Bildnis zu Sais – im Indikativ formuliert ist, damit aber gerade ein Faktum behauptet, dem der Taucher performativ ,widerspricht‘. Die dramatische Funktion der Sprache, die den Taucher wie auch andere Balladen Schillers kennzeichnet,46 bezieht sich also nicht nur auf die vom König verbal in Aussicht gestellte und gestaffelte Belohnung, sondern auch auf das Sprechen des Knappen selbst. Analog zum „Versprechen“47 des Königs klingt der Bericht des Tauchers in den Ohren seines Herrschers selbst wie ein Versprechen weiterer Erfahrungen und Entdeckungen, die in der Meerestiefe zu machen wären. Und gleichzeitig „verspricht“ sich der Taucher mit jedem Wort gegen die vom Erzähler aufgestellte Behauptung, man könne von den Geheimnissen der Tiefe nicht erzählen. Das Sprechen des Tauchers widerspricht dabei aber nicht nur der Erzählerstimme, sondern steht auch in deutlichem Kontrast zu dem, was die Tiefe selbst kennzeichnete: es ist dort unten nämlich nicht einfach die absolute Stille („Und obs hier dem Ohre gleich ewig schlief“, V. 111)48 sondern die Absenz menschlicher Stimmen, die den Schrecken der Tiefe verstärkt:

45 Der Begriff „verhehlen“ bedeutet „verheimlichen“ und kann laut Grimmschen Wörterbuch ebenso akustisch wie visuell codiert sein. Vgl. den Eintrag „verhehlen“ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 25, Sp. 547. 46 Vgl. Hinrich C. Seeba, „Das wirkende Wort in Schillers Balladen“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 275-322. 47 Nach Seeba ist der „Angelpunkt des Geschehens [...] im Taucher ein Versprechen, das den Jüngling in den Tod schickt“. Ebd., S. 286. 48 Die „tiefe Stille“ dient bei Schiller wie die „Einsamkeit“ als Beispiel jener „gleichgültige[n] Dinge, die sich durch nichts als das Außerordentliche und Ungewöhnliche auszeichnen“, und dennoch ein Gefühl des Schreckens erregen. Sie sind daher, so Schiller, „tauglich zum Erhabenen“: „Eine tiefe Stille gibt der Einbildungskraft einen freyen Spielraum und spannt die Erwartung auf etwas Furchtbares, welches kommen soll“ (Alle Zitate NA 20, S. 189). Entsprechend kriecht „es“ in Schillers Taucher gleich nach Konstatieren des Furchtbaren heran, um nach ihm zu schnappen.

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„Tief unter dem Schall der menschlichen Rede / Bey den Ungeheuern der traurigen Oede“ (V. 125f). Der Mund, er ist nicht nur die alles verschluckende Charybdis, sondern eben auch Organ der „menschlichen Rede“, der Aussprache und Artikulation: Das versammelte Gefolge des Königs auf der Klippe wird, nach dem Sprung des Knappen, ganz Mund: „Und stille wird’s über dem Wasserschlund, / In der Tiefe nur brauset es hohl, / Und bebend hört man von Mund zu Mund: / Hochherziger Jüngling, fahre wohl!“ (V. 49-52). Bevor er ein zweites Mal hinunter springt, fleht die Königstochter „mit schmeichelndem Munde“ (V. 140), dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten. Bei Homer diente der Mund bzw. der Schlund als Metapher für die Charybdis, egal ob sie die „die salzige Flut des Meeres fürchterlich einschlang“49, oder sie anschließend „wieder ausbrach“50. Neben dem „Kessel auf flammendem Feuer“51 mit seinem siedenden Wasser ist der Schlund die einzige Metapher, mit der die Charybdis belegt wird: „Wenn sie die salzige Flut des Meeres wieder hineinschlang; / Senkte sich mitten der Schlund des reißenden Strudels [...].“52 Dagegen tritt bei Schiller an die Stelle des ausspeienden Mundes das Bild der Geburt aus dem Schoß, das bei Homer nicht vorkommt. Das mag damit zu tun haben, dass die Metapher des Mundes bei Schiller anders besetzt ist: Der Mund verschluckt, aber er speit nicht aus. Seine Form der Entäußerung ist nicht das wilde Ausspeien, sondern die Artikulation als eine geordnete Wiedergabe der Schrecken des Abgrundes. Der Mund spricht – und so ist auch die Geburt, als die die Wiederkehr des Knappen inszeniert wird, ein „Mündigwerden“: Statt schäumende Wassermassen auszuspeien gebiert der Schoß der Charybdis ein sprechendes Subjekt: den „mündigen“ Knappen, der die „Kunde“ aus der Tiefe an die sichere Klippe trägt, um dann verschluckt zu werden. Gegen die Macht der Natur kommt auch das sprachmächtige Subjekt nicht an: Was Schiller hier inszeniert, erinnert an die Grundkonstellation der Ästhetik des Erhabenen.

49 Homer, Odyssee, Zwölfter Gesang, V. 236. Zitiert nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voss, Abdruck der Erstausgabe von 1781, Stuttgart 1881. 50 Ebd., V. 237. 51 Ebd., V. 237. 52 Ebd., V. 240f.

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Ein Schauspiel des Erhabenen? Die Geburt des sprechenden Subjekts aus dem Schoß der Tiefe hat Zuschauer: Schillers Ballade inszeniert den Sprung des Tauchers als theatrale Situation. Der König, seine Tochter und sein Gefolge stehen auf der sicheren Klippe und blicken hinab in die schäumenden Wasser des Meeresschlundes. Sie werden Zeugen der ersten Wiederkehr des Knappen und warten vergeblich auf die zweite. Der Blick vom sicheren Ufer ins tobende Meer gilt dabei schon zu Schillers Zeiten als Paradebeispiel für das Erhabene. Die Inszenierung der Zuschauer auf der Klippe zitiert damit diesen Topos: Schillers Ballade stellt eine Auseinandersetzung mit der ästhetischen Kategorie des Erhabenen dar, die Schiller seit den 1790er Jahren auch theoretisch beschäftigte.53 In seinem Aufsatz Vom Erhabenen (1793) setzt sich Schiller vor allem mit Kants Kapitel zur „Analytik des Erhabenen“ in der Kritik der Urteilskraft auseinander. Seit der Wiederentdeckung des Longinus zugeschriebenen Traktats Vom Erhabenen im 17. Jahrhundert hatte sich das Erhabene allmählich zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie entwickelt, die sich bald ebenbürtig neben dem Begriff des Schönen behauptete.54 Im Gegensatz zum Schönen beschreibt Kant das Erhabene als ein gemischtes Gefühl, das Lust und Unlust miteinander verschränkt, eine Lust, die nur mittels eines Unlustgefühls möglich sei.55 Während das Erhabene bei Pseudo-Longin das Kennzeichen einer dichterischen Rede ist, die Leidenschaft und Enthusiasmus vermittelt, wird der Gemütszustand des Erhabenen bei Kant allein durch Gegenstände der Natur evoziert. Eine reale Gefährdung des Menschen findet dabei allerdings nicht statt und darf auch gar nicht stattfinden: Unermessliche Ausdehnungen und gewaltige Kraftäußerungen der Natur sind ein Anblick, der „nur um desto anziehender [wird], je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“56. Als erhaben kann die Natur

53 Vgl. seine Aufsätze „Vom Erhabenen“ (1793), „Über das Pathetische“ (1801) und „Über das Erhabene“ (1801). Im Zusammenhang dieser Untersuchung interessiert vor allem der erste Aufsatz Schillers, „Vom Erhabenen“. 54 Vgl. hierzu Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1987. 55 Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, § 27. 56 Ebd., § 28, B 104 (S. 129).

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erfahren werden, wenn sie durch ihre Unendlichkeit das Vorstellungsvermögen der Einbildungskraft übersteigt (Kant bezeichnet dies als mathematisch Erhabenes) oder dem Menschen seine eigene physische Ohnmacht vor Augen führt (als dynamisch Erhabenes). Gleichzeitig lösten diese Unlustgefühle aber auch ein Gefühl der Überlegenheit über die Natur aus, die in der menschlichen Vernunft begründet sei. ‚Erhaben‘ ist nicht das Naturobjekt, sondern, worauf Kant mehrmals hinweist (sich aber selbst nicht konsequent daran hält), eine bestimmte Gemütsstimmung, und diese beruht bei Kant (wie bei Schiller) auf einem „Vermögen zu widerstehen“57. „So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist grässlich [...]“58, heißt es bei Kant. Nicht die Natur erhebt sich, sondern das Subjekt,59 und wie um dies auch noch topographisch zu unterstreichen, wird als Beispiel für Naturgegenstände, die ein Gefühl des Erhabenen auszulösen können, weniger das genannt, was in die Höhe ragt, wie etwa die Alpen (die seit John Dennis’ Alpenüberquerung 1688 ein zentrales Paradigma der Ästhetik des Erhabenen darstellten) sondern der Abgrund und die Tiefe.60 Das gilt nicht nur für Kant; schon Pseudo-Longin stellte den Begriff der Tiefe gleichwertig neben den des Erhabenen: „Doch

57 Ebd., § 28, B104 (S. 129). Siehe auch ebd., § 23, B 76f (S. 107), wo Kant darauf hinweist, dass „wir uns überhaupt unrichtig ausdrücken, wenn wir irgendeinen Gegenstand der Natur erhaben nennen [...]. So kann auch der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist grässlich; und man muss das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird“; ähnlich B 84 (S.113) und B 95 (S. 121). Zu der Beobachtung, dass Kant sich an seine Begriffsklärung selbst nicht konsequent hält und eine „uneigentliche“ Anwendung des Erhabenheitsbegriffs auf die Natur gelten lässt, vgl. Winfried Menninghaus, „Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen“. In: Poetica 23 (1991), S. 1-19, hier S. 13ff. 58 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 23, B 77 (S. 107). 59 Vgl. Begemann, Furcht und Angst, S. 136-159. 60 Zu Kants Ablehnung der Alpen-Liebhaberei vgl. Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand, S. 8.

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müssen wir gleich zu Beginn fragen“, heißt es bei Login, „ob eine Kunstlehre des Erhabenen oder Tiefen möglich ist, da manche meinen, es sei ganz verkehrt, solche Vorzüge in technische Regeln zu bringen.“61 Die Kunstlehre des Erhabenen ist also – darauf hat die Forschung zum Erhabenen bisher zu wenig aufmerksam gemacht – gleichzeitig eine Kunstlehre des ‚Tiefen‘. Im 18. Jahrhundert kennzeichnet es viele Schriften zum Erhabenen, dass der Abgrund entweder als Landschaftselement oder als Metapher für den Zustand des Betrachters angesichts des Unendlichen präsent ist.62 „Das Überschwengliche für die Einbildungskraft [...] ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren droht“63, heißt es in diesem Sinne bei Kant. Vor ihm zieht bereits Edmund Burke in einer der grundlegenden Schriften zum Erhabenen, seinem 1757 unter dem Titel A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful erschienenen Traktat, die Tiefe den anderen Dimensionen des Raums vor. In seinem Kapitel zur „Riesigkeit“ nennt er die „Größe der Dimension“ als mächtige Quelle des Erhabenen, hält es aber für unerlässlich zu untersuchen, „in welcher Richtung die Größe der Dimension, die Riesigkeit der Ausdehnung oder der Quantität die stärkste Wirkung hat.“64 Während die Ausdehnung in der Länge den geringsten Eindruck mache, erwägt Burke, auch in der Vertikalen noch eine Unterscheidung vorzunehmen: „Ich bin ferner zu der Annahme geneigt, dass Höhe weniger großartig ist als Tiefe und dass wir stärker berührt sind, wenn wir in einen Abgrund hinab- als wenn wir an einem Objekt von gleicher Höhe hinaufsehen, mit Sicherheit behaupten möchte ich das aber nicht.“65 Was Burke als vagen Verdacht einführt, gilt Schiller als Sicherheit, weswegen er gar einen Positionswechsel des Betrachters empfiehlt, um aus der Höhe eine Tiefe zu machen: „Aus demselben Grund ist eine Tiefe noch erhabener als eine Höhe, weil die Idee

61 Longinus, Vom Erhabenen. Übersetzt u. hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 2002, S. 7. Longinus spricht von βάθους. 62 Siehe dazu die Beispiele bei Begemann, Furcht und Angst, S. 116, Anm. 67. 63 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 98 (S. 124). 64 Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge, hg. von Werner Strube. Hamburg 1989, S. 108. 65 Ebd., S. 109.

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des Furchtbaren sie unmittelbarer begleitet. Soll eine große Höhe für uns schreckhaft sein, so müssen wir uns erst hinaufdenken und sie also in eine Tiefe verwandeln.“66 Der Abgrund und die Tiefe sind bei Schiller die wichtigsten Topoi seiner Ästhetik des Erhabenen. Bei Kant gibt es eine solche Präferenz nicht, doch wenn er von dem „Grausen“ spricht, das den Zuschauer unter anderem bei Betrachtung „tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer“67 befalle, so erinnert das doch so sehr an Schillers Beschreibung des Meeres im Taucher, dass im Folgenden die These vertreten werden soll, dass Schiller die Auseinandersetzung mit Kant und der Kategorie des Erhabenen in seiner Ballade weiterführt, indem er das Erhabene dort als eine Ästhetik der Tiefe ausstellt. Neben den „tiefen Schlünden“ legen noch weitere Beschreibungen Kants den Verdacht nahe, dass die von Schiller genau studierte Schrift wichtige Anregungen für den Taucher gegeben haben könnte. So warnt Kant davor, bei der Empfindung des Erhabenen zu genau hinzusehen und zu viel Wissen in den Gegenstand zu projizieren. So wie der Himmel nicht mehr sein solle als ein „weites Gewölbe, das alles befaßt“68, so müsse man „den Anblick des Ozeans nicht so, wie wir mit allerlei Kenntnissen (die aber nicht in der unmittelbaren Anschauung enthalten sind) bereichert ihn denken; etwa als ein Reich von Wassergeschöpfen, [...], sondern man muß den Ozean bloß, wie Dichter es tun, nach dem, was der Augenschein zeigt, etwa, wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Wasserspiegel, der bloß vom Himmel begrenzt ist, aber ist er unruhig, wie einen alles zu verschlingen drohenden Abgrund, dennoch erhaben finden können.“69 Nicht nur in der Beschreibung des Meeres als verschlingenden Abgrund, auch mit der ausdrücklich unkorrekten Schilderung seiner Tiefenbewohner scheint Schiller diese Warnung vor allzu großer Sachkenntnis ernst genommen zu haben. Doch während die Schilderung der Meerestiefen diese durchaus als einen Naturgegenstand zeichnet, der zur Empfindung des Erhabenen tauglich wäre, ist von dieser Empfindung selbst in Schillers Ballade nicht die Rede.

66 Schiller, „Von der ästhetischen Größenschätzung“. In: NA 20, S. 230-240; hier S. 240. 67 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 117 (S. 140). 68 Ebd., B 118 (S. 141). 69 Ebd., B 119 (S. 141f).

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Vielmehr ist der Taucher innerhalb des Meeresschlundes aufgrund seiner fehlenden Distanz zu dem, was ihm geschieht, nicht zur Empfindung des Erhabenen fähig. Ihm fehlt die Sicherheit, die immer wieder als Voraussetzung erhabenen Genießens genannt wird. Drunten, im Schoß der Charybdis, ist er nicht Herr seiner selbst – es sind vielmehr die Triebe, die ihn bestimmen: „Und wie einen Kreisel mit schwindelndem Drehen, Trieb michs um, ich konnte nicht widerstehen.“ (V. 101f)

In der Tiefe ist der Taucher der Eigendynamik des Doppelstrudels ausgeliefert, und nur zufällig reißt ihn der Strom gerade in dem Moment wieder nach oben, als er das Felsenriff loszulassen gezwungen ist. Der Taucher bezwingt die Naturgewalt des Meeres also nicht aus eigener Kraft und demonstriert damit nicht einmal jene Überlegenheit des Menschen über die Natur, welche ohnehin „zwar auch etwas Großes, aber nichts Erhabenes an sich hat.“70 Schiller führt in seinem Aufsatz Vom Erhabenen dazu ein Beispiel aus der Nautik auf, nämlich „ein Schiff auf dem Meere, das durch seine künstliche Einrichtung imstand ist, allem Ungestüm des wilden Elements zu trotzen.“71 Es ist groß, aber nicht erhaben, da es der Naturgewalt aus eigener Kraft widerstehen kann. Nicht so der Taucher in der Tiefe: trotz seiner Wiederkehr bleibt der Meeresschlund ein möglicher Gegenstand erhabener Empfindung, da der Taucher ihn nicht durch physische Überlegenheit bezwungen hat. Um ein Gefühl des Erhabenen auszulösen, bzw. einen Gegenstand für eine erhabene Schilderung abzugeben, muss dieser, wie Schiller mehrmals betont, furchtbar sein, „und das ist er nicht mehr, sobald wir uns ihm durch natürliche Kräfte gewachsen fühlen.“72 Genau mit dem Begriff des ‚Furchtbaren‘ beschreibt nun der Taucher die Tiefe nach seiner Rückkehr ans sichere Ufer: „Da unten aber ists fürchterlich“ (V. 93) lautet sein erster Satz über die Tiefe, deren „furchtbaren Höllenrachen“ (V. 114) er dann weiter ausmalt. „Groß ist, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet.“73 Der Taucher hat es

70 Schiller, Vom Erhabenen, NA 20, S. 171-195, hier S. 176. 71 Ebd., S. 176. 72 Ebd., S. 177. 73 Ebd., S. 185.

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also mithin zum Großen gebracht, nicht aber zum Erhabenen, und Schiller demonstriert an seiner Figur den Unterschied zwischen beiden Kategorien. In der Tiefe hatte der Taucher Furcht und entbehrt damit jener inneren Gemütsfreiheit, die laut Schiller schlechterdings dazugehört, „um das Furchtbare erhaben zu finden, und Wohlgefallen daran zu haben; denn es kann ja bloß dadurch erhaben seyn, daß es unsere Unabhängigkeit, unsere Gemütsfreyheit zu empfinden gibt.“74 Der Bericht, den der Knappe nach seiner Rückkehr gibt, würde auch ihm selbst erlauben, nachträglich zu einem erhabenen Gefühl aufzusteigen, denn er gäbe der Vernunft Raum, ihre eigene Unabhängigkeit und Gemütsfreiheit zu empfinden. Schließlich verlangt der Begriff des Erhabenen, so Schiller, „daß wir dem Gegenstande als Naturwesen nicht gewachsen sein sollen, daß wir uns aber durch das, was in uns nicht Natur ist (und dies ist nichts anders als reine Vernunft), als von ihm unabhängig fühlen sollen“75. Doch diese Empfindung einer Freiheit der Vernunft stellt sich nicht ein. Denn die Geschichte der „Erhebung“ des jungen Knappen wird von seiner Unterwerfung unter die Macht des Königs unterbrochen. Der Machtdemonstration der Natur steht nicht die Macht der Vernunft entgegen,76 und es findet im Angesicht der Überlegenheit der Natur auch keine moralische Erhebung durch Ideen statt, wie Schiller es als weiteres Kriterium des Erhabenen beschreibt: „Erhaben nennen wir ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben.“77 Der Taucher fürchtet das Furchtbare, und sein zweiter Sprung ist keine freiwillige Entscheidung, sich an der übermächtigen Natur zu messen, sondern wird durch die soziale und politische Macht des Königs motiviert, verbunden mit der Aussicht darauf, selbst an dieser Macht partizipieren zu dürfen. Es steht keine moralische, sondern eine soziale Erhebung in Aussicht. Aus der Mutprobe wird dabei eine Forschungsreise: Ging es im ersten Tauchgang nur um das Wagstück des Tauchgangs und um den Becher als Beweisstück dafür, so verlangt der König beim

74 Ebd., S. 178. 75 Ebd., S. 177. 76 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 100 (S. 125f). 77 Schiller, Vom Erhabenen, NA 20, S. 171.

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zweiten Mal ausdrücklich „Kunde“ – und zwar nicht nur aus der Tiefe, sondern von deren „tiefunterstem Grunde“ (V. 137f). Das Machtspiel, das Schillers Ballade inszeniert, ist ein doppeltes, da es dem Taucher um die Partizipation an der Macht des Königs, dem König seinerseits um die Macht des Wissens und der rationalen Naturbeherrschung geht. Der zweite Tauchgang stellt also auch in dieser Hinsicht nicht einfach eine Wiederholung des ersten dar, sondern eine Steigerung. Entsprechend höher ist auch der Preis, den der König diesmal aussetzt. Statt nur um Reichtum geht es nun um die Macht (der Ring kann, analog zum Ring des Polykrates, als Herrschaftszeichen verstanden werden) und um die Hand der Königstochter – statt um Geld, um das Glück. Und so behält der Erzähler doch letztlich recht mit seiner Bemerkung: „Was die heulende Tiefe da unten verhehle, / Das erzählt keine lebende, glückliche Seele“ (V. 60). Denn lebend zurückgekehrt konnte der Taucher nach seinem ersten Tauchgang von seinen Erlebnissen berichten. Doch als lebende und „glückliche Seele“ von der tiefsten Tiefe des Meeres zu berichten, das gelingt tatsächlich nicht. Der Macht der Natur gegenüber erweist sich auch die Macht des Königs als unterlegen. Die Unergründlichkeit der Natur bleibt bestehen, nicht weil sie, wie bei Kants mathematisch Erhabenen, durch ihre Unendlichkeit das Vorstellungsvermögen des Bewusstseins überstiege, sondern weil der Darstellung von Tiefe auf praktische Weise eine Grenze gesetzt wird: Der Einzige, der davon berichten könnte, kommt nicht wieder. Der Mund der Charybdis hat sich über ihm geschlossen, und der Blick der Königstochter richtet sich statt in die Tiefe auf eine schäumende Wasserfläche. Zusammenfassend lässt sich sagen: am Taucher selbst wird der Unterschied zwischen Großem und Erhabenem demonstriert. Erstens steht für ihn nicht eine moralische, sondern eine soziale Erhebung in Aussicht, zweitens kann er sein Erleben nur nachträglich vernunftmäßig fassen und drittens wird an seinem Beispiel fast sarkastisch vorgeführt, was die Kehrseite des Erhabenen sein kann: die Hybris, sich über die Natur stellen zu wollen. Der Fehler des Tauchers war es, die Bezwingung des Schlundes für wiederholbar zu halten. Die Figur des Tauchers stellt in Schillers Ballade jedoch nur eine erste Stufe der Beobachtung in einem System gestaffelter Beobachtungssituationen dar. Sein Tun wird wiederum beobachtet von den Zuschauern, die am Rande der Klippe das Schauspiel verfolgen. Im Gegensatz zum Taucher hätten sie die nötige Distanz, um die Empfindung des Erhabenen genießen

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zu können. Gruppiert um den Rand des Abgrunds nehmen sie eine typische Betrachtungssituation des Erhabenen ein, für welches die physische Sicherheit unerlässlich ist. Ihre Position erinnert an die Zuschauer des Meeressturms am Ufer, ein Beispiel von Horaz, das Schiller einmal aufgreift: „So erhaben ein Meersturm, vom Ufer aus betrachtet, sein mag, so wenig mögen die, welche sich auf dem Schiff befinden, das von demselben zertrümmert wird, aufgelegt sein, dieses ästhetische Urteil darüber zu fällen.“78 Dazu kommt „die Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und dem Bewußtsein unsrer innern moralischen Freyheit“79, sodass das Schauspiel des Tauchers in Schillers Terminologie ein „pathetischerhabener“ Genuss ersten Ranges genannt werden könnte. Dieser stelle sich laut Schiller vor allem dann ein, wenn der „theilnehmende Schmerz“80, der allen ästhetischen Genuss überwiegen würde, ausgeblendet werden könne. Und das ist dann möglich, wie Schiller nun über Kant hinausgehend formuliert, wenn das Leid nur vermittelt wahrgenommen wird: „Nur alsdann, wenn das Leiden entweder bloße Illusion und Erdichtung ist, oder (im Fall, dass es in der Wirklichkeit stattgefunden hätte) wenn es nicht unmittelbar den Sinnen, sondern der Einbildungskraft vorgestellt wird, kann es aesthetisch werden, und ein Gefühl des Erhabenen erregen.“81 Nicht das wirkliche Leiden, sondern die Illusion oder die Erdichtung des Leidens sind bei Schiller zum Erhabenen fähig. Kant hingegen hatte das Gefühl des Erhabenen auf die Natur begrenzt. Nur durch deren Macht und Größe, und nicht, wie bei PseudoLongin, durch die überwältigende Macht der Worte, werde die Empfindung des Erhabenen ausgelöst.82 Bei Schiller ermöglicht es erst die durch die vermittelte Darstellung erzeugte Distanz zum Geschehen, den teilnehmenden Schmerz in ästhetischen Genuss zu verwandeln. Genau diese Situation aber inszeniert er in seiner Ballade. Er reagiert auf Kants Skepsis gegenüber der Darstellung des Erhabenen, indem er nicht einfach einen Naturgegenstand beschreibt, der die Empfindung des Erhabenen auslösen könnte, sondern indem er dessen Darstellung theatralisch in Szene setzt: Schiller lässt seinen Taucher nach

78 Schiller, Vom Erhabenen, NA 20, S. 171-195, hier S. 171. 79 Ebd., S. 192. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 192. 82 Vgl. Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand, S. 15.

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seiner Wiederkunft aus der Tiefe vom Erlebten erzählen. Er stellt also nicht einfach erhabene Natur dar, sondern die Darstellung erhabener Natur. Die Schrecken der Tiefe werden von Schillers Ballade vermittelt präsentiert, indem innerhalb des Textes eine Rezeptionssituation geschaffen wird, die allen Vorraussetzungen zur Empfindung des Erhabenen genügen würde. Doch beim König löst des Tauchers Darstellung der fürchterlichen Tiefe allenfalls den Wunsch nach mehr aus, nach tieferem Wissen und stärkeren Reizen. Was die übrigen Zuschauer auf der Klippe empfinden, bleibt offen. Von erhabenen Empfindungen ist in Schillers Ballade nicht die Rede. Warum also all der Aufwand? Warum inszeniert Schiller ein mit allen Versatzstücken des Erhabenen ausgestattetes Schauspiel, wenn es bei den textinternen Rezipienten, auf die es gerichtet scheint, keinen Widerhall hervorruft? Weil es, so meine These, gar nicht in erster Linie der König und sein Gefolge sind, auf welche das Schauspiel des Erhabenen zielt, sondern die Leser der Ballade. Sie stellen eine weitere Stufe im gestaffelten Beobachtungssystem der Ballade dar: Im Taucher wird eine Rezeptionssituation dargestellt, die mit den Zuschauern auf der Klippe den Blick des Lesers auf die Ballade verdoppelt. Wie die Zuschauer auf der Klippe, so stehen sie über dem Gedicht und nehmen die Schrecken der Tiefe als Beobachter zweiter Ordnung wahr. Sie beobachten die Beobachter auf der Klippe und sehen, was diese nicht sehen können oder wollen: nämlich, dass die Kunde vom „tiefuntersten Grunde“ (V. 138) gar nicht erbracht werden kann, ohne das zu gefährden, worum es in der Ballade eigentlich geht: die Unergründlichkeit der Tiefe. Die Leser sehen etwas ganz anderes als die Zuschauer auf der Klippe. Denn während diese in die Tiefe der Natur blicken, blicken jene in die ‚Tiefe‘ der Kunst, oder: in eine Kunst der Tiefe. Die grundlose Tiefe der ästhetischen Idee Nicht nur Schillers Aufsätze zum Erhabenen, auch weitere seiner kunsttheoretischen Schriften sind durchzogen von einer Metaphorik der Tiefe, die Schiller in den Rang einer ästhetischen Kategorie erhebt. ‚Tiefe‘ ist dabei ein durchweg positiv besetzter Begriff; sie wird metaphorisch auf die moderne Literatur übertragen, bestimmt einige Genres mehr als andere und ist nicht zuletzt Kennzeichen des Genies. Der Ort, an dem sich die Schillersche Metaphorik der Tiefe entwickelt, ist der Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt. Von Humboldt scheint

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der Begriff auch herzurühren, macht dieser doch die ‚Tiefe‘ zum Leitbegriff seiner Charakterisierung des bewunderten Freundes. In seinen Briefen an Schiller feiert er ihn immer wieder als ‚Dichter der Tiefe‘ und rühmt beispielsweise Schillers Gedicht Macht des Gesanges dafür, dass es „dem Geist auf einmal eine unabsehliche Tiefe“ eröffne.83 Auch anderen Gedichten attestiert Humboldt eine „Tiefe der Ideen“84, die unschwer „das Gepräge des Genies“85 erkennen lasse. Ernst Osterkamp hat gezeigt, wie konsequent Humboldt die Gegenbegriffe von Tiefe und Fläche auf Schiller anwandte: „Wann immer er von Schillers Dichtung spricht, erweist sich Humboldt als Virtuose der Tiefensemantik.“86 Mit der Begrifflichkeit der Tiefe und dem Gegenbegriff der Fläche beschreibt Humboldt aber nicht nur einzelne Gedichte, sondern zielt auf eine umfassende Charakterisierung des verehrten Dichters, die er einmal in den Worten zusammenfasst, Schiller biete dem Leser „überall mehr Tiefe als Fläche“87. (Was Humboldt nicht wissen konnte, war, dass Schiller sich des gleichen Begriffspaars, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, fünf Jahre zuvor zur Charakterisierung von Humboldt selbst bedient hatte: Nach seiner ersten Begegnung mit Humboldt am 5. Januar 1790 schrieb Schiller an die Schwestern Lengefeld:

83 Wilhelm von Humboldt, Brief an Schiller vom 18. August 1795. In: Seidel (Hg.), Briefwechsel I, S. 88. 84 Humboldt, Brief an Schiller vom 21. August 1795. In: Seidel (Hg.), Briefwechsel I, S. 95. 85 Ebd. 86 Ernst Osterkamp, „Fläche und Tiefe. Wilhelm von Humboldt als Theoretiker von Schillers Modernität“. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, S. 101-117; hier S. 111. In seinem Aufsatz führt Osterkamp die Begrifflichkeit der Tiefe vor allem auf Humboldt zurück. Schiller bediente sich der Metaphorik der Tiefe in bezug auf Literatur jedoch auch schon vor dem Briefwechsel mit Humboldt, unter anderem in der Matthisson-Rezension von 1794. 87 Humboldt, Brief an Schiller vom 16. Oktober 1795. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel Bd. 1, S. 180.

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„Wilhelm ist mir zu flüchtig, zu sehr aus sich herausgerissen, zu weit verbreitet. Ich traue ihm viel Fläche und wenig Tiefe zu.“88) Mit der Begrifflichkeit von Tiefe und Fläche versucht Humboldt die Modernität von Schillers Dichtung und ihren Eigenwert gegenüber der Antike zu fassen. Er wird damit, so Osterkamp, zum „Protagonisten und Motor des Schillerschen Modernitätsbewusstseins“89. Auf die von Schiller selbst aufgeworfene Frage, ob er sich künftig eher der Prosa oder dem Drama widmen solle („Poesie wird auf jeden Fall mein Geschäft sein; die Frage ist also bloß, ob episch (im weitern Sinne des Worts) oder dramatisch?“90) entwickelt Humboldt eine Antwort, die er mit der spezifischen Modernität der Schillerschen Poesie begründet: „Aber vorzüglich klar ist mir Ihr Dichtercharakter, wenn ich Sie gegen die Griechen halte. Unter allem mir bekannten Griechischen ist keine Zeile, von der ich mir Sie als den Verfasser denken könnte [...].“91 Das liege, so Humboldt, aber nicht an Einflüssen des „Nationalcharakters“ – und auch von „Fortschritten des Zeitalters“ will er nichts wissen – stattdessen begründet er sein Urteil einzig mit

88 Zitiert nach: Siegfried Seidel, „Humboldts Freundschaft mit Schiller. Zu den geistigen Grundlagen ihrer Korrespondenz.“ In: Ders. (Hg.), Briefwechsel I, S. V-LIXI, hier S. XI. 89 Osterkamp, Fläche und Tiefe, S. 103. 90 Schiller, Brief an Humboldt vom 5. Oktober 1795. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel Bd. 1, S. 174. 91 Humboldt, Brief an Schiller vom 16. Oktober 1795. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel Bd. 1, S. 179. Zur Irritation, die diese Bemerkung bei Schiller auslöste, vgl. ausführlicher Osterkamp. In seinem Brief vom 26. Oktober 1795 hat Schiller die Frage seines Verhältnisses zur Antike selbst noch einmal aufgegriffen: „Inwiefern kann ich bei dieser Entfernung von dem Geiste der griechischen Poesie noch Dichter sein, und zwar besserer Dichter, als der Grad jener Entfernung zu erlauben scheint?“ Humboldt ging auf diese Frage, die Schiller ausgehend von einem geschichtsphilosophischen Problem formulierte, bereitwillig ein, wendete sie aber ins Anthropologische. Er nahm sie als willkommenen Anlass weiterer Charakterisierungsversuche Schillers, hatte er die Frage doch mit seinen vorhergehenden Briefen selbst provoziert, sodass, laut Osterkamp, „Humboldts briefliche Versuche, das Charakteristische des Schillerschen Geistes zu erfassen, die Bedingung für die Möglichkeit darstellten, dass Schiller diese Frage überhaupt stellen konnte“ (Osterkamp, Fläche und Tiefe, S. 103).

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Schillers „Eigentümlichkeit“, die sich in einer starken Ideenhaltigkeit der Dichtung manifestierte, gleichzeitig aber mit einem „Überschuß von Selbsttätigkeit“ gepaart sei und nicht im philosophischen Gehalt aufgehe.92 Und da im Drama als lebendiger Darstellung eines Charakters und einer Handlung, in der Schilderung des Menschen im Kampf mit dem Schicksal, „die Hauptwirkung durch das Gefühl des Erhabenen geschieht“93, so sei dies der geeignete Ort zur Entfaltung von Schillers Eigentümlichkeit: „Die bewundernswürdige Tiefe Ihres Geistes steht hier an ihrer Stelle“94, so Humboldts Urteil, das er wiederum mit der Tiefe von Schillers Fantasie begründet: „Verglichen mit der dramatischen, halte ich die epische Poesie nicht so fähig, Ihre ganze Stärke zu entwickeln. [...] An sich braucht auch das eigentlich Epische überhaupt (nicht eben nur die große Epopöe) eine leichtere, lachendere, mehr malende Phantasie, als Ihnen in Vergleichung mit der Tiefe der Ihrigen eigen scheint.“95 Die Literatur der Griechen trage gegenüber Schiller „das Gepräge und den Charakter der Empfänglichkeit an sich“96, wie Humboldt im Brief vom 6. November 1795 weiter ausführt, sie gleiche einem Spiegel der Natur, „und wie diese auf sie einwirkte, so wirkte ihre Selbsttätigkeit auf sie zurück“97. Schiller dagegen sei nicht nur Natur, sondern auch Geist, und zwar in einem Maße, das ihn zum „modernsten“98 aller Dichter mache. „Geist“ ist aber nach Kant „das belebende Prinzip im Gemüte“ und als solches gehört es zu „den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen“99. Die Tiefe des Genies überträgt sich auf dessen Kunst. Schiller griff die Stichworte, die ihm Humboldt geliefert hatte, bereitwillig auf. Am 25. Dezember 1795 schrieb er in einem Brief an Humboldt über Homer: „Seine Dichtungen haben eine unendliche Fläche, aber keine solche Tiefe. Was sie an Tiefe haben, das ist ein Effekt des Ganzen, nicht

92 Alle Zitate aus: Humboldt, Brief an Schiller vom 16. Oktober 1795. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel. Bd. 1, S. 179f. 93 Ebd., S. 181. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 183. 96 Ebd., S. 209. 97 Ebd., S. 210. 98 Ebd., S. 209, Herv. i.O. 99 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, B 192 (S. 201).

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des einzelnen; die Natur im ganzen ist immer unendlich und grundlos.“100 Die Tiefe der antiken Werke bleibe außerdem mit dem Eindruck einer gewissen „Armut und Leerheit“101 behaftet, welcher die Empfänglichkeit der (naiven) antiken Poesie zu verdanken sei, die die Tiefe der äußeren Natur aufnehme. Sie reproduziere Tiefe nur der ‚Form‘ nach, während die Tiefe der modernen Literatur in ihrem ‚Gehalt‘ liege. Die Metapher der Tiefe wird also nicht nur von Humboldt, sondern auch von Schiller zur Beschreibung moderner Literatur verwendet. „Tiefe“ bezeichnet im Briefwechsel mit Humboldt einen Bedeutungsüberschuss im Sinne einer Unendlichkeit des Dargestellten, welches sich nicht auf einen Begriff bringen lasse. Sie bezieht sich auf das Genie wie seine Werke gleichermaßen und scheint einigen Gattungen eher zuzukommen als anderen. Möglicherweise geht das von Humboldt so vielfältig in Anwendung gebrachte Vokabular der Tiefe, anders als von Osterkamp dargestellt, sogar auf Schiller selbst zurück. In dessen Aufsatz Über Matthissons Gedichte,102 den er vor Aufnahme der Korrespondenz mit Wilhelm von Humboldt geschrieben hatte, bediente er sich der Metapher der Tiefe.103 Er spricht dort von der Art, wie der Dichter seine „ästhetischen Ideen“ zu vermitteln und damit die Rezeption zu lenken habe: „Andeuten mag er jene Ideen, anspielen jene Empfindungen; doch ausführen soll er sie nicht selbst, nicht der Einbildungskraft seines Lesers vorgreifen. Jede nähere Bestimmung wird hier als eine lästige Schranke empfunden, denn eben darin liegt das Anziehende solcher ästhetischer Ideen, daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken. Der wirkliche und ausdrückliche Gehalt, den der Dichter hineinlegt, bleibt stets eine endliche; der mögliche Gehalt, den er uns hineinzulegen überläßt, ist eine unendliche Größe.“104

100 Schiller, Brief an Humboldt vom 25. Dezember 1795. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel Bd. 1, S. 272. 101 Ebd. 102 NA 22, S. 265-283. 103 Vgl. Hilde D. Cohn, „Die ‚grundlose Tiefe‘. Eine Studie zu Schillers Taucher“. In: The German Quarterly 32, 1 (1959), S. 199-210. 104 NA 22, S. 273f.

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Die „grundlose Tiefe“ ist hier Metapher für den Bedeutungsüberschuss der literarischen Rede, für die „unendliche Größe“ des Sinnangebots, das der Text dem Leser offenhält. Den Begriff der „ästhetischen Idee“ hatte Schiller von Kant übernommen, der diese in § 49 der Kritik der Urteilskraft als Gegenstück zur Vernunftidee beschreibt: „unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“105 Die ästhetische Idee tritt als „indirekte Darstellung“106 für die Vernunftidee ein, die nach Kant eigentlich undarstellbar ist: „Verlangt man gar, dass die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann.“107 Dagegen ist die „ästhetische Idee“ laut Kant eine Vorstellung, für die „kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.“108 Deutet Schiller nun Kants „ästhetische Idee“ als „grundlose Tiefe“ und „unendliche Größe“, so formuliert er damit ein offenes Konzept des Sinns, das eine Fülle von Auslegungen zulässt, die niemals erschöpfend sein können. Zugleich aber wendet Schiller Kants Konzept historisch-kulturell, da die Darstellung der Unendlichkeit nach Schiller in besonderem Maße die moderne, das heißt die sentimentalische Kunst charakterisiert. Während Homer oder andere Dichter des Altertums, wie Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung ausführt,109

105 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, B 192f (S. 202). 106 Ebd., § 59, B 256 (S. 254). 107 Ebd., § 59, B 254 (S. 253). 108 Ebd., § 49, B 197 (S. 205f). 109 NA 20, S. 413-503. Schiller nimmt in seinem Essay keine eindeutige Übertragung der Kategorien von Naivem und Sentimentalischem auf Antike und Moderne vor. Während es in der Antike auch sentimentalische Dichter gegeben hätte, fänden sich in der Moderne auch naive. Schiller spricht also „nicht von objektiven historischen Relationen, sondern von kulturellen Entwürfen“ (Pe-

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„mächtig durch die Kunst der Begrenzung“ sind, so ist es der moderne Dichter „durch die Kunst des Unendlichen“110. Die ästhetische Idee stellt, „was undarstellbar und unaussprechlich ist“111, negativ dar, und erregt dadurch, analog zum Erhabenen, ein „gemischte[s] Gefühl“112, da es einer doppelten Quelle entstammt: der Wirklichkeit als Grenze und der Idee als dem Unendlichen. Was Kant in seiner Analytik des Erhabenen in Bezug auf die Natur formuliert hatte, überträgt Schiller auf die sentimentalische Kunst.113 Einerseits folgt diese dem Prinzip negativer Darstellung, das Kant am Erhabenen entwickelt hatte, andererseits entspricht ihr Rezeptionsmodus dem des Erhabenen, insofern es eine indirekte Lust erregt.114 Wenn Schiller die ästhetischen Ideen aber dadurch beschreibt, „daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken“, dann zitiert er mit dieser Blickanordnung nicht nur den Topos des Erhabenen, sondern präfiguriert auch die Blickstruktur der drei Jahre nach dem MatthissonAufsatz entstandenen Ballade Der Taucher. Die Gattung der Ballade, nebenbei bemerkt, preist Humboldt im Brief an Schiller als ein dem Drama ebenbürtiges Genre der Tiefe, das deshalb dem Schillerschen Genie angemessen sei: „Aber darum sagte ich, daß die Ballade so eigentlich für Sie gemacht sei, weil das Große, Erhabene und Tiefe, was die Ballade fodert [sic], Ihnen so eigen ist, daß es alles bezeichnet, was von Ihnen kommt.“115

ter-André Alt, „Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruktion der Antike“. In: Walter Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 339-363, hier S. 353). 110 NA 20, S. 440. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 441. 113 Vgl. Carsten Zelle, „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Schiller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart 2005, S. 451-479, der ausführlich zeigt, „dass das Erhabene die Theorie des Sentimentalischen regiert“ (ebd., S. 469). Siehe auch ders., „Darstellung – zur Historisierung des Mimesis-Begriffs bei Schiller“. In: Georg Bollenbeck, Lothar Ehrlich, Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 73-86, hier S. 84. 114 Vgl. ebd., S. 84ff. 115 Humboldt, Brief an Schiller vom 9. Juli 1797. Zitiert nach: Seidel (Hg.), Briefwechsel Bd. II, S. 108.

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Dass Schiller die Tiefe zum Hauptmotiv seiner Taucherballade erhoben hat, ist vor diesem Hintergrund sicher kein Zufall. Was Schiller in der Matthisson-Rezension andeutete und dann, mit Humboldt als Stichwortgeber, zu einer Theorie moderner (Genie-)Literatur ausbaute, hat er im Taucher in Dichtungspraxis zu überführen versucht. Die Naturdarstellung ist, wie Schiller in der Matthisson-Rezension bestimmt hatte, die „nach den Gesetzen der symbolisierenden Einbildungskraft“116 dargestellte ästhetische Idee. Die Tiefe des Meeresschlundes ist nicht nur Tiefe der Natur, sondern metaphorisch auch die „grundlose Tiefe“ der ästhetischen Idee. Der Taucher ist Literatur des Erhabenen, des Sentimentalischen und der Tiefe. Die Tiefe ist hier weniger eine räumliche als eine ästhetische Qualität, kein bloßes Motiv, sondern Topos zur Reflexion ästhetischer Fragestellungen. Nur Hineinspringen sollte man in eine solche Tiefe nicht. Denn sonst muss es einem unweigerlich wie dem „Phantasten“ ergehen, den Schiller am Ende seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung beschreibt, und der ein Bruder des Tauchers zu sein scheint. Denn dessen Ausschweifung führt unweigerlich „zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen.“117

116 NA 22, S. 273. 117 NA 20, S. 503.

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S CHWIMMEN : „N ICOLA P ESCE “ (C.F. M EYER ) Meyers Quellen Das Sonett Nicola Pesce (1881/1882) von Conrad Ferdinand Meyer ist eine Antwort des späten 19. Jahrhunderts auf Schiller. Es ist der gleiche Sagenstoff, auf den sich Meyer bezieht, und doch erinnert in seinem Sonett so wenig an Schillers Ballade, dass es scheint, als wollte Meyer den Sagenstoff wieder von Schillers Interpretation befreien. Seine Version des Meermenschen ist hier deshalb von besonderem Interesse, weil er dort, wo bei Schiller Tiefe ist, die Fläche setzt. „Nicola Pesce Ein halbes Jährchen bin ich nun geschwommen Und noch behagt mir dieses kühle Gleiten, Der Arme lässig Auseinanderbreiten – Die Fastenspeise mag der Seele frommen! Halb schlummernd lieg ich stundenlang, umglommen Von Wetterleuchten, bis auf allen Seiten Sich Wogen türmen. Männlich gilt’s zu streiten. Ich freue mich. Stets bin ich durchgekommen. Was machte mich zum Fisch? Ein Mißverständnis Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntnis. Mein Wanderdrang und meine Farbenlust. Die Furcht verlernt ich über Todestiefen, Fast bis zum Frieren kühlt’ ich mir die Brust – Ich b l e i b ein Fisch und meine Haare triefen!“118

Obwohl angesichts der Prominenz Schillers und der Allgegenwart seiner Balladen im Schulunterricht119 davon auszugehen ist, dass Meyer Schillers

118 C.F. Meyer, „Nicola Pesce“. In: HKA 1, S. 186. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden unter Angabe des Verses im Fließtext gekennzeichnet als HKA 1. 119 Vgl. Seeba, Das wirkende Wort, v.a. S. 275-279.

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Taucher kannte, lässt bis auf den Titel nichts im Gedicht den Vorgänger erahnen. Selbst dass sich Schiller und Meyer die gleiche Quelle teilen, legen die so unterschiedlichen Gedichte nicht nahe. Schiller, der wohl keine schriftliche Quelle des Sagenstoffes kannte, machte Nicola Pesce mit seiner Ballade in Deutschland erst richtig bekannt. Meyer kannte neben Schiller verschiedene ältere Quellen der Tauchersage und nennt den Namen von deren Protagonisten, macht aber einen großen Bogen um Schiller. Meyer, so vermutet Hans Zeller,120 lernte den Stoff bei seinen Studien zu den Hohenstaufen kennen, und zwar durch das Werk Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit von Friedrich von Raumer.121 In einem Kapitel über Friedrich den II. wird als Beispiel für dessen Wissbegierde die Geschichte des Sizilianers Nikola erzählt, der so gern im Wasser war, „daß ihn seine darüber zornige Mutter anwünschte: er möge nur dort Vergnügen finden und auf dem Lande nicht mehr ausdauern können“122 . Abgesehen von der Einführung der Mutter gleicht die von Raumer erzählte Anekdote der Kirchers: Kaiser Friedrich, der durch seine besondere Wissbegierde gekennzeichnet wird, hörte von den Erzählungen Nikolas’ über die Meerestiefen und wirft einen silbernen Becher vom Leuchtturm in Messina. Es ist hier also nicht eine einfache Klippe, sondern ein Leuchtturm der Wissenschaft, von dem sich der Taucher stürzt: Angezogen von der Belohnung wagt Nikola erst einen, schließlich einen zweiten Tauchgang, von dem er nicht zurückkehrt. Da der Taucher bei Raumer allerdings nur den Namen „Nikola“ trägt, muss Meyer noch andere Quellen benutzt haben. Im oben zitierten Briefwechsel zwischen Schiller und Herder bzw. Goethe wird der Taucher als „Nicolaus Pesce“ bezeichnet und im Mundus subterraneus Kirchers heißt er „Nicolaus Pescecola“ bzw. „Nicolaus Pisce“123 . Meyer selbst war sich über die Namensschreibung zunächst nicht sicher. In den verschiedenen Vorstufen und Fassungen des Gedichtes erwägt er neben der Schreibung „Nicola“ auch „Nicolas“, „Niklaus“ und „Niclas“.124

120 Hans Zeller, „Apparat zu den Abteilungen III und IV“. In: HKA 3, S. 355. 121 Friedrich von Raumer, Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit. 6 Bde. Leipzig 1823-1825. 122 Zitiert nach: Meyer, HKA 3, Apparat, S. 356. 123 Zitiert nach: Leitzmann, Quellen, S. 3. 124 Vgl. Meyer, HKA 3, Apparat, S. 354.

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Zeller vermutet, dass Meyer auch gar nicht den in der ehemaligen Stadtbibliothek Zürich vorhandenen Originaltext Kirchers benutzte, sondern die Quelle aus einem der verbreiteten Schillerkommentare kannte.125 In Betracht kommt hier vor allem Heinrich Viehoffs Buch Schiller’s Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen und Quellen zurückgeführt,126 in dem Kirchers Text in deutscher Übersetzung wiedergegeben wurde. Das 19. Jahrhundert war bereits in einer Phase der Intertextualität angekommen, die sich nicht mehr nur auf literarische Prätexte, sondern bereits auf die dazu fabrizierte Sekundärliteratur bezog. Ausführlich diskutiert Viehoff den Ausdruck der „purpurnen Finsterniß“, mit dem Schiller in Strophe 19 die Tiefe bezeichnet127 und der schon Körner irritiert hatte.128 Viehoff führt den Begriff auf Homer zurück, weist aber auch darauf hin, dass Schiller die optischen Beobachtungen des Meerwassers wohl Goethe verdanke. In seiner Farbenlehre bemerkt dieser: „Der beleuchtete Teil der Wellen erscheint grün in seiner eigenen Farbe, und der beschattete in der entgegengesetzten purpurnen.“129 Die „Farbenlust“ (V. 11) von Meyers Nicola Pesce, vielleicht rührt sie daher. Dank Viehoffs Kommentar wusste Meyer außerdem bereits, dass die Beschreibung der Tiefe bei Schiller der Charybdis Homers sowie der Anschauung einer Mühle zu verdanken war130 und kannte die Herkunft der Schillerschen Tiefenbewohner, dieser Salamander, Molche und Drachen und die Diskussion darum ebenso wie Viehoffs Deutung der Unbestimmtheit in der Beschreibung der Tiefenbewohner als Stilmittel des Erhabenen.131 Viehoffs Auslegearbeit ist ganz dem besseren Verständnis des Schillerschen Gedichts gewidmet. Sein Kommentar stellt im Großen und Ganzen eine Verbeugung vor Schiller dar, die im Kleinen tadelt (z.B.

125 Vgl. ebd., S. 357. 126 Heinrich Viehoff, Schiller’s Gedichte, S. 17-20. 127 „Denn unter mir lags noch, Bergetief, In purpurner Finsterniß da, Und obs hier dem Ohre gleich ewig schlief, Das Auge mit Schaudern hinunter sah, Wies von Salamandern und Molchen und Drachen Sich regte in dem furchtbaren Höllenrachen.“ (Schiller NA 1, S. 375, V. 109114). 128 Vgl. Viehoff, Schiller’s Gedichte, S. 45-48. 129 Goethe, WA Abt. II, Bd. 1, S. 27. 130 Vgl. Viehoff, Schiller’s Gedichte, S. 26f. 131 Vgl. ebd., S. 35-40.

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was bestimmte Reime oder den nicht immer folgerichtigen Tempusgebrauch betrifft), um den Dichter im Allgemeinen zu würdigen und gegen jede Kritik zu verteidigen. Eine weitere mögliche Quelle Meyers verhält sich zu Schillers Taucher ebenfalls kommentierend, allerdings in eher kritischer Absicht: In Ludwig Tiecks 1835 erschienener Gesprächsnovelle Der Wassermensch132 unterhalten sich verschiedene Repräsentanten des Bildungsbürgertums über eine von einem Teil der Gruppe eben besuchte Rezitation von Schillers Taucher. Diskutiert wird, in deutlicher Anlehnung an Lessings Thesen zum Laokoon, die Frage der Darstellbarkeit des Meeresschlundes, außerdem werden der Schillerschen Ballade verschiedene intertextuelle Neuentwürfe an die Seite gestellt. Und auch hier wird die Quellenfrage ausführlich erörtert: Die verschiedenen Quellen zeichneten, so die Kritik, ein ganz anderes Charakterbild des Tauchers, als es Schillers unbedarftem Knappen entspreche, und es sei unverständlich, weshalb Schiller einen „schwachen Jüngling“ statt eines erfahrenen, abgehärteten Schwimmers in die Tiefe schicke.133 Abgeschlossen wird die Diskussion über Schillers Taucher dann mit der Bemerkung des Rats Eßling: „Die Begebenheit bleibt immer anziehend, und die Phantasie arbeitet nach dem Schlusse das Wunderbare weiter aus. Es könnte vielleicht einem andern Dichter vorbehalten seyn, sie glücklich endigen zu lassen?“134 Dieser Aufforderung scheint Meyer nachgekommen zu sein. In seinem Gedicht hat er aus den sekundären Kommentaren zu Schiller eigene Konsequenzen gezogen. Nicola Pesce ist keine Verbeugung vor dem geschätzten Vorgänger, keine Fortführung oder Reaktualisierung von dessen Projekt, aber auch keine Kritik, sondern der Versuch, eine konsequente Alternative zu Schiller zu bieten, und dies vor allem, was das Konzept und die Bewertung von Tiefe und Oberfläche angeht. Die Vorgeschichte als Epilog Zunächst gestaltet Meyer einen ganz anderen Aspekt der Sage als Schiller, und zwar das, was in den Quellen als Vorgeschichte des Tauchgangs erscheint. Das Schwimmen Nicolas’ auf dem Meer, sein Kampf in den See-

132 Vgl. Ludwig Tieck, Der Wassermensch. In: Ders., Schriften. Bd. 21,5: Gesammelte Novellen. Berlin 1853, S. 3-62. 133 Vgl. ebd., S. 21f. 134 Ebd., S. 26.

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stürmen und die Ernährung von rohem Fisch: all das gehört zu den Dingen, die König Friedrich bei Kircher über Nikolaus Pesce hört. Doch Meyers Sonett erzählt keine Vorgeschichte zu Schillers Tauchgang und nichts darin weist auf einen tragischen Weitergang der Handlung voraus. Die Perspektive des Gedichts ist durchgängig die des Rückblicks, der aber nur dazu dient, die gegenwärtige Situation zu bestätigen: „Ein halbes Jährchen hab ich nun geschwommen / Und noch behagt mir dieses kühle Gleiten“ (V. 12). „Was machte mich zum Fisch?“ (V. 9), fragt das Ich des Gedichtes, doch die angegeben Gründe für die ungewöhnliche Situation, in dem es sich befindet, erklären wenig: „Ein Mißverständnis / Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntnis. / Mein Wanderdrang und meine Farbenlust“ (V. 9-11) Vage und engimatisch sind diese Angaben vielleicht deshalb, weil es darauf nicht ankommt. Die Gründe für seine Wahl der Daseinsform scheinen, metaphorisch gesprochen, in der Tiefe zu liegen. Die Vergangenheit ist hier abgetan – was geschildert wird, ist ein Zustand, und keine Geschichte. Zentraler Begriff ist deshalb das gesperrt gedruckte „b l e i b “ des letzten Verses: „Ich b l e i b ein Fisch und meine Haare triefen!“ (V. 14) Dass der Sprecher dieser Zeilen sich verleiten lassen könnte, seinen Ort an der Wasseroberfläche aufzugeben und in die Tiefe zu tauchen, sei es um einen goldenen Becher, sei es, um die Hand einer Königstochter zu erwerben, scheint schon allein deshalb undenkbar, weil das Gedicht keine andere Perspektive in die Zukunft entwirft als das statische „b l e i b “. Ein sicheres Ufer ist hier nicht in Sicht. Meyers Sonett situiert sich also nicht als Vorgeschichte des Schillerschen Plots – im Gegenteil. Viel mehr spricht dafür, dass Meyer an Schillers Taucher mit einer Fortsetzung anknüpft. Schillers letzte Balladenstrophe lautet: „Wohl hört man die Brandung, wohl kehrt sie zurück, Sie verkündigt der donnernde Schall, Da bückt sichs hinunter mit liebendem Blick, Es kommen, es kommen die Wasser all, Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder, Den Jüngling bringt keines wieder.“135

135 NA 1, S. 376, V. 157-162.

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Der Blick bleibt nach unten gerichtet, sieht aber nicht mehr in den Schlund der Charybdis hinein, sondern auf die schäumende Wasserfläche. Was sich darunter verbirgt, bleibt unklar, das Ende bleibt offen. Denn ausgesprochen wird hier nicht, dass der „Jüngling“ ertrunken sein muss, dass ihn die Ungeheuer der Tiefe verschlungen haben oder er mit dem Strudel in die bodenlose Tiefe gezogen wurde. Gewiss legt Schillers Ballade dies nahe, ebenso wie die anderen möglichen Quellen Meyers. Auch diese enden ähnlich wie Schiller: Sowohl bei Kircher als auch bei Raumer kommt Nicola Pesce nicht mehr zum Vorschein. Könnte er aber nicht auch, so ist aus der Perspektive von Meyers Gedicht zu fragen, einfach davongeschwommen sein? Das rätselhafte „Mißverständnis / Mit meinem Weib“ (Meyer, V. 9f) scheint auf einen möglichen Grund für die Flucht des Fischmenschen ins Wasser anzuspielen. Das Motiv lässt sich auf keine der Sagenquellen zurückführen, kommt aber in Tiecks Wassermensch vor, und könnte von hier aus Eingang in Meyers Gedicht gefunden haben. Bei Tieck buhlen zwei junge Herren um die Gunst von Lucilie, der Tochter des Hauses. Die ad hoc erfundenen Varianten, die sie zur Sage um den Wassermenschen zum Besten geben, sind ihr Einsatz in der Brautwerbung, was in einer Welt, die völlig in literarischen Termini beschrieben wird, auch kein Wunder ist.136 Der eine, Florheim, ein fanatischer Freiheitskämpfer und Poet, dem deutlich die Züge Heines eingeschrieben sind, ist zufälligerweise bereits mit Lucilie verlobt. Der andere, Eßling, „ein junger wohlgebildeter Mann“137 und „Rath“, wäre dagegen ein fleißiger und mit allen bürgerlichen Tugenden ausgestatteter, idealer Schwiegersohn. Im Verlauf der Novelle neigt sich die Gunst Luciliens immer mehr Eßling zu, und Florheim, der vor allem die freiheitskämpferischen Momente der Tauchersage in den Vordergrund gestellt sehen will, gerät zunehmend ins Hintertreffen. Zuletzt löst er selbst die Verlobung, die sich als großes Missverständnis entpuppt: „Ich glaubte, Sie verständen und würdigten meine Gesinnung“, wirft Florheim Lucilie vor, „Sie wären von demselben Geiste durchdrungen, und würden

136 So lautet der letzte Satz der Novelle, der die Reihe von literarischen Termini zur Bezeichnung der erzählten Wirklichkeit zum Abschluss bringt: „Und Alles wird sich finden, und so auch das, daß diese Familiengeschichte sich wieder gewissermaßen zu einer Novelle ausbildet.“ (Tieck, Der Wassermensch, S. 62). 137 Ebd., S. 8.

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als künftige Freiheitsheldin Ihre Hand als meine baldige Verlobte, Braut und Gattin, mir feierlich reichen – und Sie“138 . Darauf erwidert Lucilie: „Ich begreife nicht, wie Sie mich so falsch haben deuten können. [...] Ich hielt bisher Ihre anmaßenden Reden mehr für kindische Eitelkeit, um paradox zu erscheinen, da ich aber sehe, daß es Ihnen Ernst damit ist, erschrecke ich vor dieser kalten Schwärmerei.“139 Nachdem der enttäuschte Liebhaber dann gegangen ist, allein, nach Paris, bemerkt Luciliens Mutter: „Wissen Sie, woran mich der junge Mann wieder erinnert hat? An den Wassermenschen, den Francesco, oder wie er heißt. Der hatte auch keine Ruhe, bis er in das Meer gerieth [...].“140 Meyers Nicola könnte also auch eine Variante von Florheim darstellen, der, missverstanden von seiner Verlobten und enttäuscht von der Liebe, sich der „kalten Schwärmerei“ ergeben hat und seine Ruhe, wie die Mutter bemerkte, erst im Rückzug vom Sozialen und im rastlosen Umherschwimmen im Meer gefunden hat. Fläche statt Tiefe Doch vielleicht sind solcherlei Spekulationen auch fehl am Platz: Nicola Pesces Vergangenheit ist vergangen, das Missverständnis nicht mehr zu verstehen: „Fast bis zum Frieren kühlt’ ich mir die Brust“ (V. 13) heißt es, und welche Gefühle diese Brust einmal erhitzt haben mögen – sie sind ohne Bedeutung für die Gegenwart. Das Schwimmen reinigt von aller Fleischeslust, es ist eine Fastenzeit, die der Seele „frommen“ (V. 4) soll: der christliche Hintergrund, der hier aufgerufen wird, lässt auch den Fisch (in Bezug auf Mt. 4,19) als Symbol für den Gläubigen, wenn nicht gar als Symbol für Christus selbst erscheinen.141 Was die Intentionen für die Wahl der Daseinsform des Schwimmers betrifft, so ist Meyer in den Vorstufen des Gedichts noch deutlicher. Im ersten erhaltenen Versuch von 1881 lauten die letzten beiden Strophen:

138 Ebd., S. 60. 139 Ebd., S. 61. 140 Ebd., S. 62. 141 Vgl. den Eintrag „Fisch“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. von Kurt Galling u.a. Band 2. Tübingen 1958, Sp. 968.

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„Was machte mich zum Fisch? Ein Mißverständniß Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntniß. Der Meeresgrund, das Himmelsrund mit ihren Prachtvollen Farben! Meine Menschenbrust, Die [S]chwüle, abgekühlt bis fast zum Frieren! Der nahen Todestiefe kühne Lust.“142

Hier lassen sich Intentionen für die Wahl des Schwimmerlebens erahnen, es ist die Rede von ,Schwüle‘ und von der Lust an der Tiefe. Stärker als die letzte Fassung verweist diese erste auf einen anderen Prätext für Meyers Gedicht: Goethes Ballade Der Fischer. Nicht nur, dass auch dort, ähnlich wie in Schillers Taucher „Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll“ – auch der Fischer sitzt noch daran, „kühl bis ans Herz hinan“143. Allerdings nur, bis das Weib aus dem Wasser auftaucht, dann ist es vorbei damit. Sowohl der Grund des Wassers als auch das Himmelsrund werden von dem aus dem Wasser hervorrauschenden Weib zur Überzeugung des Fischers angeführt: „Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist, So wohlig auf dem Grund, Du stiegst herunter wie du bist, Und würdest erst gesund. Labt sich die liebe Sonne nicht, Der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenathmend ihr Gesicht Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, das feuchtverklärte Blau? Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Thau?“144

142 Zitiert nach: Meyer, HKA 3, Apparat, S. 354. 143 Goethe, „Der Fischer“ In: WA Abt. II, Bd. 1, S. 169, V. 1 u. V. 4. 144 Ebd., V. 13-24.

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Der Fischer endet ganz ähnlich wie Schillers Taucher: auch er verschwindet: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / Und ward nicht mehr gesehn.“145 Während in der ersten Fassung von Meyers Gedicht noch der Grund des Meeres und der Himmel erwähnt werden, so werden diese vertikalen Ausblicke in der endgültigen Fassung gekappt. Alles wird auf die Wasseroberfläche reduziert, auf der sich die prachtvollen Farben des Himmelsrundes brechen und wo die Lust der Tiefe durch den in die Horizontale gerichteten Wanderdrang ersetzt wird. Die physiologischen Veränderungen, die in vielen der Quellen erwähnt werden (bei Kircher wachsen Nicolas Schwimmhäute zwischen den Fingern und seine Lunge weitet sich) werden durch psychologische ersetzt.146 Die „Todestiefen“ üben keine Anziehungskraft mehr aus: längst hat Nicola Pesce die Furcht über ihnen verlernt. Zum Beweis seiner Männlichkeit muss Nicola nicht mehr tauchen – er kann ihn an der Oberfläche erbringen, im Streit mit den Wellen im Sturm. Die Wellen bringen immerhin eine minimale Dreidimensionalität in die glatte Fläche des Wassers: die sich türmenden Wogen stellen den einzigen Ausblick des Sonetts nach oben dar, das sich sonst an die glatte Fläche hält. Die Gefahr geht hier nicht von der Tiefe aus, sondern von einer Bewegung der Wasseroberfläche. Ideal ist die Ruhe. Das unruhige Versmaß, das Schillers Taucher kennzeichnete, ist hier zum absolut gleichmäßigen Auf und Nieder fünfhebiger Jamben gezähmt, die nichts, nicht einmal die Erwähnung von Wetterleuchten und Todestiefen aus der Ruhe bringen kann. Nur ein einziges Mal wird das Schema unterbrochen: In den Terzinen enden die Verse auf „-lust“ und „Brust“ mit männlicher Kadenz und machen durch das abrupte Abbrechen dieser Verse nur umso deutlicher, dass die Zeit des Verlangens und der starken Empfindungen vorbei ist. Bei Schiller war der Taucher noch „Unter Larven die einzige fühlende Brust“ gewesen, bei Meyer werden die Empfindungen dieser Brust nun merklich abgekühlt: „Fast bis zum Frieren kühlt ich mir die Brust“ (V. 13). Zur ruhigen Grundstimmung des Gedichts tragen weiterhin auch die dunklen Vokale bei: die Os und Us, die vor allem den zweiten Vers kennzeichnen, dämpfen die Gefährdung durch Meeresstürme durch ihren ruhigen Grundton. Zu diesem tragen auch die weichen Konsonanten wie w, m

145 Ebd., V. 31f. 146 Vgl. Heinrich Henel, The poetry of Conrad Ferdinand Meyer. Madison 1954, S. 146.

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oder f bei, alles labiale oder labiodentale Laute, die ganz vorne im Mund artikuliert werden und die Tiefe des Schlundes nicht erreichen. Nicola Pesce ist ein Narziss, der nicht in dem Wasser ertrunken ist, in das er sich stürzte. Der sich, anders als Goethes Fischer, die nötige Kühle der Brust erworben hat und nun die Lockungen des Weiblichen, die Lock– ungen der Tiefe überwunden hat. „Für Psychologen ist der Text verlock– end“, schreibt Peter von Matt, „ein kleines narzißtisches Lehrstück. Nur liegt die Diagnose in diesem Fall ein bißchen zu sehr auf der Hand. Die labile Schwebe, die der Schwimmer findet zwischen dem Ersticken an den Menschen oben und dem Ertrinken in der Tiefe unten, ist mehrdeutig, aus einem Punkt allein nicht auszulegen.“147 Die Fläche des Wassers bietet keinen „Punkt“, von dem aus das Geschehen in irgendeine Perspektive zu rücken wäre. Mit seinen Schwimmbewegungen durchkreuzt Nicola Pesce die Wasserfläche selbst ständig, hat Anteil an einem Bereich unter und an einem über ihr. Und auch, ob er schwimmend noch, wie Narziss, sein Spiegelbild genießen kann, ist fraglich. Sigmund Freud ist im ersten Kapitel von Das Unbehagen in der Kultur der Frage nach dem „ozeanischen Gefühl“148 nachgegangen, das Romain Rolland ihm als Quelle aller religiösen Empfindung genannt hatte. Es sei ein „Gefühl von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem“149. Freud, der bekennt, dieses Gefühl bei sich nicht entdecken zu können,150 führt es auf den primären Narzissmus im Seelenleben des Säuglings zurück, der noch keine klare Grenze zwischen sich und der Außenwelt ziehen kann: „Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach.“151 Vielleicht ist die Stimmungslage von Meyers Fischmenschen mit dem „ozeanischen Gefühl“ zu

147 von Matt, Verdächtige Pracht, S. 127. 148 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders., Studienausgabe Bd. IX, S. 197-270, hier S. 200. Vgl. dazu auch Klaus Theweleit, Männerphantasien 1. Frankfurt a.M. 1977, S. 260: „Freud will nach oben; diese ganze Ozeanien-Geschichte ist ihm irgendwie unter Wasser, dunkel und bedrohlich.“ 149 Freud, Unbehagen, S. 197. 150 Vgl. ebd., S. 198. 151 Ebd., S. 200.

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beschreiben, der ganz in seinem Element aufzugehen scheint – sofern man „Umwelt“ hier auf das Element, nicht auf die Menschen bezieht. Sein Gleiten und passives Getragenwerden zumindest könnte man als Hingabe an das Wasser deuten. Die Rückkehr eines Menschen ins Wasser ist phylogenetisch wie ontogenetisch eine Regression in ein älteres Entwicklungsstadium. Freud distanziert sich von diesem Gefühl ausgerechnet mit einem Zitat aus Schillers Taucher: „Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht.“152 Dass derjenige, der dies in Schillers Ballade ausspricht, gleich wieder in den Ozean zurückkehren wird, lässt Freud an dieser Stelle allerdings außer Acht. Emil Staiger hat unter dem Titel „Das Spätboot. Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik“153 einige von dessen Gedichten interpretiert, für die sich seither der Oberbegriff „Spätbootgedichte“ eingebürgert hat. Es handelt sich dabei um Gedichte wie Eingelegte Ruder, Im Spätboot, Schwüle, Lethe oder Die toten Freunde. Meyers Sonett Nicola Pesce gehört nicht dazu, vielleicht deshalb, weil in den von Staiger behandelten Gedichten nicht geschwommen wird, sondern ein Boot benutzt, mit dem man meist den Zürichsee anstatt des offenen Meeres überquert. Die Fahrt auf dem Wasser ist, wie Staiger darlegt, stets als Todesfahrt konzipiert, die von allen Seelenregungen erlöst: „Nur während dieser Fahrt auf dem nächtlichen See ist alles Verlangen gestillt.“154 Die Gedichte kennen, wie Nicola Pesce, keine Landung an festem Ufer, die einer Rückkehr ins Leben gleichkäme, gehen aber auch nicht unter, denn, so Staiger, „der Untergang wäre ein Tod im Tod und höbe die ganze Symbolik auf“155 . Das nächtliche Wasser ist bereits das Todesreich, auf dem das Schiff ruhig dahingleitet. Die Tiefe des Wassers ist die Tiefe der Vergangenheit, in der die Toten ruhen. Staiger verweist in diesem Zusammenhang auf Meyers Mutter, die den Tod im See gesucht hatte. Die Angst, sie könne ihn nachziehen, habe Meyer, so Staiger, zeitlebens nicht losgelassen.156

152 Zitiert nach ebd., S. 205. 153 Emil Staiger, „Das Spätboot. Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik“. In: Ders., Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 21957, S. 239-273. 154 Ebd., S. 243. 155 Ebd. 156 Vgl. Staiger, Spätboot, S. 248.

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In Nicola Pesce findet sich nichts von dieser Angst, der schwermütigen Stimmung, der Dunkelheit der Szene und der Schwüle der Nacht. Die Tiefe des Todes meidet Meyer in diesem Gedicht. Doch das Übersetzen zum Totenreich wird darin in einen Dauerzustand transformiert. Dem passiven Dahingleiten wird in Nicola Pesce das Ideal einer anderen Bewegung an die Seite gestellt. Immer wieder wird der passive Dämmerzustand, in dem Nicola Pesce sich vom Wasser treiben lässt, abgelöst von einem Schwimmen aus eigener Kraft und einem aktivem Streit mit den Wellen, der die Furcht vor den Todestiefen überwunden hat. Der Preis für das Vermeiden der Tiefe ist zwar der Rückzug vom Sozialen, die Kälte und Passivität des Schwimmers. Doch die Passivität Nicola Pesces deutet das Gedicht als Souveränität. Der Fischmensch als Dichter Meyers Umwertung der Tauchersage umfasst nicht nur eine narzisstische Aufwertung der Oberfläche, sondern hat poetologische Implikationen. Diese treten umso deutlicher hervor, vergleicht man Nicola Pesce mit einer anderen Vorstufe des Gedichts: der (von Meyer nicht veröffentlichten) Ballade Der Schwimmer von 1860,157 deren Grundkonstellation der von Nicola Pesce zunächst sehr ähnlich ist: „Das Himmelblau, es überquillt, Und weht ein Lüftchen, ist es mild, Das Meer ist ohne Wogen. Wer mag auf offnem Meer allein Der unerschrockne Schwimmer sein, Der Wanderer verwogen?“ (Meyer, HKA 6, S. 69)

Es könnte Nicola Pesce sein – doch es ist ein anderer, der hier schwimmt. Der Untertitel nennt ihn: es ist Camoens, der portugiesische Nationaldichter, der im 16. Jahrhundert lebte und die Lusiaden (1572) verfasste, eine Verherrlichung der portugiesischen Nationalgeschichte. In diesem Epos erzählt Camoens selbst die Anekdote, die Meyer in seiner Ballade gestaltet: bei einer Seereise erlitt er Schiffbruch, konnte sich und das noch unvollendete Manuskript der Lusiaden aber retten, indem er es mit einer Hand über

157 Meyer, HKA 6, S. 69-73.

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das Wasser hielt, während er mit der anderen schwamm: „Die Linke hebt aus Meeresgrün / Die Rolle hoch und hält sie kühn / Und scheint sie froh zu schwingen.“ (V. 10-12) Meyers Schwimmer stellt nebenbei noch weitreichende Überlegungen an, die seine Situation auf dem Wasser mit der der seefahrenden portugiesischen Nation parallelisieren: „Ich sang ein Volk, das, heil und jung, Nicht schaudert vor der Wanderung Befremdenden Gefahren, Und das auf seiner fernen Fahrt Dem Vaterland das Herz bewahrt Und opfert seinen Larven, Und immer wagt und unternimmt Und das durch alle Meere schwimmt, Mit Schiffen Reiche gründet, Und dem ein unvollendet Haus, Der Väter Ruhm, es baut es aus Und hoch die Kuppel ründet.“ (V. 97-108)

Die Situation des Dichters gleicht dem des Volkes auf dem Meere, sein Ort ist ein Heterotop, er lebt in einem Zwischenzustand, ohne festen Boden unter den Füßen. Meyer zitiert hier den klassischen Topos der dichterischen Seefahrt, dessen Tradition bis zu Pindar zurückreicht.158 Der Dichter klebt nicht an der in Vers 92 genannten Scholle und scheut das Wandern nicht (V. 98). Das Dichten wird mit dem Gründen von Reichen auf dem Meer, „mit Schiffen“ (V. 105) parallelisiert: denn am Bau der Kuppel des Hauses für der Väter Ruhm ist natürlich auch der Dichter beteiligt. Er gleicht nicht nur den von ihm besungenen Helden, sondern verkörpert in seiner Existenz als Dichter die gesamte portugiesische Nation. Doch anders als Nicola Pesce hat der Schwimmer Camoens ein festes Ziel vor Augen: das rettende Ufer, das er nicht nur für sich, sondern vor allem für sein Manuskript herbeiwünscht: „Er legt sich auf die Fläche hin, / Er streckt den Arm und ründet ihn, / Das Ufer zu erringen“ (V. 7-9). Die

158 Vgl. dazu Rudolf Drux, „Des Dichters Schiffahrt“. In: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979, S. 38-51.

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Insel, die alsbald ins Blickfeld des Schwimmers rückt, sie gehört wiederum in die Lusiaden selbst: Im vorletzten Gesang werden dort die portugiesischen Helden von der Venus für ihre Tapferkeit durch den Aufenthalt auf einer Insel im Indischen Ozean belohnt, wo frische Quellen sprudeln und fruchtbeladene Bäume sprießen.159 Bei Meyer gehören diese ins Reich der Fiktion – schon bevor der Schwimmer die rettende Insel erreicht, kündigt er an, sie als Paradies zu beschreiben: „Und du, am Ziele meiner Bahn, Ersehntes Eiland, komm heran Dem Tode mich zu rauben! Und wie du gastlich näher rinnst, Mit meinem lieblichen Gespinnst Will ich dich überlauben. Ich wecke Quellen überall Und Bäche stürzen Fall an Fall Durch deine nackten Schluchten; Die schönsten Nymphen ewig jung Geb’ ich dir zur Bevölkerung In deine klaren Buchten.“ (V. 115-126)

Er verspricht, die Insel, die ihn selbst retten soll, zum Schauplatz der Rettung der von ihm besungenen Helden zu machen: „Ein weisses Blatt ist noch gespart, Da sollst du meine Heldenfahrt Mit dichtem Grün verschränken, Und meine Schiffer sieggekrönt, Du sollst sie, wunderbar verschönt, Bewirthen und beschenken.“ (V. 127-132)

Doch am Ende des Gedichts offenbart der Vergleich die Grenzen eines schwimmenden Dichtertums ebenso wie eines schwimmenden Volkes: Wer „mit Schiffen Reiche gründet“ (V. 105) tut dies nicht auf dem Meer, son-

159 Vgl. Meyer, HKA 5.1., Apparat, S. 18f.

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dern durch eine Landnahme. Und so reicht es auch nicht, wenn der Dichter auf dem Wasser die Taten der Portugiesen besingt. Die Unterscheidung Wasser / Land entspricht der von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: die Schriftrolle Camoens’ muss ans Land gerettet werden: sie kann auf dem Wasser nicht dauerhaft bestehen. Meyer hat dieses Gedicht nicht veröffentlicht, vielleicht deshalb, weil er sich an diesem Widerspruch und der Unvereinbarkeit von Wasserexistenz und bleibender Literatur gestört hat – jedenfalls hat er den Stoff dann auf zwei Gedichte verteilt und umgearbeitet zu den Gedichten Camoëns und Nicola Pesce: 1875 veröffentlichte Meyer in den Neuen Monatsheften für Dichtkunst und Kritik eine Neufassung des Schwimmers unter dem Titel Camoëns,160 das um jene Passagen gekürzt wurde, die an Nicola Pesce erinnerten. Gegenüber dem Schwimmer umfasst Camoëns nur ein Viertel des Umfangs. Im Rückblick aus dem Armenspital, in dem der historische Camoëns tatsächlich starb, wird hier die Rettung des Manuskripts erzählt, und zwar doppelt: zunächst konfrontiert ein, in derselben Kammer wie der Dichter liegender, „Schüler aus Coimbra“ diesen damit, was ihm zu Ohren gekommen ist, nämlich, „daß Ihr, kämpfend in der Brandung, Mit der Rechten kühn gerudert, Doch in ausgestreckter Linken, Unerreicht vom Wellenwurfe, Hieltet Eures Liedes Handschrift?“ (V. 13-17)

Dann wird die gleiche Geschichte noch einmal aus dem Munde Camoëns wiederholt, der die Anekdote vom Schiffbruch als Allegorie für den Sorgen und Alltagsnöten ausgesetzten Dichter entlarvt: „Wider Bosheit, Neid, Verleumdung Kämpft’ ich um des Tages Notdurft Mit dem einen dieser Arme. Mit dem andern dieser Arme Hielt ich über Tod und Abgrund In des Sonnengottes Strahlen

160 Meyer, HKA 1, S. 329f.

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Mein Gedicht, die Lusiaden, Bis sie wurden, was sie bleiben.“ (V. 28-35)

Der unsterbliche Ruhm des Dichters, der bis zu einem kleinen „Schüler“ vordrang, steht in deutlichem Kontrast zu dem Elend im Armenspital. Erfolg im Reich der Literatur und Erfolg auf Erden stehen hier in schärfstem Kontrast: Was bleiben wird, sind die Lusiaden einerseits, der Ruhm des Dichters andererseits. In schriftlicher und mündlicher Form werden sie den sterblichen Körper des Dichters überdauern. Während in Camoëns der Schiffbruch des Dichters Allegorie ist für die Existenznöte des Schriftstellers, so steht das Schwimmen in Nicola Pesce im positiven Sinne für dessen Existenz: Ungebunden und unverletzlich gleitet dieser dahin, ohne von den Dingen unter und über ihm in Bedrängnis gebracht zu werden. Wie sehr aber das Bild des Dichters Camoens noch hinter Nicola Pesce steht, zeigt die Wahl der Sonettform (die Meyer sonst nur für ein weiteres Gedicht, Die Krypte verwendete): Denn der historische Camoens verschaffte sich nicht nur mit den Lusiaden den Ruhm eines portugiesischen Nationaldichters, sondern galt außerdem als größter Sonettdichter seines Landes. Daneben stellt die Sonettform auch eine historische Referenz dar: schließlich ist das Sonett ursprünglich sizilianischer Herkunft. Es entstand um 1230 am Hof Kaiser Friedrich des II. in Sizilien, wo Meyers Quelle Raumer die Sage um Nicola Pesce verortete. Was in Meyers Sonett allerdings nur schwach ausgeprägt ist, ist die typische dialektische Zweiteilung der Gedankenführung. Es ließe sich vielleicht gerade noch bemerken, dass die Quartette auf das „halbe Jährchen“ im Wasser zurückblicken, während die Terzette noch dahinter zurückgehen und nach der Motivation für die Wahl dieser Daseinsform fragen. Der letzte Vers zieht die conclusio, und das gleich mit graphischer Hervorhebung: „Ich b l e i b ein Fisch und meine Haare triefen“. Bewegung und Stille werden in Einklang gebracht, das Treiben auf dem Wasser als ein Zustand der Ruhe und Passivität definiert. Max Nußberger wies schon 1919 darauf hin, dass das Gedicht ein poetologisches Thema zum Inhalt habe: „Es handelt vom dichterischen Menschen.“161 Während der Dichter noch im 18. Jahrhundert als „der fühlende

161 Max Nußberger, Conrad Ferdinand Meyer. Leben und Werke. Frauenfeld 1919, S. 159.

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Mensch schlechthin“ gegolten habe, markiere der Realismus einen tiefen Einschnitt im Bild des Dichters: „Im Zeitalter des Realismus wird der Dichter ein fühlloser Zuschauer, der unergriffen das Schauspiel des Lebens an sich vorüberziehen läßt. Er ist sein Bildner, weil er nicht dem triebhaften Dasein verfällt, in dem die andern dumpf dahinstürmen, und wird sein unerbittlicher Richter, weil er sich die Kühle des Urteils, den Blick auf den Ausgang bewahrt.“162 Nußberger fällt dieses Urteil aus Sicht der 20er Jahre, in denen Anthropologien entwickelt wurden, die Helmut Lethen als „Verhaltenslehren der Kälte“ bezeichnet hat.163 Es wäre jedoch überlegenswert, ob sich dafür nicht Vorläufer im 19. Jahrhundert finden ließen. Neben Meyer wäre hier auch an Fontane und seinen gefrorenen Stechlin zu denken. Es ist eine Poetik des Verzichts, die Meyer in seinem Nicola Pesce entwirft, eine Poetik der Abkühlung und Abhärtung, man könnte auch sagen: des Reizschutzes. Der Zustand des Schwimmers ist eine auf Dauer gestellte Fastenzeit, sein Verbleiben an der Oberfläche ein Rückzug aus den Gefilden des Sozialen. Sieht man Nicola Pesce trotz aller Unterschiede jedoch in einer Reihe mit den „Spätbootgedichten“, so scheint es allerdings weniger ein Zustand zu sein als ein Ideal, das Meyer hier zeichnet. In Nicola Pesce wird das Wunschbild eines Dichtertums entworfen, das unberührt durch das Reich der Sprache gleitet. Meyers Gedicht demonstriert eine Verweigerungshaltung gegen das Geniekonzept des Dichtertums, wie es Schillers Taucher zugrunde liegt: Stand dort die Metaphorik der Tiefe für Bedeutungsüberschuss und ‚Geist‘ des Kunstwerks, so wird hier bewusst Verzicht darauf geleistet. Weder wird Bedeutung hier (metaphorisch) aus der Tiefe geschöpft, noch muss man Gefahren eingehen, um sie zu erringen. Mit seinem Sonett kehrt Meyer Schillers modernes Tiefenkonzept von Literatur um. Anstelle der vertikalen Achse, die den Taucher strukturiert, setzt er die horizontale Fläche. Munter lässt sich Nicola Pesce an der Oberfläche treiben, statt in die Tiefe zu tauchen. Wenn Meyers Oberflächenästhetik auf dem Versuch der Überwindung von Tiefe basiert, so bleibt das Ausgeschlossene präsent: als Vergangenheit, mit der der Schwimmer abgeschlossen zu haben meint, als Todestie-

162 Ebd. 163 Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994.

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fen, die weiterhin unter der Wasserfläche lauern. Der Kampf mit den Wogen, die Nicola Pesce immer wieder aufnimmt, kann jederzeit verloren werden: die Gefahr des Untergehens und Versinkens bleibt bestehen. Die Todestiefen, über denen Nicola Pesce die Furcht verlernt hat, lauern nach wie vor unter der Oberfläche, so munter man auch darüber hinweg schwimmt. Die Tiefe hat bei Meyer einen ganz anderen Stellenwert als bei Schiller. Hatte dieser ,Tiefe‘ zum ästhetischen Schlagwort erhoben, zum Kennzeichen von moderner Kunst und Genie, so wäre das Meyersche Pendant dazu die Ferne, der unerreichbare Zielpunkt in der Horizontalen. Die vertikale Tiefe hingegen ist im Unterschied zu Schiller mit dem Index der Vergangenheit behaftet. Die Tiefe überwinden hieße also auch: der Vergangenheit entkommen, sich von der Tradition losmachen. Das gilt für den Fischmenschen im Gedicht ebenso wie für seinen Dichter: Als poetologisches Gedicht geht es in Nicola Pesce auch um den Umgang mit der literarischen Tradition, insbesondere um den Rückbezug auf Schiller, das übermächtige literarische Vorbild. Die Prätexte werden metaphorisch als Tiefe unter der Wasseroberfläche verhandelt. Auch darauf zielt Meyers Oberflächenästhetik: sie reflektiert den Umgang mit der literarischen Tradition als einer übermächtigen, lähmenden Todesmacht, die die Vitalität des dichterischen Subjekts bedroht. Mit Nicola Pesce versucht Meyer, sich freizuschwimmen. Gegen Schiller, der die Tiefe als genuines Kennzeichen seiner Geniekunst besetzt hat, hilft aus Sicht des späten 19. Jahrhunderts nur eins: sich tapfer an der Oberfläche zu halten.

Raum der Projektionen Romantische Durchblicke auf den Meeresgrund

Was bei Schiller gnädig bedeckt bleibt, wird in den folgenden beiden Texten sichtbar: der Grund des Meeres. So beherzt, wie der Taucher in die Charybdis springt, sind die Protagonisten von E.T.A. Hoffmanns Novelle Die Bergwerke zu Falun (1819/21) und Heinrich Heines Gedichtzyklus Die Nordsee (1826) allerdings nicht mehr – und das ist auch gar nicht nötig. Wie in vielen Texten der Zeit wird das Wasser hier als durchsichtig imaginiert. Reiseberichte um 1800 erwähnen entsprechend Blicke in die glasklaren Tiefen des Meerwassers, über denen das Boot zu schweben scheint: „Die Felsen fallen in gerader Linie ungeheuer tief ins Meer ab“, schreibt beispielsweise Jean Houel über die Küsten von Sizilien, „durch ihre weiße Farbe erkennt man sie leicht im Wasser des Meeres, das sehr dunkel wirkt, weil es tief ist, und weil es nach Norden im Schatten der Felsen liegt: Und da es vollkommen durchsichtig ist, gähnt unter dem Boot, das einen trägt, neben dem Fels eine Leere, ein Abgrund von grausiger Tiefe, über dem die Barke am Rand der glatten, senkrechten Wand, die keine Hilfe bietet, zu schweben scheint.“1

Die Literatur der Romantik erobert den Meeresgrund als neuen Raum und füllt ihn mit allerlei Phantasmen: versunkene Städte und Gärten, Gebirge 1

Zitiert nach: Alain Corbin, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840. Berlin 1990, S. 207. Jean Houels Reisebericht erschien 1782 unter dem Titel Voyage pittoresque des isles de Sicile, Malte et de Lipari.

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und Täler werden in der Tiefe sichtbar. Nicht zufällig sind die in der Romantik so beliebten Melusinen, wie in Friedrich de la Motte Fouqués Undine (1811), am Grund des Wassers beheimatet – mit ihrer gleichermaßen verführerischen wie verderblichen Anziehungskraft sind sie Personifikationen für das, wofür die Tiefe des Wassers oftmals steht. Verlockungen und Ängste lauern dort unten, die eigentlich dem Ich selbst entspringen. In Eichendorffs Novelle Eine Meerfahrt (entstanden 1835) beispielsweise blickt der Student Antonio von Bord des Schiffes, mit dem er auf Entdeckungsund Eroberungsfahrt gegangen war, ins windstille Wasser: „es war so klar, daß man bis auf den Grund sehen konnte, das Schiff hing in der Öde wie ein dunkler Raubvogel über den unbekannten Abgründen, ihm schwindelte zum ersten Mal vor dem Unternehmen, in das er sich so leicht gestürzt.“2 Dieser Schwindel ergreift auch die Protagonisten der folgenden beiden Texte. Ob das Wasser nun durchsichtig ist oder nicht: der Blick in die Tiefe ist gefährlich. Die Gefahr geht dabei nicht von dem aus, was man am Grund des Wassers sieht – es ist vielmehr die Projektion von Innerem in die Tiefe selbst, die in beiden Texten fatale Auswirkungen hat. E.T.A. Hoffmanns Novelle Die Bergwerke zu Falun stellt zunächst eine Bearbeitung eines der Lieblingsmotive der Romantik dar: des Bergbaus. Das Motiv ist in der deutschen Literatur so präsent wie in keiner anderen europäischen Literatur der Zeit, was Theodore Ziolkowski zum einen auf den biographischen Hintergrund der romantischen Schriftsteller zurückführt, die oftmals beruflich selbst mit dem Bergbau zu tun hatten, zum anderen in der, im Vergleich mit England, noch vorindustriellen Ausprägung des deutschen Bergbaus begründet sieht, die diesen Wirtschaftszweig besetzbar machte für die psychologische Symbolik der Erdentiefe als Seelentiefe, wie sie in fast allen romantischen Bergwerksdichtungen erscheint.3

2

Joseph von Eichendorff, Eine Meerfahrt. In: Ders., Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach u. Hartwig Schultz. Bd. 3, Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen II. Frankfurt a.M. 1993, S. 355-419, hier S. 358.

3

Theodore Ziolkowski, Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. München 1992. Im Kapitel „Das Bergwerk: Bild der Seele“, S. 2981, stellt Ziolkowski die Tiefenorientierung der Romantiker als Antwort auf die die Ästhetik des Erhabenen kennzeichnende Höhenfixierung ihrer Vorgänger dar: „Während die Dichter des 18. Jahrhunderts in England und in Deutschland

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E.T.A. Hoffmanns Variante des Bergwerkmotivs interessiert hier zum einen thematisch, da er den Bildbereich des Bergwerks mit dem des Meeres überblendet und daraus neue Konstellationen von Oberfläche und Tiefe gewinnt, zum anderen aber deshalb, weil er die Geschichte des jungen Bergmanns als das scheiternde Experiment erzählt, das in die Tiefe Projizierte wieder an die Oberfläche zu holen. Auch in Heinrich Heines Gedichtzyklus Die Nordsee (1826) erweist sich der Blick auf den Meeresgrund als Projektion – doch angesichts dessen, was es in der Tiefe erblickt, ergreift das lyrische Ich die Flucht.

O RIENTIERUNGSVERLUST E.T.A. H OFFMANNS „D IE B ERGWERKE

ZU

F ALUN “

Die Legende des Bergmanns, der an seinem Hochzeitstag verschüttet wird und dessen Leichnam erst Jahrzehnte später gefunden und von seiner inzwischen steinalten Braut erkannt wird, war zu dem Zeitpunkt, als E.T.A. Hoffmann sie aufgriff, bereits vielfach bearbeitet worden. Die Novelle Die Bergwerke zu Falun (entstanden 1818)4 erschien in der Sammlung Die Serapionsbrüder (1819/21), in deren Rahmenhandlung sie von ihrem Erzähler Theodor angekündigt wird als „ein sehr bekanntes und schon bearbeitetes Thema“ (HW 4, S. 208). Gotthilf Heinrich Schubert referierte die Legende in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft5 von 1808, und die Zeitschrift Jason druckte sie 1809 zusammen mit dem Aufruf, den Stoff poetisch zu bearbeiten.6 Die prominentesten Bearbeitungen des Themas vor auf der Suche nach dem Erhabenen die Höhen erkundeten, durchforschten ihre jüngeren romantischen Nachfolger die Tiefen“ (ebd., S. 41). 4

E.T.A. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“. In: Ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht u.a. Band 4: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden im Fließtext gekennzeichnet als HW 4.

5

Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissen-

6

Vgl. zu den Bearbeitungen des Stoffs und zur Motivgeschichte Elisabeth Fren-

schaft. Dresden 1808. zel, Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 61983, S. 92ff. Vgl. auch Rolf Selbmann,

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Hoffmann waren Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen, die 1810 erschien, und Achim von Arnims Ballade Des ersten Bergmanns ewige Jugend, die im gleichen Jahr entstand. Diese frühen Beispiele repräsentieren auch gleich die beiden Grundtypen, nach denen sich die unzähligen weiteren Bearbeitungen einteilen lassen: die einen schildern, wie Hebel und auch die Schubertsche Vorlage, die Wiedererkennungsszene mit der alten Braut, die anderen imaginieren wie Arnim eine Vorgeschichte des Unglücks. Dass Hoffmanns Novelle zum zweiten Typus gehört, liegt auf der Hand. Der von Schubert berichtete Vorfall wird bei ihm zur Schlusspointe einer langen, der Lebensgeschichte des Bergmanns Elis gewidmeten Vorgeschichte, die sich deutlich als eine Auseinandersetzung mit dem Bergwerkskapitel in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) sowie der Venusberggeschichte Tiecks, dem Runenberg (1802), zu erkennen gibt.7 Den Vorgängertexten fremd ist allerdings ein anderes Motiv, das Hoffmann in den Legendenstoff einführt: es ist das der Seefahrt, die zu Beginn der Novelle als Gegenpol zum Bereich des Bergwerks erscheint. Meer und Bergwerk stehen zunächst für konkurrierende Lebensentwürfe, dann aber werden die Bildfelder überblendet. Es soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, warum Hoffmann das Bild des Bergwerks mit dem des Meeres überschreibt und was diese Überschreibung bewirkt. Vom Meer in die Erde Dass Elis Fröbom, der kaum zwanzigjährige Protagonist der Bergwerke zu Falun, seinen bisherigen Beruf als Matrose aufgibt und zum Bergmann wird, präsentiert E.T.A. Hoffmanns 1819 erschienene Novelle als Entscheidung gegen die helle Oberfläche des Meeres und für die finstere Tiefe der Erde. Der Auslöser, der den Sinneswandel des jungen Seemanns herbeiführt, ist der Tod der Mutter, von dem Elis nach seiner Rückkehr von einer erfolgreichen Ostindienfahrt erfährt. Statt mit den anderen Matrosen zu feiern und das verdiente Geld unter die Leute zu bringen, sitzt Elis nun seit„Unverhofft kommt oft. Eine Leiche und die Folgen für die Literaturgeschichte“. In: Euphorion 94 (2000), S. 173-204, S. 175. 7

Vgl. Anneli Hartmann, „Der Blick in den Abgrund – E.T.A. Hoffmanns Erzählung ‚Die Bergwerke zu Falun‘“. In: Bettina Gruber, Gerhard Plumpe (Hg.), Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg 1999, S. 53-73, S. 55.

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ab und gibt sich der Trübsal hin. Nachdem auch schon sein Vater, ebenfalls Seemann, einem Sturm zum Opfer gefallen ist und seine Brüder als Soldaten im Feld geblieben sind, weiß er nicht mehr, wem er seine Dukaten „in den Schoß“ (HW 4, S. 213) schütten soll. Er wünscht sich an den Ort, an dem auch sein Vater liegt: „Ach, läg’ ich doch nur begraben in dem tiefsten Meeresgrunde! [...]“ (HW 4, S. 211). „Sein ganzes Leben auf der See erscheine ihm wie ein irres, zweckloses Treiben“ (HW 4, S. 212), berichtet er dem alten Bergmann, der plötzlich hinter ihm auftaucht und von dem man später erfährt, dass er der Wiedergänger eines vor langer Zeit verschütteten fanatischen Bergmanns namens Torbern ist. Das erste Argument, mit dem der Alte ihn zu einem Berufswechsel überreden will, kann freilich nicht verfangen, verspricht die Aussicht auf „tüchtige Dukaten in der Tasche“ (HW 4, S. 214) doch keine Änderung seiner Situation: Elis’ Beutel ist durch den Erfolg der Ostindienfahrt gut gefüllt, er weiß aber nichts damit anzufangen. Entsprechend ablehnend fällt auch seine erste Reaktion auf den Bergmann aus: „,Wie‘, rief er, ‚was ratet Ihr mir? Von der schönen, freien Erde, aus dem heiteren, sonnenhellen Himmel, der mich umgibt, labend, erquickend, soll ich hinaus – hinab in die schauerliche Höllentiefe und dem Maulwurf gleich wühlen und wühlen nach Erzen und Metallen, schnöden Gewinns halber?‘“ (HW 4, S. 214)

Dem Bergbau als Wühlen in der Tiefe aus reinem Gewinnstreben steht hier die Seefahrt gegenüber, assoziiert mit dem Bereich der Oberfläche, dem weiten Himmel und der freien Erde zugerechnet – eine Unterscheidung, die wenig später aufgegeben, wenn nicht gar umgekehrt wird. 8 Der Alte jedenfalls wechselt auf diese Aussage hin das Register und legt dem jungen Seemann dar, dass die in der Tiefe wartenden Gewinne von ganz anderer Art seien als jene, die an der Oberfläche zu erlangen seien:

8

Vgl. u.a. auch Hartmann, Blick in den Abgrund, S. 73. Anneli Hartmann interpretiert die Auflösung des anfänglichen Dualismus’ der Sphären von oben und unten als Indiz dafür, dass „die Spaltung und der Abgrund eher in Elis und seinem Unbewussten zu vermuten“ seien, plädiert aber gleichzeitig für eine Lesart, die jenseits der psychologischen die mythischen, dämonischen Aspekte der Erzählung nicht außer acht lässt (vgl. ebd., S. 61).

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„Schnöder Gewinn! Als ob alle grausame Quälerei auf der Oberfläche der Erde, wie sie der Handel herbeiführt, sich edler gestalte als die Arbeit des Bergmanns, dessen Wissenschaft, dessen unverdrossenem Fleiß die Natur ihre geheimsten Schatzkammern erschließt. Du sprichst von schnödem Gewinn, Elis Fröbom! – ei, es möchte hier wohl noch Höheres gelten. Wenn der blinde Maulwurf in blindem Instinkt die Erde durchwühlt, so möcht’ es wohl sein, daß in der tiefsten Teufe bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen Auge hellsehender wird, ja daß er endlich, sich mehr und mehr erkräftigend, in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung dessen zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen.“ (HW 4, S. 214f)

Vom Wirtschaftsunternehmen wird das Bergwerk in der Rede des alten Bergmanns umgedeutet in einen ordo inversus, der den wirtschaftlichen Aspekt einem höheren Zweck unterstellt: es gehe um einen Gewinn metaphysischer Art. Mit der Deutung der Tiefe als Spiegelung dessen, was über den Wolken verborgen ist, ruft der Bergmann eine die Technikgeschichte des Bergbaus seit ihren Anfängen begleitende Tradition auf. Die finanziell lukrative Ausbeutung der Erde wurde schon immer sakral, bisweilen mystisch überhöht. In der Alchemie, die die Wissensformen von Astrologie und Bergbau miteinander verband,9 fand diese Tradition ihren Höhepunkt. Die Romantik, in deren Blüte der Bergbau zum wichtigsten Wirtschaftszweig eines sonst industriell eher rückständigen Landes aufstieg,10 bemühte sich mit besonderer Hingabe um die Erinnerung dieser alten Tradition. „Ihr seyd beynah verkehrte Astrologen“, wendet sich beispielsweise in Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen der Einsiedler an den Bergmann, „[w]enn diese den Himmel unverwandt betrachten und seine unermeßlichen Räume durchirren: so wendet ihr euren Blick auf den Erdboden, und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte der Felsen und Berge, und die mannichfaltigen Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zu-

9

Vgl. hierzu Hartmut Böhme, „Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie“. In: Ders., Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. 67-144, hier S. 92ff.

10 Auch der Bergbau selbst erreichte in Deutschland erst im späten 19. Jahrhundert den Grad der Industrialisierung, wie er in England bereits um 1800 gegeben war. Vgl. hierzu Ziolkowski, Das Amt der Poeten, S. 37f.

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kunft, während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt.“11 Bei Novalis bleibt die räumliche Ordnung von oben und unten gewahrt und wird auf eine Weise mit einer kosmologischen Dimension der Zeitlichkeit verknüpft, die der Orientierung des Bergmanns nach unten den Rückgang in die Erdvergangenheit entsprechen lässt, während dem Astrologen die Deutung der Zukunft zugeordnet wird.12 Hoffmann dagegen überblendet in der Rede des Bergmanns die Bereiche von unten und oben, Vergangenheit und Zukunft, die sich in seiner Konzeption des Bergwerks wie in einem Vexierbild überlagern. Die Tiefe der Erde ist kein eigenständiger, in die Vergangenheit verweisender Bereich, sondern wird in der lockenden Rede des Bergmanns zu einem dem Himmel korrespondierenden Raum, zu einer „Abspiegelung“ dessen, was am Himmel ebenso verborgen ist wie unter der Erde. Der Bergmann ist hier also kein „verkehrter“ Astrologe wie bei Novalis, sondern er ist ein Astrologe, der die Geheimnisse des Weltalls unter der Erde zu ergründen sucht. Erstmals in der Novelle wird hier angedeutet, was im weiteren Verlauf die Katastrophe herbeiführt: die Irritation der Unterscheidung von unten und oben durch die Spiegelung. Die Geheimnisse des Himmels sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts längst nicht mehr ausschließlich metaphysischer Natur. Seit Giordano Bruno ist das, was „über den Wolken verborgen“ ist, ein Raum von unendlicher Ausdehnung: „Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Brunoischen unendlichen Universum“, schreibt Christian Begemann, „muß sich die Wahrnehmung des Sternenhimmels in dramatischer Weise verändert haben: Erst jetzt weiß, fürchtet oder negiert der wissenschaftlich gebildete Mensch, dass sein Blick nicht auf die kristallenen Sphärenschalen auftrifft, sondern sich, unfähig, dort noch etwas zu erkennen, in den unendlichen Weiten des Raumes verliert.“13 Die unendlichen Weiten des Raumes erstrecken sich durch ihre Spiegelung nunmehr auch nach unten. Die „kristallenen Sphärenschalen“, die einstmals die Tiefe des Himmels begrenzten, erscheinen bei Hoffmann noch einmal in Elis’ Traum der darauffolgenden Nacht.

11 Novalis, Heinrich von Ofterdingen. In: Ders., Schriften I, Hg. von Richard Samuel, München 1978, S. 307f. 12 Vgl. hierzu auch Mülder-Bach, Tiefe, insbesondere S. 95ff. 13 Begemann, Furcht und Angst, S. 118.

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„Es war ihm, als schwämme er in einem schönen Schiff mit vollen Segeln auf dem spiegelblanken Meer und über ihm wölbe sich ein dunkler Wolkenhimmel. Doch wie er nun in die Wellen hinabschaute, erkannte er bald, daß das, was er für das Meer gehalten, eine feste durchsichtige funkelnde Masse war, in deren Schimmer das ganze Schiff auf wunderbare Weise zerfloß, so daß er auf dem Kristallboden stand und über sich ein Gewölbe von schwarz flimmerndem Gestein erblickte. Gestein war das nämlich, was er erst für den Wolkenhimmel gehalten.“ (HW 4, S. 216)

Im Traum werden die Bildbereiche von Meer und Bergwerk überblendet. Die vertikale Ordnung des Bergbaus wird auf das Meer übertragen, wobei sich im Zuge dieser Übertragung die Materialität der Elemente verkehrt, sodass das spiegelblanke Meer zum klaren Kristallboden, der dunkle Wolkenhimmel zu einem „Gewölbe von schwarz flimmerndem Gestein“ wird. Der Boden aus Kristall offenbart dem Blick nach unten, was sonst verborgen ist: „Von unbekannter Macht fortgetrieben, schritt er vorwärts, aber in dem Augenblick regte sich alles um ihn her, und wie kräuselnde Wogen erhoben sich aus dem Boden wunderbare Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall, die ihre Blüten und Blätter aus der tiefsten Tiefe emporrankten und auf anmutige Weise ineinander verschlangen. Der Boden war so klar, daß Elis die Wurzeln der Pflanzen deutlich erkennen konnte, aber bald immer tiefer mit dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten – unzählige holde jungfräuliche Gestalten, die sich mit weißen glänzenden Armen umschlungen hielten, und aus ihren Herzen sproßten jene Wurzeln, jene Blumen und Pflanzen empor, und wenn die Jungfrauen lächelten, ging ein süßer Wohllaut durch das weite Gewölbe, und höher und freudiger schossen die wunderbaren Metallblüten empor. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstigem Verlangen ging auf in seinem Innern. ‚Hinab – hinab zu euch‘, rief er und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder. Aber der wich unter ihm, und er schwebte wie in schimmerndem Äther.“ (HW 4, S. 216f)

Der Kristallboden scheint als fester Untergrund – doch so, wie die kristallenen Sphärenschalen, die einst das Universum begrenzten, dem modernen Weltbild keinen Halt mehr bieten, so weicht auch der Kristallboden unter Elis zurück. Im „Äther“, in dem Elis zu schweben meint, im unendlichen Luftraum, verlieren die Koordinaten von oben und unten gänzlich ihre Bedeutung.

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Der Fortgang des Traumes setzt die Erweiterung bzw. Vertiefung des Raumes fort. Nach unten wie nach oben eröffnen sich neue Ausblicke. In der Tiefe wird das „ernste Antlitz einer mächtigen Frau [...] sichtbar“ (HW 4, S. 217) – ein Anblick, der das Entzücken in Elis’ Brust so groß werden lässt, dass es in zermalmende Angst umschlägt. Diesem Umschlag entspricht die Wendung des Blickes nach oben, wo „die Sterne des nächtlichen Himmels durch eine Spalte des Gewölbes leuchteten“ (HW 4, S. 217). Elis glaubt, die Stimme seiner toten Mutter zu vernehmen, die an der Spalte stehend seinen Namen ruft, erblickt aber statt ihrer „ein holdes junges Weib“ (HW 4, S. 217), das ihm die Hand entgegenstreckt. Als er noch einmal nach unten blickt, erscheint ihm wieder das „starre Antlitz der mächtigen Frau“ und er spürt, wie „sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein“ (HW 4, S. 218). An dieser Stelle bricht der Traum ab, doch die Tiefendimension, die sich Elis darin eröffnete, wirkt, wie der Text sagt, in seinem eigenen „Inneren“ weiter: „Er kreischte auf in namenloser Angst und erwachte aus dem wunderbaren Traum, dessen Wonne und Entsetzen tief in seinem Innern wiederklang“ (HW 4, S. 218). Der Vertiefung des erzählten Raumes im Traum korrespondiert eine Erweiterung und „Vertiefung“ der psychischen Dimension des Protagonisten, denn von nun an wird fast jede seiner Handlungen durch den Verweis auf sein ‚Inneres‘ motiviert. Die „Oberwelt“ (HW 4, S. 217), nach der er sich nun sehnt, ist in dem Moment verloren, in dem ihr eine eigene Tiefendimension zukommt. Seine Hoffnung auf die Heilkraft des „frische[n] Hauch[es] der Seeluft“ (HW 4, S. 218) wird vergeblich bleiben. Das Wasser, das ihm einst ein fester Boden unter den Füßen war, ist nur noch eine dünne Haut, die ihn vom Abgrund trennt. Es hat eine bedrohliche Tiefendimension bekommen. Damit hat Elis jeden Halt im Leben verloren. Wünsche und Ahnungen ‚durchkreuzen‘ sein Inneres, als wäre es selbst ein Gewässer, und beim Blick in das Wasser kehren die Bilder des Traumes auch tagsüber wieder. Die Auflösung der Kategorien von oben und unten, die zunächst in der ‚Innenwelt‘, im Traum, vollzogen wurden, sie greifen nun auch auf die ‚Außenwelt‘ über. Die Traumvision wird beim Blick ins Wasser nach außen projiziert: „Von all diesen treibenden Gedanken hin und her geworfen, schaute er hinein in das Wasser. Da wollt’ es ihm bedünken, als wenn die silbernen Wellen erstarrten zum funkelnden Glimmer, in dem nun die schönen, großen Schiffe zerfließen, als wenn

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die Wolken, die eben heraufzogen an dem heitern Himmel, sich hinabsenken würden und verdichten zum steinernen Gewölbe.“ (HW 4, S. 218)

Wie im Traum wird die Wasserfläche zur Spiegelfläche, zu einem „funkelnden Glimmer“, in dem die Schiffe zum Bild zerfließen: sie gehen ein in die zweidimensionale Fläche des Wassers. Anders der Himmel und die heraufziehenden Wolken: Auch diese werden als Spiegelbild im Wasser wahrgenommen, doch werden sie hinter das Spiegelbild der Schiffe projiziert, sodass sich der Himmel in die Tiefe zu senken scheint. Der gespiegelte Wolkenhimmel verkehrt als „steinernes Gewölbe“ jedoch die Blickrichtung. Statt nach unten richtet er sich scheinbar nach oben auf die steinerne Decke eines Bergwerkstollens. Doch ein tatsächlicher Wechsel der Blickrichtung findet hier, anders als im Traum, nicht statt. Der Blick nach oben, der ihm im Traum noch einmal die Möglichkeit bot, sich von der Anziehungskraft der Königin in der Tiefe loszureißen, bleibt an dieser Stelle aus. Nach wenigen Tagen folgt Elis dem Rat des alten Bergmanns und macht sich auf den Weg zum Bergwerk in Falun. So wie die Traumvision den Blick ins Wasser bestimmte, so wird der erste Blick in das Bergwerk von einem anderen Traum geleitet, den ein alter Seemann Elis einst erzählte. Was er in der offen aufklaffenden Erde sieht, scheint demnach Ähnlichkeit zu haben mit dem, was die Oberfläche des Wassers zuverlässig verdeckt und das zu Erblicken den sicheren Tod prophezeit: „Als nun Elis Fröbom hinabschaute in den ungeheueren Schlund, kam ihm in den Sinn, was ihm vor langer Zeit der alte Steuermann seines Schiffs erzählt. Dem war es, als er einmal im Fieber gelegen, plötzlich gewesen, als seien die Wellen des Meeres verströmt und unter ihm habe sich der unermeßliche Abgrund geöffnet, so daß er die scheußlichen Untiere der Tiefe erblickte, die sich zwischen Tausenden von seltsamen Muscheln, Korallenstauden, zwischen wunderlichem Gestein in häßlichen Verschlingungen hin und her wälzten, bis sie mit aufgesperrtem Rachen, zum Tode erstarrt, liegengeblieben. Ein solches Gesicht, meinte der alte Seemann, bedeute den baldigen Tod in den Wellen, und wirklich stürzte er auch bald darauf unversehens von dem Verdeck in das Meer und war rettungslos verschwunden.“ (HW 4, S. 220f)

Es scheint dabei nicht nur der Anblick der sterbenden Tiefenbewohner zu sein, die den Traum als Prophezeiung eines baldigen Todes deuten lassen,

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sondern die Grenzüberschreitung, die der Blick auf den sonst verborgenen Meeresgrund darstellt. Der Blick in die Tiefe der Tagesöffnung des Bergwerks projiziert den Trauminhalt nach unten: Die Pinge wird zum Abgrund, der zur bekannten Natur in krassem Gegensatz steht: „Kein Baum, kein Grashalm sproßt in dem kahlen, zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden, manchmal riesenhaften, versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich, ragen die zackigen Felsmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken – ausgebranntes Erz, und ein ewiger, betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht, dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften.“ (HW 4, S. 220)

Die Überdimensionierung der Formen lebendigen Wesens in der Tiefe lässt die Ähnlichkeit zum Hohn werden. Auch die Bergleute, die eben aus der Tiefe kommen, wirken auf Elis entsprechend „wie häßliche Unholde, die, aus der Erde mühsam hervorgekrochen, sich den Weg bahnen wollten bis auf die Oberfläche“ (HW 4, S. 221). „Was da nämlich an Natur oder besser: Naturregionen vorkommt“, bemerkt Peter von Matt dazu, „ist unter sich völlig getrennt, besitzt nichts Durchgehend-Einheitliches, so sehr dies auch dem Denken der Epoche zuwiderlaufen scheint.“14 Die Assoziation mit einem offenen Grab, die die Beschreibung der toten Natur nahelegt und der Verweis auf Dantes Inferno15 scheinen nachgeordnete Deutungsmuster eines Anblicks, der zunächst vor allem als eines wahrgenommen wird: als „fürchterliche[] Zerstörung“ (HW 4, S. 220; der Begriff fällt gleich darauf ein zweites Mal). Zerstört wird hier die unversehrte Oberfläche der Natur, deren Aufbrechen die vormalige Ordnung in ein wirres Drunter und Drüber verwandelt. Steine liegen „durcheinander“ (HW 4, S. 220), Felsmassen ragen in der Tiefe hervor und erinnern, wo nichts leben kann, an Formen des

14 Peter von Matt, Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen 1971, S. 118f. 15 Hoffmann machte an dieser Stelle eine Anmerkung, die auf das von ihm verwendete Fachbuch Reise durch Skandinavien in den Jahren 1806 bis 1807 des Geologen Johann Friedrich Ludwig Hausmann (Göttingen 1811-1818) verweist. Diesem entnahm er allerdings nur die detailreiche Beschreibung der Pinge zu Falun, die Anspielung auf Dantes Göttliche Komödie findet sich darin nicht.

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Lebens. Der Blick in die Bergwerksgrube eröffnet in doppeltem Sinne eine Tiefendimension: die der Erdoberfläche und die psychische Tiefendimension des Traumes. Was als Blick nach außen und unten scheint, ist eigentlich ein Blick nach innen, „durch dunkle Schächte in die unerforschten Tiefenschichten der eigenen Psyche“16. Inneres und Äußeres geraten durch die Spiegelstruktur des Blicks durcheinander und lassen gleichzeitig auch die Kategorien von oben und unten, Leben und Tod, Fiktion (Dante) und Realität kollabieren. Die Reaktion Elis’ auf diesen Anblick verläuft ganz in den Bahnen, die die Epoche für den Blick in die Tiefe vorsieht: Er fühlt sich „von tiefen Schauern durchbebt“ (HW 4, S. 221), ein „Schwindel“ (HW 4, S. 221) ergreift ihn, und er verspürt unsichtbare Hände, die ihn in den offenen „Schlund“ hinabziehen. „Schwindel“ und „Schauer“ gehören zu den typischen Reaktionsweisen der Zeit beim Anblick von Gegenständen, die das Wahrnehmungsvermögen zu übersteigen drohten.17 Zur Zeit Hoffmanns werden Schauer und Schwindel längst nicht mehr nur als physiologische

16 Thorsten Valk, „Die Bergwerke zu Falun. Tiefenpsychologie aus dem Geist romantischer Seelenkunde“. In: E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Hg. von Günter Saße. Stuttgart 2004, S. 168-181, hier S. 172. 17 So heißt es beispielsweise in Bodmers Critischen Betrachtungen: „Die Sinne, die etwas zusammengehöriges wahrnehmen, schweifen umher, die Grenzen desselben zu umfassen, und verlieren sich ins Unermessliche. Daraus entstehet […] Anfangs ein Schauern, das uns überläuft, und sodann etwas dem Schwindel ähnliches, das uns nöthiget, die Augen von dem Gegenstande abzuwenden. Das große Weltmeer, eine weitausgedehnte Ebene, das unzehlbare Heer der Sterne, jede Höhe oder Tiefe, die unabsehlich ist, die Ewigkeit und andere solche Gegenstände der Natur, die den Sinnen unermesslich erscheinen, erregen diese Art von Empfindung […].“ Die kulturelle Dynamik der Reaktionen auf Anblicke des Unermesslichen ist in der Forschungsliteratur zum „Erhabenen“ ausführlich beschrieben worden, siehe v.a. Begemann, Furcht und Angst, insbesondere Kapitel 4, „Naturfurcht, Naturbeherrschung, Naturgenuß. Rekonstruktion der Erfahrung erhabener Natur im 18. Jahrhundert“, S. 97-164, dort S. 115 auch das Bodmer-Zitat.

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Reaktionen des Körpers, sondern als eine Überreizung des Nervensystems verstanden, ausgelöst durch einen Überschuss an Informationen.18 Gegenüber der Erdentiefe wirkt das aufgewühlte Meer geradezu dezent – nicht einmal im tobenden Sturm, üblicherweise ein Beispiel des Erhabenen und „Inbegriff der maßlosen, zerstörerischen Natur“19, mutet es der menschlichen Wahrnehmung die Offenlegung seines Grundes zu: „Mag der Sturm toben, mögen die schwarzen Wolken hinabtauchen in die brausenden Wellen, bald siegt doch wieder die schöne, herrliche Sonne, und vor ihrem freundlichen Antlitz verstummt das wilde Getöse, aber nie dringt ihr Blick in jene schwarze Höhlen, und kein frischer Frühlingshauch erquickt dort unten jemals die Brust.“ (HW 4, S. 221)

„In jene schwarzen Höhlen“ dringt der Blick dann aber doch – wenn auch nicht in der Außenwelt, so in der Innenwelt: Im Traum, in dem sich die Bildfelder von Erde und Wasser überlagern, wird die Wasserfläche zu einem Glasboden, der den Blick auf ein Darunter freigibt und das Meer zu einem Äquivalent der offenen Erdgrube und dem Schrecken ihres Anblicks werden lässt. Anders als es Hartmut Böhme für die Venusbergnovellen allgemein annimmt, sind in Hoffmanns Bergwerken zu Falun Berg und Meer nicht von vornherein „identische Symbolfelder“20 – erst die Verdichtungsund Verschiebungsarbeit des Traumes macht sie dazu. Die unterschiedlichen Konstellationen von Oberfläche und Tiefe überlagern sich und machen die Orte vergleichbar. In dem Moment aber, in dem der Blick einmal dem „unermesslichen Abgrund“ des Wassers mit seinen „scheußlichen Untieren“ begegnet ist, fällt auch der Unterschied zum Bergwerk – das Meer wird zu einem Ort des Truges,21 da es zunächst verbirgt, was das Bergwerk offen zeigt. 18 So Marcus Herz in seinem 1786 erschienenen Versuch über den Schwindel. Den Hinweis entnehme ich Albrecht Koschorke, „Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800“. In: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996, S. 149-169, hier S. 163-166. 19 von Matt, Die Augen der Automaten, S. 119. 20 Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 140. 21 Elis „gehöre ins Haus und nicht mehr das trügerische Meer, nein! Falun mit seinen reichen Bergen sei seine Heimat“, versucht Ulla, Elis nach seiner Ankunft

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Die Eigenlogik der Tiefe Der Öffnung der Tiefendimensionen von Erde und Meer korrespondiert im Fortgang der Handlung die Eröffnung der Innenwelt Elis’ – diese beginnt nicht nur die Wahrnehmung zu bestimmen, sondern auch den Fortgang der Handlung zu motivieren. Elis’ Entscheidung für den Bergbau und gegen den Seemannsberuf steht ganz im Zeichen des ‚Inneren‘: Als Elis Ulla zum ersten Mal erblickt, „war es ihm, als schlüge ein Blitz durch sein Innres“ (HW 4, S. 223), er erzählt ihrem Vater, Pehrson Dalsjö, „wie seine innerste Neigung ihn zum Bergbau treibe“ (HW 4, S. 224) und es ist ihm darauf, „als wenn er eben seinen innersten Wunsch ausgesprochen“ (HW 4, S. 225). Pehrson antwortet darauf mit einem so ernsten Blick, „als wolle er sein Innerstes durchschauen“ (HW 4, S. 225), und mahnt ihn, auch ja seinen „innern Beruf“ (HW 4, S. 225) sorgfältig zu prüfen, bevor er auf sein Angebot, gleich am nächsten Tag mit der Arbeit zu beginnen, eingehe. Darauf heißt es: „Das Herz ging dem Elis auf bei Pehrson Dalsjö’s Rede“ (HW 4, S. 225). Sein ,Inneres‘ treibt ihn also in die Tiefe. Als er am nächsten Tag „hinabfuhr in den tiefen Schacht“ (HW 4, S. 226), muss sein Herz dann doch „heftig schlagen“ (HW 4, S. 226). Elis’ Eintritt in das Bergwerk unterscheidet sich beträchtlich von Novalis’ vielzitiertem ‚Weg nach Innen‘, der eine als verborgen gedachte Innenwelt des Subjekts erschließt. Denn die die Romantik kennzeichnende Unterscheidung von Innen- und Außenwelt, symbolisiert als Tiefe des Bergwerks und Oberfläche der Erde, erfährt in Hoffmanns Novelle eine entscheidende Modifikation. Die „romantische Entdeckung der Seele“22, begreift diese, wie Otto Friedrich Bollnow am Beispiel Novalis’ darlegte,23 „nicht mehr als Organ der Welterfassung, sondern als eine eigne, reiche und gegliederte Welt“, die „im tieferen Sinn das Ziel des Wegs nach innen“24 ausmacht. Dieser Weg in die „dunklen Tiefen der eigenen Seele“25 führt zu verborgenen Geheimnissen und Erkenntnissen hinab, die, so Bollnow, über die Erforschung der

in Falun aufzumuntern und seine Entscheidung für den Bergbau zu unterstützen (HW 4, S. 226). 22 Otto Friedrich Bollnow, Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter. Stuttgart 1953, S. 184. 23 Vgl. das Kapitel „Der ‚Weg nach Innen‘ bei Novalis“, in: Ebd., S. 178-206. 24 Ebd., S. 184. 25 Ebd., S. 185.

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Außenwelt nicht gewonnen werden könnten: „Es ist der Weg, der von dem an der Oberfläche haftenden landläufigen Verständnis der uneingeweihten Menge zu einer Ergründung der verborgenen, alle oberflächliche Gestaltung erst bedingenden Tiefe hinabführt. An die Stelle des transzendentalen Bezugs von Ich und Welt tritt damit das ganz anders geartete Verhältnis von äußerlich sichtbarer Oberfläche und geheimnisvoll verborgener Tiefe.“26 Dass diese Tiefe nicht mehr geheimnisvoll und unergründlich hinter einer sichtbaren Oberfläche verborgen ist, sondern die Oberfläche durchsichtig ist hin auf eine Tiefendimension, die mehr Schrecken und Grauen als Geheimnisse bietet, unterscheidet Hoffmanns Konzeption von der Novalis’. Tritt bei Novalis, so Bollnow, „das Dunkel der verborgenen Tiefe [...] in Gegensatz zu der Helligkeit und Klarheit der Oberfläche“27, so ist es bei Hoffmann gerade die Klarheit des Kristallbodens, zu dem sich die Wasserfläche im Traum verfestigt, die Elis die Schrecken eines ‚Darunter‘ wahrnehmen lässt. Die Heinrich von Ofterdingen leitende „Überzeugung, daß das, was man gewöhnlich als die Natur hinzunehmen pflegt, nur eine äußere Oberfläche ist und daß die eigentliche Natur darunter liegt, im Dunkel, als eine drängende und zur Gestaltung wollende Macht, die ihrerseits erst die ganze Oberfläche hervorgebracht hat und von der her diese allein verstanden werden kann“28, diese Wahrnehmung löst bei Elis Fröbom Schwindel aus. Das Bergwerk zu Falun ist aber auch ganz anders konzipiert als dasjenige, von dem im Heinrich von Ofterdingen die Rede ist: es ist eine Tagesöffnung, eine offene Grube, die wie eine Wunde in der Landschaft klafft. Die Tiefe liegt bei Hoffmann nicht verborgen hinter einer Tapetentür, keine dunkle Höhle verbirgt die Geheimnisse der Seele, sondern die Tiefe liegt offen vor aller Augen, ein furchterregender Schlund und gähnender Abgrund. Erst die Aussicht, Ulla, die schöne Tochter Pehrson Dalsjös zu gewinnen, lässt Elis die Schrecken der Tiefe vergessen. Rasch gewinnt er durch seinen Fleiß unter Tage Ansehen über der Erde. Doch die Mächte der Tiefe missbilligen sein fremdbestimmtes Streben. „Hier unten bist du ein blinder Maulwurf, dem der Metallfürst ewig abhold bleiben wird, und oben ver-

26 Ebd. 27 Ebd., S. 185. 28 Ebd., S. 188.

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magst du auch nichts zu unternehmen und stellst vergebens dem Garkönig nach“ (HW 4, S. 228), schilt ihn der alte Bergmann, als er ihm unter der Erde erscheint, „Hei! des Pehrson Dalsjö Tochter Ulla willst du zum Weibe gewinnen, deshalb arbeitest du hier ohne Lieb’ und Gedanken. – Nimm dich in acht, du falscher Gesell, daß der Metallfürst, den du verhöhnst, dich nicht faßt und hinabschleudert, daß deine Glieder zerbröckeln am scharfen Gestein.“ (HW 4, S. 228) Der Bereich der Tiefe ist überdeterminiert: es ist nicht nur die Mutterfigur der Königin, sondern ein ganzes Figurenarsenal mit unterschiedlichen symbolischen Besetzungen, das sich in der Tiefe tummelt: außer der Bergkönigin gibt es dort den Metallfürsten, der sich teilweise mit der Mittlergestalt des Torbern deckt, sowie die Jungfrauen, die Elis im Traum erscheinen. Es ist also nicht nur ein „Kollektiv dämonischer Weiblichkeit“29, wie beispielsweise Thorsten Valk meint, ein „erotische[r] Sirenenzauber“, gerade weil der Bereich der Tiefe, wie er selbst schreibt, eine Metapher darstellt für die „Verlockung [...] der rückhaltlosen Einkehr in die dem Alltagsbewusstsein entzogenen Seelenbereiche“30. Und in diesen entzogenen Seelenbereichen versteckt sich mehr als Erotik. Trotz ihrer Hybridität aber stellt die Tiefe einen eigenständigen Machtbereich dar, der sich nicht mit dem, was an der Oberfläche der Erde passiert, vereinbaren lässt. Die Erkenntnisse, die Elis unten gewinnt, eignen sich nicht zur Beförderung nach oben und außen. Die ökonomische Logik des Bergbaus wird hier negiert. Er wird zum Selbstzweck, zum Dienst an einem eigenständigen Herren, der nicht in weltlichen Profit umgesetzt werden kann oder darf. „Arm wird der Bergmann geboren, und arm gehet er wieder dahin“, heißt das bei Novalis in der Rede des Bergmanns an Heinrich: „Er begnügt sich damit zu wissen, wo die metallischen Mächte gefunden werden, und sie zu Tage zu fördern; aber ihr blendender Glanz vermag nichts über sein lautres Herz.“31 Doch was bei Novalis als frommer Dienst an der Sache positiv besetzt ist und sich gerade deshalb auch ökonomisch auszahlt (der Bergmann gewinnt durch seinen Fleiß die Hand der Tochter seines Meisters und entdeckt am Verlobungstag eine reiche Ader, wofür ihn der Herzog mit einer goldenen Kette auszeichnet und ihm den Dienst seines

29 Valk, Die Bergwerke zu Falun, S. 173. 30 Ebd. 31 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 291.

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Schwiegervaters verspricht),32 scheitert bei Hoffmann am Problem der Übersetzung. Während noch die Seefahrt in die Ferne der Versorgung der daheimgebliebenen Familienangehörigen diente, die ökonomische Beziehung also stets eine Verbindung zwischen der Ferne und der Heimat herstellte, so ist diese in der Vertikalen nicht zu halten. Während der alte Bergmann, dem Heinrich von Ofterdingen begegnet, die geglückte Variante des Lebenslaufs darstellt, wird Elis’ Mentor Torbern beschrieben als „ein finstrer tiefsinniger Mann [...], der, ohne Weib und Kind, ja ohne eigentliches Obdach in Falun zu haben, beinahe niemals ans Tageslicht kam, sondern unaufhörlich in den Teufen wühlte“ (HW 4, S. 229). Thorsten Valk hat auf den „romantikkritischen Impuls“ hingewiesen, der Hoffmanns Bearbeitung des Bergwerksmotivs innewohnt: „Hoffmann greift das Motiv des Seelenbergwerks gemäß der von Novalis begründeten Tradition wieder auf, versieht es jedoch mit einem inversen Sinn: Die dem Licht des Tages entsagende Unterwelt wandelt sich bei ihm zur Metapher eines radikalen Subjektivismus, dessen unwiderstehliche Faszinationskraft in den Abgrund einer solipsistischen Selbstverfallenheit führt.“33 Es ist nun aber nicht so, dass Elis dieser Faszinationskraft erliegt – vielmehr bemüht er sich, die Bereiche unter und über der Erde miteinander zu vermitteln. Doch sein Bemühen, auf indirektem Wege, durch seinen unterirdischen Fleiß, die Hand Ullas zu gewinnen, wird unten ebenso wenig goutiert wie es an der Oberfläche der Erde zum Erfolg führt.34 Dass sich Elis und Ulla „unaussprechlich liebten“ (HW 4, S. 233) wird nicht von ihnen selbst, sondern vom Vater ausgesprochen, der sich, um diese Wahrheit ans Tageslicht zu befördern, einer List bedient. Ein reicher Handelsherr wird vorgeschoben, dem Pehrson die Hand Ullas versprochen haben will. Die Eifersucht soll nun Elis dazu bringen, seine Liebe

32 Vgl. ebd. 33 Valk, Die Bergwerke zu Falun, S. 169f. 34 Siehe hierzu auch Theo Elm, „Symbolik, Realistik. Zur Geschichte des romantischen Bergwerks“. In: Günter Blamberger, Manfred Engel u. Monika Ritzer (Hg.), Studien zur Literatur des Frührealismus. Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 121150, hier S. 144: „Die soziale Realität um Arbeit, Liebe und Besitz, die bei Novalis nur rhetorisch angedeutet ist, bildet bei Hoffmann den Stoff der Katastrophe. Katastrophe deshalb, weil Elis seine Besitzvorstellungen in das Jenseits der Bergestiefe mitführt [...].“

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zu Ulla zu gestehen. Doch der vermeintliche Verlust der Liebes- und Lebensaussicht an der Oberfläche hat einen anderen als den erwarteten Effekt: Statt endlich, wie vorgesehen, Liebeserklärung und Heiratsantrag vorzubringen, schwört der verzweifelte Elis allen Liebeshoffnungen ab und verschreibt sich endgültig den Mächten der Tiefe. Er ist es nun, der die Begegnung mit dem alten Torbern sucht: „Du hattest recht, ich war ein schuftiger Gesell, daß ich alberner Lebenshoffnung auf der Oberfläche der Erde mich hingab! Unten liegt mein Schatz, mein alles!“ (HW 4, S. 231) An diesem Entweder-Oder, an der Notwendigkeit einer Entscheidung für die Tiefe oder die Oberfläche wird einmal mehr die Kluft deutlich, die bei E.T.A. Hoffmann zwischen beiden Bereichen besteht. Bei Novalis steigt der Bergmann nach vollbrachtem Tageswerk aus „den dunklen Grüften seines Berufs“35 an die Oberfläche herauf. Bei Hoffmann dagegen wird die Oberfläche der Erde zur Gruft: Elis kommt es vor, als ob er abends „in Falun sein düsteres Lager suche“ (HW 4, S. 235). Die Karriere, die konventionell mit der Vorstellung eines ‚Weges nach oben‘ verbunden wird, führt den Bergmann nach unten – es ist also gewissermaßen konsequent, wenn sich infolgedessen auch die symbolische Besetzung von oben und unten verkehrt. Die Oberfläche der Erde wird zum Grab, während das Licht in der Tiefe gesucht wird. Für seine Konsequenz wird Elis mit einer besonderen Fähigkeit zur Entzifferung der Zeichen der Tiefe belohnt, mit einem besonderen Gespür für ihre verborgenen Schätze: „Wie ward ihm, als er in der tiefsten Teufe deutlich und klar den Trappgang erblickte, so daß er seine Salbänder, Streichen und Fallen zu erkennen vermochte“ (HW 4, S. 232). Elis’ besonderes Wissen wird durch die Verwendung von Fachterminologie markiert. Die „Streichen“, „Fallen“ und „Salbänder“ gehören zur Fachsprache des Bergbaus und waren auch der damaligen Leserschaft nicht geläufig. Das wird in der Rahmenhandlung der Novelle eigens thematisiert. „Aber gut ist es,“ wendet in der Rahmenhandlung der Serapionsbrüder, in der die von Theodor vorgetragene Novelle besprochen wird, Lothar ein, „dass du uns die Geschichte vorlasest, die wir alle, mein ich, etwas von der Bergmannswissenschaft, so wie von den Bergwerken zu Falun und den Schwedischen Sitten und Gebräuchen gehört haben. Andere würden dir mit Recht vorwerfen, dass du durch zu viele bergmännische Ausdrücke oft unverständlich wur-

35 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 292.

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dest“ (HW 4, S. 240). Die Kritik Lothars, die Fachsprache des Bergbaus stelle eine dem Laien unverständliche Geheimsprache dar, führt ins Zentrum der Problematik, die in der Novelle verhandelt wird: Die Vermittlung des Wissens der Tiefe an die Oberfläche. Wenn die moderne Montanwissenschaft mit dem Anspruch antrat, durch eine Verwissenschaftlichung des Bergbaus diesen aus der Sphäre des Geheimnisses und der hermetischen Praktiken zu lösen,36 so wird diese aufklärerische Vorstellung durch Hoffmann konterkariert. Gegenüber der Alltagssprache ist auch das moderne bergbauliche Fachvokabular eine Geheimsprache, nicht anders als das esoterische Wissen, das sich vor seiner Aufklärung mit dem Bergbau verband. Die Wissensformen der Tiefe und der Oberfläche lassen sich, so das Fazit, nicht ineinander übersetzen. Die Unmöglichkeit, die Logik der Tiefe mit dem zu vereinbaren, was an der Oberfläche Gültigkeit hat, befördert schließlich die Ausbreitung von Wahnvorstellungen. Die Zeichen, die Elis in der Tiefe erscheinen, lassen sich nicht an die Oberfläche übermitteln. An den Stellen, wo Elis die reichhaltigsten Adern entdeckt zu haben meint, finden alle anderen nichts als „taubes Gestein“ (HW 4, S. 235), worauf Elis jedoch nur höhnisch lacht und meint, „freilich verstehe nur er allein die geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle Schrift, die die Hand der Königin selbst hineingrabe in das Steingeklüft, und genug sei es auch eigentlich, die Zeichen zu verstehen, ohne das, was sie verkündeten, zutage zu fördern“ (HW 4, S. 235). Die Sprache der Tiefe ist ein hermetisches Zeichensystem, die Bedeutung der Zeichen nicht kommunizierbar und übersetzbar in die Sprache und Logik der Oberflächenwelt. Beide Bereiche, Tiefe und Oberfläche, stehen sich unvereinbar gegenüber: „Vergebens rang er darnach, der Geliebten von dem wunderbaren Gesicht, das sich ihm in der Teufe aufgetan, zu erzählen“ (HW 4, S. 234). Die Unvereinbarkeit von Oberfläche und Tiefe ist dabei eine wechselseitige: ebensowenig, wie Elis die Bedeutung der unterirdischen Zeichen in der Oberwelt vermitteln kann, so wenig kann sein Verhalten dort gedeutet werden. Pehrson Dalsjö interpretiert Elis’ Flucht in die Tiefe als Zeichen seiner Verliebtheit. Während Elis sich, „auf die Oberfläche hinaufgestiegen, auf Pehrson Dalsjö, ja auf seine Ulla besinnen“ (HW 4, S. 235) musste, so beharrt dieser auf dem Fehlglauben, seinem künftigen Schwiegersohn hätte

36 Vgl. Böhme, Geheime Macht, S. 101.

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nur „die Liebe den Kopf verrückt“ (HW 4, S. 236), was sich mit der baldigen Hochzeit gewiss ändern müsse. Liest man die Novelle als Allegorie des Künstlertums, so handelt es sich um eine radikal autonome Kunstvorstellung, die damit transportiert wird. „Die lingua naturae ist zur Sprache der Kunst geworden“, schreibt Hartmut Böhme, „der sich zu verschreiben, Schrift-Steller zu werden, den Ausschluß aus der bürgerlichen Welt zur Folge hat.“37 Doch die Entscheidung für die Kunst ist nicht nur gleichbedeutend mit einer Abkehr von der Alltagswelt und dem Verzicht auf ein bürgerliches Familienglück, sondern schließt auch die Akzeptanz oder gar den Erfolg als Künstler in der Gesellschaft aus. So wenig, wie Elis von seiner Begegnung mit der Bergkönigin berichten kann, so wenig kann er für seine Hingabe an sie auf Verständnis hoffen. Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die Novelle als Teil eines gerahmten Novellenzyklus, so fällt auf, dass diese Konzeption von Kunst in der Poetik der Novelle jedoch keine Entsprechung findet – im Gegenteil: die Novelle ist als mündliche Gesprächssituation auf Kommunikation und Verständnis ausgerichtet und die Rahmenhandlung gibt diese Gattungskonvention vorbildlich wieder. Die erzählten Novellen werden von dem Dichterkreis, in dem sie erzählt werden, gemeinschaftlich diskutiert. Die Kritik an der Verwendung der dem Laien unverständlichen Fachsprache des Bergbaus transportiert zudem eine Kunstanschauung, die auf Allgemeinverständlichkeit statt auf einen erlauchten Kreis Eingeweihter setzt. Ganz anders sieht die Kunst aus, der sich Elis in den Tiefen des Bergwerks ergeben hat. Jeder Bezug zu einem ‚Außen‘, zu einer wie auch immer gearteten ‚Wirklichkeit‘ oder „Oberfläche der Erde“ (HW 4, S. 231) wird hier verneint – es ist eine monologisch angelegte Kunstkonzeption, die auf solipsistischen Kunstgenuss ausgerichtet ist. Die Bereiche von Oberfläche und Tiefe sind in Hoffmanns Novelle klar voneinander geschieden, ihre jeweiligen Eigenlogiken miteinander unvereinbar. Anziehungskraft und Schrecken der Tiefe rühren daher, dass sie ein Bereich des radikal Anderen ist, in dem alle Logik der Oberfläche ungültig ist. Und so sind Fortgang der Handlung und Ende des Protagonisten vorgezeichnet: als Elis am Hochzeitstag doch noch einmal versucht, Tiefe und Oberfläche zu vermitteln, indem er um einer Hochzeitsgabe für Ulla willen

37 Böhme, Geheime Macht, S. 131.

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ins Bergwerk geht, wird er verschüttet. Die Warnung Torberns, dass Elis, wenn er sich nicht ganz den Mächten der Tiefe ergäbe, vom Metallfürst hinabgeschleudert werden würde, sodass seine „Glieder zerbröckeln am scharfen Gestein“ (HW 4, S. 228), sie scheint sich erfüllt zu haben. Zumindest war es, wie es heißt, nach dem Verschwinden Elis’ am Tag der geplanten Hochzeit „[g]ewiß [...], daß der Erdsturz den Unglücklichen im Gestein begraben“ (HW 4, S. 237). Doch ganz so ist es nicht. Das Bergwerk als Chemielabor Die Novelle endet nicht an dieser Stelle, sondern bietet, gemäß der Vorlage, eine Reprise. Durch das Wiederauftauchen seines Leichnams fünfzig Jahre nach dem Unglück stellt sich nachträglich heraus, dass Elis nicht zerschmettert worden ist, sondern in „Vitriolwasser“ (HW 4, S. 238) ertrunken. Wasser und Erde werden im Bild eines Erduterus noch einmal zusammengebracht, in dem Elis gewissermaßen in einem vorgeburtlichen Embryonalzustand verharrt. Statt auf den kirschrot funkelnden Almandin ist Elis in der Tiefe auf das blaue Vitriol gestoßen und in seinem Gesteinswasser ertrunken. Dass es ausgerechnet „Vitriolwasser“ ist, in dem Elis den Tod findet, ist dabei nicht nur eine Übernahme aus den Quellen,38 sondern wird von Hoffmann mit einer weitergehenden Bedeutung aufgeladen. Das Vitriol, eine in der heutigen Chemie nicht mehr gebräuchliche Bezeichnung für Sulfate, stellt als Eisenvitriol ein tiefblaues, als Kupfervitriol ein türkisgrünes Kristall dar, wie es bereits in der Traumvision vom Kristallboden, zu dem das Meerwasser gerinnt, erscheint. In der Alchemie gilt die Bezeichnung „Vitriol“, die laut Grimmschen Wörterbuch auf der Ähnlichkeit zum Glas beruht, also „von vitrum nach dem aussehen“39 abgeleitet ist, als Akronym eines Lehrsatzes, der den Weg zum Stein der Weisen zeigen sollte: Visita interiora terrae rectificando invenies occultum lapidem („Besuche das Innere der Erde, durch Läuterung wirst Du den verborgenen Stein finden“).40 Auch als Deckname für den Stein der Weisen selbst kursierte in 38 In Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) ist von „Eisenvitriol“ die Rede. 39 Deutsches Wörterbuch, Bd. 26, Sp. 384. 40 Vgl. Hermann Kopp, Geschichte der Chemie. Zweiter Theil. Braunschweig 1844, S. 229, der den Spruch auf Basilius Valentinus zurückführt. Zur Bedeu-

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der Alchemie die Bezeichnung ‚Vitriol‘.41 Es verweist also noch einmal auf den Hintergrund der Alchemie, die hier wie in Hoffmanns Novelle Der Sandmann eine todbringende Anziehungskraft entfaltet. Für eine Deutung des Bergwerks als Chemielabor spricht auch der Name, den Hoffmann der Mittlerfigur gab, die Elis ins Reich der Tiefe lockt: Torbern Bergman (1735-1784) war ein schwedischer Chemiker und Mineralologe, der unter anderem ein Verfahren erfand, mittels Kalk und Schwefelsäure (die damals auch als Vitriolsäure bezeichnet wurde) kohlensäurehaltiges Wasser herzustellen. Bekannt wurde er vor allem durch seine 1775 erschienene Abhandlung De attractionibus electivis, die Goethe zu seinen Wahlverwandtschaften anregte. Abraham Gottlob Werner wiederum sah in dem schwedischen Chemiker einen Wahlverwandten: wie er hing Bergman der Erdentstehungslehre des Neptunismus an. 1788 benannte Werner das bis dahin unter dem Namen ‚Grüner Glimmer‘ bekannte Kupfer-Uranyl-Phosphat um in ‚Torberit‘ (später setzte sich die Bezeichnung ‚Torbernit‘ durch). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der Name „Torbern Bergman“ Hoffmann ein Begriff war, und durchaus möglich, dass er mit der Figur des Bergmanns Torbern auf ihn anspielt. Der Chemiker Torbern Bergman unterschied im Übrigen als einer der Ersten zwischen organischen und anorganischen Stoffen – eine Unterscheidung, die mit der Konservierung von Elis Leiche im Vitriolwasser zusammenfällt. Der Tod Elis’ im Wasser steht jedoch im Zeichen einer vorwissenschaftlichen Chemie, stellt die Rückkehr ins Embryonalstadium doch in der Alchemie einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gewinnung des Steins der Weisen dar.42 Es ist damit ein Zwischenstadium zwischen Leben und Tod, in dem Elis verharrt, ein Zustand, der dem gleicht, der ihm in seinen Angstträumen erschien. Der Traum vom Durchsichtigwerden der Oberfläche hin auf die darunter liegende Tiefe, er mündet immer wieder in einen Zustand des entgrenzten Schwebens und der Auflösung. Beim ersten Erscheinen des Traums wirft sich Elis auf den kristallenen Boden, zu dem die Wasseroberfläche des Meeres geworden ist, doch im gleichen Augenblick

tung der Alchemie für die Werke Hoffmanns siehe Detlef Kremer, „Alchemie und Kabbala. Hermetische Referenzen im Goldenen Topf“. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 2 (1994), S. 36-56, zum Vitriol S. 47. 41 Vgl. Helmut Gebelein, Alchemie. München 1991, S. 93. 42 Böhme, Geheime Macht im Schoß der Erde, S. 92.

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verliert dieser seine kristalline Festigkeit: „Aber der wich unter ihm, und er schwebte wie in schimmerndem Äther“ (HW 4, S. 217). Höhepunkt von Elis’ Angst, die ihn kreischend aus dem Traum erwachen lässt, ist das Gefühl, „[d]aß sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein“ (HW 4, S. 218). Als Elis sich nach dem vermeintlichen Verlust Ullas an den reichen Handelsherren in die Tiefe flüchtet, kehrt sein Angsttraum wieder, abermals erblickt er unter sich Jungfrauen und das Gesicht der Bergkönigin: „Sie erfaßte ihn, zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühender Strahl sein Inneres, und sein Bewußtsein war nur das Gefühl, als schwämme er in den Wogen eines blauen, durchsichtig funkelnden Nebels“ (HW 4, S. 232). Wieder wird der Verlust des Ich und des Bewusstseins als Auflösung aller Raumgrenzen wahrgenommen. Der Blick nach unten, der Projektion ist, bringt keine verborgenen Geheimnisse ans Licht, sondern führt zur Auflösung der räumlichen Ordnung und ihrer symbolischen Besetzung. Die Unterscheidungen von oben und unten, innen und außen, Oberfläche und Tiefe geraten durcheinander und lassen das Ich in einem unterscheidungslosen Raum schweben, in dem sich seine eigenen Konturen auflösen. Der eigentliche Schrecken, von dem die Novelle erzählt, geht nicht von der Dimension der Tiefe an sich aus – es ist vielmehr die Auflösung der klaren Raumordnung, die jeweils den Höhepunkt von Elis’ Angstträumen markiert. Wenn die Tiefe die verborgenen Bereiche der eigenen Seele symbolisiert, so wird hier die Konfrontation damit nicht als Selbsterkenntnis, sondern als Bedrohung erzählt. Der neue Raum, der durch die Projektion des Trauminhalts in die Tiefe erschlossen wird, gefährdet die vertraute räumliche Ordnung und ihre symbolische Besetzung. Er eröffnet eine Tiefendimension des Grauens. Es ist das Grauen des Ungeschiedenen, des Zusammenfalls von Höhe und Tiefe, Traum und Wirklichkeit, Tag und Nacht, von sicherer Oberfläche und dem grässlichen Abgrund, das Elis beherrscht. Elis endet in eben jenem Zustand des unterscheidungslosen Schwebens, wie er ihm im Traum erschienen war. Die „pränatale Konservierung“43 im Erduterus vereinigt Erde und Wasser, Leben und Tod. Sie ist kein Ende, sondern ein – chemisch gedachter – Zustand des Übergangs. Das Grauen, das der Versuch auslöst, hinter eine Unterscheidung zurückzugehen, hat Hoffmann auch andernorts beschrieben: in der Novelle

43 Böhme, Geheime Macht, S. 129.

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Der Sandmann findet der Affekt des Grauens seine buchstäbliche Entsprechung im Grau, dem chromatischen Leitmotiv der Novelle, die sich wie ein undurchdringlicher Schleier über die Wahrnehmung legt.44 Das graue Grauen bezeichnet, wie Inka Mülder-Bach gezeigt hat, einen blinden Fleck der Aufklärung, die mit klaren Unterscheidungen operiert, ohne diese selbst begründen zu können. Das Grau ist das, „was nicht gesehen werden kann: ein vordifferentielles oder entdifferenziertes Medium, in dem Licht und Finsternis, Sehen und Nicht-Sehen, Wissen und Nicht-Wissen sich noch nicht geschieden haben oder ununterscheidbar geworden sind.“45 Während das Grauen im Sandmann vorrangig eine visuelle Blockade darstellt, also mit dem ‚Nicht-Sehen-Können‘ einhergeht, ist es in den Bergwerken zu Falun der Zusammenfall räumlicher Unterscheidungen und ihrer symbolischen Besetzungen, auf die der Protagonist mit Grauen reagiert. Die Schlusspassage der Novelle setzt diesem Zwischenzustand der Ungeschiedenheit jedoch ein klares Ende. Die Möglichkeit einer Wiedergeburt an die Erdoberfläche wird in Erwägung gezogen, um kurzerhand verworfen zu werden. Die Unübersetzbarkeit der Logiken von Tiefe und Oberfläche offenbart sich hier ein letztes Mal: Das unverhoffte Wiedersehen zwischen Braut und Bräutigam ist nur von kurzer Dauer, da der konservierte Leichnam zu Staub zerfällt und damit wieder zu Erde wird. Die Novelle endet mit einer klaren Restitution der Grenzen, die sich zeitweilig aufzulösen drohten. Mit dem Wiederauftauchen des Leichnams und seinem Zerfall zu Staub werden die Unterscheidungen von oben und unten, Wasser und Erde, Leben und Tod wieder hergestellt und in ihren Grenzen bestätigt. Der Schwebezustand hat ein Ende; nicht der Stein der Weisen, sondern Staub ist das Ergebnis. Der Preis der Ordnung ist der Tod von Braut und Bräutigam. Der Tiefenraum, der in Hoffmanns Novelle eröffnet wird, wird damit wieder geschlossen. Er ist auf eine andere Weise unzugänglich als etwa die Tiefe der Charybdis in Schillers Taucher. War es dort die Macht der Natur, die die menschlichen Kräfte überstieg, so ist die Tiefe bei Hoffmann ein Raum, der durch Projektion erst erzeugt wird, der aber nicht rückübersetzt

44 Vgl. dazu Inka Mülder-Bach, „Das Grau(en) der Prosa oder: Hoffmanns Aufklärungen“. In: Gerhard Neumann, ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005, S. 199-221. 45 Mülder-Bach, Das Grau(en) der Prosa, S. 210.

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werden kann in eine Logik der Oberfläche. Es ist nichts Vorgängiges, was hier in die Tiefe projiziert wird und entsprechend zurückgeholt werden könnte. Die Tiefe entsteht durch Projektion als eigenständiger Bereich, der unvereinbar ist mit dem, was an der Oberfläche Gültigkeit hat. Hoffmann denkt die Unübersetzbarkeit der Tiefe sowohl sprachlich als auch chemisch: Was unten besteht, zerfällt oben zu Staub. Was es unten zu sehen gibt, davon kann oben niemand berichten. Die Chemie liefert dabei das Modell für Hoffmanns Sprachdenken: seine Novelle erzählt ein nicht gelingendes chemisches Experiment. Gleich den alchemistischen Versuchen, aus minder wertvollen Stoffen Gold zu erzeugen, wird hier versucht, das in der Tiefe Erfahrene an die Oberfläche zu retten – doch das Experiment scheitert an der Un-umwandelbarkeit von Stoffen. In den Höhlen und Stollen, die Elis erkundet, wird er mit verdrängten Regionen der Seele konfrontiert: mit unbewussten Wünschen, verbotenem sexuellem Begehren, Erinnerungsresten aus der Vergangenheit. Der Erkundungsgang in die Tiefe ist aber keine Forschungsreise, die bisher unbekanntes Gebiet entdecken würde – der ‚Innenraum‘ der Seele ist vielmehr ein Bereich, der im Erzählen erst eröffnet wird. Die Tiefenregionen des Verdrängten und Unbewussten stellen, folgt man Hartmut Böhme, auch bei anderen Autoren keine bislang unbeachteten Bereiche dar, die von den Romantikern erstmals entdeckt und erschlossen worden wären, sondern sie werden durch die Projektion von Anteilen des Psychischen in die Tiefe überhaupt erst erzeugt.46 Die romantischen Tiefenräume sind Projektionen von Innerem nach außen, sie sind Korrespondenzen des unergründlichen Subjekts und machen dessen Abgründigkeit in der Außenwelt erfahrbar. Diese Projektion von Tiefe reflektiert Hoffmann im Motiv des Wassers. Er überblendet das Motiv des Berg-

46 Vgl. hierzu auch Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 133-136. Statt von einer Entdeckung des Subjekts in der Aufklärung spricht Böhme im Anschluss an Foucault von einer Produktion des Subjekts in der Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts: „Und zwar muss die Konstituierung vernünftiger Subjektivität als die Gründungsakte zugleich eines spezifischen Unbewussten verstanden werden [...].“ (Ebd., S. 135) Die Romantik ist insofern also nicht als Opposition zur Aufklärung zu verstehen, sondern als „die Komplettierung der bürgerlichen Subjektproduktion, die literarische Repräsentanz und Rehabilitation der allererst durch die Rationalitätsentwicklung des 18. Jahrhunderts wahrgenommenen Chaotiken und Wildnisse menschlicher Natur“ (ebd., S. 136).

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werks mit dem Motiv des Wassers, weil dieses nicht nur, wie das Bergwerk, als Symbol des Unbewussten fungiert, sondern darüber hinaus die der Symbolbildung zugrunde liegende Projektionsanordnung abbildet. Die spiegelbildliche Entsprechung von Seele des Subjekts und Raumtiefe setzt das Motiv des Wassers selbst ins Bild, indem das Subjekt hier tatsächlich auf die Wasserfläche als einen Spiegel blickt, der die Tiefe des Ich in der Tiefe des Wassers erscheinen lässt. Die Tiefe als Seelentiefe ist bei Hoffmann eine optische Täuschung. Optisch erzeugt, stellt sich die Andersartigkeit der Tiefe auch chemisch dar: Die in der Tiefe gewonnenen Erfahrungen sind, darauf zielt Hoffmanns Novelle, nicht mehr übersetzbar in eine Logik der Außenwelt. Die Tiefe ist, chemisch gedacht, aus ganz anderem Stoff als die Oberfläche der bürgerlichen Welt. Dass auch die Projektion in die Tiefe das Unbewusste nicht greifbar und rational beherrschbar macht, das wird in Hoffmanns Novelle reflektiert.

D URCHSICHT ODER S PIEGELUNG ? H EINRICH H EINES „S EEGESPENST “ In seinem Gedichtzyklus Die Nordsee inszeniert Heine einen Tiefenblick unter die Oberfläche des Meerwassers, der sich unschwer als Spiegelung des Seelenzustandes des Sprechers erkennen lässt. Der Anblick dessen, was dem menschlichen Auge tief am Meeresgrund normalerweise verborgen ist, gestaltet sich bei Heinrich Heine weniger grausig als im Traum des alten Seemannes in Hoffmanns Bergwerken zu Falun. Doch das, was am Grund des Meeres sichtbar wird, ist, wie im Folgenden gezeigt wird, ein ganz anderes ,Unbewusstes‘ als bei Hoffmann: die Nordsee entpuppt sich als Zitatenteich.47

47 Der Begriff stammt von Robert Musil, der schreibt, „die ganze schöne Literatur gleicht einem Zitatenteich, worin sich die Strömungen nicht nur sichtbar fortsetzen, sondern auch in die Tiefe sinken und aus ihr wieder aufsteigen“. Robert Musil, „Literat und Literatur“ (1931). In: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 8: Essays und Reden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 12051207, hier S. 1206.

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Die Nordsee als tabula rasa? Heinrich Heines literarische Bootsfahrt auf der Nordsee gleicht einer Landnahme – hat er doch, wie er selbst meinte, die Nordsee in doppeltem Sinne entdeckt: als literarisches Motiv und als Symbol des eigenen Seelenzustandes. Er hat sich selbst in einem Brief an seinen Verleger Julius Campe einmal als den „Hofdichter der Nordsee“48 bezeichnet – eine Auszeichnung, auf die er meinte durch die „Erste Abtheilung“ des Gedichtzyklus Die Nordsee, die 1826 in den Reisebildern I erschien, einen rechtmäßigen Anspruch erworben zu haben. Schließlich seien seine Nordseebilder, wie er am selben Tag an K.A. Varnhagen von Ense schrieb, durchweg „con amore geschrieben“49. Seit Heine die Sommer von 1823, 1825 und 1826 zur Badekur an der Nordsee, in Cuxhafen bzw. auf der Insel Norderney verbracht hatte, ließ ihn das Meer nicht mehr los. Immer wieder ließ der Dichter Bemerkungen über die Nordsee fallen, die auf vertrauten Umgang und ein intimes Verhältnis deuteten.50 Seine Treue bewies Heine, indem er im zweiten Band der Reisebilder, der 1827 erschien, einen zweiten Zyklus von Nordseegedichten (Nordsee II) sowie einen Prosateil (Nordsee III) folgen ließ. In seinem Werk, in dem Naturschilderungen sonst eher die Ausnahme sind, nimmt das Meer damit tatsächlich eine Sonderstellung ein. Und im Kontext der deutschen Literaturgeschichte hat Heine, wie Bernd Kortländer bemerkt, die Nordsee – bisher kaum ein Motiv höherer Literatur – „aus der Anonymität ihrer natürlichen Existenz herausgeholt, hat sie in ein ästheti-

48 Heine, Brief an Julius Campe vom 29. Juli 1826. In: Heinrich Heine, Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin u.a. 1970ff [Im Folgenden zitiert als HSA]. Band XX, S. 254. 49 Heine, Brief an Varnhagen von Ense vom 29. Juli 1826, HSA XX, S. 254. 50 Davon zeugen vor allem die Briefe, die Heine während seiner Badeaufenthalte auf Norderney schrieb. Vgl. aber beispielsweise auch die Briefe aus Helgoland im Börne-Buch: „Ich habe mich mit dem Meer wieder ausgesöhnt, (Du weißt, wir waren en delicatesse) und wir sitzen wieder des Abends beysammen und halten geheime Zweigespräche.“ In: Heinrich Heine, Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1975ff. [Im Folgenden zitiert als DHA]. Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Hg. von Helmut Koopmann. Hamburg 1978, S. 47.

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sches Meer verwandelt“51. Heine sei der erste deutsche Dichter gewesen, der die Nordsee als literarisches Motiv entdeckt habe. 52 Anders als die von Mythen aller Zeiten überfrachtete Erinnerungslandschaft des Mittelmeers war die Nordsee für Heine gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt, das er ungehemmt beschriften konnte. Um der Neuheit des Sujets gerecht zu werden, suchte Heine, wie überliefert ist, auch lange nach einer geeigneten, neuen lyrischen Form.53 Das Meer ist für ihn Neuland, eine tabula rasa in mehrfacher Hinsicht. Denn nicht nur in Bezug auf ihre relative Freiheit von Mythen und Sagen bietet die Nordsee eine leere Projektionsfläche, sondern sie liefert zudem, worauf Bernd Kortländer hinweist, als Motiv bildlich „weite, leere Flächen, auf die sich die Subjektivität ungestört und ungebrochen projizieren kann.“54 Konterkariert wird diese Rhetorik des Anfangs allerdings dadurch, dass Heine in seinen Gedichten nichts anderes tut, als auf die scheinbar unbeschriebene Fläche des Meeres jene Sagen und Mythen einzutragen, von denen die Nordsee seiner Ansicht nach zuvor unberührt gewesen sei. Die Landnahme des jungfräulichen Meeres gerät zum déjà vu – von der Odys-

51 Bernd Kortländer, „Die Erfindung des Meeres aus dem Geist der Poesie. Heines Natur“. In: ,Ich Narr des Glücks‘. Heinrich Heine 1797-1856. Bilder einer Ausstellung. Hg. von Joseph A. Kruse. Stuttgart/Weimar 1997. S. 261-269, hier S. 261. 52 Vgl. neben Kortländer, Erfindung des Meeres, Joachim Müller, „Heines Nordseegedichte. Eine Strukturanalyse“. In: Ders., Von Schiller bis Heine. Halle 1972, S. 492-598, S. 494f, Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart/Weimar 32004, S. 76, Anthony Phelan, Reading Heinrich Heine. Cambridge 2007, S. 84, sowie die Hinweise bei Dirk Jürgens, „Der Schiffbruch des Ichs. Heines Nordsee-Cyklen als Teil des Buchs der Lieder“. In: Naturlyrik. Über Zyklen und Sequenzen im Werk von Annette von Droste-Hülshoff, Uhland, Lenau und Heine. Hg. von Gert Vonhoff. Frankfurt a.M. 1998, S. 119-160, Anm. 11. Dagegen weist Pierre Grappin im Apparat darauf hin, dass Heines Gedichte zunächst nicht in diesem Sinne rezipiert wurden: „Heines Originalität als erster Dichter der Nordsee, die dann von der Literaturgeschichte betont wurde, fiel seinen deutschen Zeitgenossen vorerst nicht auf“ (DHA I,2, S. 1007). 53 Vgl. dazu Johann Jokl, Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines Buch der Lieder. Opladen 1991, S. 221f. 54 Kortländer, Erfindung des Meeres, S. 265.

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see und der griechischen Götterwelt über die Bibel, die Edda bis hin zu Ossian, ganz zu schweigen von den Zitaten und Anspielungen auf Goethe, E.T.A Hoffmann und andere zeitgenössische Autoren bedienen sich Heines Nordseegedichte ganz offen immer wieder literarischer Vor-bilder und Strukturen. Der Blick auf die scheinbar literarisch unschuldige ‚Nordsee‘ eröffnet Heine ein Reservoir an Themen und Formen, die zur Neuinterpretation und Umschrift einladen. Steffen Schneider bestimmt die Texte der Nordsee als „Wiederholungen des Mythos im Medium der Literatur“55, und zeigt, vor allem am Prosateil Nordsee III, wie diese Wiederholung den Mythos verändert: aus einer eigenständigen Form der Kommunikation werde ein zitierbarer, „spukender Wiedergänger“56 und ein Gegenstand des Wissens. Dass Heine diese Texte dabei verfremdet, parodiert und ironisiert,57 ändert nichts daran, dass das ständige Aufrufen von Vorgängertexten der entscheidende Modus des Umgangs mit dem Meer ist. Und was für die Thematik der Gedichte gilt, ist auch auf ihre formale Gestaltung zu übertragen. Wenn es also im Heine-Handbuch heißt: „Die reimlosen, freirhythmischen und wortschöpferischen Verse der umfangreichen NordseeGedichte begeben sich formal und thematisch auf völliges Neuland“58 – so geht Autor Gerhard Höhn dabei Heines Rhetorik der Jungfräulichkeit auf den Leim: Heine fand keine gänzlich neue Form für sein Nordseethema, sondern nannte selbst Tieck und Goethes frühe Hymnik als Vorbilder für seine freien Rhythmen.59 Sein Umgang mit den Vorgängern ist auch hier ein spielerischer, sein Verfahren, wie Johann Jokl bemerkt, „das des Zitats der alten Formen, das er als solches kenntlich macht und dann unterläuft.“60 Die tabula rasa der Nordsee gerät unter den Händen des Dichters zu einem Palimpsest – so vielschichtig sind die literarischen Anspielungen, die Heine dem unbeschriebenen Blatt der Nordsee einschreibt.

55 Steffen Schneider, „Die Mythologie der Schrift – Zu Heines Nordsee-Texten“. In: Robert André, Christoph Deupmann (Hg.), Paradoxien der Wiederholung. Heidelberg 2003, S. 45-69, S. 45. 56 Ebd. 57 Vgl. Phelan, Reading Heinrich Heine, S. 87: „His quizzical deployment of epic gestures is signalled by methods of burlesque and travesty.“ 58 Höhn, Heine-Handbuch, S. 75. 59 Vgl. DHA 1/2, Apparat, S. 1003f. 60 Jokl, Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe, S. 221.

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Vineta Die Intertextualität, die alle Gedichte der Nordsee kennzeichnet, wird, wie im Folgenden gezeigt werden soll, im zehnten Gedicht des ersten Zyklus metaphorisch ausgestellt, und zwar als Tiefe des besungenen Meeres selbst. Heine bedient sich zur Reflexion seines intertextuellen Verfahrens einer Metaphorik der Tiefe. Er verleiht dem unbeschriebenen Blatt der Nordsee eine eigene Tiefendimension: Im Gedicht X mit dem Titel Seegespenst, um das es im Folgenden geht, wird die Grenze der Wasserfläche erstmals im Zyklus durchdrungen. Es eröffnet sich gleich zu Beginn eine Durchsicht auf den Grund des Meeres: „Seegespenst Ich aber lag am Rande des Schiffes, Und schaute, träumenden Auges, Hinab in das spiegelklare Wasser, Und schaute tiefer und tiefer – Bis tief, im Meeresgrunde, anfangs wie dämmernde Nebel Jedoch allmählich farbenbestimmter, Kirchenkuppel und Türme sich zeigten, Und endlich, sonnenklar, eine ganze Stadt, Altertümlich niederländisch, Und menschenbelebt. [...]“61

Der Blick vom Rand des Schiffes nach unten, „hinab in das spiegelklare Wasser“, durchdringt dessen Spiegelfläche und geht weiter in die Tiefe bis auf den Meeresgrund, wobei es, worauf Joachim Müller hingewiesen hat, sicher kein Zufall ist, „daß Heine ‚im‘ Meeresgrund, nicht ‚am‘ Meeresgrund sagt: ‚am‘ wäre lokalisierend, ‚im‘ weist auf ein unabgrenzbares, mehrdimensionales Tiefensein, das Meer heißt“62. Tatsächlich kann, so das Grimmsche Wörterbuch, „Grund“ „auch den dem boden nächsten theil des 61 DHA 1/1, S. 384, zitiert wird nach dem Text des Erstdrucks in den Reisebildern. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden unter Angabe des Verses im Fließtext gekennzeichnet als DHA 1/1. 62 Joachim Müller, Heines Nordseegedichte, S. 529.

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gewässers bezeichnen, also ‚tiefe‘; das ist der unterschied von meeresgr. und meeresboden“63. Diese Tiefendimension ‚im‘ Meeresgrund nun erweist sich als ein ganzes Reservoir von Zitaten und Anspielungen, allem voran auf den Mythos von der Stadt Vineta, auf den schon der Heineleser Crampas in Fontanes Effi Briest hinwies. Effi, die nur die Vinetasage kennt (und die versunkene Stadt direkt vor der Küste von Kessin vermutet), wird von Crampas auf das Heinesche Gedicht aufmerksam gemacht: „Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben“, belehrt Crampas Effi, „ich glaube ‚Seegespenst‘ oder so ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er selber – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe –, der Dichter also, während er die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter und sieht da schmale, mittelalterliche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Gesangbuch in Händen und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er das hört, da faßt ihn eine Sehnsucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen, und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstürzen.“64

Auch wenn Crampas hier eine recht eigenwillige Interpretation des Heineschen Gedichts liefert, in welchem weder die von Crampas stark strapazierten „Kapothüte“ vorkommen noch die Kirche und der Glockenklang die zentrale Rolle spielen, die er ihnen zuschreibt, so liegt er doch zumindest mit dem Hinweis auf Vineta richtig. Heine selbst gibt die Sage in Nordsee III noch einmal wieder: „Man sagt, unfern dieser Insel, wo jetzt nichts als Wasser ist, hätten einst die schönsten Dörfer und Städte gestanden, das Meer habe sie plötzlich alle überschwemmt, und bey klarem Wasser sähen die Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der versunkenen Kirchthürme, und mancher habe dort, in der Sonntagsfrühe, sogar ein frommes Glockengeläute gehört.“65

63 Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Sp. 670. 64 Theodor Fontane, Effi Briest. In: Ders., Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Abteilung I/ Band 4. München 21974, S. 137. 65 DHA 6, S. 150.

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Darauf zitiert Heine die vorletzte Strophe des Gedichts Vineta von Wilhelm Müller, das dieser im September 1826 in der Zeitschrift Aurora veröffentlicht hat, und das deutliche Übereinstimmungen mit Heines Seegespenst aufweist.66 „Vineta Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde Klingen Abendglocken dumpf und matt, Uns zu geben wunderbare Kunde Von der schönen alten Wunderstadt. In der Fluten Schoß hinabgesunken, Blieben unten ihre Trümmer stehn. Ihre Zinnen lassen goldne Funken Widerscheinend auf dem Spiegel sehn. Und der Schiffer, der den Zauberschimmer Einmal sah im hellen Abendrot, Nach derselben Stelle schifft er immer, Ob auch ringsumher die Klippe droht. Aus des Herzens tiefem, tiefem Grunde Klingt es mir, wie Glocken, dumpf und matt. Ach, sie geben wunderbare Kunde Von der Liebe, die geliebt es hat. Eine schöne Welt ist da versunken, Ihre Trümmer blieben unten stehn,

66 Vgl. DHA 1/2, Apparat, S. 1031. Grappin weist in seinen Erläuterungen auf die „merkwürdige Parallele“ zwischen beiden Gedichten hin und bemerkt, dass Heine Müller nicht als Quelle benutzt haben kann, da seine Reisebilder bereits Monate vor Müllers Gedicht veröffentlicht wurden. Eher kommt, wozu sich Grappin allerdings nicht äußert, eine umgekehrte Einflussnahme in Frage, da Heine Müller am 7. Juni 1826 ein Exemplar der Reisebilder geschickt hatte. Vgl. DHA 20, S. 249-251.

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Lassen sich als goldne Himmelsfunken Oft im Spiegel meiner Träume sehn. Und dann möcht ich tauchen in die Tiefen, Mich versenken in den Widerschein, Und mir ist, als ob mich Engel riefen In die alte Wunderstadt hinein.“67

Anders als bei Heine dringt der Blick hier nicht unter die Wasseroberfläche. Nur der Klang der Abendglocken gelangt aus der Tiefe ans Ohr des Sprechers, während die Zinnen und Trümmer der versunkenen Stadt sich lediglich als „Widerschein“ auf dem Wasserspiegel zeigen. Dafür wird bei Müller als Vergleich ausbuchstabiert, was sich bei Heine auf der Ebene der Metaphorik abspielt: Die Deutung der Meerestiefe als Seelen- bzw. Herzenstiefe.68 Die Trümmer der versunkenen Stadt gleichen bei Müller den Erinnerungsresten, die eine verflossene Liebe am Grunde des Herzens hinterlassen hat. Doch ein Blick in die Herzenstiefe wird hier nicht gewährt, seine Geheimnisse lassen sich nur gespiegelt erfahren: dem Spiegel der Wasseroberfläche entspricht der Spiegel der Träume. Bei Heine hingegen ist die Konstellation eine andere, weniger offensichtlich allegorische. Der Vergleich von Meerestiefe und Herzens- oder Seelentiefe wird im Seegespenst nur nahegelegt, die Vision am Meeresgrund wird nicht als Spiegelung, sondern als tatsächliche Durchsicht in die Tiefe des Wassers präsen-

67 Wilhelm Müller, Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Maria-Verena Leistner. Band 2: Gedichte 2. Gatza-Verlag o.J., S. 64. Das Gedicht erschien in der Sammlung „Muscheln von der Insel Rügen“, die im September 1926 in „Urania, Taschenbuch auf das Jahr 1827“ veröffentlicht wurde (vgl. ebd., Anmerkungen S. 69). 68 An anderer Stelle findet sich dieser Vergleich auch bei Heine; so im Gedichtzyklus Heimkehr: „Mein Herz gleicht ganz dem Meere, / Hat Sturm und Ebb’ und Fluth, / Und manche schöne Perle / In seiner Tiefe ruht.“ (DHA 1/1, S. 216, Gedicht XII. Ähnlich heißt es im Prosateil Nordsee III: „Ich liebe das Meer wie meine Seele. Oft wird mir sogar zumute, als sei das Meer eigentlich meine Seele selbst. [...] Die Geschichte ist wahr; denn das Meer ist meine Seele“ (DHA 6, S. 150).

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tiert (die erst im folgenden Gedicht als „wahnsinniger Traum“69 apostrophiert wird). Statt eines bloßen „Widerscheins“ einer „Wunderstadt“ an der Oberfläche bietet sich dem Blick des Sprechers ein detailgenaues und bewegtes Bild einer Stadt am Meeresgrund: „Bedächtige Männer, schwarzbemäntelt, mit weißen Halskrausen und Ehrenketten Und langen Degen und langen Gesichtern, Schreiten, über den wimmelnden Marktplatz, Nach dem treppenhohen Rathhaus, Wo steinerne Kayserbilder Wacht halten mit Zepter und Schwerdt. Unferne, vor langen Häuser-Reih’n Mit spiegelblanken Fenstern, Stehn pyramidisch beschnittene Linden, Und wandeln seidenrauschende Jungfraun, Ein gülden Band um den schlanken Leib, Die Blumengesichter sittsam umschlossen Von schwarzen, sammtnen Mützchen, Woraus die Lockenfülle hervordringt. Bunte Gesellen, in spanischer Tracht, Stolziren vorüber und nicken. Bejahrte Frauen, In braunen, verschollnen Gewändern, Gesangbuch und Rosenkranz in der Hand, Eilen, trippelnden Schritts, Nach dem großen Dome, Getrieben von Glockengeläute Und rauschendem Orgelton. [...]“ (Seegespenst, V. 12-35)

Mit dem Bild der christlichen Stadt am Grund des Meeres kehrt Heine die symbolische Raumvorstellung der Romantik um: sind dort die verborgenen Bereiche unter der Oberfläche, wie in Hoffmanns Bergwerken zu Falun oder Tiecks Runenberg, mystisch konnotierte Orte mit unwiderstehlicher

69 Im folgenden Gedicht XI. („Reinigung“), V. 2 (DHA 1/1, S. 388).

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Anziehungskraft, so ist am Grund von Heines Meer das Glockengeläut des großen Domes der einzig vernehmbare Laut.70 Die christliche, frühneuzeitliche Stadt zitiert laut Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe einen Jugendtraum Heines, den „Traum von der Frömmigkeit der gotischmittelalterlichen Epoche“71, der aber, deutlich genug, aus Versatzstücken von Almanachliteratur und Gedichtsammlungen bestehe. Die bildhafte Darstellung und die Bezeichnung der Stadt als „altertümlich niederländisch“ evoziert zudem die kunstgeschichtliche Epoche der altniederländischen Malerei, und tatsächlich bilden die stark überzeichneten Bevölkerungsgruppen der Meeresstadt, worauf Gerhard Kaiser hinweist, „eine Musterkollektion von geläufigen malerischen Motiven der niederländischen Schule“72. Andererseits weist das Bild durch die genaue Beschreibung von Details wie den steinernen Kayserbildern und der spanischen Tracht konkreten historischen Zeitbezug auf: durch die Details lässt sich die Vision auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datieren, die Zeit der Reformation in Europa, während der Kaiser Karl V., zugleich König von Spanien, und anschließend sein Bruder und Nachfolger Ferdinand I., über die Niederlande regierten. Die „Frömmigkeit“ dieser Epoche bestand aber auch in der Protestantenverfolgung unter der spanischen Herrschaft, die das Ziel hatte, die zum Protestantismus konvertierten Teile der Bevölkerung wieder zum Katholizismus zu bekehren. Auf den Katholizismus verweist der Rosenkranz, ein Utensil der katholischen Glaubenspraxis, das im Seegespenst allerdings nur noch von „Bejahrte[n] Frauen, / In alten, verschollenen Gewändern“ (V. 29f) zum „großen Dome“ (V. 33) getragen wird. Sie allein folgen dem Appell des Glockengeläuts, das in der Sagengeschichte ein zentrales Motiv ausmacht und noch über der Wasserfläche zu hören sein soll. Die Menschen auf dem „wimmelnden Marktplatz“ (V. 15) bleiben bei Heine vom Glockengeläut allerdings ebenso unbeeindruckt wie die „seidenrauschende[n] Jungfrauen“ (V. 22), die lieber unter „pyramidisch beschnittene[n]

70 Vgl. hierzu auch Gerhard Kaiser, „Doktor Faust, sind Sie des Teufels?“. In: Euphorion 78 (1984), S. 188-197, hier S. 191, mit weiteren Beispielen für die symbolische Raumvorstellung der Romantik, die sich bis zu C.F. Meyers Symbolismus hin fortsetze. 71 Vgl. DHA 1/2, Erläuterungen, S. 1031. 72 Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 193.

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Linden“ (V. 21) wandeln. Das gleiche gilt für die „Bedächtige[n] Männer“ (V. 12), die langsam auf das Rathaus zuschreiten, dabei allerdings „lange[] Gesichter[]“ (V. 14) machen, wodurch die würdevolle Ausstrahlung gleich wieder konterkariert wird.73 Die pyramidischen Linden und die steinernen Kaiserbilder gehören nicht ins Mittelalter, sondern sind zeitgenössische Reminiszenzen an die Hafenstadt Hamburg, wo Kaiserbilder mit Krone und Szepter die Fassade des alten Rathauses schmückten und ein Ort namens „Jungfernstieg“ mit mehreren Reihen Linden bepflanzt war.74 So wenig die Meerstadt also eine außer der Zeit stehende Idylle darstellt und mit ihr, wie Wolfgang Preisendanz schreibt, „das Bild eines verschollenen, heilen, harmonischen, ganzheitlichen Daseins heraufbeschworen wird“75, so nimmt die klischeehafte Beschreibung ihr doch wiederum allen historischen Ernst. „Die biedermeierlichen Details“, schreibt Johann Jokl, „haben alles andere als eine romantisierende Funktion, sie dienen vielmehr dazu, den Mythos vom Mittelalter ad absurdum zu führen, indem sie ihn als schlecht kostümiertes Biedermeier ridikülisieren.“76 Die Figuren haben etwas übertrieben Puppenhaftes, sie bewegen sich mechanisch („getrieben“) in den ihnen vorgeschriebenen Bahnen wie die Figuren in einer Spieluhr und tragen ihre Zitathaftigkeit deutlich zur Schau. Die Stadt am Meer ist ein anderes Vineta, als es etwa in Müllers Bearbeitung erscheint. Heine übernimmt Grundzüge der Sage, trägt in das Bild der Wunderstadt aber historische, kunsthistorische und religionspolitische Misstöne ein. Seine Stadt am Meeresgrund ist eine Collage verschiedenster Versatzstücke, die in einem durchaus spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen.

73 Laut Grimmschen Wörterbuch gab es die Redewendung „ein langes gesicht machen (bei abweisung des verlangten oder anderer enttäuschung)“ auch schon zur Zeit Heines. Vgl. Deutsches Wörterbuch Bd. 5, Sp. 4095. 74 Vgl. DHA 1/2, Erläuterungen, S. 1031. Die pyramidisch beschnittenen Linden deutet Dirk Jürgens, Schiffbruch des Ichs, als „Sinnbild des falschen Geschichtsverlaufs“ (S. 138), da die Linde, das Symbol für die freie erotische Begegnung Liebender hier zurechtgestutzt ist „wie in einer Gartenanlage der Rokokozeit“ (S. 138). 75 Wolfgang Preisendanz, Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München 21983, S. 170. 76 Jokl, Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe, S. 239.

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Das vergessene Kind Von der automatenähnlichen Zitathaftigkeit der Figuren ist auch die Hauptperson am Grund des Meeres nicht ausgenommen. Das einsame Mädchen, das in dem Spektakel die Rolle der Außenseiterin oder der unbeteiligten Beobachterin einnimmt, wird vom Blick desjenigen, der selbst „am Rande des Schiffes“ (V. 1) liegt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: „Mich selbst ergreift des fernen Klangs Geheimnißvoller Schauer, Unendliches Sehnen, tiefe Wehmuth Beschleicht mein Herz, Mein kaumgeheiltes Herz; Mir ist als würden seine Wunden Von lieben Lippen aufgeküßt, Und thäten wieder bluten, Heiße, rothe Tropfen, Die lang und langsam niederfall’n Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus, Das melancholisch menschenleer ist, Nur daß am untern Fenster Ein Mädchen sitzt, Den Kopf auf den Arm gestützt, Wie ein armes, vergessenes Kind – Und ich kenne dich armes, vergessenes Kind! So tief, so tief also Versteckest du dich vor mir, aus kindischer Laune, Und konntest nicht mehr hinauf, Und saßest fremd unter fremden Leuten, Fünfhundert Jahre lang, Derweilen ich, die Seele voll Gram, Auf der ganzen Erde dich suchte, Und immer dich suchte, Du Immergeliebte, Du Längstverlorene, Du Endlichgefundene, –

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Ich hab’ dich gefunden und schaue wieder Dein süßes Gesicht, Die klugen, treuen Augen, Das liebe Lächeln – Und nimmer will ich dich wieder verlassen, Und ich komme hinab zu dir, Und mit ausgebreiteten Armen Stürz’ ich hinab an dein Herz – [...].“ (Seegespenst, V. 36-74)

Die in der Forschung umstrittene Deutung der Unterwasservision ist immer wieder von der Frage nach dem armen, vergessenen Kind ausgegangen, das den Blick des Sprechers so unwiderstehlich auf sich zieht. So argumentiert Joachim Müller in seiner 1972 erschienenen Arbeit zu Heines Nordseegedichten, das Meer im Seegespenst werde nicht als „eine objektive historische Reminiszenz beschworen, sondern diese löst sich aus dem Blick des ins Wasser bis auf den Meeresgrund hineinträumenden Dichters als eine Vision, in der sich eigenes schmerzliches Erleben kristallisiert: Die verlorene Geliebte könnte in der Stadt wohnen.“77 Er spricht von einem „circulus vitiosus der Phantasie“, der den „Dichter“ überall in der Natur das sehen lässt, was sein Gemüt beschäftigt: „So entsteht aus der immer latenten Sehnsucht des zu Schiff fahrenden Dichters im Traumblick die alte Stadt, weil die ersehnte Geliebte mit dem Wohnen in einer alten Stadt verbunden ist, und diese Assoziation introvertiert sich gleichsam, so daß die aus der Sehnsucht beschworene Stadt nun wieder die Geliebte vor die Phantasie emporsteigen läßt.“78 Implizit ist der Beschreibung Müllers die Deutung der Meeresvision als Projektion des „Dichters“, der seine Sehnsucht auf den Grund des Meeres projiziert. Nach Jan-Oliver Decker entspricht die Projektionsanordnung allerdings eher der Struktur der Verdrängung: Decker, der Heines Nordsee-Zyklus vor allem im Hinblick auf dessen „Selbstreflexion literarischen Wandels“ liest, versteht die Vision der Unterwasserstadt als Bild der verdrängten eigenen Vergangenheit, die vor allem für eine überwundene literarische Schaffensphase steht: „In N I, 10 Seegespenst projiziert das Sprecher-Ich eine innerpersonell verdrängte Vergangenheit in eine 77 Müller, Heines Nordseegedichte, S. 531. 78 Ebd.

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Meerestiefe, die das Sprecher-Ich anlockt und zu einem zeitweiligen Selbstverlust führt. [...] Das Ich bezieht sich hier also auf den früheren Zustand seines Selbst im BdL und damit auf frühere Texte des Gesamtzyklus, in denen das Ich seine unerfüllte Liebe zur Geliebten, die ihn verlassen hat, mit seinem metaphorischen Tod verbindet.“79 Die Geliebte, die in der Tiefe sichtbar wird, ist also bereits eine literarische Gestalt. Dass es jedoch nicht nur die zurückliegende literarische Eigenproduktion ist, die dem Ich aus der Tiefe entgegenscheint, sondern das Spiegelbild in der Tiefe einen guten Anteil an fremden Texten zeigt, darauf weist Gerhard Kaiser hin: Die Beschreibung der Meerstadt verweise vor allem auf den Osterspaziergang in Goethes Faust, so Kaiser, das Mädchen am Fenster aber auf Gretchen am Spinnrad,80 womit sich der „Trauminhalt der Seele“ (und das nicht nur, was die Deutung des Mädchens anbelangt) als Zitatenschatz und Bibliothek erweist: „Die Tiefe des literarischen Meeres, das die Metapher für die Tiefe der Seele abgibt, ist trockenes Papier. Die Blutstropfen, die aus der künstlich am Bluten gehaltene[n] Herzenswunde hinunterfallen und zur Geliebten weisen, sind ein ganz besonderer Saft: Tinte, die zu Papier kommt. Wie der Naturlaut der Seele aus dem beschriebenen und bedruckten Papier der Literatur aufgestiegen ist, decouvriert sich die Gretchen-Idylle in der Tiefe der Seele als Theater, Genreszene, Zitat.“81

Was die literarischen Anspielungen angeht, so lassen sich neben Goethes Faust noch unzählige weitere Zitate und intertextuelle Verweise ausfindig machen, die hinter Heines Gedicht stehen. Neben der Vinetasage sind es beispielsweise Goethes Fischer, der von einer Wasserfrau in die Tiefe gelockt wird, und die zweite Strophe aus dem Gedicht Auf dem See:

79 Jan-Oliver Decker, „Selbstreflexion literarischen Wandels. Zu Heines NordseeZyklen im Buch der Lieder (1844 [sic]). In: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 27, Heft 1-2 (2005), S. 45-64, S. 52. Vgl. zu diesem Interpretationsansatz auch Gerhard Höhn, Heine-Handbuch, S. 61: „Neben dem ästhetischen Interesse verfolgte Heine bei seiner zyklischen Kompositionsweise auch ein psychologischexistentielles: Die Sammlung sollte seine dichterische Jugendphase als abgeschlossen und überwunden dokumentieren.“ 80 Vgl. Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 193. 81 Ebd., S. 195f.

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„Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum! so Gold du bist, Hier auch Lieb’ und Leben ist.“82

Die Abfolge eines sich nach unten, unter die Wasseroberfläche, senkenden Blicks, der sich in einen Traumblick wandelt, und dann vom Sprecher im Namen des Hier und Jetzt verscheucht wird, weist die gleiche Blickstruktur auf wie Heines Seegespenst. Des Weiteren wäre, um bei Goethe zu bleiben, auch an ein anderes ‚vergessenes‘ Kind zu denken: an die Figur der Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre. Die Metaphorik des Meeres mündet, worauf auch Steffen Schneider hinweist, in eine Bibliotheksfantastie: „Es ist der Raum der Schrift, dem er [der Erzähler] sich gegenüber befindet und in den er sich einzuschreiben hat, der im rauschenden und unentwegt sich bewegenden Meer seine Metapher findet [...].“83 Im Bild des vergessenen Kindes am Meeresgrund überlagern sich vielfältige Bedeutungsschichten, die keineswegs nur literarischer Natur sind. Es ist Figuration einer ehemaligen Geliebten84 und Wiedergängerin des Gretchens aus Goethes Faust,85 es ist die verdrängte Vergangenheit des Sprecher-Ich, die verflossene Liebe und frühere literarische Produktion gleichermaßen beinhaltet.86 Mit gleichem Recht ist das Mädchen entschlüsselbar als eine Allegorie des Judentums,87 dem Heine wenige Monate vor

82 Goethe, WA Abt. II, Bd. 1, S. 78. 83 Schneider, Mythologie der Schrift, S. 54f. Steffen Schneider interpretiert die Bezugnahme des lyrischen Ich auf die Bibliothek der Vorgängertexte als Entmächtigung seiner Schöpferkraft. Gegenüber dem heterogenen und transitorischen Sinnangebot des Meeres habe der Erzähler bzw. das lyrische Ich „seine privilegierte Rolle einer strukturierenden und Form gebenden Kraft zu eine großen Teil eingebüßt“ (S. 69). 84 Vgl. z.B. Müller, Heines Nordseegedichte, S. 531. 85 Vgl. Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 193ff. 86 Vgl. Decker, Selbstreflexion, S. 52. 87 Vgl. DHA 1/2, Apparat, S. 1032. Hier auch ein Verweis auf Karl Hessel, der diese Deutung bereits 1892 vorgeschlagen hat: „Das mysteriöse Mädchen, das seit dem Mittelalter fremd unter fremden Leuten (V. 58) lebt, ist eine Allegorie des verfolgten jüdischen Volkes und Glaubens.“

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Entstehung des Gedichtes durch seine Taufe den Rücken gekehrt hatte und es kann gedeutet werden als Personifikation der „Angehörigen aller Schichten, für die sich in ‚fünfhundert Jahren‘ des bürgerlichen Aufstiegs in sofern nichts geändert hat, als sie noch immer [...] die Beherrschten sind“88. Es ist die Pointe der Unterwasservision, dass sie aus einer Überlagerung verschiedener historischer, biographischer und literarischer Anspielungen besteht, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, und die mit der obigen Aufzählung der bislang von der Forschung vorgeschlagenen Deutungsaspekte noch keineswegs erschöpft ist. Der Blick in das aus der Tiefe hervor scheinende Bild zitiert deutlich den Mythos des Narziss,89 und nimmt man diese literarische Anspielung ernst, so ist das geliebte, vergessene, wiedergefundene Kind am Grund des Meeres vor allem ein Spiegelbild des Sprechers selbst. Dass es ausgerechnet die Figur eines Kindes ist (und nicht das einer Geliebten, wovon die meisten Interpreten stillschweigend ausgehen), das inmitten dieses Trümmerhaufens aus Erinnerungsresten sitzt, ist dabei freilich auch keineswegs unschuldig, ist das Kind doch in der Romantik Symbol der Unschuld und Naivität. Danach sehnt sich der belesene Dichter, der sich oben über die Reling beugt, und alle Naivität längst verloren hat. Dass der Blick des Sprechers „träumenden Auges“ (V. 2) nur vermeintlich die Wasserfläche durchdringt, während er sich tatsächlich daran bricht und auf sich bzw. in sein Inneres zurücklenkt, darin sind sich die verschiedenen Interpretationsansätze zu Heines Seegespenst einig. Es ist das romantische Verfahren der Projektion eines Innenraumes nach außen, das Heine hier zitiert. In diesem Sinn bemerkt Gerhard Kaiser: „Bei Heine wirft der Meeresspiegel das Bild des Ich zurück; weiter und weiter in dieses Spiegelbild eindringend, fällt der träumerische Blick in die Tiefe des Wassers, die Tiefe des Ich ist. Dort geht ihm, selbstreflexiv, allmählich der Trauminhalt der Seele auf – aber entfremdet, vergegenständlicht als altertümliche

88 Jürgens, Schiffbruch des Ichs, S. 139. 89 Auf den Narzissmythos weist Gerhard Kaiser beiläufig hin. Siehe Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 191: „Die Erfahrung, die im Gedicht laut wird, ist also monologisch, Selbsterfahrung, und zwar in narzißtischer Weise. Der Träumer ist von sich fasziniert und erkennt sich doch nicht, nicht die Geliebte, die seine anima ist.“

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Stadt.“90 Doch es geht hier nicht um Entfremdung, zumindest nicht, insofern damit die Abweichung von einem ‚authentischen‘, ‚wahren‘ Bild des Ich gemeint ist. Die Seele ist nichts anderes als das, was in der Tiefe des Spiegels sichtbar wird. Der Sprecher in „Seegespenst“, er ist ein Narziss, der sich über den Rand des Schiffes beugt, um in der vermeintlichen Tiefe des Wassers sich selbst zu erblicken – und was ihm entgegenschaut, ist der literarische Zitatenschatz, aus dem er besteht, durchsetzt mit historischen Reminiszenzen, religionspolitischen und kunstgeschichtlichen Anspielungen: ein Trümmerhaufen der Erinnerung, und mitten darin das lang gesuchte, vergessene Kind, ein Bild der Unschuld und Naivität, die dem Dichter unwiederbringlich verloren ist. Fluchtversuch Gute 50 Jahre zuvor hatte Herder noch gemeint, sich vor dem gelehrten Zuviellesen durch einen Sprung aufs Schiff retten zu können, um sich, wie er in seinem Journal meiner Reise im Jahr 1769 schreibt, von seinem Dasein als „Repositorium voll Papiere und Bücher“91, aus einem „Tintenfass von gelehrter Schriftstellerei“92 zu befreien und so ein menschlicheres Leben wiederzugewinnen93 – Heines Reisebilder und vor allem die Nordseegedichte dagegen wissen, dass Fluchtversuche dieser Art nichts nützen, dass man auch auf dem Wasser der Bücherflut nicht entkommt und dass man den Ballast der Bildung und Erinnerung auch auf offener See kaum abschütteln kann. Genauso begleitet das Ich des Seegespensts aber auch die Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld mit auf die See. Dem Drang, sich nach unten zu stürzen, kann es aus eigener Kraft nicht widerstehen. Es ist drauf und dran, sich in sein Spiegelbild zu werfen, als es noch einmal gerettet wird. Doch diese Rettung ist eine zweifelhafte, denn auch sie stellt nichts anderes als ein literarisches Zitat dar: „Aber zur rechten Zeit noch Ergriff mich beym Fuß der Capitän, Und zog mich vom Schiffsrand, 90 Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 191. 91 Herder, FHA 9.2, S. 11. 92 Ebd. 93 Vgl. Inka Mülder-Bach, Ferngefühle, v.a. S. 264.

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Und rief, ärgerlich lachend: Doktor, sind Sie des Teufels?“ (Seegespenst, V. 75-79)

In letzter Sekunde reißt der Kapitän des Schiffs am Ende des Gedichts den Träumenden aus seinem Traum, bevor er sich dem Spiegelbild im Wasser entgegenwirft. Der Ausruf „Doktor, sind Sie des Teufels?“ zitiert E.T.A. Hoffmanns Goldenen Topf, in dem sich der Student Anselmus während einer Überfahrt in die Fluten der Elbe stürzen will, und ebenfalls im letzten Augenblick davon zurückgehalten wird. Während der Überfahrt spiegeln sich bei E.T.A. Hoffmann die Lichter eines eben gezündeten Feuerwerks im Wasser, und da wird es Anselmus zumute, „als zögen die goldenen Schlänglein wieder durch die Flut.“94 Die drei goldgrünen Schlänglein, Serpentina und ihre Schwestern, die ihm soeben in den Zweigen eines Holunderbusches erschienen waren,95 vermutet er nun im Wasser: „,Ach, seid ihr es denn wieder, ihr goldenen Schlänglein, singt nur, singt! In eurem Gesange erscheinen ja wieder die holden lieblichen dunkelblauen Augen – ach, seid ihr denn unter den Fluten!‘ – So rief der Student Anselmus und machte dabei eine heftige Bewegung, als wolle er sich gleich aus der Gondel in die Flut stürzen. ,Ist der Herr des Teufels?‘ rief der Schiffer und erwischte ihn beim Rockschoß.“96

Der Schiffer wiederholt bei E.T.A. Hoffmann wiederum einen Zuruf, den Anselmus schon einmal zu hören bekommen hat. Als Beispiel für das ihn ständig verfolgende Missgeschick berichtete er in der „Ersten Vigilie“ von einem unglücklich gelaufenen Vorstellungsgespräch beim Geheimen Rat, wo ihm der eigens zu diesem Anlaß vom Frisör angeheftete Zopf bei der ersten Verbeugung vom Kopf fällt und dem geheimen Rat von einem Mops apportiert wird:

94 E.T.A. Hoffman, Der goldene Topf. In: Ders., Sämtliche Werke. Hg. von Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht u.a. Band 2.1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a.M. 1993, S. 229-321, hier S. 238. 95 Vgl. ebd., S. 233-235. 96 Ebd., S. 238.

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„Ich springe erschrocken nach und stürze über den Tisch, an dem er frühstückend gearbeitet hat, so daß Tassen, Teller, Tintenfaß-Sandbüchse klirrend herabstürzen und der Strom von Chokolade und Tinte sich über die eben geschriebene Relation ergießt. „Herr, sind Sie des Teufels“, brüllt der erzürnte geheime Rat und schiebt mich zur Türe hinaus.“97

Dass es nicht obige, sondern diese Stelle ist, die Heine im Wortlaut zitiert, scheint kein Zufall: Statt ins Wasser stürzt Anselmus hier mit Tinte und Schokolade ins Geschriebene, und diese Schriftfixierung ist es, welche die intertextuelle Parallele zwischen goldenem Topf und Heines Seegespenst eigentlich ausmacht. Denn auch die drei grünen Schlangen, die Anselmus im Wasser erscheinen, erweisen sich als Allegorien der Schrift.98 Mit Serpentina wird Anselmus am Ende des ‚Märchens‘ in Atlantis, einer anderen Version der Unterwasserstadt, leben, während in Heines Seegespenst der Traum von der Poesie als Ausgeliefertsein an die literarische Tradition verworfen wird. Das, was der Sprecher von Heines Gedicht in der Tiefe sieht, entpuppt sich als Wahnbild und Seegespenst, als ein „wahnsinniger Traum“99, dem im folgenden, „Reinigung“ betitelten Gedicht abgeschworen wird. „Gedicht XI (Reinigung) Bleib du in deiner Meerestiefe, Wahnsinniger Traum, Der du einst so manche Nacht Mein Herz mit falschem Glück gequält hast, Und jetzt, als See-Gespenst, Sogar am hellen Tag’ mich bedrohtest – Bleib’ du dort unten, in Ewigkeit, Und ich werfe noch zu dir hinab All meine Schmerzen und Sünden, Und die Schellenklappe der Thorheit, Die so lange mein Haupt umklingelt, 97 Ebd., S. 232. 98 Vgl. Kaiser, Doktor Faust, sind Sie des Teufels, S. 195. 99 So die zweite Zeile des Gedichts „Reinigung“, DHA 1/1, S. 388.

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Und die kalte, gleißende Schlangenhaut Der Heuchelei, Die mir so lang’ die Seele umwunden, Die kranke Seele – Hoiho! Hoiho! Da kommt der Wind! Die Segel auf! Sie flattern und schwelln! Über die stillverderbliche Fläche Eilet das Schiff, Und es jauchzt die befreite Seele.“100

Was immer es also ist, das dem Ich aus der Tiefe entgegenscheint, es wird nun als Seegespenst und wahnsinniger Traum verworfen. Rollenbilder sollen abgelegt werden, der Torheit, der Heuchelei wird abgeschworen. Doch dem Prinzip der Spiegelung entkommt das Ich auch hier nicht: bestand das Bild am Grund des Meeres teilweise aus religiösen Versatzstücken, so gleicht die Befreiung davon selbst einem religiösen Bußakt. Die „Sünden“ werden hinabgeworfen in die „Ewigkeit“, die Schlangenhaut soll abgelegt werden. Doch gerade diese Art, die Seele zu befreien, bleibt suspekt, bringt doch die Häutung der Schlange nur wieder die gleiche Schlange in verjüngtem Kleide hervor. Statt ein verborgenes Inneres zu befreien, tritt eine neue Haut, eine neue Außenseite ans Licht. Eine ‚Reinigung‘ und ‚Befreiung‘ der Seele von dem längst zum Bodensatz abgesunkenen Zitatenschatz ist, man ahnt es schon, schon allein deshalb kaum möglich, weil auch dieses Gedicht durch und durch Zitat ist. Schon der Titel zitiert ja Aristoteles’ Poetik und das Konzept der Katharsis, einen poetologischen Begriff, und verweist darauf, dass es aus der Welt der Literatur kein Entkommen gibt. Wenn der Sprecher sich also nun vom kontemplativen Blick in die Tiefe des Meeres und der Seele losreißt und sein Heil in der in die Ferne gerichteten Fahrt über die Wasserfläche sucht, so ist diese neue Konstellation wiederum längst bekannt. Bei Goethe folgt auf das Gedicht Meeres Stille (1795), 101 das eine (ebenfalls poetologisch deutbare) Flaute zum Thema hat, die Glückliche Fahrt:

100 DHA 1/1, S. 388. 101 „Meeres Stille Tiefe Stille herrscht im Wasser, Ohne Regung ruht das Meer,

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„Die Nebel zerreißen, Der Himmel ist helle, Und Äolus löset Das ängstliche Band. Es säuseln die Winde, Es rührt sich der Schiffer. Geschwinde! Geschwinde! Es teilt sich die Welle, Es naht sich die Ferne; Schon seh’ ich das Land!“102

Von Goethe kommt Heines Sprecher nicht los. Doch während Goethes Gedicht das rettende Land fest im Blick hat, wird dieser Bezugspunkt bei Heine gekappt. Ziellos geht es hier dahin über die „stillverderbliche Fläche“ (V. 20), die Rettung wird in der Bewegung selbst gesucht. Die Dynamik erinnert eher an eine andere, von Heine in Nordsee III zitierte „seemännische[] Wundersage[]“103 , die vom fliegenden Holländer.104 So ist es nicht verwunderlich, dass auch das letzte Gedicht des Zyklus keine Änderung mehr herbeiführt. In Frieden 105 scheint zwar die VerganUnd bekümmert sieht der Schiffer Glatte Fläche rings umher. Keine Luft von keiner Seite! Todesstille fürchterlich! In der ungeheuern Weite Reget keine Welle sich.“ (WA Abt. I, Bd.1, S. 66) 102 WA Abt. I, Bd. 1, S. 66. 103 Heine, Die Nordsee, dritte Abtheilung. In: DHA 6, S. 149. 104 Vgl. ebd. 105 „XII. Frieden Hoch am Himmel stand die Sonne, Von weißen Wolken umwogt, Das Meer war still, Und sinnend lag ich am Steuer des Schiffes, Träumerisch sinnend, – und halb im Wachen Und halb im Schlummer, schaute ich Christus, Den Heiland der Welt. Im wallend weißen Gewande Wandelt er riesengroß Ueber Land und Meer; Es ragt sein Haupt in den Himmel, Die Hände streckte er segnend

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genheit abgeschüttelt, das Ich hat seinen Standort verändert und ist vom Rand des Schiffs an dessen Steuerrad gewechselt, doch statt dieses selbst zu bedienen, liegt es hier ebenso kontemplativ träumend wie zuvor, den Blick diesmal nach oben, in die Tiefe des Himmels gerichtet. Die erneute Meeresstille lässt alle Fluchtreflexe erlahmen. Das Gedicht entkommt nicht nur dem Prinzip der Spiegelung nicht, sondern stellt ganz im Gegenteil selbst eine Spiegelung des Gedichts Seegespenst dar: Frieden kehrt nur die Richtung der Projektion um: statt nach unten wird die neue Vision nun nach oben, in den Himmel projiziert. Der „Christus auf dem Wasser“, als den Heine das Gedicht auch bezeichnete und der, wie er an seinen Freund

Ueber Land und Meer; Und als ein Herz in der Brust Trug er die Sonne, Die rothe, flammende Sonne, Und das rothe, flammende Sonnenherz Goß seine Gnadenstralen Und sein holdes, liebseeliges Licht, Erleuchtend und wärmend, Ueber Land und Meer. [...] Glockenklänge zogen feyerlich Hin und her, zogen wie Schwäne, am Rosenbande, das gleitende Schiff, Und zogen es spielend ans grüne Ufer, Wo Menschen wohnen, in hochgethürmter, Ragender Stadt. O Friedenswunder! Wie still die Stadt! Es ruhte das dumpfe Geräusch Der schwatzenden, schwülen Gewerbe, Und durch die reinen, hallenden Straßen Zogen Menschen, weißgekleidete, Palmzweig-tragende, Und wo sich Zwey begegneten, Sahn sie sich an, verständnißinnig, Und schaudernd, in Liebe und süßer Entsagung, Küßten sie sich auf die Stirne, Und schauten hinauf Nach des Heilands Sonnenherzen, Das freudig versöhnend sein rothes Blut Hinunterstralte, Und dreymalseelig sprachen sie: Gelobt sey Jesu Christ! [...]“ (DHA 1/1, S. 390/392, V. 1-43)

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Moses Moser schrieb, „viel Unmuth gegen mich erweckt hat“106 , weist deutliche Anklänge an die Endzeitvision des Neuen Testaments auf, die Offenbarung des Johannes. Wieder ertönen Glockentöne, wieder erscheint dem Sprecher das Bild einer Stadt vor Augen: diesmal zwar am Ufer, doch genauso unwirklich und automatenhaft wie die Meerstadt. Es ist die Vision des neuen, aus dem Himmel herabgekommenen Jerusalems (Off. 21), die dem Sprecher erscheint.107 Statt in die Tiefe der Vergangenheit richtet sich der Blick nun in die Zukunft, hin auf eine endzeitliche Utopie. Dass Heine deren übersteigertes Pathos im nächsten Abschnitt, den er für das Buch der Bilder dann allerdings gestrichen hat, durch eine der typischen, als „Heine-Effekt“108 sprichwörtlich gewordenen Schlusswendungen konterkarierte,109 ändert nichts daran, dass die Projektion von inneren Vorstellungen in die Außenwelt die entscheidende Wahrnehmungsform bleibt. Der Versuch, dem romantischen Drang zur Tiefenprojektion zu entkommen, scheitert. Das Äußere bleibt Inneres; die Projektion von Inhalten der Seele bestimmt auch noch nach Rettung und Flucht die Sehweise des Ich. ‚Tiefe‘ wird in Heines Gedicht noch aufgerufen als romantischer Topos der Seelentiefe. Doch die ,Tiefe des Ich‘, in den romantischen Tiefenprojektionen der Ort der Wahrheit des Subjekts, seiner geheimen und innersten Regungen und Wünsche, der ,Kern‘ seiner Identität, ist bei Heine nichts als eine Ansammlung heterogener Versatzstücke. Was am Grunde des Meeres sichtbar wird, ist ein hybrides Gemenge von Gelesenem und Erlebtem, von Erinnerungsresten und Verdrängtem. Die Tiefe des Subjekts gleicht einer Rumpelkammer – und dieser schmerzlichen Einsicht kann sich das Ich nicht entziehen, weil es dem Drang, auf alles das eigene Spiegelbild zu projizieren, nicht entkommen kann. Die Struktur des Tiefenblicks, die, als Blick in den Seelengrund, Heines Nordseelyrik bestimmt, wird im Prosateil Nordsee III gekappt. An die Stel-

106 Zitiert nach: DHA 1/2, Apparat, S. 1035. 107 Vgl. DHA 1/2, Apparat, S. 1037: „Der Dichter geht hier dem irenischen Traum eines Christentums nach, in dessen Verlauf es keine Passion gegeben hätte, da die versöhnende Kraft des Palmenfestes der Geschichte Christi eine andere, friedensvolle Wendung verlieh.“ 108 Höhn, Heine-Handbuch, S. 71. 109 Vgl. DHA 1/1, S. 392.

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le von Durchsicht und Projektion tritt hier eine ganz andere Relation zwischen Fläche und Tiefe: „Ich liebe das Meer wie meine Seele. Oft wird mir sogar zumute, als sei das Meer eigentlich meine Seele selbst, und wie es im Meere verborgene Wasserpflanzen gibt, die nur im Augenblick des Aufblühens an dessen Oberfläche heraufschwimmen und im Augenblick des Verblühens wieder hinabtauchen, so kommen zuweilen auch wunderbare Blumenbilder heraufgeschwommen aus der Tiefe meiner Seele und duften und leuchten und verschwinden wieder – ,Evelina!‘“110

Aus der Metapher bzw. dem Gleichnis wird eine Identifikation: Das Meer ist die Seele selbst. Statt aber einen Durchblick auf ihren Grund zu gewähren, trübt sich das Wasser. Und was die Seele bewegt, ist nicht mehr durch einen direkten Blick in ihren Grund erfahrbar, sondern nur noch medial vermittelt, durch die sporadisch an die Oberfläche gelangenden Blüten der sonst verborgenen Wasserpflanzen. Zeichenhaft stehen sie für das, was die Seele im Innersten bewegt. Damit weist Heine den Weg aus der Romantik. Das Motiv der Durchsicht auf den Grund eines Gewässers als Metapher für den Blick in den Seelengrund wird im Realismus von anderen Konstellationen von Oberfläche und Tiefe abgelöst. Im späteren 19. Jahrhundert trübt oder verdunkelt sich das Wasser, Blicke auf den Grund sind schon deshalb kaum mehr möglich. Stattdessen rückt in den Blick, was bei einer Durchsicht auf den Grund übersprungen wird: die Wasseroberfläche und ihre medialen Qualitäten.

110 Heinrich Heine, Reisebilder. Zweyter Theil, Die Nordsee. In: DHA 6, S. 150.

Die Tiefe der Vergangenheit

Um die Tiefe eines Gewässers zu ergründen, braucht man Mitte des 19. Jahrhunderts technische Hilfsmittel. Heinrich Drendorf zumindest, der Protagonist in Stifters Nachsommer, bedient sich eines Senkbleis, um die Tiefe eines Gebirgssees zu vermessen. Für ihn ist ein direkter Blick auf den Grund, wie ihn Heine oder Eichendorff imaginieren, nur noch ein schöner Traum: „Ich dachte [...]: wenn das Wasser durchsichtiger wäre, zwar nicht so durchsichtig wie die Luft, doch beinahe so; dann müsste man das ganze innere Becken sehen, nicht so klar wie in der Luft sondern in einem grünlichen feuchten Schleier. Das müsste sehr schön sein.“1 Von dieser Vorstellung ist Heinrich Drendorf so besessen, dass er sie mit technischen Hilfsmitteln künstlich herzustellen versucht. Er mietet sich zu diesem Zweck extra in einen Gasthof ein und vermisst den See der Länge und Tiefe nach. „Ich dachte, auf diese Weise könnte man annähernd die Gestalt des Seebeckens ergründen, könnte es zeichnen, und könnte das innere Becken von dem äußeren durch eine sanftere grünliche Farbe unterscheiden.“2 Ein enormer technischer Aufwand tritt für das ein, wofür der Romantik ein Blick genügte: Durch Verfahren der Vermessung und Kartographierung soll die in der Tiefe verborgene „Gestalt des Seebeckens“ erschlossen und auf zweidimensionales Papier übertragen werden. Der Preis für diese Erschließung der Tiefe ist aber der, dass ihre Unergründlichkeit dabei auf ei-

1

Adalbert Stifter, Der Nachsommer, In: Ders., Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald. Stuttgart u.a. 1978ff. [Im Folgenden zitiert als HKG] Bd. 4.2, Berlin/Köln 1997, S. 28.

2

Ebd., S. 28f.

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nen „grünlichen Schleier“ reduziert wird. Doch das ist, wie gesagt, ein schöner Traum Heinrich Drendorfs, zu dessen Umsetzung es eines Senkbleis bedarf. Der Normalfall, von dem auszugehen ist, ist ein anderer: das Wasser trübt sich im Realismus. Es sind dunkle Gewässer, um die es in den folgenden Kaptiteln gehen wird: Von Adalbert Stifter soll nicht der Roman Nachsommer, sondern die Erzählung Der Hochwald (1841) genauer betrachtet werden, daneben Theodor Storms Erzählung Immensee (1849-51). Die beiden Texte erschienen in einem Abstand von knapp zehn Jahren an den entgegengesetzten Enden des deutschen Sprachraums. Doch nicht nur, dass beide Novellen einen Naturgegenstand im Titel tragen, sie weisen auch strukturell einige Ähnlichkeiten auf. Beides sind Rahmennovellen, beide haben die Vergangenheit zum Thema; ist es in Storms Immensee die persönliche Vergangenheit eines alten Mannes, der im Rahmen auftritt, so ist es in Stifters Hochwald die historische Vergangenheit des lokalen Schauplatzes, an dem sich der Erzähler im Rahmen der Novelle befindet. Der Rahmen selbst taucht in Hochwald wie in Immensee als Motiv auf: so wie bei Storm ein Lichtstrahl des ins Zimmer scheinenden Mondes über den Rahmen eines Bildes huscht und damit die Erinnerung auslöst, so wird bei Stifter der Blick in die Vergangenheit als Blick durch eines der wenigen erhaltenen Fenster einer Burgruine inszeniert. Und zu guter Letzt: In beiden Novellen wird der Endpunkt des Weges in die Tiefe der Vergangenheit durch einen See markiert. Und diese beiden Seen spielen für beide Texte jeweils eine große Rolle: im Motiv des Sees werden zentrale poetologische Fragestellungen verhandelt. Sowohl bei Stifter als auch bei Storm geht es um eine verborgene Logik der Geschichte, die in eine Metaphorik der Tiefe gefasst wird. Um die Existenz dieser tieferen Dimension zu suggerieren, markieren die Erzählungen Stifters und Storms jeweils die Oberfläche: Bei Storm ist es die Potenzierung des Sees zu einer unermesslichen, schwarzen Wasserfläche; bei Stifter sind es die „Wölklein“, die immer wieder verdeutlichen, dass es sich bei den beschriebenen Perspektiven nicht um Durchsichten, sondern um Spiegelblicke handelt. Die Dimension der Tiefe ist in diesen Texten eine Suggestion, die an der Oberfläche erzeugt wird.

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T IEFE ALS S PIEGELUNGSEFFEKT „D ER H OCHWALD “ (A DALBERT S TIFTER ) Stifters frühe Erzählung Der Hochwald3 (1841), die zu den beliebtesten Werken des österreichischen Schriftstellers zählt,4 ist vor allem für ihre Landschaftsbilder berühmt geworden, für ihre Schilderung der unberührten Natur und der Stille der unermesslichen Wälder in Stifters südböhmischer Heimat. Demgegenüber wurde die während des Dreißigjährigen Krieges spielende Geschichte, die Stifter an diesem Schauplatz ansiedelt, seine Figurenzeichnung und Handlungsführung, oft als unbeholfen kritisiert.5 Stifter selbst hat rückblickend ein hartes Urteil über seinen Umgang mit einem historischen Stoff gefällt: „Im Hochwalde habe ich die Geschichte als leichtsinniger junger Mensch über das Knie gebrochen“, schrieb er 1860 an seinen Verleger Gustav Heckenast, „und sie dann in die Schubfächer meiner Phantasie hineingepfropft.“6 Bewunderte Landschaftsschilderung versus willkürlicher Umgang mit Geschichte: Auch die Rezeption der Novelle wird geleitet von dem Gegensatz von Natur und Kultur bzw. Geschichte, der das eigentliche Thema des Hochwaldes ausmacht. Statt um diesen (auch bereits vielfach untersuchten) Gegensatz von Natur und Kultur soll es im Folgenden um den Zusammenhang von Naturdarstellung und historischem Erzählen gehen. Beide sind geprägt durch eine Metaphorik der Tiefe, die gewissermaßen das tertium comparationis bildet, das es Stifter erlaubt, in der Darstellung der Natur die Modalitäten historischen Erzählens zu reflektieren. Naturkultur und Kulturnatur Tief verborgen in den böhmischen Wälder liegt der geheimnisvolle Waldsee, an den Heinrich der Wittinghauser in Stifters Erzählung seine Töchter bringen lässt, um sie vor den Gefahren des Dreißigjährigen Krieges zu be-

3

Adalbert Stifter, Der Hochwald (Studienfassung). In: HKG 1.4, S. 209-318. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden im Fließtext gekennzeichnet als HKG 1.4.

4

Vgl. zu dieser Einschätzung Wolfgang Matz, Adalbert Stifter oder diese fürch-

5

Vgl. z.B. ebd., S. 150.

6

Zitiert nach ebd., S. 153.

terliche Wendung der Dinge. Biographie. München 1995, S. 149.

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wahren. Der Weg, den der Freiherr mit seinen Töchtern dorthin einschlägt, führt durch bislang unbetretenen Urwald. Doch der Außenraum der Natur erweist sich gegenüber der Sphäre der Kultur und der Geschichte, die hier vereint im Krieg auftreten, als Innenraum. Das Versteck am See ist das Zentrum eines nach außen abgeschotteten Innenraums, dem die Welt des Krieges, der Menschen und der Geschichte als ein Außenraum gegenübersteht. Es handelt sich um einen Raum, der für die reine und unberührte Natur steht. Nicht nur geographisch ist er so weit von aller menschlichen Zivilisation entfernt, dass die Kriegswirren keine Auswirkungen auf ihn haben sollten – so zumindest klingt es im Bericht des Ritters, den der Vater auf eine wochenlange Erkundungstour in den Wald geschickt hatte: „Kein Hauch, keine Ahnung von der Welt draußen dringt hinein, und wenn man sieht, wie die prachtvolle Ruhe Tagereisen weit immer dieselbe, immer ununterbrochen, immer freundlich in Laub und Zweigen hängt, daß das schwächste Gräschen ungestört gedeihen mag, so hat man schwere Mühe, daran zu glauben, daß in der Welt der Menschen schon die vielen Jahre her der Lärm des Krieges und der Zerstörung tobe, wo das kostbarste und kunstreichste Gewächs, das Menschenleben, mit eben solcher Eil’ und Leichtfertigkeit zerstört wird, mit welcher Müh’ und Sorgfalt der Wald die kleinste seiner Blumen hegt und auferziehet.“ (HKG 1.4, S. 227)

Angesichts der Gefahr, die der heranziehende Krieg für die Burg und ihre Bewohner bedeutet, stellt der Waldsee in seiner Abgeschiedenheit den idealen Zufluchtsort dar. Dorthin will Freiherr von Wittinghausen seine Töchter eine zeitlang bringen, während er und sein Sohn Felix auf der Burg Stellung halten wollen, um sie gegen die näherrückenden Schweden zu verteidigen. Er hat am See bereits ein Holzhaus errichten lassen, in dem die Schwestern den Sommer über wohnen sollen, um erst dann in die Zivilisation zurückzukehren, wenn die Ordnung dort wiederhergestellt ist, der Krieg vorüber und die möglicherweise zerstörte Burg wieder aufgebaut ist. Es ist nun relativ offensichtlich, dass die Vorstellung von dem Wald, „in dem seit der Schöpfung noch keine Axt erklungen“ (HKG 1.4, S. 222 f), das Bild von der unberührten Natur als einem paradiesischen Zustand vor jedem Sündenfall, schon zu Stifters Zeit ein Traum war. Dass vegetationsgeschichtliche Untersuchungen an dem von Stifter in seiner Erzählung geographisch exakt verorteten Waldsee ergeben haben, dass der Baumbestand dort auch bereits schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges dem

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Menschen als Rohstofflieferant diente und zur Befeuerung der umliegenden Glashütten in großem Maße abgeholzt wurde,7 bestätigt nur einmal mehr, was der Text selbst nicht verschweigt: dass es sich bei dem unschuldigen Waldparadies um ein kulturelles Konstrukt und ein Wunschbild handelt.8 Schon als der Burgherr seine Töchter Clarissa und Johanna erstmals in seine Pläne einweiht und ihnen von dem unberührten Walde erzählt, haben diese längst davon gehört: „Aber ein Mörder und Wildschütze ist dort“ (HKG 1.4, S. 229), so die erste Reaktion der jüngeren Tochter Johanna, der die Gerüchte von dem „schöne[n] schwarze[n] Zaubersee“ (HKG 1.4, S. 222) und dem dort vermuteten Wildschützen bereits zu Ohren gekommen sind. Das Bild des Paradieses, das der Burgherr zeichnet, kann seine Wirkung bei den Hörerinnen nicht entfalten, da sie es nicht voraussetzungslos anhören. Der Wald hat seine Unschuld bereits durch die Gerüchte verloren, die aus der „Gesindstube“ (HKG 1.4, S. 222) zu ihnen gedrungen sind. Bei dem ominösen Wildschützen handelt es sich, wie sich während des Aufenthalts der Schwestern an dem See herausstellen wird, um Ronald, den Verehrer Clarissas, der diese während eines einige Jahre zurückliegenden

7

Vgl. Arthur Brande, „,Keine Spur von Menschenhand...‘. Stifters Hochwald vegetationsgeschichtlich betrachtet“. In: JASILO 4 (1997), S. 77-93.

8

Weswegen sich auch eine klare Trennung und Unterscheidung eines Naturraums von einem Kulturraum, wie sie Marianne Wünsch („Normenkonflikt zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘. Zur Interpretation von Stifters Erzählung Der Hochwald“. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hg. von Helmut Laufhütte u. Karl Möseneder. Tübingen 1996, S. 311-334) vornimmt, nicht halten lässt. Im Anschluss an den Aufsatz von Wolfgang Preisendanz, „Die Erzählfunktion der Naturdarstellung bei Stifter“. In: Wirkendes Wort 16 (1966), S. 407-418, der auf die grundlegende Perspektivität der Stifterschen Naturdarstellung hinwies, ist von der Forschung vielfach auf die Verschränkung und Überlagerung der Bereiche von Mensch, Kultur und Natur hingewiesen worden. Vgl. zuletzt Hee-Ju Kim, „Natur als Seelengleichnis. Zur Dekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus in Adalbert Stifters Hochwald.“ In: Sabina Becker u. Katharina Grätz, Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Heidelberg 2007, S. 69100, mit der These, dass die Natur nicht nur die Stimmungen der Protagonisten reflektiere, sondern diese erst initiiere und damit zum strukturbildenden Moment der Handlung werde (ebd., S. 100).

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Aufenthaltes auf Burg Wittinghausen kennen- und lieben gelernt hatte und nun auf der Suche nach der Geliebten die böhmischen Wälder durchstreifte. Nachdem er das Versteck der Schwestern aufgespürt und eine Unterredung mit Clarissa erzwungen hat, gibt er sich als der uneheliche Sohn des verstorbenen schwedischen Königs zu erkennen und will, nachdem er Clarissas Einwilligung zu einer Verlobung erlangt hat, zum schwedischen Heer reiten, um dort zu erreichen, dass die Burg Wittinghausen verschont werde. Dieser Versuch wird gnadenlos scheitern, ebenso wie auch Ronalds Voraussage, „[w]enn nicht alle Zeichen trügen, so naht dieser Krieg schnell seinem Ende“ (HKG 1.4, S. 294) sich als umfassende Fehleinschätzung erweisen wird. Tief im Wald scheint auch Ronald das Gesetz des Krieges fremd. „[M]ir ist, als gäbe es gar kein Draußen, gar keine Menschen, als die hier, die sich lieben, und Unschuld lernen von der Unschuld des Waldes“ (HKG 1.4, S. 292), sagt er zu Clarissa. Als „unschuldig“ (HKG 1.4, S. 232) bzw. als „schuldlose[] Gestalten“ (HKG 1.4, S. 235) werden die beiden Mädchen in der Erzählung immer wieder bezeichnet und es ist damit bestellt wie mit der Unschuld des Waldes: da die Unterscheidung von Schuld und Unschuld den Sündenfall voraussetzt, ist es kein Wunder, dass Clarissa längst die „Düfte“ kennengelernt hat, denen der Mensch, wie sie Johanna gegenüber äußert, „den Mißnamen Leidenschaft“ (HKG 1.4, S. 220) gibt. Die Konkurrenz von familiärer Liebe und Geschlechtsliebe, die an der Katastrophe, die im Hochwald erzählt wird, mit verantwortlich zu sein scheint,9 kennt die Natur allerdings nicht. Nachdem die Menschen den Waldsee verlassen haben, heißt es am Ende der Erzählung, hatten „die

9

So die These von John Reddick, „Mystification, Perspectivism and Symbolism in Der Hochwald“. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hg. von Johann Lachinger, Alexander Stillmark u. Martin Swales. Linz 1985, S. 4474, hier S. 50f, der in der Figurenpsychologie den Schlüssel für die Erzählung sucht. Siehe auch Marianne Wünsch, Normenkonflikt zwischen Natur und Kultur, die die Novelle psychoanalytisch deutet. Sie geht von der Überlagerung eines realen mit einem metaphorischen Verwandtschaftssystem aus, die gleichermaßen inzestuös organisiert seien, weshalb ein Austritt Clarissas aus diesem Bezugssystem sanktioniert werden müsse. Die „motivationale Nullposition“ (S. 318) des väterlichen Lanzenwurfs auf Ronald ließe sich erklären, wenn Ronald als erotischer Rivale des Vaters verstanden werde, der die Tochter belagere wie die Schweden das Schloss (vgl. S. 318f).

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Ahornen, die Buchen, die Fichten und andere, die auf der Waldwiese standen, [...] zahlreiche Nachkommenschaften und überwuchsen die ganze Stelle, so daß wieder die tiefe jungfräuliche Wildniß entstand, wie sonst, und wie sie heute noch ist“ (HKG 1.4, S. 318).10 Jungfräulichkeit und Nachkommenschaft scheinen sich, anders als im Bereich der Kultur, in der Natur nicht auszuschließen. Doch die Unschuld, Unberührtheit oder „Jungfräulichkeit des Waldes“ (HKG 1.4, S. 241) entpuppt sich ohnedies allerorten als Zuschreibung der Menschen, die in den Wald „begierig wie in eine liebliche grüne Fabel eindringe[n]“ (HKG 1.4, S. 240). Die unberührte Natur ist eine Fiktion, wobei schon die Metaphorik des „Eindringens“, die die Beschreibung der „Waldwanderung“ der Schwestern in das Waldversteck auch weiterhin durchzieht, die „Unschuld“ der reinen Natur in Anwesenheit des Menschen in Frage stellt, so schuldlos diese (v.a. die Schwestern) auch erscheinen mögen.11 Der Umzug der Schwestern in den Wald ist eine Grenzüberschreitung, die die klare Unterscheidung von innen und außen, Natur und Kultur irritiert. Nun ist es allerdings die Stimme des Erzählers, die den Weg in den Wald als ein Eindringen beschreibt, wohingegen die Wahrnehmung der Mädchen als „schwebende[] schuldlose[] Gestalten“ (HKG 1.4, S. 235) dem Reiter zugeschrieben wird, der den Zug in den Wald begleitet. Die Wahrnehmung von Schuld und Unschuld, eine der zentralen Unterscheidungen des Textes, ist jeweils abhängig von einer bestimmten Perspektive – und dies ist nur ein Beispiel für die umfassende Perspektivität, die den Hochwald kennzeichnet und auch die Darstellung der Natur selbst betrifft:

10 Dass die Restitution der Wildnis zudem der Nachhilfe Gregors bedarf, der das Waldhaus anzündete und Samen auf die Stelle gestreut hatte, zeigt ein letztes Mal den Konstruktionscharakter der „Wildnis“. Vgl. dazu auch Hee-Ju Kim, Natur als Seelengleichnis, S. 97, die von einem „letzte[n] Paradox“ spricht. 11 Reddick spricht von einer „story of rape“ (Mystification, Perspectivism and Symbolism, S. 58). Zur Sexualisierung der Natur siehe auch Wünsch, Normenkonflikt, S. 325f. Christian Begemann sieht in der Anthropomorphisierung der Natur eine Nähe zur Romantik (Vgl. Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, zum Hochwald siehe das Kapitel „Der unleserliche Text. Romantische Entromantisierung in Der Hochwald“, S. 164-209; hier S. 170ff und S. 173, Fußnote 11).

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„[...] denn es liegt ein Anstand, ich möchte sagen ein Ausdruck von Tugend in dem von Menschenhänden noch nicht berührten Antlitze der Natur, dem sich die Seele beugen muß, als etwas Keuschem und Göttlichem, – – und doch ist es zuletzt wieder die Seele allein, die all ihre innere Größe hinaus in das Gleichnis der Natur legt.“ (HKG 1.4, S. 241)

Wolfgang Preisendanz hat in einem grundlegenden Aufsatz zur Erzählfunktion der Stifterschen Naturdarstellung darauf hingewiesen, dass die Naturdarstellung bei Stifter, der hierin an die Tradition der Romantik anknüpft, stets auf menschliche Wahrnehmung bezogen sei.12 Alle Beschreibungen der Außenwelt sind demnach abhängig von den Stimmungen und Bewusstseinsvorgängen der Figuren; die Naturdarstellung „impliziert stets die Subjektivität als die Perspektive, in der Natur als objektive Wirklichkeit erscheint.“13 Die Darstellung der Natur folge vor allem der Wahrnehmung der Schwestern und diene so weniger der Beschreibung einer bestimmten Landschaft als der Charakterisierung des Gemütszustands der Protagonisten. Natürlichkeit und Kultur, innen und außen, Schuld und Unschuld erweisen sich als Zuschreibung der Figuren. Der Gegensatz von innen und außen wird ebenso wie jener von Natur und Kultur, der durch das Waldversteck tief im Innern der Natur und weit entfernt vom Äußeren des Krieges so effektvoll in Szene gesetzt wird, auf der Ebene der Metaphorik immer wieder in Frage gestellt, wenn nicht sogar aufgehoben. Nicht nur, dass die Zimmer der Mädchen, die sie im Innersten des Waldes, im Waldhaus, vorfinden, eine getreue Kopie der heimatlichen Gemächer darstellen, das Innere also das Äußere verdoppelt – auch sonst entsprechen sich die Metaphern für innen und außen, für Natur und Kultur im Text. Der Anthropomorphisierung der Natur („Waldrücken“, „Waldesbusen“ HKG 1.4, S. 214), korrespondiert die naturale Metaphorik, mit der die Figuren gekennzeichnet werden. Während Blumen „dunkeläugig[]“ (HKG 1.4, S. 216) sind, werden die Mädchen als „schöne Waldblumen“ (HKG 1.4, S. 239) bezeichnet. Und so ist von der „felsigen, gefurchten Stirn“ (HKG 1.4, S. 224) des Burgherren die Rede, oder, was Gregor betrifft, von den „Felsen seiner Finger“ (HKG 1.4, S. 239). Gleichzeitig werden Metaphern aus der Kultur auf die Natur bzw. den Körper des Menschen

12 Preisendanz, Erzählfunktion, S. 410. 13 Ebd.

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übertragen. Das sich über dem Waldsee erhebende Gestein ist ein „Felsentheater“, Baumstämme gleichen „altertümliche[n] Säule[n]“ (HKG 1.4, S. 213), die Augen sind die „Fensterlein“ (HKG 1.4, S. 218) der Seele.14 Die Anthropomorphisierung der Natur ist, wie die Beschreibung der Mädchen durch Metaphern aus dem Bereich der Natur, eine Projektion, ein Wunschbild. Doch anders als in der Romantik stelle, so Preisendanz, die Subjektivität der Naturwahrnehmung bei Stifter nicht in erster Linie ein allgemeines Charakteristikum der erzählten Welt dar, sondern verweise, als „Index der Problematik menschlicher Weltaneignung überhaupt“15 vor allem auf die Beschränktheit der Figurenperspektive: „Es gilt einzusehen, daß Stifter nicht naiv, als Jean-Paul-Enthusiast, in solchem Sinn Natur zur Sprache bringt, sondern daß er in der Schilderung einer in die Gespinste des Innern eingekleideten Natur das Medium gewinnt, sowohl die subjektive Befindlichkeit als auch die objektive Situation der beiden Schwestern indirekt zu vergegenwärtigen.“16 Angesichts der umfassenden Perspektivität der Darstellung ist es allerdings schwierig, die „subjektive Befindlichkeit“ von der „objektive[n] Situation“ der Schwestern überhaupt zu unterscheiden. Vor allem ist es fraglich, ob die Perspektive des Erzählers geeignet ist, Maßstab für eine ‚Objektivität‘ herzugeben, von der die Figurenperspektive als „subjektiv“ abzugrenzen wäre. „Das Schreiben des Erzählers oszilliert“, schreibt Christian Begemann, „es scheint von verschiedenen Punkten auszugehen und lässt sich nicht auf ein Zentrum beziehen. [...] Die Erzählerinstanz – wenn man hier von einer solchen, Einheit supponierenden Größe überhaupt sprechen will – widerlegt und bestätigt die Sicht der Figuren, ja an manchen Stellen gleiten die Perspektiven ineinander, personales und neutrales bzw. auktoriales Sprechen ununterscheidbar machend.“17

14 Weitere Beispiele bei Begemann, Welt der Zeichen, S. 188f. 15 Preisendanz, Erzählfunktion, S. 410. 16 Vgl. ebd., S. 414. Christian Begemann hat jedoch bereits darauf hingewiesen, dass die anthropomorphen Züge der Natur nicht immer erkennbar aus den Blicken der Protagonisten abzuleiten sind (vgl. Begemann, Welt der Zeichen, S. 177). 17 Begemann, Welt der Zeichen, S. 179.

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Die den Hochwald auch auf Figurenebene bestimmende Unsicherheit in der Deutung von Zeichen18 hat hierin sicher einen ihrer Gründe. „Truth itself is a problematic quantity in the novella“19, brachte es John Reddick auf den Punkt. In den „Inselspitzen einer untergesunkenen Melodie“ (HKG 1.4, S. 219), als die die unzusammenhängenden Töne bezeichnet werden, welche Clarissa ihrer Harfe entlockt, sieht er das Strukturmodell des Textes, der gekennzeichnet sei durch „the extraordinary wealth of ambiguity that lies beneath the story’s surface“20. Die Vieldeutigkeit des Textes führt er auf den Perspektivismus Stifters zurück: „It would be a serious mistake, however, to assume that the various ‚Inselspitzen‘ belong only within a single set of relationships with others, and have only a single, fixed meaning: in truth, any given signifier can bear quite different meanings in different contexts and combinations. It depends on the point of view from which it is being depicted; for different points of view yield different perspectives.“21

Das erste Beispiel einer solchen, die Deutung der Zeichen unmöglich machenden Perspektivierung findet sich gleich zu Beginn der Erzählung, wo von der „Schwäche“ des Burgherrn die Rede ist, zur Unzeit Gewitter zu prophezeien. Nachdem er seinen Töchtern mit der Offenbarung des Planes, sie an den Waldsee zu bringen, einen gehörigen Schrecken eingejagt hat, möchte er sie mit seiner Gewitterwarnung aufheitern: „trügen nicht alle Zeichen“, so wird er zitiert, „so käme gewiß heute noch ein Gewitter“ (HKG 1.4, S. 231). Ob er damit recht behält, lässt der Text offen – die Chancen stehen mit 10 zu 1 allerdings schlecht. Dies ändert aber nichts an der semiotischen Zuversicht des Vaters, denn, „wenn nach zehn ausgebliebenen eines eintraf, so überzeugte sich niemand fester von der Untrüglichkeit seiner Symptome als er selber“ (HKG 1.4, S. 231). Vielleicht liegt der Misserfolg der Deutungskunst des Burgherrn daran, daß er nur „Symptome“ sieht, schließlich heißt griechisch sýmptoma Begebenheit, Eigenschaft oder auch Zufall und verweist damit etymologisch auf die Arbitrarität des

18 Am deutlichsten hat dies Christian Begemann herausgearbeitet; er spricht von einem den Hochwald prägenden „semiotische[n] Pessimismus“ (ebd., S. 203). 19 Reddick, Mystification, Perspectivism and Symbolism, S. 51. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 56.

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Zeichens, das keine feste Beziehung zu seiner Bedeutung unterhält. Die „Himmelsschäfchen [...], die eben vom Süd heraufzukommen begannen“ (HKG 1.4, S. 230) haben einen unklaren Zeichenstatus: entweder sind sie „Symptome“ für ein aufziehendes Gewitter, die dann allerdings „trügen“ können, oder sie sind nur einfache Himmelsschäfchen, die der Vater fälschlicherweise für Zeichen hält. Denn die geringe Trefferquote des Vaters scheint damit zusammenzuhängen, dass die zu deutenden Zeichen nicht klar in der Außenwelt verortet werden können: „Ob er aber heute solche Symptome an dem spiegelreinen Himmel entdeckte, oder sich in der Trefflichkeit seines Herzens nur derlei vorgelogen, um Reiz zur Heiterkeit zu wecken – – wer könnte es entscheiden?“ (HKG 1.4, S. 231) Der Text entscheidet es nicht, sondern schweigt sich über die weitere Entwicklung des Wetters aus. Und selbst wenn der Leser erführe, ob es am selben Tag noch regnete oder nicht, wäre die aufgeworfene Frage damit nicht entschieden, zielt sie doch allein auf die Innenwelt des Burgherren. Ob dieser überhaupt „Symptome“ am Himmel entdeckt hatte oder nur zu einer erheiternden Notlüge gegriffen hatte, steht in keinem Zusammenhang mit der Gewitterwahrscheinlichkeit über Burg Wittinghausen. Und so kann die kurze Szene auch als Zeichen ganz anderer Art gelesen werden: sie wirft kein gutes Licht auf die Verlässlichkeit der Zukunftsprognose, die der Vater in der vorhergehenden Szene aus seiner Deutung der politischen Lage entwickelt hatte. Statt von Perspektivität müsste man hier angemessener von Projektion sprechen – denn während die Perspektive zwar einen bestimmten Blickpunkt und -winkel, aber doch immerhin eine Wahrnehmung der Außenwelt aus diesem Blickwinkel meint, erweckt die Außenwelt, wie im Fall des prognostizierten Gewitters, oftmals eher den Anschein einer nach außen projizierten Innenwelt. Doch dieses romantische Raummodell ist nicht das alleinige Prinzip der Stifterschen Raumdarstellung, es wird lediglich, und neben anderen, zitiert. Immer wieder ist die Richtung der Projektion auch die entgegengesetzte. Statt dass sich beispielsweise eine Aussicht nach außen ‚eröffnet‘, ergießt sich, wie es in der Einleitung heißt, „dir nach jeder Richtung eine unermeßne Aussicht, strömend in deine Augen und sie fast mit Glanz erdrückend“ (HKG 1.4, S. 216). Und über Clarissas Naturwahrnehmung heißt es: „wie ein schöner Gedanke Gottes senkte sich gemach die Weite des Waldes in ihre Seele, die dessen unbewußt in einem stillen und schönen und sanften Fühlen dahinwogte“ (HKG 1.4, S. 237). Nicht die

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Innenwelt wird hier auf die Außenwelt projiziert, sondern umgekehrt wird die sich dessen unbewusste „Seele“ von der Umgebung der Natur geprägt. Im Spiel der Perspektiven wird immer unklarer, was hier eigentlich noch „innen“ und was „außen“ zu nennen wäre. Der Rahmen: Raum und Zeit in Perspektive Schon der Rahmen des Hochwalds lässt den erzählten Raum aus der Montage einer Vielzahl von Perspektiven entstehen. Neben der Aneinanderreihung von Perspektiven kartographischen, geographischen und geologischen Zuschnitts sowie der subjektiven Erzählerperspektive der Wanderung bzw. der Fantasie und Erinnerung überlagern sich drei Zeitschichten in der Beschreibung des erzählten Raumes: die Erzählgegenwart, die Zeit der Jugend des Erzählers und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Bevor die Erzählung sich aber zurück in die Vergangenheit wendet, wird der reale Schauplatz in der Erzählgegenwart abgesteckt, in der sich die ehemals stattliche Burg als verfallene Ruine präsentiert. Der Rahmen der Erzählung setzt allerdings einen Raum ins Bild, in dem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven überlagern und durchkreuzen. Die Kartographierung des Gebiets erfolgt politisch-historisch (Österreich, Böhmen und Bayern werden genannt, daneben die Orte Krumau, mit Hinweis auf die Herrschaft der Rosenberger, die Orte Oberplan und Friedberg) und geographisch-geologisch: Thaia, Donau und Moldau dienen als Grenzmarkierungen des Gebiets, das durch die Beschreibung bzw. Benennung von Vegetation und Gebirgsformationen (Blockenstein, Norische Alpen, Traunstein etc.) genauer bestimmt wird. Dazu kommt die Angabe von Himmelsrichtungen. Daneben bedient sich der Rahmen aber auch eines Vokabulars, das eher in den Bereich von Sage und Märchen verweist („Mitternachtsseite“ HKG 1.4, S. 211) und weist dann den erzählten Raum plötzlich als persönliche Erinnerungslandschaft des Erzählers aus: „Möchte es uns gelingen, nur zum tausendsten Teile jenes schwermütig schöne Bild dieser Waldtale wiederzugeben, wie wir es selbst im Herzen tragen, seit der Zeit, als es uns gegönnt war, dort zu wandeln, und einen Teil jenes Doppeltraumes dort zu träumen, den der Himmel jedem Menschen einmal und gewöhnlich vereint gibt, den Traum der Jugend und den der ersten Liebe“ (HKG 1.4, S. 211). Die „Fluren“, die eben mit politisch-geographisch-geologischer Exaktheit beschrieben wurden, erscheinen aus dieser Perspektive plötzlich „als ewig

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schwebende Gärten in die dunkle warme Zauberfantasie“ (HKG 1.4, S. 212) gehängt. Mag es in der erzählerischen Entfaltung dieser Beschreibung zunächst so scheinen, als sei die Natur selbst das Subjekt ihrer Erschaffung als Erzählraum („An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, [...]“, „Dort [...] schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegeneinander, und schob einen derben Gebirgsstock empor [...]“, beide Zitate HKG 1.4, S. 211), so drängt sich nach und nach das die Blickpunkte der Landschaftsbeschreibung absteckende Subjekt des Erzählers in den Vordergrund: „Vorerst wollen wir es kurz versuchen, die zwei Punkte jener düsterprächtigen Waldesbogen dem geneigten Leser vor die Augen zu führen [...]“ (HKG 1.4, S. 211). Deutlich markiert er seine Position als Herr über die Imagination des Lesers, der die „zwei Punkte“ vorgibt, die als Blickund Fluchtpunkt die Achse der Zentralperspektive aufspannen, an der sich die Erzählung orientiert. Mit dem gleichen Gestus wird auch die Dimension der Zeit in den Raum eingeschrieben. Es dient dazu der klassische Chronotopos des Weges,22 den nachzuvollziehen der Erzähler den Leser einlädt.23 Unter der Vielzahl an Perspektiven, die den erzählten Raum eröffnen, kristallisieren sich so nach und nach zwei als dominante heraus: die ‚objektive‘ Perspektive der politischen und geographischen Kartographie, die mit einer Perspektive der subjektiven Wahrnehmung kombiniert wird. Die Landschaft der Erzählung wird nun erwandert, die Vogelperspektive der Kartographie wird mit einer Perspektive von unten unterfüttert, die mühsam erst die zwei schon zuvor genannten Übersichtspunkte erklimmen muss, an denen als Blickpunkte der Erzählung die Perspektive letztlich festgemacht

22 Vgl. Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edwald Kowalski u. Michael Wegner. Frankfurt a. M. 1989. 23 Zu diesem gemeinsamen „Wandererlebnis“ siehe Roy Pascal, „Die Landschaftsschilderung im Hochwald“. In: Lothar Stiehm (Hg.), Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg 1968, S. 57-68, hier S. 60. Pascal spricht von einem „Subjektivierungsprozeß“, der sich auch in Satzbau und Vokabular verfolgen lässt, so dass sich alle Elemente der Landschaft in ein ästhetisches Gebilde einordnen, „das seine Struktur dem Wanderer verdankt“ (ebd., S. 62).

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wird: Der Waldsee und die Burg Friedberg, in der Erzählgegenwart eine Burgruine. Auf dieser Burgruine, die an sich schon hoch genug liegt, um vom Tale aus „wie ein luftblauer Würfel“ auszusehen, „der am obersten Rande eines breiten Waldbandes schwebet“ (HKG 1.4, S. 215), heißt der Erzähler den Leser einen „Schutthügel“ (HKG 1.4, S. 216) besteigen, der bis an eines der übriggebliebenen Fenster des zweiten Stockwerkes reicht, um den Panoramablick ringsum als Fensterblick zu inszenieren. Um die zu erzählende Geschichte endlich in Gang zu setzen, wird im Erzählrahmen nochmals eine „Rahmenschau“24 arrangiert. So wird eine zentralperspektivisch konstruierte Fernsicht möglich, die die Daten der Karte mit dem subjektiven Blick abgleichen kann. Beschrieben wird, was sich dem Blick in Richtung Süden, Norden und Westen zeigt, der Blick nach Osten fehlt. Die geographische Perspektive wandelt sich in eine temporale; der Blick richtet sich nun in die Vergangenheit: „Und nun, lieber Wanderer, wenn du dich satt gesehen hast, so gehe jetzt mit mir zwei Jahrhunderte zurück, denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glockenblumen und die Maßlieben und den Löwenzahn, und die andern tausend Kräuter; streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchentor in den Eingang und ein sturmgerechtes Dach auf den Turm, spiegelnde Fenster in die Mauern, teile die Gemächer, und ziere sie mit all dem lieben Hausrat und Flitter der Wohnlichkeit – dann, wenn alles ist wie in den Tagen des Glückes, blank, wie aus dem Gusse des Goldschmiedes kommend – – dann gehe mit mir die mittlere Treppe hinauf in das erste Stockwerk, die Türen fliegen auf – – – gefällt dir das holde Paar?“ (HKG 1.4, S. 217).

24 August Langen hat in seiner 1934 erstmals erschienen Studie „Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus“ (Nachdruck Darmstadt 1968) die These vertreten, dass die für das rationalistische 18. Jahrhundert typische Anschauungsform die Rahmenschau sei, die den Gesichtskreis auf einen kleinen Ausschnitt deutlicher Apperzeption beschränke, eine These, der auch noch die neuere Forschung zum Rahmen im Wesentlichen folgt. So gehört der Rahmen nach Martina Wagner-Egelhaaf („Rahmen-Geschichten. Ansichten eines kulturellen Dispositivs“. In: DVjS 82 (2008/1), S. 112-148) als literarische Struktur wie als Motiv „als konstitutives Element dem zentralperspektivischen Sichtbarkeitsdispositiv“ (S. 114) an.

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Die historische Fiktion wird als zooming-in in die Vergangenheit inszeniert: Von außen nach innen verwandelt die Einbildungskraft die Ruine Zug um Zug zurück in die bewohnte Burg der Vergangenheit, deren Türen sich zuletzt auf ein Zimmer hin öffnen wie der Vorhang einer Bühne und den Blick freigeben für das historische Schauspiel, das sich nun darauf abspielen wird. Die Erzählung scheint dieser rasanten Blickführung allerdings hinterherzuhinken und verbleibt noch einige Zeit im Präsens des Rahmens, bis sie sich einen Ruck gibt und mit einem „Plötzlich“ (HKG 1.4, S. 219) in den Modus des epischen Präteritums kippt. Es gibt also einige Anlaufschwierigkeiten, bis die historische Fiktion in Gang gesetzt wird und die Perspektive installiert ist, die sich aus der Multiperspektivität des Rahmens langsam als die zentrale Perspektive der Erzählung herauskristallisiert: es ist die Perspektive in die Vergangenheit. In der ersten Szene der Binnengeschichte wird der Blick, der im Rahmen durch die Fensterreste der Ruine geworfen wird, wiederholt. Der Burgherr stellt ein Fernrohr auf, um mit seinen Töchtern jenen Punkt in der Ferne zu betrachten, an den sie nach seinem Willen bald umziehen sollen und von dem sie bald darauf, wiederum durch ein Fernrohr, auf die Burg zurückblicken werden. Wieder sind es „zwei Punkte“ (HKG 1.4, S. 211), wie sie der Erzähler schon im Rahmen absteckte, an denen die Blickachse aufgespannt wird. Dieses Prinzip des doppelten Punktes hat Eva Geulen in ihrer Studie Worthörig wider Willen25 sehr pointiert als entscheidendes Darstellungsprinzip von Stifters Erzählung beschrieben: „Im Hochwald erscheint nur, was doppelt erscheinen kann. Jeder Punkt hat seinen Doppelpunkt, der ihm gleicht und doch gegenübersteht.“26 An diesen Doppelpunkten ist jeweils eine doppelte Perspektive festgemacht: sie blicken sich gegenseitig an. So findet sich schon im zweiten Satz der Erzählung die doppeldeutige Formulierung, dass ein „derber Gebirgsstock [...] nun von drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt“ (HKG 1.4, S. 211), die durch den syntaktischen Lapsus offen lässt, ob es das Gebirge ist, das sein Waldblau drei Ländern zeigt, der Blickpunkt also auf dem Gipfel des Berges zu suchen ist, oder ob der Blickpunkt in den drei Ländern verortet werden muss,

25 Eva Geulen, Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992. 26 Ebd., S. 94.

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von denen aus jeweils das Waldesblau des Gebirgsstocks sichtbar ist.27 Der Gestus der objektiven Beschreibung wird sogleich mit der Perspektive des subjektiven Blicks verbunden. Der Akt des Sehens wird in der Beschreibung stets mitreflektiert – was genannt wird, wird als Angesehenes beschrieben. Entsprechend wird auch dem „Punkt“ der Burg sogleich ein anderer Punkt im Tale gegenübergestellt, von dem aus die Burg „wie ein luftblauer Würfel anzusehen“ (HKG 1.4, S. 215) ist. In der Binnengeschichte wird dieses Verfahren der doppelten Perspektive fortgesetzt: dem Blick durch das Fenster auf den Ort des Waldsees korrespondiert der Blick der Schwestern durch das Fernrohr auf die Burg zurück. Sehen und Gesehenwerden gehören in Stifters Erzählung zusammen, jedem Punkt wird der Punkt gegenübergestellt, von dem aus er zu sehen ist. Die beschriebenen Orte und Dinge werden dadurch in die Tiefe des Raums gerückt und können so in perspektivischer Ferne betrachtet werden. Das Prinzip des Doppelpunktes beschränkt sich nicht auf Raumdarstellung und Naturwahrnehmung – auch die Figuren treten stets in Doppelung auf: Clarissa und Johanna, der Burgherr und Gregor, Ronald und der Ritter Bruno sind „einander stets Doppelgänger und Gegenbilder zugleich.“28 Eva Geulen interpretiert diese umfassende Verdoppelung, vor allem was die reziproke Blickstruktur angeht, nun einerseits als Verlebendigung, die „den Eindruck allseitiger Kommunikation hervorruft“29, andererseits versteht sie den Doppelpunkt ganz wörtlich als Interpunktionszeichen: „Die Punkte markieren den Wald nicht nur, sondern sie zitieren diesen Wald herbei und fungieren als Merkpunkte des Zitats, das üblicherweise mit dem Doppelpunkt notiert wird.“30 Damit verweise, wie Eva Geulen treffend bemerkt, die Doppelstruktur auf die Sprachproblematik eines Textes, in dem alles Zitat sei und in dem angesichts der Kakophonie der Natur und des Bedeutungsüberschusses in der menschlichen Rede nichts mehr verstanden werden könne: „Das symmetrische Schema der Punkte verkündet zugleich den Zitatcharakter von Text und Wald, die sich in der Fülle ihres Bedeutens

27 Siehe dazu ebd., S. 95. 28 Ebd., S. 97. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 99.

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dem Bedeuten entziehen.“31 Anders als die beiden Punkte eines Interpunktionszeichens stehen die geographischen Kontrapunkte von Stifters Landschaftsbeschreibung aber zudem im Verhältnis der Spiegelung zueinander: Durch die Doppelung von Blick und Gegenblick ergibt sich eine spiegelbildliche Struktur, die die Metaphorik des Hochwaldes kennzeichnet. Das gilt zunächst für den Gegensatz von Natur und Kultur, die vielfach ineinander gespiegelt werden. Wenn es einmal heißt, „es liegt ein Anstand, ich möchte sagen ein Ausdruck von Tugend in dem von Menschenhänden noch nicht berührten Antlitze der Natur, dem sich die Seele beugen muss, als etwas Keuschem und Göttlichem“, so wird diese Perspektive gleich darauf noch einmal anders perspektiviert, indem sie, im Textbild markiert durch zwei Spiegelstriche, als Spiegelung entlarvt wird: „– – und doch ist es zuletzt wieder die Seele allein, die all ihre innere Größe hinaus in das Gleichnis der Natur legt“ (HKG 1.4, S. 241). In der Journalfassung war an dieser Stelle noch statt von einem „Gleichnis“ von einem „Symbol“ die Rede gewesen.32 Stifter, der bei der Überarbeitung dieses Textes für die Studienfassung nur wenige Eingriffe vornahm, hat hier durch eine kleine Änderung eine völlig andere Zeichenkonzeption ins Spiel gebracht. Denn das vor allem aus der Bibel bekannte „Gleichnis“ stellt eine allegorische Gattungsform dar33 – Allegorie und Symbol galten aber seit Goethe als Gegenspieler.34 Nach Goethe bezeichnet das Symbol bekanntlich direkt, das Allegori-

31 Ebd., S. 105. Eva Geulen verfolgt in ihrer Arbeit allgemein die Absicht zu zeigen, „daß bestimmte Realismustheoreme, wie z.B. der epistemologische Vorrang des Sehens in der Literatur, nicht ohne weiteres gültig sind und nicht unabhängig von, sondern im Zusammenhang mit der Sprachproblematik dieser Texte betrachtet werden müssen“ (ebd., S. 152). Entsprechend legt sie auch in ihrer Analyse des Hochwalds den Schwerpunkt auf die sprachliche, grammatikalische Dimension des Prinzips ‚Doppelpunkt‘, der gegenüber die visuelle Dimension, das Prinzip des wechselseitigen Blicks, eher in den Hintergrund tritt. 32 Siehe HKG 1.1, S. 224. 33 Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 55. 34 Vgl. Christoph Brecht, „,Schneller als die Gegenstände selber dich vorüberfliehn‘“. Zum Rückbau der Alternative von Allegorie und Symbol. In: Frauke Berndt u. Christoph Brecht (Hg.), Aktualität des Symbols. Freiburg i.Br. 2005, S. 185-205.

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sche hingegen indirekt.35 Und während die Allegorie die Differenz zum Bezeichneten offen ausstelle, mache das Symbol diese vergessen: Goethes ontologisches Symbolkonzept verstand das Symbol als natürliches Zeichen, das durch seine Intransitivität, Kohärenz und Selbstreferentialität als Verkörperung dessen erscheint, auf das es verweist.36 Während das Symbol so die Vorstellung von Verdichtung nahelegt, beruht das allegorische Gleichnis auf einer Spiegelstruktur. Die Frage nach der Darstellbarkeit der reinen und unberührten Natur, an der sich die Erzählung zu versuchen vorgibt, wird mit der Rede vom „Gleichnis“ aber endgültig verneint. Denn die Seele projiziert ihre „innere Größe“ nicht in die Natur, sondern lediglich in deren „Gleichnis“ – die Natur kommt hier überhaupt nur als Gleichnis vor, als Spiegelbild des Blickenden. Während ein „Symbol“ der Natur mit dieser, dem damaligen Symbolverständnis entsprechend, in einem direkten Zusammenhang stünde, als ihre Verkörperung oder Verdichtung verstanden werden könnte, so nährt das „Gleichnis“ solcherlei Hoffnungen gar nicht erst. Die Natur jenseits des Gleichnisses bleibt von der Imagination der Protagonisten – und damit auch vom Text – gänzlich unberührt, ihr Ort scheint hinter der Spiegelfläche der menschlichen Projektionen zu liegen. „Wölklein“ im Spiegel Das Prinzip der Spiegelung, das Stifters Naturdarstellung kennzeichnet, wird auf die Spitze getrieben, wenn der menschliche Blick auf die Natur von dieser erwidert wird. Dies geschieht dem Erzähler im Anblick des Waldsees: „Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesen Gestaden saß: – als sei es ein unheimlich Naturauge, das mich hier ansehe – tief schwarz – überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drinn das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Thräne“ (HKG 1.4, S. 214). Der Satz ist nicht nur ein Paradebeispiel für das Dominieren des Spiegelstrichs in Stifters Interpunktion (demgegenüber der Doppelpunkt kaum eingesetzt wird), er verdeutlicht auch noch einmal das Prinzip der Spiegelung: Dem menschlichen Blick auf die Natur begegnet dort wiederum ein Auge, bzw. „Naturauge“, das zurückzu-

35 Goethe, Über die Gegenstände der bildenden Kunst (1797). In: WA Abt. I, Bd. 47, S. 95. 36 Vgl. Frauke Berndt, „Symbol/ Theorie“. In: Berndt u. Brecht, Aktualität des Symbols, S. 7-30, hier S. 11f.

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blicken scheint. Und doch ist es eigentlich die Medialität des Blicks, welche durch die Spiegelstruktur der Wahrnehmung sichtbar gemacht wird: Der Betrachter sieht sich in der Natur selbst sehen. Der geheimnisumwobene See, der inmitten des Waldes wie des Textes liegt und an dem sich auch der Blick des Erzählers bricht, stellt selbst gewissermaßen ein ‚Gleichnis‘ der den Text bestimmenden Spiegelstruktur dar. Während der Text vorrangig eine ganze Palette von Blautönen zur Naturbeschreibung aufbietet, von „Dämmerblau“ (HKG 1.4, S. 212) und „sanftblau[]“ (HKG 1.4, S. 241), über „himmelsblau“ (HKG 1.4, S. 234) und „stahlblau[]“ (HKG 1.4, S. 247) bis hin zu „dunkelblau“ (HKG 1.4, S. 234) und „schwarzblau“ (HKG 1.4, S. 216) ist die Erzählung grundiert von „lauter Blau und lauter Blau, d[em] reinste[n] und freundlichste[n] Blau“ (HKG 1.4, S. 220), so ist der Waldsee schwarz, „tiefschwarz“ (HKG 1.4, S. 214). Die Farbe der „noch schwärzern See’sfläche“ (HKG 1.4, S. 213) scheint ein Effekt der Spiegelung zu sein, so vermutet Gregor: „Nun was die schwarze Farbe betrifft, so mag es wohl damit nur die Ursache haben, daß die dunkeln Tannen und Berghäupter aus ihm wiederscheinen – wäre er draußen im ebenen Lande, so wäre er so blau, wie ihre Teiche, auf die nichts, als der leere Himmel schaut“ (HKG 1.4, S. 263). Doch der See liegt eben nicht „draußen“, sondern „drinnen“ im Wald, und deshalb ist es ebenso möglich, daß Gott ihn „mit schwarzer Höllenfarbe gezeichnet und in die Einöde gelegt hat“ (HKG 1.4, S. 262 f). Ob die Schwärze des Sees in der Tiefe oder an der Oberfläche ihre Ursache hat, ist nicht zu entscheiden; ob sie dem Medium eigen ist oder bereits ein Effekt seiner Medialität – es bleibt unklar. Hee-Ju Kim interpretiert die Beschreibung des Sees als Vorwegnahme der Gesichtszüge Clarissas, deren düsteres Schicksal damit antizipiert werde.37 Ihre Gegenüberstellung mit einem anderen, kleineren See, der in Analogie zu Johanna dargestellt werde, basiert allerdings auf einem Missverständnis, denn von einem zweiten See ist im Text nicht die Rede. Mit dem als „freundlich[]“ (HKG 1.4, S. 214) apostrophierten Wasser ist die Moldau gemeint, und was dann „wie ein zärtlich Auge aufgeschlagen“ (HKG 1.4, S. 214) daliegt, ist ein Tal. Stifter stellt also gerade nicht einem düsteren See einen klaren und hellen gegenüber, sondern beschreibt die Dunkelheit des einen Sees als Spiegelung. Läge er in einem ‚lichten Tal‘, so wäre, entsprechend Gregors Vermutung, auch er licht und blau wie der

37 Kim, Natur als Seelengleichnis, S. 98.

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Himmel. Anders als die anderen Orte und Merkmale der beschriebenen Landschaft hat der See kein Gegenüber, keinen Doppelpunkt. Der Waldsee steht als Spiegel für das Prinzip der Doppelung selbst, und entzieht sich deshalb auch dem Spiel der Doppelungen, das den Text sonst kennzeichnet. Die glatte Oberfläche des Seewassers steht dabei in einer Reihe von Metaphern der Fläche im Text: Der „grüne[] Teppich des Rasens“ (HKG 1.4, S. 255) wird mitunter zu einem „reine[n] Tuch“ (HKG 1.4, S. 233), der Himmel ist „wie eine glänzende Wüste“ (HKG 1.4, S. 256). Dominant sind in der Naturbeschreibung vor allem die textilen Metaphern des Gewebes, Stoffes oder Tuches, die, wie Christian Begemann dargelegt hat, Natur zu einem „Mega,text‘“38 machen, der deshalb allerdings auch nicht einfacher zu entziffern ist – im Gegenteil: die Textilmetaphorik stehe, so Begemann, vielmehr für die Einheit von Ausdrücken und Verbergen, die auch das Zeichen bestimme: „Wie die Natur – Stoff, Gewebe, ,Text‘ – sich ständig mitzuteilen scheint und doch unter den stofflichen Massen ihrer Textur zugedeckt bleibt, sich darin gewissermaßen in eine Oberfläche und eine Tiefenschicht spaltend, so ist auch das zweistellige Zeichen strukturell durch die gleichzeitige Präsenz und Absenz seiner Bedeutung gekennzeichnet.“39 Was die Gewebemetaphorik suggeriert, wird vom Motiv des Waldsees plastisch ins Bild gesetzt: der See vereint eine Oberfläche mit einer Tiefendimension, doch die einheitliche Schwärze, die sich dem Betrachter beim Blick auf den See bietet, macht es schwierig, beide Größen zu unterscheiden. Das dunkle Medium der Wasserfläche erschafft eine Tiefe, die aufgrund seiner spiegelnden Qualitäten dem Blick entzogen bleibt. Statt einer Tiefe hinter oder unter der Oberfläche erzeugt der Spiegel eine perspektivische Tiefe des Bildes. So heißt es über den ersten Blick auf den Waldsee: „Sie stiegen einen ganz kleinen Hang nieder, und standen an der weit gedehnten Fläche eines flimmernden Wassers, in dessen Schoße bereits das zarte Nachbild des Mondes wie ein blödes Wölklein schwamm.“ (HKG 1.4, S. 247f) Der Blick richtet sich also auf eine doppelte Spiegelung: zum einen gehört die Rede vom „Schoße“ des Sees in die oben beschriebene Reihe der Anthropomorphismen der Naturbeschreibung, mit denen sich der Mensch in der Natur spiegelt, zum anderen ist der Schoß des Sees hier ein Spiegelbild. Denn während der Grund ja unter der „weit ge-

38 Begemann, Welt der Zeichen, S. 200. 39 Ebd., S. 200f.

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dehnten Fläche eines flimmernden Wassers“ unsichtbar bleibt, bezeichnet der Schoß hier die Tiefe des Spiegelbildes auf der Wasserfläche. Erst die Spiegelung erzeugt eine Tiefendimension des Bildes. Als Spiegelung des Himmels markiert der Mond die Oberfläche des Sees als Spiegelfläche. Tiefe ist in diesem Zusammenhang nicht das, was unter der Oberfläche verborgen wäre, sondern sie ist ein Effekt der Spiegelung: „Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen, und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuern schwarzen Glasspiegel.“ (HKG 1.4, S. 213) Dass die durch Spiegelung erzeugte Tiefe aber nur eine illusorische ist, wird in Stifters Text immer wieder durch das Auftreten von „Wölklein“ verschiedener Formen gezeigt, die jeweils die Oberfläche als solche markieren und die Durchsicht als Spiegelung entlarven. In der Szene am Waldsee ist es der Mond, der „wie ein blödes Wölklein“ auf der Wasseroberfläche schwimmt (wobei der Vergleich tautologisch eine Spiegelung mit einer anderen erklärt, schwimmen doch Wolken ebensowenig wie der Mond auf Wasseroberflächen), in der Szene, in der der Burgherr ein baldiges Gewitter prophezeit, sind es die „Himmelsschäfchen“, die am sonst „spiegelklaren Himmel“ aufziehen und ihn eine Prognose wagen lassen, die durch die Unklarheit, ob es sich dabei um Projektion eines Inneren oder um Wahrnehmung der Außenwelt handelt, gekennzeichnet ist. Am Blau als der Farbe der romantischen Sehnsucht sind Wolken aufgezogen, Zeichen zeigen sich, die vages Unheil verkünden, aber nicht klar entziffert werden können. Als Metapher und Analogie werden die meteorologischen Zeichen am Himmel jedoch immer wieder eingesetzt. Im Gespräch der Schwestern über das von Clarissa angestimmte Lied, das auch der Vater nicht gern hört, äußert Johanna, die Melodien der Schwester seien „jetzt immer wie Nebel und Wolken, oder gar wie Mondschein, der wohl auch schön ist, aber bei dem man sich fürchtet“ (HKG 1.4, S. 220). Clarissa antwortet: „O Johanna, liebes, Mädchen, wie bist du noch dein eigner Himmel, tief und schön und kühl! Aber es werden in ihm Düfte emporsteigen, – der Mensch gibt ihnen den Missnamen Leidenschaft – du wirst wähnen, sie seien wonnevoll erschienen, Engel wirst du sie heißen, die sich in der Bläue wiegen – aber gerade aus ihnen kommen dann die heißen Blitze und die warmen Regen, deine Tränen – und doch auch wie-

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der aus diesen Tränen baut sich jener Verheißungsbogen, der so schön schimmert und den man nie erreichen kann.“ (HKG 1.4, S. 220)

Die Innenwelt wird hier selbst in einen Himmel verwandelt, an dem sich die metereologischen Kreisläufe unaufhaltsam vollziehen und vom Menschen nur nachträglich benannt und gedeutet werden können. Dem Prinzip von Blick und Gegenblick folgend, fehlt im Hochwald aber auch zu diesem Bild nicht die Gegenperspektive. So heißt es nach dem Besuch Ronalds: „– – Zuweilen, wenn das silberne Schiff, die Wolke, einzeln durch die Bläue ziehet, so geht unten ein Schatten über den Wald, und dann steht wieder dasselbe feste Licht auf seiner ganzen Breite – – [...].“ (HKG 1.4, S. 296) Das Bild, das die von Stifter exzessiv verwendeten doppelten Spiegelstriche hier einrahmen, ist zunächst eine Spiegelung des Bildes, das sich im Anblick des Waldsees den Betrachtern geboten hat: als Schiff zieht die Wolke über das Blau des Himmels wie über die Oberfläche eines weiten Gewässers. Dann aber wandelt sich die Spiegelung in eine Projektionsanordnung: vom Licht der Sonne beschienen wirft das Medium der Wolke seinen Schatten auf den Wald und beleuchtet so, wiederum dem Prinzip der Spiegelung von Mensch und Natur gehorchend, den Seelenzustand der beiden Schwestern, um den es hier geht: „Und so war es mit den Schwestern“ (HKG 1.4, S. 297). Ein weiteres Mal taucht die Wolke im Zusammenhang mit dem Blick durch das Fernrohr auf, das die Schwestern regelmäßig nach Wittinghausen richten. Nach einer herbstlichen „Verschleierung des Himmels über vierzehn Tage“ (HKG 1.4, S. 301), die den Fernblick unmöglich machte, ist der Himmel endlich wieder so wolkenlos blau wie eh und je: „Nur der Himmel, so lieb und rein, wie einst, ohne ein einzig Wölklein, zog über die schweigsame Waldestrauer hinaus“ (HKG 1.4, S. 303). Das Auftauchen eines solchen Wölkleins lässt aber nicht lange auf sich warten, denn als die Schwestern durch das Fernrohr den gewohnten Anblick der Burg suchen, bietet sich ihrem Blick stattdessen nur ein „kleines Wölklein“: „Clarissa, wie gewöhnlich, richtete das Rohr – – aber auch sie fand das Schloß nicht, sondern rückte und rückte am Waldessaume entlang, und wieder zurück, sie sah wohlbekannte Biegungen und Linien, in deren Nähe das Schloß sein sollte, – – endlich erklärte sich das Rätsel: wenn auch nicht am ganzen Himmel, so lag doch an

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dem fernen Waldsaume ein kleines Wölklein gerade da, wo sie das Vaterhaus sehen sollten.“ (HKG 1.4, S. 304)

Diesmal verdeckt die Wolke auf der Bildfläche, wie die Protagonisten ahnen, tatsächlich ein ‚Dahinter‘: die Katastrophe, die sich auf der Burg abgespielt hat oder die sich im Augenblick der Betrachtung noch abspielt. An dieses „Dahinter“ ist aber auch im weiteren Verlauf der Erzählung kein Herankommen. Zwar verschwindet die Wolke wieder, und beim nächsten Blick durch das Fernrohr sehen die Mädchen die zerstörte Burg – doch „von Kriegsgetümmel ward man gar nichts inne, und nur die lächelnde schöne Ruhe stand am Himmel und über der ganzen Einöde“ (HKG 1.4, S. 306). Den Hergang der Zerstörung erfahren Schwestern und Leser erst nachträglich, gespiegelt durch die Erzählung des Ritters. Doch auch dieser kann das Geschehen, bei dem er immerhin selbst zugegen war, nur als Reihe zumindest fragwürdiger Zeichendeutungen erzählen, die er selbst auch im Nachhinein nicht endgültig deuten kann. Während der Belagerung war Ronald als schwedischer Vermittler vor die Burg geritten und hatte dort seinen Helm abgenommen, doch was er damit ausdrücken wollte, wird von den Verteidigern der Burg nicht verstanden: „War es nun Verblendung, war es Verhängnis, das sich erfüllen mußte, wir verstanden die Zeichen des Jünglings nicht, wie er so zuversichtlich vorritt, ja Euer Vater mit Merkmalen höchster Überraschung sah lange und unverwandt hin; – da sah ich nach und nach ein Rot in seine Wangen steigen, bis sie dunkel, wie in Zornesglut brannten.“ (HKG 1.4, S. 314)

Der Blick reicht nur bis zur Körperoberfläche und nicht dahinter,40 Verhalten und Physiognomie der Figuren bieten nur Zeichen, die nicht entschlüsselt, sondern nur durch andere Zeichen beantwortet werden können. So ist die Lanze, die der Vater schleudert, „das Zeichen zu vielen andern, die augenblicks von unsern Leuten flogen [...].“ (HKG 1.4, S. 314) Und aus diesem Krieg der Zeichen geht die Ruine als letztes und bis zur Erzählgegenwart hin sichtbares Zeichen hervor.

40 Zu Stifters Verhältnis zur Physiognomik siehe Begemann, Welt der Zeichen, S. 205, Anm. 41.

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Der Blick eröffnet keinen unendlichen Tiefenraum, sondern trifft auf eine Bildfläche, über die es kein Hinauskommen gibt. Das Wölklein, das dem Blick der Protagonisten immer wieder begegnet, verdeckt ausgerechnet den Fluchtpunkt der Perspektive und macht so die Illusion von Räumlichkeit zunichte. Immer wieder wird im Verlauf der Novelle deutlich, dass die Bild- oder Oberfläche, die durch das wiederkehrende Motiv des Wölkleins markiert wird, eigentlich eine Spiegelfläche ist. Statt räumliche Tiefe zu eröffnen, macht der Spiegel die Medialität der eigenen Wahrnehmung sichtbar, zusammen mit dem Standpunkt und Hintergrund des Betrachters. Die Hoffnung auf Tiefe, welche die Fernblicke motiviert und die sie immer wieder auch scheinbar bestätigen (sei es durch die vermeintliche Zeichenhaftigkeit der Wolken am Himmel, sei es durch die Schwärze der Seefläche, sei es durch den Fernblick, den das technische Medium erlaubt), sie wird mit gleicher Regelmäßigkeit enttäuscht. Das Wölklein markiert eine Spiegelfläche und zeigt damit nichts anderes, als dass die Tiefe im Hochwald Effekt einer Spiegelung ist. Die Spiegelstruktur beschränkt sich im Hochwald aber keineswegs auf die Wahrnehmung der Figuren, sondern betrifft auch die Anlage der gesamten Narration – genauer, ihre Anlage als historische Fiktion. Dazu muss man einen Schritt zurücktreten und den Rahmen betrachten. Denn die Rahmenhandlung wiederholt noch einmal das Konstruktionsprinzip der Erzählung. So wie deren erzählter Raum durch die spiegelbildliche Gegenüberstellung von Waldburg und Waldwiese und die sich daraus ergebende Sichtachse gekennzeichnet ist, so geht die Rahmenhandlung aus von der Burgruine, die vom Erzähler am Anfang der Erzählung erklommen wird, reicht bis zur Spiegelfläche des Waldsees, und führt am Ende wieder zur Ruine zurück. Waldkräuter und Wildblumen überwuchern die Mauerreste zu Beginn, auf denen am Schluss Ziegen klettern. Spiegelbildlich steht das Doppelbild der Ruine sich selbst gegenüber und markiert von den Rändern der Erzählung aus deren zentrale Blickachse von der Burg zum See und zurück. Als einziger Zeuge der Existenz des Geschlechts der Wittinghauser, von denen nicht einmal ein Grabmal existiert, ist sie Ausgangs- und Endpunkt der historischen Fiktion gleichermaßen. Das historische Erzählen im Hochwald folgt einer Logik der Inversion: Die erzählte Geschichte, die sich zwischen den beiden Fixpunkten der Ruine aufspannt, nimmt ihren Ausgangspunkt vom Blick aus einem übriggebliebenen Fenster der Burg, führt in die Fiktion der Vergangenheit und

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kehrt schließlich zu der Ruine zurück. Im Erzählen nähert sich das Erzählte wieder seinem Ausgangspunkt. Bei aller Interferenz der Perspektiven ist dies die zentrale Blickachse, der die Erzählung folgt. Ihr Konstruktionsprinzip ist die nachträgliche Herleitung eines Zustandes, der zu Erzählbeginn gegeben ist. Mit dieser Konstruktion stellt Stifters Erzählung die Grundlagen historischer Fiktion unter den Bedingungen realistischen Erzählens noch einmal aus: sie unterliegt generell einer Spiegelstruktur. Die Darstellung der Vergangenheit, so fiktiv sie auch sein mag, mündet zuletzt in den Zustand der erzählten Realität als der Gegenwart, von der das Erzählen seinen Ausgang genommen hatte. Die Unfähigkeit der Figuren, die Zeichen zu deuten, ist ein Reflex dieser Struktur auf Ebene der histoire. Die beschränkte Autonomie ihrer Handlungen ist ein Ausgeliefertsein an eine Geschichte, die einer ihnen nicht zugänglichen Logik unterliegt: es ist die Logik der historischen Erzählung, die zuletzt ihren Ausgangspunkt wieder einholen muss. Dem erzählerischen Rückgriff in die Tiefe der Vergangenheit kommt die linear vorwärtsschreitende Geschichte wie aus einem Spiegel entgegen, bis sie wieder am Ausgangspunkt des Erzählens, dem Blickpunkt des Erzählers, angekommen ist. Der dunkle See im Zentrum des Erzählens fungiert als Medium des Blicks in die Vergangenheit. Seine eigene Tiefe bleibt aufgrund der spiegelnden Qualität der Wasseroberfläche dem Blick entzogen. Die schwarzen Tiefen des Waldsees sind unzugänglich: Natur ist tiefer als Kultur. Die spiegelnde Wasserfläche des Waldsees erzeugt eine doppelte Illusion von Tiefe. Zu der Tiefe, die unter der Oberfläche verborgen ist, kommt die perspektivische Tiefe des Bildes, die durch Spiegelung entsteht. Dass diese Raumtiefe jedoch eine optische Illusion ist, zeigen die Wölkchen, die das Bild immer wieder als Spiegelung markieren oder den Fluchtpunkt der Perspektive verdecken – ebenso, wie sie die Wasserfläche als Spiegelfläche markieren, unter die der Blick nicht dringen kann. Der Blick in die Ferne eröffnet demnach keinen unendlichen Tiefenraum, sondern trifft auf eine Bildfläche, hinter die er nicht dringen kann. Stattdessen zeigt der Spiegel Standpunkt und Hintergrund des Beobachters und macht die Medialität der eigenen Wahrnehmung sichtbar. Es ist der zentralperspektivische Tiefenblick, der die dunkle Tiefe des Wassers erst erzeugt. Denn erst dadurch, dass sie sich dem Blick auf die spiegelnde Wasseroberfläche entzieht, eröffnet sich ein Bereich der Spekulationen. Um die Existenz einer tieferen Dimension zu suggerieren, markiert Stifters Text die Oberfläche. Immer

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wieder weisen seine „Wölklein“ darauf hin, dass der Blick auf eine unhintergehbare Spiegel- oder Bildfläche trifft, hinter die er nicht sehen kann. Und hier scheint verborgen, an was die historische Fiktion nicht herankommen kann: die Unabänderlichkeit des Gangs der Geschichte. Die Tiefe der Vergangenheit, in die die historische Fiktion rückblickend vordringt, erweist sich damit als Spiegelung des eigenen Ausgangspunkts. Und so ist auch das Ende der erzählten Geschichte von vornherein festgelegt: es muss unweigerlich die Ruine erzeugen, die der Erzähler gemeinschaftlich mit dem Leser zu Beginn der Erzählung erklommen hatte.

T IEFE ALS P ROJEKTION „I MMENSEE “ (T HEODOR S TORM ) Theodor Storms 1849-1851 entstandene Novelle Immensee trägt den Namen eines Sees als Titel, der im Erzählten zunächst keine große Rolle spielt und doch für das Erzählen zentral ist. Als Motiv taucht er erst in der zweiten Hälfte der Novelle in der Reihe der Erinnerungsbilder auf, denen sich der „Alte“, als der der Protagonist Reinhardt im ersten Kapitel der Novelle vorgestellt wird, in seinem Studierzimmer hingibt. Vor dessen innerem Auge erscheinen zunächst Szenen aus seiner Kindheit und Jugend, in deren Zentrum jeweils ein Mädchen namens Elisabeth steht. Um die Beziehung zwischen ihm und Elisabeth geht es zunächst. Wenn das Verhältnis der beiden auch von Beginn an nicht ganz harmonisch zu sein scheint, so verbringt Reinhardt doch viel Zeit mit der Nachbarstochter und widmet ihr seine frühen lyrischen Versuche. Als er zum Studieren fortzieht, bleibt Elisabeth zurück und willigt nach langem und durch die Mutter unterstütztem Werben schließlich in die Heirat mit Erich, einem Schulkameraden Reinhardts, ein. Dieser erfährt davon durch einen Brief seiner Mutter, die die Bedeutung ihrer Mitteilung für Reinhardt selbst nur vermuten kann: „Hier ist auch manches anders geworden, was dir wohl erstan wehtun wird, wenn ich dich sonst recht verstanden habe.“41

41 Theodor Storm, Sämtliche Werke. Hg. von Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1987, S. 314. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden im Fließtext gekennzeichnet als SW 1.

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Das siebte der neun Kapitel schließlich trägt den Titel „Immensee“ und erzählt von einem Besuch Reinhardts auf dem am gleichnamigen See gelegenen Gut „Immensee“, das Erich mit Elisabeth bezogen hatte. Reinhardt wandert zu Fuß dorthin. Als der See sichtbar wird, hält er an: „,Immensee!‘, rief der Wanderer. Es war fast, als hätte er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht; denn er stand unbeweglich und sah über die Gipfel der Bäume zu seinen Füßen hinüber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses leise schaukelnd auf dem Wasser schwamm.“ (SW 1, S. 315)

Neben der Novelle von Storm und einem seiner Kapitel bezeichnet „Immensee“ also noch zweierlei: zum einen den See, der hier ins Blickfeld des Wanderers rückt, zum anderen das Gut Erichs. Die Homonymie von See und Gut lässt allerdings im Unklaren, welches von beiden mit dem vermeintlichen „Ziel der Reise“ gemeint ist. Der Blick des Wanderers richtet sich auf das Spiegelbild des Gutshauses im See. Die mediale Rolle des Immensees, um die es im Folgenden gehen wird, offenbart sich schon beim ersten Blick darauf. Er spiegelt die Novellenhandlung und gibt in der medialen Verdopplung einen Hinweis darauf, was diese verschweigt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Novelle, Kapitel und Gutshaus nicht nur den Namen des Sees tragen, sondern auch ähnlich wie dieser strukturiert sind: sie haben eine dunkle und störende Dimension, die metaphorisch als Tiefe dargestellt wird. Genaugenommen ist es aber weder der See, noch der Gutshof, der in der Ankunftsszene Reinhardts mit dem „Ziel seiner Reise“ bezeichnet wird, sondern ein Ort über dem See, der dem Gutshof gegenüberliegt und von dem aus sich der Blick auf den See und das Spiegelbild des Herrenhauses eröffnet. Ziel der Reise ist also nicht der Ort des Geschehens selbst, sondern der Ort, von dem aus sich ein Blick aus der Ferne auf diesen werfen lässt. Damit ist ein weiteres strukturelles Moment der Novelle bezeichnet: der perspektivische Fernblick, als welcher Erinnerung in Immensee konzipiert ist. How to do things without words Zunächst ist vom See aber nicht mehr die Rede. Nach Reinhardts Ankunft zeigt ihm Erich, der Herr im Haus, seine Besitzungen inklusive der neu errichteten „Spritfabrik“, die von der Forschung gern als Zeichen von Mo-

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dernität, wenn nicht gar von gesellschaftskritischem Potential der Novelle gedeutet worden ist,42 und führt ihn schließlich in das von allerlei „dunklen Seitengänge[n]“ (SW 1, S. 319) umgebene Haus. Dort überraschen sie Elisabeth, die von Reinhardts Kommen ihrerseits überrascht wird. Kaum hat Reinhardt jedoch einen „feinen körperlichen Schmerz am Herzen“ (SW 1, S. 317) verspürt und Elisabeth ihn mit einem „scheue[n] Blick“ gestreift, da läuft schon wieder alles in altbekannten Bahnen: „Und nun ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren ebenen Tritt“ (SW 1, S. 318). Auch die Spritfabrik treibt hier nichts voran. Ansonsten fällt zwischen Elisabeth und Reinhardt so gut wie nichts vor. Einmal, als dieser von einem Spaziergang zurückkehrend plötzlich meinte, „zwischen den schimmernden Birkenstämmen eine weiße Frauengestalt zu unterscheiden“ (SW 1, S. 319), glaubte er zwar, „es sei Elisabeth“ (SW 1, S. 319). Doch da die Gestalt in die dunklen Seitengänge verschwindet, kann Reinhardt, der in seiner Jugend ein ganzes Buch voll Gedichte auf Elisabeth verfasst hatte, „das nicht reimen“ (SW 1, S. 319). Die Prosa der wohlgeordneten Verhältnisse auf Gut Immensee (zu der meiner Meinung nach die Spritfabrik gehört) steht in nur allzu deutlichem Kontrast zur früheren Beziehung zwischen Elisabeth und Reinhardt, deren Medium die Lyrik war.43 Reinhardt zieht Elisabeth gegenüber seinerseits eine Vermeidungshaltung vor: „er war aber fast zornig auf Elisabeth, und dennoch zweifelte er, ob sie es gewesen sei; aber er scheute sich, sie danach zu fragen; ja, er ging bei seiner Rückkehr nicht in den Gartensaal, nur um Elisabeth nicht etwa durch die Gartentür hereintreten zu sehen“ (SW 1, S. 319). Die Scheu, etwas zu sagen oder zu fragen, ist ein Leitmotiv der Novelle; die Beziehung zwischen Reinhardt und Elisabeth ist bereits in ihrer Jugend vom Schweigen in entscheidenden Momenten geprägt. Als er sie in seiner Studienzeit während der Semesterferien sieht, findet er nicht die rechten Worte: Wenn er mit ihr allein ist, „entstanden Pausen, die ihm peinlich wa-

42 Vgl. z.B. Gerd Eversberg, „Einleitung“. In: Theodor Storm, Immensee. Texte (1. und 2. Fassung), Entstehungsgeschichte, Aufnahme und Kritik, Schauplätze und Illustrationen. Hg. und kommentiert von Gerd Eversberg. Heide 1998, S. 7. 43 Zum Selbstverständnis Storms als lyrischem Novellisten siehe Claudia Stockinger, „Storms Immensee und die Liebe der Leser. Medienhistorische Überlegungen zur literarischen Kommunikation im 19. Jahrhundert“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 59 (2006), S. 286-315, hier S. 297.

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ren, und denen er dann ängstlich zuvorzukommen suchte“ (SW 1, S. 310). Noch auf dem Rückweg zur Poststation ringt er um Ausdruck: „Je näher sie ihrem Ziele kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange Abschied nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen – etwas, wovon aller Wert und alle Lieblichkeit seines künftigen Lebens abhänge, und doch konnte er sich des erlösenden Wortes nicht bewusst werden.“ (SW 1, S. 312) Das ‚erlösende Wort‘, welches das „etwas“, das in der Luft liegt, in Realität überführen könnte und damit eine bestimmte Zukunft eröffnen würde, es wäre eine performative Äußerung im Sinne von Austins Theorie der Sprechakte,44 die allerdings ausbleibt – und das nicht nur in diesem Moment. Doch so wie Reinhardt immer wieder Gedichte statt Taten folgen lässt, so setzt auch das Ausbleiben des erlösenden Wortes eine andere Rede frei, nämlich die literarische Rede der Novelle selbst: Die Produktivität des Unausgesprochenen bringt erst die Maschinerie in Gang, die das Erzählen antreibt. Diese Poetik der Novelle spiegelt sich in der Handlung ihres Protagonisten. An Stelle einer performativen Sprache, die Handlungen symbolisch durchführen würde, treten Handlungen mit Symbolwert. Reinhardt, der das erlösende Wort nicht finden kann, bedient sich der Äußerungsform der literarischen Rede, und zwar vor allem der polyvalenten Rede der Lyrik. Die Lyrik tritt auch anstelle einer anderen Form der schriftlichen Kommunikation, nämlich der des Briefes: so unterlässt es Reinhardt trotz seines anderslautenden Versprechens, Elisabeth während seiner Studienzeit Briefe zu schreiben. Auch die geschilderten Situationen der Kindheit brechen immer wieder abrupt ab und enttäuschen die aufgebauten Erwartungen in den Weitergang der Handlung bzw. überhaupt auf einen Weitergang der angedeuteten Handlung. Denn meist folgt stattdessen ein Gedicht, das Reinhardt in seinen Pergamentband einträgt: Als Elisabeth einmal von einem Lehrer gescholten wird und Reinhardts Intervention unbeachtet bleibt, verfasst Reinhardt ein allegorisches Gedicht: „darin verglich er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer grauen Krähe, Elisabeth war die weiße Taube; der Adler gelobte, an der grauen Krähe Rache zu nehmen, sobald ihm die Flügel gewachsen sein würden.“ (SW 1, S. 299) Als er die-

44 Vgl. John Langshaw Austin, How to do things with words. Oxford 1962 (dt.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972).

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ses und andere Gedichte Elisabeth Jahre später vorlegt, reicht es, dass diese die Gedichttitel liest, um zu erröten – schon das Wissen um die allegorische Verfasstheit der Gedichte, auf die die Titel wiederum schließen lassen, ist Zeichen genug. Wofür die Gedichte allerdings Zeichen sind und auf was das Erröten Elisabeths verweist, bleibt offen, sodass sich Reinhardt zur erneuten Suche nach Zeichen veranlasst sieht: „Er wollte ihre Augen sehen; aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch schweigend vor ihn hin.“ (SW 1, S. 312) Der Blickaustausch, der für die Ebene wortloser Kommunikation der Novelle eine große Rolle spielt, wird hier verweigert.45 Stattdessen legt Elisabeth, wieder eine Handlung mit Zeichenwert, das „Lieblingskraut“ Reinhardts in das Buch. Während des Besuches am Immensee findet Reinhardt ein solches Kraut auf einem Spaziergang mit Elisabeth: die Blume wird erneut zum Zeichen – diesmal zum Zeichen der Vergangenheit. Er pflückt sie, und sein Gesicht trägt dabei „den Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes“ (SW 1, S. 324). Gleichwohl muss er Elisabeths Erinnerung auf die Sprünge helfen und seinen Gedichtband erwähnen, bevor der gewünschte (Zeichen-)Effekt eintritt und Elisabeths Augen sich mit Tränen füllen. Reinhardt und Elisabeth kommunizieren über ein gestaffeltes System von Zeichen, die das „erlösende[] Wort“ (SW 1, S. 312), auf das alles angelegt zu sein scheint, in unerreichbare Ferne verschieben. Die Gedichttitel, die Augen, das Heidekraut: sie alle verweisen auf ein Signifikat, das sie gleichwohl auf Distanz halten. In einer einzigen Szene scheint die Kette der

45 Augen und Hände sind bevorzugte Orte einer Kommunikation, die sich der Körperzeichen bedient, wo die Sprache versagt. Vgl. SW 1, S. 310: „ihre Hand, die er beim Willkommen in die seine genommen, suchte sie ihm sanft zu entziehen. Er sah sie zweifelnd an; das hatte sie früher nicht getan“; „In seinen Augen lag ein plötzlicher Ausdruck von Kummer, den sie nie darin gewahrt hatte. ‚Was fehlt dir, Reinhardt?‘, fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat. ‚Mir?‘, fragte er gedankenlos und ließ seine Augen träumerisch in den ihren ruhen. [...] Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. ‚Du bist so sonderbar‘, sagte sie. Er nahm ihre beiden Hände, die sie ruhig in den seinen ließ“ (SW 1, 311); Dagegen gibt das Harfenmädchen Reinhardts Wunsch, ihre Augen zu sehen, nach, „heftet“ ihre Augen in die seinen, sie sind aber, wie Reinhardt bemerkt, „falsch“ und „sündhaft[]“ (SW 1, S. 305).

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Verweise an ein Ende zu gelangen, und zwar dort, wo die Bedeutungsübertragung als somatischer Akt gedacht wird: „Während der Überfahrt ließ Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des Kahns ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hinüber; sie aber sah an ihm vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf ihrer Hand; und diese blasse Hand verriet ihm, was ihr Antlitz ihm verschwiegen hatte. Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern schöner Frauenhände bemächtigt, die Nachts auf krankem Herzen liegen.“ (SW 1, S. 325)

Während der Blickkontakt verweigert wird und die physiognomische Lektüre des Antlitzes nicht gelingt, steht die Hand als Zeichenträger ein. Durch das nächtliche Liegen auf dem kranken Herzen wirkt der geheime Schmerz auf die Hand und hinterlässt dort seine sichtbaren Spuren. Der somatische Schmerz wird als untrügliches Körperzeichen in Anspruch genommen, das ‚verrät‘, worauf alle anderen Zeichen nur verweisen. Doch hinter der scheinbaren Evidenz des Körperzeichens steht wiederum ein gestaffeltes Zeichensystem: Das Verfahren der Metonymie wird hier wörtlich bzw. körperlich genommen, als Bedeutungsverschiebung vom „kranken Herzen“ (das zudem selbst nur eine Metapher darstellt) auf die Hand und deren Schmerzen. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass auch der triviale Reim Herz/Schmerz einen Anteil hat an dieser Bedeutungsübertragung. Im Kontrast zu dem komplizierten gestaffelten Zeichensystem, über das Reinhardt und Elisabeth miteinander kommunizieren, stehen die Worte des einfachen Volkes. Die von Reinhardt gesammelten und nun auf Gut Immensee geordneten Volkslieder der „Schneidergesellen und Frisöre und derlei luftige[m] Gesindel“ (SW 1, S. 320) scheinen zu artikulieren, was direkt nicht gesagt werden kann. So lautet eine Strophe des Liedes, das Reinhardt eines Abends auf Wunsch der Gesellschaft vorträgt: „Meine Mutter hat’s gewollt, Den andern ich nehmen sollt; Was ich zuvor besessen, Mein Herz sollt es vergessen; Das hat es nicht gewollt.“ (SW 1, S. 321)

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Elisabeth saß während des Vortrags neben Reinhardt und hatte das Blatt gehalten, und „während des Lesens hatte Reinhardt ein unmerkliches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl zurück und ging schweigend in den Garten hinab“ (SW 1, S. 322). In dem Moment, in dem sich eine einfache Interpretation der Lage anbietet, reagieren die Protagonisten mit einer weiteren Produktion von Zeichen. Reinhardt empfindet paradoxerweise etwas, was er gar nicht empfinden kann, nämlich ein „unmerkliches Zittern“ und Elisabeth gibt mit ihrem stillen Fortgang Anlass zu neuerlichen Interpretationen. Ihre Mutter übernimmt die offizielle Deutung des Vorgangs: „Elisabeth hat draußen zu tun.“ (SW 1, S. 322) Ästhetik der Aussparung? Das, auf das all die Zeichen zu deuten scheinen, wird in der gesamten Novelle nicht zur Sprache gebracht. Elisabeth und Reinhardt erklären sich einander nicht – und auch der Inhalt des vorgetragenen Volksliedes bietet nur eine mögliche Erklärung für das Verhalten Elisabeths und nur für dieses – die Gründe für Reinhardts Benehmen bleiben ganz im Dunkeln. An Bemühungen, das ans Tageslicht zu bringen, was hier verschwiegen wird, mangelt es indes nicht. Seit Erscheinen der Novelle sind die verschiedensten Versuche unternommen worden, Licht ins Dunkel einer Liebesbeziehung zu bringen, die eigentlich gar nicht stattfand. Beunruhigt Reinhardt also die „der Liebe innewohnende Spannung zwischen Seelenbund und Sexualität“, wie Dieter Lohmeier vermutet46 oder gerät die Künstlernatur Reinhardts mit den bürgerlichen Vorstellungen Elisabeths in Konflikt?47 Wird hier die Problematik einer zunehmend am Profitdenken orientierten Gesellschaft gestaltet, in der zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend in die Krise geraten48 oder ist der Grund für das „Scheitern [...] in einem den Ernst des Lebens und der Kunst gleichermaßen bagatellisierenden Dilletantismus“49

46 Vgl. Dieter Lohmeier, „Kommentar“. In: SW 1, S. 1025. 47 Vgl. Raimund Belgardt, Dichtertum als Existenzproblem. Zur Deutung von Storms ‚Immensee‘. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 18 (1969), S. 77-88, hier S. 77. 48 Vgl. Winfried Freund, Theodor Storm. Stuttgart 1987, S. 51. 49 Eckart Pastor, Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen von Theodor Storm. Frankfurt a.M. 1988, S. 52.

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zu suchen? Die Novelle erlaubt all diese Deutungen, indem sie selbst keine stringente Motivierung der Handlung bietet. Die Mehrdeutigkeit des Erzählten, der „Hauch von Ungewißheit“, der über allem schwebt, ist sicher ein Grund für den enormen Publikumserfolg der Novelle;50 er erlaubt, so Erhard Schütz, vor allem „dem weibliche[n] Teil des Lesepublikums in geübter Identifikation die Rückübersetzung in die weibliche Entsagungs- und Versagungskarriere in der Ehe [...]“51. Claudia Stockinger hat das poetologische Verfahren der Novelle als „Ästhetik der Aussparung“ bezeichnet 52 und gezeigt, wie Storm im Zuge der Umarbeitung seiner Novelle zunehmend auf Unvollständigkeit und lückenhafte Handlungsmotivierung gesetzt hat: „In dieser [der ersten] Fassung gibt es keine Lücken, alles ist konsequent motiviert, die Charaktere sind explizit ausgedeutet. Den eigentümlichen Reiz von Storms Poetik der Aussparung, die erst der Überarbeitung von 1851 (also der ersten Buchfassung) ihre faszinierende ästhetische Ausstrahlung verleihen wird, sucht man vergebens.“53 Storm hatte die Novelle zunächst im Volksbuch für das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg54 veröffentlicht und anschließend seinem Freund Tycho Mommsen zur Beurteilung geschickt. Dieser sparte nicht mit Kritik, die in Randbemerkungen erhalten blieb.55 Storm arbeitete die Novelle daraufhin gründlich um und kürzte einige Passagen. Die zweite Fassung nahm er 1851 in eine Sammlung mit dem Titel SommerGeschichten und Lieder auf, die zugleich seine erste Buchveröffentlichung

50 Vgl. Margherita Versari, Immensee – ein fragwürdiger makrobiotischer Lebenslauf. In: Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Für Volker Hoffmann. Bd. 1. Hg. von Thomas Betz u. Franziska Mayer. München 2005, S. 325341, hier S. 325; ähnlich Stockinger, Storms Immensee und die Liebe der Leser. 51 Erhard Schütz, „Lohn und Preis affektiver Entsagung: Vier Lesarten zu Theodor Storms Novelle Immensee“. In: Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Hg. von Anne Fuchs u. Sabine Strümper-Krobb. Würzburg 2003, S. 135-148, hier S. 142. 52 Stockinger, Storms Immensee und die Liebe der Leser, S. 288 und passim. 53 Ebd., S. 292. 54 Hg. von Karl Biernatzki. Altona: Verlag der Expedition des Altonaer Mercur’s [1849], S. 56-86 . 55 Dieter Lohmeier hat sie in den Kommentar seiner Storm-Ausgabe aufgenommen. Siehe Storm, SW 1, S. 1026-1038.

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darstellte.56 Vor allem jene Passagen, in denen das Verhalten Reinhardts psychologisch motiviert wurde, fielen der Kürzung zum Opfer – Zusammenhänge wurden ausgedünnt, Eindeutigkeit durch Mehrdeutigkeit ersetzt.57 Die Aussparung von handlungsmotivierenden Erläuterungen, von Zusammenhängen und Übergängen, verstärkt den Charakter der perspektivischen und fragmentarischen Erinnerungsnovelle, die aber fragmentarisch ist nicht im Sinne von Unvollständigkeit, sondern von Zeichenhaftigkeit. Die Ästhetik der Aussparung ersetzt, so Claudia Stockinger, „Explizitheit durch die Evokation von Stimmung“58. Dadurch erscheint das wenige, das erzählt wird, umso bedeutsamer. Die erinnerten Episoden sind nicht kon-

56 Sommer-Geschichten und Lieder. Berlin 1851, S. 45-95. Zum Vergleich beider Fassungen siehe: Eversberg (Hg.), Storm: Immensee. 57 Vgl. Stockinger, Theodor Storm und die Liebe der Leser, S. 293-295. Claudia Stockinger zufolge ist diese Umarbeitung den jeweiligen medialen Bedingungen der Veröffentlichung geschuldet. So stünden periodisch erscheinender Literatur wie dem Volksbuch nur „limitierte Aufmerksamkeitsressourcen“ (ebd., S. 292) zur Verfügung: „Die auf ‚Verzehr‘ angelegte Produktion periodisch erscheinender Organe legt eine solche auktorial durchorganisierte, klar motivierte Gestaltung insofern nahe, als sie eine Lektürehaltung bedingt, die Innovation und Abwechslung erwartet und damit eine gewisse schnelle Oberflächlichkeit der Aufmerksamkeit verbindet.“ (Ebd., S. 292) Anders die Buchfassung, die auf Relektüre und Einfühlung setze, um eine dauerhafte Bindung des Lesers zu erzeugen: „Weil sie auf einen zeitintensiven Kontakt setzt, auf eine immer neue Lektüre desselben Werks, das Raum für die Entfaltung des Interpretations- und Einfühlungsvermögens sowie der Selbstreflexionskompetenz des Lesers bietet, stiftet sie einen undurchdringlichen, diffusen und daher um so unhintergehbaren Zusammenhang.“ (Ebd., S. 295) In dieser Untersuchung interessieren allerdings weniger die medienhistorischen Bedingungen der Textgestalt als deren poetologische Implikationen. Zum Vergleich von erster und zweiter Fassung vgl. auch Eckart Pastor, „Transformationen in eigener und fremder Regie. Oder: Zum Text-Prozeß Stormscher Novellen in den zeitgenössischen Medien“. In: Gerd Eversberg u. Harro Segeberg (Hg.), Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 103-127, der bemerkt, in der Buchfassung werde „schließlich manch nachromantisches Palaver der Zeitschriftenausgabe entrümpelt“ (ebd., S. 119). 58 Stockinger, Theodor Storm und die Liebe der Leser, S. 298.

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tingente Fragmente, sondern verdichtete Schlüsselszenen, die über sich selbst hinausweisen. Während auf eine „auktoriale Führung des Lesers“59 weitgehend verzichtet wird, fordere, so Claudia Stockinger, der Text den Leser dazu heraus, „selbst jene ‚Vollständigkeit‘ herzustellen, die der Text verweigert.“60 Ähnlich spricht Stefani Kugler angesichts der „Beschränkung auf die Außenperspektive“ davon, „dass es zur Aufgabe des Lesers wird, den Ursachen für das Vergehen seines [Reinhardts] Glücks nachzuspüren“61. Folgt man dieser Beobachtung, so geht die Aufforderung zu seiner Deutung vom Text selbst aus. Das Erzählte scheint auf eine Bedeutungsebene zu verweisen, von der aus sich eine stringente Motivierung des Erzählten ergeben könnte und die die Lücken des Erzählten überbrücken ließe.62 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass auch die vermeintlichen ,Aussparungen‘ des Textes erst durch diesen zu solchen gemacht werden: denn da eine Erzählung ohnehin nie ,Vollständigkeit‘ erreichen kann, so ist es bereits eine Frage der Interpretation, welche der unendlich vielen nicht gewählten Möglichkeiten des Erzählens als ,Lücke‘ aufgefasst wird. Von einer Ästhetik der Aussparung zu sprechen, setzt eine bestimmte Erwartungshaltung an den Text voraus: der psychologisch stringente, kausal motivierte Handlungsablauf wird hier zur Norm erklärt, von dem die Novelle in ihrer zweiten Fassung abweicht. Die Rede von der „Aussparung“ bleibt an der ersten, von Storm verworfenen Fassung der Novelle orientiert, vor deren Hintergrund die zweite Fassung als lückenhaft erscheint. Die

59 Ebd., S. 297. 60 Ebd. 61 Stefani Kugler, „‚Meine Mutter hat’s gewollt‘. Weiblichkeit und männliche Identität in Theodor Storms Immensee“. In: Ulrich Kittstein u. Stefani Kugler (Hg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg 2007, S. 201-231, Zitat S. 204. 62 Dies setzen auch Jan-Oliver Decker, Olaf Schwarz und Marianne Wünsch in ihrem Aufsatz: „Von der Novelle zum Film: Theodor Storms Immensee (1850) und Veit Harlans Film Immensee. Ein deutsches Volkslied (1943)“ (In: Hans Krah (Hg.), Geschichte(n). NS-Film – NS-Spuren heute. Kiel 2000, S. 31-49) voraus, die die Differenz zwischen Film und Novelle unter anderem in ihrer ,Tiefenstruktur‘ suchen (vgl. S. 31). In der Novelle sei diese vor allem durch die angstbesetzte Sexualität bestimmt (vgl. S. 34f).

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„Leerstellen“, die bisweilen sogar als die entscheidenden Momente der Erzählung gesehen werden,63 werden vom Text erst erzeugt, sie sind „bedeutungskonstitutiv, ohne mit Bedeutung aufgefüllt zu werden.“64 Nur aus dem Kontext lässt sich schließen, dass hier etwas verschwiegen wird. Der Text sagt, dass er etwas nicht sagt, und löst damit die Versuche aus, die selbsterzeugten Lücken zu überbrücken oder mit Sinn zu füllen (selbst wenn dieser in der Darstellung von Sinnlosigkeit bestehen sollte).65 Von „Aussparung“ zu sprechen, geht an der Dynamik des Textes vorbei, der von der Produktivität des Ungesagten lebt. Die Suche nach kohärenter Sinnstiftung wird nicht allein dadurch in Gang gesetzt, dass sie auf der Ebene des Erzählten verweigert wird, sondern wird zudem von einer den Text durchziehenden Metaphorik der Tiefe bestärkt, die auf einen ‚Hintersinn‘ bzw. eine Ebene ‚tieferer Bedeutung‘ verweist. Storms Text nimmt diese hermeneutischen Metaphern durchaus wörtlich und inszeniert Bedeutung als räumliche Tiefe: horizontal als perspektivische Ferne und vertikal als unter der Oberfläche verborgenen Tiefenbereich. Tiefe horizontal: Fernblick nach innen Die Lückenhaftigkeit des Erzählten, die Storms Novelle charakterisiert, bezieht sich auf zweierlei: zum einen wird keine fortlaufende Geschichte erzählt, sondern nur chronologisch gestaffelte Episoden, deren zeitliche Distanz voneinander jeweils deutlich markiert wird. Die Absätze oder Kapitel beginnen meist mit Zeitangaben, die jeweils den zeitlichen Abstand zum zuvor Erzählten bezeichnen: „Sieben Jahre waren vorüber“ (SW 1, S. 299),

63 Vgl. Kugler, Meine Mutter hat’s gewollt, S. 205, Anm. 15, sowie Belgardt, Dichtertum als Existenzproblem; und Robert Ulshöfer, „Epische Situation und symbolisches Ereignis in der Prosadichtung. Dargestellt an Storms Immensee“. In: Der Deutschunterricht 8 (1956), H.3, S. 37-45. 64 Gregor Reichelt, „Theodor Storms Bildgebrauch im Kontext des Zeitschriftenmediums“. In: Eversberg u. Segeberg, Theodor Storm und die Medien, S. 81102, hier S. 95. 65 Vgl. Reichelt, Bildgebrauch, S. 95: „Bei der Stormschen Episodik jedoch handelt es sich nicht um eine Reihe in sich abgeschlossener, selbstgenügsamer und autonomer ‚Bilder‘, sondern um die Markierung nicht erfüllter, nicht berichtenswerter und letztlich nicht gelebter biographischer Zeit [...]“.

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„Weihnachtsabend kam heran“ (SW 1, S. 304), „Als es Ostern geworden war [...]“ (SW 1, S. 309), „Fast zwei Jahre nachher [...]“ (SW 1, S. 313), „Wiederum waren Jahre vorüber“ (SW 1, S. 314). Die Geschwindigkeit der Erinnerung und die große Raffung der Erzählzeit tritt zur punktuellen Dehnung der einzelnen Episoden in einen scharfen Kontrast. Zum andern wird das Erzählte als Erinnerung gekennzeichnet, deren mediale Bedingungen im Rahmen der Novelle in Szene gesetzt werden. Gerhard Plumpe geht in einem Aufsatz über „Gedächtnis und Erzählung. Zur Ästhetisierung des Erinnerns im Zeitalter der Information“66 auf die Funktion des Erzählrahmens in Immensee näher ein; er interpretiert ihn als poetische Reflexion der medialen Bedingungen von Erinnerung, wobei er dies auf das Bewusstsein vom „Verschwinden des Erzählenkönnens in einer Zeit, die neue Datenspeicher kennt und das Gedächtnis entwertet“ zurückführt: „Die Rahmentechnik läßt das Erzählen reflexiv werden: als Erzählen des Erzählens, das um seinen kulturellen Kursverlust weiß, davon aber gerade ästhetisch profitiert, indem deutlich wird, daß allein Literatur noch ein Refugium erinnernden Erzählens ist, daß allein poetische Rede mnemotechnische Codes simuliert und bewahrt.“67 Neben der von Plumpe aufgezeigten Funktion der poetischen Rede für die Erinnerung im Zeitalter der Medienkonkurrenz geht es im Rahmen von Storms Immensee, und dies scheint für die Poetik der Novelle von weit größerer Bedeutung, um die medialen Implikationen der Erinnerung selbst. Im Erzählrahmen wird ein gestaffelter Weg von der Außenwelt nach innen in Szene gesetzt, dessen Stationen minutiös aufgezählt werden. Der Weg des alten Mannes führt von der Straße in die Diele eines „hohen Giebelhause[s]“ und zu einer Tür, wo er von einer durch ein kleines „Guckfenster“ blickenden Haushälterin eingelassen wird, um dann von dort durch die „Hausdiele“ und einen „Pesel“ durch eine weitere Tür in einen „kleinen Flur“ zu gelangen, „von wo aus eine enge Treppe zu den oberen Zimmern des Hinterhauses führte“. Dort schließt der alte Mann eine weitere Tür auf, bis er endlich den Fluchtpunkt seines Weges erreicht, ein „mäßig großes Zimmer“, „heimlich und still“, wo er sich einem Lehnstuhl niederlässt (alle

66 Gerhard Plumpe, „Gedächtnis und Erzählung. Zur Ästhetisierung des Erinnerns im Zeitalter der Information“. In: Eversberg u. Segeberg, Theodor Storm und die Medien, S. 67-79. 67 Ebd., S. 74.

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Zitate SW 1, S. 295). Die Erinnerung des „Alten“ wird nun durch den Mondstrahl in Gang gesetzt, der durch das Fenster des Studierzimmers scheint und ein Bild Elisabeths an der Wand erhellt. Der Rahmen schafft in seiner räumlichen Anordnung einen perspektivischen Blick in die Vergangenheit. Reinhardt sitzt in seinem „schwerfällige[n] Lehnstuhl mit rotem Sammetkissen“ wie im Kinosessel und folgt dem „hellen Streif“ (SW 1, S. 296) des Lichts an der Wand, bis die Haushälterin am Ende der Erzählung das Licht bringt und damit seiner Vorstellung ein Ende bereitet.68 Was Storm hier inszeniert, muss allerdings nicht unbedingt als Vorgriff auf das Medium Kino gedeutet werden69 – die Szene bewegt sich durchaus im Rahmen der medialen Möglichkeiten der Jahrhundertmitte. Die Anordnung der Studierzimmerszene entspricht der der camera obscura, die in ihrer einfachsten Form einen kleinen dunklen Raum oder einen Kasten darstellt, in den durch ein Loch in der Wand ein Lichtstrahl dringt, der an die gegenüberliegende Wand eine Abbildung der Außenwelt projiziert, die, solange keine Linse verwendet wird, spiegelverkehrt ist und auf dem Kopf steht.70 Die camera obscura wurde als astronomisches Beobachtungsinstrument verwendet, diente als tragbarer Kasten Malern als praktische Hilfe um die Konturen der Landschaft zentralperspektivisch korrekt zu skizzieren und

68 Vgl. auch Schütz, S. 145, der die Analogie zu Kino bzw. Fernseher aber für eine falsche Spur hält und in Storms Novelle vielmehr eine „genuine Inszenierung der Phantasmen der Schrift“ (ebd.) sieht. 69 Vgl. z.B. Anthony S. Coulson, „Veit Harlan’s Immensee: A Study in the Perversion of a Literary Classic“. In: Jeff Morrison u. Florian Krobb, Text Into Image: Image Into Text. Amsterdam/Atlanta 1997, S. 277-285. 70 Vgl. zum Folgenden Douwe Draasima, Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Dt. von Verena Kiefer. Darmstadt 1999, S. 110f, sowie Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion. München 2003. Die Laterna magica bediente sich ebenfalls des Projektionsverfahrens. Mit ihr ließen sich seit dem 17. Jahrhundert erleuchtete Bilder auf eine Leinwand projizieren. Im 19. Jahrhundert stellte dieser technische Apparat die einzige Möglichkeit dar, die kleinformatigen Daguerrotypien bzw. Photographien durch Projektion auf eine Leinwand zu vergrößern und so einem größeren Publikum vorzuführen. Die ersten ,Dias‘, Positive auf Glasplatten, wurden 1850, also zeitgleich mit dem Erscheinen der zweiten Fassung von Immensee vorgestellt (vgl. Ruchatz, S. 426).

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entwickelte sich an Aussichtspunkten in Form spezieller Kuppeln zur touristischen Attraktion. Schon im 17. Jahrhundert, bei Keppler oder Descartes, diente die camera obscura als Analogie für das menschliche Auge, das, wie Keppler bereits wusste, ebenfalls umgekehrte und spiegelverkehrte Bilder auf die Netzhaut projiziert. Die Pupille entsprach dem Loch in der camera obscura und die Netzhaut der weißen Wand oder Fläche, auf der das Bild der Außenwelt zu sehen war. In Storms camera obscura, dem Studierzimmer, projiziert das durchs Fenster hereinfallende Mondlicht jedoch keine Außenwelt nach innen, sondern öffnet den Blick auf eine Innenwelt, die noch hinter der Netzhaut bzw. der Wand zu liegen scheint. Der Lichtstrahl des Mondes lässt das Portrait Elisabeths und die Wände der engen Studierstube erinnernd überschreiten. Storm konzipiert Erinnerung als perspektivischen Fernblick, der, wie die camera obscura, gewissermaßen ein spiegelverkehrtes und auf den Kopf gestelltes Bild erzeugt: so richtet sich der Blick statt nach außen nach innen, und statt nach vorn, in die Zukunft, in die Tiefe der Vergangenheit. Die Erzählung spielt sich in einem doppelten Innenraum ab, dem des Studierzimmers und der Erinnerung. Doch auch dort, wo der Blick sich nach draußen richtet, bleibt er Inspektion. Im Schlusskapitel der ersten Fassung hatte es über Reinhardt geheißen: „Dennoch mitunter, wenn auch selten, machte sich der Zwiespalt zwischen Gegenwart und Erinnerung bei ihm geltend. Dann konnte er stundenlang am Fenster stehen und, scheinbar in die Schönheit der unten ausgedehnten Gegend verloren, unverwandten Blickes hinaussehen; aber sein äußeres Auge war dann geblendet, während das innere in die Perspektive der Vergangenheit blickte, wo eine Aussicht tiefer als die andere sich abwechselnd eröffnete.“71

Das innere Auge, als welches Reinhardts Studierzimmer im ersten Kapitel konzipiert ist und der perspektivische Fernblick, als den Immensee Erinnerung entwirft: beides wird hier wörtlich genannt. In der zweiten Fassung hat Storm dieses Schlusskapitel fast ganz gestrichen. Reinhardt bekam in der ersten Fassung, ganz wie es Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik über „das Romanhafte“ schrieb, „doch sein Mädchen und irgendeine Stel-

71 Zitiert nach: Storm, SW 1, Anhang, S. 1037.

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lung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch [...]“72, was Tycho Mommsen klar erkannte und in seiner Randnotiz entsprechend kommentierte: „Da haben wird des Pudels Kern, eitel Prosa!“73 An Stelle des Blicks aus dem Fenster verdunkelt sich am Schluss der zweiten Fassung die Szene. Doch auch im Dunkeln bleibt der Blick in die Vergangenheit ein perspektivischer Fernblick: „Allmählich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Dämmerung um ihn her zu einem breiten dunklen See; ein schwarzes Gewässer legte sich hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so fern, daß die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam zwischen breiten Blättern eine weiße Wasserlilie.“ (SW 1, S. 328) Das Motiv der Ferne und Unerreichbarkeit wird hier durch eine Staffelung von Seen noch verstärkt. Erinnerung wird hier gewissermaßen als Spiegelung der Vergangenheit konzipiert, die, da sie die ihrerseits reflektierende Wasserfläche spiegelt, das Bild unendlich oft reproduziert. Das begehrte Objekt, auf das die Erinnerung zielt, wird dabei aber immer weiter in die Tiefe des Bildes entrückt. Die Wasserlilie entspricht dem ‚Augenpunkt‘ des zentralperspektivischen Bildes, einem Punkt, der nur in der geometrischen Konstruktion, nicht aber in der Wirklichkeit existiert. Die zitierte Passage spiegelt dabei aber nicht nur die Ankunft Reinhardts in Immensee, wo ihm schon der sich eröffnende Fernblick auf See und Gut als das eigentliche Ziel der Reise erscheint, sondern steht allgemein für die Struktur der Erinnerung, wie sie in der Binnengeschichte konzipiert ist: Denn die Szenen und Bilder, die sich der Alte im Lehnstuhl sitzend in Erinnerung ruft, bestehen selbst zum Großteil aus Reminiszenzen an frühere Ereignisse. Vor allem der Besuch Reinhardts auf Gut Immensee besteht großteils im Aufrufen von Vergangenheit. Wiederholt bereits Reinhardts nächtliches Bad im See die Erdbeersuche im Kapitel „Im Walde“, so wird die Szene auf dem Ausflug, den er tags darauf mit Elisabeth unternimmt, erneut aufgerufen: „Wollen wir Erdbeeren suchen?“ (SW 1, S.

72 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik II. Frankfurt a.M. 1986, S. 220. 73 Zitiert nach: In: Storm, SW 1, Anhang, S. 1038, Siehe auch die Ausgabe von Eversberg, in dem eine Seite aus den Aushängebogen des Erstdrucks mit den handschriftlichen Änderungen von Theodor Storm und den Anmerkungen von Tycho Mommsen abgebildet ist: Eversberg (Hg.), Storm: Immensee, S. 80f.

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324), fragt Reinhardt, und über die Erica und das alte Reimbuch bis hin zu dem bettelnden Zigeunermädchen auf dem Hof besteht die Handlung des Kapitels „Elisabeth“ fast vollständig aus der Evokation von Erinnerungen. Bezeichnend ist dabei, dass das Erinnern zu nichts führt, keine weiteren Handlungen auslöst und sich keine Gespräche daran anschließen lassen. „Es ist keine Erdbeerenzeit“, antwortet Elisabeth auf die Anspielung der Erdbeersuche, und Reinhardt liegt mit seiner Erwiderung „Sie wird aber bald kommen“ (SW 1, S. 324) gründlich falsch: die Erinnerung verweist nur zurück in die Vergangenheit und eröffnet keine Perspektive in die Zukunft. Immensee ist eine Erinnerungsnovelle im doppelten Sinn: nicht nur der Rahmen weist das in der Binnengeschichte Erzählte als Erinnerung aus, auch dieses besteht aus gestaffelten Folgen von Erinnerungssequenzen, die ihr eigentliches Ziel in perspektivische Ferne verschieben. Es ist ein romantisches Paradigma, das Storm hier aufruft. Die Orientierung an einem Fluchtpunkt und der unabschließbare Versuch einer Annäherung an ihn, der die Wege der romantischen Protagonisten oftmals kennzeichnet,74 hat allerdings vorwiegend einen Zukunftsindex. Storm kehrt in seiner Novelle den Zeitvektor um: in Immensee liegt der Fluchtpunkt unerreichbar in der Vergangenheit. So wie diese perspektivische Konzeption von Erinnerung die Anordnung im ersten Kapitel bestimmt, das die Metaphorik der Projektion wörtlich nimmt und entsprechend in Szene setzt, so nimmt Storms Text auch die Metapher des Erzählrahmens genau: Ausgelöst wird die Erinnerung des Alten nämlich in dem Moment, als der Mondstrahl „über ein kleines Bild in schlichtem schwarzen Rahmen“75 tritt und Elisabeths Bild erhellt. Die Metapher des Rahmens steht für den Teil der Erzählung, der in moderner narratologischer Terminologie, wie sie zum Beispiel Gérard Genette entworfen hat, als „extradiegetischer“ Abschnitt der Novelle zu bezeichnen wäre.76 Auf der Ebene der histoire (oder der Geschichte), um in Genettes Vokabular zu bleiben,77 hat das Motiv des Bilderrahmens damit die gleiche Funktion wie sein metaphorisches Äquivalent auf Ebene des discours (oder der Erzählung): er setzt Erinnerung in Gang, indem er den Blick imaginativ auf

74 Siehe hierzu Mülder-Bach, Tiefe, hier v.a. S. 95. 75 SW 1, S. 296. 76 Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung. Dt. von Andreas Knop. München 1994. 77 Vgl. ebd., S. 15f.

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die Vergangenheit richtet. Diese doppelte Rahmung verstärkt den perspektivischen Charakter der Erinnerung, das Erzählte erscheint als „Durchblick“ in die Vergangenheit und erzeugt so den Eindruck von zentralperspektivischer Tiefe. Die Binnengeschichte (nach Genette eine Analepse) ist „Retrospektion“ oder „Rückblende“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn in Immensee ist Erinnerung tatsächlich als visuelle Wahrnehmung konzipiert.78 Der Augenpunkt des Erinnerten ist für den Leser jedoch genauso wenig zu greifen wie für den Protagonisten Reinhardt.79 Tiefe vertikal: Schlingpflanzen Die zentralperspektivische Organisation von Raum, Erinnerung und Wunsch wird in ihrer geometrischen Exaktheit durch die Existenz eines Bereichs unter der Oberfläche empfindlich gestört. Mit der Tiefe als horizontaler Ferne konkurriert eine vertikale Tiefe, die im siebten Kapitel der Novelle mit dem titelgebenden Immensee ins Spiel kommt.

78 Vgl. Genette, der als Rückblende („renvois“) allerdings speziell die kompletive Analepse bezeichnet, also ein retrospektives Segment, das nachträglich eine frühere Lücke der Erzählung füllt (S. 34). Genette kritisiert den Ausdruck point of view und ersetzt ihn durch den Begriff der Fokalisierung, da dieser nicht einseitig eine visuelle Wahrnehmung impliziere. Ebenso müsse die Frage „Wer sieht?“ für den narrativen Modus durch die allgemeinere Frage: „Wer nimmt wahr?“ ersetzt werden (vgl. Genette, Die Erzählung, S. 235-239). In Immensee ist die Erinnerung aber tatsächlich als visuelle Wahrnehmung konzipiert. Allerdings sieht Reinhardt die Bilder oder Episoden der Vergangenheit nicht, sondern wird durch den Ausspruch eines Zauberwortes mehr oder weniger magisch in seine Jugend versetzt, bzw. die Zeit wird verwandelt: „,Elisabeth!‘ sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend“ (Storm, SW 1, 296; Herv. i.O.). 79 Was natürlich nicht heißt, dass keine Vermutungen darüber angestellt werden könnten. Fritz Rüdiger Sammern-Frankenegg beispielsweise schreibt: „[...] der zentrale Fluchtpunkt der Erinnerungsperspektiven, die dem ‚Alten‘ bislang verborgene Wahrheit enthüllen, ist die Not des Menschen in seinem Alleinsein vor dem Tode.“ Fritz Rüdiger Sammern-Frankenegg, Perspektivische Strukturen einer Erinnerungsdichtung. Studien zur Deutung von Storms Immensee. Stuttgart 1976, S. 152.

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Nach dem Vortrag des Volkslieds, das Elisabeth dazu bewog, den Raum zu verlassen, begibt sich Reinhardt ans Ufer des Sees, auf dem er eine weiße Wasserlilie erblickt. Sogleich „wandelte ihn die Lust an, sie in der Nähe zu sehen; er warf seine Kleider ab und stieg in’s Wasser“ (SW 1, S. 322). So weit er aber schwimmt, er scheint der Lilie nicht näher zu kommen: „aber es war, als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume dieselbe bliebe; nur das Ufer lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte hinter ihm“ (SW 1, S. 323). Bis dahin bleibt der Text zunächst in der Logik der perspektivischen Ferne, wird hier doch wiederum auf das romantische Motiv einer sich ständig erneuernden Ferne, die nicht abnimmt, je weiter man auch vorankommt, angespielt.80 Die Entschlüsselung der Szene übernimmt der Text selbst: Auf die Frage von Elisabeths Mutter, wo er gewesen sei, antwortet Reinhardt: „ich wollte die Wasserlilie besuchen; es ist aber nichts daraus geworden [...]. Ich habe sie früher einmal gekannt, [...] es ist aber schon lange her“ (SW 1, S. 323). Erichs Einspruch: „Das versteht wieder einmal kein Mensch“ (SW 1, S. 323) wirkt schon fast unglaubwürdig angesichts der Aufdringlichkeit, mit der sich die Deutung der Szene anbietet. Nur zu deutlich steht die „Wasserlilie“ für das unerreichbare Wunschobjekt Elisabeth. Der Hinweis darauf, dass Reinhardt sie früher einmal gekannt habe, verweist auf die gemeinsame Kindheit und gleichzeitig auf die Unverfügbarkeit und Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit: Die gemeinsame Jugend liegt, wie Reinhardt die Farbe der romantischen Sehnsucht aufgreifend zu Elisabeth sagt, „hinter jenen blauen Bergen“ (SW 1, S. 325). Anders als in der Romantik hat in Immensee aber alle Sehnsucht einen Vergangenheitsindex – die weiße Blüte der Wasserlilie verheißt nicht eine ferne Zukunft, sondern verweist in die Tiefe der Vergangenheit und kann auch deshalb nie erreicht werden. Das romantische Motiv der Ferne und die zentralperspektivische Struktur der Erinnerung wird aber in der Immenseeszene durch ein anderes Motiv ergänzt, das die Unerreichbarkeit des begehrten Objekts ‚begründet‘. Die horizontale Raumtiefe verbindet sich mit der vertikalen Tiefe des Gewässers. Im See wird ein Bereich jenseits der Oberfläche in Szene gesetzt, der Schuld daran trägt, dass Reinhard nicht zu seiner Wasserlilie gelangen kann. Noch in Ufernähe wird ihm sein Vorhaben schwer: „Es war flach, scharfe Pflanzen und Steine schnitten ihn an den Füßen, und er kam immer

80 Vgl. dazu Koschorke, Geschichte des Horizonts, S. 190f.

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nicht in die zum Schwimmen nötige Tiefe. Dann war es plötzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten über ihm zusammen, und es dauerte eine Zeitlang, ehe er wieder auf die Oberfläche kam“ (SW 1, S. 322). Unter der Wasserfläche lauert die Gefahr des Ertrinkens oder der Verletzung an spitzen Steinen. Und als er zuletzt der Wasserlilie ganz nah zu sein scheint, verfängt er sich mit den Beinen in Schlingpflanzen: „Endlich war er der Blume so nahe, daß er die silbernen Blätter deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte; zugleich aber fühlte er sich wie in einem Netze verstrickt, die glatten Stengel langten vom Grunde herauf und rankten sich an seine nackten Glieder. Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, daß er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen zerriß und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm.“ (SW 1, S. 323)

Die Szene stellt zunächst die Wiederholung und Variation der Erdbeerszene des in der Kindheit spielenden Kapitels Im Walde dar, wo Reinhardt und Elisabeth sich „tiefer und tiefer“ (SW 1, S. 301) in den Wald auf die Suche nach Erdbeeren begeben. Reinhardt, damit beschäftigt, „hier einen Zweig zu knicken, dort eine Ranke bei Seite zu biegen“ (SW 1, S. 301), merkt erst nicht, dass Elisabeth zurückfällt. Hier ist sie es, die sich im Gestrüpp verfängt: „Er konnte sie nicht gewahr werden; endlich sah er sie in einiger Entfernung mit den Sträuchern kämpfen; ihr feines Köpfchen schwamm nur kaum über den Spitzen der Farrenkräuter“ (SW 1, S. 301). Die Parallelität der Szenen ist überdeutlich: Wie später die Seerose auf der Wasseroberfläche, so schwimmt hier Elisabeths Kopf über dem Farn. Doch schon hier, in der Vorlage der Seeszene, wird das gewünschte Objekt nicht erlangt: Die Suche nach Erdbeeren bleibt so erfolglos wie Reinhardts Versuch, die Wasserlilie zu erreichen. Dem romantischen Motiv der Ferne wird eine Tiefendimension verliehen, in der der Grund dafür zu suchen ist, dass das in der Ferne sichtbare Wunschobjekt unerreichbar bleibt. Die Zentralperspektive, die Tiefe als Fluchtpunkt in der Horizontalen konzipiert, wird hier mit einer vertikalen Metaphorik des Grundes versehen, die die klare Struktur der Raumordnung empfindlich irritiert. Die verschlungenen Ranken der Wasserlilie stehen in ihrer naturalen Struktur in deutlichem Kontrast zur geometrischen Exaktheit des perspektivischen Bildes, sie sind Netz und „Gestrick“, aus dem sich Reinhardt nur gewaltsam befreien kann, indem er sie zerstört. Das Bild

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der unerreichbaren Lilie kann am Ende der Szene nur nochmals aufgerufen werden, indem die Schwärze des Wassers die gefährdenden Ranken wieder unsichtbar macht, zumindest für den, der am sicheren Ufer steht: „Als er von hier auf den See zurückblickte, lag die Lilie wie zuvor fern und einsam über der dunklen Tiefe.“ (SW 1, S. 323) Reinhardts Umkehr auf dem See wird oft als Wendepunkt der Novelle interpretiert,81 doch ist diese Deutung fragwürdig angesichts dessen, dass die einzig klare Richtung, die die Novelle einschlägt, rückwärts in die Vergangenheit führt. Reinhardt und Elisabeth unternehmen erst im nächsten Kapitel den Ausflug, auf dem Reinhardt Elisabeth mit Andeutungen und Erinnerungen, unter anderem an die Erdbeersuche, geradezu bedrängt. Reinhardts Zerreißen der Schlingpflanzen und seine Umkehr zum sicheren Ufer interpretiert Dieter Lohmeier im Kommentar als „symbolische Darstellung des Zurückscheuens vor einem Ehebruch“82, was wiederum durch die, für die „Aufspaltung der Liebe“ stehenden Wasserlilie, seine symbolische Begründung findet: „im Bilde erscheinen die Reinheit der Blüte und die im Dunkel der Tiefe verborgenen Stengel als eine Einheit des Naturdings Wasserlilie, Reinhardt ist jedoch außerstande, diese Einheit zu erkennen oder gar anzuerkennen.“83 Das vermeintliche „Naturding“ Wasserlilie erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als ein reines Kunstprodukt, als eine Kreuzung nach Maßgabe der gewünschten Symbolik und nicht der Natur, als ein hybrides Geschöpf, bestehend aus dem konventionellen Keuschheitssymbol der Lilie84 und den Stängeln der Seerose. Eine „Wasserlilie“ kennt die Botanik genaugenommen nicht, der Begriff stellt eine volkstümliche Bezeichnung für die gelbe Sumpf-Schwertlilie (die allerdings zur Familie der Iris gehört) oder auch für die weiße Seerose dar, die botanisch nicht mit der Lilie verwandt ist.85 Die Lilie an sich verbindet

81 Vgl. SW 1, Anhang, S. 1024. Ähnlich Wolfgang Rath, Die Novelle. Göttingen 2000, S. 219. 82 SW 1, Anhang, S. 1025. 83 Ebd. 84 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Eduard HoffmannKrayer u. Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1974. Bd. 5, Eintrag „Lilie“, Sp. 1300-1302, hier 1300. 85 Im Englischen heißt die Seerose „water lily“, doch auch diese ist nicht mit der Lilie verwandt.

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blendendweiße trichterförmige Blüten mit lanzenförmigen Blättern, sie ist christliches Attribut des Erzengels Gabriel als Verkündigungsengel und der jungfräulichen Mutter Maria. Vor allem in der Heraldik dient die Lilie als verbreitetes Symbol für Reinheit und Keuschheit. Die breiten, auf dem Wasser schwimmenden Blätter gehören jedoch eindeutig der Seerose. Ihre Blüte schließt sich in der Dämmerung und zieht sich einige Zentimeter unter die Wasserfläche zurück. Sie hat mitunter weiße Blüten, doch ist die Nymphaea alba kein reines Keuschheitssymbol. Schon Dioskurides leitet ihren Namen von den wasserbewohnenden Nymphen ab.86 Dass ihre Samen und Wurzeln seit der Antike als Anaphrodisiakum eingesetzt wurden, beruht wohl auf dem medizinischen Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen. Denn laut Symbollexikon vertritt die Seerose „in unzähligen Sagen den weiblich gedachten Urgrund aus dem Wasser, mächtig, sinnlich, unheimlich“87. Der Volksglauben warnt davor, die Blüten der Seerose zu pflücken oder sie gar zu verschenken, da sie Unheil bringen.88 Das, was Lohmeier als gespaltene Einheit deutet, war in Wirklichkeit also niemals eins. Die „Wasserlilie“ ist im Kontext des bürgerlichen 19. Jahrhunderts ein zweischneidiges Symbol: sie steht für Reinheit und für Sexualität. Wenn die weißen Blüten mit den Stängeln auch eine organische Einheit bilden, so tut dies der Ambiguität des Symbols keinen Abbruch. In der Rezeption wurde jedoch schon früh über die Doppeldeutigkeit der Wasserlilie hinweggegangen: In der illustrierten 5. Auflage der Novelle von 1857, die Storms Verleger Alexander Duncker aufgrund des großen Erfolgs der Novelle herstellen ließ, stellt der Illustrator die „Wasserlilie“ mit Zustimmung Storms als Seerose dar,89 und auch die Verfilmung von Veit

86 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, Eintrag „Seerose“, Sp. 1580-1582, hier Sp. 1580. 87 Clemens Zerling, Lexikon der Pflanzensymbolik. Baden/München 2007, Eintrag „Lotos“, S. 163-166, hier S. 166. 88 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, Eintrag „Seerose“, Sp. 1580f. 89 Theodor Storm, Immensee. Illustriert von Ludwig Pietsch. Berlin 51857. Die Illustrationen sind abgebildet in: Eversberg (Hg.), Storm: Immensee. Die Seerose erscheint als Verzierung der Kapitale des Kapitels „Meine Mutter hat’s gewollt“ (Eversberg, S. 45), in der Illustration des Kapitels „Elisabeth“, die die Kahnfahrt Reinhardts und Elisabeths darstellt, sowie in der Schlussvignette, die einen

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Harlan (1943) bedient sich der Seerose ausgiebig: Hier versucht Reinhardt schon in seiner Jugend erfolglos, Seerosen zu pflücken, Restauranttische werden mit ihr geschmückt und Reinhardt ist Komponist einer ‚lyrischen Suite‘ mit dem Titel „Seerosen“90. Die Seerose avanciert so zum Leitmotiv der Beziehung zwischen Reinhardt und Elisabeth. Der Wasserlilie in der Novelle dagegen fehlt die Eindeutigkeit der Symbolik. Was sie symbolisiert, ist genaugenommen die Spaltung: wie der See selbst steht sie für die Unterscheidung in eine sichtbare Oberfläche und eine gefährdende Tiefe. Es ist aber gerade die Hybridität oder Gespaltenheit des Symbols der Wasserlilie bzw. die Zweiteilung des Sees in spiegelnde Wasserfläche und gefährliche Tiefe, durch die etwas dargestellt wird, wovon sonst nicht die Rede ist: ein Bereich unter einer sichtbaren Oberfläche, von dem (wie auch von der Oberfläche selbst) nur metaphorisch gesprochen werden kann. Tiefe des Symbols Der Name „Immensee“ steht für eine Metaphorik von Oberfläche und verborgener Tiefe, die vom Motiv des Sees auch auf das Gutshaus gleichen Namens sowie auf das Kapitel und die gesamte Novelle übertragen werden kann, die alle diesen Namen teilen. Was für Novelle, Kapitel und Gutshaus metaphorisch gilt, nämlich dass man eine verborgene Tiefendimension unter der dargebotenen Oberfläche vermuten kann, wird im Motiv des Sees bildlich dargestellt. Der Immensee ist Symbol für die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. Er setzt die Metaphorik von Oberfläche und Tiefe bildlich um: Die Tiefendimension bezeichnet hier einen realen Ort: den Bereich unter der Oberfläche des Wassers mit den schlingenden Stängeln der Wasserlilie, den spitzen Steinen und den schlüpfrigen Fischen. Während das Handeln in der Novelle sonst kaum motiviert wird, wird in der Seeszene der Grund (Verstrickung in die Stängel) einer Handlung (Rückkehr zum Ufer) angegeben – er liegt in der Tiefe. Hier langt etwas ganz real „vom Grunde herauf“ (SW 1, S. 323), während, metaphorisch gesprochen, die ‚tieferen‘ Beweggründe der Verhaltensweisen der Protagonisten sonst im

dunklen See mit Seerose zeigt (Eversberg, S. 143). Der Illustrator Ludwig Pietsch legte Storm seine Zeichnungen zunächst zur Begutachtung vor und stieß dabei auf die größte Zustimmung (Vgl. den Auszug aus Pietschs Autobiographie bei Eversberg, S. 123). 90 Vgl. dazu Schütz, Lohn und Preis affektiver Entsagung, S. 139.

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Dunkeln bleiben bzw. Storms „Poetik der Aussparung“ zum Opfer fallen – womit freilich erst der Effekt oder die Ahnung einer dunklen Tiefendimension des Geschehens entsteht. Die sexuelle Symbolik, die mit der Seetiefe verbunden ist, legt eine Interpretation dieses Tiefenbereichs als Ort des Verdrängten nahe, wie er, einer These Hannelore Schlaffers in Poetik der Novelle91 zufolge, in zahlreichen Novellen des 19. Jahrhunderts zu finden ist. So war es der Bezug auf ein sexuelles Zentrum, das die Gattung an ihrem Ursprung, Boccaccios Decamerone, ausmachte. Das allgemeine Kennzeichen der Novellistik des 19. Jahrhunderts sei dagegen die Verdrängung, die Verschiebung und das Verschweigen des Sexuellen. Immensee, auf den Hannelore Schlaffer nicht eingeht, scheint zunächst ein Paradebeispiel für ihre These zu sein: Die sexuellen Konnotationen der schlüpfrigen Schlingpflanzen und der springenden Fische sind unübersehbar,92 und schon Fritz Martini hat auf die verschlüsselten erotischen Signale hingewiesen, in denen „das BürgerlichGehemmte in etwas verlockend Rauschhaftes umschlägt, das im Untergrunde ruft und das man sich gleichwohl verbietet“93. Schlaffers Bemerkung, die „Tarnung des sexuellen Zentrums setzt für die Novelle des 19. Jahrhunderts eine Fülle von Themen frei, die tiefsinnig zu sein scheinen, weil ihre Ursache im Verborgenen bleibt“94, scheint nicht nur auf die Novellistik selbst, sondern auch auf ihre Rezeption gemünzt: „So läßt sich über Charaktere, Schicksale und den Sinn der Welt diskutieren, nur weil das Eigentliche nicht gesagt werden darf.“95 Die frühe Storm-Literatur sei insgesamt, konstatiert Dieter Lohmeier, geprägt von „gefühlvoller Identifi-

91 Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle. Stuttgart 1993. 92 Vgl. M.A. McHaffie u. J.M. Ritchie, „Bee’s lake, or the curse of silence. A study of Theodor Storms Immensee“. In: German Life and Letters 16 (1962/63), S. 36-48, die die Novelle jedoch biographisch als Verarbeitung von Storms Verhältnis zu seiner Jugendliebe Bertha von Buchan lesen und die symbolische Darstellung als Rücksichtnahme auf den biographischen Hintergrund des Erzählten interpretieren. 93 Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart 41981 (zuerst 1962), S. 638. 94 Schlaffer, Poetik der Novelle, S. 105. 95 Ebd.

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kation“96 und habe sich damit begnügt, „die Geschichte der unerfüllten Liebe von Reinhardt und Elisabeth gefühlvoll nachzuerzählen“97. Fontane zitierte in seiner Besprechung der Novelle in ihrer zweiten Fassung von 1853 ausführlich die Wasserlilienszene und kommentierte: „Wenn die verschleierte Schönheit die schönste ist, so haben wir sie hier.“98 Das Verfahren der Verschleierung, auf das Fontane anspielt, wird jedoch in seinen Voraussetzungen dargestellt und perspektiviert. Von der schwülen Atmosphäre der Immensee-Szenerie distanziert sich die Novelle durch ihre Rahmung. Die Binnengeschichte wird als Erinnerung eines alten Mannes gekennzeichnet, der sich die Begebnisse der Jugendzeit nur in verklärter Form ins Gedächtnis rufen kann. Die Aussparungen und Anspielungen des Textes sind, wenn man ihre Funktion unbedingt entschleiern möchte, dem konstruktiven und verklärenden Charakter der Erinnerung geschuldet, die selbst ausspart, verschleiert, verdrängt oder verschiebt. Die „Sublimierung der Anstößigkeiten Boccaccios“99 ist in Immensee Produkt einer bestimmten Erzählhaltung, deren Voraussetzungen im Erzählrahmen benannt werden. Das Erzählte wird so als Produkt einer bestimmten Perspektive markiert. Der Text verhehlt nicht, dass ein Rahmen auch etwas abschneidet. Das in der Binnengeschichte Erzählte wird so als Erinnerung eines Greises gekennzeichnet, deren verklärender Charakter in Rechnung gestellt werden muss. Die dunklen Triebkräfte seiner jugendlichen Entscheidungen werden in der Erinnerung verdrängt – allerdings nur bis knapp unter eine Oberfläche, von wo aus das Verdrängte weiter seine Wirkung entfalten kann und den Genuss der Erinnerung stört. Für die „Tarnung des Sexuellen“, wenn man sie mit Hannelore Schlaffer zum Kennzeichen der damaligen Novellistik machen will, ist Immensee weniger ein Beispiel, als dass es dieses Verfahren reflektiert. Der See als zentrales Symbol des Textes symbolisiert jedoch nicht nur den Bereich des Verdrängten, sondern auch den seiner glatten Oberfläche mit der begehrten Wasserlilie. Dass ein zentrales Symbol die Struktur der Novelle organisiert, wurde von der älteren germanistischen Novellenfor-

96 SW 1, Anhang, S. 1020-1025, hier S. 1022. 97 SW 1, Anhang, S. 1023. 98 Artikel in der preußischen (Adler-) Zeitung am 17. Juni 1853. Zitiert nach: Lohmeier, Kommentar, S. 1020. 99 Schlaffer, Poetik der Novelle, S. 111.

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schung geradezu zum Kennzeichen der Gattung erhoben.100 Diskutiert wurde dabei vor allem die von Paul Heyse in Umlauf gesetzte Rede vom „Falken“ der Novelle101 und die Frage nach der Funktion eines die Novellenhandlung zentrierenden Motivs für die Gattung. Die Rolle des Symbols, so die von Hugo Aust referierte Tendenz der Forschung, bestehe demnach in einer „verdichtende[n] Leistung, die von innen her kommt und das Wesen der Novelle ausmachen soll“102. Storms Symbol des Immensees erinnert durch die Ausstellung einer Spaltung in Oberfläche und Tiefe dagegen vielmehr an den Bruch, der das Symbol seiner Etymologie gemäß ausmacht und bekanntlich auf den griechischen Brauch zurückführt, als Zeichen der Gastfreundschaft Ringe oder ähnliches zu zerbrechen, deren Teile dann als Erkennungsmarken bei einem Gegenbesuch das Gastrecht sicherten.103 Das Natursymbol Immensee vereint eine Oberfläche mit einer Substruktur und stellt damit die grundlegende „Doppeleinheit“104 des Symbols dar. Storm folgt damit einem Konzept des Symbols, von dem Roland Barthes in „Die Imagination des Zeichens“105 schreibt, dass es das Zeichen in einer vertikalen Tiefendimension sehe, „da das Symbol in seinen Augen durch die Übereinanderlagerung von Bedeutendem und Bedeutetem konstituiert wird. [...] Das Symbol scheint sich gewissermaßen senkrecht in der Welt zu halten.“106 Storms Symbol teilt die vertikale Organisation wie die Zweiteilung des von Barthes beschriebenen Konzepts, nicht aber die Zeichenhaftigkeit. Im Symbol des Immensees lagern sich Bedeutendes und Bedeutetes nicht übereinander: die

100 Vgl. Hugo Aust, Novelle. Stuttgart 1990, S. 14. 101 In der Einleitung zu dem zusammen mit Hermann Kurz herausgegebenen Novellenschatz (München 1871) bezieht sich Paul Heyse auf Boccaccios „9. Novelle des 5. Tags“, die seither als „Falkennovelle“ bekannt ist und rät, sich zu fragen, „wo ‚der Falke‘ sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet“. Zitiert nach: Novelle. Hg. von Josef Kunz. Darmstadt 1972 (=Wege der Forschung Bd. LV), S. 68. 102 Aust, Novelle, S. 14. 103 Vgl. Meier-Oeser, Art. „Symbol“, Sp. 710. 104 Frauke Berndt, „Symbol / Theorie“. In: Dies. u. Christoph Brecht, Aktualität des Symbols, S. 7-30, hier S. 11. 105 Roland Barthes, Imagination des Zeichens. 106 Ebd., S. 38.

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Blüten der Wasserlilie verweisen gerade nicht auf ihre Stängel, die glänzende Oberfläche des Sees lässt nicht auf die darunterliegenden spitzen Steine schließen und verrät ebensowenig darüber, wie tief das Wasser ist. Der Zusammenhang von Oberfläche und Tiefe ist der von Blüten und Stängeln der Wasserlilie: kein semiotischer, sondern ein organischer, naturaler – und auch der ist, wie oben gezeigt, sehr künstlicher Herkunft. Statt eines einheitsstiftenden Symbols stellt der See mit seiner Spaltung in Oberfläche und Tiefe eine Irritation der die Novelle dominierenden Struktur der Projektionsmetaphorik und der zentralperspektivischen Ferne dar. Unter seiner Oberfläche eröffnet sich ein Bereich der vertikalen Tiefe, der sich der perspektivischen Blickregie der Erinnerung entzieht. Die Wasserlilie, auf die sich das Begehren Reinhardts richtet, markiert den Schnittpunkt zweier Raumordnungen, die miteinander unvereinbar sind: die geometrisch-exakte Linearperspektive und die naturale Raumorganisation der verschlungenen Stängel; Ordnung und Unordnung. Die zentralperspektivische Projektion ist ein Verfahren der Ordnung des Raumes wie auch der Erinnerung, die nach ihren Prinzipien strukturiert ist: im Rückblick des alten Mannes gruppiert sich alles Vergangene entlang den Fluchtlinien der Erinnerung und läuft auf den zentralen Fluchtpunkt des begehrten Objekts der Wasserlilie zu. Die vertikale Tiefendimension, der die Wasserlilie auch angehört, stört die perspektivische Ordnung des Vergangenen (und damit gleichzeitig den Genuss der Erinnerung für den alten Mann). In der Schlussszene der Novelle wird die vertikale Tiefendimension des Sees deshalb ausgeblendet, um noch einmal einen ungetrübten Blick in die Vergangenheit zu ermöglichen. Der Alte richtet den perspektivischen Fernblick seines inneren Auges auf den See selbst. Doch statt in die Tiefe der Verstrickung zu dringen, die ihm dort einst widerfahren war, wird das Verfahren der Projektion noch potenziert, indem der See selbst mehrfach hintereinander gespiegelt wird. „Allmählich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Dämmerung um ihn her zu einem breiten dunklen See; ein schwarzes Gewässer legte sich hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so fern, daß die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam zwischen breiten Blättern eine weiße Wasserlilie.“ (SW 1, S. 328) Vor dem inneren Auge der Erinnerung wird der See zu einer Wasserfläche von unermesslicher Ausdehnung. Seine vertikale Tiefendimension wird durch die Schwärze des Wassers markiert und gleichzeitig ausgeblendet.

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Die Potenzierung des Sees zu einer unermesslichen, schwarzen Wasserfläche erzeugt so erst die dunkle Tiefe unter der Oberfläche, einen undurchdringlichen, gefahrvollen, unstrukturierten Bereich naturaler Unordnung, an den es kein Herankommen gibt. Die Wasserlilie als heterogene Einheit der unterschiedlichen Ordnungen wird damit allerdings noch ein Stück weiter in unerreichbare Ferne verschoben.

Vereisung der Oberfläche Fontanes Roman „Der Stechlin“

Der See, der im Zentrum von Fontanes Roman Der Stechlin (1899) liegt, verhindert Durchblicke in seine Tiefe auf eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Weise: er gefriert, sodass sich seine Oberfläche zu einer festen Grenze verfestigt. Die Figuren des Romans trauen seiner Tiefe aber einiges zu: Sie soll über unterirdische Verbindungen in alle Welt verfügen und bis nach Java telefonieren. Es fragt sich nur, warum der See im Roman alle derartigen kommunikativen Anstrengungen unterlässt – und was das für die Poetik des gleichnamigen Romans bedeutet. Der See als Seismograph „Alles still hier.“1 Fontanes letzter Roman beginnt mit einem performativen Widerspruch. Denn dieser Satz, der auf der ersten Romanseite steht, durchbricht selbst die Stille, die vor der Rede des Romans gelegen haben mag. Die Deixis bezieht sich auf See wie Roman gleichermaßen, die denselben Namen tragen: Stechlin. Zum Sprechen gebracht wird der Roman, der See, indem ihm die Geschichten eingeschrieben werden, die man sich über ihn erzählt. Sie handeln davon, dass der See ein Medium naturgeschichtlicher Ereignisse sei, ein Seismograph in der Brandenburger Provinz. Mittels eines aufspringenden Wasserstrahls soll er jede noch so ferne Erdaktivität vermelden, seine sonst glatte Wasserfläche gerät dann in Bewegung, sie 1

Theodor Fontane, Der Stechlin. Hg. von Helmuth Nürnberger. In: Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Abteilung I, Bd. 5. München 62004, S. 7. Herv. i.O. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden im Fließtext gekennzeichnet als FW I/5.

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beginnt Trichter zu formen, zu sprudeln und strudeln – das erzählen zumindest die Anwohner des Sees: „Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier.“ (FW I/5, S. 7) Der See Stechlin, „[d]as wissen alle, die den Stechlin umwohnen“ (FW I/5, S. 7), reagiert auf Erderschütterungen und Vulkanaktivitäten in allen Teilen der Welt. Das Sprudeln ist aber „nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn’s aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt’s hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.“ (FW I/5, S. 7) Soweit die Sage, die man sich rund um den See erzählt. Doch was der See im Roman tatsächlich zu melden hat, spricht dieser großspurigen Ankündigung Hohn. Verglichen mit seiner Beschreibung des Stechlinsees in den Wanderungen in der Mark Brandenburg hat Fontane im Roman Änderungen vorgenommen, 2 die die medialen Eigenschaften des Sees betreffen. In den Wanderungen trägt der See anthropomorphe Züge: Geheimnisvoll sei er, heißt es da, „einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge verweigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt unge-

2

Zum Vergleich der Stechlindarstellung in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und dem Roman Der Stechlin siehe u.a. Walter Gebhard, ‚Der Zusammenhang der Dinge‘. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984, S. 447-469; Eckehard Czucka, Emphatische Prosa. Das Problem der Wirklichkeit der Ereignisse in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 19-30 sowie Andreas Amberg, „Poetik des Wassers. Theodor Fontanes ‚Stechlin‘: Zur protagonistischen Funktion des See-Symbols“. In: ZfdPh 115 (1996), S. 541-559. Amberg interpretiert den Stechlinsee als „Teil des umfassenden, metaphorisierenden Elements Wasser“, er sei somit „idealer Ausgangspunkt für ein beziehungsreiches Koordinatensystem, das leitmotivisch den Roman durchwirkt, strukturiert, freilich nicht immer an der Oberfläche, sondern, wie es sich für Wasser geziemt, in der Tiefenstruktur“ (ebd., S. 545). Hinter seinem Verständnis der Wassermetaphorik steht allerdings eher das Fließgewässer: er erhebt das „ästhetische Prinzip des glissando“ (ebd.) zum Grundprinzip des Romans.

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sagt.“3 Anstelle des Sees ergreift dann allerdings der Reiseleiter das Wort, um die Stille des Sees als untypisch für dessen Persönlichkeit zu beschreiben: „,Wie still er daliegt, der Stechlin‘, hob unser Führer und Gastfreund an, ,aber die Leute hier herum wissen von ihm zu erzählen. Er ist einer der Vornehmen, die große Beziehungen unterhalten. Als das Lissabonner Erdbeben war, waren hier Strudel und Trichter, und stäubende Wasserhosen tanzten zwischen den Ufern hin. Er geht 400 Fuß tief, und an mehr als einer Stelle findet das Senkblei keinen Grund. Und Launen hat er, und man muss ihn ausstudieren wie eine Frau. Dies kann er leiden und jenes nicht, und mitunter liegt das, was ihm schmeichelt, und das, was ihn ärgert, keine Handbreit auseinander. Die Fischer, selbstverständlich, kennen ihn am besten. Hier dürfen sie das Netz ziehen, und an seiner Oberfläche bleibt alles klar und heiter, aber zehn Schritte weiter will er’s nicht haben, aus bloßem Eigensinn, und sein Antlitz runzelt und verdunkelt sich, und ein Murren klingt herauf. Dann ist es Zeit, ihn zu meiden und das Ufer aufzusuchen. Ist aber ein Waghals im Boot, der’s ertrotzen will, so gibt’s ein Unglück, und der Hahn steigt herauf, rot und zornig, der Hahn, der unten auf dem Grunde des Stechlin sitzt, und schlägt den See mit seinen Flügeln, bis er schäumt und wogt, und greift das Boot an und kreischt und kräht, dass es die ganze Menzer Forst durchhallt und Dagow bis Roofen und bis Altglobsow hin.‘“4

Das Naturelement See wird in den Geschichten der Anwohner zu einer Persönlichkeit. Er ist einer jener „Vornehmen, die große Beziehungen unterhalten“ und sei dabei so launisch, dass man ihn ausstudieren müsse „wie eine Frau“. Vor allem verfügt er aber über „Eigensinn“ 5, und das unterscheidet ihn vom Stechlin, wie er im späteren Roman erscheint. Auch wenn der See im Stechlin „geradezu nach dem Kodex gesellschaftlicher Konvention“6 vorgestellt wird, so tritt im Roman seine ausgeprägte Persönlichkeit doch gegenüber seinen medialen Qualitäten zurück. 3

Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Teil: Die Grafschaft Ruppin. Hg. von Gotthard Erler u. Rudolf Mingau. Berlin 21994, S. 349.

4

Ebd.

5

Alle Zitate ebd.

6

Gebhard, Zusammenhang, S. 454.

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Das wird vor allem an der Rolle deutlich, die der „rote Hahn“ jeweils spielt: Während er in den Wanderungen Ausdruck der Verärgerung des Sees über eine Störung durch die Fischer ist, so wird er im Stechlin in die Reihe jener Strudel und Trichter gestellt, die ferne Erdbewegungen vermelden. Der Hahn im Roman ist kein Zeichen, das der See aus seinem Grund an die Oberfläche aufsteigen lässt, um Auskunft zu geben über den Zustand des Sees selbst, sondern nur noch ein Signal, das Dinge meldet, die sich weit entfernt ereignen. Vom Ausdruck persönlicher Idiosynkrasien wird der rote Hahn zum quasi-naturwissenschaftlichen Phänomen. Während der See also in den Wanderungen nach Struktur des modernen Subjekts in Wesenstiefe und Oberfläche gespalten ist, so wird dieses Modell im Stechlin variiert: Statt aus der Tiefe des Sees an die Oberfläche zu steigen und dort seine innere Verärgerung zum Ausdruck zu bringen, übermittelt der rote Hahn im Stechlin eine Botschaft aus der Ferne. Der See des Romans ist Medium, während er in den Wanderungen eine Persönlichkeit ist. Doch auch die Beschreibung der medialen Fähigkeiten des Sees ist an die Figurenperspektive gebunden, was in den Wanderungen noch deutlicher hervortritt. Der See wird dort eingeführt als ein Stummer, der nicht sagen könne, was ihn zum Sprechen drängt: „Aber die ungelöste Zunge verweigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt.“ Also setzten sich die Wanderer „an den Rand eines Vorsprungs und horchten auf die Stille“7. Die Erwartungshaltung an den See ist so groß, dass selbst seine Stille als Botschaft wahrgenommen wird. Diese Stille wird dann durch die Stimme des Führers doppelt durchbrochen: durch seine Rede, die dem Eindruck des stummen Sees widerspricht und die Geschichte des kreischenden und krähenden Hahnes erzählt. Im Stechlin ist die Geschichte vom rollenden und grollenden See ein Stück weit in die Erzählerrede eingewandert, doch auch hier wird sie markiert als eine Übernahme aus der Figurenrede: „Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen“ (FW I/5, S. 7) Die Beschreibung des Stechlin als Medium findet auf intradiegetischer Ebene statt, sie ist ein Gerücht unter den Anwohnern. Der See spricht nicht, aber er gibt Anlass zu einem Sprechen, das zur Rede des Romans wird. In den Augen seiner Anwohner ragt der See weit heraus aus der Reihe derer, die den Namen ‚Stechlin‘ tragen, vom Wald über das Dorf und das Herrenhaus bis hin zu seinen Bewohnern, den Stechlinen: „Das andere gibt

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Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, S. 349.

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es woanders auch, aber der See...“ (FW I/5, S. 54), so stellt Dubslav ihn seinen Besuchern vor. Er bezeichnet den See als „unsere pièce de résistance“ (FW I/5, S. 54), wobei die französische Wendung eine politische Konnotation transportiert, die ihr eigentlich nicht zukommt. Die französische Wendung „pièce de résistance“ entstammt dem kulinarischen Bereich und bezeichnet das Hauptgericht einer Menüfolge; davon abgeleitet ist es ein Glanz- oder Prachtstück einer Sammlung, das Beste, was man zu bieten hat. Pastor Lorenzen dagegen scheint den Begriff der „résistance“ tatsächlich politisch zu verstehen und hält Dubslavs Glanzstück nicht nur für ein Medium erdgeschichtlicher Erschütterungen, sondern traut ihm zu, auch soziale Umwälzungen zu melden, ja, an ihnen gar zu partizipieren: „Lorenzen erklärt ihn außerdem noch für einen richtigen Revolutionär, der gleich mitrumort, wenn irgendwo was los ist. Und es ist auch wirklich so.“ (FW I/5, S. 54) Zweierlei Verschiebungen nimmt Pastor Lorenzen am Mythos des Stechlin vor: Erstens soll er nicht nur erdgeschichtliche, sondern soziale, politische Erschütterungen übertragen, wobei der See damit zweitens von einem Medium der Revolution zu deren Parteigänger wird. Der See als Medium gesellschaftspolitischer Veränderungen – das entspräche, übertragen auf den Roman, der Programmatik des bürgerlichen Realismus. Aber ist es, wie Dubslav behauptet, „auch wirklich so“? Mit seiner Übermittlungstätigkeit scheint es der See jedenfalls nicht so genau zu nehmen – die Inkonsistenzen beginnen bereits auf intradiegetischer Ebene. Betrachtet man einmal genauer, was es ist, das den See laut seiner Anwohner dazu bewegte, den roten Hahn aufsteigen zu lassen, so zeigt sich, dass es mit der Objektivität des Mediums ,See‘ nicht weit her ist. Das Lissabonner Erdbeben am 1. November 1755, das er vermeldet haben soll, zerstörte innerhalb weniger Minuten die gesamte Stadt und begrub ihre Einwohner unter sich. Die Hauptstadt Portugals, eines kleinen und wenig entwickelten Landes, war als Hauptumschlagplatz von Gold und Diamanten aus den Kolonien zur reichsten europäischen Handelsstadt geworden. Liest man die Reaktionen aus ganz Europa auf das Erdbeben, so ist es weniger die Natur-, noch die menschliche Katastrophe, welche die Menschen erschüttert, sondern die Sorge um Investitionen und Anleihen. Aus Hamburg meldet man am 29. November 1755: „Die mit der gestrigen französischen Post eingelangte Nachricht von dem Erdbeben und dem Brand, wodurch die ganze Stadt Lissabon so namhaften Schaden erlitten, hat ein nicht

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geringes Betrübnis bei unseren Kaufleuten verursacht.“8 Die Meldungen aus London, Amsterdam oder Paris klingen ähnlich. Das Erdbeben von Lissabon wird vor allem als Katastrophe für Handel und Banken wahrgenommen. Dass es fast einen Monat dauerte, bis die postalische Nachricht des Erdbebens in Hamburg eintraf, zeigt die Unterlegenheit dieses Mediums gegenüber dem Stechliner See, der ja sofort mitrumort habe (wenn es allerdings mindestens einen Monat gedauert haben muss, bis die Anwohner wussten, was der See eigentlich hat kundtun wollen). Die zweite Welle der Reaktionen aber war eine auf Ebene der Literatur: Eine Flut von Texten, vor allem von Gedichten, versuchte, die Schrecken der Augenzeugenberichte in Reimform zu verarbeiten.9 Von Gottsched über Voltaire und Lessing bis hin zu Kleist reichen die zahllosen literarischen Bearbeitungen der Katastrophe. Und nicht nur die Literatur, auch Philosophie und Theologie arbeiteten sich an dem unbegreiflichen Ereignis ab. Das Erdbeben von Lissabon zerstörte den aufklärerischen Optimismus bezüglich der Theodizeefrage, die nun verschärft hervortrat.10 Die Erschütterung, die das Lissabonner Erdbeben anrichtete, fand im Rückblick betrachtet vor allem auf der Ebene der Zeichendeutung statt und wurde mit der erneuten Produktion von Zeichen beantwortet. Dass der See ausgerechnet dieses Ereignis so prominent verkündete, während er weder die französische11 noch eine andere Revolution und keine andere Naturkatastrophe mit der Ehre des roten Hahns bedacht hat, zeugt von einer ganz anderen Beurteilung von Nachrichtenwerten, als es die Figuren des Romans von ihm erwarten. Er scheint weniger auf Ereignisse in Natur und Politik, sondern auf solche der Literatur zu

8

Zitiert nach: Horst Günther, Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung. Berlin 1994, S. 14.

9

Vgl. Günther, Das Erdbeben von Lissabon, S. 18.

10 Vgl. hierzu auch Wolfgang Breidert, Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen. Darmstadt 1994. 11 Vgl. Stefan Neuhaus, „,Still ruht der See.‘ Revolutionäre Symbolik und evolutionärer Wandel in Theodor Fontanes Roman Der Stechlin“. In: Fontane-Blätter 57 (1994), S. 48-77, hier S. 64. Neuhaus wertet die Tatsache, dass der See während der französischen Revolution ruhig geblieben sei, als Argument gegen die Interpretation des Sees als Symbol gesellschaftlichen Umsturzes.

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reagieren. Ein See im Roman kann offensichtlich nur Medium von Literatur sein. Sind die Gerüchte über den See schon in sich inkonsistent, so ergibt sich nochmals ein anderes Bild, betrachtet man das Verhalten, das der See tatsächlich an den Tag legt: Während der ganzen erzählten Zeit der Romanhandlung bleibt der Stechlin vollkommen ruhig. Sein revolutionäres Bewusstsein und seine seismographischen Fähigkeiten stellt er nie unter Beweis, sie sind nur noch als Zitat präsent, als ein Ruf, der dem See vorausgeht, dem er aber aller Erwartungen der Figuren zum Trotz nicht gerecht wird. Immer wieder werden die medialen Qualitäten des Sees gepriesen und eine baldige Demonstration seiner Fähigkeiten in Aussicht gestellt – doch was passiert, ist: nichts. Auf die Strudel und Trichter, ganz zu schweigen von einem roten Hahn, warten Besucher wie Leser vergebens, wie beispielsweise während des Besuchs von Rex und Czako in Stechlin: „,Wo ist nun die Stelle?‘ fragte Czako. ,Natürlich die, wo’s sprudelt und strudelt.‘ ,Sehen Sie die kleine Bucht da, mit der weißen Steinbank?‘ ,Jawohl; ganz deutlich.‘ ,Nun, von der Steinbank aus keine zwei Bootslängen in den See hinein, da haben Sie die Stelle, die, wenn’s sein muss, mit Java telephoniert.‘ ,Ich gäbe was drum, sagte Czako, ‚wenn jetzt der Hahn zu krähen anfinge.‘ ,Diese kleine Aufmerksamkeit muss ich Ihnen leider schuldig bleiben.‘“ (FW I/5, S. 56f)

Es sind die Figuren des Romans, vor allem Pastor Lorenzen, die den See als politisches Medium interpretieren – er ist, wie Hubert Ohl im Anschluss an Hegel formuliert, ein ‚bewusstes Symbol‘: „Der Charakter dieser StechlinSymbolik wird wesentlich dadurch bestimmt, dass Fontane die Ausweitung des Natursymbols ins Geschichtliche als einen Akt bewussten Symbolisierens angesehen hat, den er nicht dem Erzähler, sondern den Gestalten überträgt.“12 Der geschichtlich gewordene See spiegelt damit vor allem den Bewusstseinszustand der Figuren. Ihrer Zuschreibung gemäß reagiert der See auch nicht demokratisch. Nicht alle natur- und gesellschaftspolitischen Ereignisse haben für ihn den gleichen Nachrichtenwert. Er unterscheidet

12 Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes. Heidelberg 1968, S. 234.

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zwischen dem Kleinen, Alltäglichen, und dem Großen, für das vor allem das Lissabonner Erdbeben steht. Für die unterschiedlichen Ereigniswerte hat der Stechlin auch unterschiedliche Signalstärken parat: vom Rollen und Grollen über den aufspringenden Wasserstrahl bis hin zum roten Hahn. Dass das Medium die Botschaft verändert, das gilt auch für den Stechlinsee. Den Sieg des sozialdemokratischen Kandidaten Torgelow über Dubslav bei der Landtagswahl etwa nimmt der See so unbewegt hin wie der Unterlegene selbst, der sich nach Bekanntwerden seiner Niederlage mit seinen Parteifreunden ohne Verstimmung zu Tische setzt: „Dubslav nahm es ganz von der heiteren Seite, seine Parteigenossen noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: ‚Siegen ist gut, aber Zu-Tische-Gehen ist noch besser.‘ Und in der Tat, gegessen musste werden. Alles sehnte sich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die langweilige Prozedur zu vergessen.“ (FW I/5, S. 191) Und schon wendet sich das Gespräch der Menüfolge zu, Anekdote folgt auf Anekdote und über den Ausgang der Wahl wird kein Wort mehr verloren. Vielleicht besteht aber gerade darin das Politische des Romans: es geht um das Verkennen und Verdrängen des Politischen durch eine Gesellschaftsschicht, die damit ihren eignen Niedergang nur beschleunigt.13 Von einer „Vermeidungsstrategie der politischen Handlung“14 wäre also weniger in Bezug auf den Autor Fontane,15 sondern hinsichtlich seiner Protagonisten zu sprechen. Das politisch Brisante ist weniger der (bei einer demokratischen Wahl mögliche) Sieg eines Sozialdemokraten, als die Gleichgültigkeit seiner Gegner. Was sie über dem Essen „vergessen“ wollen, ist ja nicht

13 Vgl. zur politischen Lektüre des Stechlin Klaus R. Scherpe, Poesie der Demokratie. Literarische Widersprüche zur deutschen Wirklichkeit vom 18. zum 20. Jahrhundert. Köln 1980, der von einer Stilllegung des Politischen durch Fontane spricht: „Fontane verschweigt nicht, dass die nach ihrem eigenen Reglement zur politischen Handlung untauglichen Altmärker eben deshalb als ausgediente Komödianten auf der politischen Szene herumstehen.“ (S. 237) 14 Ebd., S. 239. 15 So Scherpe (vgl. ebd., S. 239), der den „Einbrüchen“ (ebd., S. 254) in die Konstruktion einer von politischem Handeln freigehaltenen Wirklichkeit nachgeht.

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ihre Niederlage, sondern die „langweilige Prozedur“16 des Wahltags. Das demokratische Prinzip selbst ist es, das ihnen nicht behagt. Dass der angeblich als politischer Seismograph tätige See bei diesem „beinahe glänzenden Sieg“ (FW I/5, S. 190) der Sozialdemokratie nichts von sich hören lässt, entspräche dem Bewusstseinszustand der Konservativen, die die Bedeutung ihrer Niederlage nicht abzuschätzen vermögen. Politik und Soziales bieten willkommenen Stoff für Plaudereien und Causerien, kommen darüber aber nicht hinaus. Versteht man den See gemäß der Zuschreibung der Figuren als politisches Medium, so ist die Ruhe des Sees weniger ein Zeugnis der Ereignislosigkeit der Welt, als dass sie die mangelnde Rezeptionsfähigkeit einer Gesellschaftsschicht spiegelt, deren Macht ohnehin (oder vielleicht gerade deshalb) im Schwinden begriffen ist. Mangels Empfänger bleibt so auch die Botschaft des Sees aus: Er hat nichts zu melden, weil die Gesellschaftsschicht, die Fontane schildert, die gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen gerade noch wahrnimmt, ohne davon ‚bewegt‘ zu werden. Was er meldet, ist, dass es nichts zu melden gibt. Die Botschaft der Stille Die Stille des Sees wird im Fortgang der Handlung noch deutlicher herausgestellt. Während des Besuchs von Melusine und Armgard auf Schloss Stechlin unternimmt man einen Spaziergang zum See, der nunmehr zugefroren ist. Der alte Stechlin stellt ihn nicht ohne Stolz vor: „Hab die Ehr’, Ihnen hier die große Sehenswürdigkeit von Dorf und Schloss Stechlin zu präsentieren, unsern See, meinen See, wenn Sie mir das Wort gestatten wollen. Alle möglichen berühmten Naturforscher waren hier und haben sich höchst schmeichelhaft über den See geäußert.“ (FW I/5, S. 266) Doch Melusine zeigt sich enttäuscht über den Anblick: „Aber wie es mit allem Großen geht, ich empfinde doch auch etwas von Enttäuschung.“ (FW I/5, S. 266) Dubslav entschuldigt sie und den See mit dem Hinweis darauf, dass es eben Winter sei. Nicht, dass die Trichter und Strudel ihre Wirkung im Winter nicht zeigen könnten, sei dabei das Problem, sondern dass Melusine auch die Möglichkeit genommen werde, sich diese überhaupt vorzustellen: „Wenn Sie die offene Seefläche vor sich hätten und in der Vorstellung stünden: ‚jetzt bildet sich der Trichter und jetzt steigt es herauf‘, so würden

16 Ebd., S. 191.

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Sie mutmaßlich nichts von Enttäuschung empfinden. Aber jetzt! Das Eis macht still und duckt das Revolutionäre.“ (FW I/5, S. 266) Erwartet wird nicht einmal tatsächliche Aktivität, sondern nur die Möglichkeit, sich eine solche vorstellen zu können. Doch das Eis duckt nicht nur das Revolutionäre, sondern auch jede andere Regung des Stechlin. Es stellt in übersteigerter Form aus, was den See auch sonst kennzeichnet: seine Ruhe und Stille, die ganz im Gegensatz zu dem steht, was über ihn erzählt wird. Auf den Vorschlag Dubslavs, den Schnee beiseite räumen zu lassen und das Eis aufzuhacken, damit der Hahn, „wenn er nur sonst Lust hat“, aus seiner Tiefe heraufkommen könne, reagiert Melusine ablehnend: „Um Gottes willen, nein. Ich bin sehr für solche Geschichten und bin glücklich, dass die Familie Stechlin diesen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur hat jetzt den See überdeckt; da werd’ ich mich also hüten, irgendetwas ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich.“ (FW I/5, S. 267) Im Gespräch mit Lorenzen wiederholt Melusine ihre Vorbehalte und setzt den Vorfall mit der den Roman leitmotivisch durchziehenden Unterscheidung von Alt und Neu in Beziehung: „Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder auch nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dieses Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir doch eigentlich recht leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen, heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod.“ (FW I/5, S. 270f)

Es ist eine seltsame Argumentationskette, die Melusine hier vorbringt und die noch einmal vorführt, wie viel Heterogenes und sogar Gegensätzliches dem See von Seiten der Romanfiguren zugeschrieben wird: Die Achtung vor dem zugefrorenen See begründet Melusine mit dem Respekt vor dem Gegebenen, dem allerdings in direktem Anschluss das Werdende gegenübergestellt wird, dem, gerechtfertigt als zukünftiges Gegebenes, die eigentliche Sympathie Melusines gilt. Auch dafür wird noch einmal der Stechlin strapaziert, der nun für den „großen Zusammenhang der Dinge“ einstehen muss. Dieser Zusammenhang wird im Roman allerdings immer

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wieder auf seine unterirdischen Kommunikationskanäle zurückgeführt, die mitsamt Strudeln und krähendem Hahn nun unter der Eisfläche verborgen sind, die sich also gewissermaßen abschließen, und das heißt, in den Worten Melusines, „sich einmauern, und sich einmauern ist der Tod“. Mit seinem Eispanzer mauert der See sich ein und bedeckt sich zudem mit einer Schneedecke: Der Beschreibung des Stechlinsees als weltoffenes Kommunikationsmittel spricht sein tatsächliches Verhalten Hohn. Die Szene wiederholt die Eingangspassage des Romans in gesteigerter Form: Die Stille des Sees, die schon dort beschrieben wurde, wird nun zur Starre des Eises, die angeblichen seismographischen Fähigkeiten werden von Melusine zum großen Zusammenhang der Dinge erhoben. Beides steht sich allerdings ebenso disparat gegenüber wie in der Eingangszene, und während die weitreichenden Beziehungen des Sees weiter Spekulation bleiben, tritt seine Stille im gefrorenen Zustand nur noch eindringlicher zutage. Aber immerhin kann man so weiterhin davon ausgehen, dass sich hier wirklich, wie Melusine annimmt, etwas verbirgt. Ein einziges Mal scheint der Stechlin seine telegraphischen Fähigkeiten zu nutzen, und zwar gegen Ende des Romans, als Woldemar und Armgard während ihrer Hochzeitsreise auf Capri im Angesicht des Vesuv ein Fischerlied vernehmen, das, wie Karl Pestalozzi dargelegt hat, in den meisten Fontaneausgaben falsch wiedergegeben und folglich auch falsch übersetzt wird.17 Nach Pestalozzi müsste die Liedzeile richtig heißen: „Tre giorni son che Nina, che Nina, in letto se ne sta...“18. Das Lied, das Fontane, Pestalozzis Vermutung zufolge, dem Italienischen Liederbuch Paul Heyses entnommen hat, changiert zwischen neckischem Liebeslied und Totenklage: drei Tage schon ist Nina in ihrem Bett geblieben, so die korrekte Übersetzung der von Fontane zitierten Liedzeile, ob sie aber gestorben oder eine Langschläferin ist, bleibt offen – und an diese Zweideutigkeit knüpfen Bearbeitungen des Liedes, etwa von C.F. Meyer, an. Im Stechlin setzt Fontane das Lied gemäß ersterer Interpretation ein, denn als Woldemar und Arm-

17 So auch in der hier benutzten Ausgabe. Vgl. zum Folgenden Karl Pestalozzi, „,Tre giorni son che Nina...‘. Zu einem rätselhaften Zitat im 45. Kapitel des ‚Stechlin‘“. In: Ursula Amrein u. Regina Dieterle (Hg.), Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Berlin/New York 2008, S. 127145. 18 Zitiert nach: Ebd., S. 127.

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gard das Fischerlied vernehmen, ist Dubslav seit drei Tagen in Stechlin aufgebahrt. Bevor das Lied vom Ufer zu Woldemar und Armgard herauf klingt, gedenken die beiden im Anblick des Vesuv des heimatlichen Stechlin: „Von Sorrent kamen Fischerboote herüber, die Fischer sangen, und der Himmel war klar und blau; nur drüben aus dem Kegel des Vesuv stieg ein dünner Rauch auf, und von Zeit zu Zeit war es, als vernähme man ein dumpfes Rollen und Grollen. ,Hörst du’s?‘ fragte Armgard. ,Gewiß. Und ich weiß auch, dass man einen Ausbruch erwartet. Vielleicht erleben wir’s noch.‘ ,Das wäre herrlich.‘ ,Und dabei‘, fuhr Woldemar fort, ,komm’ ich von der eiteln Vorstellung nicht los, daß, wenn’s da drüben ernstlich anfängt, unser Stechlin mittut, wenn auch bescheiden. Es ist doch eine vornehme Verwandtschaft.‘“ (FW I/5, S. 384)

Fast wörtlich nimmt diese Textstelle die Eingangspassage des Romans noch einmal auf, in der die medialen Fähigkeiten des Sees beschrieben werden. Ob der Stechlin allerdings tatsächlich „mittut“, wenn der Vesuv ausbricht, ist fraglich, schließlich herrscht in der Heimat immer noch Winter. Trotzdem scheint der See am Ende des Romans seine weitreichenden Verbindungen erstmals wirklich spielen zu lassen und eine Nachricht zu übermitteln – nicht aus der weiten Welt in die märkische Provinz, sondern in umgekehrter Richtung. Es hapert diesmal jedoch am Empfänger: Armgard und Woldemar verstehen den rauchenden Vesuv und das Fischerlied nicht als Botschaft aus der fernen Heimat. Anders als der Leser, der in den vorigen beiden Kapiteln von Tod und Beisetzung des alten Stechlin erfahren hat, weiß das junge Paar nichts vom Tode Dubslavs. Der in Capri erwartete Brief von Melusine war, sehr zum Ärger von Armgard, ausgeblieben. Erst am folgenden Tag treffen Brief und Todesnachricht ein. Das telegraphische Medium des Sees ist dem postalischen Medium des Briefes voraus, entspricht dabei aber ganz dem Vorbehalt, den Dubslav zu Beginn des Romans einmal geäußert hatte: „Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dod, oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre.“ (FW I/5, S. 15) Folgt man Karl Pestalozzis Richtigstellung und Interpretation des italienischen Fischerliedes, so wird der See hier einmalig im Roman seinem Ruf gerecht und fungiert als Medium. Doch was er meldet, ist

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alles andere als das, was von ihm erwartet wird. Denn wenn der Stechlin, wie Melusine einmal sagt, „uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie [zu] vergessen. Sich abschließen, heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod“ (FW I/5, S. 271), so ist es ausgerechnet die von Melusine als Gegenbild evozierte Todesstarre, die der Stechlin dann verkündet. Weder Erdbewegungen noch Revolutionen überträgt er, aber die Botschaft des Todes. Und ausgerechnet die kommt bei den Figuren des Romans nicht an. Nicht der seine Fühler in alle Weltregionen ausstreckende Kosmopolit, nicht das treue Medium und nicht der Revolutionär sind die Bilder, die dem tatsächlichen Verhalten des Sees jenseits aller Zuschreibungen entsprechen, sondern die Erstarrung in Schnee und Eis. Der zugefrorene und verschneite Stechlin im Winter scheint der dem See wie dem Roman angemessenere Aggregatszustand zu sein. Nicht einmal das Zufrieren selbst wird dabei als eine ‚Aktivität‘ des Sees beschrieben, sondern als ein passives Bedecktwerden. „Die Natur hat jetzt den See überdeckt“ (FW I/5, S. 267), sagt Melusine, er ist „überfroren“ (FW I/5, S. 288). Dubslav findet ein noch anschaulicheres Bild für den gleichen Sachverhalt: „die Winterhand lag darauf“ (FW I/5, S. 281). Die dicke Eisfläche, die zusätzlich „hoch mit Schnee bedeckt“ (FW I/5, S. 266) ist, scheint kein Teil des Sees zu sein, vielmehr wirkt sie wie eine eigenständige Größe, die den See und seine Tiefe unter sich begräbt, das Revolutionäre „duckt“ (FW I/5, S. 266) und so still macht, dass es darüber nichts mehr zu sagen und zu erzählen gibt und folglich auch nichts zu schreiben, wie Dubslav bemerkt: „Da kann selbst unser Uncke nichts notieren“ (FW I/5, S. 266). Und doch ist es gerade das Eis, das den Ruf des Sees rettet: denn durch das Zufrieren kann die Stille des Sees als vorübergehender Zustand gedeutet werden. Die Eisdecke entzieht den See der Pflicht, seine medialen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. So können die Erwartungen an ihn sich weiter entfalten. Innerhalb des Romans stehen sich also einander widersprechende Charakterisierungen des Stechlinsees gegenüber: da ist einmal das Gerücht der Anwohner, das den See zu einem geologischen und politischen Seismographen und Revolutionär macht, das allerdings durch den inneren Widerspruch gekennzeichnet ist, dass der See über eine eigene Skalierung der Nachrichtenwerte zu verfügen scheint, (wobei ganz obenan kein politisches und geologisches, sondern ein Ereignis auf Ebene der kulturellen Zeichen-

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produktion zu stehen scheint). All dem widerspricht aber wiederum der See selbst, und zwar performativ, indem er durch das gesamte Romangeschehen nichts als Ruhe und Stille demonstriert. Diese verschiedenen Bilder des Stechlin gilt es zu bedenken, wenn man nach der Bedeutung des Sees für den gleichnamigen Roman fragt, dessen zentrales Symbol oder Leitmotiv er ist.19 Als tertium comparationis von Roman und See wird in der Forschung meist eine Eigenschaft beansprucht, die dem See in den Gesprächen der Protagonisten zwar zugeschrieben wird, dem das Verhalten des Sees aber widerspricht: die Aktivität seiner Tiefendimension, die von Melusine als Zeichen für den „großen Zusammenhang der Dinge“ (FW I/5, S. 271) in Anspruch genommen wird. Die vage Formulierung Melusines gibt dabei Raum für Interpretationen. Der See kann so beispielsweise als Symbol für eine versöhnliche, unrevolutionäre Poetik des Gesellschaftsromans gedeutet werden, der das Einzelschicksal in einen großen gesellschaftlichen Zusammenhang stelle, ohne Partei zu nehmen.20 In eine ähnliche Richtung geht Isabell Nottinger, derzufolge der Stechlin „den Zusammenhang von Werden und Vergehen, von naturgemäßem, zyklischen Aufstieg und Untergang von Individuen, Familien und schließlich auch von Ständen“21 symbolisiere. Hubert Ohl sieht den Kern der Stechlin-Symbolik in der Teilhabe des

19 In den meisten Arbeiten wird der Stechlin als „Symbol“ bezeichnet, wenn es auch Stimmen gibt, die in ihm eher eine Allegorie sehen möchten, wofür v.a. Brüggemann (Fontanes Allegorien) plädiert. Hinter den jeweiligen Begrifflichkeiten stehen allerdings jeweils unterschiedliche Begriffe von Symbol bzw. Allegorie. Siehe auch Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975, S. 451f. Zur Diskussion der genaueren zeichentheoretischen Bestimmung des Stechlinmotivs und ihren terminologischen Unklarheiten siehe Martin Beuster, „Sinnbild – Chiffre – Symbol – Allegorie – Humor? Deutungsansätze in der Forschung zum Stechlin. In: Eda Sagarra, Theodor Fontane: Der Stechlin. München 1986, S. 92-114. Fontane selbst hat den See brieflich einmal als „Leitmotiv“ des Romans bezeichnet (Brief an Carl Robert Lessing vom 8. Juni 1896. In: FW I/5, Anhang, S. 418). 20 So Stefan Neuhaus, Still ruht der See. 21 Ähnlich Isabel Nottinger, „Die Bedeutung des Sees im Stechlin“. In: Dies., Fontanes Fin de Siècle. Motive der Dekadenz in L’Adultera, Cécile und Der Stechlin. Würzburg 2003, S. 141-161, hier S. 141.

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Stechlin an fernen Erderschütterungen, die zum Symbol für die Teilhabe des Adels an den Erschütterungen der Zeit werde.22 Auch für Peter Hasubek wandelt sich der See im Laufe des Romans von einem geographischen Phänomen zu einem Symbol für eine politisch-soziale Idee.23 Dagegen wies bereits Walter Müller-Seidel darauf hin, dass die Bedeutung des Sees nicht mit dem gleichgesetzt werden könne, was die Figuren über ihn sagen: „So gut wie nichts von dem, was über diesen ‚Vornehmen‘ gesagt wird, kann man wörtlich nehmen.“24 Der See sei eher ein Zeichen für Ambivalenzen und die „Vereinigung des Entgegengesetzten“25. Fontane selbst hat den Stechlin wiederholt als seinen „politischen Roman“ bezeichnet. In Briefen an Paul Schlenther und Ernst Heilborn hat er dem Adjektiv „politisch“ dabei jeweils durch ein bzw. zwei Ausrufezeichen Nachdruck verliehen,26 sei es, um die Ungewöhnlichkeit zu betonen, die in dem Unterfangen, einen politischen Roman schreiben zu wollen besteht, sei es, um auf dieser Zuschreibung entgegen jedem Eindruck zu beharren. Auch für die Beschreibung des Romans als einem politischen lässt sich auf eine intradiegetische Interpretation des Sees zurückgreifen: Im Spiegel des medialen Stechlinsees, als der er in den Erzählungen der Anwohner zunächst erscheint, wäre der Roman Stechlin ein Medium politischer und sozialer Umbrüche und Bewegungen. Wie der See natur- oder sozialgeschichtliche Umwälzungen aus der weiten Welt in die märkische Provinz übermittelt, so wäre auch der politische Roman ein Medium politischer und sozialer Revolutionen, die er in die Welt hineinkräht. Der Roman als Seismograph politischer und gesellschaftlicher Veränderungen: diese Konzeption entspräche auch dem Programm des bürgerlichen Realismus.27 Der hatte sich Wirklichkeitsnähe und Hinwendung zu praktischen Alltagsfragen auf die Fahnen geschrieben, auch wenn man, wie der junge Fontane selbst,

22 Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit, S. 238. 23 Peter Hasubek, ‚...wer am meisten red’t ist der reinste Mensch‘. Das Gespräch in Theodor Fontanes Roman ,Der Stechlin‘. Berlin 1998, S. 205. 24 Walter Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 451. 25 Ebd, S. 450f. 26 So im Brief an Paul Schlenther vom 21. Dezember 1895 und im Brief an Ernst Heilborn vom 12. Mai 1897. Zitiert nach: FW I/ 5, Anhang, S. 417 u. 420. 27 Siehe hierzu die Textsammlung: Theorie des Realismus. Hg. von Gerhard Plumpe. Stuttgart 1985; sowie darin: Ders., „Einleitung“, S. 9-40.

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auf die ,Verklärung‘ des Realen pochte und sterbende Proletarier aus dem Kreis der darstellungswürdigen Wirklichkeit ausschloss. 28 „Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Medium der Kunst“, hatte Fontane mehr als 40 Jahre vor Erscheinen seines Stechlin über den Realismus geschrieben, und wenn er dann auf das „Große“ und „Kleine“ eingeht, dem der Realismus gleichermaßen gerecht werden soll, dann erinnert das entfernt an die Beschreibung des Stechlinsees, der ja laut seinen Anwohnern das „Kleine, das beinah Alltägliche“ (FW I/5, S. 7) mit ebensolcher Präzision melde wie das Große: „Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist.“29 Das Politische ist im Stechlin vor allem ein Konversationsthema. Die Gespräche der Figuren nehmen immer wieder soziale Fragestellungen auf und kreisen mit Vorliebe um das Thema der Revolution.30 Was für das

28 Theodor Fontane, „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“. In: Ders., Aufsätze zur Literatur. Hg. von Kurt Schreinert. München 1963, S. 7-33, hier S. 12: „Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, dass es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, dass man, (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen [...] sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: Die Läuterung fehlt.“ Vielleicht ist das der eigentliche Grund dafür, und nicht der „Moonschien“ (FW I/5, S. 201), dass der Proletarier Tuxen auf dem Rückweg vom Wahltag doch nicht von Dubslavs Kutsche überfahren wird (vgl. FW I/5, S. 201f). 29 Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, S. 13. 30 Vgl. Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 431: „Man muss nicht eigens belegen, wie und wo im Stechlin über Revolutionen gesprochen wird (und stets wird über sie ‚nur‘ gesprochen, weil der Roman vorwiegend aus Gesprächen besteht): es ist überall davon die Rede – so oft, das sich das Revolutionsmotiv dem Leser bald als Leitmotiv des Romans einprägt.“ Die Revolutionssymbolik und ihre Bedeutung für den Stechlin ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Die wesentlichen Positionen hat Stefan Neuhaus (Still ruht der See) referiert. Er

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Leitmotiv der Revolution gilt, gilt für das Politische des Romans allgemein: es ist in den Gesprächen der Protagonisten zu suchen, die über Politik ebenso sprechen wie über Kunst und Karpfen, deren Aussagen sich aber gegenseitig relativieren oder von der Erzählerstimme humorvoll ironisiert werden. Wenn das Thema des Romans, wie in der Forschung durchweg betont, die Entgegensetzung von Alt und Neu ist, dann ohne dass der Roman für eines von beidem Partei ergreifen würde – und auf eine politische Aussage ist er schon gar nicht festzulegen. Der See dient den politischen Gesprächen des Romans als Referenzobjekt, der für jede Meinung und ihre Gegenmeinung in Anspruch genommen werden kann. Er bietet den Gesprächen einen Bezugspunkt, verhält sich jedoch gleichgültig den geäußerten Thesen gegenüber. Neben dem politischen Roman ist eine weitere Zuschreibung, die Fontante selbst vorgenommen hat, die, der Stechlin sei ein Zeitroman: „Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andererseits in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte.“31 Der Roman steht für einen Realismus zweiten Grades, der nicht reale Ereignisse abbildet, sondern Diskurse und Zeichen. Auch für den Stechlin gilt, dass Fontane „semiologische Romane“32 schreibt, die Realität als Diskursrealität aufnehmen und reflektieren.

liest den Roman als Plädoyer für evolutionären Wandel und widerspricht einer Lektüre, die den Roman als Vorausdeutung auf die kommenden sozialen Umbrüche und Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts deuten will. Diese These vertritt v.a. Eda Sagarra, „Symbolik der Revolution im Roman ‚Der Stechlin‘“. In: Fontane-Blätter 39 (1985), S. 534-543. 31 Entwurf eines Briefes an Adolf Hoffmann im Mai/ Juni 1897. Zitiert nach FW I/5, Anhang, S. 420. Zum Stechlin als literarischer Repräsentation von Geschichte siehe Uwe Hebekus, Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane. Tübingen 2003, S. 231-290. 32 Gerhard Neumann, „Das Ritual der Mahlzeit und die realistische Literatur. In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Hg. von Jürgen Barkhoff u.a., Tübingen 2000, S. 301-317, hier S. 303.

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Neben dem Bild des politischen Romans und dem Zeit- oder Diskursromans steht jedoch ein anderes Bild von Roman und See: Die Stille und Ruhe des Sees, die in der Erstarrung in Schnee und Eis kulminiert. Immerhin beginnt der Roman mit der absoluten Stille: „Alles still hier.“ (FW I/5, S. 7) Nichts regt sich, völlig ruhig liegt der See Stechlin in der Landschaft, „kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, dass ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft“ (FW I/5, S. 7). Alles still „hier“: die Deixis bezieht sich auf See wie Text gleichermaßen. Erst die Geschichten der Anwohner über die gelegentliche Belebung des Sees bringen auch den Roman zum Sprechen: „Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier“ (FW I/5, S. 7, Herv. i.O.). Die Sagen, die sich die Anwohner über ihren See erzählen, durchbrechen die Stille des Romans und machen aus der geographischen und sozioökonomischen Karte, die der Text zunächst entwirft, eine Geschichte. Das unablässige Geplauder der Figuren, der Lärm auf allen Kanälen, den der Roman multimedial, mit Briefen, Tagebucheinträgen, Telegrammen, Anekdoten, Märchen und vielem mehr inszeniert, scheint nur dazu zu dienen, die Stille des Romananfangs zu übertönen. Oder anders gesagt: erst vor dem Hintergrund der Stille wird die Rede des Romans hörbar. Die Ruhe des Sees bringt den Roman zum Sprechen. Unter der Winterhand Wenn die Stille des Stechlin die Voraussetzung für die verschiedenen Bilder ist, die im Roman von ihm entworfen werden, so deshalb, weil der See gespalten ist in eine ruhige Oberfläche und eine unzugängliche Tiefendimension, in der das enthalten sein soll, von dem man an der Oberfläche nichts wahrnimmt. Betrachtet man beispielsweise den roten Hahn, das Revolutionssymbol, der aus dem See aufsteigen und laut in die Lande hineinkrähen soll, so steht er in größtmöglichem Kontrast zur realitätsgetreuen Schilderung des Stechlinsees und seiner Umgebung. Er ist ein fremdes, unerwartetes Element inmitten der nüchternen Landschaftsbeschreibung, ein Bruch mit den Konventionen des Realismus. Denn erst die Forschung hat neben den literarischen Quellen der Sage vom roten Hahn auch die naturwissenschaftliche Erklärung des Phänomens nachgeliefert. Es handelt sich um aufsteigende Blasen von Methangas, welches sich durch den Zerfalls-

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prozess abgesunkener organischer Stoffe am Seeboden bildet. Diese Gasblasen wurden hin und wieder von den Netzen der nachts arbeitenden Fischer gelöst und entzündeten sich an deren Fackeln.33 Im Roman aber wird diese, auch dem damaligen Stand der Naturwissenschaften längst zugängliche Erklärung nicht gegeben; der rote Hahn wird nicht, wie das von einem realistischen Roman zu erwarten wäre, naturwissenschaftlich in die erzählte Wirklichkeit integriert. Genau diese Inkompatibilität eines Ereignisses mit den Gesetzen der erzählten Welt hatte Tzvetan Todorov als Kennzeichen der Fantastik beschrieben: „In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen dieser vertrauten Welt nicht erklären lässt.“34 Im Unterschied zur fantastischen Literatur aber handelt es sich bei dem roten Hahn nur um die Erzählung eines zurückliegenden Ereignisses, dessen Wiederkunft als fantastisches Ereignis aller Erwartungen zum Trotz ausbleibt. In der prosaischen Welt des realistischen Romans hat der fantastische Hahn nur noch als Sage seinen Platz. Und doch ist diese Sage die Voraussetzung des Erzählten: Der rote Hahn ist der blinde Fleck des Romans, der als ein zeitlich vor der erzählten Handlung liegendes Ereignis diese erst in Gang bringt, ohne je außerhalb der Rede der Leute selbst ‚aufzutauchen‘. Die Erwartung seines Erscheinens erhält Spannung aufrecht und verleiht dem gesamten Roman einen Hauch von Fantastik. Denn die Ungewissheit darüber, ob es sich bei einer Erscheinung um ein übersinnliches Element handelt oder um eine bloße Täuschung, nennt Todorov ebenfalls als Kennzeichen des Genres, das sich dadurch von den benachbarten Genres des Unheimlichen oder Wunderbaren unterscheidet.35 Der rote Hahn ist also einerseits ein Fremdkörper in der erzählten Welt, ein fantastisches Element, das als Vorraussetzung und heimlicher Motor des Erzählens vom realistischen Roman jedoch verdrängt wird. Der zugefrorene See ist es, der dafür das Bild liefert: „das Eis macht still und duckt das Revolutionäre“ (FW I/5, S. 266). Das Eis verbannt den roten Hahn in

33 Vgl. Heinz-Dieter Krausch, „Die natürliche Umwelt in Fontanes ‚Stechlin‘. Dichtung und Wirklichkeit“. In: Fontane-Blätter 1 (1968), H. 7, S. 342-353, hier S. 345. 34 Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur. München 1972, S. 25. 35 Vgl. ebd., S. 26.

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die Tiefe und stellt so die Ruhe der ersten Romanseite wieder her, auf der in der Folge ein ganz anderes, unrevolutionäres Geschehen aufbauen kann. Andererseits kann das realistische Erzählen durch den roten Hahn in der Tiefe gefahrlos weiter am Fantastischen partizipieren. In der Tiefe des Sees kann verortet werden, was mit der erzählten Welt kaum kompatibel wäre. Das gilt auch für das, was Melusine unter der Oberfläche des Eises fürchtet. Melusine, die sich so vehement dagegen sträubt, als „das Eis aufgeschlagen werden sollte“ (FW I/5, S. 270), wehrt sich damit gegen das ‚Aufschlagen‘ eines ganz anderen Buches, einer anderen Geschichte, die der Stechlin auch erzählen könnte. Es würde nicht nur dem roten Hahn eine Stimme verleihen, sondern auch alles andere freisetzen, was die dicke Eisschicht des Stechlin zu verbergen scheint. Diethelm Brüggemann benennt es als das „Elementare“, das unter die Oberfläche verbannt werde.36 Wie andere Melusinengestalten in Fontanes Werk (zu denken wäre an Effi Briest, an Ozeane aus dem gleichnamigen Fragment, oder an Ebba Rosenberg aus Unwiederbringlich) vertrete, so Brüggemann, auch Melusine einen Gegenbereich zu dem der Konvention, des Typus oder Charakters, nämlich „die namenlose Inkarnation des amoralischen, asozialen, des schlechthin nicht erklärbaren – also sprachlich nicht existierenden – Elementaren“37. Mit Melusine werde herbeizitiert, was der von allen Gefühlen und Leidenschaften freie Stechlinroman ausschließe: die „verdrängte, nunmehr aber [...] als Gefahr erkannte, eingegrenzte, versiegelte Sexualität“38. Aber steht die Figur der Melusine, wie Brüggemann argumentiert, tatsächlich für das ,Elementare‘? Oder nicht doch eher für ein komplizierteres Verhältnis zu diesem, das es zitiert und gleichzeitig verdrängt? Die knappen Andeutungen zum Verlauf von Melusines ebenso kurzer Ehe zumindest deuten auch eher auf einen Ausschluss des Sexuellen, für den diese Figur steht. Sie selbst ist es ja, die ihre Vorbehalte gegen das Aufhacken des Eises mit dem Satz begründet: „Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare.“ (FW I/5, S. 267) Das, von dem sie nichts wissen will, zitiert sie selbst herbei: schließlich galt die Melusine

36 Vgl. Diethelm Brüggemann, „Fontanes Allegorien“. In: Die Neue Rundschau 82 (1971), S. 290-310 u. 486-505. 37 Ebd., S. 499. 38 Ebd., S. 501.

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als der wichtigste Elementargeist des Mittelalters.39 Es ist also die Angst vor der eigenen Herkunft aus dem Aberglauben, die Melusine zurückschrecken lässt, so, als würde die Aufdeckung ihrer Herkunft sie sofort zurückholen in den Bereich des Mythos: „Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich.“ (FW I/5, S. 267) Ihre Worte, die bei Tante Adelheid so großen Abscheu auslösen, dass sie von Melusine wegrückt, sind jedoch selbst nur vor dem Hintergrund des Melusinenmythos verständlich: Im Mythos ist Melusines Ehe mit einem Menschen mit dem Tabu belegt, sie sonnabends nicht beim Bade zu stören. Als ihr Ehemann das Tabu bricht und sie mit einem Fischschwanz sieht, muss sie klagend zurück ins Wasser fliehen.40 Der Fischschwanz steht für die Herkunft Melusines aus einer anderen Ordnung des Realen – und deren Entdeckung scheint auch bei Fontane zu drohen. Doch die mythisch-literarische Provenienz der Figur, deren Offenlegung von ihr selbst mit einem Tabu belegt wird, wird dabei von Melusine erst herbeizitiert. Sie ist es, die suggeriert, dass unter der Eisfläche etwas verborgen ist. Erst durch die Anspielung wird das intertextuelle Potential ihres Namens aktiviert. Und so ist es die dicke Eisdecke, die das mythische Bedeutungspotential des Namens Melusine bewahrt, das der gleichnamigen Figur des Romans sonst eigentlich gar nicht zukommt. Die Figur Melusine gibt damit das Muster vor, dem die Namensgebung im Stechlin generell folgt. Die Figuren haben sprechende Namen,41 die so etwas wie die Knotenpunkte der intertextuellen Verweise darstellen. Teilweise wird auf die literarischen Quellen der Figuren im Text selbst ange-

39 Renate Böschenstein, „Fontanes Melusine-Motiv“. In: Dies., Verborgene Facetten, S. 15-63, hier S. 52. Zuerst in: Euphorion 56 (1962), S. 69-104. 40 Vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 71988, S. 487ff. 41 Vgl. hierzu Renate Böschenstein, „Namen als Schlüssel bei Hoffmann und bei Fontane“. In: Dies., Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Hubertus Fischer. Würzburg 2006, S. 300-328; diess., „Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung [sic]“. In: Dies., Verborgene Facetten, S. 329-360. Zu Fontanes Umgang mit dem Melusinenmythos siehe auch Rainer Warning, „Flaubert und Fontane“. In: Ders., Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 185-239, der darlegt, dass Fontane im Motiv der Melusine eine implizite Poetik ausarbeitet, die auf eine gegen den romantischen Gefühlskult gewendete Distanznahme, auf ein Nicht-Empfinden ziele.

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spielt, wie beispielsweise bei Armgard. Sie scheint Schillers Wilhelm Tell entsprungen zu sein, wie Woldemar seinem Tagebuch anvertraut: „Ich habe bisher nur eine dieses Namens kennengelernt, noch dazu bloß als Bühnenfigur, und ich musste beständig an sie denken, wie sie da (ich glaube, es war Fräulein Stollberg, die ja auch das Maß hat) dem Landvogt so mutig in die Zügel fällt. Ganz so wirkt Komtesse Armgard“ (FW I/5, S. 116). Aber auch für Figuren wie die Domina Adelheid, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, lassen sich literarische Ahnen finden: als Hintergrund der Schwester Dubslavs hat Renate Böschenstein Hoffmanns Märchen Die Königsbraut ausgemacht, in dem ein Landedelfräulein fast den Verheißungen eines Erdgeists verfällt; außerdem vermutet sie die Geschichte der in der Reformationszeit wegen Hexerei angeklagten Äbtissin Sidonie von Borcke hinter der Figur.42 Doch dass Armgard wie Adelheid allenfalls geringe Spuren der Charakterzüge und der Schicksale ihrer literarischen Vorgängerinnen tragen, ist typisch für Fontanes Figurenkonzeption. Was für Melusines mythische Herkunft und den fantastischen roten Hahn gilt, scheint auch für die anderen intertextuellen Bezüge zu gelten, auf die die Figurenkonzeption des Romans rekurriert: Die literarischen Anspielung verweisen auf Prätexte, in denen all die Dramatik, Fantastik und Mystik enthalten ist, die der erzählten Geschichte abgeht. Die Leidenschaftslosigkeit, mit der die kaum als ,Liebesgeschichte‘ zu bezeichnende Eheanbahnung von Woldemar und Armgard vonstatten geht, wird so metaphorisch mit einer tieferen Dimension versehen. Was die menage à trois von Woldemar und den beiden Schwestern angeht, so hat auch sie einen deutlichen Prätext in der Beziehung Friedrich Schillers zu den Schwestern Charlotte und Caroline von Lengefeld. Auch Schiller entschied sich für die Jüngere und gegen die drei Jahre ältere, verheiratete Schwester, die ihm zunächst näher stand. Der Stechlin mag also, wie Walter Müller-Seidel geschrieben hat, ein „Roman[] der Konfliktlosigkeit“ 43 sein, aber das allenfalls auf Ebene der Handlung. Im Zitat bleiben die Konflikte erhalten. Sie sind indirekt präsent, ohne den ruhigen Gang des Geschehens zu stören. Der See konserviert ein reichhaltiges Reservoir an intertextuellen Verweisen, auf denen der Roman aufbauen

42 Vgl. Renate Böschenstein, „Mythologie zur Bürgerzeit. Raabe – Wagner – Fontane“. In: Dies., Verborgene Facetten, S. 91-121, hier S. 105. 43 Müller-Seidel, Soziale Romankunst, S. 426.

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kann. Die Spaltung des Stechlinsees in eine undurchdringliche Oberfläche und ein Reservoir der Tiefe liefert auch dafür das Modell. Tiefe des Sees, Tiefe des Romans Die Bedeutung der Intertextualität für Fontanes Romane ist in der Forschung seit langem betont worden44 und in den letzten Jahren sind zahlreiche Einzeluntersuchungen erschienen, die Fontanes Verwendung von Verweisen, Anspielungen, geflügelten Worten und Zitaten genauer aufgeschlüsselt haben. Es ist eine auffällige Gemeinsamkeit vieler dieser Forschungsarbeiten, dass sie die untersuchte Intertextualität in einer Metaphorik der Tiefe beschreiben. So hat beispielsweise Renate Böschenstein in einem Aufsatz über „Fontanes Finessen“45 die Frage nach dem Stellenwert von Fontanes Anspielungen und intertextuellen Verweisen als Frage nach einem „Subtext“ formuliert: „Gibt es unter der Schicht des Erzählens, die sich an dem durch den

44 Siehe u.a. Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans. Stuttgart 1961, der sich vorrangig mit dem Konversationszitat der Figurenrede beschäftigte; Lieselotte Voss, Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. München 1985, untersucht das Zitat auch als strukturbildendes Gestaltungsmittel und unterscheidet mehrere Grundtypen des Zitierens; Bettina Plett, Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Fontanes. Köln/Wien 1986, erstellt einen Katalog der in Fontanes Werken enthaltenen Anspielungen und zeigt exemplarisch deren Funktion, wobei sie insbesondere auf die voraus- und rückweisende Bedeutung der Bezüge sowie auf ihre leitmotivische Funktion eingeht. 45 Renate Böschenstein, „Fontanes ‚Finessen‘. Zu einem Methodenproblem der Analyse ‚realistischer‘ Texte“. In: Dies., Verborgene Facetten, S. 85-90. (Zuerst in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 532-535) Böschenstein bezieht sich mit ihrer Überschrift auf den Aufsatz von Karl S. Guthke, „Fontanes ‚Finessen‘: ‚Kunst‘ oder ‚Künstelei‘?“ In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 235-261, der gegen einen Teil von Fontanes Anspielungen und ihrer Interpretation Bedenken äußert. Er setzt sich vor allem kritisch mit dem Buch von Peter Klaus Schuster, Theodor Fontane: Effi Briest – ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978, auseinander, auf das die Auseinandersetzung um den Stellenwert von Fontanes Symbolen und Anspielungen eigentlich zurückgeht.

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zeitgenössischen Konsens anerkannten Realitätsbild orientiert, einen versteckten, nur durch genaueste Lektüre zugänglichen, aus Symbolen konstituierten Subtext?“46 Ihre eigene Antwort („mir scheint das Bemühen um die Wahrnehmung solcher Zeichenzusammenhänge Tiefendimensionen der Texte selbst aufzuschließen, die erkannt werden wollen“47) gleicht einer Aufforderung, sich auf ein vom Autor inszeniertes Versteckspiel einzulassen.48 Literaturwissenschaft als Schiffchenversenken – das Bild scheint gerade für den Stechlin nicht ganz unpassend zu sein. Denn ob die Forschungen zum Stechlin explizit an die Aufforderung Böschensteins anknüpfen oder nicht – es ist auffällig, wie sehr die hier angeschlagene Bildlichkeit der Tiefe das Vokabular der Fontaneforschung dominiert. So spricht beispielsweise Klaus Briegleb in einem Aufsatz über die Melusinenfigur49 davon, dass im Stechlin „eine texthorizontale und eine überlieferungsvertikale Erzählspur [...] miteinander verflochten“50 seien, wobei die Vertikale sich auf die mittelalterliche Herkunft des Elementargeists Melusine bezieht, die Briegleb enttarnt als „das in der Tiefe des Textes lauernde Herkunftsgespenst“51. Um den speziellen Typus der Fontaneschen Intertextualität genauer zu fassen, bezieht sich Thomas Grimann in seiner Untersuchung zu den intertextuellen Bezügen in Fontanes Stine52 auf Julia Kristevas Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Intertextualität. Während Kristeva jeglichen Bezug zu anderen Texten als vertikale Intertextualität, unter der horizontalen Dimension von Intertextualität den Bezug zu Autor und Adressaten des

46 Ebd., S. 86. 47 Ebd., S. 90. 48 Zum Topos des Fontaneschen Versteckspiels siehe Paul Irving Anderson, „Von ‚Selbstgesprächen‘ zu ‚Text-Paradigma‘. Über den Status von Fontanes Versteckspielen“. In: Fontane-Blätter 66 (1998), S. 300-317. 49 Klaus Briegleb, „Fontanes Elementargeist: Die Preußin Melusine. Eine Vorstudie zum ‚Stechlin‘“. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts II. Würzburg 2000, S. 110-122. 50 Ebd., S. 111. 51 Ebd., S. 114. 52 Thomas Grimann, Text und Paratext. Intertextuelle Bezüge in Theodor Fontanes ‚Stine‘. Würzburg 2001.

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Textes begriff,53 so versteht Grimann darunter „perspektivische Alternativen“: „Vertikalität liegt demnach vor, wenn ein Text den anderen in den Blick nimmt oder in einem generischen Bezug zu ihm steht. In diesem Fall ist die intertextuelle Perspektive einseitig und nicht umkehrbar, die intertextuelle Beziehung also asymmetrisch. Horizontalität dagegen liegt vor, wenn Texte auf einer Vergleichsebene stehen ohne einander im weitesten Sinne zu rezipieren.“54 Unabhängig davon, wie sinnvoll die von Grimann vorgeschlagene Unterscheidung ist, so interessiert hier vor allem, dass Grimann Intertextualität als vertikale Beziehung denkt: die „Prätexte“ von Fontanes Romanen erscheinen in dieser Metaphorik als etwas, was unter ihnen liegt. In eine ähnliche Richtung (nämlich Richtung Tiefe) geht Holger Ehrhardts Untersuchung „Mythologische Subtexte in Theodor Fontanes Effi Briest“55, der seiner Suche nach dem „Unterbedeutungspotential“56 Fontanes ein eigenes Kapitel zu Theorie und Begriff des „Subtextes“ voranstellt.57 Er führt den Terminus auf die russische Theorie der Schauspielausbildung im 19. Jahrhundert zurück, von wo aus er in die Linguistik Eingang gefunden habe und erst in den 1980er Jahren in den deutschen Sprachgebrauch eingewandert sei. Der Begriff des Subtextes habe sich, wie Ehrhardt konstatiert, bis heute nicht als literaturwissenschaftlicher Fachterminus durchgesetzt und werde zumeist der Intertextualität zugeordnet.58 Andererseits bemerkt Ehrhardt einen statistisch zunehmenden Gebrauch in den Feuilletons deutscher Zeitungen, wobei hier allerdings „eine entterminologisiert zu nennende Verwendung mit einer semantischen Vielfalt des in Frage stehenden Begriffs“59 überwiege. Trotz alledem sei der Begriff gerade in der Fontaneforschung immer wieder verwendet worden, und Erhardt

53 Vgl. Grimann, Text und Paratext, S. 193. 54 Grimann, Text und Paratext, S. 193. 55 Holger Ehrhardt, Mythologische Subtexte in Theodor Fontanes ‚Effi Briest‘. Frankfurt a.M. 2008. 56 Ebd., S. 61. 57 Vgl. ebd., S. 55-76. 58 So bei Renate Lachmann, „Ebenen des Intertextualitätsbegriffs“. In: Das Gespräch. Hg. von Karlheinz Stierle u. Rainer Warning. München 1984, S. 133138. Vgl. Ehrhardt, Mythologische Subtexte, S. 67-69. 59 Ebd., S. 68.

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hält an der Fruchtbarkeit des „Subtextes“ für Fontane und seine eigene Untersuchung zu Effi Briest fest. Unter der Oberfläche von Fontanes Texten verbergen sich demnach vor allem andere Texte – um jene zu verstehen, so die gängige Annahme der Interpreten, muss man diese heraufholen. So unterschiedlich die zitierten Arbeiten in ihrer Fragestellung und theoretischen Ausrichtung auch sein mögen, scheint ein besonderer Reiz darin zu bestehen, die Texte Fontanes in einer Metaphorik von Oberfläche und Tiefe zu beschreiben und die Auseinandersetzung mit Fontane in Form einer Suche nach dem Sinn der Anspielung, dem versteckten Zitat und der verborgenen Bedeutung zu betreiben. In Fontanes letztem Roman aber wird deutlich, dass die Wahl der hermeneutischen Metaphorik kein Zufall ist: Fontane selbst hat im Stechlin diese Metaphorik nahegelegt, man könnte auch sagen (um im Bild des Sees zu bleiben), er hat einen Köder ausgelegt, an den die Forschung seither angebissen hat. Denn Fontane bedient sich der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe nicht einfach – er stellt sie aus. Der Stechlin ist ein selbstreflexiver Roman, und das Bild, in dem sich der Roman reflektiert, ist der gleichnamige See, der unter seiner Oberfläche eine vielgestaltige Tiefendimension zu verbergen scheint. Der kosmopolitische See, der Nachrichten aus der Tiefe an die Oberfläche steigen lässt und mit allen Erdteilen kommunikative Verbindungen unterhält, ist ein Symbol für einen Roman, der in der Tiefe mit anderen Texten kommuniziert. Warum aber friert dieser metapoetische See dann zu und stört so den Informationsfluss aus der Tiefe? Es ist nicht nur eine Dimension der Tiefe, die mit dem See ins Bild gesetzt wird, sondern eine Tiefe unter einer Oberfläche, die sich zu einer festen Grenze verfestigt hat. Wenn, dann muss der zugefrorene Stechlin als Symbol der „transzendentalpoetisch gezähmten Phantasie“60 Fontanes gelten: es geht hier nicht nur um die Tiefe des Subtextes, sondern auch um die Oberfläche, die die vermutete Bedeutung verbirgt: Der (metaphorischen) Tiefe der Zitate und intertextuellen Verweise steht die (metaphorische) Oberflächlichkeit der erzählten Geschichte gegenüber. Stillgestellt durch das Eis liefert der überfrorene See das Gesetz, dem die Gespräche im Stechlin gehorchen. In diesem Sinn hat schon Hans Blumenberg die Konversation im Stechlin beschrieben und ihre ,Oberflächlichkeit‘ auf den See bezogen: „Fontanes ‚Stechlin‘ kann man als episches Konversationsstück lesen.

60 Warning, Flaubert und Fontane, S. 203.

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Kein Thema lassen die Gespräche aus; keines darf die Oberfläche unterschreiten, ohne unterbrochen zu werden. Der Große Stechlin – der See mit den unausgeloteten Tiefen und den subterranen Kavernen zu allen vulkanischen Unruhezentren der Welt – gibt das Diagramm. Man erwartet Großes von seinen Abgründen, während man doch nur, je nach Jahreszeit, auf das Gekräusel der Oberfläche oder auf die erstarrte Eisfläche blickt.“61 Die Konversation streift Probleme allenfalls, ohne je genauer auf sie einzugehen,62 denn die „Oberfläche“ der Gespräche scheint nur allzu leicht verletzt werden zu können. Die „Gesprächswirklichkeit“63 des Romans ist, so betont auch Erich Meuthen, ein fragiles Konstrukt, „das Geplauder erscheint

61 Hans Blumenberg, „Rebhuhnflügel oder Krammetsvögelbrüste“. In: Ders., Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker. Frankfurt a.M. 2002, S. 9-14, hier S. 9. 62 Gotthart Wunberg („Rondell und Poetensteig. Topographie und implizite Poetik in Fontanes ‚Stechlin‘. In: Ders., Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Hg. von Stephan Dietrich. Tübingen 2001, S. 301-312) kommt zu ähnlichen Ergebnissen im Blick auf die topographische Anordnung auf Schloss Stechlin, die der des Sees allerdings entspricht. Dass das Prinzip des Berührens von Problemen, die nicht selbst dargestellt werden, die „Erzählhaltung des gesamten Romans“ ausmacht, führt er an der räumlichen Anordnung von Rondell und Poetensteig vor. Im Gespräch führt Dubslav seine Gäste, Rex und Czako, auf dem Poetensteig am Rondell vorbei, hin zum Aussichtsturm, der einen panoramatischen Rundblick, ein „freies Darüberstehen“ erlaubt. Es ist ein poetologischer Weg, der da beschritten wird, ein „erzähltechnische[r] Weg am Problem entlang; vorbei am Thema; dahin; es sehend, aber nicht auf es eingehend“ (ebd., S. 308), wobei das Rondell das ‚Problem‘ vertritt: mit seinem aufspringenden Wasserstrahl in der Mitte ist es, so Wunberg, nichts anderes als ein Pendant zum großen Stechlinsee, „es meint noch mal, was jener bedeutet“ (ebd., S. 302). Die Topographie von Rondell und Poetensteig wiederholt die Spaltung des Sees in Oberfläche und Tiefe: dem Vorbeigehen am Problem entspricht die Scheu davor, die die Tiefe bedeckende Eisdecke aufzuhacken. Die Oberfläche der Gespräche wäre jedoch allenfalls eine dünne Eisschicht zu nennen, so präsent ist die Gefahr des Einbrechens. 63 Erich Meuthen, „Poesie des Neben-Sächlichen. Über Fontanes Stechlin und die Kunst der Rede“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 147-170, hier S. 165.

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bei Fontane vielmehr als polierte Oberfläche einer abgründigen Sprachstruktur“64. Auch Meuthen geht es also um eine vertikale Struktur der Bedeutung: Der Abgrund tut sich immer dann auf, wenn die Gespräche zu entgleiten drohen, den falschen Ton treffen oder heikle Fragen berühren, sodass man sich an Zitaten und Redensarten geradezu festhalten muss.65 Doch mit den Zitaten in der Konversation verhält es sich wie mit den intertextuellen Bezügen des Romans: sie werden falsch zitiert oder ungenau erinnert, Namen werden verwechselt oder sie werden an unpassenden Situationen eingesetzt,66 womit sie selbst einen (oft unfreiwilligen) Bedeutungsüberschuss transportieren, der die Gespräche aus dem Tritt bringt. Die Gespräche bilden das Pendant zur Eisschicht über dem See, der verbildlicht, wovon bezüglich der Konversation nur metaphorisch gesprochen werden kann: von der Oberflächlichkeit des Geplauders nämlich, das, so wie das Eis des Sees, keine Nachrichten aus der Tiefe zulässt, das zu verhindern scheint, dass Tieferliegendes – was das sein mag, benennt auch Meuthen nicht – zu Wort kommt. Wie das Eis den See, so scheinen die Gespräche einen Bereich des Nichtgesagten zu bedecken; das lassen sie zumindest immer wieder durchblicken. Durch Anspielungen ist ,oberflächlich‘ präsent, was die Regeln der Konversation ganz auszusprechen verbieten. Doch worin der ,Subtext‘ dieser Gespräche eigentlich besteht, das können auch die oben zitierten Tiefeninterpretationen zu Fontane nicht konzise erklären, wenn sie auch zweifellos interessante Einzelperspektiven auf den Text eröffnen. Doch ob die Tiefe unter Oberfläche nun einen Bereich der verdrängten Sexualität oder der Fantastik darstellt oder das Reservoir an Prätexten bezeichnet, aus dem die Figuren und Geschichten sich speisen, darum kreisen die Gespräche der Protagonisten immer wieder selbst. Sie sind es zuallererst, die verschiedene Erwartungen in die Tiefe projizieren und den Bereich unter der Oberfläche mit Andeutungen füllen. Aufdecken

64 Meuthen, Poesie des Neben-Sächlichen, S. 165. 65 Vgl. ebd., S. 149: „Die Redensart (bzw. ‚Art zu reden‘) gewährt seinen Protagonisten einen letzten Halt. Sie erscheint als Medium eines identitätsbildenden Prozesses, in dem sich eine tief verunsicherte Gesellschaft stilisiert und ihre Schwäche überspielt: in dem sie sich von der eigenen Wirklichkeit zu überzeugen bzw. zu sich selbst zu überreden sucht.“ 66 Siehe den Zitatkatalog, den Bettina Plett (Kunst der Allusion) für den Stechlin erstellt hat, S. 414-423.

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zu wollen, was damit gemeint sein könnte, heißt, der Figurenperspektive des Romans verhaftet zu bleiben. Die Perspektive des Romans ist eine andere: es geht nicht darum, was in der Tiefe liegt, sondern um das zugrundeliegende Strukturmoment, um die Konstruktion der Tiefe, um den Mechanismus, der den Leser zur Suche nach dem ,Subtext‘ veranlasst. Es ist das Funktionsprinzip der Tiefensuggestion, das Fontane mit seinem See darstellt. Der Stechlin gibt, wie Blumenberg bemerkt hat, das „Diagramm“ der Gespräche: Mit seiner Spaltung in Oberfläche und Tiefe stellt der Stechlinsee das Strukturmodell für das die Romanseiten füllende Geplauder dar. Im Bild des Sees reflektiert der Roman die Konversation als textuelle Oberfläche, die wie der See eine Tiefendimension zu haben vorgibt. Mit der Verdopplung der Struktur der Gespräche durch den See aber werden diese beobachtbar. Es ist ihr Konstruktionsprinzip, das Fontane mit dem Stechlin ausstellt, und mit ihnen vielleicht das poetologische Prinzip des realistischen Erzählens selbst. Der Bereich unter der Oberfläche des Eises wird im Roman gefüllt durch die Zuschreibungen der Protagonisten. Und jenseits der Zuschreibungen bleibt nicht viel, was die Tiefe des Stechlin ausmacht: Im Vergleich mit der Charakterisierung des Sees in den Wanderungen in der Mark Brandenburg hat Fontane, wie oben dargelegt, die anthropomorphen Züge des Stechlin im Roman stark zurückgenommen. Der rote Hahn ist kein Zeichen aus der Tiefe des Sees selbst, das an die Oberfläche gelangte, sondern er vermeldet Ereignisse, die in der Ferne stattfinden. Erwin Kobel hat auf eine Stelle aus Kierkegaards Entweder-oder hingewiesen, in der dieses spezifische Verhältnis von Oberfläche und Tiefe verhandelt wird:67 „Das Äußere ist dann wohl Gegenstand unserer Beobachtung, aber nicht unseres Interesses“, heißt es in der ersten deutschen Kierkegaard-Übersetzung von 1885, die Fontane vermutlich benutzt hat: „So sitzt der Fischer und lässt unverwandt seinen Blick auf der Wasserflut ruhen; diese interessiert ihn aber

67 Erwin Kobel, „Symbol oder Symptom? Überlegungen zum Stechlinsee“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2007, S. 225-260. Der Bedeutung Kierkegaards für Fontane ist Kobel in mehreren Studien nachgegangen. Siehe Erwin Kobel, „Theodor Fontane. Ein Kierkegaard-Leser?“ In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 255-287; ders., „Die Angst der Effi Briest. Zur möglichen Kierkegaard-Rezeption Fontanes“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1994, S. 254-288.

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nicht im mindesten, sondern nur, was sich im tiefen Grunde des Wassers regen mag. Das Äußere hat daher zwar Bedeutung für uns, aber nicht als Ausdruck des Innern, sondern nur als telegraphische Nachricht, dass in der Tiefe drunten sich etwas verbirgt.“68 So auffällig die Parallelen zwischen Kierkegaard und Fontane auch sein mögen – hier sind es die Unterschiede, die interessieren. Im Vergleich wird noch deutlicher, wie Fontane das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe konzipiert: Denn geht es bei Kierkegaard um ein Verhältnis von Innerem und Äußerem, das nicht physiognomisch gedacht wird, so treibt Fontane die Spaltung von Oberfläche und Tiefe noch weiter: anders als bei Kierkegaard stiftet auch die Telegraphie bei ihm keine Beziehung zwischen Tiefe und Oberfläche. Der rote Hahn ist nicht Symptom einer verborgenen Tiefe, sondern Signal, dass sich irgendwo in der Ferne etwas tut, ein Zeichen der internationalen Vernetzung des Stechlin. Die Tiefe des Sees erweist sich als Knotenpunkt eines telegraphischen Kabelsystems. Dieses telegraphische Leitungsnetz ist das Bild, das sich im Roman mit der Tiefe verbindet, und nicht das Reservoir an Subtexten. Geht man von der Bildlichkeit aus, die der Roman selbst entwirft, so entspricht die Dimension der Anspielungen und Verweise weniger einem Sub- als einem Intertext – ein Begriff, der die räumliche Vorstellung einer horizontalen Textzu-Text-Beziehung nahelegt. Die Kommunikationsstruktur des Romans ist die Fläche – auch und gerade in der Tiefe. Was das konkret heißt, wird beispielsweise am Umgang Fontanes mit dem Motiv der Melusine deutlich: Sie entstammt, wie oben dargelegt, dem Mythos – es sind aber auch die romantischen Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts von Tieck, Fouqué, Goethe und Andersen, die Fontane aufgreift und die Melusine mit einer Nixe und Seejungfrau assoziieren lassen.69 Die

68 Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Zitiert nach Kobel, Symbol oder Symptom, S. 231f. 69 Vgl. zur Geschichte des Melusinenmotivs u.a. Volker Mertens, „Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert“. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota u.a., Tübingen 1992, S. 201-231; Claudia Steinkämper, Melusine – vom Schlangenweib zur ‚Beauté mit dem Fischschwanz‘. Geschichte einer literarischen Aneignung. Göttingen 2007; Andreas Kraß, Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a.M. 2010.

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Ehe Melusines mit dem Grafen Ghiberti ist zu Erzählbeginn bereits getrennt. Ein nicht näher benannter Tabubruch auf der Hochzeitsreise war Anlass zur Scheidung. Das Beziehungsdreieck, das Fouqué in seiner Undine (1811) einführte (der Ritter Huldbrand steht hier zwischen Undine und Bertalda), wird bei Fontane ebenfalls angespielt – doch die Entscheidung Woldemars gegen Melusine und für die blasse Armgard geht konfliktfrei vonstatten. Das eigentliche Thema der spätmittelalterlichen Melusinentexte, von denen im deutschen Sprachraum vor allem Thüring von Ringoltingens Melusine (1456) einflussreich war, ist das Thema der Genealogie und des Ursprungs. Mehrere Adelsgeschlechter beanspruchten die Melusine als ihren Spitzenahn – die Figur hatte wohl die Funktion, einen aparten, weil anderweltlichen Ursprung innerhalb einer Geschlechterreihe zu setzen.70 Auch im Stechlin ist die Melusinenthematik mit genealogischen Fragestellungen verbunden, die sich aber, zumindest was Melusine von Barby betrifft, nicht auf die Neugründung eines Adelsgeschlechts richten, sondern im Gegenteil: auf das Ende eines solchen. Die geschiedene Melusine steht zusammen mit ihrer Schwester Armgard und deren Mann Woldemar von Stechlin (deren Ehe, wie am Ende des Romans aus Andeutungen hervorgeht, keine Kinder erwarten lässt)71 am genealogischen Endpunkt zweier Familien. Und diese Geschichte des Endes adliger Familien wird im Stechlin verknüpft mit dem Hintergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes des Adels. Diesem wird im Roman aber vielleicht auch deshalb ohne viel Wehmut entgegengesehen, weil der Stechlin dennoch einen Gründungsmythos erzählt: allerdings ist der Neuanfang von Melusine auf eine andere Figur des Romans verschoben: auf Agnes, die Enkeltochter der Buschen, die Dubslav kurz vor seinem Tod zu sich ins Haus nimmt.72 Sie ist, wie aus den Anspielungen Adelheids hervorgeht, die uneheliche

70 Vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. 71 So ließe sich Melusines Schlusszitat deuten: „es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.“ (FW I/5, S. 388) In einem Entwurf Fontanes heißt es im gleichen Brief: „Ich erfahre, daß meine Schwester in ein Bad soll“ (FW I/5, S. 440), was, wie auch in Effi Briest, um 1900 als übliche Kurbehandlung unerwünschter Kinderlosigkeit galt. 72 Die folgenden Überlegungen basieren auf einem Hinweis meiner Doktormutter Inka Mülder-Bach, der ich entscheidende Anregungen verdanke.

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Tochter Dubslavs: „Wie kommst du zu dem Kind?“, fragt sie ihren Bruder, „Da kann sich Woldemar freuen und seine Frau auch, die so was ‚Unberührtes‘ hat. Und Gräfin Melusine! Na, die wird sich wohl auch freun. Und die darf auch. [...] Der Klapperstorch hat es dir wohl von der grünen Wiese gebracht und natürlich auch gleich für die roten Beine gesorgt.“ (FW I/5, S. 352) Agnes, die schon bei ihrem ersten Auftritt im Roman als Epiphanie erscheint („Das Kind, ein Mädchen, mochte zehn Jahre sein, und das Licht fiel so, daß das blonde wirre Haar wie leuchtend um des Kindes Kopf stand“, FW I/5, S. 226), wirkt wie eine Verheißung von Zukunft. Wie die Melusinen in den meisten Varianten der Sage taucht sie aus dem Wald auf. Mit ihren roten Strümpfen steht sie für eine neue Zeit der Revolution und des gesellschaftlichen Umbruchs: Bei der scharfsichtigen Adelheid erregen diese roten Strümpfe deshalb Missfallen, „weil sie ein Zeichen sind“ (FW I/5, S. 352), „von Ungehörigkeit und Verkehrtheit“ und „davon, daß alle Vernunft aus der Welt ist und alle gesellschaftliche Scheidung immer mehr aufhört“ (ebd.). Sie sind das Pendant des Fischschwanzes der Melusine, ein anderweltliches Zeichen, das nun den Beginn einer neuen, revolutionären Genealogie markiert: „,Ich aber wiederhole dir‘“, sagt Adelheid, „,diese roten Strümpfe, die sind ein Zeichen, eine hochgehaltene Fahne.‘ ,Strümpfe werden aber nicht hochgehalten.‘ ,Noch nicht, aber das kann ja noch kommen. Und das ist dann die richtige Revolution, die Revolution in der Sitte – das, was sie jetzt das ,Letzte‘ nennen.“ (FW I/5, S. 353)

Während Melusine sich dagegen sträubt, den See aufhacken zu lassen, um das mythische Potential der Melusinensage nicht ans Tageslicht kommen zu lassen, entfaltet dieses an ganz anderer Stelle im Roman seine Wirkung. Fontane verschiebt es von Melusine auf Agnes. Die Metaphorik der literarischen Anspielung ist damit nicht das unter der Oberfläche versteckte Zitat, sondern die Verschiebung auf Ebene des Figurenpersonals. Die Kommunikationsstruktur der Intertextualität entspricht dem telegraphisch vernetzten See, dessen Nachrichten aus der Tiefe eigentlich aus der Ferne kommen. Mit dem See und seiner Spaltung in Oberfläche und Tiefe zitiert Fontane ein Modell des Bedeutens, an das er selbst nicht mehr glaubt. Vielmehr stellt er es in seiner Funktionsweise aus und beobachtet sein Scheitern. Den Glauben an die Tiefe überlässt er den Figuren des Romans. Er bietet einen

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enormen narrativen Aufwand und verschiedene Perspektiven auf, um überhaupt noch eine Tiefe suggerieren zu können. Doch die vernetzte Tiefe des Stechlin ist nichts anderes als eine Verdopplung der Oberfläche. Die Richtung der Kommunikation ist nicht mehr die von der Tiefe an die Oberfläche (der rote Hahn), sondern die flächenhafte Übertragung, längs der Telegraphennetze und Leitungen. Joseph Vogl hat am Beispiel von Cécile Fontanes Verfahren als „telematische Erzählweise“ beschrieben, „die auf die Verkehrsrevolution des 19. Jahrhunderts mit dem Einbruch eines Übertragungsgeschehens reagiert“73. Während das Geschehen in Cécile, wie Vogl darlegt, ständig durch ein Vermittlungsgeschehen begleitet und irritiert wird, Übertragung und Geschehen gleichermaßen ereignishaft werden und die nervöse Titelfigur Cécile selbst zum Organ der Übertragung wird, so wird diese Erzählweise im Stechlin noch einmal gegen ein anderes Erzählmodell ausgespielt: ein Erzählen, das auf der Suggestion von Tiefe und Bedeutung beruht. Dieses wird mit dem Bild des tiefen Stechlin zitiert, das sich als Trugbild erweist. Die Tiefensuggestion ist auch das Prinzip der Gespräche: die Kunst der Anspielung, das verdeckte Zitat, der doppelbödige Witz – was die Figuren des Romans in der Konversation zelebrieren, wird durch die ständigen Fehler, die dabei unterlaufen, als ein Spiel ohne Einsatz entlarvt. Nicht auf was ein Zitat genau anspielt, welche Bedeutung eine Redensart hat, ist wichtig, sondern dass man in jeder Situation ein Zitat parat hat und daran anschließen kann. Während also die Forschung nach der Tiefe unter der Oberfläche sucht, ohne recht fündig zu werden, findet der eigentliche narrative Aufwand des Textes eher horizontal statt. Es bringt daher nichts, das Eis interpretatorisch aufhacken zu wollen, das den See überfriert und damit eine feste Grenze im Roman etabliert. Denn die Tiefe steht und fällt mit ihrer Grenze. Und wenn die Transgression einer Grenze zwischen zwei Teilräumen eines Textes, wie Lotman es beschrieben hat, erst die Ereignishaftigkeit dieses Textes ausmacht, so ist der Stechlin eben ein sujetloser Text.74 Fontane hat diese Sujetlosigkeit de-

73 Joseph Vogl, „Telephon nach Java: Fontane“. In: Stephan Braese u. AnneKathrin Reulecke (Hg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Berlin 2010, S. 117-128, hier S. 126f. 74 Siehe Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. München 41993, S. 329340, insbesondere S. 332f. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Warning, Flaubert und Fontane, S. 227.

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zidiert begrüßt: „Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen oder Überraschungen findet sich nichts“, schrieb er im Entwurf eines Briefes an den Verleger Adolf Hoffmann über den Stechlin.75 Was in früheren Romanen Fontanes angelegt ist, die allmähliche Zurücknahme der Geschichte, das Zurückdrängen des „Was“ zugunsten des „Wie“ und die Suche nach dem Roman ohne Inhalt,76 das hat er in seinem letzten Roman im Bild des zugefrorenen und schneebedeckten Sees inszeniert. Der Stechlin ist ein Metatext, der ein Konstruktionsprinzip ausstellt. Fontanes letzter Roman, der gleichzeitig einer der letzten Roman des bürgerlichen Realismus ist, reflektiert damit ein Erzählprinzip, das in der nun zu Ende gehenden Literaturepoche Gültigkeit hatte: ein Erzählen, das auf der Suggestion von Sinn und tieferer Bedeutung beruht. Die Tiefe des Sees im Stechlin wird als ein reines Produkt der Zuschreibung, des Gerüchts und der Sage dargestellt, während nur seine weiße Oberfläche konkret ist. Jenseits der Zuschreibungen der Figuren und der von ihnen geweckten Erwartungen an seine Tiefe ist das Phantasma des Romans nichts anderes als die schneebedeckte Eisfläche des Stechlin als das Medium, auf dem der Text ein Spiel aller intertextuellen Verweise, Prä- und Subtexte inszeniert. Die vielstrapazierte Rede vom leeren Zentrum ist hier einmal wirklich gerechtfertigt. Die Grundlage des Erzählens, auf die Fontane zurückkommt, ist die weiße Seite, auf der sich das Geschehen entfalten kann, das unbeschriebene Blatt als eine Oberfläche, auf der eine Tiefenillusion erst erzeugt wird, eine frei über die literarische Tradition in Anspielungen und Zitaten verfügende tabula rasa.

75 Fontane, Entwurf eines Briefes an Adolf Hoffmann im Mai/ Juni 1897. Zitiert nach: FW I/5, Anhang, S. 420. 76 Über seinen Roman Die Poggenpuhls schrieb Fontane im Brief an Siegmund Schott, es sei eigentlich „kein Roman“ und habe „keinen Inhalt“. (Fontane, Brief an Siegmund Schott vom 14. Februar 1897. Zitiert nach: FW I/4, Anhang, S. 825). Vgl. dazu Inka Mülder-Bach, „,Verjährung ist [...] etwas Prosaisches.‘ Effi Briest und das Gespenst der Geschichte.“ In: DVjS 4/2009, S. 619-642, hier S. 641f.

Schluss

Die Helden des bürgerlichen Realismus tauchen nicht mehr auf den Grund des Meeres, sie meiden Höhlen und Bergwerke, und zugefrorene Seen lassen sie vorsichtshalber unangetastet. Auf sie trifft zu, was Nietzsche einmal über die Griechen gesagt hat: sie wären „oberflächlich – aus Tiefe!“ 1 Denn die realistischen Helden halten sich nur deshalb an die Oberfläche und scheuen sich vor der Tiefe, um weiter an sie glauben (machen) zu können. Während um 1800 Schiller in seiner Ballade Der Taucher die Tiefe zu einer ästhetischen Kategorie erhebt, seinen Taucher in den Schlund der Charybdis springen lässt und sich durch die Unmöglichkeit dieses Unterfangens der Tiefe seiner Kunst versichert, so entdeckt die Literatur des 19. Jahrhunderts die Oberfläche als den Ort der Erzeugung einer Tiefenillusion und reflektiert deren mediale Verfahren. Bereits die spätromantischen Texte von E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine denken die Dimension der Tiefe als Ergebnis einer Projektion von Psychischem nach außen. Während in Hoffmanns Bergwerken zu Falun diese Projektion zur Auflösung aller Raumgrenzen führt, die deren symbolische Besetzung mit ins Chaos stürzen lässt, ironisiert Heine in seinen Nordsee-Gedichten, vor allem im Seegespenst, den romantischen Drang zur Tiefenprojektion deutlich. Die Tiefe noch aufrichtig als Dimension von Wahrheit und Bedeutung zu feiern, das scheint im späteren 19. Jahrhundert dann vollends lächerlich zu sein. 1886 veröffentlichte ein Autor, der sich Deutobold Symbolizetti

1

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [KSA]. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 3, München 1988, S. 352.

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Allegoriowitsch Mystifizinsky nennt, einen dritten Teil zu Goethes Faust: Faust, Der Tragödie Dritter Theil.2 Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Autor und Kritiker Friedrich Theodor Vischer, der seine jahrzehntelange wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe und dessen Faust hier als Parodie weiterführte.3 Der Drang in die Tiefe wird so durch „Pater Profundus“ personifiziert, der in überzeichneter Form vertritt, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit allem Ernst praktiziert werden kann: „Pater Profundus: Dem Oberflächlichen blieb stets ich fern, drang dem Hauptsächlichen bis in den Kern, ich haßte stets das Leere, Seichte, Schiefe, heut aber schöpf ich gründlich aus der Tiefe. Falera, Juchhei!“4

„Falera, Juchhei“ – dem „Hauptsächlichen“ ernsthaft „bis in den Kern“ dringen zu wollen, das wirkt Ende des 19. Jahrhunderts komisch. Das hängt aber auch damit zusammen, dass sich die Semantik der Tiefe inzwischen stark gewandelt hat: In einer Parodie auf Schillers Taucher von 1880 fordert ein Professor Häckel (eine Anspielung auf den Biologen und Zeichner von Tiefseelebewesen Ernst Haeckel) seine Studenten auf, in die Tiefe des Meeres zu springen, um den „Bathybius“, das Urlebewesen, zu heben.5

2

[Friedrich Theodor Vischer], Faust. Der Tragödie Dritter Theil. Treu im Geiste des zweiten Theils des Götheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky [2., umgearbeitete und vermehrte Aufl. Tübingen 1886] In: Ders., Dichterische Werke. Vierter Band: Dramatisches. Leipzig 1917. Eine erste, mir nicht zugängliche Ausgabe erschien bereits 1862.

3

Vgl. dazu Alexander Reck, Friedrich Theodor Vischers Parodien auf Goethes Faust. Heidelberg 2007.

4

[Vischer], Faust, Der Tragödie Dritter Theil, S. 144f.

5

1868 hatte der Biologe Thomas Henry Huxley Bodenproben aus dem Atlantik untersucht, die zehn Jahre zuvor tatsächlich bei der Verlegung des transatlanti-

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Während die Gelehrten natürlich zagend auf der Klippe stehen, taucht der mutige Taucher Jules (eine Anspielung auf Jules Verne und seinen Roman 20 000 Meilen unter den Meeren) 6 auf. Jules wagt den gefährlichen Sprung, trifft in der Tiefe allerdings, wie er nach seiner Rückkehr berichtet, auf etwas ganz anderes als den Bathybius: „Und schaudernd dacht’ ich’s, da kroch’s heran, Ein Ungethüm, farblos und weich; Beweglich ward es rings auf dem Plan, Regte tausend Pseudopodien zugleich, Es schien – ich sah es mit Zittern und Beben – Der Meeresgrund selber sich zu beleben. Und mitten durch das gewaltige Ding Zog wie ein Rückengrat sich, An dem es in wirrem Genetze hing, Ein dunkelgefärbter, endloser Strich; Da plötzlich ward ich’s zu fassen kapabel: „Das ist das englisch-atlantische Kabel!“7

schen Kabels entnommen worden waren. Er fand eine galertartige Masse, die er als den Urschleim identifizierte, mit dem Ernst Haeckel zufolge der Meeresboden überzogen sei und aus dem primitive Lebensformen entstanden seien. Haeckel zu Ehren benannte Huxley die Masse als „Bathybius Haeckelii“. Es folgten weitere Funde von Bathybius an verschiedenen Stellen des Ozeans. Wenige Jahre später fand man dann allerdings heraus, dass der Bathybius nichts anderes war als ausgefälltes Kalziumsulfat, das durch die Konservierung der Bodenproben mit Alkohol entstanden war. 6

Erschienen 1869/70 unter dem Originaltitel Vingt mille lieues sous les mers. Die zwanzigtausend Meilen werden übrigens ebenfalls nicht in die Tiefe gemessen – es handelt sich um eine Längenangabe.

7

[Anonym], Zitiert nach: Christian Grawe (Hg.), Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt? Schiller-Parodien aus zwei Jahrhunderten. Stuttgart 1990, S. 180-185, hier S. 181f.

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Im Tiefsten der Natur liegt nicht der Ursprung des Lebens, sondern die neueste Errungenschaft der technischen Moderne. Der Mensch ist schon längst am einst unzugänglichen Grunde des Meeres gewesen und hat dort seine Kabel hinterlassen. Als Ort einer horizontal strukturierten Informationsübertragung hat die Tiefe, wie in Fontanes Stechlin, ihre Unergründlichkeit verloren. Sie ist kein Ort des Verborgenen und Geheimen mehr, sondern partizipiert an der Struktur der Oberfläche, deren Verdopplung in der Tiefe sie ist. Die Dimension der Tiefe wird damit jedoch keineswegs verabschiedet: Selbst wenn die dominante Form der Informationsübertragung die Querverbindung sein sollte, werden deren Kabel noch in der Tiefe verlegt. Die Epoche hält trotz allem am Versprechen der Tiefe fest, wenn auch die Verhältnisse von (Ober-)fläche und Tiefe komplexer werden. In den literarischen Beispielen, die in dieser Arbeit diskutiert wurden, ist es ausgerechnet die Oberfläche, welche die Dimension der Tiefe rettet. Gerade die Literaturepoche des bürgerlichen Realismus, die sich die Abbildung des Realen auf die Fahnen geschrieben hat, betonte gleichzeitig immer auch, dass es dabei nicht um die platte Wiedergabe des Gegebenen gehe. Keine Kopie der Welt wollte man bieten, sondern dieser einen tieferen Sinn entlocken, ihren Kern treffen. Die Texte halten ein surplus an Sinn bereit, das sie dem Leser gleichzeitig vorenthalten und so die Suche nach der tieferen Bedeutung, dem Text unter dem Text selbst in Gang setzen. Man blickt auf die Oberfläche als eine Grenze, die eine tiefere Dimension verbirgt. Die literarischen Beispiele dieser Arbeit transportieren diesen Anspruch durch eine Metaphorik von Tiefe, die immer auch eine metapoetische Funktion hat und auf einen tieferen, verdeckten, eigentlichen Sinn verweist. Tiefe, vor allem die vertikale Tiefe, ist im Realismus also zwar ein Raum, der in der erzählten Welt kaum mehr erschlossen wird – gerade dadurch eröffnet sich aber ein virtueller Raum der Vermutung, der Andeutung oder Verheißung. Die Texte geben ein Versprechen von Tiefe, die unter der Textoberfläche verborgen scheint und erzeugen eine Erwartungshaltung: darauf, dass „da unten“, in der Tiefe, etwas sein müsse. In den Novellen von Adalbert Stifter und Theodor Storm erscheint Tiefe zunächst noch, wie in den spätromantischen Beispielen von Hoffmann und Heine, als Projektion, die nur ihren Richtungspfeil geändert hat: statt nach unten und innen richtet sich der Blick horizontal in eine Tiefe der

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Vergangenheit. Im Hochwald wie auch in Immensee trifft der Blick jedoch jeweils auf die dunkle Wasseroberfläche eines Sees, die er nicht durchdringen kann, hinter bzw. unter der aber ein im Dunkeln bleibender Bereich einer verborgenen Tiefe vermutet wird, der auf geheimnisvolle Weise das Geschehen zu treiben scheint. Gerade Stifters Hochwald, in dem die Schwierigkeit der Deutung von Zeichen ständig thematisiert wird, etabliert damit einen Bereich entzogener Bedeutung. Auch der Nicola Pesce von Conrad Ferdinand Meyer schwimmt nicht einfach an der Wasseroberfläche, sondern ,über Todestiefen‘. Seine kühle Lebensweise kann er nur deshalb als heroischen Streit mit den Wellen beschreiben, weil er unter sich einen überwundenen Bereich der Gefahr, der Vergangenheit und der literarischen Tradition weiß. In der Tiefe situiert sich die Vorgeschichte des Schwimmers, über die und in Abgrenzung zu der er sich definiert. Das Sonett kann so gedeutet werden als Reflexion auf die Situation des Schriftstellers im 19. Jahrhundert, der einer übermächtigen literarischen Tradition gegenübersteht und sich gegenüber dieser an der Oberfläche zu behaupten versucht. Fontane schließlich, am Ende des Jahrhunderts, beobachtet das Verfahren der Tiefensuggestion selbst. Im Stechlin reflektiert er ,Tiefe‘ als Ergebnis einer Erwartungshaltung und überträgt diese auf die Figuren seines Romans. Während die Figuren unter der dicken Eisschicht des Sees Stechlin eine vielgestaltige Tiefendimension vermuten und auf deren Äußerung warten, verhält sich der See demgegenüber völlig gleichgültig und ruhig. Was der See Stechlin, zugefroren und von einer weißen Schneeschicht bedeckt, zur Schau stellt, ist die weiße Seite als Voraussetzung jeder literarischen Erzeugung einer Illusion von Tiefe. Bei den hier verhandelten literarischen Beispielen handelt es sich um hochgradig selbstreflexive Texte, die die Suggestion eines Bedeutungsüberschusses in einer Metaphorik der Tiefe reflektieren. Während aber etwa Stifter durch die Thematisierung der Unlesbarkeit der Zeichen auf Tiefe als einen Bereich verborgenen Sinns verweist, stellt Fontane das Verfahren der Tiefensuggestion offen aus – notwendigerweise auf Kosten dieser Dimension selbst. Von der Feier der Wahrheit in der Tiefe verschiebt sich das Interesse auf deren mediale Erzeugung. Und das heißt auch: hin zur Oberfläche als dem Ort, der der Medialität der Literatur selbst entspricht, zur weißen Seite (Fontane), auf der das Spiel der Bedeutung inszeniert wird.

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Der Ort, an dem eine Illusion der Tiefe erzeugt wird, ein Versprechen von Bedeutung gegeben wird oder der Entzug des Eigentlichen demonstriert wird, ist im späteren 19. Jahrhundert die Oberfläche. Damit liefern die tiefenorientierten Texte des Realismus selbst die Vorraussetzungen für die ungeheuere Aufwertung, die die Kategorie der Oberfläche im 20. Jahrhundert erfahren wird. Ganz in dem Sinne, in dem es Hugo von Hofmannsthal 1921 im Buch der Freunde schrieb: „Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.“8

8

Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde. In: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III. Hg. von Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert. Frankfurt a.M. 1980, S. 268.

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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