203 82 31MB
German Pages 357 [360] Year 1990
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit
Herausgegeben von Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt und Friedrich Wolfzettel
Band 5
Hans-Jürgen Lüsebrink
Schrift, Buch und Lektüre in der französischsprachigen Literatur Afrikas Zur Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchlektüre in einem kulturellen Epochenumbruch der Neuzeit
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Für Claire L. lectrice assidue und Natalia L. lectrice en herbe
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lüsebrink, Hans-Jürgen: Schrift, Buch und Lektüre in der französischsprachigen Literatur Afrikas : zur Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchlektüre in einem kulturellen Epochenumbruch der Neuzeit / Hans-Jürgen Lüsebrink. Tübingen : Niemeyer, 1990 (Mimesis ; Bd. 5) Zugl.: Bayreuth, Univ., Habil.-Schr., 1986 NE: G T ISBN 3-484-55005-8
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. lede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Druckerei Maisch + Queck, 7016 Gerlingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist in den Jahren meiner Tätigkeit an der Universität Bayreuth entstanden und im November 1986 von der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Habilitationsschrift angenommen worden. Fragestellung, Vorgehensweise, vor allem jedoch das Bemühen um interdisziplinäre Ansätze und Problemlösungsversuche sind eng mit der Mitarbeit im Afrika-Schwerpunkt der Universität Bayreuth und im 1984 eingerichteten Sonderforschungsbereich 214 „Prozesse nationaler und kultureller Identität in Afrika" der DFG verbunden. Dem regelmäßigen, intensiven Gedankenaustausch mit Kollegen verschiedenster Disziplinen und dem vor allem seit der Einrichtung des Sonderforschungsbereiches regen Kontakt mit ausländischen Gastdozenten und -referenten verdankt die Arbeit entscheidende Impulse - ganz abgesehen von der materiellen Unterstützung, durch die mehrere Forschungsreisen nach Afrika sowie Archivaufenthalte in Paris, Aix-en-Provence und Mainz finanziert werden konnten. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang Herrn Ruppert, dem Sprecher des Sonderforschungsbereiches, sowie den Kollegen Herrn Abun-Nasr, Herrn Bader, Frau Fischer-Lichte, Herrn Reichmuth, Herrn Schlee, Herrn Sander und Frau Wanitzek für ihre Gesprächsbereitschaft, ihr Engagement und ihre fruchtbaren Hinweise zu methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten. In gleicher Weise möchte ich den afrikanischen Kollegen Herrn Diagne, Herrn Kassé, Herrn Kesteloot, Herrn Ndaw, Herrn Raphael Ndiaye, dem Leiter der öffentlichen Bibliotheken im Senegal, Théodore Ndiaye, dem Leiter der Universitätsbibliothek Dakar, Saliou Mbaye, dem Leiter des senegalesischen Nationalarchivs, sowie den Schriftstellern Boury Ndiaye, Amar Samb, Ibrahima Sali, Roger Dorsinville, Mamadou Traoré, Mariétou Mbaye, Henri Lopes, Seydou Traoré, Aminata Sow Fall und Dono Ly Sangaré danken, die durch ihre Diskussions- und Hilfsbereitschaft während meiner Forschungsaufenthalte in Dakar meine Arbeit unterstützt, gefördert und angeregt haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn János Riesz, der die Arbeit als Habilitationsschrift betreut, in zahlreichen Gesprächen kritisch kommentiert und durch zugleich engagiert-kritische und freundschaftliche Diskussionsbereitschaft vorangebracht hat. Herr Riesz hat es verstanden, am Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik sowie innerhalb des von ihm geleiteten Teilprojekts C 1 des SFB 214 ein wissenschaftliches Arbeits- und Diskussionsklima zu schaffen, das eine beständige, reizvolle und fruchtbare Herausforderung darstellte. Besonders Herrn Papa Samba Diop und Herrn Werner Glinga, dessen Habilitationsschrift über „Geschichte, Mythos und gesellschaftliches Ideal in der oralen und schriftlichen Literatur des Senegal" in der gleiV
chen Zeit wie die vorliegende Untersuchung entstand, sowie Herrn Anyinefa und Herrn Prinz, die am Lehrstuhl und innerhalb des Teilprojekts arbeiteten, sowie Herrn Björnson (Ohio State University), Herrn Oloukpona-Yinnon (Universität Lomé, Togo) und Herrn Amadou Koné (Universität Abidjan, Elfenbeinküste), die jeweils für längere Zeit als SFB-Gastdozenten am Lehrstuhl tätig waren, möchte ich in diesem Zusammenhang für ihre Gesprächsbereitschaft und vielfältige kritische Hinweise danken. Mein Dank gilt schließlich den Herausgebern der Reihe Mimesis für ihre Bereitschaft, die Arbeit in die Schriftenreihe aufzunehmen, und insbesondere Herrn Jurt für seine herausgeberische Betreuung. Das Buch möchte ich meiner Frau Ciaire und meiner Tochter Natalia widmen, die seine Entstehung aus nächster Nähe, mit Verständnis und Liebe, begleitet und unterstützt haben. Passau, im März 1989 H.-J. Lüsebrink
VI
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1.
Einleitung: Problematik, Frageperspektiven, Gegenstandsbereiche
V
1
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Schriftlichkeit/Schriftkultur Buchkultur/Buchlektüre Fragestellungen und methodische Konzepte Textcorpus
1 7 16 21
2.
Zur Wahrnehmung von Schriftlichkeit und Zivilisationsprozeß in der frühen westafrikanischen Literatur und Publizistik französischer Sprache: die Debatte der «Jeunesse évoluée» in den Zeitungen «Paris-Dakar» und «Dakar-Jeunes» (1935-1942) und ihre literarische Artikulation in fiktionalen Lebensläufen
24
2.1. Ausbau des Schulwesens und «Adaptation de l'enseignement» (1903-1930) 2.2. Die Debatte der «Jeunesse évoluée» in den Zeitungen «Paris-Dakar» (1935-1939) und «Dakar-Jeunes» (1942) 2.3. Literarische Umsetzungen: «Jeunesse évoluée» und kulturelle Sozialisation in fiktionalen Lebensläufen der frühen senegalesischen Literatur ( A . M . Diagne, O. Socé, A. Sadji) 2.4. Schlußfolgerungen: soziokulturelle Rahmenbedingungen des Zugangs zum Schreiben und Einschätzung von Schriftlichkeit und Buchkultur in der frühen westafrikanischen Literatur und Publizistik 3.
Autobiographisches Schreiben: Funktionen des Schreibens und Wahrnehmung von Schriftlichkeit und Buchlektüre in afrikanischen Autobiographien seit der Kolonialzeit
24 33
45
70
82
3.1. Paraliterarische Formen autobiographischen Schreibens 82 3.2. Autobiographien des .Aufstiegs zur Schriftkultur' (C. Laye, A. Samb, L. Sanduo, S. Traoré, O. Dia, Ν. G. M. Faye) 93 3.3. ,Die Wiederkehr des Verdrängten' - zur Kritik an Schriftlichkeit und Buchkultur in autobiographischen Texten (A. Loba, Β. Nanga, C.H.Kane) 107
VII
3.4. ,Erleben als Trauma - Schreiben als Kompensation'. Zur existentiellen Funktion von Lesen und Schreiben in autobiographischen Texten afrikanischer Autoren 117 3.5. Schlußfolgerungen: Existentielle Grundlagen und historischer Wandel der Wahrnehmung von Schriftlichkeit und Buchkultur in autobiographischen Lebensgeschichten 128 4.
Bernard B. Dadié - zur produktiven Rezeption kolonialer Buchkultur im literarischen und publizistischen Werk eines «Ponty»-Schülers 131
4.1. Biographische Voraussetzungen 4.2. Von der «Ecole William-Ponty» zur literarischen Wortergreifung: «Climbié» als autobiographische Aufarbeitung einer intellektuellen Bewußtwerdung 4.3. Intertextualität und Wirklichkeitserfahrung: «Un Nègre à Paris» (1959) 4.4. Lektürespuren und Leseerfahrungen im Werk Dadiés 5.
147 153
162 169 175 185 193
Henri Lopes - ein Paradigma für die Neueinschätzung von Schriftliteratur und Buchlektüre im postkolonialen Afrika 200
6.1. Biographische Voraussetzungen 6.2. Intertextualität: Textbezüge und Lektürespuren 6.3. Lesen: Leseerfahrungen und produktive Rezeption von Literatur in «Tribaliques», «La Nouvelle Romance» und «Sans Tam-Tam» 6.4. Schreiben: kulturelle Sozialisation und Zugänge zum Schreiben im Werk von Henri Lopes 6.5. Schlußfolgerungen: Zur Einschätzung von Schrift, Buch und Lektüre im Werk von Henri Lopes Vili
139
Ousmane Sembène - zur schriftliterarischen Wortergreifung eines Autodidakten 162
5.1. Biographische Voraussetzungen 5.2. Konstellationen der Wortergreifung': zur Bedeutung des Schreibens in «Le Docker Noir», «La Noire de . . . » und «Lettres de France» . . . 5.3. Schriftkultur und Formen passiv-imitativer Akkulturation: erzählerische Umsetzungen und darstellungsästhetische Kodierungen 5.4. Schreiben als Zukunftsentwurf: Schriftsteller und Journalisten als kulturelle Projektionsfiguren im Werk Ousmane Sembènes 5.5. Ousmane Sembène über den Stellenwert und die Funktion der Medien Schrift und Film 6.
131
200 206 214 223
229
7.
Schriftlichkeit und Buchkultur im institutionellen Diskurs
234
7.1. Literarischer Kanonwandel in den frankophonen Ländern Westafrikas (von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart) 234 7.2. Schriftlichkeit und Buchlektüre in den «Discours de distribution des prix» in Französisch-Westafrika (1927-1985) 242 7.3. «Le verbe au secours de l'écrit» - zur Wahrnehmung der sozialen Konsequenzen und kognitiven Implikationen von Schrift- und Buchkultur im institutionellen Diskurs 254 8.
Schlußfolgerungen: Zu einer Theorie der Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchkultur in kulturellen Umbruchperioden der Neuzeit . . 262
8.1. Zugänge zum Schreiben: zur Dynamik kolonialer Akkulturation . . . 262 8.2. Wahrnehmungsformen von Schriftlichkeit und Buchlektüre in der französischsprachigen afrikanischen Literatur 266 8.3. Intertextualität und Kanonwandel 274 Anhang
279
Schemata
279
Texte
287
Text n° 1: Charles Béart: «A propos d'une littérature indigène d'expression français» (1942) Text n°2: Hamadou Dia: «Littérature et préjugés» (1942) Text n°3: Bernard Dadié: «Composition française» (1933-1935) Text n°4: Alioune Diop: «Histoire d'un écolier noir (par lui-même)» (1931) Text n°5: (Anonym): « par Bakary Diallo, tirailleur» (1928) Text n° 6: Bernard Dadié: «Ce que m'a donné la France» (1950) Text n°7: Madior Diouf: «Discours d'usage. Lycée Malick Sy de Thiès. Palmarès de la Distribution Solennelle des Prix aux Elèves. Sous la Présidence d'Honneur de M. le Ministre de la Justice, Garde des Sceaux du Sénégal» (1966) Analyseraster. Quantitative Analyse der «Discours de distribution des prix» (Afrique Occidentale Française, 1927-1985)
308
Abkürzungsverzeichnis
310
287 292 294 297 301 303
304
IX
Bibliographie
311
1. 1.1. 1.2. 1.3.
311 311 312
Primärliteratur Archivquellen Literarische Primärtexte Publizistische Primärtexte (Zeitungsartikel, Rezensionen afrikanischer Autoren, Schriftstellerinterviews) 1.4. «Discours de distribution des prix» (Französisch-Westafrika, 19271985) (Textcorpus von Teil 7) 2. Sekundärliteratur 2.1. Werke und Aufsätze zur Literatur-und Kulturtheorie 2.2. Sekundärliteratur zu Einzelproblemen
324 330 330 332
Register 1. Namensregister 2. Sachregister
341 341 347
X
316
1. Einleitung: Problematik, Frageperspektiven, Gegenstandsbereiche 1.1. Schriftlichkeit/Schriftkultur Das postmoderne' Bewußtsein von der schwindenden Bedeutung der Schriftund Buchkultur, die der kanadische Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan 1962 in seinem provozierenden Werk The Gutenberg Galaxy (1962) auf die Formel vom „Ende des Buchzeitalters" brachte, hat in Öffentlichkeit und Wissenschaft das Interesse für ihre Entstehung, ihre Verlaufsformen und ihre Errungenschaften geweckt. Dieses neue Erkenntnisinteresse an der Genese und Struktur von Schrift- und Buchkultur belegt eine ganze Reihe neuer Fragestellungen und Forschungsfelder in den Geschichts-, Sozial- und Literaturwissenschaften. Forschungsgebiete wie die Buch- und Lesersoziologie, die historische Lektüreforschung und die Rezeptionsästhetik, die sich vor allem in Frankreich und der Bundesrepublik seit Beginn der siebziger Jahre entwickelt haben, 1 sind verknüpft mit einer neuen Sensibilität für die Geschichtlichkeit von Lektüreweisen und die historische Bedingtheit der okzidentalen Lesekultur. Der Forschungszweig der Bibliotheksgeschichte, der eine bis ins beginnende 19. Jahrhundert zurückreichende gelehrte Tradition aufweist, erfuhr durch die grundlegende Infragestellung der westlichen Buch- und Lesekultur als „Anachronismen einer postmodernen Welt"2 eine völlig neue Aktualität. Das engagierte (An-) „Schreiben gegen eine Welt voller Bilder" liegt nicht nur dem Selbstverständnis zeitgenössischer Schriftsteller wie Manfred Bieler, Heinrich Boll und Hans Magnus Enzensberger zugrunde, 3 sondern auch dem Wissenschaftsethos neuerer Forschungen zur anthropologischen Dimension 1
Vgl. hierzu beispielsweise die Sammelbände von Gerhard Köpf (Hg.): Rezeptionspragmatik. München, Fink, 1981; Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München, Fink, 1975, 2. Aufl. 1979 (UTB 303); Günter Berger (Hg.): Zur Geschichte von Buch und Leser im Frankreich des Ancien Régime. Beiträge zu einer empirischen Rezeptionsforschung. Rheinfelden, Schäuble, 1986 (Reihe Romanistik N.F. 2); sowie die zugleich informativen und kritischen Forschungsberichte von Rolf Reichardt: Zu einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Ein Essay. In: Francia, Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 5, 1977, S. 231-249; Siegfried Jüttner: Im Namen des Lesers. Zur Rezeptionsdebatte in der deutschen Romanistik (1965-1975). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F., Bd.29, 1979, H . l , S. 1-26; und Karlheinz Barck: Rezeptionsästhetik und soziale Funktion der Literatur. In: Weimarer Beiträge, H.7, 1985, S. 1131-1149.
2
Paul Raabe: Die Bibliothek als humane Anstalt betrachtet. Plädoyer für die Zukunft der Buchkultur. Stuttgart, Metzler, 1986, S. 62. Vgl. nacheinander Konrad Kurz: Schreiben gegen eine Welt voller Bilder. In: Rheinischer Merkur / Christ und Welt, Nr. 4, 18.1.1986, S. 19; Herbert Hoven: Die Lust am Lesen. Ein Gespräch mit Heinrich Boll. In: Die Zeit, Nr. 43, 18.10.1985, S. 49; Hans Magnus Enzensberger: Lob des Analphabeten. In: Die Zeit, Nr. 49, 29.11.1985, S.57-58.
3
1
d e s L e s e n s und Schreibens. Vor allem die A r b e i t e n d e s amerikanischen K o m munikationssoziologen Neil P o s t m a n und der A n t h r o p o l o g e n Michael C o l e , Sylvia Scribner und Patricia G r e e n f i e l d h a b e n - kontrastiv zur visuellen Kultur d e s Films, der Videoclips und d e s F e r n s e h e n s - das kognitive und intellektuelle Kreativitätspotential der Schrift- und Buchkultur h e r v o r g e h o b e n und in bewußter Frontstellung zu d e n T h e s e n M c L u h a n s a u f g e w e r t e t . 4 Neil P o s t m a n beispielsweise formulierte im A n s c h l u ß an seine U n t e r s u c h u n g e n über die kognitiven und sozio-kulturellen K o n s e q u e n z e n v o n skripturaler Buchkultur einerseits und visueller Fernsehkultur andererseits die T h e s e , daß die Fähigkeiten, Schlüsse zu ziehen, Verbindungen zwischen verschiedenen Argumenten herzustellen, Verallgemeinerungen, Abstraktionen herzustellen, Konzepte zu entwickeln, in Amerika, einer Kultur der Bilder, im Abnehmen begriffen ist ( . . . ) , da Bilder einfach nicht in der Lage sind zu solcher Übermittlung. 5 Zugleich erwuchs aus d e m B e w u ß t s e i n einer g r u n d l e g e n d e n B e d r o h u n g der neuzeitlichen Schrift- und Buchkultur das Bedürfnis, ihre historischen Entstehungsbedingungen aufzuarbeiten. Historische Fallstudien w i e die A r b e i t e n v o n J. A s s m a n n und W. Rosier zur altägyptischen und griechischen Schriftkultur, v o n H . U . G u m b r e c h t z u m Spätmittelalter, v o n E . L. Eisenstein, M. G i e s e c k e und N . Z. D a v i s zur R e n a i s s a n c e , v o n A . A s s m a n n , J. Quéniart und B . Schlieb e n - L a n g e z u m 18. Jahrhundert und zur Französischen R e v o l u t i o n 6 h a b e n j e n e 4
5
6
2
Vgl. Neil Postman: The Disappearance of Childhood. New York, Delacorte Press, 1982. Dt. Ausgabe unter dem Titel: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M., Fischer, 1983; Sylvia Scribner / Michael Cole: The Psychology of Literacy. Cambridge, Harvard U.P., 1981; Patricia M. Greenfield: Oral or Written Language: The Consequences for Cognitive Development in Africa, the United States and England. In: Language and Speech, 15, 1972, S. 169-178. Neil Postman: Zerstört ein Medium unsere Kultur? Neil Postman über die Macht des Fernsehens. Interview. In: Buch-Journal. Sondernummer zur Buchmesse 1985, n°5, 1985, S. 10-11, hier S. 10. Vgl.nacheinander Jan Assmann: Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten. In: Aleida und Jan Assmann / Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München, Fink, 1983, S. 64-93; Wolfgang Rosier: Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles. In: ibid., S. 109-122; Hans Ulrich Gumbrecht: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: ibid., S. 158-174; Elizabeth L. Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe. Cambridge, Cambridge U.P., 1979, 2 Bde., 3. Aufl. in 1 Bd. 1982; Michael Giesecke: ,Volkssprache' und Verschriftlichung des Lebens' im Spätmittelalter - am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg, Carl Winter, 1980, S. 39-70; Natalie Zemon Davis: Society and Culture in France. Eight Essays. Stanford, Stanford U.P., 1965, bes. Kap. 7: "Printing and the People", S. 189-226; Aleida Assmann: Schriftliche Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps. In: Assmann / Hardmeier, Schrift, S. 175-193; Brigitte Schlieben-Lange: Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der französischen Revolution. In: ibid., S. 194-212; Jean Quéniart: De l'oral à l'écrit. Les modalités d'une mutation. In: Histoire de l'Education, n°21, janvier 1984, S. 11-35.
kulturellen Übergangsepochen der europäischen Geschichte in den Blick gerückt, in denen sich durch die Entstehung und Verbreitung alphabetischer Schriftsysteme (Antike) und die Erfindung des Buchdrucks (Frühe Neuzeit) ein beschleunigter Wandel gesellschaftlicher Kommunikationsformen vollzog. Die europäische Literatur- und Kulturgeschichte, die bisher wesentlich als eine Geschichte schriftlicher Traditionen gesehen und geschrieben worden ist, die durch den ,Höhenkamm' großer Autoren und ,klassischer' Werke repräsentiert und zusammengehalten werden, erscheint aus dem Blickwinkel dieser Forschungen nunmehr bis ins 19. Jahrhundert hinein von dem Nebeneinander einer gesellschaftlich dominanten mündlichen und einer - nur einer Minderheit der Bevölkerung zugänglichen - schriftlichen Kultur geprägt. Die Geschichte vergangener Epochen wie der Französischen Revolution ist vor dem Hintergrund der Erkenntnis neu zu schreiben, daß in ihnen „orale Traditionsformen, deren Vorhandensein neben der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Schriftkultur in den vorhergehenden 1000 Jahren selbstverständlich ist (...), eine entscheidende historische Bedeutung haben, um anschließend der Partialisierung, der negativen Bewertung und der historischen Archivierung anheimzufallen." 7 Historische Fallstudien wie die Pionierarbeit Carlo Ginzburgs über die Vorstellungswelt eines friaulischen Müllers des ausgehenden 16. Jahrhunderts oder die Untersuchungen des französischen Ethnohistorikers Daniel Fabre über die Kultur der Pyrenäen-Bauern im 19. Jahrhundert 8 zeigten, daß in dominant oralen Kulturen Buch und Schrift in völlig anderer Weise wahrgenommen und gelesen werden als in ,schriftgesättigten' Gesellschaften wie den westlichen Industriestaaten des 20. Jahrhunderts mit ihrer hohen Alphabetisierungsquote und ihrer Überproduktion an Druckerzeugnissen. C. Ginzburg beispielsweise wies überzeugend nach, daß der - von der katholischen Kirche als „häretisch" verurteilte - Lesestil des Müllers Menocchio in entscheidender Weise geprägt war von der mündlichen Kultur des friaulischen Bauerntums um 1600. Ihr entstammte das Lektüreraster, das der Autodidakt Domenico Scandella, genannt Menocchio, benutzte, um die wenigen Bücher, die er selbst besaß oder auslieh, zu verstehen und auf eigenständige Art geistig zu verarbeiten - ein ,Chiffrenschlüssel der Lektüre' ("chiave di lettura"), 9 der ihn auf religiösem Gebiet zwangsläufig in zunehmenden Widerspruch zur offiziellen Kirchendoktrin bringen mußte. Die afrikanischen Kulturen des 20. Jahrhunderts bieten für die umrissenen Fragehorizonte der Genese, Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchlektüre einen Gegenstandsbereich, der gegenüber historisch entfern7 8
9
Schlieben-Lange, Schriftlichkeit, S. 194. Carlo Ginzburg: Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del '500. Torino, Einaudi, 1976 (Einaudi Paperbacks 65), bes. Kap. 12 bis 16 ( = S. 34-41); Daniel Fabre: Le livre et sa magie. Les liseurs dans les sociétés pyrénéennes aux XIXe et XXe siècles. In: Roger Chartier (Hg.): Pratiques de la lecture. Marseille, Rivages, 1985, S. 181-206. Ginzburg, Formaggio, S. 40.
3
ten Epochen die Vorteile der Aktualität und Unmittelbarkeit besitzt. In keinem Kontinent läßt sich der Übergang von der mündlichen zur Schrift- und Buchkultur, der in sozial breitenwirksamer Weise in Europa während der Frühen Neuzeit (zwischen dem 15. und dem beginnenden 19. Jahrhundert) und in Lateinamerika im 18. und 19. Jahrhundert erfolgte, aus einer geringeren historischen Distanz verfolgen als in Afrika. Seit der kolonialen Besitzergreifung und Aufteilung Afrikas durch die europäischen Kolonialmächte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vollzog sich in einem wesentlich kürzeren Zeitraum als in Europa oder in Lateinamerika ein grundlegender Prozeß der Verschriftlichung sozialer, administrativer und kultureller Kommunikationsformen, der mit dem Aufbau eines Schulsystems nach europäischem Muster und der Alphabetisierung eines seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts rasch wachsenden Teils der Bevölkerung Afrikas (gegenwärtig ca. 25%) einherging. Entgegen einer häufig noch in wissenschaftlichen und publizistischen Veröffentlichungen geäußerten Ansicht 10 waren Schrift- und Buchkultur vor der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika keineswegs völlig unbekannt. Der Kolonialbeamte und Schriftsteller Maurice Delafosse wies bereits 1899 in einer Studie auf das weitgehend vom Arabischen abgeleitete Schriftsystem des VaiVolkes im Gebiet der heutigen Staaten Sierra Leone und Liberia hin, das zur Grundlage einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich ausbildenden Manuskriptkultur wurde. 1 1 Ideographische Schriftsysteme, die auf der Verwendung bildlicher Symbole beruhten, existierten auf dem afrikanischen Kontinent teilweise bereits vor der Islamisierung von Teilen West-, Zentral- und Ostafrikas, u . a . bei den Kulturen der Dogon (Mali), der Adinkra und Ashanti (Ghana), der Baoulé (Elfenbeinküste), der Abbia (Kamerun) und der Yoruba (Nigeria).12
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12
4
Jacques Chevrier: La littérature nègre. Paris, A . C o l i n , 1975, S . 6 , ein Standardwerk zur französischsprachigen afrikanischen Literatur, schreibt beispielsweise: «A une civilisation de l'oralité se substitue progressivement une civilisation de l'écriture dont l'émergence est attestée par l'apparition d'une littérature négro-africaine en langue française.» Oder Jean-Pierre Gourdeau: La littérature négro-africaine. Paris, Hatier, 1973, der S. 73 schreibt: «La littérature négro-africaine écrite n'a que quarante ans.» Maurice Delafosse: Les Vaï. Leur langue et leur système d'écriture. In: L'Anthropologie, t. X , 1899, S. 129-151, 2 9 4 - 3 1 4 , vgl. ibid. S. 294: «Je ne crois pas qu'il existe en Afrique un autre peuple de race nègre possédant une écriture véritable.» D e n Beitrag von Delafosse zitiert ausführlich Alfred Métraux: L'alphabet du roi Ngoya. In: L'A.O.F. Echo de la Côte Occidentale d'Afrique, 9 décembre 1950, S. 1 und S. 3 als Beweis für die kulturelle Gleichwertigkeit der afrikanischen Zivilisation. Vgl. hierzu sowie zur Verbreitung islamischer Schriftkultur in Afrika das grundlegende Buch von Albert Gérard: African Language Literatures. A n Introduction to the Literary History of Sub-Saharan Africa. Washington, Three Continents Press, 1981, bes. S. 5-170; sowie Théophile Obenga: L'Afrique dans l'Antiquité. Egypte pharaonique Afrique Noire. Préface de Cheikh Anta Diop. Paris, Présence Africaine, 1973, S. 3 6 0 - 4 4 3 , Kap. «Systèmes graphiques africains»; und Cheikh Anta Diop: L'Afrique pré-coloniale. Paris, Présence Africaine, 1960, S. 140-141; O.F. Raum: The African Chapter in the History of Writing. In: African Studies, vol. II, 1943, S. 179-192.
Im Gegensatz zu den vorkolonialen afrikanischen Kulturen mit ideographischen Schriftsystemen, die nur in sehr rudimentärer Weise soziale Kommunikations- und Informationsbedürfnisse zu befriedigen vermochten und fast ausschließlich zur Abfassung von Grabinschriften, Testamenten und hagiographischen Kurztexten (Preisgedichte etc.) dienten, führte die Ausbreitung des Islam in der nördlichen Hälfte des afrikanischen Kontinents seit dem 13. Jahrhundert vor allem im Senegal, in Mali und in Nordnigeria zur Ausbildung proto-literaler Kulturen mit einer sozial und institutionell begrenzten Verbreitung von Schrift und Buch („restringierte Literalität").13 Ein Teil der islamisierten Bevölkerung erwarb durch den Besuch der Koranschule 14 zumindest elementare Lese- und Schreibkenntnisse im Arabischen, die im Rahmen des Koranunterrichts in erster Linie mnemotechnische Funktionen als Gedächtnisstütze einnahmen. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Koranschüler erlangte durch eine im allgemeinen mindestens drei Jahre dauernde vertiefte Ausbildung bei einem islamischen Gelehrten oder an einer islamischen Bildungsinstitution (wie der Sankoré-Schule in Tombouctou) jedoch eine weitergehende Unterweisung in der Grammatik arabischer Schriftsprache, in der Methodik religiöser Textexegese, in Rhetorik, Logik und Metrik, im islamischen Recht sowie in der Poetik religiöser Schriftliteratur.15 Hinzu kam, abhängig von der Gelehrtentradition der besuchten Schule und des unterweisenden Lehrers, gegebenenfalls ein Unterricht in Heilkunde, Astronomie sowie in der 13
14
15
Vgl. zu diesem Begriff Jack Goody: La logique de l'écriture. Aux origines des sociétés humaines. Paris, A. Colin, 1986, der den Begriff S. 121-122 wie folgt am Beispiel Nordnigerias erklärt: «L'utilisation de l'écriture était restreinte parce qu'elle représentait à l'origine la parole de Dieu.» Vgl. auch ders.: Literacy and the Non-Literate. In: Times Literary Supplement, May 12, 1972, S. 539-540, hier S. 539: "The nature of religious literacy inevitably placed certain human limitations on its effectiveness; it was a restricted literacy both in terms of the proportion who could read and the uses to which writing was put. Moreover, its religious basis meant that a major function was communication to or about G o d . " Sowie ders.: The Impact of Islamic Writing on the Oral Culture of West Africa. In: Cahiers d'Etudes Africaines, n°43, vol. XI, 1971, S. 455-465, hier S. 464: "But even the non-literate groups are influenced by the existence of literates in their midst. It should also be remembered that the literature estate is itself highly differentiated in terms of literate accomplishments. Indeed so steep is the pyramid of learning and so narrow the base that I have characterized the situation as one of 'restricted literacy'." Die soziale Bedeutung der Koranschule ist mangels Statistiken kaum einzuschätzen. Françoise Flis-Zonabend: Lycées de Dakar. Paris, Maspéro, 1968 (Textes à l'appui) gibt S. 60 an, daß Mitte der sechziger Jahre etwa 20% der Schüler in öffentlichen Schulen die Koranschulen besuchten, ein Prozentsatz, der sicherlich für die Kolonialzeit noch niedriger anzusetzen ist. Vgl. hierzu ausführlich Henri Sene: Le livre et l'écrit de langue arabe dans la société sénégalaise des origines au début du XXe siècle. Thèse de Doctorat de 3e cycle, Université Bordeaux III. Bordeaux, 1982, S. 272-278 sowie Amar Samb: Essai sur la contribution du Sénégal à la littérature d'expression arabe. Dakar, Ifan, 1972 (Mémoires de l'Ifan, n°87), S. 27-28; Abdallah Djenidi: La place du livre dans la formation de l'intelligentsia maraboutique au Sénégal. In: Annales de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Dakar, n°9, 1979, S. 221-228.
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Arithmetik, die insbesondere in Touba, dem religiösen Zentrum der Mouriden-Bruderschaft im Senegal, gepflegt wurde. 16 Erst diese einer sehr schmalen Gelehrtenschicht - den Koranlehrern („Marabouts") - vorbehaltene vertiefte Einführung in die arabische Schrift- und Buchkultur, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Afrika wesentlich eine Manuskriptkultur darstellte, befähigte zu einem eigenständigen Umgang mit dem Medium der Schrift, zu hermeneutischem Textverstehen und extensiver Lektüre. Nur wenige Mitglieder der «Oligarchie maraboutique», wie der senegalesische Buchhistoriker Henri Sene die Angehörigen der islamischen Gelehrtenschicht nannte, 17 lasen vor und während der Kolonialzeit jedoch Texte, die über den Kanon der islamischen Schulen hinausreichten, wie etwa im Nahen Osten oder in Nordafrika (Tunesien, Marokko) verlegte Zeitungen in arabischer Sprache. Eine von H. Sene ausgewertete, vom Generalgouverneur Französisch-Westafrikas zur Kontrolle der islamischen Gelehrtenschicht erstellte Liste von Abonnenten arabischer Periodika wies 1908 für den Senegal lediglich elf Namen von Marabouts aus Saint-Louis (acht Namen), Rufisque, Pire-Goureye und Tivaouane (je ein Name) auf. 18 Obwohl der Islam durch die Medien Schrift und Buch völlig neue Formen der Wissensaneignung, der Wissensübermittlung und der religiösen Unterweisung einführte, mit denen seit dem 13. Jahrhundert ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung des afrikanischen Kontinents in Berührung kam, blieb der Zugang zu Lese- und Schriftkundigkeit somit auf eine schmale soziale Schicht, die islamischen Gelehrten und Koranlehrer („Marabouts"), und einen begrenzten Funktionsbereich, die religiöse Sphäre, beschränkt. Die senegalesische Gesellschaft verfügte insgesamt bis zum Beginn der Kolonialherrschaft - ebenso wie die übrigen vom Islam beeinflußten Gesellschaften West- und Zentralafrikas - über eine Kultur mit dominant mündlichen Formen der Traditionsbildung, des geschichtlichen Gedächtnisses, der Verwaltung sowie der Informations- und Kommunikationsübermittlung. «La société sénégalaise est restée», so die Schlußfolgerung Henri Senes in seiner Dissertation über Le livre et l'écrit de langue arabe dans la société sénégalaise des origines au début du XXe siècle (1982), «dans son ensemble une société de l'oralité malgré l'existence d'une structure d'enseignement utilisant le livre, l'écriture et la lecture comme moyens de formation». 19 Schrift und Lektüre wurden in den vorkolonialen, islamisierten Gesellschaften West- und Zentralafrikas als Instrumente des Zugangs zur Sphäre des Sakralen betrachtet und nicht - wie in den europäischen Gesellschaften der Neuzeit und in den afrikanischen Gesellschaften seit Beginn der Kolonialherrschaft - als Voraussetzungen sozialen und beruflichen Aufstiegs sowie als Distinktionsmerkmale einer geho-
16 17 18 19
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Sene, Ibid., Ibid., Ibid.,
Livre et écrit, S. 37. S. 37. S. 257-258. S. 148.
benen sozialen Stellung. 20 Ihre Schrift- und Lesekundigkeit sowie ihre soziale Mittlerstellung zwischen der Arkansphäre des Religiösen und der Masse der Gläubigen verlieh der islamischen Gelehrtenschicht zwar ein hohes gesellschaftliches Prestige, dessen mentale Grundlage die Sakralisierung von Schrift und Buch bildete. Da der Zugang zur arabischen Buchkultur einer religiösen Gelehrtenschicht vorbehalten war, galt Analphabetismus in den islamisch beeinflußten Gesellschaften Afrikas vor der Kolonialherrschaft jedoch nicht als soziales Stigma und Kennzeichen einer niederen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie. Auf die zugrundeliegende sakrale Funktion von Schriftlichkeit und Buchkultur verweist auch jene Doppelbedeutung, die das Wort ,Buch' in den senegalesischen Sprachen Wolof und Serer bereits in der vorkolonialen Zeit besaß: das Wolofwort „teere" und das Wort „safe" in der Serer-Sprache bedeuten zugleich ,Buch' u n d ,Talisman' und bezeichnen somit gleichermaßen die Materialität des Gegenstandes und die ihm beigemessenen magisch-religiösen Eigenschaften. 2 1 1.2. B u c h k u l t u r / B u c h l e k t ü r e Der mit dem Beginn der französischen Kolonialherrschaft einsetzende kulturelle Epochenumbruch in den Gesellschaften West- und Zentralafrikas stellt sich somit bei näherer Betrachtung dar als der beschleunigte Übergang von einer dominant oralen Kultur mit einer äußerst restringierten Verwendung von Schriftlichkeit zu einer dominant literalen Gesellschaft, in der die Medien Schrift und Buch seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts eine stetig wachsende kulturelle, administrative und soziale Bedeutung erlangten. Jedoch veränderte nicht die Schrift an sich das kulturelle Gefüge afrikanischer Gesellschaften seit der Kolonialzeit in grundlegender Weise, sondern ihre durch den Buchdruck ermöglichte massenhafte Reproduzierbarkeit. Wie in den europäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit 22 kamen die kognitiven, epistemologischen und sozialen Konsequenzen der Literalität 23 in den west- und zentral20
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Ibid., S. 251-252 sowie Goody, Islamic Writing (wie Anm. 13), S. 464: "I would conclude by suggesting that the initial appeal of Islam to outsiders was frequently magical (or magico-religious), and that writing was at first valued more for its role in superhuman than in human communication." Vgl. zu diesem Punkt auch Yves Person: Tradition orale et chronologie. In: Cahiers d'Etudes Africaines, n°7, vol.11, 1962, S.462-476, hier S.466, u.a.: «L'écriture est pour eux cantonnée exclusivement aux plans magique et religieux.» Sowie Sene, Livre et écrit, S. 84-85, 112. Théodore Ndiaye: Le rôle du livre dans les civilisations orales. In: Le Soleil, supplément au n°568, mars 1972, S. 3: «Ecrire et lire, c'est enchaîner, ensorceler et le livre est aussi un gri-gri (teere) dit le Wolof et le Sérer (safe).» Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von ElizabethL. Eisenstein, u. a.: The printing press (wie Anm. 6); dies.: The Emergence of Print Culture in the West. Literacy and the Future of Print. In: Journal of Communications, winter 1980, S. 99-106; dies.: Some Conjectures about the Impact of Printing in Western Society and Thought: a Preliminary Report. In: Journal of Modern History, XL, 1968, S. 1-56. Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Jack Goody / Ian Watt: The Consequen-
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afrikanischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts erst durch die Einführung und Verbreitung drucktechnischer Verfahren zum Tragen. 1848 wurde in Gorée mit der Imprimerie Saint-Pol die erste Druckerei innerhalb des französischen Kolonialreiches in Afrika gegründet. Ihre Tätigkeit beschränkte sich zunächst auf den Druck des Bulletin du Sénégal, einer regierungsamtlichen Zeitung mit einer Auflage von knapp 200 Exemplaren, sowie von religiösen Schriften für die katholische Missionsarbeit. 1856 gründeten die französischen Kolonialbehörden selbst eine eigenständige Druckerei, die Imprimerie du Sénégal in Saint-Louis, die in erster Linie mit der Herstellung administrativer und politischer Verlautbarungen betraut wurde. 24 Die erste, für eine breitere Öffentlichkeit bestimmte Publikation stellte 1859 ein zweisprachiger, in französischer und arabischer Sprache abgefaßter Rundbrief («Lettre circulaire») des Gouverneurs Faidherbe dar. Er richtete sich gegen die Politik des Frankreich feindlich gesonnenen Toucouleurfürsten El-Hadji Omar und wurde als ,Propagandamaterial' in der nordsenegalesischen Provinz Fouta-Djallon verteilt. 25 Die Imprimerie du Sénégal druckte und verlegte in den folgenden Jahrzehnten auch Publikationen, die keinen unmittelbar regierungsamtlichen Charakter trugen: so die erste Wochenzeitung des Senegal, Le Réveil du Sénégal, journal politique, littéraire, commercial et financier paraissant tous les dimanches;26 oder die ersten, von einem Afrikaner in französischer Sprache geschriebenen und publizierten Bücher, die chronikalischen Geschichtsdarstellungen La Bataille de Guilé (1912) und De Faidherbe à Coppolani (1913) des Volksschullehrers und späteren Kolonialbeamten Amadou Duguay-Clédor. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts manifestierte sich Schriftlichkeit in Form gedruckter Plakate erstmals auch im Alltagsleben der französischen Kolonien in Westafrika in augenfälliger Weise. Die ersten, auf den
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ces of Literacy. In: Comparative Studies in Society and History, V, 1962-63, S. 304-305; Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind. Cambridge, Cambridge U.P., 1979. Mündliche Informationen von Herrn Babacar Ndiaye, Archivar im senegalesischen Nationalarchiv in Dakar, der sich hierbei u. a. auf eine unveröffentlichte und mir nicht zugängliche Diplomarbeit bezog: Oumar Ly: L'Édition au Sénégal. Dakar, Ecole Supérieure des Bibliothécaires et Archivistes de Dakar, 1984. Vgl. hierzu Fadel Dia: La presse au Sénégal des origines à l'indépendance (1856-1960). Texte de présentation et documents rassemblés à l'occasion de l'exposition tenue au CRDS en 1978. Saint-Louis, Centre de Recherches et de Documentation du Sénégal, 1978 (Série «Expositions» n°2), S. 6-7. Dia bezeichnet das Schriftstück als «véritable tract publicitaire, en arabe et en français rédigé également par les services du Gouverneur mais signé de la part des musulmans qui suivent la voie orthodoxe.» «Cette lettre ouverte, écrite au pire moment des relations entre les Français et Elhadj Omar et diffusée dans tout le Fouta, participe à l'œuvre de sape de l'autorité morale du grand conquérant toucouleur.» El-Hadj Omar (1794-1864) versuchte vergeblich, sich der französischen Kolonialexpansion unter General Faidherbe zu widersetzen. Die Publikation des Pamphlets von Faidherbe fällt in die Periode kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen El-Hadj Omar und französischen Kolonialtruppen, die 1860 mit der Niederlage des Toucouleurfürsten endeten. Dia, Presse au Sénégal, S. 12-13.
Druckerpressen der Imprimerie du Sénégal in Saint-Louis gefertigten Wahlplakate erschienen 1889 anläßlich der Wahlen zur französischen Nationalversammlung auf Häuserwänden in Dakar und Saint-Louis. 27 Es folgten Plakate zur Pariser Weltausstellung im Jahre 1900, Werbeplakate, die sich seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in senegalesischen Städten nachweisen lassen, Plakate zur medizinischen Aufklärung der Bevölkerung, wie beispielsweise 1953 ein Plakat mit dem Titel «Mise en garde de la population contre la mouche tsé-tsé», und schließlich, seit den dreißiger Jahren, Theater- und Filmplakate wie die Ausschreibung eines «Grand concours théâtral organisé par le journal . Séances d'explications. Un argument porte bien: , de (im Gegensatz zur «langue française») wird verwendet ibid., S. 113, S. 116. Ibid., S. 114-117. Ibid., S. 104. Ibid., S. 105. Ibid., S. 138-139. Ibid., S. 142: «Ainsi vivait Grand-Bassam lorsqu'un soir la nouvelle de la mort subite du Commissaire de Police se répand dans la cité.»
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sehr langsamen historischen Wandel begriffene, festgefügte koloniale Gesellschaft entgegen, deren ,heiße Zeitlichkeit' nur wenig spürbar ist. Für die Beschreibung beider kultureller Lebensformen verwendet Dadié im ersten Teil seines autobiographischen Romans die gleichen Stilregister: die vorherrschende Verwendung des Präsens und des Imperfekts als Erzählzeiten; und die Aufteilung des Erzählablaufes in zahlreiche kleine, kaleidoskopartig aneinandergereihte Episoden, die beim Leser den Eindruck eines langsamen Lebensrhythmus' und einer weitgehend zirkulären Geschehnisfolge (des ,immer Gleichen') hervorrufen. Erst im zweiten Teil von Climbié treten Ereignisse ein, die die friedliche Koexistenz von traditioneller afrikanischer und kolonialer Gesellschaft in einem sich beschleunigenden historischen Wandlungsprozeß auflösen. Die Eisenbahnerstreiks der Jahre 1936/37, die zunehmende Politisierung der afrikanischen Intelligentsia, die Dadié anhand der Entstehung der von afrikanischen Intellektuellen begründeten Tageszeitung Le Jeune Sénégal beobachtet, 3 9 die Niederlage der Kolonialmacht Frankreich im Zweiten Weltkrieg, die Bombardierung Dakars durch amerikanische Flugzeuge im Jahre 1942 und schließlich die ausgedehnten Streiks und Protestbewegungen der Jahre 1946-49 im Senegal und an der Elfenbeinküste markieren die Etappen dieses Entwicklungsprozesses. Climbié selbst erlebt diese Ereignisse zunächst als Beobachter und Zeuge und erst am Ende - innerhalb der Streikbewegung in Port-Bouet an der Elfenbeinküste - auch als unmittelbar Beteiligter mit. Neben historischen Ereignissen im eigentlichen Sinn erweisen sich .Lektüreereignisse' von entscheidender Bedeutung für die intellektuelle Bewußtwerdung Climbiés. Climbié wird bereits im ersten Teil des autobiographischen Romans als begeisterter Leser charakterisiert, der gemeinsam mit seinen Freunden Dibatchi und N'da regelmäßig die örtliche Buchhandlung in GrandBassam aufsucht. Seine Lieblingslektüre sind zu dieser Zeit Abenteuerromane, die im ,Wilden Westen' spielen. Im allgemeinen leiht Climbié sie von seinem Freund Dibatchi aus, der über mehr Taschengeld verfügt und Bücher zu kaufen vermag. Jedes Mal, wenn Climbié die Buchhandlung betritt, scheint er von neuem fasziniert von der Vielfalt der ausliegenden Bücher, die sämtliche Wissensgebiete umgreifen, von der Verschiedenheit der Titel und der Vielfarbigkeit der Buchumschläge: Climbié regardait les livres aux couvertures illustrées, aux titres de toutes les couleurs. Il les regardait, suivant les comptoirs d'un bout à l'autre. Il y avait une gamme d'ouvrages allant du roman le plus sérieux au roman policier le plus vulgaire, des sciences occultes aux mathématiques, de l'abécédaire aux livres de philosophie, sans compter les journaux illustrés. Il y en avait partout, sur les rayons, sur les comptoirs,
39
Ibid., S. 184: «Les jeunes Ouolofs, jugeant utile en pareilles circonstances de tenir un autre langage, créèrent un journal à eux; mais il débordait de dynamisme et n'eut qu'une brève existence. Sa truculente vitalité l'avait tué, parce qu'elle effrayait tout le monde.»
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dans les casiers, sur des caisses, empilés, étalés. Et tous si bien mariés de couleurs qu'ils vous attiraient, vous retenaient, fasciné. 40
Eines Tages zeigt Climbiés Onkel Assouan Koffi, der ihn beim Lesen von Wildwestromanen beobachtet hat, ihm ein von der Zensur in FranzösischWestafrika verbotenes Buch über das New Yorker Stadtviertel Harlem. Sein Onkel weist Climbié unter anderem auf ein Photo hin, das einen von Polizisten umringten Neger mit Handschellen zeigt, der aus politischen Gründen verhaftet worden ist. «Moi, je te dis qu'il faut tout lire», so Assouan Koffi zu seinem Neffen, «et c'est pourquoi j'ai tenu à te montrer ce bouquin ( . . . ) . Pour le moment tu n'as qu'un seul devoir, étudier. Tes études t'apprendront à secourir tout homme qui souffre parce qu'il est ton frère.» 4 1 Hatte sein Onkel N'dabian ihn seinerzeit in die Geheimnisse der Natur und die Vielfalt der mündlichen Kultur seiner Heimat eingeführt, so bereitet die intellektuelle, auf Buchlektüren beruhende Erziehung durch seinen zweiten Onkel Assouan Koffi das politische Engagement Climbiés vor, das im Mittelpunkt des zweiten Teils des Werkes steht. Assouan Koffi lehrt seinen Neffen, daß die Kolonialschule ebenso wie die Kolonialliteratur vor allem die Überlegenheit der weißen, okzidentalen Zivilisation zu begründen sucht und ein dieser Zielsetzung entsprechendes, ,exotisches' Bild Afrikas und der Afrikaner präsentiert. 4 2 Climbiés Lektüren und sein beginnendes schriftstellerisches Engagement, die im Zentrum des Schlußteils stehen, gründen in einer radikalen Ablehnung jenes Lektürekanons, den die ,koloniale Kultur' und ihre Institutionen ihm während seiner Schulzeit vermittelt haben. Die Lektüre politischer Zeitungen und soziologischer sowie philosophischer Klassiker des Marxismus beschäftigen ihn zunehmend. A Ponty, aucun de ces problèmes n'avait été étudié. Ces noms, on les ignorait. La philosophie, la sociologie, l'instruction civique? Hors programme. Seul l'enseignement primaire supérieur lui avait été dispensé en vue de sa tâche de fonctionnaire. 43
Climbiés journalistische Veröffentlichungen präsentieren - ebenso wie Dadiés eigene Presseartikel aus den Jahren 1947-51 - eine völlig andere Darstellung der afrikanischen Wirklichkeit als das von Assouan Koffi in Frage gestellte exotische Afrikabild der Kolonialromane oder die konziliante Einstellung der Kolonialpresse der zwanziger und dreißiger Jahre. Climbié und seine Freunde berichten über die Internierung senegalesischer Soldaten, die 1944 aus der Gefangenschaft in Europa zurückgekehrt waren und die rechtliche und gehaltliche Gleichstellung (u. a. im Hinblick auf Pensionen und Invalidenren40 41 42
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Ibid., S. 146. Ibid., S. 147. Ibid., S. 148: «Mais pourquoi faut-il qu'ils n'écrivent, ceux-là, sur le monde noir que des ouvrages du style exotique? / Une optique spéciale sur l'Afrique et ses hommes semble imposée par l'Europe. L'originalité de l'Afrique Noire, c'est l'homme nu; son génie, c'est la femme à plateau.» Ibid., S. 182.
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ten) mit französischen Soldaten gefordert hatten, in einem Lager in Thiaroye bei Dakar; 44 über den ersten Eisenbahnerstreik an der Elfenbeinküste im Jahre 1947, der sich rasch zu einem Generalstreik ausweitete; 45 und über die sich anschließende politische Bewegung an der Elfenbeinküste, in deren Verlauf Climbié verhaftet wird - auch dies eine deutliche Parallele zur Biographie Dadiés: Climbié et ses amis, par leurs discours et leurs articles de presse, avaient, dit-on, excité les paisibles paysans qui maintenant refusaient de vendre leurs produits. 46
Climbié präsentiert somit die Lebensgeschichte eines afrikanischen Intellektuellen und Schriftstellers - eines «évolué» im Sprachgebrauch der Zeit - , der sukzessive jene vorgezeichneten Karrierebahnen verlassen hat, die der Besuch des kolonialen Schulsystems bis hin zum glänzend bestandenen Examen an der Ecole William-Ponty ihm eröffneten. Sein Engagement als Journalist, bei dem er die in der Kolonialschule erworbenen Kenntnisse - und vor allem die Fähigkeit zu geschliffenem literarischem Ausdruck - zur Aufdeckung und Denunzierung von Mißständen verwendet, lassen Climbié in den Augen der Richter und Kolonialbeamten als ,Dissidenten' und Verräter erscheinen: Ce n'était vraiment pas ce rôle de dissident qu'on attendait de Climbié et de ses amis. / Ce n'était pas pour devenir un obstacle qu'on lui avait dispensé l'enseignement. Ayant rompu le contrat, trahi la confiance mise en lui, il devenait un traître, un rebelle et à son endroit on pouvait faire entorse à la légalité, par le fait même qu'il s'était délibérément mis hors de la légalité. 47
Climbiés Lebenslauf vom Musterschüler zum intellektuellen Dissidenten' zeichnet nicht nur die Genealogie eines neuen intellektuellen Rollenbildes nach, sondern verdeutlicht zugleich eine gewandelte, neue Einschätzung von Schriftlichkeit und Lektüre. Climbié betrachtet die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens am Ende der Erzählung nicht mehr als pragmatische Mittel des sozialen Aufstiegs und als äußere Zeichen einer herausgehobenen gesellschaftlichen Position, sondern nunmehr als Instrumente - er spricht ausdrücklich von «outil» und «instrument» 48 - gesellschaftlicher Veränderung. Der gesamte
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45 46 47 48
Ibid., S. 190 (Climbié besucht mit einem Togolesen, Dassi, das Lager in Thiaroye). Zum historischen Hintergrund vgl. Abdoul Karim Sow: Quelques souvenirs sur la tragédie de Tiaroye. In: L'A.O.F. Echo de la Côte Occidentale d'Afrique. Organe de la Fédération Socialiste S.F.I.O., de l'A.O.F., n°2153, 8-8-1947, S. 1-2. Der senegalesische Autor Boubacar Boris Diop veröffentlichte 1981 unter dem Titel Thiaroye terre rouge ein Theaterstück über die Ereignisse; ein Film mit dem Titel Thiaroye 44 wurde 1985/86 als senegalesisch-algerische Koproduktion unter der Regie von Ben Diogaye Beye gedreht. Ousmane Sembène widmete seinen neuesten Film (1988) der gleichen Thematik. Dadié, Climbié, S. 228-233. Ibid., S.233. Ibid., S. 234. Ibid., S. 182: «On lui avait tout de même mis entre les mains un outil, un instrument; à lui d'en savoir tirer profit.»
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Schlußteil des autobiographischen Romans, in dessen Mittelpunkt die publizistische Tätigkeit Climbiés und sein - hiermit eng verknüpftes - politisches Engagement stehen, liest sich als eine Hommage an die Bedeutung von Schriftlichkeit und Buchkultur für die Entwicklung afrikanischer Gesellschaften. «II ne s'agit pas de concourir», so Climbié zu seinem togolesischen Freund Dassi, «mais de se cultiver, de se maintenir, d'être à jour; et c'est pourquoi j'estime que nous devons visiter les librairies et les bibliothèques.» 49 Die letzte Erzählsequenz von Climbié schildert den vergeblichen Versuch des Protagonisten, seine Bibliothek zu verkaufen, da er nach seiner Gefängnishaft völlig mittellos dasteht und dringend Geld benötigt. Climbié ist am Ende froh, zumindest einen Interessenten - einen Volksschullehrer - für vier seiner Bücher gefunden zu haben und die übrigen für sich behalten zu können. Die langen Tage des Wartens an seinem Verkaufsstand verbringt er damit, seine eigenen Bücher, die ihn zunehmend in ihren Bann nehmen, aufzuschlagen und der Reihe nach von neuem zu lesen: Toutes ces idées à portée de ma main! Tous ces hommes nés sur des continents différents, en des temps différents, toutes ces idées écloses en des habitats plus ou moins riches; là à ma portée! Je butinais, avide de m'enrichir. ( . . . ) Non! La nuit ne viendra pas sans que les livres aient opéré leur magie habituelle. 50
Eine ganze Reihe von Passagen des Schlußteils von Climbié sind von jener manifestären, zum Teil pamphletär klingenden Schreibweise geprägt, die Dadiés Zeitungsartikel der Jahre 1947-51 charakterisieren. Die Präsenz zahlreicher Frage- und Ausrufungszeichen, die auch außerhalb eigentlicher Dialogsequenzen verwendete Dialogform, die apodiktische Struktur vieler Aussagesätze, der Rückgriff auf elliptische Satzkonstruktionen und schließlich die deutliche Dominanz diskursiv-argumentativer (statt narrativer) Textelemente suchen den Leser mit Stilmitteln der politischen Journalistik aufzurütteln und zur Stellungnahme herauszufordern. 51 Der autobiographische Roman Climbié, der mit der Lebensgeschichte des Autors Bernard Dadié auch die Genese seines schriftstellerischen Engagements aufarbeitet, ist in mehrfacher Hinsicht das Produkt einer kulturellen Umbruchperiode. Climbié schildert anhand eines individuellen Lebenslaufes die Überführung der kolonialen Gesellschaft und ihrer Kultur, die im ersten Teil des Werkes festgefügt, fast statisch, erscheinen, in eine beschleunigte histori49 50 51
Ibid., S. 191. Ibid., S. 241-242. Ibid., S. 233-243. Vgl. ζ. B. folgende Textpassage S. 236: «Oui, c'est ici que les inégalités sont les plus accusées. Et ses amis ont renoncé à leurs avantages pour mener la même vie que lui. Chaque Français, individuellement, veut représenter la Nation. Et lui, que doit-il représenter? Quelle place veut-on, en réalité, lui donner dans le concert?» Ein anderes Beispiel: «Or le Blanc, hors de son continent, voudrait tout ramener à lui, tout subordonner à sa couleur. Instinctivement pourrait-on dire. Par quel droit de conquête? Esprit de solidarité. Calcul! France et France d'Outre-Mer! Toute l'histoire est dans l'outre-mer. Ce déterminatif, quelque peu restrictif» (S. 237). 145
sehe Entwicklung, die durch zunehmende Widersprüche und Konflikte gekennzeichnet ist. Die Verbreitung von Schulbildung und Schriftlichkeit wird in Climbié als entscheidender dynamisierender Faktor gesehen, der die Infragestellung festgefügter sozialer Verhältnisse bewirkt. Innerhalb der afrikanischen Intelligentsia - der durch Climbié repräsentierten Schicht der «évolués» entstanden im Kontext einschneidender historischer Ereignisse ein neues Selbstverständnis und eine neue Auffassung der Funktion literarischen und publizistischen Schreibens. Die von Dadié verwendeten Stilregister verdeutlichen diesen kulturellen Umbruchprozeß: an die Stelle eines elaborierten, bewußt auf seltene Vokabeln und ,typisch französische' idiomatische Wendungen zurückgreifenden exercice de style, der im ersten Teil des Werkes an die Schulaufsätze des Ponty-Schülers Dadié erinnert, 5 2 tritt im zweiten Teil ein engagierter, auf politische Wirkung bedachter Schreibstil, der rhetorische Mittel der politischen Journalistik verwendet. Die personale Erzählperspektive des ersten Teils weicht im zweiten Teil - vor allem in den Schlußsequenzen - streckenweise einer wesentlich unmittelbareren, ,hautnahen' Ich-Erzählperspektive. 53 Auch der Titel des Werkes deutet darauf hin, daß es Bernard Dadié in Climbié um weit mehr ging als um die Aufarbeitung persönlicher Kindheits- und Jugenderinnerungen: der Name «Climbié» bedeutet in der Sprache der Agni, Dadiés Muttersprache, soviel wie .Zukunft' 5 4 und legt dem Leser nahe, in der erzählten Lebensgeschichte nicht nur die Autobiographie des Autors und die Kollektivbiographie der «Génération de Ponty», 55 sondern auch ein zukunftsweisendes Vorbild intellektuellen und schriftstellerischen Engagements zu sehen.
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53 54
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Vgl. ζ. B. Dadié, Climbié, S. 240: «J'ai vu mourir de ces sourires qui mettent la joie au cœur» sowie die zitierte längere Passage S. 241. Jean Derive sieht dieses «faire du beau style, dans la tradition de la rédaction scolaire» hingegen als Charakteristikum des gesamten Textes, was unserer Ansicht nach nicht haltbar ist. Vgl. Jean Derive: Climbié comme archétype de la production romanesque française au seuil des indépendances. Exposé présenté à un séminaire sur l'œuvre de Bernard Binlin Dadié, Abidjan, 2 4 - 2 9 mars 1980, unveröffentl. Ms., 12S., hier S. 12. Zum Stil von Dadiés Schulaufsätzen an der Ecole William-Ponty vgl. oben Kap. 3.1. sowie den im Anhang n°3 abgedruckten Text. Vgl. u. a. die zitierten Passagen S. 240 (in Anm. 52) und S. 241-242 (Anm. 50). Vgl. hierzu Dadiés Äußerung in Bonneau, Dadié, S. 55: «Climbié, c'est un nom propre qui veut dire: , c'est l'avenir, la projection dans le temps; ça signifie: On OS
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