Skandale zwischen Moderne und Postmoderne: Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression 9783110345728, 9783110307658

Despite abundant research interest in scandal, there have been few transnational or interdisciplinary studies in this ar

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German Pages 338 [340] Year 2014

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Table of contents :
Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen
Der Skandal der natürlichen Religion
Der Skandal im Zeitalter der Revolutionen: Frankreich 1814–1848
Die zwei Körper der Königin: Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation
Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893
Skandal und Gegenskandal: Die Dreyfusaffäre (1894–1906)
Skandal als Programm? Funktionen des Skandals in der historischen Avantgarde und Funktion der historischen Avantgarde als Skandal
Überlegungen zu einer Poetik des Skandals am Beispiel von Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir (1931/1933)
Vom „Un-Skandal“ des Algerienkrieges zum „Post-Skandal“ der Gedächtniskultur: Die Pariser Polizei-Repressionen vom 17. Oktober 1961
Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit
Skandale als Symptome und Katalysatoren politisch-kulturellen Wandels: Das Beispiel Frankreich
Der Skandal als Konstruktion eines transnationalen Kommunikationsraumes: Die Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich im Jahr 2000
Doing Scandal: Skandal als Performativität des radikalen Beziehungsbruchs
Riskante Wahlverwandtschaften: Medien und Skandale
Ästhetik des Skandals – Skandal der Literatur: Struktur, Typologie, Entwicklung
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Skandale zwischen Moderne und Postmoderne: Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression
 9783110345728, 9783110307658

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Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß-Sattar (Hrsg.) Skandale zwischen Moderne und Postmoderne

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Frauke Janzen

Volume 32

Skandale zwischen Moderne und Postmoderne Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression

Herausgegeben von Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß-Sattar

ISBN 978-3-11-030765-8 e-ISBN 978-3-11-034572-8 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß-Sattar Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen 1 Helmut Pfeiffer Der Skandal der natürlichen Religion

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Jörn Leonhard Der Skandal im Zeitalter der Revolutionen: Frankreich 1814–1848

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Birgit Aschmann Die zwei Körper der Königin: Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation 79 Jens Ivo Engels Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893 107 Daniel Mollenhauer Skandal und Gegenskandal: Die Dreyfusaffäre (1894–1906)

125

Wolfgang Asholt Skandal als Programm? Funktionen des Skandals in der historischen Avantgarde und Funktion der historischen Avantgarde als Skandal 149 Andreas Gelz Überlegungen zu einer Poetik des Skandals am Beispiel von Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir (1931/1933) 167 Dietmar Hüser Vom „Un-Skandal“ des Algerienkrieges zum „Post-Skandal“ der Gedächtniskultur: Die Pariser Polizei-Repressionen vom 185 17. Oktober 1961 Ingrid Gilcher-Holtey Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit

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VI

Inhaltsverzeichnis

Sabine Ruß-Sattar Skandale als Symptome und Katalysatoren politisch-kulturellen Wandels: Das Beispiel Frankreich 235 Guido Thiemeyer Der Skandal als Konstruktion eines transnationalen Kommunikationsraumes: Die Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich im Jahr 2000 253 Michael Dellwing Doing Scandal: Skandal als Performativität des radikalen Beziehungsbruchs 271 Ingeborg Villinger Riskante Wahlverwandtschaften: Medien und Skandale Jochen Mecke Ästhetik des Skandals – Skandal der Literatur: Struktur, Typologie, Entwicklung 305

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Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß-Sattar

Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen Man wird den Wissenschaften kaum den Vorwurf machen können, sie hätten sich der scheinbaren Omnipräsenz und Aktualität des Phänomens ‚Skandal‘ nicht gestellt. In einer Zeit des angeblich ‚entfesselten‘ bzw. permanenten Skandals1 häufen sich vielmehr Tagungen und einschlägige Publikationen.2 Seit 2009 sind im deutschsprachigen Raum gleich mehrere Publikationen zum Thema erschienen,3 die mutatis mutandis die vier bzw. fünf Disziplinen, die Soziologie und Politikwissenschaft, die Geschichtswissenschaften sowie die Literatur- und Kulturwissenschaften repräsentieren, die auch bei der Tagung „Skandal. Repräsentationsformen eines gesellschaftlichen Ärgernisses zwischen religiöser Norm und säkularer Gesellschaft“ vom 11. bis zum 13. März 2010 in Freiburg vertreten waren. Ort und idealer Gastgeber dieses produktiven interdisziplinären Gesprächs war die School of Language and Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), in deren Reihe linguae & litterae die Tagungsbeiträge nunmehr erscheinen. Für die nie nachlassende großzügige Förderung des Vorhabens gilt den Verantwortlichen, insbesondere Werner Frick als ideenreichem und begeisterndem spiritus rector der LiLi-School wie des gesamten FRIAS der besondere Dank der Herausgeber. Gedankt sei auch Julia Buck, Franziska Eickhoff, Melina Riegel und Pia Wetzl für ihre überaus wertvolle Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts.

1 Vgl. Bernhard Pörksen/Hanne Detel, Der entfesselte Skandal, Köln 2012. Zu neueren medienwissenschaftlichen Perspektiven auf den Skandal vgl. Sandra Siebert, Angeprangert! Medien als Motor öffentlicher Empörung, Marburg 2011; Sigurd Allern/Ester Pollack (Hrsg.), Scandalous! The mediated construction of political scandals in four nordic countries, Göteborg 2012. 2 So berief im April 2009 die Universität Hamburg gar einen „Skandalgipfel“ ein und unter dem Motto „Skandalkommunikation und Skandalmanagement in Unternehmen, Verbänden, Behörden und der Politik“ fand 2010 an der TU Cottbus eine Tagung zum Thema „Skandal! Mechanismen öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung“ mit drei monographischen Sektionen „Politikskandale – Skandalpolitik“, „Kulturskandale – Skandalkultur“, „Medienskandale – Skandalmedien“ statt. 3 Jens Bergmann/Bernhard Pörksen (Hrsg.), Skandal!: die Macht öffentlicher Empörung, Köln 2009; Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009; Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.), Literaturskandale, Frankfurt am Main/Berlin/Bern u.a. 2009; Kristin Bulkow/Christer Petersen (Hrsg.), Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011.

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Methoden und Beschreibungsmodelle Betrachtet man die oben erwähnten und andere wissenschaftliche wie publizistische Arbeiten zum Skandal näher, dann fällt dabei ungeachtet aller disziplinären Vielfalt ihre tendenziell deskriptive, auf- und erzählende Herangehensweise an das zu untersuchende Phänomen ins Auge. So ist eine gebräuchliche Form der Beschreibung des Skandals die Aufzählung, als wäre dem Skandal quantitativ über die erschöpfende Erfassung aller nur erdenklichen Skandale beizukommen. Dieses enzyklopädische Modell bestimmt mehr oder weniger ausgeprägt auch zahlreiche wissenschaftliche Texte, in Reinform finden wir es jedoch v.a. in breitenwirksameren Textgattungen wie dem Lexikon4 oder, unter historischem Vorzeichen, der Chronik.5 Die Heterogenität und Pluralität des Phänomens Skandal wird hier scheinbar zum Programm, die Frage nach den Bezügen der einzelnen Skandale untereinander, nach Gemeinsamkeiten und Differenzen, nach spezifischen Merkmalen und Entwicklungsformen tritt oftmals in den Hintergrund, auch wenn den in diesen Texten etablierten Skandal-Reihen bzw. -Serien mitunter eine Dekadenzhypothese, bzw. umgekehrt formuliert eine Steigerungslogik, also die Annahme einer für die jeweilige Gegenwart charakteristischen Zunahme an Skandalen zugrunde liegt. Wenn Typologisierungsversuche unternommen werden, dann geschieht dies oft mittels der Bildung von Komposita: von Lebensmittelskandalen, von Umweltskandalen, von Dopingskandalen, vom Kunstskandal, von Sex- und Missbrauchsskandalen, Korruptionsskandalen, politischen und anderen Skandalen ist die Rede, von verschiedenartigen Ausprägungsformen des Skandals, die oftmals interferieren und sich überlagern, was die Erklärungsleistung solcher Ordnungsund Differenzierungsversuche eher schmälert. Letztendlich stellen sie, auf einer anderen Betrachtungsebene, ein nicht minder additives, virtuell unabschließbares Beschreibungsmodell, und damit eine abgeschwächte Variante des enzyklopädischen Modells dar. Auf einer noch abstrakteren klassifikatorischen Ebene gilt dies auch für Hondrichs Aufzählung von „vier Wertkonflikten“, die Skandale im 19. und 20. Jahrhundert prägten, zwischen Ökonomie und Ökologie, Staats-

4 Vgl. beispielhaft George C. Kohn, The new encyclopedia of American scandal: more than 450 infamous incidents from the 1600s to the present, New York 2001; Klaus Huhn, Enzyklopädie deutscher Skandale, Berlin 2012. 5 Vgl. u.a. Rüdiger Liedtke, Die neue Skandal-Chronik. 40 Jahre Affären und Skandale in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1989; Matthew Parris, Great Parliamentary Scandals. Four Centuries of Calumny, Smear and Innuendo, London 1995.

Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen

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raison und Individualrechten (Dreyfus, Eulenburg,6 Wörner/Kießling), Machtstreben und Machtbegrenzung (Watergate, Waterkantgate, Irangate); zuletzt evoziert er Konflikte über kollektive Identitäten (Waldheim-Affäre, Polemik um Werner Höfer).7 In letzter Zeit, so könnte man seine letztlich offene Reihe fortsetzen, zieht insbesondere der Medienskandal als Konflikt unterschiedlicher Öffentlichkeitskonzepte Aufmerksamkeit auf sich, der als eine Art Meta-Skandal in der Lage zu sein scheint, jeden anderen Skandal als mediatisierten, d.h. von den Medien bearbeiteten Skandal bzw. als Medienskandal, als von den Medien produzierten Skandal, zu assimilieren – um an dieser Stelle von sogenannten Skandalmedien gar nicht erst zu reden. Ein zweites Beschreibungsmodell vieler Studien zum Skandal besteht darin, den (einzelnen) Skandal durch erzählende Rekonstruktion erfassen zu wollen. Anders als beim ersten, quantitativen Beschreibungsmodell steht hier der Versuch im Vordergrund, qualitativ durch die Nacherzählung eines einzelnen Skandals ggf. ein Modell zu entwickeln – ein angesichts der Komplexität vieler Skandale im Grunde genommen jedoch nicht minder unabschließbares Unterfangen. Auch ähnelt diese Vorgehensweise in struktureller Hinsicht auf eine interessante, bislang jedoch selten thematisierte Weise den Versuchen der Zeitgenossen, Zeugen oder Akteure des Skandals selbst, seiner Komplexität durch ein permanentes telling and retelling Herr zu werden, wobei das Aufeinandertreffen partieller und damit potentiell konfliktträchtiger Sichtweisen auf den Skandal diesen nicht selten erst zuspitzt. Trotz der zeitlichen Distanz und des retrospektiven Charakters der wissenschaftlichen Analyse lässt sich dieses erkenntnistheoretische Problem nicht gänzlich auflösen. Die geschilderten Charakteristika einer Reihe von Texten unterschiedlicher Disziplinen und Genres mit Blick auf die Beschreibung des Skandals stellen, könnte man behaupten, bereits einen ersten interdisziplinären common ground der Skandalforschung dar, die sich u.a. der Herausforderung stellen muss, dass Skandale eher keine schematischen, ohne weiteres formalisierbaren Abläufe darstellen, die man sezieren könnte, auch wenn die Vorstellung

6 Vgl. hierzu Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 2010. Gegen das von ihm als traditionell beschriebene Skandalverständnis des temporären gesellschaftlichen Zusammenschlusses gegen Normverletzer möchte er den „Effekt gesellschaftlicher Zersplitterung in Deutungsgemeinschaften durch Skandale“ (S. 51) untersuchen. „Damit erfüllen vor allem die polarisierenden politischen Skandale eine wichtige soziale Funktion: Sie transformieren die Anklage von Mißständen, die über das Individuelle, Lokale und Temporäre hinausgehen, in eine öffentliche Form, die zwar nicht die Beseitigung der Mißstände garantiert, aber zur Selbstvergewisserung der Moral wichtig ist, die eine Gesellschaft zusammenhält“ (S. 53). 7 Karl Otto Hondrich, „Skandale als gesellschaftliche Lernmechanismen“, in: Julius Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Stuttgart/Bonn 1992, S. 175–189, hier: S. 183 f.  

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von der „Anatomie des Skandals“8 durch die sozial- und politikwissenschaftliche Literatur geistert. Sie erscheinen vielmehr als Teil des kollektiven Gedächtnisses, dessen heterogene und weiterhin konfliktträchtige Skandal-Geschichten teilweise bis in die Gegenwart nachwirken (D IETMAR H ÜSER , „Vom ‚Un-Skandal‘ des Algerienkrieges zum ‚Post-Skandal‘ der Gedächtniskultur: Die Pariser Polizei-Repressionen vom 17. Oktober 1961“). Deswegen scheint es reduktionistisch, wenn in der Skandalforschung der Optimierung eines bestimmten Beschreibungsmodells wegen nicht selten zentrale historische Formen des Skandals aus der Analyse ausgeblendet werden. Bezeichnenderweise, um ein Beispiel zu geben, empfinden wir es heutzutage nämlich geradezu als Skandal, wenn unsere Gesellschaft mit als historisch längst erledigt geglaubten, holistischen Skandalvorstellungen religiöser Prägung konfrontiert wird, die von einer axiomatischen und gesellschaftlich gerade nicht verfügbaren Norm ausgehen und deren Absolutheitsanspruch kaum jenem von Medien- und Kommunikationswissenschaftlern oftmals propagierten Skandalmanagement zugänglich ist. Die Auffassung vom Skandal als religiöses Ärgernis, als Blasphemie oder Häresie, feiert Urstände, ohne dass bisher zahlreiche theoretische Reaktionen auf diese Situation vorliegen würden. Trotz der Wegscheide von 9/11 galt und gilt der religiöse Skandalbegriff immer noch im Wesentlichen als obsolet, als Vorläuferkonzept, in dessen Nachfolge der Skandal in einem veränderten Begriffsverständnis als Instrument von Säkularisierung und Modernisierung begriffen wird. Dieser Situation möchte dieser Band wenigstens ansatzweise durch den Hinweis auf Formen religiöser Skandalisierung im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, am Beispiel von Miguel de Unamunos Roman San Manuel Bueno, mártir (1933) abhelfen (A NDREAS G ELZ , „Überlegungen zu einer Poetik des Skandals am Beispiel von Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir [1931/ 1933]“). Ein Nachdenken über die Stellung des religiösen Skandalschemas in unserer heutigen Gesellschaft scheint zukünftig auch deswegen wichtig, weil sich die Protagonisten religiöser Skandalisierung perfekt der Mechanismen des modernen Medienskandals bedienen, ohne dass dessen häufig beschworene aufklärerische Implikationen zum Vorschein kämen. Eine solche Reflexion tangierte dann Fragen nach Formen von Konfliktkommunikation im Kontext divergierender Modernisierungsverläufe, nach der religiösen Prägung säkularer Prozesse und Institutionen und damit, insofern der Skandal nach einem vielzitierten Wort Sighard Neckels durch die Berührung mit dem „Stellhölzchen

8 Vgl. Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989.

Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen

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der Macht“ ausgelöst wird,9 nach einem um die Dimension der Sakralisierung erweiterten Machtbegriff.

Paradoxien und Ambivalenzen des Skandalbegriffs – interdisziplinäre Herausforderungen Die eingangs als symptomatisch dargestellten Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Skandalen mögen manchen Leser aktueller medienwissenschaftlicher Skandaltheorien überraschen, in denen die Idee der bewussten Inszenierung, der gesellschaftlichen Funktionalität des Skandals im Vordergrund steht, im Sinne der mit ihm – als einer der moralischen „Elementargeschichten des sozialen Systems“10 – einhergehenden Komplexitätsreduktion als Mittel der Sicherung kommunikativer Anschlussfähigkeit. Setzt der Skandal als Form der öffentlichen Zurückweisung angeblicher oder tatsächlicher Normverstöße aber nicht paradoxerweise Kommunikationsabbrüche sowie das Versagen diskursiver Kopplungen in Szene? Kann man wirklich behaupten, der Skandal bilde „Semantiken [aus], die über die einzelnen Beteiligten hinaus eine disziplinierende Wirkung haben“,11 oder thematisiert er nicht doch vielmehr die „Grenzen des Sagbaren“?12 Lassen die Ereignisdichte, die heterogenen und simultanen kommunikativen Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen, die möglichen Verschiebungen und Umkehrungen der Rollen von Skandalisierer und Skandalisiertem im Verlauf eines Skandals, lässt seine Eigendynamik die Herausarbeitung einer einfachen Ereignissequenz, einer Narration mit spezifisch gesellschaftlicher Funktionalität am Ende nicht doch als problematisch erscheinen? Ist es nicht vielmehr gerade der Skandal des Nichtverstehens des Skandals, der ihn am Leben erhält, wie dies Maurice Blanchot in seinem Buch Le Livre à venir 1959 formuliert hat: „ainsi est le scandale, de telle nature qu’il nous échappe, alors que nous ne lui échappons pas […]“?13 Ist der Skandal nicht, überspitzt ausgedrückt, eine Fiktion, die es mit einer ungreifbaren Wirklichkeit (der Wirklichkeit ‚hinter‘ den verschiedenen, untereinander oftmals inkompatiblen Skandalgeschichten) zu tun hat? Roland

9 Sighard Neckel, „Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals“, in: ebd., S. 55–80. 10 Vgl. Steffen Burkhardt, Medienskandale: Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 340. 11 Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 14. 12 Ebd. 13 Vgl. Maurice Blanchot, „Le récit et le scandale“, in: ders., Le Livre à venir, Paris 1959, S. 261.

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Barthes bringt diesen Gedanken in seinem 1959 in den Lettres Nouvelles erschienenen Text „Qu’est-ce qu’un scandale?“ auf den Punkt: Der Skandal stelle eine Montage dar, sein Prinzip und seine Finalität seien nichts anderes als die Komplexität selbst, und nicht etwa die Auflösung des Skandals oder die Rekonstruktion der ihn determinierenden Fakten: Son principe et sa fin, c’est la complexité. L’affaire tend à un spectacle du mystère, l’imbroglio est à la fois l’être et la forme qui en justifient la publicité. Mythiquement, tout est ici indifférent à la réalité ou au dénouement: seule compte l’épaisseur de l’écheveau.14

Die in diesem Band versammelten Beiträge suchen daher weniger, den Skandalbegriff zu definieren, als seine Ambivalenzen und Paradoxien zu beschreiben, um sich auf diese Weise der skizzierten erkenntnistheoretischen Komplexität des Phänomens im Sinne einer noch ausstehenden Theorie des Skandals zumindest anzunähern. Wenn etwa in W OLFGANG A SHOLTS Beitrag über die Avantgarde („Skandal als Programm? Funktionen des Skandals in der historischen Avantgarde und Funktion der historischen Avantgarde als Skandal“) auf die Benjamin’sche Unterscheidung von Skandalen, „die in den Grenzen des Skandals bleiben“, und dem Skandal als Ausdruck eines „radikalen Begriff[s] von Freiheit“ oder auf Aragons Formulierung eines „scandale pour le scandale“ als einen ‚reinen‘, eigentlichen im Gegensatz zu einem uneigentlichen Skandal rekurriert wird, scheint das Eigentliche des Skandals – und dies ist für jede Form wissenschaftlicher Beschreibung des Skandals von grundsätzlicher Bedeutung – immer im Jenseits seiner je aktuellen Erscheinungsform verankert zu sein, im Bereich des Meta-Skandals und anderer Potenzierungsformen des Skandals. Als solche können Begriffe wie Transgression, mit dem Michel Foucault die differenztheoretische Wirkung des Skandalmechanismus ohne dessen ethisch-moralische Implikationen zu fassen suchte (W.   A SHOLT ), sowie die Formel von der Skandalisierung des Skandals (I NGRID G ILCHER -H OLTEY , „Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit“; J OCHEN M ECKE , „Ästhetik des Skandals – Skandal der Literatur: Struktur, Typologie, Entwicklung“) ebenso angesehen werden wie die Figur der Selbstskandalisierung als ein selten beschriebener Grenzfall gängiger Skandalisierungspraktiken, deren Entstehung H ELMUT P FEIFFER („Der Skandal der natürlichen Religion“) historisch in der Zeit der Aufklärung ansiedelt: Die Skandalkultur der Aufklärung besetzt einen anthropologischen Kern, dem sie den Stachel der Selbstskandalisierung einpflanzt. Sie mobilisiert kontinuierliche Irritationen, die Gewissheiten destabilisieren, um eine neue Balance von Kritik und Geltung durchzusetzen[,]

14 Roland Barthes, „Qu’est-ce qu’un scandale?“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, Éric Marty (Hrsg.), Paris 2002, S. 940–942, hier: S. 941.

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auch wenn gefragt werden kann, ob die Produktion „kontinuierliche[r] Irritationen“ die Entstehung einer neuen „Balance von Kritik und Geltung“ überhaupt noch zulässt. Kann man diese Verallgemeinerung des Skandalbegriffs gar soweit treiben, dass jede kulturelle Innovation, jeder kreative Akt potentiell bereits einen Skandal darstellt?15

Herrschaftskontrolle und Herrschaftsstabilisierung, Aufklärung und Gegenaufklärung Will man die theoretische Konzeptualisierung des Skandals nicht an ihre Grenzen treiben und konzentriert man den Blick auf gesellschaftliche Funktionsbeschreibungen des Skandals, dominiert im Sinne der gerade erwähnten „Balance von Kritik und Geltung“ in den Sozialwissenschaften die Vorstellung, Skandale seien „indicator events“16 mit Blick auf systembezogene Disfunktionalitäten, fundamentaler Ausdruck einer Verletzung gesellschaftlicher Normen und gleichzeitig die Form, diese Normen in ihrer diskursiven und performativen Dimension zuallererst öffentlich sichtbar werden zu lassen. Auch dem Historiker erscheinen Skandale als „Kulminationspunkte […], in denen sich vielfältig Diskurse und Handlungen verdichte[n]“,17 als „Wertekonflikte […], die Verhaltensregeln und Deutungen schaffen, festigen oder verändern“.18 Ist der Skandal demnach eher ein Instrument der Herrschaftskontrolle (seitens der skandalisierten Öffentlichkeit) oder gerade umgekehrt der Herrschaftsstabilisierung (durch die emotionale Blitzableiterfunktion von Skandalen) bzw., damit in einem engen Zusammenhang stehend, ist der Skandal eher ein Instrument der Aufklärung oder dient er der Umsetzung anderer, ggf. sogar gegenaufklärerischer Ziele? Auch wenn es die Auffassung gibt, der Skandal sei konservativ und zeitige system- bzw. herrschaftsstabilisierende Effekte im Sinne der Reaffirmation verletzter Normvorstellungen, dominiert in den Sozial-, Politik- und Teilen der Medienwissenschaften doch die Vorstellung, der Skandal wirke aufklärerisch im Sinne der Sichtbarmachung von Normverletzungen, der Korrektur von Missstän-

15 „Toute création suppose un scandale. Puisque celui-ci dérange l’ordre établi, […] la continuité rassurante de la tradition“ oder „Où est le scandale? Dans le détournement du sens que le commun donne aux choses“, Pierre Cabanne, Le scandale dans l’art, Paris 2007, S. 33 f. 16 John Garrard, „Scandals: an overview“, in: ders./James L. Newell (Hrsg.), Scandals in past and contemporary politics, Manchester 2006, S. 13–29, hier: S. 19. 17 Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 4. 18 Ebd., S. 5.  

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den wie Machtmissbrauch, ja der Revision überkommener Normen, er könne sogar als Teil demokratischer Prozesse beschrieben werden. Hondrich spricht in diesem Zusammenhang von „Skandale[n] als gesellschaftliche[n] Lernmechanismen“,19 der Medienwissenschaftler Burkhardt geht soweit, dem Skandal bzw. dem Medienskandal eine zivilisatorische Funktion beizumessen.20 Im Verlauf des komplexen Prozesses von Skandalisierung und Gegenskandalisierung, das zeigen mehrere Beiträge dieses Bandes, können diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungsweisen des Skandals oftmals jedoch nicht mehr klar unterschieden oder hierarchisiert werden, bisweilen treten sie ganz in den Hintergrund. So zeigt B IR GIT A SCH MANN in ihrem Beitrag „Die zwei Körper der Königin: Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation“, wie sehr die Skandalisierung der spanischen Königin Isabella II. (1830–1904) zugleich der Bewahrung wie der Eroberung von Machtpositionen diente, wobei es der Monarchin gelang, die auf traditionelle misogyne Argumente rekurrierende Skandalisierung der eigenen Person in eine der Verfolgung eigener politischer Ziele dienende Selbstinszenierung umzumünzen. In seinen Ausführungen zu Skandalen im Frankreich der Restauration und der Julimonarchie weist J ÖRN L EONHARD („Der Skandal im Zeitalter der Revolutionen: Frankreich 1814–1848“) an mehreren Beispielen nach, dass das eigentlich Skandalöse oftmals weniger aus der Sache selbst und ihrer moralischen Bewertung erwächst, sondern sich politischen Schachzügen und Instrumentalisierungsversuchen verdankt. In der Ouvrard-Affäre der Jahre nach 1822 etwa erklären sich Dauer und Virulenz des Skandals erst aus dem polemischen Zusammenhang, den liberale Oppositionelle und Teile der Öffentlichkeit zwischen dem Korruptionsvorwurf gegenüber dem Armeelieferanten Ouvrard und der zunehmend reaktionären Politik der französischen Regierung seit Beginn der 1820er Jahre herstellten. D ANIEL M OLLENHAUERS Beitrag „Skandal und Gegenskandal: Die Dreyfusaffäre (1894–1906)“ beschäftigt sich seinerseits mit jenem bzgl. der aufklärerischen und kritischen Funktion des Skandals zentralen Text Emile Zolas „J’accuse“; zugleich zeichnet er jedoch nach, wie sehr die wechselseitigen Skandalisierungen von dreyfusards und anti-dreyfusards dem politischen Machtkampf, u.a. dem Ringen von Traditionalisten und Anhängern der republikanischen Prinzipien der dritten Republik um die normative Neugestaltung staatlicher Institutionen wie des Militärs und der Justiz, geschuldet sind. Mit Blick auf die Medien und die ihnen unterstellte – hierfür steht Zolas bereits erwähnter, in der Tageszeitung L’Aurore 1898 veröffentlichter offener Brief „J’accuse“ – aufklärerische Funktion zeigt der Beitrag von J ENS I VO

19 Hondrich, „Skandale“. 20 Vgl. Burkhardt, Medienskandale, S. 231.

Einleitung: Skandal als Forschungsfeld – Ansätze, Konjunkturen, Leerstellen

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E NGELS („Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893“), wie sehr die unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen jener Presse-Organe, die sich mit dem Panama-Skandal beschäftigen, unter Aufkündigung objektiver, rationaler Perspektiven im Zeichen ideologischer Antagonismen den Skandal zuspitzen und vorantreiben.

Intentionalität und Eigendynamik Gewissermaßen am Ende dieses Wegs steht die permanente Skandalisierung von Politik(ern) durch die Medien in der gegenwärtigen Mediendemokratie. Diese, so I NGEBORG V ILLINGER in ihrem Beitrag „Riskante Wahlverwandtschaften: Medien und Skandale“, intensiviere die Überattribution moralischer Systeme in einer Weise, die eine demokratiegefährdende Wirkung entfalten könne, da sie zu einer stark homogenisierenden und totalisierenden Form von Willensbildung im politischen wie im gesellschaftlichen System beitrage. Dass die aufklärerische Dimension des Skandals am Ende gar in Gestalt einer idealisierenden Unterstellung politisch instrumentalisiert werden kann, betont der Beitrag von G UIDO T HIEMEYER („Der Skandal als Konstruktion eines transnationalen Kommunikationsraumes: Die Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich im Jahr 2000“) zur europaweiten, transnationalen Skandalisierung der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich, die sich an Fragen entzündet, die ursprünglich mit den nationalen Interessen der den Skandal rezipierenden und damit befördernden Länder nichts zu tun haben. Eine Steigerungsform dieser teilweise zynischen Ausprägung des politischen Skandals ist seine zumindest zeitweilige Unterdrückung zum Zweck des Machterhalts, so geschehen 1961, als der Tod vieler Algerier mitten in Paris mit dem Ziel der Stabilisierung der nationalen Einheit im Zeichen des Gaullismus weitgehend vertuscht wurde, bevor dieser zweifache Skandal als ‚PostSkandal‘ dann in den 1990er Jahren die öffentliche Debatte bestimmte (D.   H ÜSER ). Gerade das letzte Beispiel einer longue durée zeigt erneut, wie problematisch die Vorstellung ist, Skandale seien vor allem das Ergebnis absichtsvoller Inszenierung. Fast alle Beiträge des Bandes liefern stattdessen zahlreiche Belege für die kaum kontrollierbare, komplexe Eigendynamik des Skandals im Sinne der Verschränkung unterschiedlicher Absichten, ihrer (Re)Hierarchisierung, Aufgabe und Neudefinition. So lässt sich an den Debatten in Frankreich über das sogenannte Sakrileggesetz von 1825 verdeutlichen, dass die Vorwürfe und Unterstellungen der liberalen Opposition kaum etwas mit dem Gesetzesinhalt selbst zu tun haben, dass aber die leidenschaftliche wechselseitige Skandalisierung einen eigendynamischen politischen Prozess mit weitreichenden – und dieser Effekt dürfte für den Skandal typisch sein – anfangs kaum vorhersehbaren Langzeit-

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folgen in Gang bringt. Zum einen spaltet sich über die im nachabsolutistischen Frankreich im Raum stehende „manichäische Alternative zwischen Theokratie und Revolution“ das ultraroyalistische Lager, zum anderen gewinnt die Argumentation zugunsten einer Trennung von Kirche und Staat an Plausibilität und Durchschlagskraft, die bis zum Gesetz von 1905 in Frankreich politisch prägend bleiben sollte. Ähnliches offenbart die Dreyfus-Affäre. Zunächst argumentieren die dreyfusards systemimmanent, indem sie ‚nur‘ einen Justizirrtum anprangern, ohne einen öffentlichen Missstand zu postulieren. Erst das immer deutlichere Versagen der Institutionen führt dann zur Radikalisierung der Diskurse, zum Appell an die Öffentlichkeit und zur Skandalisierung im Sinne der Kritik am bestehenden politischen System (D.   M OLLENHAUER ).

Normbruch, Normwandel, Normenpluralität Zentral für die Vorstellung eines gelenkten Skandals ist darüber hinaus die Vorstellung von der Existenz eines allgemeinen Publikums mit einem einheitlichen Wertesystem, dessen Transgression den Skandal auslöst. Doch zeigen die hier versammelten Beiträge, wie problematisch diese Vorstellung nicht erst in der Gegenwart ist. Neben das Argument historischen Wandels treten dabei Strukturargumente, die den gesellschaftlichen Normbegriff und seine Affirmation als solchen betreffen. So zeigt J ENS I VO E NGELS am Beispiel gesellschaftlicher Korruptionspraktiken die historische Wandelbarkeit und damit die Relativität bestimmter Normen und der mit ihnen verbundenen Skandalisierungsprozesse, D ANIEL M OLLENHAUER mit Blick auf die Prozesslogik von Skandalisierungsprozessen, wie in der Dreyfus-Affäre Skandalisierer und Gegenskandalisierer von Beginn an unterschiedliche Normbrüche beklagten und damit im Grunde genommen verschiedene Skandale heraufbeschworen, eine Zeit- und Phasenverschiebung, die ein wichtiger, aber selten betrachteter Faktor der Zuspitzung von Skandalisierungsprozessen ist. Einen Extremfall dieser Skandallogik greift der Beitrag D IETMAR H ÜSERS auf, nämlich die Polizeirepressalien gegenüber algerischen Demonstranten im Paris der Spätphase des auch in der Metropole eskalierenden Algerienkrieges, und zeigt, wie sehr nicht primär der Normbruch zum Zeitpunkt seines Auftretens 1961, sondern erst dessen Rekonstruktion und zivilgesellschaftliche Aufklärung noch Jahrzehnte später einen Skandal hervorrufen können. Allerdings bezweifelt M ICHAEL D ELLWING in seinem soziologischen Beitrag „Doing Scandal: Skandal als Performativität des radikalen Beziehungsbruchs“ grundsätzlich, ob die Frage nach Normbrüchen, nach ihrer Vertuschung oder Enthüllung die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht unzureichend erfasst und lediglich die Vorderbühne der Rechtfertigungen sozialen Verhaltens ausleuchtet,

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ja letztlich sogar die Skandalforscher zu ‚Mitspielern‘ in diesem Rechtfertigungsprozess werden lässt. Aus interaktionistischer Perspektive plädiert M ICHAEL D ELLWING für die Fokussierung auf die prozessuale Komponente des Skandals im Sinne einer „Ethnografie der Skandalisierung“. Von dieser Position aus ist es nicht mehr weit zur Provokation anthropologischer Skandaltheorien, die, wie etwa René Girards Theorie des mimetischen Begehrens, eine Skandaldynamik beschreiben, die gänzlich ohne die Vorstellung einer gesellschaftlichen Norm auskommt. Den Skandal begreift Girard in seiner Studie Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz als eine zirkuläre Dynamik: „Der mimetische Zyklus beginnt mit dem Begehren und den Rivalitäten, er setzt sich fort in der Häufung der Skandale und in der mimetischen Krise, er löst sich schließlich im Opfermechanismus auf […].“21

Integration und Desintegration Es ist angesichts dieser Problematisierung des Normbegriffs und seiner möglichen Transgression offenkundig, dass die im Sinne gesellschaftlicher Homogenisierung gesellschaftsstiftende Funktion des Skandals allenfalls idealtypisch behauptet werden, dass der Skandal die Gesellschaft vielmehr auch spalten kann, und sei es in der paradoxen Figur der Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Partikulargruppen, die sich wie im Falle der Kritik an Isabella II. zum Zwecke der Skandalisierung zusammenfinden (B.   A SCHMANN ). Auch die Langlebigkeit der Dreyfus-Affäre wäre hier ein einschlägiges Beispiel. Kann man auf einer weniger historischen denn theoretischen Ebene überhaupt von einem gleichsam ungeteilten Öffentlichkeitsbegriff ausgehen, der als Resonanzraum des Skandals angesehen werden könnte? Im komplexeren Fall der sekundären Transgression, die sich laut Thompson aus der ihrerseits oftmals skandalös erscheinenden Reaktion auf Skandalisierungsprozesse, z.B. durch falsche Tatsachenbehauptungen, Ehrenworte etc., ergeben kann,22 spaltet sich der seinem idealtypischen Skandal-Modell zugrunde liegende allgemeine Begriff von Öffentlichkeit bereits auf (nur Teile des Publikums interessieren sich für die Dimension des MetaSkandals, der durch eine ihrerseits skandalisierte Reaktion auf den Skandal entsteht). An anderer Stelle seines Buches ist dann auch nur noch von „some nonparticipants“ die Rede, die sich durch das Verhalten Dritter skandalisiert sehen.23

21 René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München 2002, S. 56. Im französischen Original erschienen als Je vois Satan tomber comme léclair, Paris 2001. 22 John Thompson, Political Scandal. Power and visibility in the media age, Cambridge 2000, S. 24. 23 Ebd., S. 14.

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Welche Konsequenzen hat die Segmentierung bzw. Fragmentierung von Öffentlichkeit für das Skandalverständnis, die darüber hinaus und unabhängig von der Skandal-Problematik als ein Merkmal unserer zeitgenössischen Gesellschaft angesehen werden kann? Blendet eine holistische Auffassung von Öffentlichkeit nicht die dem Skandal vorausgehende, aber für ihn konstitutive Praxis der Skandalisierung aus, die auf intersubjektiver, halböffentlicher, und nur in geringem Maße über Massenmedien kommunizierter Grundlage ablaufen kann? Es ist sicher richtig, wenn man Skandale dabei einerseits in Abhängigkeit von neuen medialen Öffentlichkeitsstrukturen betrachtet; andererseits fördern Skandale als ein ‚Medium‘ gesellschaftlicher Beobachtung doch gerade deren Ausbildung, insofern die Kommunikation von Empörung als ein Merkmal des Skandals Öffentlichkeit zuallererst produziert. In einer ganz spezifischen Hinsicht allerdings erfüllt der Skandal eine gesellschaftsstiftende Funktion, die bisher ebenfalls nur wenig untersucht worden ist, nämlich dann, wenn transnationale Skandale zu nationaler Identitätsbildung genutzt werden. Dies zeigt das bereits erwähnte Beispiel der von den europäischen Institutionen, den nationalen Regierungen des EU-Raums sowie von unterschiedlichen kritischen Medien vollzogenen Skandalisierung rechtsextremer Tendenzen in Österreich im Jahr 2000 (G.   T HIEMEYER ): Dieser transnationale Skandal diente dabei zuvörderst der identitären Selbstvergewisserung anderer europäischer Nationen. Aber auch das Beispiel des Panama-Skandals sowie seine Rezeption in Deutschland zeigt, wie der Skandal zur Konstitution differentieller nationaler Fremd- und Selbstbilder dienen kann (J.   I. E NGELS ).

Nationale und transnationale Skandalkulturen Von dieser Perspektive zu trennen ist jedoch die Frage nach spezifischen, interkulturell verschiedenen Umgangsmustern mit dem Skandal, die ihrerseits auf eine Relativität der Gültigkeit skandalisierter Normen hindeuten. Lassen sich im interkulturellen Vergleich nationale Spezifika einer Skandalkultur benennen oder gibt es so etwas wie einen universellen Phänotyp des Skandals? Erneut wäre die Dreyfus-Affäre das Beispiel eines Skandals, der wohl nur vor einem ganz bestimmten nationalen historischen Hintergrund umfassend begriffen werden kann: Die politische Relevanz der Affäre erklärt sich so v.a. vor dem Hintergrund ihrer Deutung als Konflikt um die grundlegenden Werte der Republik in Bezug auf die Ideale der Französischen Revolution von 1789 (D.   M OLLENHAUER ). Gibt es grenzüberschreitende, transnationale Skandale, lässt sich eine Vergleichs- und Transfergeschichte des Skandals etablieren? Ein Paradebeispiel hierfür wäre das Phänomen der Korruption, das als paradigmatisch für eine „grenzüberschreiten-

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de Skandalkommunikation“ (J.   I.   E NGELS ) gelten kann, die auf die Etablierung national unterschiedlicher Korruptions- und Skandalkulturen hinausläuft. Worauf bezögen sich die eventuellen historischen Veränderungen verschiedener nationaler Skandalkulturen – auf die skandalisierten Normen, auf sich verändernde Öffentlichkeitsstrukturen, auf den Medienwandel oder gar auf einen variablen kollektiven Affekthaushalt im Sinne einer Geschichte der Emotionen? Dieser Frage gehen mehrere der historisch ausgerichteten Beiträge in diesem Band nach. So veranschaulicht J ÖRN L EONHARD für französische Beispielfälle der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie es Gesellschaften im Zuge von Skandalisierungsprozessen gerade durch Emotionalisierung, Personalisierung und Individualisierung tatsächlicher oder vorgeblicher Normbrüche ermöglicht wird, sich kollektiv zu entlasten, um dann in Frage stehende Werte und Normen neu zu verhandeln. Dass eben diese Neuverhandlungen Ausdruck bestimmter historischer Machtkonstellationen sind und daher erfolgreiche Skandalisierungen als Indizien für Verschiebungen in diesem Machtgefüge gelten können, illustriert S ABINE R U ßS ATTAR in ihrer politikwissenschaftlichen Fallstudie zu den affaires politico-financières im Frankreich des ausgehenden 20. Jahrhunderts („Skandale als Symptome und Katalysatoren politisch-kulturellen Wandels: Das Beispiel Frankreich“). Sie zeigt, dass Skandale bzw. „,Skandal-Cluster‘ – also in gedrängter Zeitfolge auftretende Gruppen von Skandalen“ sich nicht selten aus Verschiebungen innerhalb der Skandal-Trias von Skandalisierten, Skandalisierern und Publikum (u.a. durch die Professionalisierung von Justiz und Medien) erklären lassen und auch aus diesem Grund als Symptome und Katalysatoren politisch-kulturellen Wandels in den Blick genommen werden können. Auf die historische und interkulturelle Varianz des Phänomens Skandal und seiner Muster verweist auch I NGRID G ILCHER -H OLTEY , indem sie die gerade für Frankreich spezifische Differenz zwischen Skandal und Affäre konzeptualisiert, um im Anschluss die sogenannte Spiegel-Affäre zu analysieren. Dabei gilt ihr Interesse u.a. dem Vergleich der Protest- und Skandalisierungsstrategien im Deutschland des Jahres 1962 mit denen des Jahres 1968: Innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums hat hier offenbar ein Wandel des Aktionsrepertoires bzw. der „Interventionsstrategien von Intellektuellen“ stattgefunden. I NGRID G ILCHER -H OLTEY deutet dies letztlich als einen Hinweis auf die Rolle von Skandalen als kollektive gesellschaftliche Lernprozesse.

Ereignis und historische Struktur Die Beiträge des Bandes deuten in der Tat auf eine hohe Sensibilität des Skandals bezüglich Fragen seiner temporalen Ordnung hin, zu denen die grundsätzliche

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Frage gehört, inwieweit der Skandal ein (einmaliges) Ereignis oder eine (historische) Struktur darstellt: Während die Verdeckung eines Tatbestands dauerhaft sein kann, ist die zeitliche Erstreckung der Aufdeckung der Wahrheit zeitlich begrenzt bzw. punktuell. Jeder Versuch, Skandale zu ritualisieren, das heißt in den Repetitiv einer beständig sich wiederholenden Inszenierung zu überführen, hebt sie auf. Rituelle Denunziationen des Skandals nehmen die Form eines performativen Selbstwiderspruchs an: Sie widerlegen durch die Form der Behauptung ihren Inhalt. (J.   M EC KE ).

Dieser These steht die Frage nach Modellen des Skandals als historischer Struktur, etwa im Zusammenhang mit dem religiösen Skandal entgegen, für die das Schema der Wiederholung von Verdeckung und Aufdeckung konstitutiv zu sein scheint (A.   G ELZ ). Die religiöse Figur der Wiederholung par excellence ist dabei diejenige der Versuchung, als Ausdrucksform passiver Skandalisierung taucht sie in der Diskurswelt Spaniens in vielen literarischen wie nicht-literarischen Texten insbesondere seit der Gegenreformation auf. Im Rahmen des religiösen Schemas dient die Figur der Repetition als eine akkumulativer Logik gehorchende Steigerungsfigur (im Sinne z.B. der wiederholten Versuchung Jesu durch den Teufel) und daher, ganz im Gegensatz zu den Thesen J OCHEN M ECKES , als literarisches Äquivalent einer im Erzählrhythmus verankerten dia- wie synchronen Skandaldynamik. Dabei spielen insbesondere über die Figur des Sündenbocks operierende gesellschaftliche wie religiöse Ein- und Ausschlussmechanismen eine wichtige Rolle. Diese spezifische temporale und historische Logik entfaltet in Spanien sogar ein geschichtsphilosophisches Potential, wenn z.B. einflussreiche Historiker im 19. Jahrhundert die historische Sendung Spaniens in der Abwehr einer insbesondere seit der Französischen Revolution in ganz Europa angeblich proliferierenden Heterodoxie erkennen möchten. Die Säkularisierung dieses nicht nur für Spanien bedeutsamen religiösen Skandalverständnisses ist dabei ihrerseits weit weniger irreversibel als vor dem Hintergrund einschlägiger Modernisierungstheorien oftmals angenommen. Sie ist zwar einerseits das unbestrittene Ergebnis einer von Säkularisierungsprozessen geprägten europäischen Sattelzeit (H.   P FEIFFER ), andererseits aber Teil einer bis in die Gegenwart andauernden, von Ungleichzeitigkeiten bzw. einer unauflösbaren Oszillation geprägten Entwicklung zwischen religiösen und säkularen Polen, die sich progressiv zu überlagern beginnen. Man denke etwa an den Säkularismus als paradoxes Sakralisierungsphänomen oder die Sakralisierung der Kunst als impliziten Horizont des Skandals der historischen Avantgarde, die damit ihr ursprüngliches Anliegen, nämlich die Überführung der Kunst ins Leben, also die Destruktion der Autonomie des Systems Kunst, konterkariert (W.   A SH OLT ).

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Andere makrohistorische Hypothesen, die von den Beiträgern diskutiert werden, beziehen sich auf noch größere Zeithorizonte. So beschäftigt sich H ELMUT P FEIFFER mit der longue durée des Skandals der „riskanten Wahrheitsrede“ (Parrhesia) von der Antike über die Aufklärung bis zu den Romanen Dostojewskis, um schließlich seinerseits die ästhetische Moderne von Flaubert bis Manet in den Blick zu nehmen. Dieser letzten Entwicklungsphase scheint mit Blick auf die gesellschaftliche Rolle des Skandals im Sinne der Koevolution von Skandal und Moderne eine besondere Bedeutung zuzukommen. Das Evolutionsprinzip künstlerischer Avantgarden (W.   A SHOLT ) erscheint in diesem Zusammenhang als eine Art Paradigma der Funktionsweise des Skandals auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen: als Element der Negation und Ausgrenzung, das für Beschleunigung und Selbstbeschleunigung kultureller Entwicklungen im modernen Europa verantwortlich ist (J.   M ECKE ), bis hin zu jener „Dauerskandalisierung“, mit der sich I NGEBORG V ILLINGER in medien- und politikwissenschaftlicher Hinsicht auseinandersetzt. Ganz offensichtlich gibt es ungeachtet solch paradoxer Erscheinungsformen des Skandals zwischen Ereignis und Struktur durchaus so etwas wie ein SkandalGedächtnis oder – so J ÖRN L EONHARD in seinen Skandalbeispielen für das Frankreich der 1820er Jahre – „kollektive Deutungsspeicher, die historische Analogien und Vergleiche erlauben“. Ein solches Skandal-Gedächtnis kann, wie die Arbeit von D IETMAR H ÜSER zeigt, durchaus als intermittierend bezeichnet werden und von einem „Brücken-“ wie einem „Echo-Effekt“ geprägt sein, z.B. in Gestalt nachträglicher Enthüllung skandalträchtigen Verhaltens. Dies schließt die Möglichkeit der Wiederkehr des Skandals mit ein: als kontrovers diskutierter Wiedergänger bei W OLFGANG A SHOLT im Zusammenhang mit einer Avantgarde, die sich selbst überlebt hat, im Zusammenhang mit dem Versuch historischer Identitätsbildung bei G UIDO T HIEMEYER unter Rückgriff auf den Holocaust zur kritischen Bewertung der politischen Situation in Österreich unter dem Einfluss von Jörg Haider. Auch im Artikel von B IRGIT A SCHMANN sind solche Wiederholungsmuster erkennbar, erfolgt doch die in Zeitungskarikaturen der Königin Isabella II. geleistete Skandalisierung durch Überblendung des Königsporträts mit historischen, allegorisch bereits gefestigten Bildtypen des Skandals, wie den Emblemen der Inquisition, der Darstellung von Mönchen samt ihrer Geldsäcke und weiteren Figuren, die, weil sie nicht selten ein ausländisches Stereotyp über Spanien zur Anschauung bringen, dazu eingesetzt werden, die eigene Königin als fremd erscheinen zu lassen. Im Zusammenhang mit der Figur der Wiederholung, der Deutung gegenwärtiger Skandale im Lichte früherer gesellschaftlicher Erschütterungen spielt die Narration eine ganz besondere Rolle, als Archiv und Speicher jederzeit abrufbarer und performativ aktualisierbarer Verhaltens- und Deutungsmuster. Im Falle von

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Isabella II. waren dies neben den genannten Beispielen das Schema des Ehebruchs, das im Sinne einer Delegitimierungsstrategie auf die Regentin angewandt wird, transnationale Heterostereotype, wenn nicht sogar ganz bestimmte historisch vorgängige Skandale (B.   A SCHMANN ). Ebenso kann dieses Skandalgedächtnis über assoziative Prozesse der Überlagerung reaktiviert werden, wenn etwa der Skandalisierungsprozess des 17. Oktobers 1961 auch als Folge und Begleiterscheinung kumulativer Skandalisierung anderer Verbrechen, die im Namen des französischen Staates in kolonialhistorischen Kontexten begangen worden sind, und der damit einhergehenden öffentlichen Sensibilisierung begriffen werden kann (D.   H ÜSER ). Dabei kann es auch zu spezifischen historischen Verdichtungsmomenten kommen, in denen der Skandal seine besondere Wirkung entfaltet als Indikator, aber auch als Katalysator von bzw. in Umbruchssituationen, Sattelzeiten etc., die sich u.a. auf Genderleitbilder (etwa im Fall von Isabella II.), Versuche postkolonialer Umdeutung (u.a. des Algerienkriegs im Fall der Polizeirepressalien von 1961) oder auch Ansätze öffentlicher Neuaushandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat beziehen können (wie im Fall des sogenannten Sakrileggesetzes von 1825 in Frankreich, J.   L EONHARD ). Dieser Prozess wird, wie bereits erwähnt, auf den unterschiedlichen Ebenen des komplexen Kommunikationsgefüges, das der Skandal darstellt, von anderen Temporalitäten überlagert und katalysiert; zu nennen sind dabei die Ebene einer sich im Zeitverlauf verändernden Deutungshoheit über die Interpretation des Skandals im Sinne eines Wettkampfs um die diskursive Hegemonie im öffentlichen Raum sowie diejenige einer Geschichte der Medien, in denen der Skandal sich artikuliert, und ohne die der zu seiner Manifestation notwendige Empörungsgrad nicht erreicht werden könnte. So beschreibt D ANIEL M OLLENH AUER die zentrale Rolle des neuen Medienensembles um 1900 für die Dreyfus-Affäre, insbesondere die Entstehung einer Tagespresse mit Millionenauflage und den im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie im Zuge der Ausdifferenzierung der Presselandschaft relevanten Trend hin zum „Kampagnenjournalismus“. Besteht in den meisten Artikeln Konsens über die Bedeutung der medialen Ordnung des Skandals, sieht G UIDO T HIEMEYER die Medien eher als bloße Katalysatoren eines zuvor durch politisch motivierte Enthüllung ausgelösten Skandals. Diese sich geschichtlich verändernde Medienökonomie bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung und damit die öffentliche Wirkung des Skandals im Sinne seiner Halbwertzeit, der Zeit, in der er im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit steht.24

24 Zu einer allgemeinen ökonomischen Perspektive auf den Skandal vgl. Manuela Merki, Skandale. Eine ökonomische Betrachtung, Marburg 2010.

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Narration und Performativität des Skandals Die bisher beschriebenen Paradoxien und Ambivalenzen des Skandalbegriffs sowie die facettenreiche temporale Ordnung des Skandals lassen ihn insgesamt als komplexen Kommunikations- und Ereigniszusammenhang erscheinen, dessen Intentionalität, Sequenzialität und dessen Telos kaum je eindeutig nachvollzogen und auch nur selten gesteuert werden können. Dem Begriff Skandal eignet damit eine doppelte Struktur: Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Skandal ist dadurch gegeben, dass er sowohl mediale Darstellungen von und öffentliche Reaktionen auf Tatbestände meint als auch metonymisch deren Referenzobjekt, in der Regel die Überschreitung einer Norm. (J.   M ECKE )

Somit ist der Skandal nicht zuletzt auch als semiotisches, kulturpoetisches Modell in unterschiedlichen Medialisierungskontexten zu verstehen. Diese Besonderheit des Skandals ist nicht zuletzt einer der Gründe für die Produktivität, wenn nicht die Notwendigkeit interdisziplinärer Betrachtung des Skandals, der Verknüpfung geschichtswissenschaftlicher, soziologischer bzw. politikwissenschaftlicher und literatur- sowie kulturwissenschaftlicher Perspektiven. Doch wie ließe sich die Beziehung von Skandal und Literatur anders bestimmen als über Verfahren historischer Semantik, über eine in der bisherigen Forschung dominierende Stoff- oder Motivgeschichte des Skandals, oder über die Analyse ausgesuchter Fälle der Skandalisierung von Literatur selbst, sogenannter Literaturskandale? Die Antwort auf diese Frage müsste sich mit eventuellen Homologien zwischen Skandal und Text als Phänomenen gesellschaftlicher Kommunikation beschäftigen. Die Erzählung scheint daher trotz ihrer zu Beginn geschilderten konstitutiven Aporien im Umgang mit dem Skandal der privilegierte Zugang zur Komplexität des Skandals zu sein, als Versuch, ihm über die zeitliche Ordnung der Narration eine Handlungslogik, eine Kausalität und Finalität zu unterstellen. Die Funktion des Skandalnarrativs reicht dabei tatsächlich jedoch, auch hier bleiben wir im Paradox, von der Rationalisierung des Skandals auf der einen Seite bis hin zu seiner Potenzierung auf der anderen. Die Rationalisierung kann unterschiedliche Formen annehmen, z.B. die einer Art Gattungsgeschichte des Skandals im Sinne eines historischen Ausdifferenzierungsprozesses, der u.a. auch die Umkodierung und Interpretation konkreter SkandalExempla erlaubt. Getragen würde eine solche Gattungsgeschichte von einem Kanon paradigmatischer Skandale, die in unterschiedlichen Kontexten als Vergleichs- und Ordnungsgrößen eingesetzt werden könnten. Im engeren Sinn bestünde eine solche Gattungsgeschichte des Skandals darin, die unterschiedlichen Skandale und Skandaltypen mit Hilfe bestimmter literarischer Gattungsbezeichnungen zu fassen, u.a. als Drama, Märchen oder Mythos, wie dies Roland Barthes

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in seinem bereits erwähnten, 1959 in den Lettres Nouvelles bezeichnenderweise in der Rubrik Mythologies erschienenen Text „Qu’est-ce qu’un scandale?“ versucht hat, um die gleichsam mythische Indifferenz des Skandals bzw. des Skandalnarrativs gegenüber der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. In all diesen Fällen treten Analogien des Skandals zum Handlungsbegriff der Narration deutlich hervor. Gleiches gilt für ihre Pragmatik: So charakterisiert die Interaktion von Skandalisierer und Skandalisiertem als Merkmal des Skandals sowie die Erweiterung dieser dialogischen Struktur durch den Einbezug des Publikums den Skandal als Konflikt- bzw. Empörungskommunikation (als Praxis, Ereignis und Handlung) (W.   A SHOLT ). Der Skandal erscheint mithin als kommunikative, diskursive, narrative wie performative Repräsentationsform und zielt auf die Produktion von Bedeutungspluralität und Ambivalenz, als Konflikt der Interpretationen, der sich auf die Legitimität, die Attribution und Transgression von Normen bezieht. Eine Folge von Skandalisierungsprozessen kann dabei die Transformation kollektiver Wissensbestände und normativer Horizonte sein – und dies u.a. vor dem Hintergrund der Rolle der Literatur als privilegiertem Medium des Skandals, die ihn nicht nur repräsentiert, sondern Teil seiner Dynamik wird und dabei ihrerseits skandalisiert werden kann. Im Vordergrund der interdisziplinären Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive stünde demnach eine Poetik des Skandals (A.   G ELZ ), die für die Entstehung jener bereits erwähnten und für den Skandal charakteristischen Ambivalenz zwischen der Ausbildung von moralisch vereindeutigenden Semantiken mit disziplinierender Wirkung auf das Publikum auf der einen und der Problematisierung der „Grenzen des Sagbaren“25 auf der anderen verantwortlich wäre, für jene Mehrdeutigkeit bzw. Duplizität der kommunikativen Wirkung des Skandals zwischen Komplexitätsreduktion und -steigerung und jene Performativität des Skandals, die André Breton in die Formel gekleidet hat, der einfachste surrealistische Akt sei es, mit einer Pistole in eine Menschenmenge zu schießen.26 Dieses Bild provoziert geradezu unterschiedliche interdisziplinäre, ästhetische wie handlungstheoretische, ethische und epistemologische Perspektiven auf das Phänomen des Skandals angesichts der in ihm verkörperten, im surrealistischen Bild sinnfällig werdenden Gefahr des vollständigen Bruchs mit überkommenen Wissensbeständen, Wertvorstellungen, Verhaltenssicherheiten. Die beschriebene Duplizität des Skandalnarrativs zwischen einem Pol der Repräsentation bzw. der paradoxen Repräsentation des nicht Repräsentierbaren 25 Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 14. 26 Vgl. André Breton, „Second manifeste du surréalisme“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Marguerite Bonnet u.a. (Hrsg.), Paris 1988, S. 782 f. Vgl. zu dieser Passage den Beitrag von Wolfgang Asholt in diesem Band.  

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und einem der Performanz sowie die unabgeschlossene Oszillation zwischen semantischer Ein- und Entgrenzung, die durch Verfahren der Distanznahme vom Skandal wie Ironie, mise en abyme sowie weitere Reflexionsfiguren nicht aufgelöst, sondern geradezu potenziert werden, unterscheidet den Skandal als Erzählmuster von anderen Narrativen wie z.B. dem des Bildungsromans, oder demjenigen der autobiographischen Literatur, die den Wandel historischer Sinnhorizonte ebenfalls auszudrücken in der Lage wären, in denen mit der eigenen Person ggf. verbundene Skandale bzw. Reaktionen auf gesellschaftliche Skandale jedoch dann typischerweise als formatives Prinzip bzw. Strukturelement, Etappe der eigenen Biographie umgedeutet und damit in gewisser Weise relativiert werden.

Ubiquität und Selbstreferentialität Inwieweit allerdings der Skandal in einer immer stärker fragmentierten Öffentlichkeit noch im traditionellen Sinn funktionieren kann, einer Öffentlichkeit, die weder durch ein einheitliches Skandalpublikum noch – in Zeiten von Globalisierung und globaler Netzwerkbildung, der Vermischung gesellschaftlicher Sphären und kultureller Traditionen, Normen und Werte – durch einheitliche Normvorstellungen geprägt wird, die skandalisiert werden könnten, ist ungewiss. Ob sich am Beispiel des Skandals nicht vielmehr die Aporie der Avantgarde, die auf die Aufhebung der ästhetischen wie gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet war, die sie zugleich benötigt, um sie subvertieren zu können, erneut manifestiert, muss offen bleiben.27 Auch wenn J OCHEN M ECKE gegen diese Entdifferenzierungsthese das Beispiel der Immoralismus-Prozesse gegen die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und ihre Autoren wie Flaubert und Baudelaire anführt, um zu zeigen, dass der Skandal historisch vielmehr gerade der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und damit der Herausbildung eines autonomen literarischen Feldes gedient hat, muss darauf verwiesen werden, dass es seinerseits aber durch dessen (ökonomische) Regeln erneut gesellschaftlich assimiliert zu werden droht (W.   A SHOLT ). Die Ökonomisierung (der Kunst) kalkuliere den Skandal als Innovationsfaktor ein, der daher auch keine subversive Bedeutung mehr habe. Die bereits erwähnte Forderung Michel Foucaults nach Abgrenzung von Skandal und Transgression (W.   A SHOLT ), die es erlauben sollte, die differenz27 Zu einer mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Erinnerung an den Holocaust affirmativeren Bezugnahme auf Formen der künstlerischen Avantgarde unter dem Stichwort „provoking to remember“ (S. 12) vgl. Andrew S. Gross/Susanne Rohr, Comedy – Avant-Garde – Scandal. Remembering the Holocaust after the End of History, Heidelberg 2010.

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theoretische Wirkung des Skandalmechanismus ohne dessen ethisch-moralischen Implikationen zu fassen, scheint in einer ganz anderen als der intendierten Art und Weise, nämlich in einer Art Stigma-Management (M.   D ELLWING ) Wirklichkeit geworden zu sein. Ist der Skandal in der Gegenwart also selbstreferentiell geworden, ein sanktionsfreies Spektakel, wie J OCHEN M ECKE mit Guy Debord (société du spectacle) argumentiert? Endet hier die Aussicht auf einen „scandale pour le scandale“ (Aragon) als vollständiger Bruch mit allen Sinnsystemen, als Ausdruck radikaler Freiheit, einer Alterität, die nicht begriffen werden kann? J OCHEN M ECKE geht in seiner zeitdiagnostischen Untersuchung daher von der paradoxen Situation aus, den Skandal in einer angeblich postskandalösen Epoche zu konzipieren. Das Spannungsfeld von postmoderner Skandalisierung des Skandals als Inszenierung, die er von der traditionellen Gegenskandalisierung unterscheidet, auf der einen und des Postulats eines wirklichen, tatsächlichen Skandals, der im Ausbleiben jeglichen Skandals bestünde, auf der anderen, möchte er dabei am Beispiel einiger Texte der französischen Gegenwartsliteratur nachweisen. Aber möglicherweise ist auch diese letzte Skandal-Konfiguration nicht so neu, wie sie uns erscheinen mag. Zur Beschreibung der paradoxen Figur eines Konflikts, für den es keine übergeordnete Entscheidungsregel gibt, keine Norm, in dem der Skandal als solcher erscheint, aber auch aufgelöst werden könnte – sein Beispiel ist der Skandal der natürlichen Religion in der europäischen Aufklärung und die Unmöglichkeit eines rationalen Gottesbeweises, der Wissen und Glauben in ein diskursives Normsystem zusammenzwingen könnte – verwendet H ELMUT P FEIFFER den von Jean-François Lyotard geprägten Begriff des Widerstreits, des „différend“.28 In dieser Figur sieht er die typische Konstellation einer modernen, seit der Aufklärung dominierenden Skandalkultur, „die sich gerade außerhalb stabiler Relationen von Zentrum und Peripherie, Autorität und Gegendiskurs etabliert“ (H.   P FEIFFER ).

28 Vgl. Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983.

Helmut Pfeiffer, Berlin

Der Skandal der natürlichen Religion Dieu est un scandale, – un scandale qui rapporte. (Baudelaire, Fusées, XI)

I Voraussetzungen I.1 Parrhesia Die Wahrheit zu sagen ist zuweilen keine ungefährliche Angelegenheit, schon der bloße Wahrheitsanspruch kann anstößig sein, wenn das Terrain bereits durch Konkurrenten besetzt ist. Diese Erfahrung kann den, der die Wahrheit zu sagen unternimmt, unerwartet treffen.1 Seine Rede (oder seine Schrift) wird von den Adressaten als Provokation, Normverletzung, Skandal, Ikonoklasmus, etc. denunziert, er gerät in die Rolle des Sündenbocks, weil er die unausgesprochenen Erwartungen und stummen Geltungen einer Gemeinschaft sabotiert. Aber der Redner oder Autor kann diese Rolle auch provokativ in Anspruch nehmen, ein einschlägiges Repertoire von rhetorischen Gesten steht meist zur Verfügung, häufig wird es gerade dann forciert eingesetzt, wenn das, was er zu sagen hat, Darbietungsversionen und Rezeptionsspielräume zuließe, die auch ohne drastische Zuspitzung und Dramatisierung operieren könnten. Es gibt ein Rollenspektrum der Wahrheitsrede, auf das ein Sprecher rekurrieren kann, im Interesse der Verschärfung wie der Entschärfung seiner Intervention. Und ähnlich verfügt das Publikum über ein Repertoire von Codes, um mit der Zumutung der Wahrheit umzugehen, von der Ignoranz bis zur Skandalisierung. Es versteht sich von selbst, dass eine Epoche wie die der Aufklärung, die ein ausgeprägtes Bewusstsein neuer und dringlicher Wahrheiten mit dem Wissen um konkurrierende und agonale Wahrheitsansprüche verbindet, eine erhebliche,

1 So wie es, um ein Beispiel aus dem einschlägigen Zusammenhang zu nehmen, nach dem Zeugnis Christoph Friedrich Nicolais offenbar Lessing mit der Veröffentlichung der Fragmente aus Reimarus’ Apologie erging: „Diese Herausgabe hatte hingegen, leider! für ihn sehr unangenehme Folgen … Dadurch kam Lessing in Händel mit der orthodoxen theologischen Partei. Das war aber bei der Herausgabe gar nicht seine Meinung; denn, man mag es mir glauben oder nicht, seine Absicht war, der orthodoxen Partei durch die Herausgabe einen Dienst zu erzeigen“, Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 7, Herbert G. Göpfert u.a. (Hrsg.), München 1976, S. 882.

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manchmal spektakuläre Virtuosität im Umgang mit und im Einsatz von Wahrheitsrollen entwickeln musste. Der Rekurs auf verfügbare Modelle war unabdingbar, ebenso der Anspruch ihrer Überbietung und Transformation. Jean-Jacques Rousseau, unablässig zwischen den Polen eigenen Skandalisierungswillens und der Zurückweisung von auferlegter Fremdskandalisierung changierend, hat sich beispielsweise die Formel vitam impendere vero aus Juvenals vierter Satire zum Lebensmotto erhoben, und er hat zugleich den gesellschaftssatirischen Sinn der Formel verwandelt, in dem Anspruch zunächst, den Zeitgenossen nützliche, aber gleichzeitig unangenehme Wahrheiten mitzuteilen, schließlich aber in einer Hypertrophierung der Wahrheitsrolle, die das autobiographische Subjekt zu Beginn der Confessions zum Rivalen göttlichen Wissens stilisiert. In den letzten Vorlesungen, die Michel Foucault in den Jahren 1983 und 1984, kurz vor seinem Tod, am Collège de France gehalten hat, geht es um das Verhältnis der politischen und der ethischen Seite von Herrschaft, Herrschaft über andere und Beherrschung des eigenen Selbst, le gouvernement de soi et des autres. Die Vorlesungen sind erst Anfang 2009 erschienen, unter dem bezeichnenden Titel Le Courage de la vérité.2 Es geht Foucault in diesem Kontext weniger um Herrschaft und Biopolitik als um das politisch wirksame Ethos des Individuums, um einen Modus der Selbstsorge, der sich gerade deshalb in einer öffentlichen Wahrheitsanmaßung manifestiert, weil er eine Wahrheit des Selbst zur Geltung bringt. Der Begriff, um den Foucaults Interpretationen einiger philosophischer, vor allem platonischer Texte kreisen, heißt parrhesia, vielleicht am ehesten mit ‚offene Rede‘ oder ‚Redefreiheit‘ zu übersetzen.3 Foucault versteht sie als spezifischen Modus der Wahrheitsrede (véridiction), der von konkurrierenden Wahrheitsmodellen, wie sie exemplarisch in prophetischer Rede, im Weisheitsanspruch oder auch im Diskurs technischen Wissens ausgeprägt sind, zu unterscheiden ist. In der parrhesia – und das macht ihre unverwechselbare Signatur aus – verbindet sich die Sorge um die Polis (oder die Gesellschaft) mit epimeleia, der Sorge um das eigene Selbst. Und beides steht im Zeichen des Risikos, der Gefahr, der Todesdrohung, weil das Programm der parrhesia eine Reaktion auf Krisensituationen darstellt, in der das gemeinsame Fundament der öffentlichen Rede, die Ordnung der Polis oder auch, später, das Fundament der Lebenswelt, brüchig geworden ist. Das Skandalon der parrhesia liegt darin, dass sie einen Riss von Anspruch und Wirklichkeit aufdeckt, und für diese Enthüllung mit dem Ethos des Sprechers einzustehen bereit ist. Die Wahrheitsrede der parrhesia ist skanda2 Michel Foucault, Le Courage de la vérité. Le gouvernement de soi et des autres, Bd. 2, Frédéric Gros (Hrsg.), Paris 2009. 3 Seit 2006 gibt es die von der University of Melbourne lancierte Zeitschrift Parrhesia. A Journal of Critical Philosophy. Sie kümmert sich um die neuesten Entwicklungen der continental philosophy.

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lös, weil sie der Polis eine unerträgliche Differenz von Selbstwahrnehmung und tatsächlicher Verfasstheit zumutet, und sie ist für den Sprecher gefährlich, weil sie kein rhetorisches Dekorum respektiert, sondern ihn der Gefahr von Ostrazismus oder gar Tod aussetzt. Sie provoziert die Gewalt derer, die sich der politischen und ethischen Wahrheit nicht stellen wollen oder können. Für Foucault ist deshalb der sogenannte Todeszyklus des Sokrates, also die platonischen Dialoge von der Apologie bis zum Phaidon, so etwas wie das dramatische Gründungsszenario der riskanten Wahrheitsrede. Denn anders als die Rhetorik verweigert sich die parrhesia jeder Rücksichtnahme auf Aptum und Dekorum, anders als der Weisheitsrede steht ihr die Möglichkeit des Rückzugs ins Schweigen nicht zu Gebote, und anders als in den Sprachen der Technik ist in ihr der ethische Anspruch unweigerlich impliziert. Foucaults skizzenhafte Interpretationen offerieren keine Geschichte der parrhesia. Dass sie systematisch nicht auf den antiken Konnex von Ethik und Politik beschränkt ist, lassen kursorische Andeutungen zur Virulenz der parrhesia in der Ästhetik und Politik der Moderne erkennen, von den Revolutionären in den Romanen Dostojewskis bis zu den Selbstpositionierungen der ästhetischen Avantgarde Flauberts, Baudelaires oder Manets. Zugleich bleibt damit aber sichtbar, dass die Variationen des Gegenstands- und Adressatenbezugs stets auf eine Figur des Ethos von Sprecher und Autor bezogen sind. Die parrhesia lebt aus dem Anspruch der unbedingten Identifikation mit dem Gesagten, er begründet ihr modernes Pathos der Authentizität, aber er provoziert zugleich jene spektakulären Inszenierungen und paradierenden Maskeraden, deren zentrales Aufklärungsparadigma vielleicht Diderots Neveu de Rameau darstellt. Bereits mit den antiken Zynikern, so Foucault, nehme die Exposition der eigenen Lebensform den Charakter eines „scandale vivant de la vérité“4 an, die parrhesia tritt als ostentative Schamlosigkeit auf, macht sich selbst zu einem Tableau vivant, weil sie die Exzentrik der philosophischen Lebensform in die Provokation der Exklusion durch die Gesellschaft transformiert. Die Aufklärung erinnert sich solcher Rituale, und sie transponiert sie gerade in jenes Feld konkurrierender Wahrheitsansprüche, wo die Potentiale der Skandalisierung wie der Exklusion noch immer am massivsten sind – der Religion. Die Provokationen jener marginalisierten Figuren, als die man Spinoza oder Bayle epochal noch ansprechen kann, machen agonalen Zuspitzungen Platz, deren Wahrheitsansprüche auf das Zentrum zielen und es in den Räumen einer neuen Öffentlichkeit herausfordern.

4 Foucault, Le Courage, S. 166.

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I.2 Wissen und Leben Es ist durchaus nicht offensichtlich, dass sich der Komplex der natürlichen Religion zu jenen Skandalisierungen eignet, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts um ihn bündeln. Der Begriff ist so weit, dass man das Gemeinte historisch bis in die Antike zurückverfolgt hat, und die theologisch-philosophischen Debatten um den Begriff, von Thomas von Aquin und Raimundus Sabundus’ Theologia naturalis bis zu den Physikotheologen des 17. und 18. Jahrhunderts, drängen nicht zwangsläufig auf einen Widerspruch von Wissen und Glauben hin. So lange es bei natürlicher Religion um Teleologie geht, um den Ausweis einer zweckmäßigen Ordnung des Kosmos, die als Zeichen des Schöpferwillens und intelligenten Designs gelesen wird, so lange steht das Thema in der Tradition der Finalursachen, ein scholastischer Aristotelismus lebt in der Physikotheologie fort. Die einschlägigen Titel sind Programm: Joseph Butler, The Analogy of Religion, Natural and Revealed, to the Constitution and Course of Nature (1736); Samuel Clarke, A Discourse Concerning the Being and Attributes of God, the Obligations of Natural Religion, and the Truth and Certainty of the Christian Revolution (1704–1705); Lord Kames, Essays on the Principles of Morality and Natural Religion (1751); Hermann Samuel Reimarus, Von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754).5 Die natürliche Religion lässt Fragen der Offenbarung beiseite, aber sie tritt nicht automatisch in Konkurrenz zu ihr. Immerhin kann sie Analogien von Natur und Offenbarung nachweisen, in der Form der Theodizee auch zur Rechtfertigung Gottes angesichts der realen oder vermeintlichen Übel in der Welt antreten. Sein Skandalpotential entfaltet der Komplex der natürlichen Religion erst dort, wo er einer doppelten Transformation unterzogen wird: zum einen in einer massiven Fokussierung der Fragen und Probleme, die ins Spiel gebracht werden, auf den Gegensatz zur Offenbarung; zum andern in der Anthropologisierung dessen, was ihren Gegenstand ausmacht. Das, was nunmehr natürliche Religion heißen kann, versteht sich nicht mehr aus der staunenden Kontemplation eines teleologischen Designs, sondern als Ergebnis eines komplexen Ensem-

5 Vgl. dazu Dieter Groh, Schöpfung im Widerspruch, Frankfurt am Main 2003 und Dieter Groh/ Ruth Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt am Main 1996. Vgl. auch Robert H. Hurlbutt, Hume, Newton and the Design Argument, Lincoln/Nebr., 1965. Andere Titel: John Ray, The Wisdom of God Manifested in the Works of the Creation (1692); Richard Bentley, A Confutation of Atheism from the Origin and Frame of the World (1692); William Derham, Physico-Theology (1713); Andrew Michael Ramsay, Philosophical Principles of Natural and Revealed Religion (1748–1749); Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes (teilweise 1777 durch Lessing veröffentlicht, die Endfassung erscheint erstmals 1972).

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bles der Leistungen der menschlichen Natur. Sie ist es, die Religion produziert – und man kann sich nun fragen, ob das auch wünschbar, nützlich, vor allem aber richtig ist. Man sieht die diskursiven Ausgrenzungsstrategien der Aufklärung deutlicher, wenn man vom ausgehenden 19. Jahrhundert zurückblickt, wo Max Müllers Begründung der Religionswissenschaft noch einmal zentral mit Begriffen wie natural religion oder auch physical religion arbeitet. William James hält 1901/1902 seine als Varieties of Religious Experience publizierten Gifford Lectures on Natural Religion in Edinburgh.6 Religion als Erfahrung – das heißt für James Vielfalt des Lebensbezugs, Religion in diesem Sinne meint „the feelings, acts, and experiences of individual men in their solitude, so far as they apprehend themselves to stand in relation to whatever they may consider the divine.“7 Die Perspektive des Pragmatismus modelliert einen Begriff religiöser Erfahrung, der von aller philosophischen Explizität, theologischen Dogmatik und kirchlichen Organisationsform absieht, um sich ganz auf die Erfahrungsseite der Religion zu konzentrieren. Diese immediate personal experiences vindizieren der Religion eine Bandbreite, welche Emotionen, Handlungen und Erfahrungen umgreift. Die Anthropologie des Pragmatismus profiliert den umfassenden Charakter religiöser Erfahrung, diese mobilisiert das Ganze der Person. Charles Taylor hat in seiner kürzlich vorgelegten, großangelegten Diagnose der Moderne, A Secular Age8 – auch sie wurde zunächst in der Form von Gifford Lectures vorgetragen – im Blick auf das 18. Jahrhundert einen Prozess beschrieben, den er „radical secularity“ nennt. Gerade weil er ihm skeptisch gegenübersteht und ihn für ein anthropologisch nicht durchzuhaltendes Programm hält, versucht Taylor über gängige Säkularisierungstheorien hinaus die Radikalität eines Prozesses zu beschreiben, dessen anthropozentrische Implikationen und Postulate die Kontingenz der Religion – in der Fragwürdigkeit ihres Wissens wie in der objektivierenden Distanzierung ihrer Erfahrungsseite – polemisch herauszutreiben suchen. Radical secularity meint zweierlei: zum einen den Verzicht auf

6 William James, The Varieties of Religious Experience, New York 1965. Die Kritik am Finalismus der vorkritischen natürlichen Theologie der Aufklärung wählt, aus darwinistischem Blickwinkel, als Angriffsobjekt den „dry-as-dust head“ Christian Wolff und seinen „baby-like faith in the personal and human character of Nature. The books of natural theology which satisfied the intellects of our grandfathers seem to us quite grotesque, representing, as they did, a God who conformed the largest things of nature to the paltriest of our private wants. The God whom science recognizes must be a God of universal laws exclusively, a God who does a whole-sale, not a retail business“, S. 535 f. 7 Ebd., S. 36. 8 Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, Mass. 2007.  

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transzendente, göttliche Begründung gesellschaftlicher Ordnung, zum zweiten die Tilgung jener Bezüge und Rahmungen, welche über die Immanenz kontinuierlicher Selbstkonstitution und -reproduktion mundaner Ordnung hinausgehen.9 Radikale Säkularität legt insofern den Sinn von Säkulum (wieder) frei, im Gegensatz zu allen Modalitäten von „höheren Zeiten“ („higher times“)10 geht es in ihr um die Exklusivität einer profanen Zeit, in der der Sinn einer durch Handeln zu etablierenden Ordnung zuallererst realisiert werden muss. Der Ausdruck meint also so viel wie Autopoiesis – der Begriff fällt hier nicht – des Sozialen, ohne metaphysische Bezüge, transzendente Sicherungen, Verdichtungen der höheren Zeit des Kairos. Aber radikale Säkularität wäre ohne eine anthropologische, genauer: anthropozentrische Wende (anthropocentric shift) nicht denkbar, welche ihre Immanenz garantiert und von dieser wiederum zirkulär verstärkt wird. Wenn radikale Säkularität den Transzendenzbezug der gesellschaftlichen Zeit und ihrer Handlungsräume löscht, weil letztere nunmehr von einer radikal immanent orientierten metatopical common agency organisiert werden, so höhlt die anthropozentrische Wende die stillschweigenden Voraussetzungen der Theologie aus, indem sie ihren Ort in der menschlichen Natur markiert. Darin liegt der Sprengsatz, der sich mit dem Konzept der natürlichen Religion maskiert, um sie als Skandalon affirmativ auszustellen, später allerdings auch zu denunzieren. Der Komplex der natürlichen Religion wird damit zum Ort, wo Deutungs- und Wahrheitsansprüche skandalisierend verschärft werden, im Vertrauen darauf, dass das Ethos des Autors und seine parrhesia den Traditionalismus finalistischer Dogmen ins Licht autonom-vernünftiger Wahrheit stellen und seinen Vorurteilscharakter enthüllen werden. Die anthropozentrische Wende impliziert insbesondere eine Neutralisierung der Spielräume einer Interaktion mit Gott. Innerweltliches Handeln bleibt auf eine Ordnung bezogen, die zwar noch als göttlich apostrophiert wird, um ihr einen Kern von Verbindlichkeit zu sichern, die aber ansonsten die Interventionen partikularer Providenz ausschließt. Damit ist so etwas wie die eclipse of grace vollzogen. ‚Realisierung‘ (realization), Taylors Begriff, meint durchaus die Doppelseitigkeit von Wahrnehmung und Verwirklichung. Aber die Betonung liegt nunmehr auf der Handlungsseite, welche seit der Aufklärung als sympathetische Soziabilität aufgefasst werde, als Kooperation gutwilliger Akteure, die momenthafte Eingriffe göttlicher Willensakte nur als Störung der Kontinuität ihrer meliorativen Intentionen begreifen können. 9 Vgl. ebd., S. 192: „[radical secularity] stands not only in contrast with a divine foundation for society, but with any idea of society as constituted in something which transcends contemporary common action.“ 10 Ebd., S. 195.

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Der anthropozentrische Fokus realisiert sich als Kritik, aber vielleicht noch mehr und wirksamer in Modalitäten des Verschwindens, der Tilgung wie des Verlierens. Klassische Themen der Theologie verlieren ihre Plausibilität und werden nicht mehr diskutiert. Die Entfaltung der Soziabilität sistiert alle Fragen der Theosis, ähnliches gilt für die Christologie und die Bedeutung der Heilstat des Erlösers. Indem das Handeln ganz im Sozialen aufgeht, werden Fragen des gottgefälligen Lebens marginal. Die Religion schrumpft auf Aspekte des Wissens und der Erkenntnis, begleitet von der Sorge um die innerweltliche Moral, deren Virulenz der Empirismus verschärft. Im Blick auf die Zentrierung der Diskussionen der Aufklärung auf kosmologische Themen der Schöpfung und der allgemeinen Vorsehung spricht Taylor von einer „pre-shrunk religion“.11 In der Reduktionsform ist sie einer doppelten Kritik ausgesetzt: Sie treibt sowohl in distanzierten Modi der Weltbeobachtung die Kontingenz der Designargumente wie die Substituierbarkeit religiös begründeter Moral durch eine anthropologisch fundierte gesellschaftliche Moral hervor. Radikale Säkularität operiert als Verengung der religiösen Thematiken, sie etabliert das buffered self, das nicht mehr jederzeit durch Transzendenz adressierbar ist, sondern seine anthropologische Souveränität proklamiert. Ihr spektakuläres Symptom ist die Theodizeediskussion, welche die Gerechtigkeit Gottes aus der Ordnung des Kosmos herleitet: Sie macht Gott den Prozess und spricht ihn generös frei, weil sie sich selbst die theoretische Bewältigung der Unordnung und des Bösen zutraut. Die natürliche Religion kann nun zum Terrain werden, auf dem die Natürlichkeit der Religion ausgehöhlt wird – vom kosmologischen Design bis zum anthropologischen Ausstattungsmerkmal. Indem durch die überwiegend stummen Manöver der Fokussierung, der Ausgrenzung und des Verschwindens die geoffenbarte Religion zur Disposition gestellt wird und ihr finalistisches physikotheologisches Komplement Plausibilität verliert, wird ein Raum für spektakuläre Skandale geschaffen. Skandalöse parrhesia und autoritätsgestützte Skandalisierung steigern sich in ihm wechselseitig.

11 Ähnlich hatte schon Emile Durkheim in Les Formes élémentaires de la vie religieuse die „théoriciens qui ont entrepris d’exprimer la religion en termes rationnels“ kritisiert: „Dans tous les cas, c’étaient les représentations, les croyances qui étaient considérées comme l’élément essentiel de la religion: Quant aux rites, ils n’apparaissaient, de ce point de vue, que comme une traduction extérieure, contingente et matérielle, de ces états internes qui, seuls, passaient pour avoir une valeur intrinsèque.“ Demgegenüber gelte es festzuhalten: „[…] la vraie fonction de la religion n’est pas de nous faire penser, d’enrichir notre connaissance, d’ajouter aux représentations que nous devons à la science des représentations d’une autre origine et d’un autre caractère, mais de vous faire agir, de nous aider à vivre“, Paris 2007, S. 586 f.  

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II Skandal des Glaubens In seinen Mémoires secrets pour servir à l’histoire de la république des lettres en France, depuis 1762 jusqu’à nos jours, kurz vor der Revolution 1784–1789 in London publiziert, notiert Louis-Petit de Bachaumont am 26. Mai 1762, unmittelbar nach dem Erscheinen von Rousseaus Emile: „On remarque aussi que le tout n’est pas parfaitement lié; il y a des pieces de rapport, & qui ne sont pas bien fondues dans l’ouvrage, des choses très-hardies contre la religion & le gouvernement. Ce livre, à coup sûr, fera de la peine à son auteur.“12 Der Autor moniert, was viele andere Leser auch feststellen werden, eine vermeintliche Heterogenität und Formlosigkeit des Traktates, was angesichts des bislang in den Disziplinen des Wissens vernachlässigten Gegenstandes der Erziehung kaum überraschen kann, aber eben auch seine Originalität und die Neigung Rousseaus zu paradoxen Konstruktionen. Vor allem aber hebt Bachaumont eine Kühnheit seiner Thesen hervor, die sich gegen die politische Ordnung und die Dogmen der Religion richtet, und die daher auf den Autor zurückzuschlagen droht. Sie wird, wie es heißt, dem Autor wehtun. Rousseau provoziert einen Skandal, aber er selbst wird zu seinem Opfer werden. Es überrascht daher nicht, dass der Autor der Mémoires bereits wenige Tage später, am 31. Mai, festhält: „Le livre de Rousseau occasionne du scandale de plus en plus. Le glaive & l’encensoir se réunissent contre l’auteur, & ses amis lui ont témoigné qu’il y avoit à craindre pour lui.“13 Nicht le scandale, sondern du scandale – der Skandal erscheint als eine undifferenzierte, wie eine Lawine anschwellende Masse, die den Autor des Emile zum Opfer machen wird. Thron und Altar, politische Macht und theologische Autorität, die Allianz von Schwert und Weihrauchfass werden noch einmal zur Einheit, indem sie den Autor des skandalösen Buchs zum Sündenbock für die Symptome der Auflösung überkommener Ordnung machen. Die Reaktion kann angesichts des hypertrophen Originalitätsanspruchs Rousseaus kaum überraschen, betont er doch, er sehe nicht wie die anderen: „Ce n’est pas sur les idées d’autrui que j’écris c’est sur les miennes.“14 Die Konsequenzen werden für den

12 Jean-Jacques Rousseau, Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau, 51 Bde., Ralph Alexander Leigh (Hrsg.), Genève 1965–1995, hier: Bd. 11 (1970), S. 261. Rousseau selbst hatte bereits die Ordnungslosigkeit seines Werks unterstrichen, als er von einem „recueil de réflexions et d’observations, sans ordre, et presque sans suite“ sprach. Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Emile. Education – Morale – Botanique, Bd. 4, Marcel Raymond u.a. (Hrsg.), Paris 1969, S. 241. 13 Rousseau, Correspondance, Bd. 11, S. 261. 14 Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, S. 242.

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Autor jedenfalls beträchtlich sein – erst das Exil, das ihm Friedrich der Große im Schweizer Jura gewährt, wird Rousseau eine Zeit lang vor Verfolgung bewahren, ehe er selbst, im Gefolge der lapidation de Moutiers, wieder das Schema des bouc émissaire aufruft und für sich in Anspruch nimmt. Das parlement von Paris fällt am 3. Juni 1762 ein Urteil, welches den Emile dazu verurteilt, „à être laceré & brûlé par l’exécuteur de la Haute-Justice“.15 Dieser, auch von anderen Instanzen gegen den Emile verwendeten Formel folgt eine Begründung, die vor allem auf die religionskritische Seite des Werks abhebt; unter souveräner Missachtung der Erziehungsprogrammatik der ersten drei Bücher des Emile zieht sich für das Gericht das ganze Werk zu einer singulären Skandalfigur zusammen, deren Name „natürliche Religion“ lautet: „[…] cet Ouvrage ne paroit composé que dans la vûe de ramener tout à la Religion naturelle […] l’Auteur s’occupe, dans le plan d’Education qu’il prétend donner à son élève, à développer ce systême criminel.“16 Das Buch entfaltet also ein verbrecherisches System, indem es alles auf die „natürliche Religion“17 zurückführt, was auch immer das besagen soll.18 In der Konsequenz bedeutet es für die Richter aber vor allem eines: radikale Säkularität. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist unterbrochen, der Konnex von natürlicher und Offenbarungsreligion ist durchschnitten. In der Konsequenz setzt sich eine „ignorance invincible de la Divinité“ durch. Stattdessen wird ein Kreislauf der Immanenz installiert, von der Natur zur Vernunft und wieder zurück. Die Natur wird zum Leitprinzip, um den homme moral zu bilden. Dessen Vernunft stellt jenen Richterstuhl dar, vor dem die Ansprüche der Religionen gemessen werden. Der Autor lasse Wahrheiten und Dogmen „en matiere de Religion“ nur 15 Ders., Correspondance, Bd. 11, S. 262 f. Der Urteilstext liefert dazu noch präzise Ausführungsbestimmungen, was den Ort der Vernichtung und die Verhinderung einer weiteren Verbreitung des Werks angeht. Vor allem aber soll der Autor verhaftet und in der Conciergerie verhört werden, „pris & appréhendé au corps, & amené ès Prisons de la Conciergerie du Palais, pour être oui & interrogé pardevant ledit Conseiller-Raporteur, sur les faits dudit Livre“ (S. 266). Die Schergen des Gerichts müssen dann allerdings mit pedantischer Ausführlichkeit berichten, Rousseau nicht angetroffen zu haben. Thérèse Levasseur, seine „Gouvernante Domestique“ (S. 273), habe erklärt, der Gesuchte sei seit einigen Stunden nicht mehr im Hause in Montmorency und sie wisse auch nicht, wo er sei. Auf Konfiszierung der Habseligkeiten des Beschuldigten wird angesichts des geringen Werts der Objekte verzichtet: die „meubles et effets […] nous ont parû par Leur peu de valeur ne meriter d’estre saisis“ (S. 273). 16 Ebd., S. 262. 17 Später ist auch die Rede von einer „foi purement humaine“ (Ebd., S. 265). 18 Immerhin scheint eine Konsequenz dieser Rückführung klar zu sein: Rousseau betrachte alle Religionen als „également bonnes“, denn ihre Differenzen gründen in klimatischen Bedingungen, politischen Verhältnissen und allgemein im „génie du peuple“ (S. 262) – aber jedenfalls nicht in der einen Wahrheit der Offenbarung.  

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zu, wenn es dem „esprit livré à ses propres lumieres“ gefällt. Die „verité de l’Ecriture Sainte & des Propheties, la certitude des miracles énoncés dans les Livres Saints, l’infaillibilité de la Révélation, l’autorité de l’Eglise“19 – die Wahrheit der Schrift und der Offenbarung wie die Autorität der Kirche, das Ensemble der Texte, Praktiken und Institutionen, in denen sich die Wahrheit der Religion niedergeschlagen hat, um zum Prinzip einer gottgefälligen Form des Lebens zu werden, spielen keine Rolle mehr. Gerade darauf hebt das Urteil ab, wenn es die desaströsen psychischen und sozialen Konsequenzen der Erziehungsmaximen Rousseaus in den Blick rückt. Die so erzogenen Subjekte neigen zu Skepsis und Toleranz, sie sind ihren Leidenschaften ausgeliefert, vor allem natürlich den „plaisir des sens“. An die Stelle eines „noble désir de la solide gloire“ treten die Schreckgespenster des „amour propre“ und der „pernicieuse manie de la singularité“.20 Sich als Autor skandalöser Wahrheit apostrophiert zu sehen, mag wünschenswert sein, wenn die betroffenen Ordnungen und Geltungsansprüche als illegitim bloßgestellt werden sollen. Anders verhält es sich im Fall identifikatorischer Selbstzurechnungen. Die Reaktion seiner Vaterstadt hat den Citoyen de Genève vermutlich stärker getroffen, denn sie ist weitgehend identisch mit der der Pariser Autoritäten. Wieder fällt die Formel des Zerreißens und Verbrennens, in die nun auch der Contrat social eingeschlossen wird, Rousseaus Bücher werden als „téméraires, impies, tendans à détruire la Religion Chretienne & tous Gouvernemens“21 apostrophiert. Von Genf, jener Republik seiner Herkunft, der Rousseau den Discours sur l’inégalité gewidmet hatte, ist keine Rettung, schon gar keine Anerkennung zu erwarten. Auch die exemplarische Republik folgt der allgemeinen Verblendung. Aufschlussreich sind indes die Begründungen, welche der procureur général der Stadt für die Verurteilung liefert. Denn er bestreitet durchaus nicht die Qualitäten der Bücher des ungeliebten Mitbürgers, ihre geniale Kühnheit (audace/génie), die nicht nur schädliche Irrtümer, sondern manchmal auch erhabene Wahrheiten, Vérités Sublimes, produziert. Aber letztlich wird auch hier die Sprengkraft des Naturbegriffs als das zentrale Skandalon ausgemacht, jene Axt, wie es in ebenso drastischer wie prägnanter Metaphorik heißt, welche die Wurzeln von Herrschaft angreift und zugleich die Gewissheit des Glaubens skeptisch aushöhlt, „la Coignée mise, Si je l’ose dire, à la racine de tous les Gouvernemens, la Morale la plus pure et le Scepticisme le plus décidé Sur les objets de la Foi.“22 Der Kern des Anstoßes, immer wieder aufgegriffen, liegt in 19 20 21 22

Ebd., S. 265. Ebd., S. 265. Ebd., S. 301. Ebd., S. 298.

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dem Anspruch, die natürliche Religion auf den Ruinen der Offenbarung zu etablieren: „Les principes de la Religion Naturelle annoncées avec une lumiere et une energie Majestueuse, mais Scandaleusement etablis Sur les ruines de la Religion Revelée.“23 Ohne die Profession de foi du vicaire savoyard wäre der Emile nur ein rêve philosophique, mit klugen Erziehungsratschlägen zwar, aber auch durchaus bedenklichen Freizügigkeiten. Erst mit dem Angriff auf die Offenbarungsreligion und der Profilierung ihrer Opposition zur natürlichen Religion wird der Emile zum Skandal schlechthin. In der Darstellung des Staatsanwalts wird dieser zu einer parataktischen Liste ausgefaltet, welche in der Form der Litanei das Faszinosum des Tabubruchs durchscheinen lässt: La Religion Revelée, objet Capital de l’Education, devient chés lui l’objet de la discussion la plus temeraire, Il leve d’une Main hardie le voile de Ses Mysteres, Il en mesure les Dogmes à Ses idées particulieres, Il n’en Sappe pas les fondemens, Il s’efforce tout ouvertement de les renverser ; Il voudrait en arracher les plus fermes apuis, les Propheties et les Miracles, Et, S’il paroit etonné de la Sublimité de sa Morale et de la Majesté de son Autheur, il declare n’être pas moins confondu par les difficultés qui lui paroissent environner le Système Evangelique, et il ne trouve de certain que l’impossibilité d’être obligé de s’y soumettre.24

Auch in dem Mandement, mit dem Christophe de Beaumont, der Pariser Erzbischof, auf die Veröffentlichung des Emile durch den Citoyen de Genève reagiert und den Gläubigen Besitz und Lektüre des Werks untersagt, figuriert der Begriff des Skandals prominent. Sein abschließendes Resümee konstatiert noch einmal, der Emile enthalte eine große Zahl von „propositions respectivement fausses, scandaleuses, pleines de haine contre l’Eglise & ses Ministres […] erronées, impies, blasphématoires & hérétiques.“25 Der Skandal des Emile ist wiederum ein Skandal blasphemischer und häretischer Sätze. Man sieht unmittelbar die Asymmetrie, in der der Skandal seine Form findet: Die vorgeblich autobiographische, in der lumière intérieure gründende Rede des savoyardischen Vikars wird am autoritären Anspruch theologischer Dogmen gemessen. Die parrhesia einer institutionell marginalen Figur kollidiert mit dem tradierten, in der Offenbarung gründenden Wissen der Institution. Beaumont mobilisiert ein scholastisches Distinktionsrepertoire: Einzelne Sätze, propositions, werden isoliert, dekontextualisiert und auf ihren häretischen, skandalösen Gehalt geprüft – ein Verfahren, das

23 Ebd. 24 Ebd., S. 299. 25 Christophe de Beaumont, Mandement de Monseigneur l’Archevêque de Paris, portant condamnation d’un Livre qui a pour titre EMILE…, Paris 1762, S. 45.

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der individualisierten und situierten Rede der Profession de foi natürlich direkt zuwiderläuft und das Fundament ihres Geltungsanspruchs ignoriert. Aber Beaumonts Invektive ist selbst zwiespältig. Natürlich fehlt es nicht an dogmatischen Zurückweisungen, die sich unter vier Titeln resümieren lassen: 1) Antichristliche Anthropologie: Rousseaus Positivierung der menschlichen Natur widerspricht den Lehren der Schrift und der Kirche („doctrines des saintes Ecritures & de l’Eglise“), was die durch den Fall bewirkte „révolution […] dans notre nature“ angeht.26 Nicht umsonst erlaubt sich Beaumont auch einen Seitenhieb auf Rousseaus Discours sur l’inégalité und die dort erzählte Ursprungsfiktion. 2) Skeptische Neutralisierung: Die skeptische Urteilsenthaltung des Vikars (Scepticisme) untergräbt die Lehre von der Einheit und Allmacht Gottes. Zwar beruft sich der Vikar durchaus auf die Gewissheit, die Welt sei durch eine „volonté puissante & sage“ beherrscht – eine Gewissheit, die weniger in der Vernunft als in der Empfindung gründe – aber nur, um die Fragen nach der Dauer der Welt, der Schöpfung und den Prinzipien der Dinge zu den „questions oiseuses“ zu zählen. Damit aber stelle der „Auteur téméraire“27 die Einheit Gottes („unité de Dieu“) in Frage.28 3) Offenbarungs- und Wunderkritik: Ihr räumt Beaumont breiten Raum ein, denn mit ihr versuche Rousseau, einen Keil zwischen menschliche Erkenntnis und christlichen Glauben zu treiben. 4) Untergrabung der Autorität: Indem der Vikar die „autorité de l’Eglise“ auf dem Altar der Empfindung des Individuums opfert, stellt er zugleich – gegen das Zeugnis der Schrift – den „ordre civil“ in Frage: Der „esprit d’irréligion“ ist politisch ein „esprit d’indépendance & de révolte“, er sabotiert die Ordnung, in welcher die Könige „les images de Dieu“ sind.29 Dogmatische Verstöße sind allerdings nur die eine Seite des Skandals. Die andere ist die Auflösung jenes fundamentalen Zusammenhangs, den Beaumont in der Einheitsformel von Vernunft und Offenbarung beschwört. Er benennt damit das Skandalon, das von jeher den Auftritt der parrhesia begleitet: die offensive Infragestellung stillschweigend vorausgesetzter Gewissheiten und tradierter

26 Vgl. ebd., S. 9: der „mélange frappant de grandeur & de bassesse, d’ardeur pour la vérité & de goût pour l’erreur“, dieser „étonnant contraste“ hat seinen Ursprung („sources“), wie die Offenbarung enthüllt, in der „chûte déplorable de notre premier Père!“ 27 Ebd., S. 22. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd., S. 36: „La constitution du Christianisme, l’Esprit de l’Evangile, les erreurs même & la foiblesse de l’esprit humain, tendent à démontrer que l’Eglise, établie par Jesus-Christ, est une Eglise infaillible […] Nous prouvons donc l’autorité de l’Eglise, non par l’autorité de l’Eglise, mais par celle de Jesus-Christ.“ Vgl. auch S. 38: „vous devez obéir au Prince, & à ceux qui exercent son autorité, comme à Dieu même.“

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Denkhabitus. Der Dieu de la Raison ist für Beaumont auch der Dieu de la Révélation, natürliche Religion der natürliche Weg zum Übernatürlichen der Offenbarung: „La Raison & la Révélation sont les deux organes par lesquels il lui a plu de se faire entendre aux hommes, soit pour les instruire de la vérité, soit pour leur intimer ses ordres. La Religion naturelle conduit […] elle-même à la Religion révélée.“30 Beaumonts Formeln sind nicht argumentativ, sondern traditionalistisch, er zitiert Autoritäten, um den Gestus jener Infragestellung bloßzustellen, der sich gegen die Offenbarungs- auf die natürliche Religion beruft. Der ‚erhabenen‘ Einheitsformel von Vernunft und Offenbarung tritt eine exzentrische Gespaltenheit entgegen, die ihre eigenen Einheitsformeln besitzt. Deren Anspruch auf natürliche Religion wird autoritativ zurückgewiesen, denn was heißt natürliche Religion, wo sie nicht mehr im Nexus von Vernunft und Offenbarung verortet ist? Sie retiriert in die Sphäre des Subjekts. Beaumont macht dies am Rousseauschen Konzept der bonne foi fest, welches durch Subjektivierung zur Figur der mauvaise foi werde. Bonne foi, guten Glauben auch in der Form der Gutgläubigkeit, könne es nur dort geben, wo sie mit der Normativität der Ordnung verkoppelt ist: „La bonne foi n’est estimable, que quand elle est éclairée & docile.“31 Für den Erzbischof ist der gute Glaube eine Figur des Gehorsams, nicht umsonst kulminiert er für ihn in der Anerkennung der Autorität der Kirche. Nur in dieser Einbettung können wir compter sur notre bonne foi. Rousseaus bonne foi erscheint demgegenüber als eine Figur der Immanenz, nichts anderes als affirmative Selbstreferenz des Subjekts, zustimmende Einstimmigkeit der eigenen Operationen der Empfindung, der Wahrnehmung, der Rationalität und des Glaubens. Der Pol theologisch garantierter Wahrheit und institutioneller Autorität ist ihr verloren gegangen – ja, sie prosperiert gerade in einem Gewissheitsentzug, den sie durch emphatische Selbstreferenz kompensiert. Dem Vikar der Profession de foi genügen sein von Autorität und Tradition entlasteter Glauben und dessen autosuggestive Beobachtung, er wähnt sich damit, wie Beaumont sarkastisch anmerkt, im Besitz der Wahrheit: „selon lui, il suffit de se persuader qu’on est en possession de la vérité.“32 Rousseaus bonne foi impliziert die Neutralisierung des schrift- und institutionengesicherten Wahrheitsanspruchs der Offenbarungsreligion. Kollabiert deren Autorität, so droht der Einbruch all jener „systèmes fanatiques“,33 welche an die Stelle der alten Gewissheiten treten.

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Ebd., S. 34, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32. Ebd.

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Der theologische und politische Skandal ist zugleich ein pädagogischer. Natürlich vermag Beaumont den raffinierten Erziehungskonzepten Rousseaus keine ausgearbeitete christliche Pädagogik entgegenzustellen. Aber er benennt zumindest die Kosten, die aus dem drohenden Geltungsverlust der christlichen Anthropologie, die doch stets unsere „corruption héréditaire“ in Rechnung stellen muss, resultieren. Für sie kann religiöse Erziehung gar nicht früh genug beginnen, „(d)ès les premiers rayons de l’intelligence“,34 denn bereits in ihnen manifestiert sich das schwere Erbe des Sündenfalls. Jede „éducation vraiment chrétienne“35 muss hier ansetzen, der Korrekturbedarf steht am Anfang. Der Emile hingegen zielt auf eine Erziehung, die von Anfang an die Religion zur Disposition stellt, weil die Natur, deren pädagogische Entfaltung sie sicherstellen will, nur unter den Bedingungen einer auch die Religion einbegreifenden Negativität zur Geltung kommen kann. Rousseaus ‚negative Erziehung‘ bemächtigt sich der Ursprünge des Subjekts und entwindet sie damit dem Zugriff der religiösen Erziehung. Kaum etwas war für die theologische Orthodoxie ein größerer Skandal als die provokative Verlagerung der religiösen Erziehung an das Ende eines langen und komplexen Erziehungsprozesses.36 So moniert Beaumont, dass Rousseau sich der ersten Momente des Lebens bemächtige, um das empire de l’irréligion zu verankern. Anders gesagt: Für die Theologie deanthropologisiert Rousseaus Pädagogik die Religion im Augenblick der Etablierung der Anthropologie; diese wird disponibel für die Affirmationen der Selbstreferenz, welche sich den Kosmos gibt, den sie braucht, und der Offenbarung nicht mehr bedarf. Das ist der Skandal, den die Autorität der Theologie und der Kirche zu bestrafen gedenkt: „Ouvrage également digne des Anathèmes de l’Eglise, & de la sévérite des Loix […] Malheur à vous, malheur à la Société, si vos enfants étoient elevés d’après les principes de l’Auteur d’EMILE.“37 Rousseaus Antwort erscheint 1763 unter dem Titel Jean-Jacques Rousseau, citoyen de Genève, à Christophe de Beaumont, archevêque de Paris, gefolgt von der beeindruckenden Liste der weiteren Titel Beaumonts. Der umfängliche Text liefert eine Rekapitulation von Rousseaus Karriere als Autor wie eine komprimierte Darstellung seines ‚Systems‘. Die doppelte Paradoxie, dass er zum Autor in einem Alter wird, in dem die anderen damit aufhören, und zum homme de lettres aus Verachtung gegenüber diesem Stand, wird demnach kompensiert durch die Kon-

34 Ebd., S. 42. 35 Ebd., S. 40. 36 Rousseau hat die Reaktion vorausgesehen, wenn er im 4. Buch des Emile bemerkt: „Je prévois combien de lecteurs seront surpris de me voir suivre tout le prémier age de mon éléve sans lui parler de Réligion“, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 554. 37 Beaumont, Mandement, S. 39.

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stanz der Prinzipien, denen er bei allen Gegenständen folgt, denen er sich zuwendet. Rousseau, so will es seine Selbststilisierung, ist der mit sich selbst identische Autor, den die Wankelmütigkeit des Publikums bald als Teufel, bald als Engel behandelt habe. Mit der Veröffentlichung des Emile spitzt sich diese Situation zu: Auf der einen Seite steht das Phantasma der Verfolgung, des Scheiterhaufens, der dem Autor angesichts seines skandalösen Textes droht, auf der anderen Rousseaus Berufung auf einen Rechtsformalismus, mit der er den Erzbischof ins Unrecht setzt, denn dieser maßt sich ein Urteil an, wo er gar nicht zuständig ist.38 Es ist dieses Junktim von juristischer Illegitimität und Vernichtungsdrohung, das die Singularität seiner Situation ausmache. In der Skandalisierung, deren Gegenstand Rousseau ist, deckt er das Unrecht und die Gewalt auf, welche die Verhältnisse beherrschen. Indem er sich zum singulären Opfer von Rechtsanmaßung und phantasmatischer Gewalt stilisiert, spielt er den Skandal zurück. Die Lettre à Beaumont ist ein komplexer, oft unterschätzter Text. Sie tritt im Gewand einer Apologie der Profession de foi auf, aber sie betreibt zugleich eine Selbstrevision. Rousseau gibt vor, Beaumont die Prinzipien seines Werks zu erläutern, aber er arbeitet zugleich an den Konzepten, die seit dem Discours sur l’inégalité die Armatur seines Denkens ausmachen, vielleicht wird an keinem Ort die aporetische Dimension von Leitbegriffen wie amour de soi oder conscience so deutlich wie hier. Im Zentrum der Antwort an Beaumont steht die Zurückweisung der Lehre von der perversité originelle. Rousseau ist weder ein Vertreter der Anthropologie des Falls noch der des ‚krummen Holzes‘, wie es später Kant sein wird. Er steht, wie er unablässig wiederholt, für die gerade Linie. Die Verderbnis, die Inversion, die komparative Indirektheit sind als Bewegungen der menschlichen Natur immer abgeleitet, reaktiv, supplementär. In phylo- wie in ontogenetischer Hinsicht gilt für Rousseau, was er in der Lettre à Beaumont mit Nachdruck wiederholt: Die premiers mouvements der menschlichen Natur sind immer droits, ebenso gerade wie recht. Die menschliche Natur ist Bewegung, Dynamik des Vitalen, und sie ist – originär und als sie selbst – immer ‚gerade‘, geradlinig, rechtschaffen. Die positive moralische Konnotation ist sowohl gewollt als auch zutiefst problematisch, kennt die Natur doch, wie Rousseau ebenso insistent wiederholt, keine ursprüngliche Moral. Diese Ambiguität zieht sich durch die anthropologische Begrifflichkeit Rousseaus insgesamt, keine Rekonstruktionsbemühung wird sie widerspruchsfrei auflösen können. Die suggestive Positivie38 Vgl. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 930 f.: „[…] on l’eût arraché de son lit pour le traîner dans les mêmes prisons où pourrissent les scélérats ; on l’eût brûlé, peut-être même sans l’entendre […] un illustre Archevêque qui devroit réprimer leur lâcheté, l’autorise […] il lance, lui Prélat catholique, un Mandement contre un Auteur protestant […]“.  

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rung der geraden Linie kollidiert mit der hypothetischen Ursprungsgeschichte. Ihre Resonanz ist die einer absoluten Metapher, welche ein diskursives Feld plausibilisiert und zugleich seine Inkonsistenz verdeckt. Entscheidend ist jedenfalls: Rousseau betreibt – im zweiten Discours, im Emile, in der Lettre à Beaumont – „théorie de l’homme“.39 Ihr Fundament ist die Natur, ihr Leitfaden die Empirie. Man könnte, mit den Konzepten der Philosophischen Anthropologie, die ihr rousseauistisches Substrat gerne ignoriert, von „empirischer Philosophie“ reden, insofern es um „Ursprungsprobleme“ und zugleich um die „nicht weiter zurückführbaren Wesenseigenschaften des Menschen“ geht, „unter dem kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Aspekt“.40 Die Theorie des Menschen erschließt den Ursprung neu – einen Ursprung vor und außerhalb der Gesellschaft, dessen Koordinaten theologisch besetzt sind. Man kennt die rhetorischen Manöver, mit denen das Zeitalter der Encyclopédie direkte Kollisionen mit der Autorität der biblischen Tradition umgeht. Allerdings: Nur wenn sie ursprungsmächtig ist, kann die Theorie des Menschen aus sich eine Erziehungslehre entwerfen, die nicht auf die historische Kontingenz des vergesellschafteten, sondern auf die Anthropologie des vorgesellschaftlichen Menschen zielt, eine Fundamentalpädagogik mithin. Indem sie das anthropologische Radikal ursprünglicher Natur freilegt, vermag sie jene anthropologische Logik einer sukzessiven Entfaltung und Vernetzung der Vermögen des Menschen zu entfalten, die das provokative Konzept der éducation négative zu tragen vermag. Beaumont vermeidet es, sich auf die Konzepte der negativen oder positiven Erziehung einzulassen. Rousseau aber verschränkt in seiner Replik positive Anthropologie mit negativer Erziehung, negative Anthropologie mit positiver Erziehung. Was Rousseau als éducation positive apostrophiert, ist die christliche Erziehung, die sich um die anthropologische Ordnung und ihren dynamischen Leistungsaufbau nicht kümmert. Sie ist es, die das gerade Holz der Natur krümmt, weil sie die Vernunft des Menschen vorzeitig formen will und dem Kind das Wissen um die Pflichten des Erwachsenen zumutet. Positive Erziehung asymmetrisiert anthropologisches Vermögen und (Welt-)Erfahrung zugunsten letzterer, sie hält den Menschen klein, negative Erziehung verfährt genau umgekehrt und macht damit den Menschen zum Herrn seiner Erfahrung.41 Rousseau hatte

39 Vgl. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 941: „Ce n’est pas une vaine spéculation que la Théorie de l’homme, lorsqu’elle se fonde sur la nature, qu’elle marche à l’appui des faits par des conséquences bien liées, et qu’en nous menant à la source des passions, elle nous apprend à régler leur cours.“ 40 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt am Main 1977, S. 7 f. 41 So heißt es in der Lettre à Beaumont: „J’appelle éducation positive celle qui tend à former l’esprit avant l’âge et à donner à l’enfant la connoissance des devoirs de l’homme. J’appelle  

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dieses Programm im Emile in jener Sequenz ausgearbeitet, welche die Erziehung der Sinne vor die des Verstandes schiebt und sich erst spät auf die Leidenschaften einlässt. Der mechanistische Reduktionismus dieses pädagogischen Schematismus ist kaum zu übersehen, aber sein unverkennbarer Vorzug ist eine Struktur der Ermächtigung des Subjekts in seinen Formen der Welterschließung. Die negative Erziehung gibt den Vermögen nur das, was sie verarbeiten und bewältigen können. Wenn man so will: Sie entwirft ein anthropologisches Schonprogramm. Als ge- oder verschonte aber kann die menschliche Natur warten, bis sie sich des Mächtigsten bemächtigen kann. Théorie de l’homme und éducation négative, so wie Rousseau sie betreibt, führen zu gravierenden Konsequenzen im Blick auf den Stellenwert und die Funktion der Religion, denn sie treiben sie aus dem Zentrum der Selbstsorge in die getrennten Sphären theoretischen Wissens und praktischer Moral. Zum einen: Wenn dem ungebildeten Kind die erhabenen Begriffe der Gottheit unzugänglich bleiben, so erschließt sich diese doch – und zwar notwendigerweise – im Fortschritt der intellektuellen Entwicklung. Wieso sollte man das Individuum dann, fragt sich Rousseau, mit jenen rudimentären und verzerrten Gottesbildern behelligen, die es zu verstehen vermag, die aber nicht wahrheitsfähig sind? Das führt offenbar geradewegs in den Polytheismus. Nur als Finalität kognitiver Kompetenz kann Gott von jenen Deformationen freigehalten werden, die aus den Analoga der Sinnlichkeit resultieren. Der Gott der negativen Erziehung ist ein Gott der Anschauung und des Wissens, nicht des Glaubens. Nicht umsonst zieht er auch in der Rede des Vikars Prädikate auf sich, die der Philosophie eher als der Theologie entstammen, so in der Rede von der première cause motrice. Dem theoretisch fortgeschrittenen Menschen manifestiert sich das Göttliche im Blick auf das Ganze, im spectacle de la nature, eine Wahrheit, der sich nur der sich selbst blendende Atheist zu verweigern vermag. Zum andern: Die zweite Seite der Religion ist die Moral, und sie hat ihre definitive Formulierung in der Heiligen Schrift, in den Evangelien des Neuen Testaments, gefunden. Wenn sich Rousseau gegenüber Beaumont als „Chrétien, et sincèrement Chrétien, selon la doctrine de l’Evangile“42 apostrophiert, so sind damit weder die Offenbarung noch die Berichte von Wundern gemeint. Vielmehr geht es um eine Moral der Nächstenliebe, die selbst wieder in Gegensatz zur Autorität der Kirche gebracht werden kann. Mehr noch: Es geht Rousseau um eine universelle Moral, die Moral einer potentiellen Weltgesellschaft. Von der Religion, welche die seine ist, sagt Rousseau, „il éducation négative celle qui tend à perfectionner les organes, instrumens de nos connoissances, avant de nous donner ces connoissances et qui prépare à la raison par l’exercice des sens“, Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 945. 42 Ebd., S. 960.

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serait à désirer pour le bien des hommes que ce fût celle du genre humain.“43 Das ist weniger Ausdruck von Hybris als das weltgesellschaftliche Komplement jenes Konzepts der Zivilreligion als der Religion individueller politischer Körper, welches der Contrat social (1762) entfaltet. In ihrer Ortlosigkeit unter den sozialen, politischen und theologischen Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts markiert die negative Erziehung eine Perspektive auf die Weltgesellschaft. Die Profession de foi entwirft, anders gesagt, die Zivilreligion als deren universelle Moral. Für die systematische Position der Religion im Emile ist keineswegs die Kritik an der Offenbarung oder am Wunderglauben ausschlaggebend, sondern ihre Einpassung in ein Erziehungsprojekt im Zeichen der éducation négative. Die kirchliche und politische Skandalisierung des Emile konzentriert sich auf Rousseaus Heterodoxie, der subversive Aspekt der parrhesia bleibt demgegenüber sekundär. Auf die Herausforderung radikaler Säkularität antwortet die theologische Orthodoxie mit der Denunziation partikularer Konsequenzen. Sie zielt auf die Profession de foi, insbesondere deren zweiten Teil, aber das eigentliche Skandalon liegt in der Erziehungsfiktion selbst. Rousseaus Zögling wächst ohne Religion heran, ihre Einführung kommt sehr spät, zu einem Zeitpunkt, an dem die körperlich-sinnliche wie die intellektuell-rationale Erziehung schon weit fortgeschritten ist. Der Erzieher konfrontiert seinen Zögling immer nur mit dem, was den jeweils aktuellen Möglichkeiten des Verstehens und Verarbeitens entspricht. Der Glauben ist demnach nicht Voraussetzung oder Anfang der Erziehung, sondern Konsequenz und Ergebnis. Gegen die theologische Maxime, man müsse glauben, um gerettet zu werden, setzt Rousseau die pädagogische Maxime: „L’obligation de croire en suppose la possibilité.“44 Glauben kann und muss nur der, der über die Voraussetzungen verfügt, die Inhalte des Glaubens zu verstehen, beziehungsweise die Grenze zwischen Verstehen und Nichtverstehen selbst bezeichnen zu können. Die Religion wird damit radikal in ein anthropologisches Erziehungsprogramm hineingezogen – so wie sie im Contrat social zur Funktion politischer Ordnung wird. Es ist eine anthropologisch programmierte Teleologie der Erziehung, aus der Religionsfähigkeit erwächst. Der Gottesbegriff wird damit zur Funktion der menschlichen Natur. Die ‚natürliche‘, und das heißt negative, Erziehung des Emile steuert kindliche Neugier so, dass sie sich nur für das interessiert, was sie handhaben und begreifen kann. Jedem pädagogischen Vorgriff und Ausgriff ins Ungesättigte und Unbegreifliche steht Rousseau ablehnend gegenüber. Infantile ‚Theorien‘ sind im Emile nicht vorgesehen, schon gar nicht solche, die das Ganze

43 Ebd. 44 Ebd., S. 555.

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betreffen. Wenn Rousseaus Zögling mit dem konfrontiert wird, was sich seinem Verstehen entzieht, dann muss er es an einem Panzer der Indifferenz abprallen lassen, er fungiert als ein Apparat der Distanzierung und Neutralisierung.45 Rousseaus negative Pädagogik impliziert ein Programm des Reizschutzes und der Abwehr von Überforderung. Es liegt in der Konsequenz dieser anthropologischen Logik, dass sie religiöse Vorstellungswelten als illusionär oder deformiert, theologische Metaphysik als irrelevant apostrophieren muss. Rousseaus Pädagogik der Religion ist insofern radikal antitraditionalistisch und antiautoritär: Emile wird seine Religion frei wählen, und zwar nach den Maximen seiner ausgebildeten Vernunft.46 Man könnte sagen: Im Zeichen einer pädagogischen Rettung der Religion betreibt der Emile das Projekt radikaler Säkularität in der Form anthropologischer Immanenz. Rousseau hat sich, wie man weiß, gelegentlich gegen den Materialismus und Atheismus der Aufklärung in Stellung gebracht oder bringen lassen, er sieht sich durchaus als Paladin der „cause de la divinité“.47 Auch in dem Brief an Voltaire über dessen Poème sur le désastre de Lisbonne präsentiert er sich als enthusiastischer Anwalt der Providenz. Nach der Turiner Zwangskonversion zum Katholizismus kehrte er in einer zweiten Konversion in die Religion Genfs zurück, deren Vernunftkonformität er schätzt. Auch Beaumont lässt er wissen, die neuen Wahrheiten der Profession de foi seien nicht zur Bekämpfung der christlichen Religion gedacht, sondern als Widerlegung des modernen Materialismus, indem er die religion naturelle etabliere. Man habe sich in der Skandalisierung der Offenbarungskritik auf ein Terrain begeben, das in der Profession sekundär sei. Der erste, wichtigere Teil sei darüber vergessen worden. Die angedeutete Implikation, dass der Skandal bei angemessener Lektüre hätte unterbleiben können, ist aber keineswegs naheliegend. Der Mechanismus der Skandalisierung funktioniert hier vielmehr als Reaktion auf eine diskursive Heterogenität, die als différand (J.-F. Lyotard) nur indirekt bearbeitet werden kann. Die anthropologisch instruierte Religion der Profession ist für die Orthodoxie ein Danaergeschenk. Sie kann

45 Ebd., S. 557: „[…] mon Emile […] refusant constamment son attention à tout ce qui est audessus de sa portée, écoute avec la plus profonde indifférence les choses qu’il n’entend pas.“ 46 Dem widerspricht nur scheinbar, dass der (katholische) Vikar seinem Gesprächspartner die Rückkehr in die Religion seiner Väter, den Genfer Calvinismus, empfiehlt. Vgl. ebd., S. 631: „Retournez dans vôtre patrie, reprenez la religion de vos péres, suivez-la dans la sincérité de votre cœur et ne la quittez plus ; elle est très simple et très sainte, je la crois de toutes les religions qui sont sur la terre celle dont la morale est la plus pure et dont la raison se contente le mieux.“ Der Ratschlag wendet sich an einen verirrten jungen Exilanten, dessen Biographie der von Rousseau entspricht. Der Autor der Lettres écrites de la montagne wird die religiöse Verfassung Genfs dann skeptischer sehen. 47 Ebd., S. 1003.

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es weder annehmen noch auf gleicher Ebene antworten. So apostrophiert sie es als Skandal. Dieser Struktur der Verschiebung leistet der Text der Profession Vorschub, denn die Maske der parrhesia, die Figur des savoyardischen Vikars, setzt einen Redehabitus in Szene, der sich dem Zugriff der Theologie und der Philosophie entziehen will. Der Vikar ist eine in der kirchlichen Hierarchie marginale Figur, die sowohl mit den theologischen Dogmen wie mit der kirchlichen Moral ihre Schwierigkeiten hat. In der Kritik spielt er kaum eine Rolle, die Maske wird übersprungen, ihre Rede umstandslos dem Autor attribuiert – Rousseau hat wenig getan, um die Identifikation zu verhindern.48 Der Vikar erzählt eine Bildungsgeschichte, die ihr Modell in Descartes’ Discours de la méthode hat. Aber sowohl thematisch wie rhetorisch ist sie ein Anti-Discours. Zwar berichtet der Vikar, er habe sich in jenen „dispositions d’incertitude et de doute“ befunden, die Descartes für die „recherche de la vérité“49 fordere. Aber bewältigt wird diese Situation nicht durch die Logik des systematischen Zweifels, sondern durch ein Erfahrungsmodell, das die konzeptuellen Vorgaben des Empirismus mit einem Pathos innerer Gewissheit, der lumière intérieure, amalgamiert. Anders als für Descartes gibt es für den Vikar keine Option zwischen theoretischem Wissen und praktischer Gewissheit. Angesichts der Notwendigkeit des richtigen Handelns könnte er sich mit einer morale provisoire nicht zufrieden geben. Es ist kein Zufall, dass die Szenerie der Profession sich in Turin befindet. Die Wahl der Stadt steht im Kontrast zu einer autobiographischen Gegenfigur, Rousseaus Zwangskonversion im klaustrophobischen Kontext des Hospizes der Katechumenen, das die Bruderschaft vom Heiligen Geist betrieb. Rousseau wird die traumatische Episode in den Confessions erzählen.50 Im Emile hingegen befinden sich der Vikar und sein Gesprächspartner auf einem Hügel außerhalb der Stadt, von wo sie die Flusslandschaft und ihre „fertiles rives“ überblicken, bis hin zur „immense chaîne des Alpes“, welche den Horizont abschließen. Die Landschaft wird zum „plus beau tableau dont l’œil humain puisse être frapé“, die Natur offeriert sich als „texte à nos entretiens“.51 Die Profession steht unter einem ästhetischen Präjudiz, die Horizonthaftigkeit der Landschaft und ihre Lesbarkeit

48 Rousseau begründet die Wahl des Vikars mit einem Misstrauen gegenüber seinen eigenen Urteilen: „[…] je n’oublierai jamais ma devise; mais il m’est trop permis de me défier de mes jugemens. Au lieu de vous dire ici de mon chef ce que je pense, je vous dirai ce que pensoit un homme qui valoit mieux que moi“, ebd., S. 558. 49 Ebd., S. 567. 50 Vgl. dazu Œuvres complètes, Les Confessions. Autres textes autobiographiques, Bd. 1, Marcel Raymond u.a. (Hrsg.), Paris 1960, S. 60–62. 51 Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 565.

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präludieren der Bildungsgeschichte des Vikars, die nicht einer logischen, sondern einer analogen, ja metaphorischen Logik folgt. Während der zweite Teil der Profession implizit wie explizit einer polemischen Logik gehorcht, weil er gegen theologische Dogmen opponiert, unterstellt der erste Teil ein Szenario der Immanenz, das Selbst- und Weltvermittlung ohne philosophische oder theologische Regulierung betreiben will. Der Vikar spricht de bonne foi, aus der simplicité seines Herzens, wo die lumière intérieure ihr Licht verbreitet und die Authentizität der conscience herrscht. Das Kriterium der Wahrheit liegt im Junktim von Evidenz und Nutzen – alles andere kann in der Schwebe der Ungewissheit, der Indifferenz, der Neutralisierung bleiben.52 Natürlich ist auch der erste Teil der Profession keineswegs so voraussetzungslos, wie er suggeriert. Er hat seine polemischen Dimensionen, sie betreffen den Materialismus und seine Leugnung kosmischer Ordnung ebenso wie die empiristische Ableitung des Gewissens. Die Einsichten des Vikars sind weder originell, namentlich was die finalistischen Reminiszenzen angeht, noch widerspruchsfrei, beispielsweise im Hinblick auf das zentrale Konzept des Gewissens oder die Funktion des Bösen. Man kann sagen, dass der Vikar, der so ganz aus der eigenen Erfahrung zu sprechen vorgibt, in Wirklichkeit eine Art Speicher der Begrifflichkeit der natürlichen Religion darstellt. Aber dieses Repertoire erscheint virtualisiert, es funktioniert als der Horizont, der das innere Licht und sein Ethos der bonne foi profiliert. Der Vikar ist eine exponierte Realisierung dessen, was Taylor als buffered self apostrophiert, und das verschafft seinen Neutralisierungsleistungen Plausibilität. Die innerweltlichen Exerzitien des inneren Lichts lassen das Bild einer Ordnung erscheinen, auf die das Ich mit Enthusiasmus reagiert. Die elaborierten Übungen der kontemplativen Selbststeigerung lassen Fragen nach theologisch-philosophischer Systematik, aber auch den Wunsch der Kommunikation mit der Gottheit, im Gespräch, in der Bitte oder im Gebet nicht mehr zu. Der Mensch hat alles, was er braucht, auch zur religiösen Selbststeigerung. Der Vikar berauscht sich an seiner eigenen Rede, am Ende trägt er sie mit „véhémence“ vor.53 Dem Zuhörer der Profession, der sich noch um Dogmen und die Offenbarung sorgt, erscheint der Vortrag des Vikars schließlich als eine Wiedergeburt orphischer Hymnen.54

52 Vgl. ebd., S. 570: In seinem „éxamen des connoissances qui m’intéressent“ wird der Vikar alle diejenigen anerkennen, „auxquelles dans la sincérité de mon cœur je ne pourrai refuser mon consentement“, ansonsten gilt „de laisser toutes les autres dans l’incertitude […] et sans me tourmenter à les éclaircir quand elles ne mênent à rien d’utile pour la pratique.“ 53 Ebd., S. 606. 54 Ebd.: „Je croyois entendre le divin Orphée chanter les prémiéres hymnes, et apprendre aux hommes le culte des Dieux.“

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III Skandal der Vernunft Die Skandalgeschichte des Emile einschließlich der an skandalösen Peripetien nicht armen Verfolgungsgeschichte des Autors scheint mit Rousseaus Plan der Übersiedlung nach England und der Aussicht auf ein unbehelligtes, anerkanntes Leben ein versöhnliches Ende zu finden. Initiator und zugleich Gastgeber ist der schottische Philosoph David Hume, der auch einflussreiche Freunde bis hin zum König mobilisiert. Die beiden Autoren wird – wie ihr Briefwechsel spektakulär dokumentiert – eine Freundschaft verbinden, die in atemberaubender Geschwindigkeit und Intensität die Stufen von der Faszination bis zum tiefen Zerwürfnis durchläuft.55 Dass der ein Jahr ältere Hume die Rolle des Protektors für den Autor des Emile übernimmt, überrascht nicht. Er selbst spielt in den Auseinandersetzungen über die natürliche Religion eine prominente Rolle. Hume, der sich durchaus mit der öffentlichen Rolle des man of letters identifiziert, ist ein Virtuose des provozierten und des vermiedenen Skandals, von seinem frühen, hauptsächlich in Frankreich geschriebenen und 1739–1740, allerdings ohne die Kapitel über die Religion, veröffentlichten Hauptwerk, dem Treatise of Human Nature, bis zur Inszenierung des eigenen Todes im Jahre 1776. Letzterer wird bis weit ins 19. Jahrhundert Kontroversen auslösen, ähnlich wie der Tod Voltaires, aber doch von unvergleichlich größerer Prägnanz. Sie ist das Resultat zweier Schriften: zunächst der wenige Monate vor dem Tod verfasste autobiographische Text My Own Life, in dem Hume nicht nur seine Biographie als Autor rekapituliert, sondern zugleich eine vorweggenommene „funeral oration of myself“56 formuliert. Hume weiß, dass er im Ruf der Skepsis und des Unglaubens steht, zweimal hat sich deswegen die Hoffnung auf einen philosophischen Lehrstuhl, in Edinburgh und in Glasgow, zerschlagen, er selbst stellt fest, mit den gegen ihn gerichteten Pamphleten könne er den Fußboden eines großen Raums bedecken. Er weiß also, dass seine am Ende des Lebens formulierte Haltung zum Tod, als Zeichen philosophischer Hybris oder später Reue, auf kritische Beobachtung stoßen wird. Seit einem im Frühjahr 1775 aufgetretenen „disorder in my bowels“ ist sich Hume darüber im Klaren, dass er sterben wird: „I now reckon upon a speedy dissolution“ (S. xl). Er beobachtet den Verfall seines Körpers und den „great decline of my person“ als ein unvermeidliches und irreversibles Geschehen, das allerdings einhergeht mit dem Bewusstsein, bei fortdauernder geistiger Präsenz und philosophischer Energie doch sein schriftstellerisches Werk vollendet zu haben, deshalb sei es „diffi55 Vgl. dazu die Rekonstruktion in David Edmonds/John Eidinow, Rousseau’s Dog. Two Great Thinkers at War in the Age of Enlightenment, New York 2006. 56 Zit. nach: David Hume, Essays, Moral, Political, and Literary, Eugene F. Miller (Hrsg.), Indianapolis 1985, S. xli (im Folgenden mit Seitenangaben im Text).

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cult to be more detached from life than I am at present“ (S. xl). Es ist ein gelassener, transzendenzloser Tod, der hier stilisierend entworfen wird, auf die Dimensionen des Körpers, des Intellekts und der Soziabilität gerichtet, wie es scheint ohne jede Präokkupation durch Fragen des Glaubens. My Own Life erscheint nicht, wie ursprünglich geplant, als Einleitung zu einer Werkausgabe, sondern Anfang 1777 als eigenständige, um einen Brief des Freundes Adam Smith an den Verleger William Strahan ergänzte Publikation, in dem der Autor der wenige Monate zuvor veröffentlichten Wealth of Nations über Humes Haltung angesichts des bevorstehenden Todes berichtet. Adam Smith war sich zweifellos über den heterodoxen Charakter seines Zeugnisses im Klaren, auch wenn es in seinem Brief nicht um explizit atheistische Thesen geht, wie sie James Boswell von Hume gehört haben will. Boswell referiert provozierende Thesen, deren paradierender Charakter ins Auge springt, und er versäumt nicht, seine eigene Haltung orthodoxer Frömmigkeit dem entgegenzusetzen. Adam Smith geht es nicht um rhetorische Provokationen, sondern um ein philosophisches Ethos der parrhesia, das sich auch im erzwungenen Rückzug aus der Öffentlichkeit bewährt, hinterlässt es doch das Zeugnis eines Sterbens ohne Transzendenz. Humes Tod wird für Smith zu einem anthropologischen Lehrstück, das die abgeleitete, nicht originäre Qualität der Religion demonstriert. Wie Smith zehn Jahre später einräumt, hat ihn die Massivität der Angriffe überrascht, denen er nach der Veröffentlichung ausgesetzt war: A single, and as I thought, a very harmless Sheet of paper which I happened to write concerning the death of our late friend, Mr. Hume, brought upon me ten times more abuse than the very violent attack I had made upon the whole commercial system of Great Britain.57

Adam Smiths Brief profiliert ein Ethos des Sterbens, das Glaubensfragen nicht einmal andeutungsweise in Betracht zieht. Nicht auf seinen Gott geht Hume zu, sondern, wie er selbst sagt, auf seine „dissolution“. Diese aber wird in einer Souveränität der Selbstbeobachtung vorweggenommen, die sich im ungebrochenen Ingenium der virtuos-witzigen Replik niederschlägt.58 Humes wit zelebriert die Tugend der Immanenz, der Soziabilität, zu Lasten der Transzendenz. Er sterbe, so lässt Smith ihn durch seinen Arzt ausrichten, „as fast as my enemies, if

57 Zit. nach Ernest Campbell Mossner, The Life of David Hume, Edinburgh 1954, S. 605. 58 Niemand, so heißt es bereits im Treatise of Human Nature, habe jemals erklären können, was wit sei, aber: „Nothing flatters our vanity more than the talent of pleasing by our wit, good humour, or any other accomplishment; and nothing gives us a more sensible mortification than a disappointment in any attempt of that nature“, zit. nach David Hume, A Treatise of Human Nature, David Fate Norton/Mary J. Norton (Hrsg.), Oxford 2005, S. 194.

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I have any, could wish, and as easily and cheerfully as my best friends could desire.“59 Diese Feier des Sozialen geht einher mit kalter, distanzierter Selbstbeobachtung, welche die Krankheit der Person zur abwärts gerichteten Gerade in der Zeit werden lässt.60 Aber das ist noch nicht alles. Humes social disposition schlägt sich in einer spielerischen Inszenierung des Sterbens nieder, die das eigentliche Skandalon für die Orthodoxie darstellen musste. Der Literat Hume tut, was er immer tat, er liest, und zwar, im Angesicht des Todes, pagane Literatur, die Totengespräche Lukians – um das Gelesene zurückzuführen in die Soziabilität des Gesprächs und über sie in die Polemik über Religion. Lukians Text ist für Hume gerade kein Anlass einer meditatio mortis, sondern einer in der Rollenfiktion inszenierten Denunziation des religiösen Habitus. Die Gründe, die bei Lukian dem Fährmann Charon vorgetragen werden, um Aufschub zu erreichen und das wartende Schiff im Totenreich nicht sofort besteigen zu müssen, die Sorge um das Haus oder die Rache an den Feinden beispielsweise, sie alle kommen nicht in Betracht. Hume präsentiert sich dem Fährmann als ein einverständiger Kandidat des Totenreiches: „I […] have all reason to die contented.“61 Diesem, im topischen Material der paganen Antike durchgespielten Abschiedsszenario korrespondieren einige jocular exercises, Hume gibt vor, Charon um Aufschub zu bitten, weil er Korrekturen an seinem Werk vorhat, ein Ansinnen, welchem der Fährmann die Unabschließbarkeit des Vorhabens entgegenhält. Die gespielte Sorge um das eigene Werk spielt eine reale Sorge ein, die um die sich in religiösen Leidenschaften niederschlagende Schwäche der menschlichen Natur. Ein kleiner fiktiver Dialog inszeniert die Kippfigur von Spiel und Ernst: ,Have a little patience, good Charon, I have been endeavouring to open the eyes of the Public. If I live a few years longer, I may have the satisfaction of seeing the downfall of some of the prevailing systems of superstition.‘ But Charon would then lose all temper and decency. ‚You loitering rogue, that will not happen these many hundred years. Do you fancy I will grant you a leave for so long a term? Get into the boat this instant, you lazy loitering rogue.‘ (S. xlvi)

59 Hume, Essays, S. xliv. 60 Vgl. ebd., S. xlv: „When I lie down in the evening, I feel myself weaker than when I rose in the morning; and when I rise in the morning, weaker than when I lay down in the evening. I am sensible, besides, that some of my vital parts are affected, so that I must soon die.“ 61 Ebd., S. xlv. Vorher heißt es: „I have done every thing of consequence which I ever meant to do, and I could at no time expect to leave my relatives and friends in a better situation than that which I am now likely to leave them […]“.

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Der Aberglaube ist der falsche Glaube, die false religion. Ihn zu bekämpfen ist die Aufgabe des Philosophen, der doch weiß, wie ohnmächtig vernünftiges Wissen gegen die Macht der Leidenschaften ist. Umso unwahrscheinlicher, anspruchsvoller und exemplarischer erscheint demgegenüber das Ethos des Philosophen, das sich im Spiel der parrhesia und ihrer Masken zur Geltung bringt.62 Texte zur Religion und ihrer Kritik machen einen umfangreichen Teil von Humes Werk aus. Aber sie sind zugleich zerstreut und bis in ihre Textstruktur von Erwartungen skandalisierter Reaktionen geprägt. Das bedeutet auch, dass die für Rousseaus Profession charakteristische Doppelstruktur von enthusiastischer Rede und Dogmen- und Wunderkritik bei Hume nicht anzutreffen ist. Hume betreibt Religionsphilosophie als Religionskritik, aber in unterschiedlichen Masken und Verkleidungen, selbst in radikaler Selbstzensur. Die einschlägigen Kapitel des Treatise of Human Nature hat er vor der Veröffentlichung gestrichen, geblieben sind vier Kapitel über die formale anthropologische Struktur des Glaubens (belief),63 der heterodoxe Thesen angesichts der Unbestimmtheit ihres Objektbezugs nachzuweisen schwer fällt. Die unter dem Titel An Enquiry concerning Human Understanding publizierte Revision des ersten Teils des Treatise enthält zwei religionskritische Kapitel, „Of Miracles“ und „Of a Particular Providence and of a Future State“; letzteres entfaltet seine zentralen Argumente in einer Prosopopeia des Epikur, dessen Referenzwelt eine fingierte Antike ist. Von den beiden systematisch religionskritischen Werken der fünfziger Jahre, The Natural History of Religion, und Dialogues concerning Natural Religion, hat Hume nur den ersten Teil publiziert, der zweite, in dem die entscheidende Kritik der Aufklärung an allen Designargumenten durch Nachweis ihrer unaufhebbaren Kontingenz geführt wird, erscheint postum 1779. Der Dialog praktiziert überdies eine elaborierte Verteilung der Gesprächsrollen, und Hume hat einigen Aufwand betrieben, die Attribution der auktorialen Intention rhetorisch zu ver-

62 Für Smith wird Hume durch die Disposition der Natur und seinen skeptischen Habitus zu einem Grenzwert dessen, was der menschlichen Natur angesichts ihrer konstitutiven Schwäche möglich ist: „Upon the whole, I have always considered him, both in his lifetime and since his death, as approaching as nearly to the idea of a perfectly wise and virtuous man, as perhaps the nature of human frailty will permit“, ebd., S. xlix. 63 Immer findet sich in ihnen eine polemische Volte gegen die „ceremonies of the Roman Catholic religion“: „The devotees of that strange superstition usually plead in excuse of the mummeries, with which they are upbraided, that they feel the good effect of these external motions, and postures, and actions in enlivening their devotion, and quickening their fervour, which otherwise wou’d decay away, if directed only to distant and immaterial objects […] I shall only infer from these practices, and this reasoning, that the effect of resemblance in enlivening the idea is very common […]“. Hume, Treatise, S. 70.

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unklären.64 Ähnliches gilt für die religionskritischen Teile der Essays, Moral, Political and Literary: Nur „Of Superstition and Enthusiasm“ wurde zu Lebzeiten veröffentlicht, „Of Suicide and Of the Immortality of the Soul“ wurde von Hume aus einem 1755 geplanten Band Five Dissertations zurückgezogen (sie waren bereits gedruckt), weil er und seine Freunde Verfolgung und Verurteilung fürchteten, und erst ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht.65 Der Skandal von Humes Sterben gründet in der anekdotischen Prägnanz der beiden Geschichten, der Souveränität des wit im Angesicht des Todes wie der philosophischen Exemplarität, welche die Wahrnehmung des autoritativen Beobachters konstatiert. Die Polemiken, die Humes Karriere begleiten, halten allerdings vor der Schwelle des öffentlichen Skandals inne. Die rhetorischen Maskierungen, die stumme Effizienz institutioneller Exklusionsmechanismen wie die Elastizität alternativer Positionen, die sich dem Autor Hume eröffnen, verhindern jene Skandalexplosion, die Rousseau mit dem Emile und der Profession de foi auslöste. Humes virtuose Provokationen vermeiden den einen großen Skandal. Allerdings gibt es auffällige Strategien einer textimmanenten Rhetorik des Skandals, die Humes religionskritische Texte auszeichnet. Man könnte diese diskursive Praxis (Selbst-)Skandalisierung als anthropologische Dynamisierung nennen. Das Skandalöse in den Dispositionen der menschlichen Natur eröffnet Optionen der Distanzierung und Neutralisierung. Die natürliche Religion wird so – als Skandal der menschlichen Natur – zum Medium anthropologischer Selbstkorrektur. Man kann diese Strategie bereits in der Natural History of Religion beobachten, obwohl der Text durch seinen Rekurs auf designtheoretische Argumente eine Position zu vertreten scheint, die angesichts der vernichtenden Kritik in den vermutlich zur gleichen Zeit verfassten, aber erst postum veröffentlichten Dialogues als überholt angesehen werden kann.66 Hume historisiert den Begriff

64 Zweifellos ist der Skeptiker Philo das Sprachrohr Humes. Der einleitende Brief an Gilbert Elliot bestreitet das allerdings: „I make Cleanthes [d.h. den Apologeten des Designarguments] the Hero of the Dialogue. Whatever you can think of, to strengthen that Side of Argument, will be most acceptable to me. Any Propensity you imagine I have to the other Side, crept in upon me against my Will […]“, zit. nach David Hume, Dialogues and Natural History of Religion, John Charles Addison Gaskin (Hrsg.), Oxford 1993, S. 25. Aber welcher Leser würde die Insinuation der sich gegen den Willen durchsetzenden Wahrheit verkennen? 65 In einer Ergänzung zu seinem Testament äußert Hume selbst den Wunsch, der Verleger Strahan möge die Dialogues concerning Natural Religion veröffentlichen, zu denen er „may add, if he thinks proper, the two Essays formerly printed but not published“, vgl. Hume, Essays, S. 578. 66 Allerdings spricht auch manches dafür, dass es sich dabei eher um eine die naturgeschichtliche Erzählung organisierende Heuristik als um eine strikte These handelt. Die Behauptung, „[o]ne design prevails throughout the whole“ (Hume, Dialogues, S. 138), die „conception but of one single being, who bestowed existence and order on this vast machine“ stellt vielleicht nur

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der natürlichen Religion. Es gibt eine Naturgeschichte der Religion, so etwas wie die „formes élémentaires de la vie religieuse“ (Durkheim), allerdings sind sie bei Hume gerade nicht soziologisch, sondern anthropologisch konzipiert, das heißt, er zielt nicht auf die rituelle, sondern auf die kognitiv-emotive Seite der Religion. Es geht Hume um den Ursprung der Religion in der menschlichen Natur und zwar in der Absicht, ihn als kontingent und korrekturfähig auszuweisen und damit zur Disposition zu stellen. Dabei operiert Hume mit Unterscheidungen an der Schnittstelle von menschlicher Natur und Geschichte. Zum einen sind theistische Konzepte durchaus nicht ursprünglich, sondern ein naturgeschichtlich spätes, voraussetzungsreiches Produkt. Zum andern wurzelt das Vorurteil (preconception) einer „invisible, intelligent power“,67 anders als Affekte wie die Selbst- oder Geschlechterliebe, nicht in einem „original instinct or primary impression of nature“,68 sie ist abgeleitet, voraussetzungsreich, Ergebnis vielfältiger, undurchschauter Transformationen. Die frühen Formen der Religion stehen keineswegs auf einem festen Grund der menschlichen Natur. Nach Humes Einschätzung war der „polytheism or idolatry“69 die erste und älteste Religion der Menschheit, bis zum Christentum sogar die ausschließliche. Wenn es einen natürlichen Fortschritt des Denkens geben sollte, dann muss dieser eine aufsteigende Linie vom Polytheismus zum Monotheismus und nicht umgekehrt beschreiben.70 Ein sol-

eine quasinatürliche Illusion fortschreitender Vernunft dar. Hume sieht demgegenüber frappante Gegenbeispiele, so das auf Plinius zurückgehende Argument, die Laokoon-Gruppe, jenes scheinbar exemplarische ästhetische Ganze, sei in Wirklichkeit das Werk dreier Künstler, nicht das eines einzigen Schöpfers: „To ascribe any single effect to the combination of several causes, is not surely a natural and obvious supposition“ (S. 138). Die quasinatürlichen Kausalannahmen sind nicht unbedingt zuverlässig, wie Hume in seinen anderweitigen Diskussionen des Kausalprinzips immer wieder deutlich werden lässt. Die (späte) ‚Natürlichkeit‘ des Designarguments garantiert durchaus nicht seine Wahrheit. Das Laokoonbeispiel untergräbt als Analogon in der Kunst die vermeintliche Plausibilität von (Th)/(D)eismus. Erheblich drastischer formuliert es allerdings der Skeptiker Philo in den Dialogues: „Many worlds might have been botched and bungled, throughout an eternity, ere this system was struck out […] And what shadow of an argument […] can you produce, from your hypothesis, to prove the unity of the Deity? A great number of men joining in building a house or ship, or rearing a city, in framing a commonwealth: Why may not several Deities combine in contriving and framing a world?“, (S. 69). 67 Hume, Dialogues, S. 134. Oder auch eines „perfect Being, who bestowed order on the whole frame of Nature“, ebd., S. 136. 68 Ebd., S. 134. 69 Ebd., S. 135. Er lebt davon, dass die „ignorant multitude […] some grovelling and familiar notion of superior powers“ (ebd.) hervorbringt. 70 Vgl. ebd., S. 138 f.: „[…] it must appear impossible, that theism could, from reasoning, have been the primary religion of human race, and have afterwards, by its corruption, given birth to polytheism and to all the various superstitions of the heathen world.“  

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cher Fortschritt ist indes keineswegs identisch mit dem Fortschritt des Menschen. Zwar ist der Mensch der Anfänge alles andere als jener contemplator coeli, als den Miltons Paradise Lost den biblischen Adam erscheinen lasse, sondern ein „barbarous, necessitous animal“,71 aber er bewahrt sich eine Vielfalt, die der Monotheismus in einer terroristischen Gewalt zusammenzieht. Alle Formen der Religion aber verlassen für Hume jenen Boden der Erfahrung, den er „common sense“ oder „common affairs of life“ nennt, und der das ausmacht, was man später die Lebenswelt nennen wird: „Examine the religious principles, which have, in fact, prevailed in the world. You will scarcely be persuaded, that they are anything but sick men’s dreams.”72 Oder anders: Für Hume gehört die Religion nicht zu den „Transzendenzen“ der Lebenswelt, wie es in der phänomenologischen Soziologie heißt, sondern sie liegt jenseits der Grenzen des common sense, namentlich dort, wo sie sich zur Form der Theologie ausdifferenziert.73 „So long as we confine our speculations to trade, or morals, or politics, or criticism“, bemerkt Philo in den Dialogues, „we make appeals, every moment, to common sense and experience, which strengthen our philosophical conclusions […]. But in theological reasonings, we have not this advantage“.74 Der Skandal der Religion liegt darin, dass sie aus der Peripherie des Anthropologischen ins Zentrum drängt, dieses zu sein beansprucht. Religion ist für Hume daher unauflöslich mit Gewalt verbunden – von der Furcht der Anfänge und den vielen Göttern bis zur Erhabenheit des einen Gottes: „[…] terror is the primary principle of religion“.75 Die ersten religiösen Vorstellungen sind keineswegs anthropologisch ursprünglich.76 Sie sind kontingent, kulturrelativ, irrational. An anderer Stelle heißt es, die Neigung, an unsichtbare, aber intelligente Mächte zu glauben, sei vielleicht kein „original instinct“, wohl aber ein „general attendant of human

71 Ebd., S. 136. 72 Ebd., S. 184. Dem Philosophen bleibt nicht viel mehr als „one species of superstition“ gegen die andere zu setzen, „while we ourselves, during their fury and contention, happily make our escape into the calm, though obscure, regions of philosophy“ (S. 185). Aber Hume sieht durchaus, dass der Rückzug des Philosophen wenig hilfreich ist, wenn common life den Attacken des Aberglaubens ausgesetzt ist. 73 Vgl. ebd., S. 172: „[…] the mind of man appears of so loose and unsteady a texture, that, even at present, when so many persons find an interest in continually employing on it the chisel and the hammer, yet are they not able to engrave theological tenets with any lasting impression.“ 74 Ebd., S. 37. 75 Ebd., S. 128. 76 Deshalb seien die „convictions of the religionists“ zu allen Zeiten „more affected than real“, und erreichen kaum je „that solid belief and persuasion, which governs us in the common affairs of life“, ebd., S. 172.

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nature“.77 So operiert Hume mit einer anthropologischen Unterscheidung, die eine Kritik herausfordert, welche die Haltlosigkeit der Religion hervortreibt. Dem Begriff der menschlichen Natur ist – anders als bei Rousseau – eine Differenz eingezeichnet, die es erlaubt, aus der Notwendigkeit der Selbstkorrektur die Motive und Konzepte der Religion insgesamt in ihrer Hinfälligkeit sichtbar werden zu lassen. So gründe der Polytheismus zwar in den Leidenschaften, aber er stelle so etwas wie deren parasitäre Praxis dar, speist er sich doch aus einem Ensemble von „religious fictions and chimeras.“78 Der Monotheismus treibt sie aus, aber seine Dogmen generieren neue Leidenschaften, die wiederum die Welt des common sense hinter sich lassen. Dieser Befund legt für Hume zwei Konsequenzen nahe. Die erste betrifft den „Fortschritt“ vom Polytheismus zum Monotheismus und sie mündet in ein, wie man mit Odo Marquard sagen könnte, Lob des Polytheismus angesichts der Folgen des Monotheismus. Hume beobachtet aus einer Position der Äquidistanz die historische und kulturelle Vielfalt der Religionen, ihre Antriebe und ihre Vorstellungswelten. Er konstatiert einen „flux and reflux of polytheism and theism“,79 die Menschen haben eine natürliche Tendenz, von der Idolatrie zum Theismus aufzusteigen, um dann wieder in erstere zurückzusinken. Aber ist das überhaupt ein Schaden? Denn die größere Rationalität des Theismus (oder auch des Deismus) wird mit einer gesteigerten Irrationalität der religiösen Leidenschaften bezahlt, die charakteristische Verwandlung von Gedanken in Emotionen, in Humes Terminologie: von „ideas“ in „impressions“, gewinnt im Monotheismus eine terroristische Wucht, die dem Polytheismus als einer Religion der Gewaltenteilung fremd ist. Immer wieder zitiert Hume die letztlich auf Platon zurückgehende Formel: „the corruption of

77 Ebd., S. 184. Hume sagt das nicht ohne die Schöpfung des universal Creator in ein zweideutiges Licht zu rücken: Die Neigung des Menschen zur Religion kann als ein „kind of mark or stamp“ betrachtet werden, die Gott seinem Werk aufgedrückt hat. Aber in den Religionen selbst erscheint es in deformierter Form: „[…] consult this image, as it appears in the popular religions of the world. How is the deity disfigured in our representations of him! How much is he degraded even below the character, which we should naturally, in common life, ascribe to a man of sense and virtue!“ Gott drückt dem Menschen seinen Stempel auf – aber so, dass dieser ihn zuverlässig defiguriert und verzerrt. 78 Ebd., S. 184. Beherrscht werden die Bilder von anthropomorphisierenden Tendenzen, einer „universal tendency among mankind to conceive all beings like themselves“ (S. 140). Gott wird als „jealous and revengeful, capricious and partial“ (S. 141), dann wieder als Inbegriff von virtue und excellence vorgestellt. Religion lebt so gleichermaßen von terror und adulation, der religiöse Mensch schwankt zwischen einer Gottheit, die „devilish and malicious“ ist, und einer, welche als „excellent and divine“ erscheint. 79 Ebd., S. 158.

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the best things gives rise to the worst.“80 Gott mit den Prädikaten der Allmacht und der Allwissenheit auszustatten, führt unweigerlich zum Terror des Aberglaubens (superstitious terror). Eine philosophisch anspruchsvolle Theologie leistet nichts für die Bewältigung des common life, aber sie lebt aus einem „appetite for absurdity and contradiction“.81 Indem sie den Boden der Lebenswelt hinter sich lässt, wird sie zum Skandal der Vernunft.82 Anders als der Polytheismus, der bestenfalls aus einer Vielzahl systematisch kaum verknüpfter Geschichten (loose and precarious fictions) besteht, hat sich der Monotheismus zu einem normativen Kanon und einem Katalog von Glaubensartikeln verfestigt. Er ist skriptural und systematisch, der Polytheismus hingegen traditional und mythologisch. Letzterer ist plural und „leicht“, er sitzt „easy and light on man’s minds“, hinterlässt kaum eine „deep impression on the affections and understanding“, ersterer ist intolerant und ‚schwer‘, er tendiert dazu „to sink the human mind into the lowest submission and abasement“.83 Die zweite Konsequenz betrifft grundsätzlich die anthropologische Struktur des Glaubens und damit die Funktion der Religion. Was ist der Glaube? Im Treatise of Human Nature84 heißt es: Er ist nicht einfach die Vorstellung eines Gegenstands (idea of an object). Wir stellen uns viele Dinge vor, an deren Wirklichkeit wir nicht glauben. Der Glaube fügt dem Gegenstand oder seiner Vorstellung allerdings auch nichts hinzu. Ob ich mir Gott vorstelle oder an seine Existenz glaube – das Objekt meiner Vorstellung oder meines Denkens ändert sich damit nicht. Was sich allerdings verändert, ist die Art und Weise der Repräsentation, die „manner, in which we conceive it.“85 Hume erläutert die Diffe80 Ebd., S. 163. So lautet auch der erste Satz des Essays Of Superstition and Enthusiasm: „That the corruption of the best things produces the worst, is grown into a maxim, and is commonly proved, among other instances, by the pernicious effects of superstition and enthusiasm, the corruptions of true religion“, Humes, Essays, S. 73. 81 Ebd., S. 166. 82 Den Höhepunkt theologischer Absurdität stellt für Hume die katholische Realpräsenzlehre dar, die alles übertreffe, was der Paganismus zu bieten habe. Man könne darauf nur mit grotesken Anekdoten und Gelächter reagieren – oder mit der Option Zukunft: „Though in a future age, it will probably become difficult to persuade some nations, that any human, two-legged creature could ever embrace such principles“, ebd., S. 168. 83 Ebd., S. 163., S. 173. Vgl. auch ebd., S. 162: „The intolerance of almost all religions, which have maintained the unity of God, is as remarkable as the contrary principle of polytheists.“ Die gewichtige Note I aus Humes Anmerkungsapparat zitiert ausführlich einen Chevalier Ramsay, um zu zeigen „that it is possible for a religion to represent the divinity in still a more immoral and unamiable light than he was pictured by the ancients“ (S. 190), und zwar durch einen Autor, der gewiss kein Feind der christlichen Religion war. 84 Hume, Treatise, S. 65–67. 85 Ebd., S. 68.

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renz mit Hilfe seiner Grundunterscheidung von Ideen und Impressionen (ideas/ impressions), welche das Feld der „perceptions of the mind“86 insgesamt ausmacht. Impressionen besitzen demnach „force and vivacity“87, das heißt dynamische und emotionale Qualitäten, Ideen sind Kopien von Impressionen, repräsentieren diese, aber ohne deren affektive und dynamische Komponente. Humes basale Definition, die er am Anfang des Treatise vorschlägt, lautet folgendermaßen: Those perceptions, which enter with most force and violence, we may name impressions; and under this name I comprehend all our sensations, passions and emotions, as they make their first appearance in the soul. By ideas I mean the faint images of these in thinking and reasoning […].88

Impressionen sind primär, Ideen sekundär, in den Impressionen manifestiert sich die Natur des Menschen als kognitiv-emotive Einheit, die Ideen hingegen sind die Operationseinheiten des Denkens. Der Glaube nimmt in dieser Konstruktion eine bemerkenswerte und zutiefst ambivalente Zwischenposition ein, denn er lässt die Fragilität des Funktionszusammenhangs der mentalen Vermögen sichtbar werden. Er ist, in Humes Terminologie, eine Idee, die durch eine Impression verstärkt wird, mithin „A LIVELY IDEA RELATED TO OR ASSOCIATED WITH A PRESENT IMPRESSION“.89 Glauben heißt, Ideen, also die sekundären Abziehbilder primärer Erfahrung, mit der Vitalität, emotionalen Kraft, ja Gewalt von Impressionen zu besetzen, und zwar gerade durch Verselbständigung gegenüber ihrem ursprünglichen Konnex. Der Glaube verleiht unseren Ideen die Dynamik der Leidenschaft. Aber er gründet gerade in keiner primären oder originären Impression, sondern, wiederum in Humes normierter Terminologie, in einer „impression of reflection“.90 Diese Rekursivität der Impression führt mitten hinein in die Theorie der Leidenschaften (passions). Denn Leidenschaften sind nichts anderes als „[s]econdary, or reflective impressions“.91 In der Zirkulation von Impressionen und Ideen spielt sich das Begehren und Wollen der Menschen ab, und zwar von der Erfah-

86 Ebd., S. 67. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 7. 89 Ebd., S. 67, Hervorhebung im Original. 90 Ebd., S. 11. 91 Vgl. ebd., S. 181: „Original impressions or impressions of sensation are such as without any antecedent perception arrive in the soul, from the constitution of the body, from the animal spirits, or from the application of objects to the external organs. Secondary, or reflective impressions are such as proceed from some of the original ones, either immediately or by the interposition of its idea. Of the first kind are all the impressions of the senses, and all the bodily pains or pleasures: Of the second are the passions, and other emotions resembling them.“

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rungsdichte des common life bis zu den extravaganten Differenzen primärer und sekundärer Impressionen. Dabei kommt der Zwischenwelt der Ideen die Rolle eines operativen Scharniers zu: Ideen sind manipulierbar, denn sie generieren Ähnlichkeiten und Differenzen, sie sind der Ort der Rationalität, indem sie das Denken unabhängig von der Kontingenz der Impressionen möglich machen, aber sie sind zugleich das Einfallstor eines intransparenten Besetzungsgeschehens, in der Rekombination von Ideen und Impressionen. Die religionskritische Virulenz von Humes Theorie der Leidenschaften gründet in ihrer strukturellen Mehrstelligkeit, denn die Leidenschaften bilden sich in einer komplizierten „Mechanik“92 von Repräsentationen und Besetzungen. Konstitutive Mehrstelligkeit gilt durchaus nicht nur für den Abbild- und Differenzraum von Impressionen und Ideen, vielmehr beschreibt der Treatise ein zentrales Ensemble von Leidenschaften – Hume widmet ihnen den Großteil seiner Darstellung, die exemplarischen Analysen gelten etwa dem Stolz, der Liebe oder dem Hass – als mehrstellige „indirekte Leidenschaften“ (indirect passions). Diese im Kontext der Leidenschaftstheorien des 18. Jahrhunderts hochoriginelle Konzeption will sowohl der strukturellen Komplexität wie auch der Transformation und Kombination von Leidenschaften Rechnung tragen. Indirekte Leidenschaften agieren demzufolge in einer dreistelligen Relation von Subjekt, Ursache und Objekt, wobei die Terme der Relation weiter ausdifferenzierbar sind, beispielsweise durch die Unterscheidung von Qualitäten und ihren Trägern. Um dies anhand eines schlichten Beispiels zu illustrieren: Mein Reichtum kann die Ursache meines Stolzes sein, sein Objekt ist allerdings das eigene Selbst. Hume hat seine anthropologische Konstruktion im Treatise so gut wie ausschließlich im Kontext des common life expliziert, viel ist die Rede von Reichtum, Schönheit, convenience. Diese Fokussierung mag den doppelten Grund haben, einerseits das anstößige Thema der Religion auszusparen, andererseits den Leidenschaften in der Lebenswelt eine elementare Rationalität zu vindizieren, die in dem assoziativen Band von Ursache und Objekt der indirekten Leidenschaften gründet. Assoziation heißt nichts anderes als dass die Relation von Ursache und Objekt durch Verhältnisse von Kontiguität, Ähnlichkeit oder Kausalität hergestellt ist und damit eine Qualität der Beobachtbarkeit und der Verlässlichkeit besitzt. So sichern die Leidenschaften die Reproduktion der Beziehungen des common life – und zwar im doppelten Sinne der Kohäsion wie der horizontalen, temporalen Öffnung. Die passions sind der Kitt der Lebenswelt. Nur weil er Leidenschaften hat, ist für den Menschen die perfect solitude seine größte Strafe: „We can form no

92 Den Begriff entlehne ich aus Jon Elster, Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions, Cambridge 1999, v.a. Kap. I: „A Plea for Mechanisms“.

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wish, which has not a reference to society.“93 Aber die Leidenschaften liefern zugleich die Energie, wie Hume vor allem in dem Essay On the Middle Station of Life illustriert, durch die sich Fähigkeiten und Tugenden entfalten können. Der systematische Kontext erklärt auch, warum Hume den Willen nicht – wie die gesamte Tradition bis zum Empirismus Lockes und darüber hinaus – als Vermögen begreift, sondern selbst als eine Art Leidenschaft.94 Und nur deshalb kann er auch den provokativen Satz formulieren: „Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve them.“95 Denn nur die Leidenschaften treiben zum Handeln an; ohne sie hätten wir weder ausgeprägte Motive noch die Fähigkeit zur (Selbst-)Veränderung – wir hätten nicht einmal die Energie, uns unserer Vernunft zu bedienen.96 Aber das ist nur die eine Seite. Es gibt auch Leidenschaften, die den Rahmen der common sphere of life sprengen. Der offenen, ethischen und technischen Produktivität der Leidenschaften stehen Selbstüberschreitungen gegenüber, die sich ebenfalls der Mehrstelligkeit der Leidenschaft verdanken, aber die Grenzen assoziativer Rationalität sowohl horizontal wie vertikal sprengen. Hume hat das Thema im Treatise formal in zwei Kapiteln zu dem Thema Of contiguity and distance in space and time erörtert. Er erörtert dort die Frage, warum manchmal zeitlich wie räumlich entfernte Gegenstände, entgegen aller erwartbaren Dynamik der Leidenschaften und der Einbildungskraft, mächtiger sind als contiguous objects, und er beantwortet sie wiederum mit den Mitteln einer differenzierten Kinetik von Impressionen und Ideen. Es liegt nahe, an die imaginären Gegenstände der Kunst zu denken, aber Humes Paradigma der Überschreitung der Grenzen der Lebenswelt sind nicht so sehr die fictions of the imagination, denen er nur eine geringe Wirksamkeit zutraut. Sein Fiktionsbegriff definiert sich geradezu über das Merkmal geringer Intensität der begleitenden impressions. Anders steht es mit dem Imaginären der Religion. Deren Vorstellungen können als Gegenstand des Glaubens, als impressions of reflection, namentlich unter den Bedingungen des Monotheismus, zu Prinzipien des Handelns werden. Sie mobilisieren sekundäre Impressionen, deren Zusammenhang mit den primären Eindrücken der

93 Hume, Treatise, S. 234. 94 Zu Beginn der Kapitel über Of the will and direct passions definiert Hume im Treatise: „[…] by the will, I mean nothing but the internal impression we feel and are conscious of, when we knowingly give rise to any new motion of our body, or new perception of our mind“, ebd., S. 257, Hervorhebung im Original. 95 Ebd., S. 266. 96 Ebd.: „Since reason alone can never produce any action, or give rise to volition, I infer, that the same faculty is as incapable of preventing volition, or of disputing the preference with any passion or emotion.“

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Wahrnehmung unzugänglich ist, und sie sprengen das assoziative Band, das im common life Ursache und Gegenstand der Leidenschaft verknüpft. Und noch mehr: Die ausgearbeitete Theologie kann die Ideen und Dogmen, mit denen sie operiert, im Interesse der Mobilisierung sekundärer Impressionen manipulieren. Sie spalten die mehrstellige Einheit des Objekts durch Überdehnung und Intransparenz. Die imaginären Gegenstände der Religion werden durch Leidenschaften besetzt – die Relation von Ursache und Objekt lässt sich allenfalls im Nachhinein in ihrer Kontingenz enthüllen. Es ist der im 18. Jahrhundert viel diskutierte Enthusiasmus, dem Hume hier die entscheidende Rolle zuschreibt, im Ensemble seiner raptures und transports: „And the fanatic madman delivers himself over, blindly, and without reserve, to the supposed illapses of the spirit, and to inspiration from above.“97 Mit der Betonung der Rolle von Anthropomorphismen in den religiösen Vorstellungswelten arbeitet Hume zweifellos der Religionskritik des 19. Jahrhunderts seit Feuerbach vor. Aber er ist es, der jenes Skandalon der Religion herausarbeitet, das darin liegt, dass sie die anthropologische Vernunft des common life sabotiert. Das unterscheidet sie auch von aller historischen Größe, an der Hume als Autor der History of Great Britain ein ausgeprägtes Interesse hatte. Auch der Heroismus wagt sich in die Grenzzonen der common sphere of life, aber er lebt aus eben jenen indirekten Leidenschaften, die im Zentrum der Selbstreproduktion der Lebenswelt stehen. Mit dem Imaginären der Religion aber wird die Immanenz des common life als Form radikaler Säkularität gewissermaßen auf Dauer überschritten. Dazu trägt ein spezifisches Strukturprinzip der Relation von Imagination und Emotion bei. Wenn letztere umso intensiver ist, je bedeutender der Gegenstand ist, auf den sie sich richtet,98 so gilt auch die Inversion dieser Beziehung: Die Intensität der Emotion verleitet zur Imagination einer korrelativen Größe des Gegenstands. So wird die Einbildungskraft zum Medium der Leidenschaften und ihrer Intensität, und es entstehen jene überdimensionalen Anthropomorphismen, welche das Imaginäre der Religion bevölkern. Hume hat diesen anthropologischen Skandal auch deshalb so nachhaltig exponiert, weil er ihn im Interesse des common life für zumindest partiell behebbar hielt.

97 Hume, Essays, S. 74. Die Konsequenz ist unvermeidlich: „[…] when this frenzy once takes place, which is the summit of enthusiasm, every whimsy is consecrated: Human reason, and even morality are rejected as fallacious guides.“ 98 Hume, Treatise, S. 241: „Every object is attended with some emotion proportion’d to it; a great object with a great emotion, a small object with a small emotion.“

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IV Zuschreibungen und Inszenierungen Skandale werfen, wie man sieht, intrikate Zuschreibungsfragen auf. Ein Akteur oder Autor kann durchaus den skandalösen Charakter seines Handelns oder seiner Wahrheit proklamieren, die ethischen Gesten und das Verhaltensrepertoire der parrhesia stellen einschlägige Modelle zur Verfügung. Aber Skandale können auch von Beobachtern denunziert werden, die sich als Instanzen der Sicherung und Bewahrung traditioneller Wahrheiten auffassen. Der Skandal kann Akteuren angelastet werden, ohne dass diese die ihnen unterstellten Absichten verfolgt haben müssen. Der epochale Skandal um Rousseaus Emile hat zwar mit der spektakulär ausgestellten parrhesia des Autors zu tun, aber es bedarf der autoritativen Position der Kirche und des Machtanspruchs der Politik, um ihm jene Resonanz zu verleihen, die in die massive Verfolgung des Autors mündet. Es ist bemerkenswert, dass der Antagonismus im Kern einen Konflikt impliziert, für den keine übergeordnete Entscheidungsregel zur Verfügung steht. Es handelt sich um einen „Widerstreit“ (différand). Von einer anderen Warte aus kann man sagen: Das Zentrum, die Autoritäten des Wissens und Glaubens und der politischen Macht, setzt sich gegen Infragestellungen zur Wehr, die aus der Peripherie, der Welt der lettres, lanciert werden. Deren Repräsentanten testen die Ränder des Skandals aus, weil sie in der Erwartung einer Verschiebung oder gar Inversion der asymmetrischen Relation von Zentrum und Peripherie leben. Die massiven Reaktionen des Zentrums können insofern bereits als Anzeichen der Schwäche verstanden werden und provozieren weitere Experimente an den Rändern der Produktion und Perzeption von Skandalen. Wie die spätere Geschichte ästhetischer Avantgarden allerdings zeigt, hat sich die Asymmetrie von Zentrum und Peripherie im Bereich der Kunst längst transformiert, Zentrum und Peripherie sind elastisch und polyvalent geworden. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung über die christliche Religion, zumindest für die europäischen Verhältnisse, und das heißt außerhalb fundamentalistischer Reaktionen. Das aber bedeutet auch, dass sich seit der Aufklärung die Möglichkeit einer konsequenzarmen, experimentellen und inszenatorischen Skandalkultur eröffnet hat, die sich gerade außerhalb stabiler Relationen von Zentrum und Peripherie, Autorität und Gegendiskurs etabliert. Die Skandalkultur besitzt insbesondere seit der Etablierung einer Struktur räsonnierender Öffentlichkeit ein Resonanzzentrum der Erregung und Verarbeitung skandalöser Diskurse und Inszenierungen. Sie treibt damit eine eigene, immanente Dynamik voran. Indem sie im Zeichen der parrhesia skandalisierend zuspitzt, attackiert sie nicht nur traditionelle Institutionen und deren Geltungsanspruch. Die Skandalkultur der Aufklärung besetzt einen anthropologischen Kern, dem sie den Stachel

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der Selbstskandalisierung einpflanzt. Sie mobilisiert kontinuierliche Irritationen, die Gewissheiten destabilisieren, um eine neue Balance von Kritik und Geltung durchzusetzen.

Jörn Leonhard, Freiburg

Der Skandal im Zeitalter der Revolutionen: Frankreich 1814–1848 I Einführung: Zur Anatomie des Skandals im politisch-sozialen Erfahrungsraum Welche Mechanismen stehen hinter der Konstitution von Wertgemeinschaften? Diese Grundfrage ist für Soziologen und Politikwissenschaftler so elementar wie für Historiker und Literaturwissenschaftler. Sie verweist auf einen weitgefassten Kulturbegriff, der auf die Entstehung, Kohäsion und Stabilisierung oder auf die Erosion und Destabilisierung von sozialen Gruppen durch kollektive Sinnangebote abzielt. Neben der positiven Bestimmung von Wertzielen sind dabei vor allem die Kontrastierungen, die kritischen Absetzungen und Infragestellungen wesentlich. Aus dieser Perspektive sind Rituale der Empörung ein wichtiges Forum für die öffentliche Aushandlung von positiv oder negativ konnotierten Werten. Der Skandal stellt eine besondere Form der Empörung im öffentlichen Raum und in der sozialen Praxis dar: In ihm werden im weitesten Sinne Normen verhandelt, indem sich Kollektive von imaginierten oder erfahrenen Normtransgressionen distanzieren.1 Als wissenschaftlicher Gegenstand der Historiker hat der Skandal in jüngerer Zeit zwar im Kontext der Erforschung historischer Korruptionsphänomene und in der Mediengeschichte an Aufmerksamkeit gewonnen, doch fristet er im Vergleich zu anderen Disziplinen und im Kontrast zu anderen Themen noch immer eher ein Schattendasein.2 Das mag daran liegen, dass der Skandal immer wieder die Posse und das Banale provoziert. So erscheinen politische Skandale häufig als momenthafte und dramatisch zugespitzte Ereignisse, die nur für eine kurze Frist das Interesse der Öffentlichkeit auf sich ziehen, dann jedoch kaum längerfristige

1 Vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 64; vgl. auch Manfred J. Holler (Hrsg.), Scandal and its theory, 2 Bde., München 1999/2002; Hans Mathias Kepplinger, Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit, München 2001. 2 Vgl. Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009; Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt am Main 2011.

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Spuren hinterlassen, die den Historiker interessieren könnten. Dagegen betonen bereits sehr frühe soziologische Forschungen eine besondere Funktion des Skandals für die Kohäsion sozialer Gruppen. So verweisen insbesondere Emil Durkheims Untersuchungen darauf, dass selbst die besonders asozialen, amoralischen und pathologischen Handlungen letztlich eine funktionale Dimension für die Integration einer Gesellschaft aufweisen. Mit der Überschreitung und der Verletzung von Normen werde demnach ein heiliger oder profaner Glaube verletzt, wodurch aber der Glaube selbst bekräftigt und bestätigt werde. So erlaube gerade der Skandal, das Selbstbild einer gesellschaftlichen Gruppe zu stützen und zu bestätigen. Normverletzungen und Transgressionen gehören für Durkheim daher zur notwendigen Regulation von Gesellschaften, indem sie helfen, gesellschaftliche Ordnungsmuster zu stabilisieren.3 Skandale fügen sich sinnvoll in dieses Interpretationsmuster ein, da sie jene conscience collective einer Gemeinschaft thematisieren, ohne welche nach seiner Interpretation politisch-soziale sowie soziokulturelle Ordnungsmuster nicht funktionieren können.4 Skandale bilden für sich genommen jeweils einzigartige Ereigniszusammenhänge, aber es gibt doch bestimmte, gleichsam aus der Vogelschau identifizierbare konstitutive Elemente für eine Anatomie zumal des politischen Skandals aus historischer Perspektive. Vorläufig sollen drei solcher Merkmalskomplexe differenziert werden: Das Objekt des Skandals ist zunächst eine besonders schwerwiegende und für eine Gesellschaft insgesamt wertrelevante Normverletzung, etwa als Vertrauensbruch und Verrat durch eine Person oder eine Institution, die mit bestimmten Normen und relevanten Deutungsmustern einer Gesellschaft identifiziert wird. Im Gegensatz zu Straftaten resultieren Skandale aus einem Verstoß gegen Recht und Moral durch Personen, denen aufgrund einer herausragenden Stellung, öffentlicher Wirksamkeit oder Vorbildcharakter ein besonderes Vertrauen entgegengebracht wurde. Diese Personalisierung der komplexen Grenzzone aus Recht und Moral erlaubt im Skandal die Identifikation von individuellen Tätern und Opfern und die Markierung einer Fallhöhe; zugleich wirkt die Skandalisierung auch immer wieder komplexitätsreduzierend und strukturierend. Das Unerhörte, eben das Skandalöse, liegt dabei in der Beschädigung imaginierter und projizierter Wertressourcen und Konsensmuster einer als Allgemeinheit bestimmten sozialen Gruppe. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich bestimmte Feind- und Selbstbilder sowie Topoi der Verfehlung entwickeln und kommunizieren. Auf dieser

3 Vgl. Andrei S. Markovits/Mark Silverstein, „Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien“, in: Rolf Ebbinghaus/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 151–170. 4 Vgl. Hondrich, Enthüllung, S. 45.

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Basis kommt es zur Inklusion oder zur Exklusion von Individuen aus einer Wertegemeinschaft. Eine besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang, zweitens, die Akteure und Foren des Skandals: Dazu zählen die Rollenmuster von Tätern, Opfern und denjenigen, die einen Skandal durch ihre Recherchen oftmals gegen Widerstände erst aufdecken, aber vor allem eine Öffentlichkeit mit ihren eigenen medialen Bedingungen kollektiver Kommunikation. Zwischen den skizzierten Rollen und ihren Trägern sind Rollenwechsel möglich. Drittens beruht der Mechanismus von Skandalen auf einem besonderen Mechanismus der Individualisierung und Personalisierung von Schuld einerseits und der kollektiven Exkulpierung und Entlastung andererseits. Ein Akteur verletzt im Skandal ein in ihn gesetztes öffentliches Vertrauen. Die Notwendigkeit der Bestrafung, der Verlust von Legitimation und Autorität, folgt der Vorstellung einer Normstabilisierung durch die Identifikation und Ahndung der Normtransgression. Da es sich dabei immer um Kommunikationsprozesse handelt, sind Skandale immer von bestimmten wiederkehrenden Ritualen und Zuschreibungsprozessen gekennzeichnet: Das reicht von der Aufdeckung und Rekonstruktion der Transgression über die Verdichtung der öffentlichen Wahrnehmung und der Empörungsgesten bis hin zur Bloßstellung und Bestrafung der Verantwortlichen sowie der retrospektiven Deutung der Skandalereignisse mit dem Ziel, die kollektiven Normen und Werte zu restabilisieren und gleichsam in eine kollektive Katharsis zu übersetzen. Dabei stellt die Öffentlichkeit den entscheidenden Wirkungs- und Verhandlungsraum des Skandals dar.5 Diese allenfalls skizzenhafte und vorläufige Anatomie des Skandals lässt sich sinnvoll in die Überlegungen Durkheims integrieren: Jedes soziale System nutzt die eigenen Pathologien, um sich erfolgreich reproduzieren zu können. Der Skandal stellt in diesem Zusammenhang ein wesentliches Element der politischen und sozialen Lebenswirklichkeit dar, das zur Aufrechterhaltung und Bestätigung der politischen und sozialen Ordnung elementar ist. Dennoch sind in der Theorie Durkheims Fehlstellen erkennbar: Erstens blendet sie die Problematik und Praxis von Machtausübung und Machtbeziehungen weitgehend aus. Auch kommen bei ihm, zweitens, verschiedene Relationen der Moderne zu kurz, die aber für die

5 Vgl. Hondrich, Enthüllung, S. 24–28. Vgl. zum politischen Skandal: Manfred Schmitz, Theorie und Praxis des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1981; Ebbighaus/Neckel (Hrsg.), Anatomie; Graeme C. Moodie, „Studying Political Scandal“, in: Corruption & Reform, 3/1988, 3, S. 243–246; Sighard Neckel, „Die Wirkungen politischer Skandale“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40/1990, B 7, S. 3–10; Dirk Käsler, Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991; Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Sachsenheim 1992.

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Anatomie des Skandals eine grundlegende Bedeutung annahmen. Dazu gehörte zum einen die dynamische Verschiebung in der Definition dessen, was in verschiedenen Gesellschaften als ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ galt. Das gilt zumal für jene Entwicklung, in deren Verlauf seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der Erfahrungsraum des Privaten aus der Sphäre des Öffentlichen geschieden wurde.6 Gerade dies zählte zum Wesensgehalt liberaler Gesellschafts- und Politikentwürfe. Weiterhin wurde das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft und die Entstehung eines neuartigen pluralistischen Systems konkurrierender Interessen eine wichtige und spannungsgeladene Relation, die für das Funktionieren von Skandalen wichtig wurde. Damit verbunden war schließlich auch das Spannungsfeld zwischen Individuum und Institution. Drittens schließlich kommt in den Ausführungen Durkheims der diachrone Wandel, die besondere kontextabhängige Veränderung in der Anatomie von Skandalen, zu kurz. An diesen Fehlstellen knüpft die historische Analyse an, die den Skandal als eine besondere Untersuchungssonde für vergangene Gesellschaften und ihre Versuche der Selbstbeschreibung und Selbststabilisierung versteht. Für den Historiker lassen Skandale bestimmte kritische Erfahrungsschwellen sichtbar werden, an denen sich erkennen lässt, welches Verhalten in einer Gesellschaft aus welchen Gründen als noch oder nicht mehr konform angesehen wird. Wichtig sind aus dieser Perspektive also weniger die unmittelbaren Ereignisgeschichten der Skandale als vielmehr ihr aufschließendes Potential für die Zuschreibung und Kommunikation von kollektiven Werten, ihre legitimitätsstiftende Funktion, ihre Erosion und ihre Veränderung in der historischen Zeit. Aus dieser Perspektive ergibt sich das wachsende Interesse von Historikern an Skandalen: Denn diese bilden in einzigartiger Weise die komplexen Prozesse von Normwandel, Normkonkurrenzen und Normambivalenzen ab und markieren insofern Knotenpunkte vergangener Erfahrungsdeutung, zumal im Blick auf den Umbruch legitimer Herrschaftsordnungen.7 Am Beispiel der Untersuchung von drei Skandalkonstellationen in der postrevolutionären Gesellschaft Frankreichs nach 1815 sollen die hier skizzierten Möglichkeiten einer historischen Interpretation von Skandalen als Veränderungsschwellen kollektiver Wertordnungen überprüft werden. Die Konzentration auf den französischen Fall liegt nicht zuletzt deshalb nahe, weil sich hier die Funktion und Dynamik von Skandalen in einem von tiefen politischideologischen und sozialen Konflikten geprägten Kontext zeigte. Die Auseinan-

6 Vgl. Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006; Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009. 7 Vgl. Luc Boltanski (Hrsg.), Affaires, scandales et grandes causes. De Socrate à Pinochet, Paris 2007.

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dersetzung um politische und soziale Ordnungsmodelle, um die Bedingungen für Stabilität nach den tiefgreifenden Umbrucherfahrungen der Revolutionsregime und des napoleonischen Kaiserreichs machte aus Frankreich nach 1814/1815 einen gesamteuropäischen Bezugspunkt. Zugleich entwickelte sich nach 1815 eine dynamische Öffentlichkeit mit neuen Medien, Organisations- und Kommunikationsformen, die aus den Deutungskonkurrenzen regelrechte politische Massenmärkte entstehen ließen. Skandale bildeten diese Prozesse nicht nur ab, sondern sie waren für sie unmittelbar konstitutiv.

II Skandalkonstellationen in der postrevolutionären Gesellschaft Frankreichs nach 1814/1815 Mit der Rückkehr der Bourbonendynastie im Gefolge der militärischen Niederlage und Abdankung Napoleons kam es 1814 und dann erneut nach der zweiten Niederlage Napoleons zu einer Wiederherstellung der „legitimen“ Monarchie. Sie ging jedoch nicht in einer von vielen Zeitgenossen erwarteten Restauration des Ancien Régime auf.8 Vielmehr bemühte sich Ludwig XVIII. um einen Versöhnungs- und Vermittlungskurs als Antwort auf die Herausforderungen der französischen Gesellschaft nach den Erfahrungen der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs, die in Frankreich anders als in anderen europäischen Gesellschaften eine postrevolutionäre Konstellation mit tiefen ideologischen Verletzungen und antagonistischen Erwartungen an die Zukunft hervorgebracht hatte. Diese Situation schlug sich in einer ausgesprochenen Vielfalt und Spannung zwischen zeitgenössischen Akteuren nieder: Neben einem gleichsam reimportierten Ancien Régime mit den bereits 1802 Amnestierten und den jetzt nach Frankreich zurückkehrenden aristokratischen Emigranten und denjenigen Priestern, die sich der Zivilverfassung der Kirche verweigert und Frankreich nach 1790 verlassen hatten, standen die bürgerlichen Nutznießer der Revolution und des Kaiserreichs, die insbesondere durch den Erwerb nationalisierter Kirchengüter, andere Vermögensumschichtungen oder eine Ämterlaufbahn profitiert hatten, sowie ideologische Parteigänger der Regime seit 1789; das reichte von den gemäßigt-konstitutionellen Revolutionären und den Mitgliedern des Nationalkon-

8 Vgl. Guillaume de Bertier de Sauvigny, La Restauration, 2. Auflage, Paris 1977; Emanuel de Waresquiel/Benoît Yvert, Histoire de la Restauration 1814–1830. Naissance de la France moderne, Paris 1996.

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vents, die der Verurteilung Ludwigs XVI. zugestimmt hatten, von den radikalen Jakobinern bis zu Bonapartisten und schließlich den Liberalen, die nach 1814/ 1815 in einer konstitutionellen Monarchie den besten Schutz sowohl gegen eine radikale sozialrevolutionäre Bewegung wie gegen eine monarchisch-klerikale Reaktion erkannten.9 Frankreich erlebte daher eine völlig neuartige und im europäischen Vergleich einzigartige Verdichtung konkurrierender ideologischer Positionen, die sich mit divergierenden Interpretationen der Vergangenheit und antagonistischen Vorstellungen über die Zukunft des Landes und die Bedingungen politischer und sozialer Ordnung verbanden. Die Charte Constitutionnelle von 1814/1815 stand vor diesem Hintergrund für den Versuch der Monarchie, die postrevolutionäre Gesellschaft zu stabilisieren. Diese Strategie ging von der Rückkehr zur Monarchie aus, ohne jedoch die Erfahrungen seit 1789 und das Erbe der Revolution zu negieren: Einerseits bekannte sich die Charte zum Ancien Régime, so vor allem in der Präambel, welche das Gottesgnadentum und die von der Revolution nicht unterbrochene Kontinuität der Monarchie hervorhob und die Verfassungsgebung nicht als Ergebnis einer Volksbewegung oder eines Vertrages, sondern als königlichen Oktroi interpretierte. Andererseits aber bestätigte die Charte in ihren Artikeln ausdrücklich die besitzbürgerlichen und rechtlichen Ergebnisse der Revolution und des Kaiserreichs. In der Zusicherung bürgerlicher Rechtsgleichheit, der Garantie der seit 1789/1790 eingetretenen neuen Eigentumsverhältnisse und dem Bekenntnis zum Code Civil wurde das gemäßigte und bürgerliche Erbe der Revolution auf der Basis einer konstitutionellen Monarchie mit Verfassungsbindung, Nationalversammlung und durch Zensuswahlrecht eng begrenzter politischer Teilhabe gleichsam fortgeschrieben. Damit erkannte die Monarchie faktisch die historische Entwicklung nach 1789 bis zur Einrichtung der konstitutionellen Monarchie von 1791 an, doch vollzog sich diese Anerkennung in der Form und den Symbolen als Rückkehr in eine Monarchie des Ancien Régime.10 Doch führte die von Ludwig XVIII. forcierte Strategie nicht zu einer innenpolitischen Beruhigung, im Gegenteil. Zumal nach der Rückkehr Napoleons und seiner endgültigen Niederlage vollzog sich die zweite Installierung der bourbonischen Monarchie vor dem Hintergrund der alliierten Besetzung Frankreichs. Nun kam es zu einer massiven Polarisierung zwischen den reaktionären Ultraroyalisten und denjenigen parlamentarischen Gruppen, welche die Basis der Charte anzuerkennen bereit waren. Der sogenannte Weiße Terror der Ultras nach 9 Vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 140–184. 10 Vgl. Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, S. 225–273.

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der zweiten Abdankung Napoleons 1815/1816 und die Chambre Introuvable, in der sie eine Mehrheit erreichten, unterstrich die massive ideologische Polarisierung. Dabei zeigte sich ein besonderes Paradoxon, denn die Ultras traten in der Folgezeit für die Pressefreiheit ein, weil sie so die Wahlbevölkerung für ihre Sache zu gewinnen hofften. Progressive Strategien standen neben anti-liberalen und reaktionären Zielen und Programmatiken. Vor diesem Hintergrund blieb die Suche nach politischer und sozialer Stabilität in Frankreich prekär. In der postrevolutionären Gesellschaft nach 1814/1815 konnten die unterschiedlichen Zeit- und Erfahrungsschichten seit 1789 jederzeit neu aufbrechen und politisch instrumentalisiert werden. Hinter diesen Konflikten zeichnete sich ein im europäischen Vergleich besonders zugespitztes Ringen um kollektive Normgefüge und Werte ab, um die Frage, was eine Gesellschaft nach prägenden Umbrucherfahrungen eigentlich noch zusammenhalten konnte und wie vor diesem Hintergrund politische Herrschaft zu legitimieren sei. Das gab den zeitgenössischen Skandalen in Frankreich ihre besondere Bedeutung.

II.1 L’affaire Ouvrard 1822/1824: Die Mechanismen des Skandals im Spannungsfeld von Akteursintentionen und Eigenlogiken der Öffentlichkeit Der historische Zusammenhang für den Skandal um Gabriel-Julien Ouvrard ergab sich aus der französischen Militärintervention in Spanien, wo sich die politischen Spannungen zwischen der Monarchie und den Cortes-Versammlungen massiv zugespitzt hatten. Nach der Revolution von 1820, als deren Folge König Ferdinand VII. seit Sommer 1822 faktisch ein Gefangener der Cortes war, und vor dem Hintergrund der in vielen europäischen Staaten erkennbaren Wendung gegen liberale und demokratische Bewegungen suchte man auch auf internationaler Ebene nach Wegen, um gegen die Aufständischen in Spanien vorzugehen und die als legitim geltende Dynastie zu stützen. Aus der Sicht führender französischer Politiker bot eine Intervention in Spanien gleich mehrere Vorteile: Innenpolitisch konnte man von erheblichen Spannungen ablenken, die sich seit 1815 und um 1819/1820 besonders artikuliert hatten, vor allem seit der Ermordung des Thronfolgers, des Duc de Berry.11 Insbesondere konnten, so die Hoffnung, die Ultra-

11 Vgl. Gilles Malandain, „La Conspiration solitaire d’un ouvrier theophilanthrope: Louvel et l’assassinat du Duc de Berry en 1820“, in: Revue Historique, 124/2000, 302/2, S. 367–393; Bettina Frederking: „Auf der Suche nach dem ‚wahren‘ Frankreich: Das Attentat auf den Duc de Berry am 13. Februar 1820“, in: Michael Einfalt/Joseph Jurt/Daniel Mollenhauer/Erich Pelzer (Hrsg.), Kon-

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royalisten durch ein solches Vorgehen zugunsten der spanischen Monarchie beruhigt werden.12 Außenpolitisch bot eine Intervention insbesondere in den Augen des Außenministers Chateaubriand die Chance, die Verlässlichkeit Frankreichs als Garant des monarchischen Prinzips in Europa unter Beweis zu stellen und damit den diplomatischen Handlungsspielraum zu vergrößern, der durch die Beschlüsse von 1815 stark eingeschränkt worden war. Gabriel-Julien Ouvrard hatte während der Revolution und des Kaiserreichs Karriere als Armeelieferant gemacht. Sein Reichtum stammte vor allem aus Spekulationsgewinnen und sicherte ihm eine wichtige Position innerhalb der bürgerlichen Finanzelite auch über den Herrschaftswechsel von 1814/1815 hinaus. Zur Vorbereitung der militärischen Intervention wurde er 1823 mit der Versorgung der französischen Expeditionsarmee und des Nachschubtransports beauftragt. Der militärische Oberbefehlshaber, der Graf von Angoulême, ein Neffe des französischen Königs, sah sich bald mit einer völlig unzulänglichen Organisation der Armee vor Ort konfrontiert. In diesem Zusammenhang gelang es Ouvrard, in Bayonne vertraglich eine Monopolstellung für die Versorgung der französischen Expeditionsarmee mit Nahrungsmitteln und Nachschub zu erreichen. Doch lagen Ouvrards Preise mehr als doppelt so hoch wie üblich. Zudem erhielt er gesonderte Kommissionen auf alle Verkäufe und zusätzliche Einnahmen aus sogenannten Überlassungsgebühren, so zum Beispiel allein 7,5 Centimes pro Pferd und pro Tag bei über 25.000 Armeepferden. Angoulême unterschrieb diese Verträge in Bayonne unter dem Eindruck, dass ohne Ouvrards Hilfe die gesamte Operation gefährdet werde. Zwar stoppte die Regierung unter Premierminister Villèle diesen Vorgang, doch kam es erst nach dem Ende der militärischen Operationen und der Anerkennung Ferdinands VII. im Januar 1824 zu einem parlamentarischen Nachspiel: Als die Regierung vom Parlament die Bewilligung von 207 Mio. Francs für die Expedition erbat, entwickelte sich der eigentliche Skandal durch das öffentliche, bald auch weit über das Parlament hinausgehende Interesse.13

strukte nationaler Identität: Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), Würzburg 2002, S. 35–57. 12 Vgl. David Skuy, Assassination, Politics and Miracles. France and the Royalist Reaction of 1820, Montreal 2003. 13 Vgl. zur Rekonstruktion der Ereignisse aus der älteren Literatur André Liesse, Portraits de financiers: Ouvrard, Mollien, Gaudin, baron Louis, Corvetto, Laffitte, de Villèle, Paris 1908; G. Weill, „Le financier Ouvrard“, in: Revue historique, 43/1918, 127/1, S. 31–61; Paul Villain, Un habitant du 8e arrondissement, Ouvrard, munitionnaire des armées, Lille 1925; Arthur Lévy, Un grand profiteur de guerre sous la Révolution, l’Empire et la Restauration, Paris 1929; Otto Wolff, Die Geschäfte des Herrn Ouvrard, aus dem Leben eines genialen Spekulanten, Frankfurt am Main 1932; Georges Levebvre, „Une carrière d’homme d’affaires: Ouvrard“, in: Annales d’histoire économique et sociale, 6/1934, 26, S. 194; André Nicolle, „Ouvrard and the French Expedition in Spain in 1823“,

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Die parlamentarische Auseinandersetzung schuf ein erstes öffentlich durch die zeitgenössische Berichterstattung wirksames Forum für die Skandalisierung, die aber von Anfang an weit über das individuelle Verhalten Ouvrards hinausging. Die Empörung und massive Kritik der liberalen Opposition um Benjamin Constant, Casimir Périer und Maximilien Foy richtete sich eben nicht nur gegen die massiven Kosten, die auf die Verträge von Bayonne zurückgeführt wurden, sondern vor allem gegen die französische Hilfe bei der Installation eines im Prinzip anti-liberalen Regimes in Spanien. Darin, in der Verknüpfung zwischen dem konkreten Korruptionsvorwurf und der anti-liberalen Position der Regierung, lag die tiefere politisch-ideologische Dimension des Skandals, und sie erklärte seine Dauer und mediale Präsenz seit 1824. Villèle sah sich angesichts der Kritik der parlamentarischen Opposition gezwungen, eine Untersuchungskommission einzurichten, um die Verantwortung nicht auf Angoulême abzuwälzen und damit die Monarchie direkt zu beschädigen und eine drohende Blockade seines Budgets durch die Kammermehrheit zu verhindern. Die Untersuchungskommission, die schließlich einen fünfbändigen Bericht zur Finanzierung des Nachschubs der Spanien-Armee publizierte, stand für den regierungsamtlichen Versuch, die Verantwortung in dem Skandal zu personalisieren und zu individualisieren, um den konkreten Druck auf die Regierung abzumildern und zugleich eine grundsätzlichere Auseinandersetzung um die innen- und außenpolitische Reichweite des monarchischen Prinzips zu verhindern. Doch zeigte es sich zugleich, dass auch die Regierung den Primat des Parlaments, sein Budgetrecht und seine Kontrollfunktion, anerkennen musste. Ouvrard wurde bereits im Dezember 1824 wegen Verschleppung eines Privatbankerotts über zwei Mio. Francs verhaftet, doch sollte die affaire Ouvrard die französische Öffentlichkeit noch für mehrere Jahre beschäftigen.14 Zunächst betonte die Kommission, dass Korruption immer Korrumpierte voraussetze. Jedoch scheiterten Versuche, zwei Generäle in der Pairskammer der Korruption zu überführen, so dass sich am Ende nur die Anklage gegen Ouvrard und wenige Mit-

in: Journal of Modern History, 17/1945, 3, S. 193–201; Maurice Payard, Le Financier G.-J. Ouvrard, Reims 1958. 14 Vgl. aus den zeitgenössischen Veröffentlichungen Jean-Raimond-Pascal Sarran, Des Marchés Ouvrard, et de l’esprit politique et financier de M. de Villèle, Paris 1824; [Beaurepaire], Des Opérations dévoilées du sieur Ouvrard, Paris 1824; M. Costelin, Sur MM. de Villèle et Ouvrard, relativement aux fournitures de l’armée d’Espagne, Paris 1825; Narcisse-Achille de Salvandy, La Vérité sur les marchés Ouvrard, Paris 1825; [Anonym], Affaire entre MM. Tourton et Ouvrard. [Résumé de plaidoirie de Me Dupin jeune.], Paris 1826; François Mauguin, Mémoire pour G.-J. Ouvrard sur les affaires d’Espagne, Paris 1826; Maréchal Victor, Mémoire pour M. le maréchal duc de Bellune sur les marchés Ouvrard, Paris 1826.

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angeklagte aufrechterhalten ließ. Während diese im November 1826 immerhin zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, wurde Ouvrard selbst von der Anklage freigesprochen, blieb aber wegen der Verschleppung seines Bankerotts bei komfortablen Bedingungen in Haft. Dort verfasste er seine Memoiren, deren Publikation die öffentliche Aufmerksamkeit an dem Skandal weiter dynamisierte.15 Die Einrichtung der offiziellen Untersuchungskommission und die Wahrnehmung ihrer Berichte in der Öffentlichkeit verliehen dem Skandal sehr bald eine Eigenlogik, die über die Intentionen der Regierungsakteure hinausging. Hier zeigte sich, dass es nicht gelang, den Korruptionsvorwurf zu individualisieren, sondern dass es im Gegenteil zur Diskreditierung der Regierung kam. Fragt man nach der Einordnung des Skandals über den engeren Ereigniszusammenhang hinaus, dann fällt neben der besonderen Suggestivität der zeitgenössischen Berichterstattung – vom Bild der korrupten Armeekommissare über die Ungeduld und den Ehrgeiz des Oberbefehlshabers aus der königlichen Familie und der Generäle bis hin zur Skrupellosigkeit Ouvrards, dessen individuelle Bereicherung immer wieder herausgestellt wurde – auf, wie sich der Skandal instrumentalisieren ließ, um grundsätzliche politisch-ideologische Konfliktlinien sichtbar zu machen und zugleich die Komplexität dieser Auseinandersetzung durch Personalisierungen zu reduzieren. Die Skandalisierung erlaubte zugleich, kontroverse Positionen in einem parlamentarischen und öffentlichen Raum zu kommunizieren. Es ging dabei sehr bald nicht mehr allein um das persönliche Fehlverhalten einzelner Akteure, etwa um individuelle Korruption, sondern um die Grundfrage, wie sich die bourbonische Monarchie zur Frage einer militärischen Intervention stellte, und damit um einen militärischen Einsatz für die Durchsetzung des monarchischen Prinzips als Leitschnur außenpolitischen Handels. Damit waren unmittelbar jene ideologischen Grundkonflikte der postrevolutionären Phase seit 1814/1815 berührt, welche den tiefen Riss durch die französische Gesellschaft offenlegten, der auch die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik verwischen ließ. Der Skandal und zumal die Zuspitzung der Schuld auf die Person Ouvrards dokumentierte für viele Zeitgenossen, dass die Regierung alles unternahm, um ihre Haltung zugunsten einer monarchischen Reaktion zu unterstreichen und von innenpolitischen Spannungen abzulenken. Faktisch verstärkte die Intervention in Spanien, öffentlich dargestellt als Kreuzzug gegen die spanischen Liberalen und zugunsten des Ideals einer absoluten Monarchie, das Misstrauen der liberalen Parlamentarier in

15 Vgl. G.-J. Ouvrard, Mémoires de G.-J. Ouvrard sur sa vie et ses diverses opérations financières, 3 Bde., Paris 1826–1827.

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Frankreich und vertiefte die Kluft zwischen monarchischem Staat und großen Teilen der politischen Öffentlichkeit.16

II.2 Das Sakrileggesetz von 1825: Vom Anachronismus monarchischer Legitimation zur öffentlich ausgetragenen Normenkonkurrenz Der ideologische Gegensatz um die zukünftige Legitimation politischer Herrschaft in Frankreich und der besondere Zusammenhang zwischen Skandalisierung, Normenkonkurrenz und Mythenbildung standen auch hinter einem anderen Skandal in der Phase der Bourbonenmonarchie, der sich mit dem sogenannten Sakrileggesetz von 1825 verband, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Skandal um Ouvrard stand. Dabei ging es um die in liberalen Kreisen weit verbreitete Vorstellung einer neuen klerikalen Bedrohung der 1815 in Verfassung und Parlament erreichten politischen Ordnung des postrevolutionären Frankreich. Hatte Ludwig XVIII. zunächst eine ausgesprochen zurückhaltende Religionspolitik betrieben, war es nach der Ermordung des Duc de Berry 1820 zu einem innenpolitischen Wechsel gekommen. Die Ultraroyalisten kehrten an die Regierung zurück und bemühten sich nach der erfolgreichen Spanienexpedition darum, ihre Machtposition langfristig zu sichern. Auf die traumatischen Erfahrungen von Revolution, Schreckensherrschaft und Napoleonischem Kaiserreich reagierten sie wie bereits während der Phase des Weißen Terrors nach 1815 und der Chambre Introuvable mit dem programmatischen Anspruch einer durchgreifenden monarchischen Restauration. Gerade dies aber sensibilisierte die Öffentlichkeit für jedes Anzeichen einer angeblichen Klerikalisierung der Politik, die – so die Annahme vieler Zeitgenossen – mit neuen einflussreichen Positionen wichtiger Kirchenvertreter zumal in der Bildungs- und Kulturpolitik einhergehe. Hatte Ludwig XVIII. in der Präambel der Charte Constitutionnelle von 1814 auf die Prinzipien des Gottesgnadentums hingewiesen, ansonsten aber auf eine provozierende Nähe zur katholischen Kirche verzichtet, änderte sich dies unter seinem Nachfolger: Anlässlich der Krönung Karls X. 1825 in Reims kam es zum letzten Mal zum mittelalterlichen Ritual der Wunderheilung durch den gesalbten Monarchen, was in großen Teilen der Öffentlichkeit bereits kritische Reaktionen hervorrief.17

16 Vgl. Marcel Pollitzer, Le Règne des financiers: Samuel Bernard, J. Law, G.-J. Ouvrard, Paris 1978; Jacques Wolff, Le financier Ouvrard, Paris 1992. 17 Vgl. Marc Bloch, Die wundertätigen Könige (zuerst 1924), München 1998.

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Dieses Reaktionsmuster, das vor allem in der liberal-oppositionellen Tagespresse den Anachronismus der Handlungen und der dahinter stehenden Legitimationsvorstellungen betonte, wiederholte sich in der Debatte um das Sakrileggesetz.18 Dessen Ursprung ging auf die Verschärfung des Code Pénal von 1810 zurück, der Diebstähle in Kirchen als normale Diebstahlsakte behandelt hatte. 1824 kam es zu einer Neufassung des Tatbestandes: Verbrechen, „die in Kirchen und anderen Gebäuden verübt werden, die der Religionsausübung dienen“, sollten in Zukunft mit der Verstümmelung der Gliedmaßen und Todesstrafe sanktioniert werden, wenn die Hostie in einem gestohlenen Kommunionsgefäß enthalten war. Diese Bestrafung orientierte sich an der Vorstellung des parricidium, am Vatermord also, den man im Sinne des katholischen Dogmas auf die Realpräsenz Christi anwandte. Diese Definition des Sakrilegs erschien in der liberalen und oppositionell gesinnten Öffentlichkeit als Ausdruck einer klerikalen Verschwörung gegen die 1815 definierten Ergebnisse der gemäßigten Revolution. Die offene Demonstration eines anachronistisch wirkenden Gottesgnadentums bewirkte eine umso intensivere Suche nach Beweisen für eine klerikal-monarchische Infragestellung der Ergebnisse der Revolution. Der Skandal um das Sakrileggesetz unterstrich die suggestive Dichotomie zwischen ganz unterschiedlichen Auffassungen legitimer Herrschaft: Gottesgnadentum und Sakralqualität der Herrschers standen in dieser Sicht gegen geregelte politische Partizipation auf der Basis der konstitutionellen Monarchie. An diesem Beispiel zeigte sich exemplarisch, wie Unterstellungsvorwürfe eine ganz eigene Dynamik entwickelten, die sich nicht primär auf reale Tatsachen, sondern auf die Ebene des Vorstellbaren bezogen, dann aber ihre ganz eigene Wirkungsrealität entwickeln konnten. Denn das Sakrileggesetz war keinesfalls die Konsequenz einer besonders religiösen Bewegung der Bevölkerung, sondern war vielmehr das Ergebnis einer erfolgreichen Intervention der aristokratischen, logenartig organisierten Geheimorganisation der Chevaliers de Foi, die über enge Kontakte zu den politischen Ultras und zur Regierung verfügten. Hatten die Anhänger der Chevaliers die Entlassung Montmorencys, des Großmeisters der Chevaliers, und des Außenministers Chateaubriands noch als massiven Rückschlag gegen ihre Position verstanden, so bemühte sich die Regierung mit der Gesetzesvorlage 1824/1825 demonstrativ darum, die extreme Rechte politisch wieder zu integrieren. Hinzu kam der Wechsel auf dem Thron Frankreichs von Ludwig XVIII. zu seinem Bruder Karl X., der während der Re-

18 Vgl. im Folgenden Mary S. Hartman, „The Sacrilege Law of 1825 in France. A Study in Anticlericalism and Mythmaking“, in: Journal of Modern History, 44/1972, 1, S. 21–37, sowie Hervé Hasquin, La loi du sacrilège dans la France de la Restauration (1825), in: Alain Dierkens und Jaques Marx (Hrsg.), La sacralisation du pouvoir. Images et mises en scène, Brüssel 2003, S. 127–142.

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gentschaft seines Bruders sehr enge Beziehungen zu den Chevaliers unterhalten hatte und nun auf eine massive Verschärfung der gegen die liberale Bewegung gerichteten Politik drängte.19 Der Kern des Skandals lag für die Zeitgenossen im provozierenden Anachronismus des Sakrileggesetzes, der offensichtlichen Rückkehr von Krone und Regierung zu einem aggressiv nach außen gerichteten Bündnis von Thron und Altar im Symbol eines revitalisierten Priesterkönigtums, das die Revolution ungeschehen machen sollte. Für diejenigen aber, welche die politischen und sozialen Veränderungen seit 1789 als Grundlage einer neuen Ordnung anerkannten, lag hierin gerade die Abweichung von den neuen Normen, die man mit der Charte 1814/ 1815 mühsam auf eine neue Basis gestellt hatte. Zu dieser Konstellation trug nicht zuletzt die massive Reaktion von Lamennais bei, der das Gesetz gerade deswegen massiv kritisierte, weil es zur Verteidigung der Religion gegen die Anschläge einer atheistischen Revolution bei weitem nicht ausreiche. Damit spielte er auf die Rache für das Leiden der Kirche und der Priester während der Revolution an, wie er sie in der Enteignung des Kirchenbesitzes, den Septembermorden und der Ausweisung der den Eid auf die Zivilverfassung verweigernden Priester erkannte. Diese Positionierungen auf liberaler wie auf katholischer Seite verstärkten den Eindruck, Frankreich stehe vor der manichäischen Alternative zwischen Theokratie und Revolution. So trug die Skandalisierung des Sakrileggesetzes von beiden Seiten des ideologischen Spektrums dazu bei, die überwunden geglaubte revolutionäre Vergangenheit immer wieder neu zu vergegenwärtigen.20 Die zeitgenössischen Reaktionen unterstrichen nicht allein die Bedeutung von Parlament und Öffentlichkeit als Foren der Auseinandersetzung. Im Gestus der gegenseitigen Empörung zeigte sich wie in der Phase nach 1815 eine entscheidende Funktion des Skandals, nämlich die Strukturierung der zeitgenössischen Meinungsbildung. Weniger die liberalen Mitglieder der Abgeordnetenkammer, sondern vielmehr die bisher royalistisch orientierten und durchaus kirchenfreundlichen Mitglieder wandten sich jetzt gegen die Maßnahmen der Regierung und gegen den politisch intendierten Klerikalismus einer Minderheit. Dieser Protest äußerte sich als traditioneller Gallikanismus, also als nationalpolitisch intendierter Katholizismus im Gegensatz zu einer klerikalen Reaktion, welche die mit der Charte identifizierte politische Balance infrage zu stellen drohte. Der Grundgedanke der Gegner des Gesetzes lief dagegen darauf hinaus, dass das Sakrileg eine Sünde darstelle und daher strafrechtlich überhaupt nicht

19 Vgl. ebd., S. 26 f. 20 Vgl. Félicité de Lamennais, Œuvres complètes, Bd. 8, Paris 1837, S. 436–444; Hartman, Sacrilege Law, S. 27 f.  



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verfolgt werden könne, schon gar nicht als Verbrechen. So trug die Auseinandersetzung über das Gesetz zur Differenzierung und schließlich auch zur Spaltung des ultraroyalistischen Lagers bei. Die Weigerung der Regierung, auf diese massive Kritik der Abgeordneten zu reagieren, verstärkte wiederum die Vorstellung einer klerikalen Verschwörung, obgleich es dafür keinerlei Anzeichen gab. Hier lag ein Skandalisierungsprozess vor, in dem es zu einer gegenseitig sich verstärkenden Abwertungswahrnehmung von Regierungsakteuren und Anhängern des Gesetzes, die mit dem Revolutionsvorwurf operierten, und der oppositionellen Öffentlichkeit kam, die geschickt das Schreckbild von Theokratie und klerikaler Verschwörung instrumentalisierten. Verwiesen jene auf die Notwendigkeit der Revolutionsprophylaxe, so argumentieren diese mit der Gefahr, diese katholisch-klerikale Restauration stelle die bürgerlichen Revolutionsergebnisse in Frage. Diese Konstellation schwächte die Regierung erheblich und zwang sie schließlich zu erheblichen Konzessionen und Gesetzesänderungen im Detail. So sollte etwa die Todesstrafe nur bei bewusster Entweihung von Gegenständen in der Öffentlichkeit vollstreckt werden, während man von der Möglichkeit regelrechter Verstümmelungsstrafen abrückte. Noch stärker als im Falle des Ouvrard-Skandals lassen sich die Auseinandersetzungen um das Sakrileggesetz als Artikulation und Kommunikation von Normenwandel und Normenkonkurrenzen analysieren. Die gegenseitige Skandalisierung, das Aufdecken vermeintlicher Übergriffe, diente dazu, die eigene Position zu klären und öffentlichkeitswirksam zu vermitteln. Das zeigte sich insbesondere in den Reaktionen der liberalen Opposition in der Kammer: So wandte sich RoyerCollard als Sprecher der gemäßigten Doctrinaires gegen die extreme, von Lamennais hervorgehobene Alternative, nach der sich Frankreich zwischen Theokratie und Revolution entscheiden müsse. Royer-Collard plädierte vielmehr im Sinne der Charte Constitutionnelle für die Religionsfreiheit jedes Einzelnen, aber er setzte sich zugleich für den Katholizismus als Staatsreligion und die staatliche Besoldung der Priester ein. Genau diese im Sinne der postrevolutionären Stabilisierung so wichtige Allianz zwischen Kirche und Staat sah er durch die vorgebliche klerikale Verschwörung gegen die Ordnung von 1815 bedroht. Benjamin Constant dagegen distanzierte sich von der Vorstellung einer notwendigen Allianz zwischen Kirche und Staat, umging allerdings in seiner entscheidenden Rede in der Abgeordnetenkammer auch die logische Folge seiner Position, nämlich das Eintreten für eine konsequente Trennung zwischen Staat und Kirche. Außerhalb des Parlaments war es aber gerade diese Position, die sich umso stärker entfaltete, zumal in der oppositionellen Tagespresse, welche die politische Auseinandersetzung um das Gesetz zum Skandal stilisierte: So trug der traditionell an Voltaires aufgeklärtem Antiklerikalismus orientierte Constitutionnel wesentlich dazu bei, die Vorstellung der klerikalen Verschwörung gegen die Ergebnisse von 1815

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zu popularisieren. Entsprechend kritische Reaktionen fanden sich auch im Courrier français, im Journal de Commerce sowie im Journal des Débats, das zwar die Position Chateaubriands im Sinne eines aristokratischen Monarchismus verteidigte, aber vor einer klerikalen Unterwanderung der Politik warnte.21 Vor dem Hintergrund des Skandals formierte sich zum ersten Mal systematischer die Position einer strikten Trennung zwischen Kirche und Staat: Insbesondere bei den Mitgliedern der Société de la morale chrétienne, bei liberalen Universitätsprofessoren sowie Lesern des Globe wurden antikirchliche Stellungnahmen erkennbar, welche sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker zu einer identifizierbaren ideologischen Position verdichteten und schließlich 1905 zur gesetzlichen Trennung zwischen Kirche und Staat beitrugen. Ohne dass das Sakrileggesetz jemals angewandt worden wäre, führte der Skandal darum zu einer richtungweisenden Neupositionierung in der Debatte um das Verhältnis von Kirche und Staat. Die Mechanismen des Skandals gründeten auf gegenseitigen Missperzeptionen, in der schließlich der suggestive Mythos einer klerikalen Verschwörung gegen die Ergebnisse von 1815 entstand. Dieser negative Mythos, für den es in der historischen Wirklichkeit um 1824/1825 keine realen Anhaltspunkte gab, katalysierte auf dem Wege der parlamentarischen und vor allem außerparlamentarischen Empörungsgeste die Selbstidentifikation der liberalen Opposition und trug insofern auch zur Bildung einer durch die Distanzierung von der Bourbonenmonarchie homogenen Oppositionsbewegung im Vorfeld der Julirevolution von 1830 bei.

II.3 Erosion von Systemvertrauen – Der institutionalisierte Skandal in der orleanistischen Monarchie vor 1848 Das abschließende Beispiel von Skandalen in Frankreich vor 1848 verweist auf ein Grundproblem, das sich in der politischen Praxis nach der Julirevolution 1830 und der Etablierung der orleanistischen Monarchie entwickelte: Denn das politische Regierungssystem erwies sich als ausgesprochen anfällig für Korruption.22 Das lag wesentlich an der strukturellen Kompetenzverteilung, denn der Frühparlamentarismus war durch einen in der Verfassung festgeschriebenen Dualismus zwischen Krone und Parlament gekennzeichnet, der eine Dominanz der Abgeordnetenkammer ausschloss. In der konstitutionellen Monarchie, die anders als

21 Vgl. ebd., S. 32–34. 22 Vgl. Guy Antonetti, Louis-Philippe, Paris 1994; Robert Hervé, La Monarchie de Juillet, Paris 1994.

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die später durchgesetzte parlamentarische Monarchie noch nicht den Mechanismus kannte, mit dem die Kammermehrheit die Regierung stürzen und damit die legislative Priorität gegenüber der Exekutive durchsetzen konnte, stellte die systematisierte Bestechung von Abgeordneten daher ein Mittel dar, um über personale Netzwerke auch Mehrheiten im Parlament zu bilden und die formal auf Kontrolle angelegte Beziehung zwischen Regierung und Kammer informell zu beeinflussen. So kam es schließlich dazu, dass spätestens mit der Bildung des Ministeriums unter der faktischen Leitung François Guizots 1840 in der Öffentlichkeit eine verfassungskonforme Balance zwischen Krone und Parlament nur noch vorgetäuscht wurde, während die Regierung in der politischen Wirklichkeit immer mehr darauf angewiesen war, durch regelrechte Regierungsfunktionäre in der Kammer Mehrheiten zu organisieren. 1846 saßen in der französischen Abgeordnetenkammer nicht weniger als 148 solche Regierungsfunktionäre. Mindestens weitere 40 Abgeordnete waren der Regierung durch gewährte Konzessionen und faktische Geldzahlungen verpflichtet. Dieses System der institutionalisierten Wahlbestechung stellte eine zentrale Strategie dar, um im System des monarchischen Frühkonstitutionalismus einigermaßen verlässliche Mehrheiten sicherzustellen. Das spiegelte einen bestimmten verfassungshistorischen Entwicklungsstand wider, in dem eine Regierung noch nicht wie in Großbritannien aus einer Parlamentsmehrheit heraus gewählt und gestützt wurde, sondern noch vom Monarchen berufen wurde, zugleich aber parlamentarische Mehrheiten benötigte, nicht zuletzt, um einen Haushalt verfassungskonform verabschieden zu können.23 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die parlamentarische Korruption seit den 1830er Jahren zu einem Leitmotiv der politischen Skandalisierung in Frankreich. Für den Zusammenhang dieses Beitrages ist dies deshalb von großer Bedeutung, weil sich damit eine zunehmende öffentliche Grundsatzkritik an der Praxis des monarchischen Konstitutionalismus verband, dessen Grenzen aufzeigte und schließlich auch die Legitimität der Julimonarchie erodieren ließ. Eine entscheidende Konsequenz dieser Skandalisierung des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung bestand darin, dass sich die politische Opposition immer mehr in den außerparlamentarischen Bereich verlagerte. Allein hier schienen die kritische Aufarbeitung der Praktiken und damit eine wirksame Kontrolle der politischen Entscheidungsprozesse noch möglich. Diese Verlagerung ging zugleich einher mit einer intensiven Berichterstattung in den politischen Medien. Das zeigte sich in den entsprechenden Skandalen um den Minister Teste wegen

23 Vgl. André Jardin/André-Jean Tudesq, Restoration and Reaction, 1815–1848. The Cambridge History of Modern France, Cambridge 1988, S. 128–141.

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Unterschlagung und 1848 in der sogenannten Affaire Petit, in der auch der bisher als integer geltende Minister Guizot in einen Korruptionsskandal verwickelt wurde. Bereits vor 1848 verdichteten sich diese Skandale und mündeten schließlich in den generalisierten Vorwurf, die ganze Regierung sei korrupt.24 Für den Constitutionnel und weite Teile der politisch kritischen Öffentlichkeit waren diese Korruptionsskandale geradezu synonym für das frühparlamentarische Regierungssystem geworden, das es zu überwinden galt. Auch jenseits der Möglichkeit einer revolutionären Umwälzung wurden politisch-konstitutionelle Alternativen daher seit den 1840er Jahren immer intensiver diskutiert. In diesem Zusammenhang forderte Duvergier de Hauranne den Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie, da erst die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister und ihre Abhängigkeit von gewählten Mehrheiten die Praxis unterbinden könne, in der Regierungen auf ad hoc-Lösungen und unsichere Mehrheitsbeschaffungen angewiesen seien.25 Aber auch über Frankreich hinaus wurde der Zusammenhang zwischen Parlamentarismus und Korruption sehr genau wahrgenommen und politisch als Argument eingesetzt. Angesichts der revolutionären Erschütterungen seit dem Frühjahr 1848 in Deutschland und der Frage der zukünftigen Ausgestaltung des politisch-konstitutionellen Systems forderte Friedrich Julius Stahl im Blick auf die Erfahrungen mit parlamentarisch institutionalisierter Korruption in Frankreich und Großbritannien, „daß uns das politische System des Westens fernbleibe […] die Republik unter der Form der Monarchie, die Kammerherrschaft und deren Begleitung, die Kammerbestechung.“26

24 Vgl. aus den zeitgenössischen Publikationen etwa M. Parmentier, Cour des Pairs. Affaire des mines de Gouhenans, Paris 1847; [Anonym], Cour des pairs. Affaire des mines de Gouhenans. Arrêt du samedi 26 juin 1847. Acte d’accusation [[Texte imprimé]. Réquisitoire et réplique prononcés par M. Delangle, procureur général du roi. Procès-verbal des séances relatives au jugement de cette affaire.], Paris 1847; [Anonym], Cour des pairs. Affaire des mines de Gouhenans. Correspondances et pièces diverses relatives à cette affaire, Paris 1847; J.-B. Teste, Cour des pairs. Affaire des mines de Gouhenans; observations de M. J.-B. Teste, Paris 1848. 25 Vgl. Prosper Duvergier de Hauranne, Histoire du gouvernement parlementaire en France, 10 Bde., Paris 1857–1871. 26 Zit. nach: Thomas Ellwein, Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise: Zur Geschichte des Verfassungsstaates in Deutschland, München 1954, S. 85.

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III Zusammenfassung und Ausblick: Zur Pathologie des historischen Skandals als exemplarische Vertrauenskrise Wie lassen sich die drei konkreten Fallkonstellationen in die Diskussion um eine Pathologie des historischen Skandals einordnen? Auf einer ersten Ebene lässt sich zunächst die eingangs bereits thematisierte Frage nach den möglichen Funktionen von Skandalen im politisch-sozialen Raum aufgreifen. Aus den oben näher untersuchten Beispielen lassen sich vor allem folgende allgemeine Aspekte ableiten: a) Skandale tragen zu Prozessen des Normenwandels bei und spiegeln diese wider, das heißt sie wirken zugleich als Faktoren und Indikatoren. Daraus ergibt sich ihre kollektive Orientierungswirkung: Skandale bilden ein kommunikatives Forum für die Verhandlung von Werten, von Vorstellungen dessen, was in einem politisch-sozialen Raum noch akzeptiert ist und was nicht mehr. Das geht über die Dichotomien legitim/illegitim oder Recht/Unrecht hinaus, aber es wirkt auf diese zurück. Sie tragen damit dazu bei, verschiedene Grenzverhältnisse – allgemein zwischen kollektiven Interessen und individuellen Handlungen und spezifischer zwischen Politik und Recht, Politik und Wirtschaft, Politik und Moral, öffentlicher Politik und Privatsphäre und zuletzt auch zwischen Ökonomie und Ökologie – zu verhandeln und immer wieder neu zu bestimmen. Für den Historiker liegt der besondere aufschließende Wert historischer Skandale im multiperspektivischen Blick auf Norm- und Wertbestimmungen, auf Akteure, Institutionen und Medien.27 b) Skandale dienen idealtypisch der politischen Herrschaftskontrolle. So wurden und werden sie auch immer wieder von Akteuren selbst interpretiert und ihre Konsequenzen legitimiert. Gegenüber etablierten Institutionen wie Parlament und Regierung setzen sie in dieser Perspektive eine kritische Öffentlichkeit und eine bestimmte Medienkultur voraus, um der Aufdeckung und Diskussion, der Rekonstruktion, Aufarbeitung und Sanktionierung von Normbrüchen ein wirksames Forum zu bieten. Doch darf dieses suggestive Interpretationsmuster, Skandalen eine gleichsam kathartische, politisch scheinbar notwendige Funktion zuzubilligen, nicht dazu verleiten, die immer wieder hoch ambivalente Wirkung von Skandalen zu unterschätzen. In konkreten historischen Situationen

27 Vgl. Hondrich, Enthüllung, S. 28–30, S. 65; Wilfried von Bredow, „Legitimation durch Empörung. Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie des Skandals“, in: Schoeps (Hrsg.), Skandal, S. 190–208.

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sind sie ebenso Abbilder bestimmter Interessenkonstellationen, sie lassen sich instrumentalisieren, um bestimmte Positionen infrage zu stellen und andere durchzusetzen. Andererseits unterlaufen Skandale bestimmte Akteurs- und Publikumserwartungen immer wieder aufgrund der Differenz zwischen den Akteursintentionen und den Eigenlogiken von Skandalisierungsprozessen. Daraus ergeben sich die oft paradoxen, hiatischen Umschläge in den Narrativen, etwa durch die Rollenumkehr von Tätern als Opfer und Opfern als Täter. c) Skandale wirken durch bestimmte, besonders suggestive Narrative, in denen Normbrüche personalisiert und damit in besonderer Weise identifizierbar werden. Die Bestandteile dieses dynamischen Narrativs bieten emotionale Ableitung und kollektive Entlastung durch die individuelle Markierung und Sanktionierung von Schuld, Verrat und Vertrauensbruch. Aus der Balance zwischen Aufdeckung, Empörung, Auseinandersetzung und der Möglichkeit der kollektiven Einigung lassen sich bestimmte Werte und Normen neu aktualisieren. d) In diesem Sinne sind Skandale Momente verdichteter Kommunikation. Dabei beruht die besondere Medialisierbarkeit und Suggestionskraft von Skandalen immer wieder auf religiös imprägnierten Symbolsprachen und auf von ihnen abgeleiteten Rollenbildern von Tätern, Entdeckern und Opfern sowie Momenten von Schuld, Buße und Erlösung. Skandale basieren in diesem Sinne auf vielfältigen Konversionen: von religiösen Symbolsprachen in politische und soziale Erfahrungsräume, von Religion in Politik, von Recht in Politik, von Moral in Ökonomie. Solche Narrationsmuster wirken komplexitätsreduzierend und strukturieren die Wahrnehmung und Beurteilung von Normverletzungen. Sie vermitteln den Eindruck einer erweiterten Partizipation über politische und soziale Eliten hinaus, indem sie komplexe Sachverhalte durch dichotomische Beurteilungen erschließen.28 e) Skandale tragen als Momente der krisenhaften Zuspitzung von Werte- und Normendebatten sowie als Schleusen historischer Erfahrungsverdichtung zur Temporalisierung von Erfahrungen bei, indem sie durch Krisenmomente ein Vorher und Nachher markieren und von daher kollektive historische Referenzpunkte für die sinnhafte Anverwandlung von Krisen und Umbrüchen bilden. Aus Skandalen speisen sich kollektive Deutungsspeicher, die historische Analogien und Vergleiche erlauben. Auf einer zweiten interpretatorischen Ebene lassen die untersuchten Fälle Rückschlüsse auf die besondere Situation Frankreichs nach 1815 zu: Die hier skizzierten Skandale waren Teil der konfliktbeladenen Suche nach Bedingungen

28 Vgl. John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000.

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stabiler politischer und sozialer Ordnung in einer postrevolutionären Gesellschaft. Aus traditionalen Herrschaftsbegründungen, Restaurationsansprüchen und neuen, aus der Revolution und dem Empire abgeleiteten Erfahrungen ergab sich ein ungemein spannungsreicher Rahmen für die Aushandlung von Normen und Werten. Die Halbwertzeit der verhandelten Ordnungsmuster stand dabei immer stärker unter dem Vorbehalt der nächsten Krise, die sich nicht allein in den Revolutionskatarakten zwischen 1814/1815 und 1871 zeigte, sondern gerade in den zeitgenössischen Skandalen. In ihnen zeigte sich seismographisch der prekäre, jedenfalls nicht konsensstiftende Charakter der Ordnungsentwürfe seit dem chronologischen Ende der Revolution. Seit den 1820er Jahren dokumentierten die untersuchten Skandale, wie sich in der medialen Zuspitzung und öffentlichen Debatte Normengefüge veränderten: War es in den 1820er Jahren noch um die Konflikte zwischen Ultraroyalisten und konstitutionellen Liberalen gegangen, verschoben sich die Konflikte in den 1840er Jahren auf die Korruptionsanfälligkeit des Parlaments.29 Wenn Frank Bösch als drei idealtypische Wesenszüge des Skandals einen Normbruch einer Person oder einer mit der Wahrung von Normen identifizierten Institution, zweitens die Aufdeckung des Normbruchs sowie drittens eine breite öffentliche Empörung identifiziert, dann zeigt das Beispiel der postrevolutionären Skandale in Frankreich alle drei Elemente, vor allem aber die Veränderung in der Normkonkurrenz im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen revolutionärer Erfahrung und postrevolutionärer Suche nach stabilisierenden politischen und sozialen Ordnungsmustern.30 Im Falle Ouvrards deckte der Normbruch des financier erst das Versagen des Systems auf und trug so zur Erosion regierungsamtlicher Autorität bei. Das Beispiel des Sakrileggesetzes zeigte, wie sich der von den Zeitgenossen wahrgenommene Normbruch erst aus dem Anachronismus einer an mittelalterlichen Vorstellungen orientierten Rechtsprechung ergab. Die Skandalisierung setzte den suggestiven Mythos der klerikalen Verschwörung voraus. In den Parlamentsskandalen der 1840er Jahre lag der Normbruch schließlich gleichsam institutionalisiert im Dualismus zwischen Regierung und Parlament. Die Aufdeckung des Normbruchs verlagerte sich in den drei Skandalkonstellationen immer mehr aus dem Parlament heraus in eine medial integrierte Öffentlichkeit. Darin spiegelte sich zugleich die schleichende Erosion des Parlaments als integrierendem Faktor der postrevolutionären politischen Kultur

29 Vgl. zur historischen Kontextualisierung von Skandalen in Frankreich auch Brian Jenkins/ Peter Morris, „Political Scandal in France“, in: Modern Contemporary France, 1/1993, 2, S. 127–137; Paul Jankowski, Shades of indignation. Political scandals in France, past and present, New York 2008. 30 Vgl. Bösch, Geheimnisse, S. 9 und Hondrich, Enthüllung, S. 40 und 59.

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Frankreichs wider; bot das Parlament im Falle Ouvrards noch den Rahmen für die Aufarbeitung, so war es in den 1840er Jahren selbst zum Objekt der Skandalisierung geworden. Die öffentliche Empörung im Skandal führte zu neuen Formen und Organisationen der politischen Kommunikation. Vor allem resultierte aus ihr eine entscheidende politische Neupositionierung, sei es im Verhältnis zwischen Staat und Kirche in den 1820er Jahren oder im Blick auf die Defizite der konstitutionellen Monarchie in den 1840er Jahren. Diese neuen Formen der politischen Kommunikation ließen im Skandal eine neuartige Kluft zwischen dem Sagbaren und dem Machbaren sichtbar werden: Die Öffentlichkeit provozierte in der Aufdeckung und Aufarbeitung der Skandale Erwartungen, die in der Realität häufig immer weniger erfüllt werden konnten. Das Ergebnis war ein sich in den Skandalen stets fortsetzendes, sich potentiell zuspitzendes Legitimationsdilemma.31 Skandale lassen sich als exemplarische Vertrauenskrisen beschreiben. Vertrauen dient in dieser Sicht zunächst der Komplexitätsreduktion: Weil der Mensch nie alle Handlungen eines anderen einschätzen und lenken kann, und die perfekte Kontrolle des anderen unmöglich ist, entspricht es einer rationalen Strategie, dem anderen ab einem gewissen Punkt zu vertrauen. Vertrauen ist notwendig mit der Abschätzung von Risiken verbunden und hat eine zweifache Dimension: als Vertrauen in Individuen (trust) und als ein Sich-Verlassen auf Institutionen, als Systemvertrauen (confidence). Vertrauen ist nach Niklas Luhmann als eine Form des sozialen Kapitals zu verstehen, das erhalten und vermehrt werden muss, um die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft zu garantieren und das nur schwer durch andere Aufwendungen in Zeit und Geld ersetzt werden kann.32 In den hier analysierten Skandalen erodierte das Vertrauen in politische Akteure und zugleich das Systemvertrauen in konstitutionelle Institutionen. Dahinter stand der permanente Spannungszustand einer postrevolutionären Gesellschaft, die sich noch mitten in einem Umbruch von politischen Nomen und sozialen Wertgefügen befand und die erfahren musste, dass sich die Revolution auch in einer postrevolutionären Gesellschaft allenfalls dialektisch fassen, nicht aber restaurativ aufheben oder durch politische Verordnung chronologisch beenden ließ. Ein Ende der Revolution war in diesem Sinne nicht mehr absehbar; die eigene Gegenwart erschien immer mehr als Periode des beschleunigten Über-

31 Vgl. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare: Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780–1867, Stuttgart 1993. 32 Vgl. Adam B. Seligman, The Problem of Trust, Princeton 2000; Martin Hartmann, Vertrauen: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main 2001; Niklas Luhmann, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl. Stuttgart 2000; Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen: Historische Annäherungen, Göttingen 2003.

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gangs, der dauernden Bewegung oder permanenten Krise. Das erklärte die Anfälligkeit der Ordnungsmuster nach 1815, ihren prekären Charakter, ihre stets verkürzte Halbwertzeit und die seismische Qualität der Skandale als Knotenpunkte zeitgenössischer Erfahrungsverdichtung. Alexis de Tocqueville schrieb 1850: Ce qui est clair pour moi, c’est qu’on s’est trompé depuis soixante ans en croyant voir le but de la révolution […]. Il est évident que le flot continue à marcher […] que non-seulement nous n’avons pas vu la fin de l’immense révolution qui a commencé avant nous, mais que l’enfant qui naît aujourd’hui ne la verra […] pas.33

33 „Brief Tocquevilles an Eugène Stoffels vom 28. April 1850“, in: Alexis de Tocqueville, Œuvres et correspondance, Bd. 1, Gustave de Beaumont (Hrsg.), Paris 1861, S. 460 f.  

Birgit Aschmann, Berlin

Die zwei Körper der Königin: Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation 1

I Einleitung Als im Mai 2010 dem spanischen König ein gutartiges Geschwür aus dem rechten Lungenflügel entfernt werden musste, verfolgte die internationale Öffentlichkeit den Ausgang der Operation mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme. „Juan Carlos ist ein vorbildlicher Monarch, frei von Skandalen. Ich wünsche ihm eine gute Besserung“, lautete einer der Leserkommentare auf dem Online-Forum eines deutschen Magazins.2 Die Vorbildlichkeit des Monarchen wurde durch den Nachsatz mit einem skandalfreien und damit offenbar moralisch nicht zu beanstandenden Lebenswandel begründet. Die innerspanische Berichterstattung unterstrich die Untadeligkeit des Familienlebens durch demonstrative Hinweise auf die Präsenz der engsten Verwandten am Krankenbett.3 Doch mehr noch als der moralischen galt die Aufmerksamkeit jetzt der physischen Integrität des Monarchen, und die Information, wonach sich Juan Carlos insgesamt einer stabilen Gesundheit erfreue, wurde mit allgemeiner Erleichterung aufgenommen.4 Die intensive Aufmerksamkeit, die den physischen Irregularitäten des Monarchen von sämtlichen Sportverletzungen bis hin zu frühen Gerüchten über eine Krebserkrankung gewidmet wurde, lässt sich erklären vor dem Hintergrund, dass die physische und moralische Integrität des menschlichen Körpers in unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden mit dem institutionellen ‚Körper‘ des Königs, d.h. der spanischen Monarchie. Deren integrative Kraft scheint aufs Engste mit der Reputation des

1 Der vorliegende Beitrag beruht auf der Anfang 2010 vorgelegten Textversion. Die seitdem erschienene Literatur (u.a. die große Biographie von Isabel Burdiel, Isabel II. Una biografía (1830–1904), Madrid 2010) konnte nicht mehr ausgewertet werden. Nur die letzten Sätze des Beitrags wurden leicht verändert, weil die aktuellen Skandale im spanischen Königshaus eine Umformulierung zwingend machten. 2 Anonymer Leserkommentar vom 09.05.2010 zum Focus-Artikel vom 08.05.2010 (online), www.focus.de/politik/ausland/juan-carlos-aerzte-geben-nach-op-entwarnung_aid_506203.html (Stand: 22.12.2010). 3 Vgl. u.a. El Mundo, 08.05.2010. 4 Siehe u.a. El País, 08.05.2010. Dabei ging der Artikel auf die Krankenakte des Monarchen seit 1985, d.h. sämtliche Sportverletzungen und operativen Eingriffe, ein.

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Amtsinhabers verknüpft zu sein. So konnte das hohe Prestige, das Juan Carlos seit den 1980er Jahren im In- und Ausland genoss, die spanische Monarchie in den vergangenen Dekaden zu einer stabilen Institution entwickeln. Das ist umso bemerkenswerter, als die bourbonische Dynastie lange Zeit auch mit einem Bilderreservoir assoziiert wurde, das den starken republikanischen Strömungen Auftrieb verlieh. Der Ursprung dieses negativen Images führt insbesondere zurück auf die Regierungszeit Isabellas II. Deren Skandale bedingten den zwischenzeitlichen Totalverlust des symbolischen Kapitals der Monarchie, so dass kurz nach Isabellas Sturz 1868 die erste spanische Republik ausgerufen werden konnte. Dementsprechend rechtfertigen schon die unmittelbaren politischen Folgen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Skandalen der Königin. Dabei sollen Skandale hier verstanden werden als öffentlich thematisierte und mit einem gewissen Grad an allgemeiner Empörung verurteilte und diskutierte Normverletzungen.5 Je nachdem welche Norm als verletzt gilt, wird gemeinhin zwischen Skandalen des politischen Machtmissbrauchs, Sex- oder Finanzskandalen unterschieden. Zu den Akteuren gehören damit in jedem Skandal unabdingbar erstens die vermeintlichen oder tatsächlichen Normbrecher, zweitens die Skandalisierer sowie drittens ein Publikum. Die Öffentlichkeit gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts eine wachsende Bedeutung als Forum der symbolischen Legitimierung, aber auch der Delegitimierung herrschender Persönlichkeiten durch den Skandaldiskurs. Dabei hängt es von kulturellen und politischen Rahmenbedingungen (wie dem Alphabetisierungsgrad, kommunikativen Gewohnheiten oder Zensurbeschränkungen) ab, ob die Medien-, die Versammlungs- oder die Encounteröffentlichkeit für die Verbreitung der Denunziationen die zentrale Rolle spielen.6 Wegen der hohen Analphabetenrate in Spanien blieb die Teilhabe an Zeitungslektüre und Parlamentsdebatten noch während des gesamten 19. Jahrhunderts auf eine schmale Minderheit begrenzt, während die breite Öffentlichkeit durch Tavernen-, Clubund Marktgespräche, bildlich gestaltete Flugblätter oder allgemein verbreitetes

5 Zur Begriffsbestimmung vgl. u.a. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, S. 9. Hier räumt Bösch die Schwierigkeit ein zu bestimmen, wann ein Empörungsgrad erreicht ist, der berechtigt, von einem Skandal zu sprechen. 6 Mit ‚Encounteröffentlichkeit‘ sind jene weniger institutionalisierten Zusammenkünfte von Menschen gemeint, die sich z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Märkten oder Cafés zufällig, unregelmäßig oder auch stetig begegnen. Sie gilt als die „kleinere“ Öffentlichkeit, während als „mittlere“ die Versammlungsöffentlichkeit u.a. politischer Institutionen gilt. Die „wichtigste“ Öffentlichkeitsebene sei die mediale Massenkommunikation. Zur Differenzierung dieser Formen von Öffentlichkeit in Anlehnung an Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt vgl. Jörg Requate, „Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“, in: Geschichte und Gesellschaft 25/1999, S. 5–32, hier: S. 12 f.  

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Liedgut mit neuen Texten schnell erreicht werden konnte.7 Grundsätzlich gehört der stark orale Verbreitungsmodus durch das intensivere Leben im öffentlichen Raum zu den Spezifika der spanischen Öffentlichkeit. Die Analyse von Genese, Verbreitung und Rezeption tatsächlicher oder vermeintlicher Normbrüche verspricht dabei neue Erkenntnisse erstens über die tatsächlichen Machtverhältnisse und alternativen Herrschaftspraktiken jenseits der konstitutionell vorgegebenen und offiziell anerkannten politischen Strukturen.8 Zweitens spiegelt der Kampf um die Durchsetzung konträrer Bilder von Isabella II. die Fraktionierung der Lager innerhalb des politischen Feldes der spanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und drittens lässt der instrumentelle Umgang mit Tabubrüchen und der Erfolg ihrer Skandalisierung (gemessen am Grad der allgemeinen Empörung) Rückschlüsse auf das normative Selbstverständnis der spanischen Gesellschaft zu. Dazu gehört insbesondere die Frage nach den genderbezogenen Leitbildern, die im Zuge der Skandale um den Körper der Königin deutlich wurden. Letztere sollen deshalb hier im Vordergrund stehen, weil sie diejenigen Skandale der isabellinischen Zeit waren, die am breitesten in der Öffentlichkeit rezipiert wurden, und weil gerade hier Politisches und Privates, also das individuelle Schicksal und die politische Ordnung, eng miteinander verknüpft waren.

II „Die zwei Körper der Königin“ in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts In seiner unter dem Titel The King’s Two Bodies publizierten Politischen Theologie des Mittelalters stellte Ernst Kantorowicz jene Fiktion der englischen Juristen der Tudorzeit in den Mittelpunkt, wonach der König grundsätzlich aus zwei Körpern

7 1875 zählten 75% der spanischen Bevölkerung zu den Analphabeten, im Jahre 1900 waren es noch 64%, wobei die Rate unter der weiblichen Bevölkerung signifikant höher war (72%), vgl. u.a. Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 24. Zur Rolle der Cafés als Ort des Austausches liberaler Ideen seit 1820 vgl. Manuel Moreno Alonso, „La Revolución liberal de 1820 ante la opinión pública española“, in: Revista de Estudios Políticos 52/1986, S. 91–110, hier: S. 101. 8 Zur Rolle des wachsenden Marktes der Massenmedien im Kontext der Wirksamkeit von Skandalen vgl. Alexander Schmidt-Gernig, „Die Presse als ‚vierte Gewalt‘? – Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA“, in: Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 169–193.

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bestünde: Er habe einen menschlichen und damit sterblichen sowie einen übernatürlichen und damit auch unsterblichen Leib, der auch von Defekten des menschlichen Körpers nicht beeinträchtigt werde.9 Dieses Konzept zweier Körper lässt sich ebenso schon im 16. Jahrhundert in der juristischen und moralphilosophischen Literatur Spaniens nachweisen. Jeder Fürst sei, hieß es in einem Philipp II. gewidmeten Fürstenspiegel, aus zwei Personen gebildet, die eine ist ein Werk der Natur, denn sie teilt er mit allen Menschen; die andere ist als Glück und himmlischer Gefallen zu deuten, sie ist für die Regierung und das öffentliche Wohl geschaffen, weswegen wir sie öffentliche Person nennen […], so dass jeder Fürst auf zwei verschiedene und unterschiedliche Weisen betrachtet werden kann, nämlich als Mensch und als Fürst.10

Dabei galt der Fürst als das ‚Haupt‘ einer politischen Ordnung, die mit dieser Körpermetapher die hierarchischen Strukturen innerhalb des Königreiches spiegeln sollte. Derartige organologische Ordnungsvorstellungen waren vor allem in Spanien wohl deshalb von besonderer Langlebigkeit, weil sie auf die – relative – Eigenständigkeit der heterogenen Regionen verwiesen, die erst allmählich im 19. und 20. Jahrhundert von einem staatlichen Zentralismus effektiv eingebunden wurden.11 Von einer weitgehenden Trennung beider Sphären, d.h. beider Körper des Königs, ist im spanischen Diskurs allerdings anders als im englischen nicht die Rede.

9 „Aus diesem Grunde“, urteilten die Kronjuristen Elisabeths I., „kann nichts, was der König in seiner politischen Leiblichkeit tut, durch einen Defekt seines natürlichen Leibes ungültig gemacht oder verhindert werden“; vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. ‚The King’s Two Bodies‘. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 31. Zur Konjunktur des Titels und weiteren Literaturhinweisen bezüglich dessen Verwendung siehe Jost Philipp Klenner, „Vom Titel, der nicht stirbt. Ernst Kantorowicz auf eine Formel gebracht“, in: Martin Baumeister (Hrsg.), Die Kunst der Geschichte: Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen 2009, S. 125–141. 10 „Todo Príncipe es compuesto casi de dos personas, la una es obra salida de manos de Naturaleza en quanto se le comunica un mesmo ser con todos los otros hombres; la otra, es merced de Fortuna, i favor del cielo, hecha para govierno i amparo del bien público, a cuia causa la nombramos persona pública […] De manera que todo y qualquier príncipe se puede considerar en los maneras distintas i diversas: la una en quanto hombre, i la otra como a príncipe”, in: Fadrique Furió Ceriol, El Concejo y consejeros del príncipe, Antwerpen 1559, zit. nach: Antonio Sáez-Arance, „Politische Ordnung in der Vormoderne. Körpermetaphorik in der Spanischen Monarchie (1500– 1700)“, in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hrsg.), Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper: Körpergeschichte als Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 58–74, hier: S. 67. Das Konzept wurde z.T. wörtlich in die Fürstenspiegelliteratur des 17. Jahrhunderts übernommen. 11 Sáez-Arance, „Politische Ordnung“, S. 73.

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Seit der Französischen Revolution und der napoleonischen Expansion war zudem der Glaube an die Unverletzlichkeit des mystischen Körpers des Königs grundlegend erschüttert. Weder Staaten noch Throne hatten sich als unantastbar erwiesen. Aufklärung und Säkularisierung hatten das legitimatorische Potential des Gottesgnadentums infrage gestellt und liberale Verfassungen die umfassende Machtgewalt und damit das Selbstverständnis des absolutistischen Monarchen beschnitten. Dabei führte der langfristige Prozess des Übergangs vom Ancien Régime zum bürgerlichen Verfassungsstaat zu Neudefinitionen beider Körper des Königs. Wuchs dem politischen Körper vor allem jetzt die Aufgabe zu, als symbolische Instanz die Einheit der Nation zu fördern, wurde an den natürlichen Körper die Messlatte bürgerlicher Normvorstellungen angelegt. Dabei wurden die Interdependenzen zwischen beiden Sphären insofern immer enger, als die persönliche Integrität des Monarchen in zunehmendem Maße als Ausweis seines symbolischen Repräsentationsvermögens galt. Das von den bürgerlichen Liberalen geprägte gesellschaftliche Leitbild orientierte sich am besitzenden, vernunftbegabten und leistungsbereiten Mann. Nun war es in Spanien aber hingegen eine Frau, der nach dem Tod Ferdinands VII. im Jahre 1833 die Krone zufiel. Doch auch wenn der öffentlich-politische Raum zunehmend männlich konnotiert wurde, musste dies der allgemeinen Akzeptanz einer Königin nicht zwangsläufig im Wege stehen. Vielmehr zeigt das Schicksal der zeitgleich regierenden Queen Victoria, deren Herrschaft in mancher Hinsicht als Gegenentwurf zu jener Isabellas zu verstehen ist, dass spezifische Aspekte der Weiblichkeit durchaus mit den Rollenerwartungen kompatibel waren, die an eine konstitutionelle Monarchin gerichtet waren. „A female sovereign“, so der Prinzgemahl Albert 1850, „has many compensating advantages, and, in the long run will be found to be even stronger than that of a male sovereign“.12 Die Voraussetzung dafür sei, so der Daily Telegraph, dass die Monarchin den Eindruck von „complete passiveness and neutrality“ erwecke.13 Das Staatsoberhaupt in einer konstitutionellen Monarchie bezog seine Autorität – anders als im Absolutismus – vor allem aus seiner vermittelnden Funktion, die aus einer Position der politischen Neutralität heraus Stärke beweisen konnte.14 Auf diese Weise konnte gerade die Vorstellung einer geschlechtsbedingt passiven Frau, die allen Interes-

12 Windsor Castle, 06.04.1850, zit. nach: Isabel Burdiel, „The Queen, the Woman and the Middle Class. The Symbolic Failure of Isabel II of Spain“, in: Social History 29/2004, S. 301–319, hier: S. 304. 13 Daily Telegraph, 30.04.1868, zit. nach: Margaret Homans, Royal Representations. Queen Victoria and British Culture, 1837–1876, Chicago 1998, S. XXVII. 14 Vgl. das Kapitel „Der Konstitutionalismus und die monarchische Neutralität“ in: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1988, S. 22–24.

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sensparteien gleichermaßen das Gefühl mütterlicher Zugewandtheit vermitteln könnte, zum Ideal einer konstitutionellen Monarchie werden. So war es bei Victorias Tod gerade die „true womanhood“, die als Qualität ihrer Regierungszeit hervorgehoben wurde. „It was her pure womanliness that drew to her the hearts of her people […]. The neediest and lowliest felt that her heart was with them. And it was her womanliness that made her a great ruler.“15 Dem Urteil des Prinzgemahls Albert zufolge funktionierte dies bei einer Monarchin allerdings nur, „if she is married“.16 Dabei dürfte – was ein Vergleich der Schicksale von Victoria und Isabella ergibt – weniger der Ehe selbst, als vielmehr der Funktionstüchtigkeit und Belastbarkeit dieser Beziehung Einfluss auf den Erfolg der Regierungszeit zugesprochen werden. Victoria wurde den gängigen Erwartungen insoweit gerecht, als sie innerhalb der Ehe dem weiblichen Rollenideal entsprach, sich politisch weitgehend auf den Rat ihres Mannes stützte und den Eindruck parteipolitischer Neutralität und allgemeiner Mütterlichkeit hinterließ. Indem Isabella jedoch nur kurz nach der Eheschließung – ohne erkennbare Mühen, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen – ihren Gatten mit einem Mann betrog, der als führender Militär der isabellinischen Truppen eine allgemein bekannte Persönlichkeit war und als Politiker einer Gruppe mit eindeutigen Partikularinteressen angehörte, verstieß die junge Königin sowohl gegen die bürgerlichen Leitvorstellungen über Ehe und die Rolle der Frau als auch gegen die von einer konstitutionellen Monarchin erwartete politische Unparteilichkeit. Die wiederholte Diskrepanz zwischen kollektiver Erwartung und individuellem Verhalten trug im Laufe ihrer Regierungszeit zur Erosion ihres Images bei. Sie galt schließlich gerade nicht als die mütterliche, um das Wohl der Untertanen besorgte Königin, sondern blieb als vermeintlich grausame, undankbare und sexuell enthemmte Herrscherin im kollektiven Gedächtnis haften. Ursächlich für dieses offensichtliche und durch die Revolution 1868 politisch besiegelte Scheitern war das Zusammenwirken individuellen Unvermögens, politischer Problemkonstellationen und gezielter Diskreditierung. Vor allem ihre Art, mit dem eigenen Körper umzugehen, wurde zum Ausgangspunkt einer wirksamen Skandalisierung. Nirgendwo sonst ließ sich derart eindringlich die Unvereinbarkeit von Isabellas Lebenswandel mit den bürgerlichen Wertvorstellungen aufzeigen. Diese Skandalisierungen waren Teil einer interessegeleiteten Delegitimierungsstrategie im übergeordneten nationalen und internationalen Kampf um Einfluss auf der Iberischen Halbinsel. Dabei gab es kein einzelnes Skandalereig-

15 So Washington Gladden von der First Congregationalist Church in Columbus, zit. nach: Burdiel, „The Queen“, S. 301. 16 Vgl. Windsor Castle, 06.04.1850, zit. nach: Burdiel, „The Queen“, S. 304.

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nis, das für sich allein Isabellas Sturz bedingt hätte. Vielmehr entfaltete die Diskreditierung ihre Wirkung durch eine kumulative Skandalisierung: Verschiedene, aufeinander folgende Skandale schufen langfristig ein kollektives Skandalgedächtnis mit einem negativen Bilderreservoir, welches schließlich anlässlich eines eigentlich geringfügigen Anlasses 1868 aktiviert werden konnte und so den revolutionären Prozess motivierend und legitimierend vorantrieb. Die besondere Heftigkeit der polemischen Offensiven dürfte mehrere Ursachen haben. Eine wichtige Rolle spielte fraglos die starke parteipolitische Gebundenheit der Presseorgane, deren Konfliktbereitschaft die politischen Differenzen spiegelte.17 Entscheidend aber war der Umstand, dass sich das negative Bild durchsetzen musste gegen ein parallel existierendes konträres Image einer im Grunde gutherzigen und unschuldigen, nur durch Intrigen ins Unglück gestürzten jungen Frau. Auf dieser Perzeption gründete wiederum die langlebige Popularität Isabellas, und die späteren Skandalisierungen v.a. ihres Sexualverhaltens werden erst dann plausibel, wenn sie als aggressive rhetorische Bemühungen, das positive durch ein negatives Isabella-Bild zu ersetzen, verstanden werden. Dazu soll im Folgenden kurz die Genese dieses positiven Images im Kontext der politischen Konstellationen der 1830er Jahre nachvollzogen werden, bevor ein Skandal des politischen Machtmissbrauchs aus dem Jahre 1843 verdeutlicht, in welchem Ausmaß auch das enge Umfeld Isabellas bereit war, für einen kurzfristigen parteipolitischen Vorteil einen dauerhaften Imageschaden der Königin in Kauf zu nehmen. Sodann soll ein Blick auf das Skandaljahr 1846/1847 die Grundlegung des negativen Alternativbildes nachvollziehen, das sich gleichwohl erst in den 1860er Jahren hegemonial durchzusetzen vermochte.

III „Iris de paz y libertad“ – der liberale Gründungsmythos der isabellinischen Monarchie Die Herrschaft von Isabellas Vater, Ferdinand VII., hatte das Ansehen der Monarchie diskreditiert. War er einst im antinapoleonischen Krieg die Integrationsfigur der breiten nationalen Erhebung gewesen, hatte er sich durch brutale Repressionsmaßnahmen die Sympathien der Liberalen verscherzt und diese auch durch 17 Zur grundsätzlichen Übereinstimmung von politischen und publizistischen Protagonisten im 19. Jahrhundert und der Resistenz von Teilöffentlichkeiten, die Spanien eher der Entwicklung in Frankreich oder Deutschland als jener in den USA gleichen lassen, vgl. Requate, „Öffentlichkeit“, v.a. S. 18, S. 21, S. 26.

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Maßnahmen eines aufgeklärten Absolutismus in seinen letzten Lebensjahren nicht wieder gewinnen können.18 Jetzt richteten sich die Hoffnungen der Liberalen auf seine Nachfolgerin, die nach dem Tod ihres Vaters zunächst von der Mutter vertreten wurde, bevor sie 1843 im Alter von 13 Jahren für volljährig erklärt wurde. Das zarte Alter wurde allgemein bereitwillig interpretiert als Symbol für eine neue Ära, für die so notwendig erachtete Regeneration und Versöhnung.19 Als niña inocente wurde schon das Kleinkind gefeiert, das als Symbol von Unschuld und Neubeginn zum Fluchtpunkt sämtlicher Hoffnungen auf soziale und politische Verbesserungen wurde. Als iris de paz y libertad wurde die kleine Isabella zur Gallionsfigur der spanischen Liberalen. Die Kontingenzen und Risiken durch das Machtvakuum wegen einer langen Minderjährigkeit wurden diskursiv aufgehoben durch die Konstruktion historischer Zirkularität, schließlich stünde die kleine Isabella unter dem besonderen Schutz ihrer berühmten Vorgängerin Isabel I., was schon deshalb Vertrauen erwecken sollte, weil letztere im kollektiven Gedächtnis als Inbegriff spanischen Ruhms verankert war.20 „Die Katholische Königin, deren Geschichte das spanische Volk mit edlem Stolz erfüllt, führt ihre Enkelin zum Tempel des Ruhm“, lautete der Schriftzug unter einer bekannten Lithographie, auf welcher eine Frau einem kleinen Mädchen den Weg zu einem vom Strahlenkranz umgebenen Tempel auf einer Anhöhe wies.21 „España en su gloria funda / y cifra su lealtad / en amar la Majestad / de Nuestra Isabel Segunda“,22 lauteten Oden, die dem Kind gewidmet wurden. Zugleich galt Isabella jedoch auch als „Mutter aller Spanier“,23 bzw. als Symbol der Einheit aller Spanier, was insoweit stimmig war, als tatsächlich – bis auf die Karlisten – die 18 Zur década ominosa vgl. das Standardwerk von Miguel Artola, La España de Fernando VII, Madrid 32008; ebenso Rafael Sánchez Montero (Hrsg.), Fernando VII. Su reinado y su imagen, Madrid 2001; Maria Teresa Puga García, Fernando VII, Barcelona 2004. 19 In der Presse wurde „el principio y base de una nueva era“ gefeiert, die „prosperidad, riqueza y ventura“ verspreche, vgl. Diario Mercantil de Valencia, 02.11.1843, zit. nach: Isabel Burdiel, Isabel II. No se puede reinar inocentemente, Madrid 2004, S. 220. 20 Zur Bedeutung Isabellas I. im mythischen Kosmos der spanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts vgl. u.a. Henry Kamen, Imagining Spain: Historical Myth & National Identity, New Haven 2008. 21 Die Lithographie war von Ramón Amerigo y Morales nach einem Ölgemälde von Vicente López aus dem Jahr 1843 gefertigt worden und war bald im ganzen Land verbreitet, vgl. Jorge Vilches, Isabel II: imágenes de una reina, Madrid 2007, S. 18. Schon 1833 war Manuel Bretón de los Herreros vom Rat der Stadt Madrid beauftragt worden, ein Stück mit Bezug auf die Eidesleistung auf die Kronprinzessin zu schreiben. In einer Szene des unter dem Titel El templo de la Gloria bekannt gewordenen Werkes kam es zu einem expliziten Vergleich zwischen beiden Isabellas. 22 A Doña Isabel II, Reyna de España, por Francisco de Galardí, Madrid 20.11.1833, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 66. 23 Vgl. Vilches, Isabel, S. 12.

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verschiedensten Gesellschaftsgruppen aus den diversen Regionen Spaniens ihre Hoffnungen auf Isabella projizierten.24 Galt doch die „reina inocente“ als größter Garant des nationalen Glückes.25 Zwar fehlte es im regierungskritischen Umfeld nicht an Stimmen, die davor warnten, das junge Mädchen bereits im Alter von 13 Jahren für volljährig zu erklären und ihr die Krone schon so früh aufzubürden, aber die Skepsis wurde mithilfe jener konservativen Konzeption der zwei Körper überdeckt. Er sei der Überzeugung, so Juan Donoso Cortés, der führende Intellektuelle des rechten Flügels der spanischen Liberalen, dass in der höchsten königlichen Majestät, verstanden als Abstraktum, etwas Göttliches sei, und er fuhr in einer Parlamentsrede 1843 fort: ich glaube, dass die Person, die dies ausübt, heilig ist […]. Isabel de Borbón ist ein dreizehnjähriges Mädchen, zugegeben, aber darüber hinaus ist sie etwas anderes, ist sie eine Institution im Alter von 14 Jahrhunderten.26

De facto jedoch, und das wusste kaum einer besser als Donoso Cortés, der schließlich in den Jahren zuvor zum Privatsekretär der Königin aufgestiegen und ihr nahe war wie wenig andere, standen hinter Isabella weniger alteingesessene Traditionen als vielmehr klar auszumachende Einflusszentren mit nackten Machtinteressen.27 Diesen kam die Machtlosigkeit einer Dreizehnjährigen, die noch dazu in keiner Weise seriös auf ihr Amt vorbereitet worden war, als Vakuum gelegen, das mit eigenen Vorstellungen gefüllt werden konnte. Weshalb es auch kein Zufall ist, dass die vorzeitige, eigentlich gesetzeswidrige Volljährigkeitserklärung von ihnen forciert worden war.28 Die treibende Kraft dahinter war die Mutter María Cristina, die nach Ferdinands Tod 1833 zunächst die Regentschaft für die damals Dreijährige übernommen hatte, bis sie 1840 des Landes verwiesen wurde. Doch auch aus dem Pariser Exil gelang es ihr über Mittelsmänner und -frauen, nicht zuletzt Donoso Cortés, das Denken und Handeln ihrer Tochter zu lenken. Dabei schien sie weniger das Wohlergehen ihres Kindes oder das der

24 Vgl. u.a. Anna María García Rovira, „Radicalismo liberal, republicanismo y revolución (1835– 1837)“, in: Isabel Burdiel (Hrsg.), La política en el reinado de Isabel II, Madrid 1998, S. 63–90, S. 77–86. 25 „La reina inocente era el mejor garante de la felicidad nacional, y la prenda más segura de la paz que [la nación] ha conquistado“, so der Progressist Joaquín María López am 26.10.1843 in den Cortes, zit. nach: Vilches, Isabel, S. 31. 26 Diario de Sesiones de Cortes, 06.11.1843, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 218. 27 Zur Rolle von Donoso Cortés vgl. ebd., S. 214. 28 Vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 193–195. Zur Volljährigkeitserklärung siehe auch Juan Sisinio Pérez Garzón, „Introducción: La conveniencia de una reina y las significaciones de un reinado“, in: ders. (Hrsg.), Isabel II. Los espejos de la reina, Madrid 2004, S. 19–36, hier: S. 26; Vilches, Isabel, S. 31 f.  

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Nation als vielmehr das Ziel vor Augen gehabt zu haben, Isabella dem Zugriff konkurrierender Machtzirkel zu entziehen und dadurch den eigenen Einfluss sicherzustellen. Diesen galt es zu verteidigen gegenüber dynastischen Alternativen und den damit liierten Parteien mit abweichenden politischen Vorstellungen. Drei ernstzunehmende politische Gruppierungen und drei königliche Kandidaten hatten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgeschält, die um Einfluss wetteiferten und sich die Legitimität streitig machten. Als monarchistischer Gegenkandidat war Don Carlos María Isidro der stärkste Herausforderer Isabellas. Er hatte als nächstältester Bruder Ferdinands die pragmatische Sanktion nicht anerkannt, wonach auch die weibliche Thronfolge zulässig sein sollte. Die Legitimität der isabellinischen Herrschaft stellte er derart radikal in Frage, dass er das Land mit seiner ultrakonservativen, klerikal und absolutistisch gesonnenen Anhängerschar, den Karlisten, in einen siebenjährigen, überaus grausam geführten Bürgerkrieg stürzte.29 Der jüngere Bruder Ferdinands, Francisco de Paula, war zwar zunächst ohne jede Thronaussicht, unterhöhlte die Legitimität Isabellas aber zusätzlich dadurch, dass er sich den progresistas verbunden fühlte, dem linken Flügel der Liberalen, die auf das Prinzip der Volkssouveränität gegenüber der Monarchengewalt pochten.30 Angesichts dieser Konstellation verband sich die Regentin María Cristina – unbeschadet ihrer absolutistischen Präferenzen – nolens volens mit den moderados, dem rechten Flügel der Liberalen. Alle diese Parteiungen mühten sich nach Kräften, der jungen Königin physisch habhaft zu werden, um aus ihr den verlängerten Arm eigener Interessen zu machen. Symptomatisch für diesen Kampf um die Verfügungsgewalt ist der Umstand, dass Isabella – samt ihrer jüngeren Schwester – als „prendas“31 (Faustpfand) bezeichnet wurden. Um sich dieses Pfand anzueignen, schreckten die Beteiligten (immer unter der Maßgabe, in Isabella den Frieden, die Freiheit und die Unschuld zu schützen) nicht vor Gewalt zurück, und so wurde Isabella zur Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe, die – unabhängig von ihrem Erfolg – unterstrichen, wie wenig die Monarchin eine über allen Fraktionen stehende, unangefochtene Macht darstellte

29 Zum Verhältnis der Karlisten zu Isabella II. vgl. Pedro Rújula, „Una puerta que se cierra. El carlismo frente a Isabel II.“, in: Pérez Garzón, Isabel II., S. 75–90. 30 In Madrid ging das Gerücht um, Francisco de Paula, der offenkundig liberale Neigungen demonstrierte, sei unter dem Decknamen ‚Drache‘ Mitglied bei den Freimaurern geworden, vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 47. Zu den politischen Positionen von Progressisten und moderados vgl. u.a. María Cruz Romeo Mateo, „Lenguaje y política del nuevo liberalismo: moderados y progresistas, 1834–1845“, in: Burdiel, Política, S. 37–62. 31 So nicht zuletzt in der Korrespondenz von Fernando Muñoz, dem heimlichen Liebhaber und zweiten Gatten María Cristinas, vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 167.

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und wie viel mehr sie inzwischen zum Spielball oder besser: Zankapfel der politischen Parteien geworden war. Das zeigte sich bei den progressistischen Erhebungen 1836 und 1840, in denen das Leben der Regentin und ihrer Tochter nicht mehr sicher zu sein schien,32 sowie während der Regentschaft Esparteros, als die Progressisten die Zehnjährige in eigener Obhut behielten und einen von der Mutter initiierten, gewaltsamen Entführungsversuch ebenso gewaltsam abwehrten, um eine Monarchin nach ihren Vorstellungen heranzubilden: Eine zweite Queen Victoria – so lautete das Ziel der Erziehungsbemühungen.33 Damit war der Kampf um den Körper Isabellas im Kern einer um ihre Gesinnung. Um auch in der Zeit der Abwesenheit der Mutter nicht an Terrain zu verlieren, suchte man über die Personen von Kammerzofe, Privatsekretär und Erzieherin ein politisches Korrektiv einzupflocken, das Isabella gegen die kognitiven und emotionalen Deutungs- und Orientierungsangebote der progresistas und jene der Aufwind spürenden königlichen Familienmitglieder immunisieren sollte.34 Dass die wiederholte Erfahrung drohender Gewalt sowie die vielfachen politisch motivierten Beziehungsabbrüche im engsten sozialen Umfeld nicht ohne Einfluss auf Isabellas politische, soziale und psychologische Sozialisation blieben, liegt auf der Hand. Früh dürfte sie dabei gelernt haben, dass ihr Körper Bestandteil einer intriganten Politik war, die politische Entscheidungen über öffentliche Skandale erzwingen wollte.

32 Der britische Botschafter in Madrid war sich sicher, dass María Cristina und ihre Töchter im Zuge der Erhebung von 1836 gelyncht worden wären, hätte die Regentin nicht die Verfassung von 1812 anerkannt, vgl. Sir Herbert Maxwell, The Life and Letters of George William Frederick, Fourth Earl of Clarendon, 2 Bd., 1913, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 82. 33 Vgl. die Mahnung von Salustiano de Olózaga nach Erhebung der moderados 1841 an die mit der Erziehung Isabellas betrauten Gräfin Espoz y Mina: „Siga usted preparándonos otra reina Victoria“, vgl. Isabel Burdiel, „Isabel II: un perfil inacabado“, in: dies., Política, S. 187–216, hier: S. 199. 34 Zu den Versuchen der Familie Francisco de Paulas, insbesondere seiner Frau Luisa Carlota, die wiederum die ältere Schwester von María Cristina war, die Vormundschaft für Isabella zu erhalten, vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 130. Aufgrund seiner politischen Ansichten hoffte Francisco als infante progresista von der damaligen Regierung profitieren zu können.

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IV Skandal des politischen Machtmissbrauchs: Regierungswechsel durch Skandalisierung des Umgangs mit der Königin Bei der Instrumentalisierung vermeintlich normverletzenden Verhaltens in Bezug auf den Körper Isabellas lassen sich zwei Typen unterscheiden. So steht das erste Beispiel für eine Skandalisierung, die sich gegen den politischen Gegner richtete und eine Grenzüberschreitung gegenüber der jungen Königin zum Zwecke politischen Machtmissbrauchs nutzte. Dabei lässt sich paradigmatisch aufweisen, dass ein Blick auf parlamentarische Mehrheitsverhältnisse oder die offiziellen Institutionen der Regierungspolitik nicht hinreicht, um politische Dynamik zu verstehen, schließlich wurde hier die Politik besiegelt von Instanzen, die dafür von keiner Verfassung vorgesehen waren. Die Akteure dieser Intrige waren die Angehörigen der Kamarilla um María Cristina und insbesondere Donoso Cortés. Dieser, damals noch ein dezidierter moderado, sorgte dafür, dass an die Spitze der ersten Regierung während Isabellas Herrschaft der progresista Salustiano Olózaga kam, von dem erwartet wurde, dass er die Rückkehr María Cristinas nach Madrid ermöglichen würde.35 Als er sich hier jedoch allzu zögerlich verhielt und sich keineswegs an die Marionetten-Rolle hielt, die ihm zugedacht war, suchten die moderados nach baldmöglicher Gelegenheit, den politischen Kontrahenten loszuwerden.36 Das herzliche, geradezu familiäre Verhältnis zwischen Isabella und Olózaga, den sie im Sommer als Hauslehrer und Erzieher schätzen gelernt hatte, gab aus der Sicht Donoso Cortés’ der Entfernung Olózagas zusätzliche Dringlichkeit. Er machte dies zu seinem eigenen Projekt: „Caramba!“, so Donoso Cortés, „Wer würde Olózaga umbringen, wenn nicht ich? Ich glaube, er selbst weiß im Innersten, dass er den Tod aus meiner Hand empfangen wird.“37 Vierzehn Tage später liebäugelte er mit Ideen, einen General in den Kongress zu rufen, der

35 Nach den europäischen Revolutionen 1848 kehrte sich Donoso Cortés von den Liberalen ab und wandte sich immer dezidierter dem katholischen Konservativismus zu. Zur Vita vgl. u.a. Federico Suárez, Vida y obra de Juan Donoso Cortés, Pamplona 1997. 36 So galten die ersten Amtshandlungen Olózagas, der ein durchgängig progressistisches Ministerium gebildet hatte, der Fortsetzung der politischen Arbeit von Espartero; die Rückkehr María Cristinas schien er nicht für dringlich zu erachten, vgl. Gracia Gómez Urdáñez, „Progresismo y poder político en la España isabelina: el gobierno de Olózaga a finales de 1843“, in: Hispania LXII 205/2000, S. 623–672. Zu Olózaga selbst vgl. Gracia Gómez Urdáñez, Salustiano de Olózaga. Élites políticas en el liberalismo español, 1805–1843, Logroño 2000. 37 „¡Caramba! […] ¿Quién iba a matar a Olózaga sino yo? Yo creo que su corazón le dice que ha de recibir la muerte de mis manos“, Juan Donoso Cortés im Schreiben an Fernando Muñoz, 10.11.1843, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 225.

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sämtliche Minister erschießen und weitere 500 Personen köpfen lassen sollte. „Und alle hätten wir Frieden […] und ich müsste nicht mehr leiden“.38 Der ironische Umgang mit den vorgeschlagenen Lösungen lässt seine wirkliche Nähe zur Gewaltbereitschaft ungeklärt, aber sein verbales wie nonverbales Verhalten im Ganzen lassen nur den Schluss zu, dass Donoso Cortés, dessen Diktaturtheorien in Europa später Furore machen sollten, nicht vorhatte, sich an Spielregeln der spanischen Verfassung zu halten.39 Die Gelegenheit, dem verhassten Olózaga mit fragwürdigen Mitteln den politischen Todesstoß zu versetzen, ergab sich zwei Tage nachdem Donoso Cortés obige Gewaltfantasien niedergeschrieben hatte: Am 28. November 1843 erhielt Olózaga im Rahmen einer Privataudienz bei der unlängst inthronisierten Königin deren Unterschrift unter ein Dekret, das die Cortes auflösen und den Weg für Neuwahlen freimachen sollte, welche die Herrschaft der progresistas stabilisieren sollten.40 Als Isabella am nächsten Tag von ihrer Kammerzofe nach den Ereignissen des Vortags befragt wurde, löste die Antwort eine Welle der Empörung und fiebrige Aktivität aus. Von der gesamten politischen Elite der moderados zur Rede gestellt, begann sich die Erzählung Isabellas zu transformieren. Übrig blieb eine Version, wonach der Ministerpräsident der Dreizehnjährigen das Auflösungsdekret nur durch Anwendung physischer Gewalt hätte abringen können. Die Versammelten waren schnell entschlossen, diese Darstellung nicht nur für den Rückruf des Dekrets, sondern zur totalen Demontage Olózagas und Ausschaltung der progresistas zu nutzen.41 Eine erneute Aussprache mit der Königin, die Olózaga auf die Verbreitung der ersten Gerüchte hin erbeten hatte, wurde ihm verwehrt und stattdessen seine (von Donoso Cortés redigierte) Amtsenthebung mitgeteilt. Vor einer Versammlung, zu der die Abgeordneten von Kongress und Senat sowie alle ranghohen Militärs und Aristokraten Spaniens geladen waren, also der größtmöglichen politischen Öffentlichkeit, hatte Isabella ihre Version zu wiederholen, wonach Olózaga auf ihren angeblichen Widerstand hin zunächst die Türen verschlossen, sie dann am Kleid

38 „[…] hago que la Reyna llame a Narváez para que forme un nuevo Ministerio. Narváez entra, echa al Congreso patas arriba, al Senado patas abajo, fusila al los Ministros, degolla a quinientas personas, y todos quedamos en paz […] yo más no sufro.“ Schreiben von Juan Donoso Cortés an Fernando Muñoz, 26.11.1843, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 230. 39 Zur Diktaturtheorie von Donoso Cortés vgl. Ders., Über die Diktatur. Drei Reden aus den Jahren 1848/49, Wien/Leipzig 1996; José María Beneyto, Apokalypse der Moderne. Die Diktaturtheorie von Donoso Cortés, Stuttgart 1988. Die Rezeption in Deutschland wurde v.a. von Carl Schmitt forciert, vgl. u.a. Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950. 40 Zum incidente Olózaga siehe Burdiel, Isabel 2004, S. 230–237. 41 Ebd., S. 231.

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gepackt, auf den Sessel gedrückt und mit hartem Zugriff auf ihre Hand zur Unterschrift gezwungen habe. Auch wenn dieses Verhalten so gar nicht zum Politiker passen mochte, die Handschrift der Königin nachweislich keinerlei Irregularitäten aufwies und auch die Bonbonschachtel, die ihm Isabella beim Abschied für seine Tochter mitgegeben hatte, von jenem ganz anderen Hergang zu zeugen schien, den der Beschuldigte immer wieder beteuerte, so konnte er den entehrenden Vorwurf doch nicht gänzlich ausräumen. Er, der sich in den Auseinandersetzungen mit Karlisten einerseits und moderados andererseits stets als Schutzschild der niña inocente, des armen schutzbedürftigen Waisenkindes, verstanden hatte, litt nun an dem Stigma, diesem Kind zu nahe getreten zu sein.42 Als Olózaga schließlich in Anbetracht der öffentlichen Empörung um sein Leben fürchten und das Land im Dezember 1843 fluchtartig verlassen musste, feierte Donoso Cortés den erwarteten Sieg.43 Dieser aber ging letztlich zu Lasten der Königin, die bei der Alternative, Opfer einer ministeriellen Misshandlung oder Komplizin einer Palastintrige geworden zu sein, schlichtweg nur verlieren konnte. Dass eine Woche lang im Kongress über die Glaubwürdigkeit der Monarchin diskutiert wurde, konnte deren Prestige nur abträglich sein.44 Billigend hatten die moderados damit zugunsten ihrer kurzfristigen Personaltaktik den Ansehensverlust derjenigen Person und Institution in Kauf genommen, mit der sie ihr politisches Schicksal verbunden hatten. Im Grunde lagen de facto zwei Normverletzungen vor: Erstens hatte Olózaga die Unbedarftheit der Königin und das vertrauliche Verhältnis zwischen ihnen missbrauchen wollen für eine politische Weichenstellung im eigenen Interesse; zweitens missbrauchten die politischen Kontrahenten nun ihrerseits die Königin, indem sie diese in ihre Gegenintrige zur Ablösung Olózagas einspannten. Beide Normbrüche wurden erkannt und thematisiert. Doch die öffentliche Aufmerksamkeit wurde fast vollständig absorbiert durch jenen dritten, letztlich fiktiven Normbruch: der behaupteten Gewaltanwendung des Regierungschefs gegenüber der Königin. Bezeichnenderweise führte in dieser Konstellation nur der konstruierte, aber aufsehenerregendere Normbruch zu jenem Empörungsgrad, der es rechtfertigt, von einem Skandal zu sprechen. Dieser öffentlichkeitswirksam inszenierte Skandal hatte kurz-, mittel- und langfristige politische Folgen: Erstens wurde die Regierung abgelöst und auf die

42 Zur Darstellung Isabellas als niña inocente bzw. als schutzbedürftiges königliches Waisenkind siehe u.a. die progressistische Presse nach dem Entführungsversuch vom 07.10.1841; vgl. auch Vilches, Isabel, S. 28. 43 Schon am 3. Dezember sah Donoso Cortés die „hora de la victoria“ voraus, vgl. das Schreiben von Donoso Cortés an Fernando Muñoz, 03.12.1843, zit. nach: Burdiel, Isabel 2004, S. 234. 44 Im Kongress wurde vom 01.–12.12.1843 über den Fall diskutiert.

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dreijährige Vorherrschaft der progresistas folgte die Década moderada von 1844– 1854, in der sich die dezidiert konservative Spielart des spanischen Liberalismus ausprägte. Zweitens nahmen die Gegnerschaft zwischen den liberalen Gruppen und die Vorbehalte der progresistas gegenüber der Monarchie durch die irreversiblen persönlichen Verletzungen eines der führenden progressistischen Politikers an Schärfe zu. Damit hatte zugleich drittens die Vision, wonach die junge Königin zur friedensstiftenden Integrationsfigur werden könnte, einen ersten und dauerhaften Schaden genommen. Keine drei Wochen vor der Affäre war sie noch in ganz Spanien als „das Ende unserer Zwietracht, die aufrichtige Union der Spanier“45 gefeiert worden, welche die „Trennung zwischen den Guten“,46 also den moderados und progresistas, überwunden habe. Nun hatte sich ihretwegen die Spaltung zwischen den liberalen Fraktionen vertieft. Die Vorstellung, Isabella könne über den Parteien stehend vermitteln, hatte sich damit erstmals genau als die Fiktion erwiesen, die sie von Beginn an gewesen war. Doch durch die Fallhöhe zwischen hohem Ideal und der Wirklichkeit wurden besondere Verbitterung und Enttäuschung freigesetzt. Zu einer grundlegenden Revision des Isabella-Bildes kam es jedoch vorerst deshalb nicht, weil sich ihr Auftritt einfügen ließ in das Image des „unschuldigen Mädchens“, das von anderen – je nach Überzeugung entweder von intriganten moderados oder vom perfiden progresista Olózaga – zugunsten eigener Interessen missbraucht worden war. Viertens führte dieser Eindruck von (weiblicher) Schwäche im In- und Ausland zu der Ansicht, dass die Heranwachsende dringend eines Ehepartners bedürfe, da andernfalls – so die französische Regierung – die spanische Krone durch Jugendlichkeit und Unerfahrenheit der Königin ernsthaft kompromittiert wäre.47 Dabei perpetuiert sich der Eindruck von Schwäche, wenn bei der nun einsetzenden Kandidatensuche nach einem Bräutigam Ausschau gehalten wurde, der in erster Linie als verlängerter Arm fremder (nationaler oder internationaler) Interessen dienen sollte. Die Auswahl sollte sich jedoch bald als Fehlentscheidung herausstellen, die unmittelbar zum nächsten Skandal führte. Dieser steht stellvertretend für weitere

45 Vgl. das progressistische Blatt Eco del Comercio, 11.11.1843. Isabella galt als „término de nuestras discordias, la unión sincera de los españoles, el reconocimiento de los demás países in Europa, en una palabra debía ser el Iris de salvación”, zit. nach: Vilches, Isabel, S. 33. Zu den Feiern in den Regionen Spaniens anlässlich von Volljährigkeitserklärung, Thronerhebung und Verfassungsschwur vgl. ebd. 46 So begann ein Gedicht von Venancio Huarte in Jaén „Huyó la división entre los buenos […]. Desde hoy el progresista y el moderado / Ni el uno será más, ni el otro menos“; zit. nach: Vilches, Isabel, S. 33. 47 Vgl. Schreiben von François Guizot an den französischen Botschafter in Madrid, Conde de Bresson, Paris. 10.10.1843, siehe Burdiel, Isabel 2004, S. 238.

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Skandale, deren Narrative das Fehlverhalten der Königin thematisierten, mit dem Ziel, diese unter Druck zu setzen. Im Vordergrund der Auseinandersetzungen standen die außerehelichen Beziehungen Isabellas, von denen der ersten wegen ihrer diskursprägenden Wirkung eine besondere Bedeutung zukommt.

V Die Sex-Skandale Isabellas und ihre Folgen Am 10.10.1846 waren die zwei Töchter Ferdinands VII. verheiratet worden: Isabella II. hatte ihrem Cousin Francisco de Asís, dem älteren Sohn des jüngsten Bruders ihres Vaters, das Jawort gegeben, und die jüngere Schwester wurde mit dem Herzog von Montpensier, einem Sohn Louis Philippes, vermählt. Doch nur wenige Wochen nach der Hochzeit wandte sich die Königin von ihrem Ehemann ab und verbrachte stattdessen ostentativ die Zeit mit dem fraglos attraktiveren General Francisco Serrano.48 Die Scheidungsgerüchte, die bald in Madrid kursierten, schienen umso plausibler, als das gesamte Verhalten Isabellas unterstrich, wie sehr die Sechzehnjährige aus der Bahn geworfen war: Das devote Verhalten gegenüber der Mutter war einem blanken Hass gewichen und der Tagesrhythmus so durcheinander geraten, dass für politische Gespräche mit den Ministern kaum noch Zeit blieb.49 Hatten bislang andere über ihren Körper verfügt, so zeigte sie demonstrativ, dass sie jetzt selbst bestimmen wollte, wem er gehörte. War ihr Körper für andere ein Instrument der Politik gewesen, so machte sie die Politik jetzt zum Instrument ihres Körpers, indem sie bereit war, ihrem Liebhaber politische Konzessionen zu gewähren. Gerade darum reagierten die moderados auf ihren neuen Lebenswandel so alarmiert, war doch der Günstling ausgerechnet ein progressistischer Offizier. Dabei zeigte sich, wie riskant es gewesen war, der unerfahrenen Monarchin in der Verfassung von 1845 so umfangreiche Prärogativen einzuräumen.50 Die Hoffnung der moderados, diesen Spielraum durch den Einfluss auf die Königin für eigene Interessen nutzen zu können, drohte sich als Fehlkalkulation herauszustellen. Aber so wenig den moderados diese Liaison passte, so wenig willkommen war ihnen die Skandalisierung in der Öffentlichkeit, schließlich konnte ihnen nicht daran gelegen sein, die Königin selbst zu diskreditieren. Insofern waren es weniger die moderados, welche dafür sorgten, dass Kenntnisse über Ehezwist und Untreue an die Öffentlichkeit gelangten. Auch die

48 Zum Kontext und der Bedeutung Serranos vgl. u.a. Vilches, Isabel, S. 96 f. 49 Zum ausschweifenden Lebenswandel mit Jagden, Ausritten, Konzerten und Tänzen bis in den Morgen vgl. Burdiel, Isabel 1998, S. 204. 50 Zur Verfassung von 1845 vgl. u.a. Juan Ignacio Marcuello Benedicto, „La Corona y la desnaturalización del parlamentarismo isabelino“, in: Burdiel, Política, S. 15–36, S. 18–20.  

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Karlisten hielten sich – gemessen an der Presseberichterstattung in der Zeitung La Esperanza51 – zunächst auffällig zurück. Allerdings nutzte der karlistische Prätendent, der Graf von Montemolín, die momentane Schwäche Isabellas, um sich im Ausland als der – moralisch wie physisch – geeignetere Herrscher Spaniens darzustellen. Seine Reise nach London schien ganz diesem Zweck gewidmet zu sein, zumal die konservativen Mächte Europas, inklusive des Vatikans, Isabella bislang ohnehin die Anerkennung als rechtmäßige Monarchin versagt hatten.52 Damit scheint die Stoßrichtung der karlistischen Agitation mehr außenpolitisch orientiert als an einer innenpolitischen Skandalisierung Isabellas interessiert gewesen zu sein. Gleichwohl haben die Ereignisse zu einem solchen Grad an öffentlicher Erregung geführt, dass mit Berechtigung von einem „Skandal“ gesprochen werden kann. Nicht nur in der Presse wurde die Angelegenheit thematisiert. Insgesamt lassen diplomatische Aufzeichnungen und private Briefe keinen Zweifel daran, dass die „Palastfrage“ zum Hauptgesprächsthema in Madrid geworden war, das vor keiner sozialen Schicht Halt gemacht habe.53 Dass die Thematik eine solche Publizität erhielt, lag nicht zuletzt an Isabellas Gatten selbst, der wie kaum ein anderer bemüht war, ihr Verhalten als „Skandal“ festzuschreiben. Immer wieder flocht er den Terminus in seine Anklagen. „Der Skandal“, warnte Francisco de Asís 1847, habe einen neuen Gipfel erreicht und berge unmittelbare Gefahr, „der Skandal“ umlagere den Thron, weshalb es angebracht sei, nunmehr zur Rettung von Thron, Religion und den Freiheiten des Volkes zu schreiten.54 Die Vehemenz, mit der Francisco diese Wahrnehmung als Skandal durchsetzen wollte, mochte womöglich auch darin begründet sein, dass Isabella das außereheliche Liebesleben schon deshalb nicht als gravierenden

51 Die Zeitungen La Esperanza sowie El Clamor Público, aus denen in diesem Aufsatz ebenfalls zitiert wird, stehen für den relevanten Zeitraum als Online-Content auf der Seite der spanischen Nationalbibliothek zur Verfügung, vgl. http://hemerotecadigital.bne.es (Stand: 22.12.2010). 52 Zur Reise des karlistischen Prinzen über Wien, Berlin und Den Haag nach London vgl. La Esperanza, 08.12.1846. Die karlistische Zeitung hob erfreut hervor, wie der Conde de Montemolín in London als Thronkandidat behandelt worden sei, vgl. La Esperanza, 29.12.1846. Zur Auffassung der Opportunität des Werbens in England angesichts der weiterhin ausstehenden Anerkennung Isabellas als legitime Thronerbin durch die konservativen Mächte Europas vgl. La Esperanza, 08.01.1847. Schon 1845 hatte es eine Kampagne für eine Ehe von Carlos Luis, dem Conde de Montemolín, mit Isabella gegeben. Insbesondere der konservative Publizist Jaime Balmes hatte sich für diese Verbindung eingesetzt, vgl. u.a. Rújula, „Puerta“, S. 85 f. 53 Vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 317. 54 In extremer Weise wird dies deutlich im „Manifest an die Spanier“ vom 06.08.1847, in dem dreimal explizit der Begriff „Skandal“ fällt, ganz abgesehen von Termini aus dem Wortfeld, vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 323–325.  

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Normbruch betrachtete, weil sie unter den weiblichen Mitgliedern der Königsfamilie hinreichend Vorbilder fand, die sich ähnlich verhalten hatten: Sowohl die Tante als auch die Großmutter hatten ein von ehelicher Bindung unbeeinträchtigtes freizügiges Liebesleben geführt. Selbst die Mutter hatte den emotionalen Neigungen ihre Pflichten als Regentin untergeordnet.55 An einer Geheimhaltung ihrer außerehelichen Orientierung war Isabella – zum Unmut des Gatten – jedenfalls nicht sonderlich gelegen. Umso mehr arbeitete Francisco de Asís nunmehr darauf hin, dass Isabellas Verhalten als Normbruch wahrgenommen wurde. Wobei sich hinter dieser Strategie weniger der Wunsch, adäquates Rollenverhalten einzufordern, verbarg, als vielmehr das wachsende Interesse, aus der Delegitimierung der eigenen Gattin Nutzen zu ziehen. Grundsätzlich war er enttäuscht darüber, dass es ihm nicht gelungen war, ähnlich wie Albert gegenüber Victoria im königlichen Heim den Ton anzugeben. Zweitens hatte auch seine Hoffnung getrogen, darüber hinaus den Gang der Regierungsgeschäfte bestimmen zu können.56 So nutzte er jetzt die Gelegenheit, sich als die bessere Alternative für den Königsthron zu präsentieren. Das gipfelte in dem auf dem Höhepunkt der Ehekrise 1847 verfassten „Manifest an die Spanier“, in welchem er sich als Schirmherr der Ehre der spanischen Nation und der Gottesfürchtigkeit anpries, nicht ohne immer wieder auf die Skandale am Hof hinzuweisen. Dabei untergrub er die Stabilität der isabellinischen Monarchie zusätzlich, indem er nicht müde wurde, dem karlistischen Prätendenten die wahre Legitimität zuzuschreiben: „Mein legitimer Herr und Besitzer“, wandte sich Francisco im Juni 1847 an den karlistischen Cousin.57 Offensichtlich gab sich Francisco der Hoffnung hin, bei einem Sturz seiner Frau in Absprache mit den Karlisten die Regierungsgeschäfte übernehmen zu können. Indem jedoch die karlistische Zeitung La Esperanza die devoten Avancen Franciscos gegenüber dem Karlisten veröffentlichte, galt Francisco in den Augen aller spanischen Liberalen als völlig diskreditiert.58 In die Mixtur der Erregungsmotive der spanischen Öffentlichkeit trat dadurch neben den Skandal des Ehebruchs der jungen Königin das Narrativ des Verrats

55 María Cristinas heimliche Ehe mit einem Unteroffizier der königlichen Garde nur kurz nach dem Tod Ferdinands VII. untergrub dessen testamentarisch verfügtes Wiederverheiratungsverbot während der Regentschaft, vgl. Pérez Garzón, „Introducción“, S. 22. 56 „Quiero ser el amo de mi casa“, hatte Francisco einem Freund zu verstehen gegeben. Zit. nach: Burdiel, Isabel 1998, S. 203. Dieser Wunsch dürfte umso plausibler sein, als er in seinem Vater und Großvater jeweils Gatten erlebt haben dürfte, welche die demütigenden Liebschaften ihrer Frauen passiv und langmütig ertragen hatten. Zugleich machte er jedoch unmissverständlich klar, dass er sich aus der Eheschließung praktische Machtvorteile versprochen hatte. 57 Zum Schreiben vom 19.06.1847 vgl. Burdiel, Isabel 2004, S. 320 f. 58 Vgl. Vilches, Isabel, S. 76.  

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Isabellas durch den eigenen Ehemann. In dieser konkurrierenden, konträren Sichtweise war Isabella nicht mehr die Skandalisierte, sondern die Leidtragende des Normenbruchs ihres Gatten. Diesem konnte umso mehr zugesetzt werden, als ihm nicht nur auf politischer, sondern auch auf der sexuellen Ebene normenwidriges Verhalten nachgesagt wurde. Schon vor der Ehe waren Zweifel über Franciscos Männlichkeit bzw. Vermutungen über eine homosexuelle Orientierung laut geworden. So hatten die weiblichen Züge des Kandidaten Bedenken selbst bei der Königinmutter ausgelöst: „Seine Hüften, sein Gang, sein Stimmchen … ist das nicht ein wenig beunruhigend? Ein wenig merkwürdig?“, hatte sich María Cristina gesorgt.59 Frivole coplas, die in der Hauptstadt gesungen wurden, thematisierten ungeniert die Symptome einer Harnröhrenanomalie (offensichtlich litt Francisco an Hypospadie), die im schlimmsten Fall mit Impotenz einhergehen kann.60 Schon wegen dieser körperlichen Mängel war Francisco weit entfernt vom Bild eines idealen Königs, zu welchem Attraktivität ebenso wie Männlichkeit gehörten. Diese Abweichung beeinträchtigte einerseits das symbolische Kapital, das er mit in die Ehe bringen konnte, und hatte gleichzeitig pragmatische Folgen. Symptomatisch für die allgemeinen Zweifel an Franciscos Zeugungsfähigkeit war die Aufmerksamkeit, mit der die Verheiratung der jüngeren Schwester Isabellas verfolgt worden war, die bei einer Kinderlosigkeit des Königspaars erbberechtigt sein würde. Diese Frage war immerhin so bedeutend, dass es ihretwegen zum Zerwürfnis zwischen England und Frankreich kam. Die Heiratsfrage der spanischen Königin hatte insoweit von Beginn an internationale Dimensionen besessen, als sich beide Westmächte, die traditionell auf der Iberischen Halbinsel um den vorherrschenden Einfluss wetteiferten, über die Gattenwahl weitere Einwirkungsmöglichkeiten versprachen oder zumindest gewährleisten wollten, dass der Konkurrent keinen Vorteil erhielt: Im September 1845 hatten sich auf dem Schloss Eu in der Normandie Briten und Franzosen schließlich in einer Negativauswahl auf einen spanischen Bourbonen festgelegt, um sowohl einen anglophilen Spross aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha als auch einen Sohn des französischen Königs Louis Philippes auszuschließen. Damit kamen nur die drei Cousins Isabellas in Betracht, wobei der karlistische wegen der Ablehnung durch die spanischen Liberalen schnell ausschied. Der britische Botschafter machte sich nunmehr für Enrique de Borbón, den jüngeren Sohn Francisco de Paulas, stark, dessen progressistische Orientierung den Briten zupass kam.61 Doch genau diese ließ ihn in den Augen María Cristinas als ungeeignet erscheinen, so dass die 59 Zit. nach Burdiel, Isabel 1998, S. 202. 60 Vgl. u.a. Vilches, Isabel, S. 79; Burdiel, Isabel 1998, S. 203. 61 Zur damaligen Festlegung der Briten auf den jüngeren Sohn Francisco de Paulas vgl. El Clamor Público, 12.02.1847.

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Wahl schließlich auf dessen älteren und konservativeren Bruder Francisco de Asís fiel. Das mochten die Engländer noch hinnehmen. Doch dass sich der französische Außenminister Guizot im September 1846 handstreichartig über die Bedingung der Briten, wonach die Ehe von María Luisa Fernanda mit dem Herzog von Montpensier erst geschlossen werden dürfte, nachdem Isabella einen Nachfolger geboren hätte und der Erbfall für Frankreich damit ausgeschlossen war, mit der Doppelhochzeit am 10. Oktober 1846 hinwegsetzte, führte zum Bruch der Entente Cordiale zwischen England und Frankreich.62 Journalistisch wurde dies begleitet von einer offenen Diskreditierung Francisco de Asís’. Der britische Botschafter in Spanien, Bulwer, der sich durch das Arrangement der Doppelhochzeit sowie dadurch persönlich hintergangen fühlte, dass der von England für Isabella präferierte jüngere Bruder Franciscos, Enrique, nicht berücksichtigt worden war, nutzte jede Gelegenheit, auf das Scheitern der Ehe hinzuwirken.63 Dazu bestärkte er Isabella in ihrer Liaison mit Serrano, dessen politische Orientierung dem Engländer entgegenkam, und trug zur Diffamierung Franciscos in der spanischen sowie internationalen Öffentlichkeit bei. So ließ er Briefe in der progressistischen Zeitung El Clamor Público veröffentlichen, in denen er und General Serrano ihre Zweifel an den geistigen wie physischen und insbesondere den reproduktiven Fähigkeiten des Bräutigams artikulieren.64 Einem analogen Tenor entsprach die in der Times im September publizierte Artikelserie über die Spanischen Heiraten.65 Die Bemühungen der spanischen Regierung, die kompromittierende Berichterstattung in Spanien zu unterbinden, waren schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil diese Beiträge der Times im restlichen Europa und in Spanien selbst bereitwillig wiedergegeben wurden. Die vermeintliche Impotenz Franciscos wurde hier umso häufiger thematisiert, als sie das kalkulierte Vorgehen der Franzosen belegen sollte. Anlässlich des ersten Ehebruchs der spanischen Königin ver-

62 Zu den internationalen Rückwirkungen vgl. das Kapitel „Die Spanischen Heiraten und Krakau 1846“, in: Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung 1830–1878 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen Bd. 6), Paderborn 1999, v.a. S. 302–305; vgl. auch immer noch Ernest Jones Parry, The Spanish Marriages, 1841–1846. A Study of the Influence of Dynastic Ambition upon Foreign Policy, London 1936. Zu den Drohungen der Briten, wonach ein Vollzug der Doppelhochzeit das internationale Umfeld Spaniens erheblich verändern würde, vgl. den Brief des britischen Botschafters Bulwer an den spanischen Regierungschef Javier Istúriz vom 31.08.1846, abgedruckt in El Clamor Público, 29.09.1846. 63 Noch vor der Eheschließung hatte die britische Presse wiederholt darauf hingewiesen, welchen inneren Widerstand die Königin gegenüber Francisco de Asís habe überwinden müssen, vgl. u.a. The Times, 05.09.1846. 64 Vgl. Vilches, Isabel, S. 84. 65 Am 19.10.1846, 20.10.1846, 14.01.1847, 15.01.1847 und 01.02.1847 widmete die Times explizit einen Beitrag dem Thema „The Royal Marriages in Spain“ bzw. „The Spanish Marriages“.

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sorgte die Times nun die europäische Presselandschaft mit Informationen, deren Herkunft zuweilen ebenso unklar war wie ihre Authentizität.66 Dabei war sich die progressistische Presse durchaus bewusst, „dass Worte, wenn sie hinreichend pikant sind, um einen Skandal zu erregen, immer einen unauslöschlichen Fleck auf der Reputation öffentlicher Personen hinterlassen“.67 Unklar bleibt allerdings die konkrete Resonanz der Skandalisierungstaktik in der Öffentlichkeit. Bezeichnenderweise wurde das außereheliche Verhältnis der frischverheirateten Königin allenfalls in Teilen der spanischen Gesellschaft als Skandalon wahrgenommen. Dabei dürfte es auch dem Antiklerikalismus vieler Liberaler geschuldet sein, dass die Empörung über das sexuelle Verhalten des Königspaars sich zwar an bürgerlichen, nicht aber an kirchlichen Kategorien orientierte. Der Aspekt, mit dem Ehebruch auch kirchliche Gebote verletzt zu haben, scheint in der Korrespondenz und Publizistik der frühen isabellinischen Zeit weit zurückzutreten und zumindest beim moralischen Urteil über das Leben der Monarchin kaum eine Rolle zu spielen. Das mag an der Alltäglichkeit derartiger Beziehungen in aristokratischen Kreisen des Spätabsolutismus gelegen haben oder auch daran, dass die klerikalen Belange eher von den Karlisten vertreten wurden, weshalb es nicht verwundert, dass es gerade der mit dem Karlismus liebäugelnde Francisco de Asís war, der die Vorkommnisse am Hof als „Sakrilege“ anprangerte. In der liberalen Presse jedoch lassen sich zunächst kaum religiöse Deutungsmuster finden. Bei der progressistischen Presse und insbesondere bei den unteren Bevölkerungsschichten Madrids traf die Liaison ebenso wie die politische Bevorzugung des Progresismo hingegen auf breite Zustimmung, was sich nicht zuletzt in zahlreichen Ovationen auf der Straße äußerte. Zum Medienereignis wurde dabei ein Stierkampf im Frühjahr 1847, der in eine politische Demonstration mündete, im Rahmen derer man Isabella und Serrano hochleben ließ und die Riego-Hymne anstimmte. Dabei schien sich Isabella inmitten der Massen durchaus wohl zu fühlen und es nachgerade zu genießen, dass am 11.04.1847, als die königliche Kutsche an der Puerta del Sol von Massen umlagert war, ein offensichtlich den niederen Volksschichten zugehörender Unbekannter ihren Wagen bestieg, um ihr mit Komplimenten und Liedern aufzuwarten.68 Ein Ereignis, das am kommenden Tag eine Debatte in den Cortes über das Auftreten, das Privatleben der Königin, ihren Liebhaber und Gatten auslöste.69

66 Vilches, Isabel, S. 93. 67 So im Beitrag „Cuestión de la doble boda“, in: El Clamor Público, 09.02.1847. 68 Vgl. Burdiel, Isabel 1998, S. 205. Eine Wurzel dieser Volkstümlichkeit liegt womöglich im majismo, womit jene Modeerscheinung der spanischen Aristokratie im 18. Jahrhundert gemeint war, sich in Kleidung und Gebräuchen temporär den unteren Volksschichten anzugleichen. 69 Diario de Sesiones de Cortes, 12.04.1847, vgl. Burdiel, Isabel 1998, S. 205.

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Ihrer Popularität gerade bei der einfachen Bevölkerung vermochte diese Debatte jedoch wenig anzuhaben; nach wie vor galten der jungen Königin „todas las simpatías“.70 Diese blieben ihr zunächst auch erhalten, nachdem im Herbst 1847 der Ehekonflikt beigelegt werden konnte: Der General Serrano wurde nach Granada versetzt und Francisco de Asís kehrte wieder in den Palacio Real zurück. Insofern schien Isabella zunächst die Skandalisierung unbeschadet überstanden zu haben. Gleichwohl zeitigte auch dieser Skandal seine kurz-, mittel- und langfristigen politischen Folgen. Kurzfristig führte er zu Diskontinuitäten in der Regierungspraxis, insofern als Isabella zunächst eine Regierung nach Wunsch ihres progressistischen Liebhabers berief, die dann nach Ende der Affäre durch Narváez, den führenden Politiker und General der moderados, wiederum aufgelöst wurde.71 Das Verhältnis zu den Progressisten nahm dadurch mittelfristig weiteren Schaden, nicht zuletzt, weil auch General Serrano persönlich nach dem Ende des Verhältnisses zu Isabella auf Distanz ging. Nach ihrer Vertreibung 1868 war es kein anderer als ihr erster Geliebter, der als Regent an ihre Stelle trat. Eine weitere kurz- und mittelfristige Folge der Ehe und ihrer ersten Krise lag darin, dass sie zur Verschärfung des internationalen Umfeldes beitrug, insofern als Frankreich und England, denen es im Grunde um den Einfluss im westlichen Mittelmeer ging, auf dem Rücken des königlichen Paares ihre Konflikte austrugen. Durch den Abdruck antifranzösischer Polemik spanischer Pressestimmen in britischen Blättern sollte die Annäherung zwischen Spanien und Frankreich torpediert werden.72 Doch die Skandalisierung des spanischen Königsgemahls führte schließlich auch zu einer Trübung des britisch-spanischen Verhältnisses, die 1848 in der Ausweisung des britischen Botschafters und einer zwei Jahre währenden Aufkündigung der diplomatischen Beziehungen gipfelte.73

70 Fernando Fernández de Córdova, Mis memorias íntimas, Bd. 2, Madrid 1966, S. 144. 71 Zur sogenannten Regierung puritano de Pacheco vgl. Benedicto, Corona, S. 24. Zu den sechs verschiedenen Kabinetten, die von Februar 1846 bis Oktober 1847 aufeinanderfolgten, vgl. Martin Baumeister, „‚Liberale Diktatur‘ – ‚liberale Revolution‘. Spanien in der Zeit der europäischen Revolutionen von 1848/49“, in: Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001, S. 233–248, hier: S. 239. 72 Vgl. u.a. den Artikel „France and Spain“ aus der progressistischen Zeitung El Espectador in: The Times, 10.09.1846, der eine dauerhafte spanisch-französische Feindschaft beschwor. Der ebenfalls progressistische El Clamor Público wies vermehrt auf die schwerwiegenden internationalen Folgen der Verheiratung María Luisa Fernandas mit dem Herzog von Montpensier hin, vgl. u.a. El Clamor Público, 03.01.1847: „Perdida nuestra independencia, atados al carro de una dinastía ambiciosa y sin voluntad propia para disponer de nuestros recursos, estamos haciendo un papel tristísimo en la escena de la política exterior“. 73 Siehe Baumeister, „Liberale Diktatur“, S. 236. Zu den konkreten Hintergründen der Ausweisung vgl. Carmen Mencía, „La expulsión del embajador Henry Lytton Bulwer“, in: Boletín de

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Innenpolitisch machte sich mittelfristig insbesondere der Imageschaden bemerkbar, den Francisco de Asís erlitten hatte, der aber durch das Zusammenbleiben der Ehegatten letztlich auch die Wahrnehmung Isabellas beeinträchtigte. Durch seine Fühlungnahmen mit dem Karlismus hatte sich dauerhaft das Verhältnis Franciscos zu den Liberalen getrübt. Diese bemühten sich fortan, die Fernhaltung Franciscos von der politischen Macht zu legitimieren. So dürfte es kein Zufall sein, dass der bedeutende liberale Historiker Modesto Lafuente in seinem 1850 publizierten ersten Band seiner Historia general de España im Kapitel zu den Katholischen Königen die Bedeutung von Isabella I, die er in direkten Bezug setzt zu Isabella II., gegenüber der Ferdinands stark hervorhebt.74 Francisco, der den Anspruch gestellt hatte, wie Ferdinand an der Seite Isabellas I. mitregieren zu können, sollte damit der Abstand bedeutet werden, den auch er von der Macht einzuhalten hätte. Was Francisco de Asís zusätzlich in den Augen vieler Liberaler untragbar machte, war seine enge Verbindung zu Vertretern des Klerus, zumal dies seine karlistischen Neigungen nur zu unterstreichen schien. Für die Wahrnehmung Isabellas gestaltete sich problematisch, dass sie selbst immer stärker in diesen Kreis der „klerikalen Kamarilla“ um ihren Ehemann geriet. Ihr zunehmendes Interesse an religiösen Themen dürfte Teil jenes Prozesses gewesen sein, der die katholische Frömmigkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte umgestaltete. Die Ursachen hierfür sind auf internationale Mentalitätsveränderungen, die Reaktionen auf die europäischen Revolutionen von 1848, die nationale politische Entwicklung sowie kontingente persönliche Begegnungen zurückzuführen. In weiten Teilen Europas erfuhr die neue, „formierte“ Religiosität auch wegen ihrer vermeintlich revolutionsprophylaktischen Wirkung eine ausgeprägte Wertschätzung.75 Eine

la Real Academia de la Historia 180/1983, S. 495–550. Klar ist, dass die eigentliche Ursache der bilateralen Abkühlung nicht im Missfallen des königlichen Gatten lag, sondern mit dem vermeintlichen Vorrecht der Briten zusammenhing, nach der Unterstützung Isabellas in den Karlistenkriegen die Geschicke des Landes beeinflussen zu können. Der Anspruch kommt zum Ausdruck in den vielen Anfragen der britischen Regierung an die spanische, die abgedruckt sind in El Clamor Público, 05.02.1847. 74 „[…] un pueblo que resucita, que nace á nueva vida, que se levanta, que se organiza, que crece, que adquiere proporciones colosales […] todo bajo el génio benéfico y tutelar de una muger“, vgl. Modesto Lafuente y Zamalloa, Historia general de España, Bd. 1, Madrid 1850, zit. nach der von Juan-Sisinio Pérez Garzón im Jahre 2002 in Pamplona herausgegebenen Neuauflage, S. 117 f. 75 Vgl. nach wie vor Michael N. Ebertz, „Die Organisierung von Massenreligiosität im 19. Jahrhundert. Soziologische Aspekte zur Frömmigkeitsforschung“, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 2/ 1979, S. 37–72.  

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„devotionale Revolution“76 zeugt von der Attraktivität neuer Kulte. Es fügt sich in diesen Kontext, dass sich auch Isabella, deren konservative Regierung 1851 mit einem Konkordat die langjährigen Divergenzen mit dem Vatikan beendete, für einige spirituelle Angebote empfänglich zeigte.77 So ließ sie sich schließlich auch vom Charisma der klerikalen Persönlichkeiten in der Kamarilla ihres Mannes beeindrucken. Durch Beichtväter wie Padre Antonio María Claret zum einen sowie eine ausgiebige Korrespondenz mit Pius IX. zum anderen, legte Isabella eine immer intensivere Frömmigkeit an den Tag, ohne wohlweislich an ihrem Lebensstil etwas zu verändern. Das hatte weitreichende Folgen. Indem sie grundsätzlich Normen akzeptierte, ohne sich danach zu richten, wurde sie erpressbar. Diese Erpressbarkeit nahm umso mehr zu, als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bürgerliche Moralvorstellungen auch als Beurteilungsgrundlage für monarchisches Verhalten ausprägten.78 Nach der Drohung Franciscos, andernfalls die kompromittierendsten Details ihrer außerehelichen Liebesbeziehungen zu veröffentlichen, überließ Isabella ihm und seiner klerikalen, karlistisch orientierten Kamarilla – im Zuge einer moralischen Abdankung – das politische Feld.79 Eine Schlüsselrolle in der Kamarilla des Königs spielte dabei die Franziskanerin Sor Patrocinio. Diese war seit ihren fragwürdigen Stigmatisierungen und Visionen, die sie als unzweideutige Parteigängerin der Karlisten erwiesen, zum symbolischen Ort der Konfrontation der ideologischen Lager geworden: So wurde die charismatische Ordensschwester von den Religiösen als Heilige verehrt und von den Antiklerikalen als skrupellose Betrügerin denunziert.80 Konnten sich die einen auf die Berichte von wundersamen Begebenheiten berufen, verwiesen die anderen auf das Ergebnis des 1836 einberufenen juristischen Prozesses. Dass Sor Patrocinio schließlich auch das besondere Vertrauen Isabellas gewann, forcierte die wachsenden Vorbehalte der antiklerikalen Liberalen gegenüber der Königin, zumal sie der für überaus intrigant gehaltenen Nonne einen Einfluss weit jenseits des spirituellen Bereichs zutrauten. Ihre Klostergründungen im Einzugsbereich könig-

76 So erstmals in Bezug auf die Entwicklung in Irland, vgl. Emmet Larkin, „The Devotional Revolution in Ireland 1850–1878“, in: AHR 77/1972, S. 627–652. 77 Zum Verhältnis Isabellas zu Kirche und deren Vertretern vgl. auch Emilio La Parra López, „La reina y la Iglesia“, in: Pérez Garzón, Isabel II., S. 197–212. 78 Vgl. Burdiel, Isabel 1998, S. 189. 79 Vgl. ebd., S. 209. 80 Vgl. das Kapitel: „Sor Patrocinio. La monja de las llagas (1811–1891). Una iluminada en la corte de los milagros“, in: Julián Moreiro: Españoles Excesivos. Cabeza de Vaca, El I duque de Lerma, Balmis, Sor Patrocinio, El XII duque de Osuna, Aurora Rodríguez y Millán Astray, Madrid 2008, S. 185–239.

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licher Paläste galten beispielsweise als Ausweis individueller Selbstbereicherung zu Lasten des Staatsetats.81 Dieserart wurde Isabella immer unattraktiver für den spanischen Liberalismus, der sich mehr und mehr von ihr abwandte. Der Beziehungsbruch wurde nun seinerseits legitimiert mit einer forcierten Skandalisierung. Diese auf eine totale Demontage zielende Diffamierungskampagne beklagte gleich eine breite Palette von Normbrüchen: Finanz-, Sex- und Politikskandale wurden Isabella nachgesagt. Die Mischung von Vorwürfen war bereits in den 1850er Jahren angelegt, wie eine Karikatur aus dieser Zeit belegt, in der das moralische und politische Scheitern in die welken Gesichtszüge geschrieben war.

Abb. 1: Karikatur der Königin Isabella II. (1830–1904)

81 Der erhaltene Teil der Korrespondenz zwischen Sor Patrocinio und Isabella II. scheint ein anderes Licht auf die Ordensfrau zu werfen. Die Themen beschränken sich weitgehend auf private Fragen, insbesondere die der ehelichen Harmonie. Ebenso wird deutlich, dass die Nonne in späteren Jahren ihrerseits trotz eigener prekärer Finanzverhältnisse Francisco de Asís nennenswerte Geldmengen zur Verfügung stellte. Allerdings ist bei der Beurteilung des Quellenkonvoluts in Rechnung zu stellen, dass umfangreiche Materialien entfernt worden sind. Vgl. Pedro Voltes, „Las cartas de la M. Patrocinio a Isabel II. Conservadas en la Real Academia de la Historia“, in: Boletín de la Real Academia de la Historia 198/2001, S. 37–68.

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Stehen die Initialen über den durchbohrten Herzen für die verschiedenen Liebhaber Isabellas, wird durch die Abbildung von Papst, Mönchen und Nonnen, die in Geldbeuteln das nationale Eigentum davontragen, der Klerikalismus der Königin angeklagt. Die Totenköpfe um den Hals stehen für die (im Schleier explizit so benannte) Grausamkeit, die durch die Garrotte unterstrichen wird, und die Bibel für die geistige Intoleranz.82 Stärker konnte die Diskrepanz zum Credo der Liberalen Spaniens nicht bezeichnet werden. Mit ihrer vermeintlichen Undankbarkeit hatte sich Isabella die Unterstützung durch die Liberalen verwirkt. Stand das junge, schöne Mädchen einst für die Hoffnung auf eine neue Monarchie, war das welke, ausdruckslose Gesicht der Königin jetzt ein Symbol für deren vorzeitiges Altern. Der entscheidende Schlag zur Diskreditierung erfolgte schließlich über das seit 1846 etablierte Muster der Diagnose sexueller Abweichung, worin die langfristigen Folgewirkungen des damaligen Skandals zu suchen sind. Indem sich die damalige Polemik an der sexuellen Normwidrigkeit beider Eheleute festmachte, da einerseits auf Franciscos vermutliche Impotenz oder Homosexualität und andererseits auf Isabellas Seitensprung angespielt wurde, hatte sich eine Deutungsfolie etabliert, die umso mehr auch für spätere Diskreditierung parat stand, als sich der Ehebruch Isabellas habituell verstetigte. Ohne auch nur den Versuch der Geheimhaltung trat sie im Laufe ihrer Herrschaftszeit mit diversen Liebhabern auch öffentlich auf, die sich zum Teil ebenso öffentlich der Vaterschaft von Isabellas Kindern brüsteten.83 Francisco de Asís, der nur mit Not überzeugt werden konnte, die Vaterschaft offiziell anzuerkennen, nahmen diese Schwangerschaften umso mehr gegen seine Gattin ein: „Einer der ersten, die die Königin stürzen wollen“, berichtete der französische Botschafter 1857 nach Paris, sei „der eigene Gatte“ gewesen.84 Insgesamt wurde Isabella langfristig umso leichter zur Beute von Delegitimierungsstrategien über den Skandaldiskurs, als sich die bürgerliche Sexualmoral zusehends durchsetzen konnte. So argumentierten selbst die Progressisten 1865, dass der Zusammenbruch der Monarchie wegen des skandalösen, sündhaften Lebens bevorstehe.85 Die 1868, wohl im Auftrag der moderados, begonnene Bild-

82 Den bisher nach wie vor existenten Mythos mütterlichen Wohlwollens gegenüber dem Volk sollte sich Isabella endgültig durch die scharfe Repression des Aufstandes von 1866 verwirken. Die Exekution von 87 Aufständischen etablierte definitiv das Bild der „grausamen Königin“, vgl. u.a. Vilches, Isabel, S. 238. 83 So zumindest Enrique Puigmoltó, der öffentlich auf seinen Sohn, den Kronprinzen Alfons, anstieß und einen Brief herumzeigte, in dem ihm Isabella bestätigte, dass das Kind, welches sie erwarte, seines sei. Vgl. ebd., S. 187. 84 So im Schreiben vom 29.07.1857, zit. nach: Burdiel, Isabel 1998, S. 209. 85 So das Manifest vom 20.11.1865, zit. nach: Vilches, Isabel, S. 235.

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serie von Adolfo und Gustavo Béquer pathologisiert die Königin, indem sie ihr in kompromittierend obszönen Szenen einen furor uterino unterstellte.86 Aus der „niña inocente“ war damit endgültig die „impura prostituta“ geworden.87 In dieser Form völlig entehrt, konnten die spanischen Militärs im September 1868 umso selbstgerechter im Namen der Ehre zur Gloriosa aufrufen und Isabella aus dem Land treiben. Anders als Victoria hatte es Isabella nicht vermocht, sich als wohlwollende Mutter der Nation zum Integrationsmoment der diversen Kräfte im Land zu inszenieren. Fraglich bleibt, ob dies überhaupt – auch ohne ein an Skandalen so reiches Leben – angesichts der in Bürgerkriegen scharf aufeinanderprallenden Lager möglich gewesen wäre. Aber mit der kumulativen Skandalisierung ihres Sexualverhaltens entstand schließlich ganz im Gegenteil eine nationale Interessensgemeinschaft von Karlisten, moderados, Progressisten und Republikanern, die nichts anderes verband als das gemeinsame Ziel, die Königin zu stürzen. Die grundlegende Dichotomie ihrer Bilder, die seit dem Skandaljahr 1846/ 1847 angelegt war, überdauerte allerdings Isabellas Herrschaftszeit. Indem der Romancier Benito Pérez Galdós sie nach einer Begegnung als reizende alte Dame beschrieb, deren Tragik gewesen sei, in die Hände falscher Ratgeber geraten zu sein, lebte das Bild der niña inocente erneut auf.88 Vehement setzte diesem jedoch der Dramaturg Ramón Valle-Inclán seinen Gegenentwurf einer sexuell Pervertierten entgegen.89 Damit leistete er seinen Beitrag zur mentalen Vorbereitung der 1931 ausgerufenen Zweiten Republik, die von ihren Anhängern nunmehr als niña bonita bejubelt wurde. Als 44 Jahre später Juan Carlos zum König des postfranquistischen Spanien proklamiert wurde, war keineswegs sicher, dass die Monarchie von der spanischen Bevölkerung langfristig akzeptiert werden würde. Die Erfolgsgeschichte dieser Institution ist eng verknüpft mit den persönlichen Verdiensten Juan Carlos’ um die spanische Demokratie, weshalb auch seine Rolle als symbolische Integrationsklammer für den spanischen Gesamtstaat nicht zu unterschätzen ist. Ob der Juancarlismo von einst eine hinreichende Garantie für die zukünftige Stabilität

86 Die Bilder wurden unter dem Titel „Los Borbones en pelota“ zusammengestellt, vgl. u.a. Vilches, Isabel, S. 273. Die Sicht auf die Sexualität der Königin entsprach der damals gängigen Pathologisierung weiblicher Sexualität, vgl. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002, S. 129–151. 87 So ein Gedicht mit indirekten Bezügen auf Isabella II., veröffentlicht am 02.05.1865, zit. nach: Vilches, Isabel, S. 226. 88 Siehe Benito Perez Galdós, „La Reina Isabel“, in: Memoranda. Obras Completas, Bd. 6, Federico Carlos Sainz de Robles (Hrsg.), Madrid 1961, S. 1416. 89 Ramón del Valle-Inclán, El Ruedo Ibérico. La Corte de los Milagros, Madrid 1927.

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Birgit Aschmann

der spanischen Monarchie und der staatlichen Einheit bietet, bleibt abzuwarten.90 Die jüngsten Skandalgeschichten um das Königshaus scheinen umso gravierender zu sein, als die Kumulation von Sex- und Finanzskandalen einem alten Republikanismus neuen Auftrieb verleiht. Selten zuvor sind die Fahnen der Republik derart demonstrativ durch Madrid getragen worden wie heute. Sollte der Nachfolger von Juan Carlos womöglich durch gesellschaftliche Normbrüche die Kritik der Bevölkerung auf sich ziehen, wäre keineswegs ausgeschlossen, dass jene auf die Skandale Isabellas zurückzuführenden, so langlebigen negativen Topoi erneut Bestandteile eines antimonarchischen Diskurses würden, der die Separationsbestrebungen der regionalen Nationalismen stärken dürfte. Immer weniger jedenfalls klingt es überzeugend, wenn offizielle Verlautbarungen aus dem Königshaus beteuern, beide Körper des Königs würden sich bester Gesundheit erfreuen…

90 Vgl. Jordi Canal am 27.10.2008 in El Imparcial: „No tiene futuro el republicanismo político por la solidez del juancarlismo“. Zugleich räumt der Autor jedoch ein, dass es der Nachfolger von Juan Carlos nicht leicht haben werde, den hohen Anforderungen gerecht zu werden; vgl. www. elimparcial.es/contenido/25823.html (Stand: 16.01.2013). Immerhin erschien der Artikel im Zusammenhang mit einer von der Universität Almería im Oktober 2008 organisierten Konferenz, die sich mit dem Potential des Republikanismus in Spanien auseinandersetzte.

Jens Ivo Engels, Darmstadt

Panama in Deutschland: Der PanamaSkandal in der deutschen Presse 1892/1893

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Wenn im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert von politischer Korruption die Rede war, fiel sehr häufig das Wort Panama. Nicht etwa, weil mit diesem Begriff die Verhältnisse in einer mittelamerikanischen Bananenrepublik heraufbeschworen wurden – ganz im Gegenteil. Panama stand für einen Korruptionsskandal, der in einem der Mutterländer moderner Staatlichkeit stattfand, nämlich in Frankreich. Der französische Projektträger für den Bau des Panama-Kanals, die Compagnie universelle du canal interocéanique du Panama, hatte in den 1880er Jahren die Pariser Presse, Politik und Justiz mit Geschenken und Vergünstigungen manipuliert, um so massive Probleme beim Bau und bei der Finanzierung des Vorhabens zu verschleiern. Diese Aktivitäten gipfelten in der Bestechung von weit über hundert Abgeordneten in der französischen Deputiertenkammer. Die Kammer verabschiedete daraufhin 1888 ein Gesetz, das es der Kanalbaugesellschaft erlaubte, trotz extremer Unwirtschaftlichkeit weitere Anleihen zu emittieren. Wenige Monate später war die Gesellschaft zahlungsunfähig und tausende Kleinanleger hatten ihre Ersparnisse verloren. Erst im Herbst 1892 wurden die Hintergründe öffentlich bekannt, und es entwickelte sich ein folgenreicher Skandalisierungsprozess. Den Anstoß gab ein Enthüllungsbericht in der rechtsnationalen Presse, der Zeitung La libre parole von Édouard Drumont. Offenbar versuchten einige der Beteiligten sich gegenseitig zu erpressen, so dass auf diese Weise zunehmend Details an die Öffentlichkeit gelangten. Im November verstarb ein beteiligter Bankier, Jacques de Reinach, was die Justizbehörden auf den Plan rief. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss erforschte die Verstrickung von Regierungsmitgliedern und Ministern. Anfang 1893 standen Verwaltungsräte und Angestellte der Kanalbaugesellschaft, ehemalige Regierungsmitglieder, Abgeordnete und Finanziers in verschiedenen Prozessen vor Gericht. Es kam zu einer Reihe von Strafurteilen, von denen die meisten wegen Verfahrensfehlern aber wieder aufgehoben wurden. Im Ergebnis wurde deutlich, dass Regierungshandeln, Gesetzgebung und Presseberichterstattung durch Schmiergeldzahlungen manipuliert wurden – und zwar nicht nur im

1 Mein besonderer Dank gilt Anita Galló, deren Materialsammlung über die deutschen Reaktionen auf den Panama-Skandal ich benutzen durfte. Für Unterstützung danke ich außerdem Silke Vetter-Schultheiß.

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Jens Ivo Engels

Fall der Abstimmung von 1888. Die staunende Öffentlichkeit wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass zwischen Wirtschaft, Banken, Presse und Politik ein dichtes Geflecht von Geschäften auf Gegenseitigkeit existierte, das von hierauf spezialisierten Agenten und Finanziers gemanagt wurde und sich letztlich auf Kosten der Bürger bereicherte. Panama blieb im kollektiven Gedächtnis haften als Musterbild des Korruptionsskandals – nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Panama eine Art Lackmustest. Im sogenannten Kornwalzer-Skandal, bei dem es um die Bestechung von Mitarbeitern des Berliner Kriegsministeriums durch die Firma Krupp ging, waren Regierungsvertreter, Juristen und konservative Journalisten sichtlich bemüht zu betonen, es handele sich nicht um ein „deutsches Panama“.2 Die historiographische Beschäftigung mit Panama war lange Zeit geprägt durch den Stil des fait divers. Wahlweise galt dieser Skandal als bedauerliche, aber doch letztlich insignifikante Episode oder aber, ganz im Gegenteil, als ein Beleg unter vielen für die Heuchelei der Eliten in der Dritten Republik.3 Erst in jüngerer Zeit ist das Interesse an Panama systematischer geworden. So hat JeanYves Mollier die reichhaltigen Quellenbestände um die Vorgänge genutzt, um in einer Mikrostudie die Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und Journalismus in der Dritten Republik beispielhaft zu untersuchen. Damien de Blic hat argumentiert, dass der Panama-Skandal in mehrfacher Hinsicht den Typus des finanz-politischen Skandals in der Dritten Republik prägte. So zeichne sich die politische Kultur der Dritten Republik zwischen ca. 1890 und 1940 durch die regelmäßige Wiederkehr ähnlich strukturierter Skandale um die Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Elite aus.4

2 Vgl. Frank Bösch, „Krupps ‚Kornwalzer‘. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich“, in: Historische Zeitschrift, 281/2005, S. 337–379. 3 Jean Bouvier, Les deux scandales de Panama, Paris 1964; David McCullough, The Path Between the Seas. The Creation of the Panama Canal 1870–1914, New York 1977; Gilbert Guilleminault/ Yvonne Singer-Lecocq, La France des gogos. Trois siècles de scandales financiers, Paris 1975; JeanMarie Thiveaud, „Crises et scandales financiers en France sous la Troisième République“, in: Revue d’économie financière, 41/1997, S. 25–53; Pierre-Alexandre Bourson, L’affaire Panama, Paris 2000. 4 Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama, Paris 1991; Damien de Blic, „Cent ans de scandales financiers en France. Investissement et désinvestissement d’une forme politique“, in: Luc Boltanski u.a. (Hrsg.), Affaires, scandales et grandes causes. De Socrate à Pinochet, Paris 2007, S. 231– 247; Damien de Blic, „Moraliser l’argent. Ce que Panama a changé dans la société française (1889–1897)“, in: politix, 18/2005, 71, S. 61–82. Vgl. auch Frédéric Monier, Corruption et politique. Rien de nouveau?, Paris 2011 und Christophe Portalez, „Le scandale du Panama vu par un ancien député du Vaucluse: réseaux, amitiés et corruption sous la Troisième République“, in: Jens Ivo

Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893

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Dieser Beitrag ist dem Panama-Skandal in der deutschen Presse gewidmet, also der Rezeption der französischen Presseberichterstattung in deutschen Zeitungen. Über deren Reaktion auf Panama ist bislang wenig bekannt. Hier soll herausgearbeitet werden, wie die deutschen Presseorgane auf den französischen Skandal reagierten, welche Diagnosen über die deutsche und die französische Gesellschaft daraus abgeleitet wurden und vor allem, inwiefern die deutsche Korruptionskommunikation von den Vorfällen beeinflusst wurde.5

I Korruptionsforschung und Korruptionskommunikation Zunächst wird im Folgenden jedoch der Kontext der Korruptionsforschung vorgestellt. Dabei werde ich zudem erläutern, warum Korruptionskommunikation sich für die Erforschung grenzüberschreitender Skandalberichterstattung eignet.6 Im deutschsprachigen Raum hat die historische Korruptionsforschung nach einigen isolierten Arbeiten zur Antike, zum Schenken in der Frühen Neuzeit sowie zum Nationalsozialismus erst seit rund einem halben Jahrzehnt den Charakter eines Forschungszusammenhangs angenommen, der durch gemeinsame Tagungen und Publikationen konstituiert wurde.7 In vielen Arbeiten steht die Frage

Engels/Frédéric Monier/Natalie Petiteau (Hrsg.), La politique vue d’en bas. Pratiques privées et débats publics 19e–20e siècles, Paris 2011, S. 169–192. 5 Nach der Niederschrift dieses Aufsatzes verfasst aber früher erschienen ist folgende Kontextualisierung innerhalb einer längeren Perspektive: Jens Ivo Engels/Anna Rothfuss, „Les usages de la politique du scandale. La SPD et les débats sur la corruption politique pendant le Kaiserreich 1873–1913“, in: Cahiers Jaurès 209/2013, S. 33–51. In Kürze erscheint auch Anna Rothfuss/Christophe Portalez, „The perceptions and political use of the scandal of Panama by the socialists in Germany and France“, in: Olivier Dard/Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Frédéric Monier, Scandales et corruption politiques à l’époque contemporaine, Paris 2014. 6 Jens Ivo Engels/Frédéric Monier, „Pour une histoire comparée des faveurs et de la corruption: France et Allemagne (XIXe–XXe siècles)“, in: Engels/Monier/Petiteau (Hrsg.), La politique vue d’en bas, S. 127–148. 7 Seppo Tiihonen (Hrsg.), The History of Corruption in Central Government, Amsterdam 2003; Arne Karsten/Hillard v.Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006; Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009; Themenheft „Corruption“ der Zeitschrift Public Voices, X/2/2008; Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen, Göttingen 2010; Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption, Frankfurt am Main 2010. Themenheft „Corruption and the Rise of Modern Politics“ des Journal of Modern European History 11/2013. Ende 2014 erscheint eine

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nach der epochentypischen Ausprägung von Korruption im Mittelpunkt. Unterschiedliche Meinungen bestehen beispielsweise in der Frage, ob Korruption im aktuellen Verständnis ein Kennzeichen moderner Gesellschaften (seit der Sattelzeit) ist, oder ob der Kern des Konzepts seit dem Mittelalter, möglicherweise gar seit der Antike, unverändert blieb.8 Die Mehrzahl der Korruptionsforscher zieht es mittlerweile vor, unter politischer Korruption nicht ein Set bestimmter Praktiken zu verstehen (etwa: Bestechung, Nepotismus). Vielmehr ist Korruption als Teil der Selbstbeobachtung9 einer Gesellschaft interessant. Es handelt sich also um ein historisch veränderliches Bewertungskonzept, das über die Normen und Rollenerwartungen der jeweiligen Gesellschaft Auskunft geben kann. Dies entspricht dem sogenannten neoklassischen Ansatz nach Michael Johnston.10 Das bedeutet freilich nicht, die verurteilten Praktiken außer Acht zu lassen. Im Gegenteil spricht viel dafür, Korruptionsdebatten als Teil des komplexen Aushandelns von Legitimität oder Illegitimität politischer Patronage zu begreifen.11 Wenn Korruption also Auskunft über Normensysteme geben kann, kommt dem Phänomen der „Korruptionskommunikation“ zentrale Bedeutung zu. Dieser Begriff wurde erstmals geprägt von Werner Plumpe und von Niels Grüne genauer bestimmt. Es handelt sich um Diskurse, die auf die Konkurrenz von gemeinwohlorientierten mit sozialen Normen bzw. von universalistischen mit partikularistischen Normen rekurrieren, um bestimmte Praktiken der Einflussnahme als abweichendes Verhalten zu etikettieren.12

europäisch vergleichend angelegte Monographie zur Geschichte der politischen Korruption in der Moderne von Jens Ivo Engels. 8 Jens Ivo Engels, „Politische Korruption und Modernisierungsprozesse. Thesen zur Signifikanz der Korruptionskommunikation in der westlichen Moderne“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 35–54; Simona Slanička, „,Acceptio personarum impedit iustitiam.‘ Erziehung zur Korruptionsbekämpfung in mittelalterlichen Fürstenspiegeln“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 99–122; Andreas Suter, „Korruption oder Patronage? Außenbeziehungen zwischen Frankreich und der Alten Eidgenossenschaft als Beispiel (16.–18. Jahrhundert)“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 167–203. 9 Niels Grüne, „,Und sie wissen nicht, was es ist.‘ Ansätze und Blickpunkte historischer Korruptionsforschung“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 11–34, hier: S. 32. 10 Vgl. ausführlich Antoon D.N. Kerkhoff u.a., „Dutch Political Corruption in Historical Perspective. From Eighteenth-Century Value Pluralism to a Nineteenth-Century Dominant Liberal Value System and Beyond“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 443–467, insbes. S. 447– 449. 11 Vgl. Asch/Emich/Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption. 12 Werner Plumpe, „Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen“, in: Engels/Fahrmeir/Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik, S. 19–47; Niels Grüne, „‚Gabenschlucker‘ und ‚verfreundte rät‘. Zur patronagekritischen Dimension frühneuzeit-

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In diesem Zusammenhang wird von einem Teil der Forschung die These vertreten, dass moderne Gesellschaft sich durch eine geringe Duldsamkeit gegenüber Ambivalenzen und Ambiguitäten im Bereich der Normen auszeichnen. Anstelle einer offen ausgetragenen Konkurrenz gleichberechtigter Normsysteme trat seit der Sattelzeit das Bemühen um Vereindeutigung. So wird die zuvor kasuistisch geprägte Lösung von Normkonflikten zugunsten von kohärenten und dominanten Normsystemen abgelöst. In den modernen Gesellschaften besteht eine hohe Bereitschaft, die Grenzziehungen zwischen den Handlungsbereichen Politik, Wirtschaft, Freundschaft mit ihren je eigenen hegemonialen Normsystemen zu verfestigen. Das am abstrakten Gemeinwohl orientierte Amtsethos wurde für Inhaber öffentlicher Ämter alternativlos. Soziale Normen (Förderung von Freunden und Verwandten) oder die Normen ökonomischen Handelns (Gewinnabsichten) mögen im Fall Panama für viele Akteure handlungsleitend gewesen sein, doch war dies angesichts der Grenzziehungen nicht mehr sagbar. Das hilft zu erklären, warum Korruptionskritik als Kritik an der Verletzung von Gemeinwohlnormen sich verabsolutierte; warum eine Verteidigung im Sinne normativer Umdeutung ihres Handelns für die Beteiligten nicht (mehr) in Frage kam.13 Eine solche Konstellation macht ein Ereignis zu einem probaten Ausgangspunkt für Skandalisierung: Das Annehmen von Geld im öffentlichen Amt war ein eindeutiger Normbruch. Ein Grund für die Eignung von Korruptionskommunikation als grenzüberschreitende Skandalkommunikation liegt in der großen Anschlussfähigkeit und weiten Verbreitung des Themas. Ein Kennzeichen der Korruptionskommunikation

licher Korruptionskommunikation“, in: Asch/Emich/Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption, S. 215–232; zur Normenkonkurrenz und den konfligierenden Normensystemen Hillard v. Thiessen, „Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert“, in: Engels/Fahrmeir/Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik, S. 91–120; Dies., „Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 205–220. 13 Zur „Normenkonkurrenz“ demnächst ein Themenheft der Zeitschrift für historische Forschung 2014, hrsg. von Hillard von Thiessen und Arne Karsten. Zunächst Jens Ivo Engels, „Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert“, in: Historische Zeitschrift, 282/2006, S. 313–350; zur abnehmenden „Ambiguitätstoleranz“ André Krischer, „Korruption vor Gericht. Die Fälle Francis Bacon (1621), Warren Hastings (1788–1795) und der Strukturwandel bei der Bewertung politischer Delinquenz in England“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 307–326; zur wachsenden Dominanz bestimmter Wertesysteme im 19. Jahrhundert Kerkhoff u.a., „Dutch Political Corruption”, S. 467 – ähnlich aus herrschaftskritischer Perspektive Frank Bösch, „Limites de ‚l’État autoritaire‘. Médias, politique et scandales dans l’Empire“, in: Jörg Requate (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft – Les médias au XIXe siècle, München 2009, S. 100–115.

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besteht nämlich darin, dass sie gewissermaßen universal verständlich war. Kritik an korruptem Verhalten gab es in nahezu allen Gesellschaften seit dem Mittelalter.14 Während beispielsweise in den frühen USA das Selbstverständnis des neuen politischen Gemeinwesens stark von der Ablehnung des angeblich korrupten Systems von Westminster getragen wurde, entzündete sich die öffentliche Debatte um 1900 an politischer Patronage in den nordamerikanischen Großstädten. In Großbritannien bestimmte die Kritik an der sogenannten Old corruption zwischen 1780 und 1830 die Reform von Staat und Verwaltung, während in den folgenden Dekaden vermehrt Praktiken der Wählerbestechung im Zentrum standen.15 Bislang ist noch wenig bekannt über die Reaktionen auf den in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Industrielobbyismus, doch auch dieser war Zielscheibe von Korruptionsvorwürfen in Frankreich und Großbritannien.16 Im deutschen Sprachraum scheint die Korruptionskommunikation verhaltener verlaufen zu sein, was sich in einer recht späten Übernahme des Begriffs in den allgemeinen Sprachgebrauch niederschlug. Doch auch hier ist mittlerweile nachgewiesen, dass Korruptionskritik die Verwaltungsreformen um 1800 motivierte und beschleunigte. Im Kaiserreich finden sich dann einzelne Debatten, etwa über die Beziehungen zwischen Bismarck und seinem Bankier Bleichröder, über Eisenbahnlobbyismus und die Beziehungen zwischen der Rüstungsindustrie und der Regierung.17 Auch im Russland des 19. Jahrhunderts gehörte Kritik an korrupten Staatsdienern zum diskursiven Arsenal der westlich orientierten Reformer.18

14 Dass die Korruptionsdebatte bis ins 18. Jahrhundert daneben stark von der theologischen Diskussion über Sündenfall und Verfall als Korruption des Menschen beeinflusst war, kann im vorliegenden Fall ausgeblendet bleiben. Vgl. dazu Felix Saurbier, „,The Tabernacle of Bribery‘. Zur Korruptionssemantik deutsch- und englischsprachiger Bibelübersetzungen in der Frühen Neuzeit“, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption, S. 123–142. 15 Knapper Überblick bei Jens Ivo Engels, „Corruption as a Political Issue in Modern Societies: France, Great Britain and the United States in the Long 19th Century“, in: Public Voices X/2/2008, S. 68–86. 16 Christian Ebhardt, Interessenpolitik und Korruption am Beispiel der Eisenbahnbranche. Großbritannien und Frankreich 1830–1870, Dissertation TU Darmstadt 2013; erste Ergebnisse bei Christian Ebhardt, „Eisenbahnlobbyismus in Großbritannien und Frankreich – Verflechtung von Industrie und Staat im 19. Jahrhundert“, in: Asch/Emich/Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption, S. 309–326. 17 Robert Bernsee, „Zur Legitimität von Patronage in Preußens fürstlicher Verwaltung – Das Beispiel der Korruptionskritik des Kriegs- und Domänenrates Joseph Zerboni (1796–1802)“, in: Asch/Emich/Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption, S. 267–284; Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009. 18 Susanne Schattenberg, Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008.

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Wenn in der Korruptionskommunikation Grenzen gezogen wurden, so ist dies nicht nur auf die Scheidung von Handlungssphären zu beziehen. Vielmehr diente die Verständigung über Korruption häufig auch der Grenzziehung zwischen modernen und noch nicht modernen Gesellschaften – Korruptionskommunikation seit der Sattelzeit ist in hohem Grade Teil einer Selbstbeschreibung sich modernisierender Gesellschaften. Dies zeigt in eindrücklicher Klarheit der englische Begriff der Old corruption, mit dem das frühneuzeitliche Amtsverständnis in England bekämpft wurde.19 Korruptionskommunikation vermittelt also implizit Vorstellungen von wünschbarer oder notwendiger Modernisierung, auch wenn der Begriff Moderne selbst erst spät in den Debatten auftaucht.20 Dabei – und das ist im vorliegenden Zusammenhang wichtiger – ist Korruptionskommunikation sehr häufig auch Differenz- bzw. Alteritätszuschreibung. Dies konnte gekoppelt mit einer Zuschreibung von vormodernen Verhältnissen sein, etwa im kolonialen Diskurs21 oder im bereits erwähnten Fall Russlands (und so ist es mitunter bis heute). Differenz konnte aber auch schlicht als Zuschreibung von „korrupten“ Nationalcharakteren dargestellt werden. Mitunter diente der Korruptionsvorwurf der Markierung nationaler Herkunft und kultureller Identität innerhalb eines Gemeinwesens. So geißelten die in die USA emigrierten deutschen Revolutionäre von 1848 das politische System ihrer neuen Heimat als korrupt. Der durch Geldgier, die Sklaverei und die angeblich materialistische angelsächsische Tradition bedingten Korruption der Parteien und Amtsträger setzten Emigranten wie Gustav Struve oder Karl Heinzen „deutsche Ehrlichkeit und Idealität“ entgegen. Mit einer deutschen Partei wollten sie die politische Kultur des Landes verbessern; allerdings scheiterte dieses Projekt.22 Im Folgenden wird zu klären sein, ob und inwieweit sich diese Beobachtungen auch für die Rezeption von Panama in Deutschland bestätigen.

19 Engels, „Politische Korruption und Modernisierungsprozesse“, insbes. S. 46–49. Zur Old Corruption Philip Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996. 20 Vgl. zur Verwendung des Begriffs Moderne in der Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften Christof Dipper, „Moderne, Version 1.0“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/ zg/Moderne (Stand: 10.09.2010). 21 Nicholas B. Dirks, The Scandal of Empire: India and the Creation of Imperial Britain, Cambridge 2006. 22 Daniel Nagel, Von republikanischen Deutschen zu deutsch-amerikanischen Republikanern. Ein Beitrag zum Identitätswandel der deutschen Achtundvierziger in den Vereinigten Staaten, 1850– 1861, Dissertation Mannheim 2010, Kap. 6.7, Zitat S. 200.

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II Die Panama-Berichterstattung deutscher Zeitungen Im folgenden Teil wird das Augenmerk darauf liegen, wie via Korruptionskommunikation Differenz und Alterität konstruiert wurden, welche Normen bekräftigt wurden und welche Unterschiede sich in den Zeitungen verschiedener Couleur feststellen lassen. Wenn Korruptionsdebatten ein Medium zur Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen sind, ist zu klären, welche Modernisierungsfolgen genau im kritischen Fokus standen. Die Analyse konzentriert sich auf die ‚heiße Phase‘ des Panama-Skandals – also auf die Zeit zwischen den ersten Bestechungsvorwürfen an die Gesellschafter der Kanalgesellschaft im September 1892 und dem Ende der ersten Welle von Strafprozessen im März 1893. Als Grundlage dienen drei politisch unterschiedlich positionierte deutsche Zeitungen: die Kreuzzeitung, die Vossische Zeitung sowie der Vorwärts. Alle drei berichteten recht ausführlich, bisweilen täglich über die Ereignisse. Der Panama-Skandal, so kann man sagen, fand zeitgleich auch in der deutschen Presse statt, wenn auch aus der Beobachtungsperspektive. Dass die deutsche Berichterstattung das Phänomen ernst nahm, ja sehr schnell für paradigmatisch hielt, zeigt sich nicht nur in der Intensität der Berichterstattung, sondern auch in der Sprache. So übernahmen die deutschen Journalisten Begriffe aus der französischen Debatte, die sie eindeutschten, oder prägten eigene Bezeichnungen für die Vorgänge. Hierzu gehört das Adjektiv ‚panamiteux‘ ebenso wie ‚Panama-Sumpf‘ oder ‚Panama-Geschwür‘. Solche Bezeichnungen sind im Übrigen typisch für Korruptionsdebatten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.23 Wie nicht anders zu erwarten herrschte in der deutschen Presse Einigkeit in der einhelligen Verurteilung der inkriminierten Vorgänge. Alle Zeitungen kritisierten mit deutlich formulierter Abscheu die vielfältigen Normbrüche, insbesondere die Bestechlichkeit von Abgeordneten. Einigkeit herrschte darüber hinaus in einer moralisierenden Grundfärbung der Beiträge: Die berichteten Vorgänge belegten aus Sicht der deutschen Journalisten einen moralischen Niedergang, einen Verfall der Sitten, und die Korruption der französischen Gesellschaft und ihrer Eliten. So beobachtete die Kreuzzeitung am Tag der Einsetzung eines Untersuchungssausschusses das „widerliche Schauspiel“ der „Zersetzung und Auflösung“ der parlamentarischen Elite bei ihrem „Tanz ums goldene Kalb“ und „auf

23 Vgl. etwa den Titel von Maurice Barrès, Dans le cloaque. Notes d’un membre de la commission d’enquête sur l’affaire Rochette, Paris 1914.

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einem Vulkan“.24 Dieser gemeinsame Tenor in der Gesamtbewertung schloss unterschiedliche Einschätzungen in den verschiedenen Blättern nicht aus – darauf wird noch einzugehen sein. Einigkeit herrschte in der deutschen Berichterstattung auch in der Kritik an der schleppenden Aufklärung durch die französischen Behörden. Die Einschätzung, dass die politische Klasse in Frankreich ihre Praktiken mit allen Mitteln zu schützen versuche, teilten die deutschen Zeitungen mit vielen französischen Blättern. Allerdings gab es ebenfalls eine einmütige Haltung gegenüber der französischen Presse. Zwar zitierten die deutschen Blätter ausgiebig ihre französischen Kollegen – über weite Strecken besteht die deutsche Berichterstattung aus glossierten Wiedergaben französischer Zeitungsberichte. Dennoch kritisierten die deutschen Blätter das französische Pressewesen, hauptsächlich, weil auch dieses in die Bestechungen verwickelt gewesen war. Insbesondere die Vossische Zeitung thematisierte die Käuflichkeit eines großen Teils der französischen Redaktionen und Herausgeber und ließ ihre Präferenz für das Ethos einer unabhängigen und seriösen Presse erkennen.25 Kritik übte sie auch an der ihrer Ansicht nach schlecht recherchierten und diffamierend-unseriösen Berichterstattung vieler Zeitungen über den Skandal selbst: „Unbesehen wird jede noch so verwegene, noch so unwahrscheinliche Ausstreuung wiedergegeben.“26 Eine ähnliche Diskussion entzündete sich auch in Frankreich selbst mit der Folge, dass sich das professionelle Selbstverständnis der Journalisten in den folgenden Jahren festigte und Regularien für den Berufsstand eingeführt wurden.27 Besonders aussagekräftig sind die Äußerungen der Zeitungen über die Ursachen und Hintergründe der kritisierten Praktiken. Hier zeigen sich denn auch deutliche Abweichungen von Blatt zu Blatt, was Aufschlüsse über die politische Verortung der Redaktionen erlaubt. Die Kreuzzeitung identifizierte zwei Hauptursachen für „Panama“: Zum ersten machte sie die Repräsentanten eines international ausgerichteten Kapitalismus für die Vorgänge verantwortlich: „die Herren von der Weltindustrie, vom Weltmarkt und der Weltpolitik“, ein „internationales Geldgesindel, Vollblutfranzosen neben englischen und halbdeutschen französischen Juden“.28 Die antisemitische Färbung scheint regelmäßig auf, etwa in der

24 Kreuzzeitung, 23.11.1892. 25 Vossische Zeitung, 05.03.1893. 26 Vossische Zeitung, 28.12.1892. 27 Damien de Blic, „La contribution des scandales financiers à l’autonomisation de l’univers journalistique: De Panama à la loi de 1935“, in: Ivan Chupin/Jérémie Nollet (Hrsg.), Journalisme et dépendances, Paris 2006, S. 117–140. 28 Kreuzzeitung, 19.12.1892.

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Kritik an „jüdischen Zwischenhändlern“, die die Parlamentarier bestachen. In diesen Kontext fügt sich auch die häufig affirmative Bezugnahme auf Édouard Drumonts Libre parole mit ihrer antisemitischen Haltung.29 Die zweite Ursache erkennt die Kreuzzeitung in einem nationalen französischen Sittenverfall, der sich in allgemeiner Spielleidenschaft äußere und im „Parasitenthum“ der politischen Elite manifestiere. Die parlamentarische Staatsform sei vollkommen ungeeignet, solche Tendenzen einzudämmen. Allerdings konstatiert die Kreuzzeitung auch: „Ein Volk, daß sich derartige Vertreter […] auf die Dauer gefallen läßt, verdient sein Schicksal“.30 Als Träger der Republik werden hauptsächlich urbane Gruppen identifiziert, denn „Bauernschaft“, landsässiger Adel und das Kleinbürgertum in den Provinzstädten seien „rein“ geblieben.31 So blieben die alten Eliten von der Kritik ausgenommen. In der Vossischen Zeitung wurde scheinbar ähnlich argumentiert: Der Panama-Skandal zeige die „sittliche Fäulnis der regierenden Klasse des französischen Volkes“ – ja es handele sich gar um ein „gewöhnliches Vorkommniß des französischen Alltagslebens“. Zur Erklärung diente hier jedoch nicht ein allgemeiner Sittenverfall. Vielmehr bemühte sich die Vossische um eine präzise Erklärung: Zum einen sei das politische Personal der Republik durch soziale Aufsteiger geprägt, die weder Geld noch ein gefestigtes Standes- und Ehrbewusstsein hätten. Außerdem schaffe der zentralistische und auch in Wirtschaftsdingen geradezu übermächtige Staat in Frankreich erst die Voraussetzung für Bestechung und Bestechlichkeit – hierin liege das eigentliche Problem.32 Folglich liest man ein verstecktes Plädoyer für föderale staatliche Strukturen und vor allem für eine liberale Wirtschaftsverfassung. Dabei gelang der Vossischen ein wichtiges Kunststück: Während Korruptionskommunikation um 1900 in aller Regel mit einer Verurteilung des Kapitalismus gekoppelt war, stand hier in erster Linie der autoritäre Verwaltungsstaat am Pranger. Auch der Parlamentarismus war als System von der Kritik ausgenommen. Der Vorwärts identifizierte eine soziale Gruppe, nämlich die Bourgeoisie, sowie die bürgerlichen Parteien als Urheber der Vergehen. Auch der Vorwärts verurteilte nicht den Parlamentarismus. Vielmehr garantiere er als einzige Staatsform eine Aufklärung der Geschehnisse: „Der Parlamentarismus […] zieht wenigstens die Schandthaten an’s Tageslicht“ – im Gegensatz zur Monarchie.33 Sittlich verdorben war auch nicht die gesamte französische Gesellschaft, sondern einzig

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Zitat und Stellungnahme zur Libre Parole in Kreuzzeitung, 15.03.1893. Kreuzzeitung, 14.03.1893. Kreuzzeitung, 19.12.1892. Vossische Zeitung, 04.01.1893. Vorwärts, 10.12.1892.

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die Bourgeoisie. Im Unterschied zur Kreuzzeitung seien nicht Altadel und Bauernschaft, sondern die Arbeiterklasse „im innersten Kern moralisch gesund“.34 Der Vorwärts bemühte sich schon früh darum, Bezüge zur Situation in Deutschland herzustellen und den Nachweis zu führen, dass „die Korruption […] die Signatur der kapitalistischen Gesellschaft ist“. Dabei verwies das Zentralorgan der SPD auf den Verleumdungsprozess gegen Hermann Ahlwardt, der mit antisemitischen Pamphleten auf sich aufmerksam gemacht hatte und dabei, so der Vorwärts, entgegen seinem Willen auf die in der deutschen Gesellschaft verbreitete Korruption gestoßen sei, die Staat und Gesellschaft gleichermaßen zerfresse.35 Diese Darstellungen sind angesichts der politischen Ausrichtung der genannten Zeitungen nicht wirklich überraschend. Dennoch zwangen die Kontexte die Redakteure manchmal dazu, erwartbare Reaktionen zu modifizieren. Die Kreuzzeitung beispielsweise lobte und verbreitete zwar die antisemitische Interpretation aus der Libre parole. Zugleich war sie sehr darum bemüht, die in der rechten französischen Presse vorherrschende Interpretation zu entkräften, bei den zentralen Akteuren habe es sich um deutsche Juden gehandelt.36 Außerdem boten die Vorgänge zwar gute Voraussetzungen, um den Parlamentarismus zu diskreditieren. Allerdings fürchtete die Kreuzzeitung aus außenpolitischen Gründen die Destabilisierung der Dritten Republik. Aus deutscher Sicht sei die aktuelle Verfassung allen realistischen Alternativen vorzuziehen – etwa weil Frankreich unter einer möglichen bonapartistischen Führung kriegerische Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn suchen würde. Alternativ könnte eine sozialistische Diktatur in Frankreich drohen.37 Da beides nicht wünschenswert erschien, hoffte die Kreuzzeitung auf den Fortbestand der Republik. Die Vossische Zeitung wiederum war mit dem Problem konfrontiert, trotz der Abgeordnetenkorruption den Parlamentarismus zu verteidigen. Sie wich daher auf die erwähnten, gewissermaßen sozio-historischen Erklärungsmuster aus. Im Subtext verbarg sich hierin die Aussage, dass Ähnliches in Deutschland mit seiner gefestigten Beamtenschaft nicht eintreten könne.38 Der Vorwärts schließlich hatte das Kunststück zu vollbringen, die PanamaGeschädigten als Opfer zu präsentieren. Daher wurden die geprellten Anteilseigner

34 Vorwärts, 20.12.1892. 35 Vorwärts, 09.12.1892. 36 Wichtige Figuren waren etwa der Finanzier und Lobbyist Cornelius Herz und der Bankier Jacques de Reinach, beide jüdischer Herkunft mit deutschen Wurzeln. 37 Kreuzzeitung, 31.12.1892. Tatsächlich wurde in Frankreich eine entsprechende Debatte geführt, in der linke und rechte Gruppierungen den Skandal als Anlass für die antiparlamentarische Revolte sahen, vgl. Le Temps, 02.01.1893. 38 Vossische Zeitung, 04.01.1893.

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eines durchaus spekulativen Investments39 nicht etwa als bourgeoise Kapitalisten dargestellt. Vielmehr seien die Ersparnisse der „kleinen und mittleren“ Leute40 in die Kasse der Gesellschaft gespült worden – nicht weniger als fünf Millionen Menschen seien unmittelbar oder mittelbar betroffen.41 In der Forschung geht man heute von maximal 400.000 geschädigten Kleininvestoren aus.42 Die Zahl des Vorwärts hätte immerhin bedeutet, dass rund ein Achtel der französischen Bevölkerung Anteile an der Kanalbaugesellschaft besaß. Pathetisch heißt es denn auch: „Am Gelde aber klebt der Schweiß von hunderttausenden Arbeitern, haften die Tränen von Witwen und Waisen“.43

III Ein deutsches Panama? Der Welfenfondsskandal in Deutschland und Frankreich Auch wenn Panama von den meisten deutschen Zeitungen als französischer Fall dargestellt wurde, sorgte die Rezeption für eine Belebung der Korruptionskommunikation im Inland, ging eine Dynamisierung der Debatte von der Beschäftigung mit Panama aus: Panama regte den Vergleich mit weiteren Fällen im Ausland, wie auch im Inland an. Hierbei tat sich, wie bereits angedeutet, vor allem der Vorwärts hervor.44 Der im Rahmen der Panama-Berichterstattung entfalteten Annahme folgend, Korruption sei im Wesen des Kapitalismus angelegt, machte der Vorwärts im Januar 1893 in einer Reihe von europäischen Ländern analoge Fälle ausfindig – dazu gehörte der Skandal um die italienische Banca Romana, ein Skandal um den belgischen Bankier Langrand-Dumonceau, Vorwürfe gegen die Erbauer eines

39 Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Erfahrungen mit Panama den französischen Anleihemarkt und das Verhalten der französischen Sparer nachhaltig veränderten. Waren spekulative Investments in Industrie und Infrastruktur auch für Angehörige der Mittelschicht bis dato akzeptabel, setzte anschließend die Flucht in Staatsanleihen ein – was der Pariser Regierung im Fall der Russischen Anleihen nicht zuletzt außenpolitische Dividenden eintrug. Paradoxerweise galt Russland wegen seines autoritären politischen Systems nun als sicherer Schuldner; Mollier, Scandale, S. 40–43. 40 Vorwärts, 07.12.1892. 41 Vorwärts, 04.01.1893. 42 Mollier, Scandale, S. 405 43 Vorwärts, 10.11.1892. 44 Zur Rolle der sozialdemokratischen Presse für Skandalisierungen im Kaiserreich vgl. Engels/ Rothfuss, „Usages“; Bösch, Öffentliche Geheimnisse sowie immer noch Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890–1914, Cambridge 1977.

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Kanals in Spanien, Betrugsfälle bei der portugiesischen Eisenbahn, das System des Bossism in amerikanischen Großstädten und Bestechungsversuche im Weißen Haus. Insbesondere aber legte der Vorwärts Wert auf die Feststellung, es gebe auch in Deutschland ähnliche Fälle.45 Im Gegensatz vor allem zur Kreuzzeitung, die Deutschland als korruptionsresistent darstellte, stellte die sozialdemokratische Presse systematisch Bezüge zu Vorfällen im Kaiserreich her. Im Mittelpunkt stand dabei neben der Erinnerung an die Affäre Strousberg um Eisenbahnkonzessionen in den 1870er Jahren46 ein aktuelles Thema: An der Jahreswende 1892/1893 gelangte der Vorwärts nach eigenen Angaben an brisante Unterlagen über die Verwendung des sogenannten Welfenfonds, auch Reptilienfonds genannt.47 Dabei handelte es sich um ein Sondervermögen, das dem preußischen Staat durch die Annexion Hannovers 1866 zugefallen war. Die Erträge waren der parlamentarischen Kontrolle dank einer Notverordnung von 1869 entzogen und standen für geheime Transaktionen zur Verfügung. 1892 gab Preußen die Verfügung über die Erträge an das Haus Hannover zurück. Die zuvor erzielten Einnahmen schwankten zwischen einer und knapp vier Millionen Mark jährlich. Sie wurden auf verschiedene Ressorts der preußischen Regierung verteilt, wobei Bismarck den Löwenanteil für seine politische Arbeit reservierte. Bismarck verwendete die Gelder vor allem, um ein ausgedehntes Gefolgschaftsgeflecht im Sinne politischer Patronage zu bilden. Insbesondere die Loyalität von Zeitungen, aber auch von Einzelpersonen wurde auf diesem Weg finanziell belohnt oder motiviert. Auch Geheimdiensttätigkeiten konnten so finanziert werden. Die Welfenfonds-Gelder hatten durchaus auch in der ‚großen Politik‘ Bedeutung. Im Reichsgründungsprozess 1871 spielten hohe Zahlungen an die bayerische Krone eine entscheidende Rolle für die schriftliche Zustimmung König Ludwigs II. zur Erhebung Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser und machten München zugleich gegenüber Berlin erpressbar. Diese Details waren 1892 noch nicht bekannt, konnten aber in Umrissen erahnt werden. Erste Gerüchte über mögliche Unterlagen zur Verwendung der Welfenfonds-Gelder waren bereits Anfang 1892 an die Öffentlichkeit gelangt.48

45 Vorwärts, 03.01.1893, 07.01.1893, 13.01.1893, 28.01.1893, 01.02.1893. 46 Ralf Roth, „Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 10/2001, S. 86–112. 47 Der zentrale Artikel dazu erschien im Vorwärts, 31.12.1892. 48 Vgl. Robert Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds. Aus den Geheimakten Preußens und des Deutschen Reiches, Mainz 1968, insbes. S. 167–175; Dieter Albrecht, „König Ludwig II. von Bayern und Bismarck“, in: Historische Zeitschrift 270/2000, S. 39–64.

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Aus der Sicht des Vorwärts waren Welfenfonds und Panamafonds ähnlich zu bewerten. So lieferte Panama eine Art Verstärkereffekt für die Argumente gegen die politischen Verhältnisse im Reich. Im Kontext der Welfenfonds-Diskussion platzierte der Vorwärts auch einen Angriff auf die deutsche Zeitungslandschaft: Ähnlich wie in Frankreich durch die Panama-Gesellschaft seien deutsche Blätter von Bismarck mit Hilfe des Welfenfonds gekauft worden. Auch die Vossische Zeitung nahm diese Argumentation auf und ließ erkennen, dass sie die Anschuldigungen des Vorwärts ernst nahm, etwa indem sie diese ausführlich wiedergab. Die Vossische sorgte sich denn auch um die internationale Wirkung und vermutete zutreffend, in Frankreich werde man frohlocken, dass auch Deutschland nun „sein ‚Panama‘ habe“. Daraus folge, dass die Regierung und der ehemalige Reichskanzler Otto von Bismarck persönlich unter Druck stünden – und das zu Recht, wie das Blatt durchblicken ließ.49 Dagegen bemerkte die Kreuzzeitung abwiegelnd (und in einer sehr knappen Notiz), in Frankreich werde nach den Enthüllungen des Vorwärts der untaugliche Versuch gemacht, „von den eigenen Pestbeulen“ abzulenken.50 Im Januar 1893 wurde in Deutschland über die Welfenfonds-Angelegenheit intensiv debattiert, allerdings konnte der Vorwärts seine Anschuldigungen nicht zweifelsfrei belegen. So verlief die Angelegenheit bald im Sande – eine ähnliche Brisanz wie die Panama-Affäre vermochte diese Debatte nicht zu entfalten. Die Welfenfonds-Debatte hatte jedoch Auswirkungen auf die Korruptionskommunikation als Differenzzuschreibung. Nicht weiter verwunderlich ist die Reaktion der französischen Presse, die sich den deutschen Befürchtungen gemäß äußerte. Le Temps berichtete ausführlich über die Enthüllungen des Vorwärts und ließ erkennen, dass man die Anschuldigungen für wahrscheinlich hielt – zumal es rund ein Jahr zuvor bereits Gerüchte um die Welfenfonds-Quittungen gegeben hatte. Le Temps zeichnete ähnlich wie der Vorwärts ein Bild, in der die gesamte Elite (Journalisten, Militärs, Abgeordnete, Regierungsmitglieder, auch Wissenschaftler) des Reiches als käuflich und in geheime Machenschaften verstrickt erscheinen. Gegen Bismarck wurde der Vorwurf erhoben, Presse und öffentliche Meinung manipuliert zu haben – auch unter Hinweis auf die Emser Depesche, also den Anlass für den deutsch-französischen Krieg. Schließlich nahm Le Temps die angebliche Heuchelei in Deutschland aufs Korn: „Pour un peuple qui a vécu vingt ans dans la fiction d’un ordre moral parfait, c’est un rude réveil.“51

49 Vossische Zeitung, 31.12.1892. 50 Kreuzzeitung, 05.01.1893. 51 Le Temps, 02.01.1893.

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Fast schon triumphierend erleichtert konstatierte das Journal des Débats ebenfalls im Januar 1893, Frankreich sei eine Zeit lang als moralischer Schandfleck Europas erschienen, doch zeigten die jüngsten Entwicklungen, „que nous n’étions pas seuls contaminés“. Tatsächlich gehe man im Unterschied zum Ausland offener mit derartigen Verfehlungen um. Nun sei Deutschland durch die Enthüllungen über den Welfenfonds betroffen. Angesichts der bekannten Skrupellosigkeit Bismarcks, so das Journal, könne man sich nicht „défendre d’un léger frisson en pensant à certaines allusions du Vorwaerts“.52 Auch das populäre Petit Journal berichtete ausführlich über die Anschuldigungen und die lebhaften Reaktionen in der deutschen Presse. Für die Berliner Regierung sei diese „évocation d’un régime de corruption“ höchst unwillkommen, doch sei zu erwarten, dass nun eine Serie von Enthüllungen folge.53 Die katholische La Croix schließlich beschrieb ein „Panama prussien“. Auch dieses Blatt erwartete, dass die weiteren Enthüllungen erweisen würden, „que l’Allemagne des Doellinger et des Bismarck n’a rien à envier à la France des Rouvier, Clémenceau et Floquet“.54 Die Welfenfonds-Debatte war folglich eine Möglichkeit für die französischen Journalisten, die Differenzkommunikation gegenstandslos zu machen, welche es der ausländischen Presse ermöglicht hatte, Frankreich eine Paria-Rolle zuzusprechen. Während deutsche und französische Presse, sich fleißig gegenseitig zitierend,55 dem jeweiligen Gegenüber Heuchelei vorwarfen und sich um den internationalen Ruf ihres jeweiligen politischen Systems sorgten, nahm die Londoner Times eine skeptische Position ein. Das besondere Interesse der Times an der Welfenfonds-Thematik war der Tatsache geschuldet, dass es sich beim Welfenfonds um das Eigentum eines Mitglieds der englischen Königsfamilie handelte, nämlich des Duke of Cumberland, Erbe des entthronten Königs Georg V. Die Times berichtete im Januar 1893 recht intensiv über die deutsche WelfenfondsDebatte, blieb aber skeptisch hinsichtlich der Belastbarkeit der Anschuldigungen. Die vom Vorwärts angekündigten Beweise, nämlich Quittungen der Empfänger, lägen nicht vor. Zudem hielten gut unterrichtete Kreise in Berlin die Angelegenheit für unseriös. Kurz: Die Times sah in den Veröffentlichungen des Vorwärts den untauglichen Versuch, eine deutsche Panama-Debatte loszutreten.56 Tatsächlich

52 Journal des Débats, 01.01.1893. 53 Le Petit Journal, 02.01.1893. 54 La Croix, 03.01.1893. 55 Le Temps zitierte in acht Artikeln, die zwischen dem 02.01. und 10.01.1893 erschienen, stets den Vorwärts, aber auch Beiträge anderer deutscher Zeitungen wie die Kölner Zeitung, die Frankfurter und die Nationalzeitung. Das Journal des Débats verwies im selben Zeitraum auf die gleichen Titel sowie zusätzlich auf die Kieler Zeitung und den französischen Moniteur de l’Empire. 56 The Times, 03.01.1893; 09.01.1893.

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verlief die Debatte heftig aber kurz, da der Vorwärts letztlich keine belastbaren Belege vorweisen konnte. Der Welfenfonds blieb in der britischen Presse präsent – das zeigt eine Bemerkung zum Burenkrieg 1902, als die Times den sogenannten Buren-Fonds kritisierte, den führende Buren zur Fortführung des Krieges mit England anlegten. Diesen verglich das Blatt mit dem Welfenfonds.57

IV Fazit Generell sind ein großes Interesse und eine intensive Berichterstattung über den französischen Skandal festzustellen. Das schließt nicht nur die kritisierten Tatbestände ein, sondern auch und gerade den Umgang mit ihnen in der französischen Öffentlichkeit. Folglich ist Korruption zumindest im Winterhalbjahr 1892/ 1893 ein präsentes Thema in der deutschen Öffentlichkeit gewesen. Freilich bleibt die Untersuchung über das genannte halbe Jahr hinaus ein Desiderat. Es zeichnet sich aber ab, dass in Deutschland ähnlich wie in anderen europäischen Ländern eine Art abrufbares Korruptions- oder Skandalwissen entstand. Dieses machte es möglich, eine ganze Kaskade von ähnlich gelagerten Fällen zu zitieren, wenn von Korruption die Rede war. Die Ergebnisse bestätigen die Existenz eines europäischen Kommunikationsraums rund um das Thema ‚Korruption‘ – freilich beeinflusst von nationalen Brechungen und strukturiert durch die jeweilige weltanschauliche Position. Tatsächlich konnte festgestellt werden, dass sich die Kommentatoren einig waren in der Verurteilung der inkriminierten Vorgänge. Einigkeit herrschte im Einzelnen darüber, dass Politiker und Zeitungen ihre Handlungen nicht verkaufen durften. Die Vermischung privater Interessen und öffentlicher Aufgaben wurde immer wieder aufs Schärfste angeprangert. Die Norm der unbedingten Korruptionskritik galt beiderseits des Rheins und wurde dazu genutzt, den jeweils ungeliebten Nachbarn zu diskreditieren. Die Besonderheit der grenzüberschreitenden Korruptionskommunikation lag in dem Versuch, gewissermaßen über Bande zu spielen und die jeweils andere Nation kritisch zu spiegeln: Suchte ein Teil der französischen Presse eine Schuld bei deutschen Juden, fühlte sich die Kreuzzeitung zur Zurückweisung verpflichtet. Brachte der Vorwärts Informationen über Bismarcks Welfenfonds-Geflecht, nahmen französische Blätter dies zum Anlass, mit dem Finger auf den östlichen Nachbarn zu weisen, was wiederum in einem Teil der deutschen Presse nicht unkommentiert blieb.

57 The Times, 04.02.1902; 27.09.1902.

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Bei aller Einmütigkeit in der Verurteilung kamen die Zeitungen zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Ursachenforschung. Hier bildet sich die jeweilige politische Couleur der Blätter deutlich ab. Tatsächlich diente die Korruptionskommunikation zur Markierung von politischer Differenz oder sozialen Vorbehalten – sie kennzeichnete nicht nur die fremde Nation, sondern auch politische Gegner oder die für Missstände verantwortlich gemachten Gruppen: die Bourgeoisie im Vorwärts, die internationale Finanzwirtschaft in der Kreuzzeitung, soziale Aufsteiger in der Vossischen. Letztlich ging es in der deutschen Debatte immer auch um die Frage, ob die politischen Verhältnisse im Inland ähnlich korrupt waren wie westlich des Rheins: die Beobachtung des Anderen (Frankreich) war mit Selbstbeobachtung gepaart. Dies geschah auf zwei Reflexivitätsstufen: Zunächst dienten die Berichte über Panama als Anlass, um ein Urteil über heimische Zustände zu finden. Nicht erst mit der Welfenfonds-Debatte, aber jetzt besonders virulent, kamen auf einer weiteren Stufe Reflexionen über die französischen Beobachtungen über Deutschland hinzu. Ging es den französischen Blättern um die Negierung von Differenz in den moralischen Standards beider Länder, bemühten sich zumindest die Vossische und vor allem die Kreuzzeitung darum, genau diese aufrecht zu erhalten. Anders als in der eingangs erwähnten Kennzeichnung vormoderner Gesellschaften als korrupt ging es im Kontext der Panama-Debatte um die Folgen von wirtschaftlicher und politischer Modernisierung. Vor allem der Kapitalismus bzw. seine Träger standen im Zentrum der Kritik. Doch war der Interpretationshorizont weit genug, um der Vossischen zu erlauben, die Vorgänge gerade nicht als Folge des Kapitalismus, sondern als Ergebnis einer spezifischen Staatsauffassung zu kennzeichnen. Insofern debattierten die deutschen Zeitungen auch darüber, welches politische System den moralischen Anfechtungen des Kapitalismus am ehesten gewachsen war. Die Beiträge fielen unterschiedlich aus; sie zeigen aber, welche Bedeutung Korruptionskommunikation für derartige Verständigungsprozesse auch in Deutschland hatte.

Daniel Mollenhauer, München

Skandal und Gegenskandal: Die Dreyfusaffäre (1894–1906) I Oktober 1894: Der Nachrichtendienst des französischen Generalstabes macht eine spektakuläre Entdeckung. Aus einem Dokument, das der deutschen Botschaft in Paris entwendet wurde, geht hervor, dass ein Offizier der eigenen Armee dem deutschen Militärattaché von Schwartzkoppen militärische Geheimnisse verraten hat. Das Dokument, genannt das Bordereau, führt die Ermittler schnell zu einem Verdächtigen, dem jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus. Dieser beteuert zwar seine Unschuld, wird aber dennoch von einem Militärgericht für schuldig befunden und anschließend auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guyana verbannt. Nach und nach wird in der Öffentlichkeit bekannt, dass der Prozess zahlreiche Irregularitäten aufwies und zudem einen Unschuldigen traf. Gegen den erbitterten Widerstand des französischen Militärs entwickelt sich eine intensive Kampagne für die Revision des Prozesses; an der Frage scheidet sich die französische Gesellschaft in zwei verfeindete Lager, dreyfusards und antidreyfusards; der Konflikt bringt das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Im Sommer 1899 schließlich kommt es zum ersehnten Revisionsprozess. Nach einem erneuten Schuldspruch wird Dreyfus jedoch vom Präsidenten der Republik begnadigt; erst nach weiteren sieben Jahren wird er in einem dritten Prozess freigesprochen und rehabilitiert.1 In einer universalgeschichtlich angelegten, epochenübergreifenden und weltumspannenden Zusammenschau des Skandals müsste die Dreyfusaffäre, deren ereignisgeschichtliches Grundgerüst ich hier versucht habe in zehn Zeilen

1 Seit der 7-bändigen Histoire de l’Affaire Dreyfus von Joseph Reinach (Paris 1901–1911) sind zahlreiche Gesamtdarstellungen der Dreyfusaffäre erschienen, die zuverlässig den Ablauf der Ereignisse schildern; herausragend aus der neueren Literatur ist Ruth Harris, Dreyfus. Politics, Emotion, and the Scandal of the Century, New York 2010; auf dem aktuellsten Forschungsstand, aber ausschließlich aus der Perspektive der dreyfusards: Vincent Duclert, L’Affaire Dreyfus. Quand la justice éclaire la République, Toulouse 2010; zum Faktengerüst der Affäre weiterhin unübertroffen: Jean-Denis Bredin, L’Affaire, Paris 21993. Die wohl endgültige Biographie Dreyfus’ bietet Vincent Duclert, Alfred Dreyfus. L’honneur d’un patriote, Paris 2006. In deutscher Sprache lesenswert sind Louis Begley, Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte, Frankfurt am Main 2009; Günther Fuchs/Eckard Fuchs, J’accuse. Zur Affäre Dreyfus, Mainz 1994. Als Nachschlagewerk nützlich: Michel Drouin (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus. Dictionnaire, Paris 22006.

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zu resümieren, eine prominente Rolle einnehmen: The Scandal of the Century heißt es – kaum übertrieben – im Untertitel der jüngsten Gesamtdarstellung der Affäre aus der Feder der amerikanischen Historikerin Ruth Harris. Kaum ein anderer Skandal hat so weite Kreise gezogen: Zwölf lange Jahre beschäftigte der Fall des unglücklichen Hauptmanns Alfred Dreyfus die französische Öffentlichkeit, auf dem Höhepunkt der Affäre stellte er alle konkurrierenden Themen und Konflikte weit in den Schatten. Er spaltete die Familien, provozierte die Neugruppierung der Parteien und führte zu Ministerwechseln, Regierungskrisen und sogar zu einem versuchten Staatsstreich. Und kaum ein anderer Skandal traf auf eine vergleichbare Resonanz, quantitativ, geographisch und zeitlich. Schon das zeitgenössische Schrifttum war kaum mehr überschaubar,2 und dies nicht nur in Frankreich. Weltweit wurde die Affäre beobachtet, kommentiert, interpretiert: Sie war ein globales Medienereignis.3 Und ihre Faszination hält bis heute an: Zwischen der Revolution und dem Zweiten Weltkrieg ist die Affäre das bei weitem besterforschte Thema der neueren französischen Geschichte.4 Im Einklang mit der neueren Forschung soll der Begriff des Skandals hier nicht in seiner alltagssprachlichen, normativ-wertenden Bedeutung verstanden werden (wie sie etwa vorkommt in der Wendung „das ist ein Skandal“, um eine bestimmte Verhaltensweise bzw. ein bestimmtes Phänomen als eklatanten Normbruch zu charakterisieren), sondern als ein kommunikatives Phänomen, das sich als ein vierstufiger Prozess darstellt: Auf (1.) einen (tatsächlichen oder angenommenen) Bruch grundlegender, weitgehend konsensueller Verhaltensnormen folgt (2.) die Enthüllung (oder auch nur Identifizierung) der Normverletzung und (3.) der empörte, in der Regel medial vermittelte Appell an die Öffentlichkeit, die Normverletzung zu sanktionieren – sei es, weil die Normverletzung moralischer Art und daher nicht justiziabel ist, sei es, weil den regulären Institutionen (Regierung, Justiz) die angemessene Verfolgung der Schuldigen nicht zugetraut wird,

2 In einer ersten Bibliographie der Schriften, die im Umfeld der Affaire enstanden waren, zählte Paul Desachy 1905 (also noch vor der Rehabilitierung Dreyfus’) nicht weniger als 728 Titel, vgl. Paul Desachy, Bibliographie de l’affaire Dreyfus, Paris 1905. 3 Zu diesem Medienecho vgl. die Studien zur Rezeption der Affäre in: Michel Denis/Michel Lagrée/Jean-Yves Veillard (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus et l’opinion publique en France et à l’étranger, Rennes 1995; Eric Cahm/Pierre Citti (Hrsg.), Les Représentations de l’affaire Dreyfus dans la presse en France et à l’étranger. Actes du colloque de Saint Cyr sur Loire, Tours 1997; daneben (materialreich, aber analytisch schwach): James F. Brennan, The Reflection of the Dreyfus Affair in the European Press, 1897–1899, New York u.a. 1998. 4 Jean-Max Guieu, A Comprehensive Digital Bibliography of the Dreyfus Affair. Its Time and its Legacy. A Supplement to the Lorraine Beitler Collection of the Dreyfus Affair at the University of Philadelphia, http://sceti.library.upenn.edu/dreyfus/docs/Beitler_bibliography7.pdf (Stand: 12.04.2011).

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sei es, dass man neben der justiziellen Ahndung zusätzlich die moralische Verurteilung der Tat für gesellschaftlich notwendig erachtet. Dieser Appell wird (4.) von der Öffentlichkeit in einem Akt der kollektiven Empörung aufgenommen, wodurch sich die Gesellschaft der weiteren Geltung der Normen gegenseitig versichert. Die Aufklärung des Falls wird vorangetrieben, die Schuldigen haben mit Sanktionen zu rechnen (oder ziehen selbst die Konsequenzen aus dem Skandal, indem sie beispielsweise zurücktreten), die Missstände, die dem Skandal zugrunde lagen, werden durch Reformen beseitigt, die Gesellschaft kehrt zum ‚Normalzustand‘ zurück.5 Kurz gefasst könnte man sagen: Ein Skandal ist die erfolgreiche Skandalisierung einer Handlung, Verhaltensweise oder eines Zustandes, der als skandalös empfunden wird. Ich interessiere mich daher im Folgenden weniger für den skandalösen Vorfall an sich (also für den Verrat Esterhazys, den folgenden Justizirrtum und seine anschließende Vertuschung) als vielmehr für den Prozess der Skandalisierung, für das Stimmengewirr der Deutungen, der Meinungen, der Wahrnehmungen und Stilisierungen der Affäre – also für die Frage, wie aus dem erreur judiciaire, dem Justizirrtum, die affaire, der Skandal, werden konnte.6

5 Dieses Modell, das etwa der Soziologe John B. Thompson en détail ausgearbeitet hat (Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000), ist in der neueren Skandalforschung kaum umstritten; aus der inzwischen umfangreichen Literatur vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002; Steffen Burckhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006; Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Stuttgart/Bonn 1992; Rolf Ebbinghausen/ Sieghard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989. 6 Im Französischen wird zwischen scandale und affaire zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch und in der politisch-historischen Sprache nicht unterschieden. Ob ein Vorgang als scandale oder als affaire bezeichnet wird (Scandale de Panama, aber Affaire Dreyfus) scheint keiner systematischen Logik zu folgen. Zumindest hingewiesen sei hier auf den Versuch von Elisabeth Claverie und Luc Boltanski, die forme affaire eng nach dem Modell Calas/Dreyfus zu definieren: Als Anfechtung eines Gerichtsurteils durch einen an die Öffentlichkeit appellierenden médiateur, in deren Verlauf die Ankläger zu Angeklagten werden, vgl. Luc Boltanski/Elisabeth Claverie, „Du monde social en tant que scène d’un procès“, in: ders. u.a. (Hrsg.), Affaire, scandales et grandes causes. De Socrate à Pinochet, Paris 2007, S. 395–452. Dominique Kalifa hat im selben Band gezeigt, dass die meisten Phänomene, die im 19. Jahrhundert als affaire bezeichnet wurden, nicht der forme affaire im Sinne von Boltanski/Claverie zuzurechnen sind, vgl. Dominique Kalifa, „Qu’est-ce qu’une affaire au XIXe siècle?“, in: ebd., S. 197–211. Vgl. zu dieser Problematik auch den Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey in diesem Band.

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II Die Dreyfusaffäre als Skandalgeschichte beginnt in den letzten Tagen des Oktober 1894. Est-il vrai que récemment une arrestation fort importante ait été opérée par ordre de l’autorité militaire? L’individu arrêté est accusé d’espionnage. Si la nouvelle est vraie, pourquoi l’autorité militaire garde-t-elle un silence absolu?

Mit dieser kurzen Notiz gibt die antisemitische Tageszeitung La Libre Parole am 29. Oktober das Signal zu einer schnellen Folge von Enthüllungen, die den Verratsfall im Generalstab öffentlich bekannt machen.7 L’Eclair, Le Soir und La Patrie sind in den nächsten Tagen in der Lage, die Informationen zu ergänzen und zu präzisieren: Der beschuldigte Offizier heißt Alfred Dreyfus, er ist 35 Jahre alt, Artilleriehauptmann im Kriegsministerium – und er ist Jude. Die staatliche Nachrichtenagentur Havas bestätigt (ohne einen Namen zu nennen) am Abend des 31. Oktober den Verratsfall. Aber es ist wiederum die Libre Parole, die ihm seine besondere Dimension verleiht: Am 1. November ist die Nachricht der Aufmacher auf Seite eins: „Haute trahison. Arrestation de l’officier juif A. Dreyfus“.8 Der Scoop ist geglückt, das Thema kann nicht mehr ignoriert werden. Überall ist nun von dem Verratsfall die Rede, weitere ‚Informationen‘, deren Realitätsgehalt zwischen reiner Spekulation und erstaunlicher Präzision schwankt, tauchen nach und nach in den verschiedenen Blättern der Hauptstadt auf, die nun intensiv über den Fall berichten. Die Details des Geheimnisverrats, die Biographie und Karriere des Schuldigen, seine möglichen Motive, die bevorstehende Bestrafung werden dabei ausführlich diskutiert – und zwar noch bevor das eigentliche Verfahren vor dem Militärgericht begonnen hat.9 Die Aufregung sollte den ganzen Winter 1894/1895 über anhalten; das Verfahren vor dem Militärgericht, der Urteilsspruch am 22. Dezember, die entwürdigende Zeremonie der öffentlichen Degradierung am 5. Januar, schließlich die

7 Das Zitat sowie Ablauf und Hintergründe der Indiskretion, die zu dem ersten Artikel in der Libre Parole führten, ausführlich bei Bredin, L’Affaire, S. 108–110. 8 Ein Mitarbeiter der Libre Parole, Jean Drault, hat später berichtet, der Chefredakteur der Zeitung Edouard Drumont (der zu Beginn der Affäre im Brüsseler Exil lebte) habe persönlich durch telefonische Anweisungen darauf bestanden, dem beginnenden Skandal die größtmögliche Aufmerksamkeit zu widmen (vgl. Grégoire Kauffmann, Edouard Drumont, Paris 2008, S. 302). 9 Ausführlich zu der Pressekampagne, die dem Prozess gegen Dreyfus noch vorausging und maßgeblich zur Anklageerhebung beigetragen hat: Eric Cahm, „La première affaire Dreyfus. L’affaire Dreyfus et l’opinion publique en 1894–95“, in: Cahiers de l’Affaire Dreyfus, 1/2003, S. 181–239.

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Deportation des verurteilten Verräters gaben der Presse reichlich Anlass, den Vorfall zu kommentieren und weitere Spekulationen über die Hintergründe anzustellen. Diesen Spekulationen waren dabei kaum Grenzen gesetzt. Da das Gerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, andererseits aber zahlreiche Beteiligte an der Affäre gezielt oder unabsichtlich Teilinformationen preisgaben, kursierte eine Vielzahl von Gerüchten, vertraulichen Nachrichten, Indiskretionen, bei denen es für den außenstehenden Leser bald unmöglich war, die Spreu vom Weizen, Information von Manipulation zu trennen.10 Tatsächlich war das Empörungspotential des Falles groß: Dies lag zunächst am allgemeinen politischen Klima im Frankreich der frühen Dritten Republik. Die Zeitgenossen waren Skandale gewohnt: Das gesamte Jahrzehnt der 1880er Jahre war geprägt von ungezählten größeren und kleineren politischen Affären, die die fundamentalen Auseinandersetzungen um Republik und Monarchie, Laizismus und Klerikalismus, Konservatismus und Sozialreform begleiteten und geradezu als eine spezifische Form dieser Auseinandersetzung begriffen werden können.11 Einige dieser Skandale erregten über mehrere Jahre landesweite Aufmerksamkeit: So hatte in den 1880er Jahren die Insolvenz der katholischen Bank Union générale (1882) die Ressentiments der meist katholischen Anleger gegenüber der republikanischen Regierung und der jüdischen Konkurrenz (Rothschild) angefeuert.12 Der Panama-Skandal um die Bestechung zahlreicher Parlamentarier und Journalisten durch die Panamagesellschaft des greisen Ferdinand de Lesseps hatte Anfang der 1890er Jahre die Öffentlichkeit in Atem gehalten.13 Er erschütterte das Vertrauen in die republikanischen Eliten ebenso wie die sogenannte affaire des décorations um die Machenschaften des Abgeordneten Daniel Wilson, der als 10 Einige dieser Gerüchte – so etwa die Nachricht von dem angeblichen Geständnis Dreyfus’ oder auch die Spekulationen über ein direktes Eingreifen der deutschen Botschaft (oder gar des Kaisers) in das Verfahren – sollten bis zum letzten Revisionsverfahren 1906 nie ganz verstummen. Dass Gerüchte bei der Affäre eine so große Rolle spielten, ist für Skandale alles andere als ungewöhnlich: Das Unsichtbare, Verborgene reizt die Phantasie des Publikums und sorgt für die öffentliche Aufmerksamkeit. Gerade die Frage, was denn noch (oder eigentlich) dahintersteckt, verleiht dem Skandal einen guten Teil seiner Dynamik. 11 Die Geschichte dieser Skandale muss noch geschrieben werden. Erste Ansätze bieten Jean Garrigues, Les scandales de la République. De Panama à l’Affaire Elf, Paris 2004 (insbesondere S. 17–56) und Frederick Brown, For the Soul of France. Culture Wars in the Age of Dreyfus, New York 2010. Leider gänzlich unbrauchbar, ohne jede analytische Tiefe und mit geradezu skandalösen, durch nichts belegten Thesen aufwartend: Jean-Paul Lefebvre-Filleau, Les scandales de la IIIe République, Paris 2005. 12 Vgl. Brown, Soul of France, S. 59–80; Jeannine Verdès-Leroux, Scandale financier et antisémitisme catholique: Le „krach“ de l’union générale, Paris 1969. 13 Vgl. Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama, Paris 1991; Jean Bouvier, Les deux scandales de Panama, Paris 1964.

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Schwiegersohn des Staatspräsidenten vom Elysée-Palast aus jahrelang einen schwunghaften Handel mit den Ernennungen zur Ehrenlegion getrieben hatte.14 Auch die sich in den 1880er Jahren intensivierende Kolonialexpansion und die Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Staat und Kirche wurden regelmäßig von Skandalen begleitet. Schließlich dürfen die Skandale um einzelne politische Persönlichkeiten nicht unerwähnt bleiben: Insbesondere Léon Gambetta, der führende republikanische Politiker in den ersten Jahren des Regimes, war immer wieder das Ziel publizistischer Angriffe von links und von rechts, wobei sowohl seine Lebensführung als auch bestimmte Aspekte seiner Politik den Anlass für das Skandalgeschrei boten.15 Die chronique scandaleuse der frühen Dritten Republik stand in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Presse,16 die die Gerüchte um Korruption und Einflussnahme, um politischen oder militärischen Verrat begierig aufgriff. Durch die technischen Fortschritte im Druckverfahren und die dadurch mögliche Senkung des Preises für populäre Massenblätter auf fünf Centimes (un sou), durch die Erfolge der Alphabetisierung und natürlich durch die Liberalisierung der Gesetzgebung (1881) erlebte diese in den Jahren bis zur Jahrhundertwende einen nie zuvor gekannten Boom. Schon bis 1880 war die Zahl der Tageszeitungen landesweit auf 250 angestiegen; diese brachten es auf eine tägliche Auflage von 2,75 Millionen. Die Expansion sollte sich bis 1914 kontinuierlich fortsetzen; Le Petit Parisien, die größte Zeitung des Landes, erreichte 1910 eine Auflage von 1,4 Millionen; drei weitere Blätter (Le Petit Journal, Le Matin, Le Journal) rangierten nur knapp dahinter. Kommerzialisierung und Politisierung prägten den Journalismus des Finde-siècle: Zeitungen dienten als Parteiersatz (organisierte Parteien entwickelten sich erst nach der Jahrhundertwende) und als Vehikel der Machtinteressen ambitionierter Politiker; Zeitungen waren aber gleichzeitig Spekulationsobjekte profitorientierter Investoren, die auf hohe Auflagen und schnelle Gewinne hofften. Beide Trends begünstigten die Bereitschaft der Journalisten, aktiv am Aufspüren und am publizistischen Ausschlachten tatsächlicher oder vermeintlicher Missstände mitzuwirken: Die Skandale der Dritten Republik waren Medienskandale (Steffen Burkhardt) – ohne das Eigengewicht und die eigene aktive Rolle der Medien, insbesondere der Tagespresse, waren sie nicht denkbar. Tatsächlich betrieben

14 Vgl. Adrien Dansette, L’Affaire Wilson et la chute du Président Grévy, Paris 1936; Michael Palmer, „Daniel Wilson and the Decorations Scandal of 1887“, in: Modern and Contemporary France, 1/1993, S. 139–150. 15 Vgl. James R. Lehning, „Gossiping about Gambetta: Contested Memories in the Early Third Republic“, in: French Historical Studies, 18/1993, 1, S. 237–254. 16 Zum Folgenden vgl. Christophe Charle, Le siècle de la presse (1830–1939), Paris 2004, S. 129–167.

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viele Blätter einen ausgesprochenen Kampagnenjournalismus; man kann sagen, dass Skandale, tatsächliche oder vermeintliche, ihr täglich Brot waren. Die Kampagnen des Polemisten Henri Rochefort zunächst gegen Gambetta und dann, stärker noch, gegen Jules Ferry in den 1880er Jahren können hier als stilprägend angesehen werden. Stets traf man dabei auf eine explosive Mixtur aus Ressentiments und Gerüchten, aus betont vulgärer und aggressiver Diktion und extremer Dramatisierung. Zum Ende des Jahrzehnts hatte diese Entwicklung in der Boulangerkrise mit ihren medialen Schlammschlachten zwischen Anhängern und Gegnern des ambitionierten Generals ihren traurigen Höhepunkt erreicht.17 Viele der Merkmale, die diese Kampagnen geprägt hatten, sollten sich auch in der Dreyfusaffäre wiederfinden. Hier kam hinzu, dass es sich bei der Affäre um Spionage und Geheimnisverrat naturgemäß um ein äußerst sensibles Terrain handelte.18 Einerseits war der Kult um die Nation, die nationale Verteidigung und die nationale Armee eines der wenigen Felder, auf denen sich Linke und Rechte grundsätzlich einig wussten,19 andererseits war die konkrete Ausgestaltung gerade der Militärpolitik zwischen beiden Lagern besonders heftig umkämpft, wie noch Ende der 1880er Jahre die Debatten um das neue Wehrgesetz gezeigt hatten.20 Aber dass militärischer Verrat ein durch nichts zu rechtfertigender Normbruch war, darüber herrschte zwischen den Parteien völlige Einigkeit; sie überboten sich geradezu in Erklärungen ihrer Abscheu vor der Tat des Offiziers, dessen Schuld kaum einmal angezweifelt wurde. Nicht unerheblich war zuletzt die Tatsache, dass der Verdächtige Jude war. Ein hochrangiger jüdischer Offizier war auch hundert Jahre nach der Emanzipation noch eine große Ausnahme. Auch wenn man sich vor der Vorstellung hüten sollte, das Frankreich des Fin-de-siècle sei flächendeckend offen oder latent antisemitisch gewesen,21 so waren antisemitische Vorurteile und Stereotypen

17 Zur Boulangerkrise vgl. Jean Garrigues, Le général Boulanger, Paris 1991; Jacques Néré, Le Boulangisme et la presse, Paris 1964. 18 Vgl. Allan Mitchell, „La mentalité xénophobe: le contre-espionnage en France et les racines de l’affaire Dreyfus“, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 29/1982, S. 489–499. 19 Vgl. Jean-Jacques Becker/Stéphane Audoin-Rouzeau, La France, la nation, la guerre, 1850– 1920, Paris 1995. 20 Vgl. Gerd Krumeich, „Zur Entwicklung der ‚nation armée‘ in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg“, in: Roland G. Foerster (Hrsg.), Die Wehrpflicht, München 1994, S. 133–145; umfassend zum Hintergrund André Bach, L’armée de Dreyfus: une histoire politique de l’armée française de Charles X à l’Affaire, Paris 2004; Guy Pedroncini (Hrsg.), Histoire militaire de la France, Bd. 3: De 1871 à 1940, Paris 1992. 21 Die Auswertungen der Presseberichterstattung zum Beginn der Affäre zeigen deutlich, dass gerade in der republikanischen Presse die jüdische Herkunft Dreyfus’ kaum eine Rolle gespielt hat, vgl. Cahm, „La première affaire Dreyfus“, S. 192–213.

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doch weit verbreitet; während der Boulangeraffäre hatte es auch erste Versuche gegeben, diese Vorurteile politisch zu instrumentalisieren. Viele Katholiken hielten an der traditionellen Ablehnung der ‚Christusmörder‘ fest; im sozialistischen Milieu wurde – nach dem Vorbild des Fourier-Schülers Alphonse de Toussenel – vielfach Juden eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Finanzkapitals zugeschrieben; Nationalisten wie Maurice Barrès zweifelten an der nationalen Zuverlässigkeit der Juden.22 So war die jüdische Identität Dreyfus’ in dieser ersten Phase zwar sicherlich kein zentraler Aspekt der öffentlichen Debatte, aber doch ein Element, das dem Fall zusätzliche Brisanz verlieh und Aufmerksamkeit sicherte. Dennoch: Eine spannungsgeladene Atmosphäre und ein sensibles Thema allein machen noch keinen Skandal. Dieser braucht einen (oder mehrere) aktive Promoter, die zum einen Zugang zu Informationen haben (und somit die Funktion des Enthüllers ausfüllen können), zum anderen ein (weltanschauliches oder materielles) Interesse an der medialen Aufmerksamkeit besitzen (und somit als Empörer fungieren). Tatsächlich lassen sich im Herbst 1894 deutlich zwei solche Promoter des Skandals identifizieren: Édouard Drumont und Henri Rochefort.23 Drumont, der aus dem ultramontanen Katholizismus kam, hatte 1886 mit der Kampfschrift La France juive die Bibel des modernen französischen Antisemitismus geschrieben und maßgeblich dazu beigetragen, den Hass auf die Juden zu einem Thema der politischen Agitation zu machen.24 Seit 1892 verfügte er mit der Libre parole über eine eigene Tageszeitung, deren Credo und raison d’être allein der Antisemitismus war. Für Drumont war die Nachricht von der Verhaftung des jüdischen Offiziers in der Tat ein Geschenk des Himmels: Nun hatte er den 22 Das Standardwerk zum Antisemitismus des Fin-de-siècle ist immer noch Stephen Wilson, Ideology and Experience. Antisemitism in France at the Time of the Dreyfus-Affair, Rutherford 1982. Vgl. daneben Michel Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1990; Pierre Sorlin, „La Croix“ et les Juifs 1880–1899. Contribution à l’histoire de l’antisémitisme contemporain, Paris 1967; Michel Dreyfus, L’antisémitisme à gauche. Histoire d’un paradoxe, de 1830 à nos jours, Paris 2009; Nancy L. Green, „Socialist Anti-Semitism, Defense of a Bourgeois Jew and Discovery of the Jewish Proletariat. Changing Attitudes of French Socialists before 1914“, in: International Review of Social History, 8/1985, S. 374–399; Zeev Sternhell, „The Roots of Popular Anti-Semitism in the Third Republic“, in: Frances Molino/Bernard Wasserstein (Hrsg.), The Jews in Modern France, Hanover/New England 1985, S. 103–134; Marc Angenot, Ce que l’on dit des Juifs en 1889. Antisémitisme et discours social, Saint-Denis 1989. 23 Die Rolle von Rochefort und Drumont betont Eric Cahm, „Les débuts de l’affaire Dreyfus revus et corrigés: le général Mercier face à Drumont et à Rochefort en 1894“, in: Modern and Contemporary France, 40/1990, S. 3–15. 24 Zur Karriere Drumonts vgl. die ausgezeichnete Biographie von Grégoire Kauffmann, Edouard Drumont, Paris 2008, sowie das ältere Werk von Frederick Busi, The Pope of Antisemitism. The Career and Legacy of Edouard-Adolphe Drumont, Lauham-London 1986.

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Skandal, den er jahrelang vorhergesagt hatte. So hatte er seit Mai 1892 in seinem Blatt eine Kampagne gegen die jüdische ‚Unterwanderung‘ der französischen Armee geführt; unter dem Titel Les Juifs dans l’armée war eine Artikelserie erschienen, in der das Eindringen der Juden in eine der letzten Bastionen des ‚wahren Franzosentums‘ beklagt worden war.25 Die Kampagne hatte hohe Wellen geschlagen, insbesondere nachdem ein jüdischer Offizier namens Meyer bei einem der zahlreichen Duelle, die den denunziatorischen Artikeln gefolgt waren, getötet worden war. Drumont hatte in diesem Zusammenhang scharfe Kritik für seine Anstachelung zum Rassen- oder Religionskrieg einstecken müssen; der tatsächliche Verrat eines jüdischen Offiziers musste ihm daher wie eine nachträgliche Rehabilitation vorkommen. Auch dass dabei der Schuldige Dreyfus hieß, konnte ihn kaum überraschen: Schon in La France juive26 lassen sich zahlreiche Attacken gegen Juden dieses Namens nachweisen; auch in der genannten Artikelserie hatte er vor den „Cahen, […] Dreyfus et […] corréligionnaires“ gewarnt; Anfang des Jahres 1894 war ausführlich über eine affaire Dreyfus, antisemitische Ausschreitungen in Südamerika gegen einen Geschäftsmann dieses Namens, berichtet worden. Einen weiteren Dreyfus, den linksrepublikanischen Abgeordneten Camille Dreyfus, hatte Drumont ebenfalls schon seit langem im Visier, einerseits, weil er in den Panama-Skandal verwickelt war, andererseits, weil er zu denjenigen gehörte, die früh schon öffentlich vor dem wachsenden Antisemitismus im Land gewarnt hatten. Einen kongenialen Mitstreiter fand Drumont in Henri Rochefort, dem Herausgeber und Chefredakteur des Intransigeant.27 Rocheforts Wurzeln lagen im Lager der Linken; er hatte als oppositioneller Journalist im Kaiserreich große Popularität erlangt, war als Sympathisant der Pariser Kommune deportiert worden und hatte jahrelang im Exil gelebt. Nach seiner Rückkehr hatte er seine Zeitung gegründet, mit der er an der Schnittstelle von Linksrepublikanismus und Sozialismus gegen die gemäßigt-republikanischen Regierungen des sogenannten Opportunismus agitierte. Schon während der Boulangerkrise Ende der 1880er Jahre

25 Zum Folgenden vgl. Kauffmann, Drumont, S. 256–263; Pierre Birnbaum, „Dreyfus avant Dreyfus. Drumont et la mise en scène de l’affaire“, in: Mil neuf cent, 11/1993, S. 71–76. 26 Édouard Drumont, La France juive, Paris 1886. 27 Zur Person Rocheforts vgl. Jean Garrigues, „Henri Rochefort (1831–1913)“, in: Michel Drouin (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus de A à Z, Paris 1994, S. 266–270; Michel Winock, „Rochefort: la Commune contre Dreyfus“, in: Mil neuf cent 11/1993, S. 82–86. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie Rocheforts fehlt weiterhin; brauchbar ist Roger L. Williams, Henri Rochefort, Prince of the Gutter Press, New York 1966. Claude-Jean Girard, Un polémiste à Paris: Henri Rochefort, Paris 2003 ist eine kommentierte Kompilation der Leitartikel Rocheforts und kann wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen.

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hatte er sich wegen seines Nationalismus und seines Antiparlamentarismus der extremen Rechten angenähert; er sollte von nun an zu denjenigen Kräften zählen, die Zeev Sternhell als die droite révolutionnaire, die revolutionäre Rechte bezeichnet hat.28 Drumont und Rochefort gelang es auch deshalb, aus dem noch kaum bekannten Spionagefall einen politischen Skandal zu machen, weil sie von Beginn an insinuierten, die (republikanische) Regierung und insbesondere ihr Kriegsminister Ernest Mercier seien unfähig oder unwillig, den Fall aufzuklären und zu bestrafen.29 Eifrig werde hinter den Kulissen daran gearbeitet, den Verräter ungeschoren davonkommen zu lassen.30 Während es in Drumonts Augen jüdische Seilschaften aus Politik und Finanzwelt waren, die alles daran setzten, einen der Ihren zu retten, machte Rochefort das verhasste gemäßigt-republikanische politische Establishment verantwortlich. Die beiden Journalisten und die von ihnen geleiteten Redaktionen politisierten und dramatisierten die Ereignisse; aus dem Einzelfall wurde so die Spitze eines Eisberges, dessen verborgene Seite nur durch die weitere Arbeit der wachsamen Öffentlichkeit hätte sichtbar gemacht werden können, als deren Vorkämpfer sich Rochefort wie Drumont verstanden. Beide argumentierten erkennbar – durchaus typisch für den Beginn eines modernen politischen Skandals – aus einer underdog-Position heraus gegen ein als verbrecherisch und korrupt wahrgenommenes (oder dargestelltes) Establishment, das für die vorhandenen Missstände entweder selbst verantwortlich ist oder aber (aus welchen Gründen auch immer) ihre Aufdeckung verhindert. Dieses Establishment wurde durch die Pressekampagne der beiden Journalisten und ihrer Kollegen unter erheblichen Erfolgsdruck gesetzt – umso mehr, als die ‚Enthüllung‘ zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Ermittlungen in eine Sackgasse geraten waren, Dreyfus das Geständnis hartnäckig verweigerte und weder die Suche nach eindeutigen Beweisen noch das Forschen nach einem plausiblen Motiv Fortschritte machte. Angesichts der Vehemenz der Kampagne, die durch die Notiz der Libre Parole losgetreten wurde, war an einen Rückzug (etwa durch ein Fallenlassen der Anklage) kaum mehr zu denken. Vor die Wahl gestellt, sich als standhafte Verteidiger des Vaterlandes zu beweisen oder aber als Komplizen eines Verräters an den Pranger gestellt zu werden, entschieden sich die Verantwortlichen für den Weg der Popularität – innerhalb weniger Tage wurde Kriegs-

28 Vgl. Zeev Sternhell, La droite révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme, 1885–1914, Paris 1978. 29 Vgl. etwa O. Pain, „Crime de haute trahison“, in: L’Intransigeant, 04.11.1894, S. 2. 30 H. Rochefort, „Alliance brisée“, in: L’Intransigeant, 05.11.1894, S. 1; ders., „Sans importance“, ebd.; ders., „Irresponsable“, ebd. 06.11.1894, S. 1.

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minister Mercier von eben den Blättern, die ihm gerade noch unverhohlen gedroht hatten, in den Status eines Helden gehoben.31 Die Skandalisierer konnten ihre Kampagne also durchaus als Erfolg verbuchen, auch wenn die Öffentlichkeit ihnen nicht in allen Punkten – etwa der kollektiven Verantwortung der Juden – gefolgt war. Insofern konnte es nicht verwundern, dass sie weiteren Profit aus dem einmal gewonnenen Kapital schlagen wollten und den Fall nicht so leicht aus den Augen verloren. Tatsächlich sollte der Skandal in periodischen Abständen erneut aufflackern. So provozierte die Nachricht von der angeblichen Flucht Dreyfus’ von der Teufelsinsel, die im September 1896 von einer englischen Zeitung publiziert wurde (tatsächlich auf Initiative von Mathieu Dreyfus, der verhindern wollte, dass der Fall in Vergessenheit geriet), heftige Angriffe der nationalistischen und antisemitischen Presse auf den Gefangenen, seine Familie und auf seine reichen Unterstützer, die bereits Millionen von Francs in die Flucht ihres Glaubensgenossen investiert haben sollten.32 Wenige Wochen später interpellierte der nationalistische Abgeordnete André Castelin die Regierung „sur la complaisance du gouvernement à l’égard de Dreyfus et de ses amis“.33 Vorfälle dieser Art lassen sich mit dem amerikanischen Soziologen John B. Thompson als „sekundäre“ Skandale bezeichnen, die sich nicht mehr auf die ursprüngliche Tat bzw. das ursprüngliche Ereignis beziehen, sondern letztlich Folgen von diesen sind (klassisch: der Versuch, das ursprüngliche Vergehen zu vertuschen).34 In der Wahrnehmung der Nationalisten und Antisemiten ging es genau darum: Sie wachten darüber, dass die Versuche (der Juden), Dreyfus zu befreien und das Urteil von 1894 zu revidieren, zunichte gemacht wurden. Im Fokus war dabei nun weniger die Regierung als vielmehr das schon bald so genannte syndicat der dreyfusards, Mathieu Dreyfus, der Bruder des Verurteilten, und die von ihm (angeblich oder tatsächlich) angeheuerten Agenten der Revision wie der Schriftsteller Bernard Lazare, der Abgeordnete Joseph Reinach oder der Senator Auguste Scheurer-Kestner. Sie waren es, auf die sich die Empörung der öffentlichen Meinung bis wenigstens Ende 1897 fast ausschließlich konzentrierte: Diskordante Stimmen hatten, auch wenn zumindest die irregulären Umstände des Prozesses längst erkennbar waren, kaum eine Chance, Gehör zu finden. Es ist in dieser Situation signifikant, dass auch die linksrepublikanischen und sozialistischen Parteien und die ihnen nahe stehende Presse kaum

31 „La coulisse de la trahison“, in: L’Intransigeant, 09.11.1894, S. 1; H. Rochefort, „Un nouveau Boulanger“, ebd., 14.12.1894, S. 1. 32 Vgl. Bredin, L’Affaire, S. 229 f. 33 Castelins Rede ist abgedruckt in: „Le Parlement et l’Affaire Dreyfus. Douze années pour la vérité“, in: Cahiers Jean Jaurès 40/1998, 147, S. 32–38. 34 Thompson, Scandals, S. 24.  

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von dem allgemeinen Tenor abwichen: Dreyfus sei rechtskräftig und rechtmäßig verurteilt worden; die Kampagne für die Revision des Prozesses sei, wie Alexandre Zévaès in der Petite République aus Anlass der ersten Broschüre von Bernard Lazare „Une erreur judiciaire“ schrieb, „une nouvelle manœuvre dans la campagne sournoisement engagée par les journaux de la finance et de la juiverie pour faire douter l’opinion de la culpabilité du traître.“35 Auch die Dépêche de Toulouse, Hausblatt der Linksrepublikaner, beteiligte sich an den Spekulationen über das syndicat juif, das sich um die Freilassung des Verräters bemühte.36 Die affaire Dreyfus (der Name ist längst etabliert, der Versuch des Ministerpräsidenten Jules Méline, ihre Existenz zu leugnen, ist zum Scheitern verurteilt)37 stellt sich zu diesem Zeitpunkt aus der Sicht eines durchschnittlichen Zeitungslesers wie folgt dar: Ein jüdischer Offizier begeht Landesverrat, die öffentliche Meinung bekommt Wind davon und sorgt für die prompte und gerechte Verurteilung; die einflussreichen Freunde des Verräters geben nicht auf, suchen nach Mitteln und Wegen (indem sie ihre Netzwerke bis in höchste Stellen des Staates ausnutzen), ihren Vertrauten vor der verdienten Strafe zu schützen.38

III Es gehört zu den Ironien der Dreyfusaffäre, dass letztlich gerade diejenigen, die am lautesten die Schuld des jüdischen Offiziers bekräftigten, den Prozess der Revision in Gang brachten.39 In der Absicht, das Urteil des Militärgerichts zu verteidigen, hatte die Zeitung L’Eclair schon 1896 von den Geheimdokumenten berichtet, die während des Verfahrens den Richtern vorgelegt worden waren und angeblich den unumstößlichen Beweis gegen Dreyfus beinhalteten. Damit war klar, dass das Bordereau, das eigentliche Corpus Delicti (das einzige Dokument, das dem Angeklagten und der Verteidigung vorgelegt worden war), nicht für die Verurteilung ausgereicht hatte. Dem Massenblatt Le Matin, ebenfalls der Sympathien für Dreyfus

35 Zitiert nach Patrick Boussel, L’Affaire Dreyfus et la presse, Paris 1960, S. 105. 36 Vgl. ebd., S. 138. 37 Méline hatte Ende 1897, als der Fall Dreyfus erneut vor der Abgeordnetenkammer diskutiert wurde, kategorisch erklärt: „Il n’y a pas d’Affaire Dreyfus“, da es ein rechtmäßig zustande gekommenes Gerichtsurteil gebe, das es zu respektieren gelte („Le Parlement et l’Affaire Dreyfus“, S. 40, Hervorhebung im Original). 38 Zola hat das Phantasma des „Syndikats“ in einem seiner Artikel für den Figaro im Dezember 1897 ausgezeichnet analysiert, vgl. Emile Zola, Die Dreyfus-Affäre. Artikel – Interviews – Briefe, Alain Pagès (Hrsg.), Karl Zieger (Übers.), Innsbruck 1998, S. 69–76. 39 Zum Folgenden vgl. Bredin, L’Affaire, S. 197–293.

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unverdächtig, war es 1897 gelungen, ein Faksimile des Bordereau abzudrucken; es ermöglichte Dreyfus’ Verteidigern, auf eigene Faust Schriftvergleiche durchzuführen, was schließlich durch einen Zufall im November 1897 auf die Spur des eigentlichen Verräters Esterhazy führen sollte. Vorher schon hatte Oberst Georges Picquart, der 1896 an die Spitze des Nachrichtendienstes beim Generalstab gerückt war, ebenfalls den Justizirrtum entdeckt. Bei seinen Versuchen, den Fall innerhalb der militärischen Institution aufzuklären, war er auf den konzertierten Widerstand seiner Vorgesetzten und Mitarbeiter gestoßen; über Umwege gelangten Picquarts Erkenntnisse schließlich ebenfalls an die noch kleine Gruppe der dreyfusards. Spätestens Ende 1897 war diesen daher in groben Zügen klar, was 1894 tatsächlich passiert war: Sie kannten den wahren Schuldigen, sie wussten, welche groben Rechtsverletzungen während des Prozesses stattgefunden hatten, sie hatten außerdem Kenntnis über die Weigerung des Generalstabes, den Fehler einzugestehen und selbst für Aufklärung des Justizirrtums zu sorgen. Was sie nicht wussten, war, dass das Dossier gegen den unschuldig verurteilten Dreyfus inzwischen systematisch durch gezielt gefälschte Beweise ergänzt worden war und dass der Schuldige, Esterhazy, ebenso systematisch durch die militärischen Autoritäten in Generalstab und Kriegsministerium gedeckt wurde. Diese Dimensionen der Affäre sollten erst in der nächsten Etappe der Entwicklung, im Laufe des Jahres 1898, an die Oberfläche gelangen. Wann aber wurde aus diesen ersten Erkenntnissen der dreyfusards ein Skandal, der ‚Gegenskandal‘? Tatsächlich weigerten sich die beiden zentralen Akteure der Revision – Mathieu Dreyfus, „l’admirable frère“, auf der einen Seite, Oberst Picquart auf der anderen Seite – lange Zeit, die von ihnen aufgedeckten skandalösen Vorkommnisse publik zu machen, an die Öffentlichkeit zu appellieren und damit den Weg der öffentlichen Empörung einzuschlagen – also den Skandal auszulösen. Beide hatten für diese Haltung gute Gründe: Picquart blieb als Offizier Teil der militärischen Hierarchie und fühlte sich zur im Wortsinne unbedingten Loyalität gegenüber seinen Vorgesetzten verpflichtet: „La protestation publique qui fonde l’art politique en démocratie est pour lui, n’en doutons pas, une affaire de civils“, so charakterisiert Christophe Prochasson die Haltung Picquarts.40 Schon die Tatsache, dass er aus der berechtigten Angst heraus, ihm könne etwas zustoßen, seinen Anwalt in die Affäre einweihte, bereitete ihm größte Gewissensbisse, die er nur

40 Christophe Prochasson, „Le Colonel Georges Picquart ou la vertu cachée“, in: Mil neuf cent 11/ 1993, S. 15–20. Zur Karriere Picquarts vgl. ausführlich Christian Vigouroux, Georges Picquart, dreyfusard, proscrit, ministre: La justice par l’exactitude, Paris 2008; sowie Francis de Pressensé, Un héros: le colonel Picquart, Paris 1898. Picquart galt vielen Zeitgenossen als der eigentliche „Held“ der Affäre, da er gänzlich uneigennützig, ausschließlich aus Gewissensgründen gehandelt habe und nicht mit der Familie des Angeklagten verbunden war.

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ertragen konnte, weil er den Anwalt wiederum zu strikter Geheimhaltung verpflichtet hatte. Picquart sollte sich von dieser Haltung erst lösen, als er seinerseits zum Opfer gezielter Angriffe seiner ehemaligen Kollegen im Generalstab geworden war und selbst um seine Ehre (und seine berufliche Zukunft) zu kämpfen hatte. Aber auch Mathieu Dreyfus bevorzugte zunächst den nicht-öffentlichen Weg durch die Institutionen, Eingaben an Parlament und Ministerium, persönliche Kontakte zu Abgeordneten, zu Ministern, zum Präsidenten der Republik: Einerseits, weil er (wie sein Bruder auch) von deren regelkonformem Funktionieren überzeugt war, andererseits, weil er sich bewusst sein musste, dass er bei einer Auseinandersetzung auf dem Marktplatz der Meinungen durch das Sperrfeuer der Gegenseite zwangsläufig unterliegen würde.41 Die ersten dreyfusards, das ist festzuhalten, fanden durch persönliche Kontakte zusammen, nicht durch mediale Vermittlung und öffentlichen Appell. Ihr Anliegen war die Korrektur eines Justizirrtums, also eines professionellen Fehlers in einem Einzelfall – nicht das öffentliche Anprangern eines Missstandes von allgemeiner Bedeutung.42 Der Schritt zur öffentlichen Empörung, das Auslösen des Gegenskandals, war erst das Werk von Zola; das war der „revolutionäre Akt“ (so der Sozialist Jules Guesde, der selbst ein Engagement zugunsten des bürgerlichen Offiziers ablehnte) seines „J’accuse“, des offenen Briefes an den Präsidenten der Republik, der am 13. Januar 1898 als Aufmacher die gesamte erste Seite der Tageszeitung L’Aurore füllte. Auch für Zola war dies zunächst keine Selbstverständlichkeit; er war zwar schon seit Anfang November von der Unschuld Dreyfus’ überzeugt und hatte seiner Überzeugung in verschiedenen Schriften, die er zumeist im konservativgutbürgerlichen Figaro veröffentlichte, Ausdruck verliehen.43 Zola zeigte hier Mitleid mit dem Gefangenen auf der Teufelsinsel und Bewunderung für den Politiker Auguste Scheurer-Kestner;44 er kritisierte die antisemitische Stimmung, die in

41 Zur Haltung Mathieus vgl. Michael Burns, Histoire d’une famille française: Les Dreyfus. L’émancipation, l’affaire, Vichy, Paris 1994, S. 223 f.; Robert Gauthier, „Dreyfusards!“ Souvenirs de Mathieu Dreyfus et autres inédits, Paris 1990. 42 Symptomatisch für das Vorgehen Mathieus ist die von ihm selbst initiierte Broschüre von Bernard Lazare, Une erreur judiciaire. La vérité sur l’affaire Dreyfus, Brüssel 1896, deren Erscheinen erst lange zurückgehalten wurde, um dann direkt an einflussreiche Persönlichkeiten verschickt zu werden; sie war gerade nicht im Ton der Anklage geschrieben. 43 Die drei Artikel Zolas wurden im Figaro am 25.11., 01.12. und 05.12.1897 veröffentlicht; die „Lettre à la jeunesse“ und die „Lettre à la France“ erschienen im Dezember selbständig als Broschüren; alle sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Zola, Die Dreyfus-Affäre, S. 62–101; eine ausgezeichnete Analyse der frühen Interventionen Zolas bietet Richard Griffiths, The Use of Abuse. The Polemics of the Dreyfus Affair and its Aftermath, New York/Oxford 1991, S. 121–141. 44 Scheurer-Kestner, der Vizepräsident des Senats, war der erste führende Politiker, der öffentlich zugunsten von Dreyfus Stellung bezogen hatte, nachdem ihn Picquarts Anwalt Louis Leblois  

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Teilen der Gesellschaft um sich griff. Allen diesen Schriften fehlte jedoch der empörte, anklagende, dramatische Ton, der dann „J’accuse“ prägen sollte – und ohne den der Skandal kaum denkbar ist.45 Aber inzwischen hatten sich die Rahmenbedingungen geändert: Am 12. Januar war Esterhazy, der von der Familie Dreyfus Ende November öffentlich als der eigentliche Schuldige identifiziert worden war, von einem Pariser Militärgericht freigesprochen worden – in einem Verfahren, das allen rechtsstaatlichen Verfahrensregeln Hohn sprach. Das Versagen der regulären Institutionen, auf die man so lange gesetzt hatte, war offensichtlich geworden. Anders als noch wenige Wochen zuvor setzen daher nun auch die dreyfusards auf den Angriff, den Appell an die öffentliche Meinung, die Mobilisierung der Gesellschaft gegen die Institutionen, in die man kein Vertrauen mehr hatte. Der veränderte Ton wird bereits im Titel von Zolas Artikel deutlich. Die Idee Clemenceaus, das am Ende des Textes im Stakkato vorgetragene „Ich klage an…“ als Überschrift zu verwenden, lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es sich um mehr handelt als um einen einfachen Kommentar zur Lage.46 Dafür, dass der gewünschte Zweck, nämlich eine größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit, auch erreicht wurde, garantierten zum einen die Persönlichkeit und das Prestige des Autors, zum anderen das gezielte Marketing der Zeitung. Zola war ohne Zweifel der prominenteste französische Autor seiner Generation; er befand sich auf dem Gipfel seines Ruhms, fünf Jahre hatte er als Präsident der Société des gens de lettres vorgestanden, den monumentalen Romanzyklus der Rougon-Macquart hatte er abgeschlossen, seine Romane erzielten regelmäßig hohe Auflagen. Aber Zola polarisierte auch, er war ein gestandener Polemist, der mit Verve sein Literaturverständnis gegen die zum Teil vehementen Angriffe seiner Kritiker verteidigt und auch regelmäßig in politische und soziale Debatten der Gegenwart eingegriffen hatte. Die Verantwortlichen der Aurore

über die Hintergründe der Affäre informiert hatte. Dies führte im November 1897 zu einer hemmungslosen Verleumdungskampagne der Dreyfusgegner in der Presse. 45 Explizit grenzt sich Zola in dem Artikel „Scheurer-Kestner“ von den ‚Skandalisierern‘ der anderen Seite ab, jenen „Zeitungen, die die einen irre machen und die anderen in Angst und Schrecken versetzen, die von Skandalen leben und damit ihre Auflagen verdreifachen“. Es geht, schreibt Zola, um einen einfachen Justizirrtum, der zu korrigieren ist; „der wahre Fehler würde erst darin bestehen, dass man selbst angesichts der deutlichsten Beweise darauf beharrt, sich nicht geirrt zu haben“, Zola, Die Dreyfus-Affäre, S. 65. 46 Clemenceau war seit 1897 politischer Direktor der linksrepublikanischen Zeitung L’Aurore; kurioserweise ist diese mittelbar aus einem hausinternen Streit des Intransigeant, der Zeitung Rocheforts, hervorgegangen, für die sowohl der Verleger Ernest Vaughan als auch verschiedene Redakteure (so auch Paul Dubois, der 1894 für den Intransigeant vom ersten Prozess gegen Dreyfus berichtet hatte) lange Zeit gearbeitet hatten. Zur Publikationsgeschichte von „J’accuse“ vgl. Alain Pagès, 13 janvier 1898: J’accuse…!, Paris 1998.

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trugen das Ihrige zum Erfolg des ‚offenen Briefes‘ Zolas bei. Die Auflage der nur wenige Wochen zuvor gegründeten, bis dahin keineswegs ein Massenpublikum bedienenden Zeitung wurde um das Zehnfache erhöht, seit dem frühen Morgen rührten die camelots, die im Paris des Fin-de-siècle omnipräsenten Zeitungsausrufer, die Werbetrommel für Zolas Pamphlet. Die Resonanz war in der Tat enorm. Tatsächlich gelang es Zola (und seinen Mitstreitern) schlagartig, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und die Affäre ganz oben auf der politischen Agenda des beginnenden Jahres zu platzieren.47 Gewiss waren die Reaktionen der Öffentlichkeit zunächst keineswegs mehrheitlich positiv: Sowohl im Parlament (das mit großer Mehrheit die Regierung aufforderte, die Kampagne der dreyfusards zu stoppen) als auch auf der Straße (wo es in zahlreichen Städten zu antisemitischen Ausschreitungen kam) und in den Medien dominierten zunächst die Dreyfusgegner.48 Dennoch: „J’accuse“ setzte eine Entwicklung in Gang, in deren Verlauf sich das Lager der dreyfusards kontinuierlich erweiterte. Dies war nicht zuletzt das Verdienst der intellectuels, der Wissenschaftler, Schriftsteller oder Künstler, die den Elfenbeinturm verließen und sich an der Seite und nach dem Vorbild Zolas in der Affäre engagierten.49 Aber „J’accuse“ leistete noch mehr, es brachte auch das juristische Verfahren, das mit dem Esterhazy-Prozess eigentlich zu einem definitiven Ende gekommen war, erneut in Gang: Durch die gezielte Provokation der militärischen Führungskräfte hatte Zola auf eine Verleumdungsklage und ein Gerichtsverfahren spekuliert, das ihm Gelegenheit geben würde, die Richtigkeit seiner Behauptungen – und damit die Unschuld Dreyfus’ – vor einem zivilen Gericht zu beweisen; ein Schachzug, durch den es auch gelang, der Affäre die dauerhafte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu sichern. Dass der zweite Teil des Dramas mit dem Artikel Zolas begann, ist schon von den zeitgenössischen Chronisten der Affäre zu Recht immer wieder bezeugt

47 Zur Rezeption von J’accuse vgl. Karl Zieger (Hrsg.), Emile Zola, ‚J’accuse…!‛ Réactions nationales et internationales, Valenciennes 1999. 48 Zur Parlamentsdebatte vom 13. Januar 1898 vgl. Le Parlement et l’Affaire Dreyfus, S. 57–68; zu den antisemitischen Ausschreitungen vgl. Wilson, Ideology and Experience, S. 106–124; Pierre Birnbaum, Le moment antisémite. Un tour de la France en 1898, Paris 1998. 49 Ganze Bibliotheken sind über das Engagement der Intellektuellen geschrieben worden, die hier erstmals als Gruppe wahrgenommen wurden und als Gruppe aufgetreten sind; genannt seien hier nur Andreas Franzmann, Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt am Main 2004; Roselyne Koren/Daniel Mikhman (Hrsg.), Les intellectuels face à l’Affaire Dreyfus, alors et aujourd’hui. Actes du colloque de Ramat Gan 1994, Paris 1998; Christophe Charle, Naissance des „intellectuels“, 1880–1900, Paris 1990; Ders., „Champ littéraire et champ du pouvoir: les écrivains et l’affaire Dreyfus“, in: Annales E.S.C., 32/1977, S. 241–264; Géraldi Leroy (Hrsg.), Les écrivains et l’affaire Dreyfus. Actes du colloque organisé par le Centre Charles Péguy et l’Université d’Orléans (29.–31.10.1981), Paris 1983.

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worden.50 Blicken wir daher etwas näher auf die argumentative Struktur des Textes.51 Zola bietet zunächst eine in sich kohärente, stimmige Erzählung der Affäre in zwei Akten: Am Anfang steht der Justizirrtum des ersten Militärgerichts, den er im Großen und Ganzen korrekt wiedergibt, wenn er auch die Rolle einzelner Akteure des Dramas falsch einschätzt;52 darauf folgt der Widerstand gegen eine Revision des Prozesses und die Protektion des eigentlichen Schuldigen Esterhazy, die am 11. Januar mit dem Freispruch vor dem zweiten Militärgericht ihren skandalösen Höhepunkt erreicht hat. Auf die Geschichte folgt die Anklage der Verbrecher und ihrer Verbrechen: Die (abschließend einzeln und namentlich genannten) Militärs in Generalstab, Kriegsministerium und Militärgerichten, die Nationalisten und Antisemiten, die sie unterstützen, vergewaltigten die Gerechtigkeit und die Wahrheit und ordneten sie einer nur ihnen selbst zugänglichen „Staatsraison“ unter; unter dem Vorwand, sie verteidigten die Armee, träumten sie von der Militärdiktatur, sie pervertierten den Patriotismus zu einem System des Hasses, sie verführten die öffentliche Meinung und übten Verrat an dem großen liberalen Frankreich der Menschenrechte. Damit war Zolas Artikel zweierlei: Einerseits Aufklärungsarbeit, ein Enthüllungswerk, das den Lesern in einfacher, verständlicher, noch dazu mitreißender Form die nur schwer durchschaubare Geschichte der Machenschaften des Generalstabs erklärte; andererseits aber bereits Deutung, Interpretation der Auseinandersetzung, als deren Startschuss der Text konzipiert ist. Hier das Frankreich der Menschenrechte, der individuellen Freiheiten, der Gerechtigkeit und der Wahrheit, ein Frankreich, in dem das Primat des Zivilen vor dem Militär gilt; dort Militaristen und Klerikale, kriminelle Gegner der Republik und der Freiheit. Aufklärung und Politisierung: mit diesen Stichworten lässt sich die gesamte Kampagne der dreyfusards charakterisieren, die mit Zolas Pamphlet ihren Anfang nahm und die bis zum Revisionsprozess von Rennes im Sommer des folgenden Jahres in unverminderter Intensität anhalten sollte. Aufklärung bedeutete, Beweise für die Unschuld Dreyfus’ und die Schuld Esterhazys zu liefern; implizit bedeutete dies auch, die Unzulänglichkeit (und einige werden sagen: das verbrecherische Komplott) des ersten Militärgerichts nachzuweisen, indem man die dort vorgetragene ‚Beweisführung‘ systematisch demontierte und die illegalen Verfahrensweisen aufdeckte. Aufklärung bedeutete weiter, die kriminellen Ma-

50 Zu den unmittelbaren Reaktionen der Zeitgenossen vgl. Pagès, 13 janvier 1898, S. 58–61. 51 „J’accuse“ ist in zahlreichen Dokumentsammlungen enthalten; benutzt wurde hier die deutsche Übersetzung in Zola, Die Dreyfus-Affäre, S. 102–113. 52 So überschätzt Zola die Rolle Paty du Clams, der in „J’accuse“ als der eigentliche Strippenzieher der Intrige geschildert wird, während Henry, auf den die Fälschungen der Beweismittel in erster Linie zurückgehen, gar nicht erwähnt wird.

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chenschaften des Generalstabes und seines Nachrichtendienstes zu belegen, die Fälschungen zentraler Beweisstücke, die Verleumdungskampagne gegen Oberst Picquart, als dieser den Justizirrtum erkannt hatte, die Protektion des eigentlichen Verräters. Schließlich – und dies war der wohl schwierigste Teil der Aufgabe – bedeutete es, die Behauptungen, Gerüchte und Lügen der nationalistischen Presse zu widerlegen, die ihrerseits mit immer neuen Nachrichten von dem ‚endgültigen‘ letzten Beweis der Schuld Dreyfus’ an die Öffentlichkeit trat. Ein entscheidender Faktor dabei war die Nutzung wissenschaftlichen Expertenwissens: Gegen das Gerücht, die Spekulation und die Verleumdung setzten die dreyfusards die rationale Analyse der Fakten; sei es, dass sie wie die Historiker Gabriel Monod oder Gaston Paris die Methoden ihrer Wissenschaft direkt zur Beweisführung im Fall Dreyfus einsetzten (Quellenkritik, Quellenanalyse),53 sei es, dass sie wie Emile Duclaux, der Direktor des Institut Pasteur, oder Emile Durkheim, der Begründer der französischen Soziologie, allgemein die ethischen Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens auf die kritische Analyse der juristischen Fakten anwenden wollten.54 Bei dieser Aufklärungsarbeit konnten die dreyfusards im Laufe des Jahres 1898 mehrere entscheidende Erfolge verbuchen. Zu Hilfe kamen ihnen dabei sowohl die Ungeschicklichkeiten als auch die latenten Spannungen im Lager ihrer Gegner, die immer wieder aufs Neue versuchten, den entscheidenden, unwiderlegbaren Beweis der Schuld Dreyfus’ zu bringen – und damit einerseits die Verfahrensfehler des Prozesses von 1894 publik machten und andererseits diese vermeintlichen Schuldbeweise der kritischen Analyse der dreyfusards aussetzten. Höhepunkt dieses Prozesses (bei dem die dreyfusards quasi die Aufgabe des Ermittlungsrichters übernahmen) war im Sommer die Entlarvung des sogenannten faux Henry: Ein angeblich aus der deutschen Botschaft stammendes Dokument, in dem der Name Dreyfus’ in voller Länge genannt wurde und das mehrfach vor Gericht und im Parlament als unumstößlicher Beweis der Schuld des Angeklagten zitiert worden war, hatte sich als Fälschung erwiesen; der Fälscher, Oberst Henry vom Nachrichtenbüro des Generalstabes, hatte sich daraufhin in seiner Gefängniszelle das Leben genommen. Als Jean Jaurès, der selbst im Laufe des Frühjahrs 1898 zu den überzeugten dreyfusards gestoßen war, im September des Jahres begann, in der Petite République seine Artikelserie Les preuves zu schreiben, war die Aufklärungsarbeit weitgehend

53 Zum Engagement der Historiker vgl. Olivier Dumoulin, „Les historiens“, in: Drouin (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus. Dictionnaire, S. 389–396; Madeleine Rebérioux, „Histoire, historiens et dreyfusisme“, in: Revue historique, 255/1976, S. 407–432; Ursula Bähler, Gaston Paris dreyfusard: le savant dans la cité, Paris 1999. 54 Vgl. Vincent Duclert, „Les savants“, in: Drouin (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus – dictionnaire, S. 490–495.

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abgeschlossen; die ‚Beweise‘ lagen vor, und Jaurès fasste sie in unnachahmlich prägnanter Form bündig zusammen. Die Artikel, kurze Zeit später auch in Buchform erschienen, zählen bis heute zu Recht zu den prominentesten Texten der dreyfusards.55 Die Enthüllung des Skandals hätte jedoch für die massenhafte Mobilisierung des Jahres 1898 nicht ausgereicht; diese war nicht möglich ohne die Umcodierung der politischen Bedeutung der Affäre durch Zola und die dreyfusards. So wie es Dreyfus’ Gegnern gelungen war, die Schuld des Angeklagten mit der ‚Ehre der Armee‘ und der patriotischen Liebe zur Nation zu verbinden – mit Werten also, über die im Frankreich der 1890er Jahre (noch) ein weitgehender Konsens herrschte –, so gelang es Zola und seinen Mitstreitern, eine neue Deutung der politischen Dimension der Affäre zu propagieren und sie als eine neue Etappe des säkularen Kampfes zwischen Fortschritt und Reaktion, Aufklärung und Aberglaube, Freiheit und Despotismus darzustellen. Der Kreis derjenigen, die sich für das Schicksal des zu Unrecht deportierten Offiziers interessierten, wurde dadurch entscheidend erweitert. Mit den Themen der Menschenrechte, des Antimilitarismus oder des Antiklerikalismus ließen sich jeweils unterschiedliche Personenkreise mobilisieren – das Spektrum war breit, reichte von Anarchisten, für die die Affäre ein Lehrstück über Machtmissbrauch in autoritär strukturierten Institutionen war,56 über Sozialisten, die Jaurès davon überzeugte, dass die Gerechtigkeit für einen Einzelnen letztlich auch der Gerechtigkeit der Vielen zugutekommen würde,57 bis hin zu Liberalen, für die die Verteidigung der Rechte des Individuums gegen eine abstrakte Staatsraison im Vordergrund des Interesses stand.58 Gemeinsam war die55 Jean Jaurès, Les preuves, Paris 1898. Jaurès’ Text ist vielfach neu aufgelegt worden; zuletzt Eric Cahm (Hrsg.), Jean Jaurès. Œuvres: Le temps de l’Affaire Dreyfus, 2 Bde., Paris 2000/2001; zu diesem Text vgl. Vincent Duclert, „Les preuves. L’écriture de l’engagement“, in: Jean Jaurès. Cahiers trimestriels, 42/2000, 151, S. 31–47. Ähnliche Publikationen stammen von dem liberalen Politiker und Publizisten Yves Guyot, L’Affaire Dreyfus. Les faits et les preuves, Paris 1898, von dem Wissenschaftler Emile Duclaux, Propos d’un solitaire, Paris 1898 oder auch von dem späteren ersten Historiker der Affäre, dem Politiker Joseph Reinach, Vers la justice par la vérité, Paris 1898. 56 Vgl. Jean Garrigues, „Les anarchistes“, in: Michel Drouin (Hrsg.), L’Affaire Dreyfus – dictionnaire, S. 305–308. 57 Zu der lange schwankenden Haltung der Sozialisten vgl. vor allem Marcel Dufriche/Madeleine Rebérioux (Hrsg.), „Jaurès, les socialistes et l’Affaire Dreyfus. Actes du colloque de Montreuil, décembre 1994“, in: Jean Jaurès. Cahiers trimestriels, 37/1995, 138. 58 Exemplarisch zu einem prominenten Vertreter dieser Gruppe vgl. Vincent Duclert, „Le Siècle, journal dreyfusard, entre ‚J’accuse…!‛ et Les preuves“, in: Jean Jaurès. Cahiers trimestriels, 42/ 2000, 151, S. 67–75. Viele liberale dreyfusards fanden sich im Frühjahr 1898 in der neu gegründeten Ligue des droits de l’homme zusammen, vgl. William D. Irvine, Between Justice and Politics: The Ligue des droits de l’Homme, 1898–1945, Stanford 2007.

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sen Gruppen die Verurteilung des entfesselten Antisemitismus, der in der Kampagne der antidreyfusards zum Ausdruck gekommen war. Vielleicht entscheidend aber war, dass die Sache Dreyfus’ als Verteidigung der Republik und der republikanischen Grundwerte gedeutet wurde59 – und damit in eine Linie gestellt werden konnte mit dem Kampf gegen den Bonapartismus der 1860er Jahre, dem Widerstand gegen die drohende monarchische Restauration der 1870er Jahre und dem Engagement gegen die diktatorischen Ambitionen des Boulangismus der 1880er Jahre. Dies war für viele ein vertrautes Terrain, ein Terrain zudem, auf dem sich die verschiedenen Gruppen der dreyfusards einig wussten – und es war deshalb nur folgerichtig, dass René Waldeck-Rousseau, der im Juni 1899 Ministerpräsident wurde und die Affäre politisch beenden konnte, sein Kabinett „gouvernement de la défense républicaine“ nannte.

IV In Gesellschaften, die über einen Grundkonsens über zentrale Werte und Normen des Zusammenlebens verfügen, können Skandale dazu führen, diesen Grundkonsens zu bekräftigen, zu erneuern oder zumindest erneut ins Bewusstsein der Zeitgenossen zu rücken. Es ist unverkennbar, dass ein solcher Grundkonsens im Frankreich des Fin-de-siècle fehlte. Denn so sehr es den dreyfusards auch gelang, das linke, republikanische Lager zu mobilisieren, so weit waren sie doch davon entfernt, eine einmütige Verurteilung der skandalösen Machenschaften des Generalstabs zu erreichen. Im Gegenteil. Zumindest bis zum Selbstmord Henrys (31. August), also bis zum Spätsommer 1898, dominierten die Dreyfusgegner weiter die öffentliche Debatte. Noch lange Zeit profitierten sie davon, dass sie die Ersten gewesen waren, die das Terrain und damit die Begriffe besetzt hatten. Die Wahrnehmungsmuster, die sich in der „ersten“ Dreyfusaffäre gebildet hatten, erwiesen sich als ausgesprochen widerstandsfähig und langlebig. Auch die antidreyfusards organisierten sich: Paul Déroulède reaktivierte die Ligue des patriotes, den größten nationalistischen Verband, der schon in der Boulangeraffäre eine zentrale Rolle gespielt hatte; sozial deutlich konservativer ausgerichtet war die Ligue de la patrie française, die im Herbst 1898 gegründet wurde und zeitweise bis zu 400.000 Mitglieder für sich reklamierte. 1899 sollte sich von dieser Gruppe ein radikaler Kern abspalten, der, von Charles Maurras zum Royalismus konvertiert, als Ligue de l’action française den Kampf der antidreyfusards bis in die Vichy-Zeit

59 Vgl. Michel Winock, „Le mythe fondateur: L’Affaire Dreyfus“, in: Serge Berstein/Odile Rudelle (Hrsg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 129–145.

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und die Kollaboration tragen sollte.60 Klerikale Verbände und einige große Orden, insbesondere die Assumptionisten, spielten ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Dominanz der Dreyfusgegner zeigte sich auch in der Haltung der Presse: Die große Mehrheit der Tageszeitungen, gerade auch die Massenblätter mit den höchsten Auflagen, blieb bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer Revision des Prozesses;61 Flugblätter und Pamphlete gegen Dreyfus und/oder Zola, wie etwa die Réponse de tous les Français à Zola mit einer Auflage von 400.000 Stück, wurden in hohen Stückzahlen auf den Boulevards verkauft.62 Auch wenn sie in der Folgezeit kontinuierlich an Terrain verloren, so blieb doch ein harter Kern von antidreyfusards (die nun dem polemischen Porträt, das ihre Gegner von ihnen zeichneten, immer ähnlicher wurden) von dem ursprünglichen Skandal-Szenario überzeugt: Der eigentliche Skandal, so lässt sich ihre Haltung resümieren, ist dabei nicht der Verrat selbst, sondern die Kampagne der dreyfusards, die die militärische Autorität infrage stellen, die Nation spalten, den Klerus lächerlich machen. Unter dieser Formel konnten traditionalistische Royalisten, autoritäre Bonapartisten, militaristische Nationalisten und fanatische Antisemiten zusammenfinden; aber auch Republikaner, denen es zuvorderst um den unbedingten Schutz der staatlichen Institutionen ging, Konservative, die die von den dreyfusards provozierte ‚Unordnung‘ verabscheuten, oder Katholiken, die von dem militanten Antiklerikalismus vieler dreyfusards abgestoßen wurden, konnten diese Sicht der Dinge teilen. Skandal und Gegenskandal standen sich damit unversöhnlich gegenüber: Weder der Revisionsprozess von 1899 mit der erneuten Verurteilung Dreyfus’ noch die folgende Begnadigung des angeblichen Verräters durch den Präsidenten und auch nicht die endgültige Rehabilitierung 1906 konnte an dieser Konstellation etwas ändern. Zwar fuhren beide Lager fort, weitere sekundäre oder tertiäre Skandale zu denunzieren;63 ‚Fehlverhalten‘, Normbrüche der jeweils anderen

60 Zu den Organisationen der Dreyfusgegner vgl. Bertrand Joly, Nationalistes et conservateurs en France, 1885–1902, Paris 2008; Jean-Pierre Rioux, Nationalisme et conservatisme: La Ligue de la Patrie française, Paris 1977; Peter Rutkoff, Revanche and Revision. The Ligue des Patriotes and the Origins of the Radical Right in France, Athens (Ohio) 1981; Victor Nguyen, Aux origines de l’Action française: intelligence et politique vers 1900, Paris 1991. 61 Zur Entwicklung der Presse vgl. Janine Ponty, „La presse quotidienne et l’affaire Dreyfus en 1898/99. Essai de typologie“, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 21/1974, S. 193–220. 62 Zu diesen Schriften vgl. Jean-Yves Mollier, Le camelot et la rue. Politique et démocratie au tournant des XIXe et XXe siècles, Paris 2004, S. 199–206. 63 Thomas Loué spricht in diesem Zusammenhang von „Meta-Skandal“ und „Sub-Skandalen“, Thomas Loué, „L’affaire Dreyfus“, in: Boltanski u.a. (Hrsg.), Affaire, scandales et grandes causes, S. 213–227, hier: S. 221.

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Gruppe. Anlässe dafür gab es in der aufgeheizten Atmosphäre der Jahrhundertwende genug.64 Aber die Skandalisierung wirkte in beiden Lagern nur noch nach innen. Die Fronten hatten sich so weit verhärtet, dass der eigentliche Zweck des Skandals, nämlich die Mobilisierung einer bis dahin unaufgeklärten oder indifferenten Bevölkerung, nicht mehr erreicht werden konnte. Charakteristisch war die Reaktion der Dreyfusgegner auf die Entdeckung des faux Henry und den Selbstmord des Oberst. Wenige Tage später wurde dieser von Charles Maurras in einem berühmt-berüchtigten Artikel zum Märtyrer der Armee und der Nation erklärt und als das ‚erste Opfer‘ der Affäre bezeichnet. „Le premier sang“, das erste französische Blut, das in der Affäre geflossen ist, so lautete der Titel des Artikels: Nicht Henrys Fälschungen, sondern sein Tod sei der eigentliche Skandal; auch dauerte es nicht lang, bis erste Gerüchte von einer Ermordung des aufrechten Patrioten in Umlauf kamen.65 So absurd sie war, innerhalb des Lagers der Dreyfus-Gegner genoss diese Deutung des Ereignisses doch eine außerordentliche Popularität: An einer Spendensammlung zugunsten der Witwe Henrys, die von der Libre Parole kurze Zeit später initiiert wurde, beteiligten sich zehntausende Bürger, weit mehr, als die verschiedenen Petitionen von Intellektuellen aufseiten der dreyfusards je erreichen konnten.66 Aber auch dieser Erfolg, so bemerkenswert er war, blieb doch notwendigerweise begrenzt. Mobilisierend über die eigene Gruppe hinaus wirkte die Kampagne nicht mehr. Die Dreyfusaffäre ist somit ein charakteristisches Beispiel für einen Skandal ohne Auflösung. Die kathartische Wirkung, die viele Skandale in modernen Gesellschaften besitzen, musste ihr daher abgehen; die Affäre hatte Gräben aufgerissen, die erst im Weltkrieg zumindest teilweise (und nicht dauerhaft) überbrückt werden konnten. Auch die Sanktionierung der Schuldigen blieb aus (sieht man vom Selbstmord Henrys ab): Eine kurz nach der Begnadigung Dreyfus’ erlassene Amnestie gewährte den Verantwortlichen im Kriegsministerium und in der Armee Straffreiheit. Politisch allerdings gab es diese Auflösung durchaus: Mit der Bildung der Regierung Waldeck-Rousseau im Juni 1899 kamen in Frankreich für ein gutes Jahrzehnt Parteien an die Macht, die sich den Grundwerten der

64 So z.B. aufseiten der antidreyfusards der (dilettantische) Putschversuch Paul Déroulèdes am 23. Februar 1899 oder der tätliche Angriff eines Nationalisten auf Präsident Émile Loubet am 4. Juni 1899 in Auteuil. 65 Zum Hintergrund Bredin, L’Affaire, S. 440–456. 66 Zu dieser Spendensammlung, genannt „Le monument Henry“, vgl. Georges Bensoussan, L’idéologie du rejet. Enquête sur le monument Henry ou archéologie du fantasme antisémite dans la France de la fin du XIXe siècle, Levallois-Perret 1994; Wilson, Ideology and Experience, S. 125–165; Pierre Quillard, Le monument Henry. Liste des souscripteurs classés méthodiquement et selon l’ordre alphabétique, Paris 1899.

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dreyfusards verpflichtet fühlten. Symbol dieses Aufrückens der dreyfusards in Regierungsverantwortung war 1906 die Ernennung Georges Picquarts zum Kriegsminister durch Clemenceau. Das Zusammenrücken von linksrepublikanischen radicaux und reformistischen Sozialisten, welche die Regierungen des sogenannten bloc des gauches parlamentarisch trugen, war nicht zuletzt auch durch die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes während der Affäre möglich geworden. Viele der Reformen, die sie in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende umsetzten, können als direkte Reaktion auf die Affäre angesehen werden. Die Armee wurde reformiert und republikanisiert, antisemitische und nationalistische Verbände wurden verfolgt, vor allem aber wurde eine resolut antiklerikale Politik umgesetzt, die 1905 in der Trennung von Staat und Kirche gipfeln sollte.67 Einige Zeitgenossen – an erster Stelle der Schriftsteller Charles Péguy, selbst ein dreyfusard der ersten Stunde – empfanden diese Degenerierung der ursprünglichen „Mystik“ des Dreyfusismus in die pragmatische und noch dazu intolerante Politik der Regierungen Waldeck-Rousseau, Combes und Clemenceau als skandalös.68 Ihre Empörung aber blieb folgenlos, sie weitete sich nicht zum Skandal aus, erreichte keine breite Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Weit davon entfernt, sich im prosaischen Alltagsgeschäft der Politik zu verlieren, behielt die Dreyfusaffäre ihren, um bei den Worten Péguys zu bleiben, „mystischen“ Charakter. Dazu trug nicht zuletzt eine durchaus systematische ‚Erinnerungspolitik‘ der dreyfusards bei: Denkmäler zu Ehren zentraler Protagonisten (Trarieux, Scheurer-Kestner) der Affäre wurden errichtet, die sterblichen Überreste Zolas wurden 1908 ins Pantheon überführt, vor allem aber hielt eine engagierte Historiographie den „heroischen“ Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit im Bewusstsein.69 Die Dreyfusaffäre konnte so zum nachträglichen „Gründungsmythos“ (Michel Winock) der französischen Republik werden und nachhaltig daran erinnern, dass sich das republikanische Modell französischer Prägung nicht in dem Fehlen einer monarchischen Staatsspitze oder bestimmten politischen Verfahrensregeln und Institutionen erschöpfte, sondern immer eine Wertordnung bedeutete.

67 Zur politischen Entwicklung Frankreichs zwischen Dreyfusaffäre und Weltkrieg vgl. Madeleine Rebérioux, La République radicale? 1898–1914, Paris 1975. 68 Charles Péguy, Notre jeunesse, Paris 1910. 69 Vgl. Daniel Mollenhauer, „Der Sieg des ‚Lichts‘ über die ‚Finsternis‘. Die Dreyfusaffäre als Gründungsmythos des republikanischen Frankreich“, in: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, S. 303–321; Gilles Manceron/Emmanuel Naquet (Hrsg.), Être dreyfusard hier et aujourd’hui, Rennes 2009; zur Historiographie Vincent Duclert, „Histoire, historiographie et historiens de l’affaire Dreyfus“, in: Michel Leymarie (Hrsg.), La postérité de l’Affaire Dreyfus, Villeneuve d’Ascq 1998, S. 151–233, insbesondere S. 155–164.

Wolfgang Asholt, Osnabrück

Skandal als Programm? Funktionen des Skandals in der historischen Avantgarde und Funktion der historischen Avantgarde als Skandal Der Avantgarde wird immer wieder bestätigt, einen Skandal repräsentiert zu haben, sie müsste also ein privilegiertes Feld für Skandal-Untersuchungen sein. So heißt es in der Einleitung von Hans-Edwin Friedrich zu dem von ihm 2009 herausgegebenen Sammelband Literaturskandale: „In der modernen Avantgardeästhetik ist der Skandal in erstaunlich vielgestaltiger Weise zum Material von Kunstwerken gemacht und als Mittel künstlerischer Strategien eingesetzt worden.“ Das Kunstwerk wird im lutherischen Sinne des Skandals als Ärgernis ausgestellt oder Künstler inszenieren sich als ein solch skandalöses Ärgernis. Und offensichtlich haben die Avantgarden damit zumindest historisch gesehen Erfolg gehabt. Denn bei Friedrich folgt der fast schon obligatorische Hinweis auf eine berühmte Passage des Zweiten Manifests des Surrealismus: „André Bretons Parole, der einfachste surrealistische Akt sei, mit einer Pistole in die Menge zu schießen, ist ein prominentes, aber weder das erste noch gar letzte Beispiel für einen solchen Akt.“1 Und ein Verweis auf Rolf-Dieter Brinkmanns Drohung gegenüber Marcel Reich-Ranicki im Jahre 1968 (!), „Ich sollte hier ein Maschinengewehr haben und Sie niederschießen“, soll zeigen, wie sehr solche Art von Skandalen Schule gemacht hat. Noch vor ein paar Jahren hat Jean Clair, der ehemalige Direktor des Pariser Picasso-Museums und große Ausstellungsimpresario den Satz von Breton zum Anlass genommen, dem Surrealismus insgesamt totalitäre Neigungen zu unterstellen, der Skandal scheint also auf Dauer gestellt. Und es hilft nichts, dass Breton schon in der Buchausgabe diesem Manifest eine Fußnote hinzugefügt hat, in der es u.a. heißt: „Cet acte que je dis le plus simple, il est clair que mon intention n’est pas de le recommander entre tous parce qu’il est simple.“2 Für Clair lebt

1 Hans-Edwin Friedrich, „Literaturskandale. Ein Problemaufriß“, in: ders. (Hrsg.), Literaturskandale, Frankfurt am Main 2009, S. 17. Die Breton-Passage lautet: „L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’il peut, dans la foule“, André Breton, „Second manifeste du surréalisme“, in: Œuvres complètes, Bd. 1, Marguerite Bonnet u.a. (Hrsg.), Paris 1988, S. 782 f. Das Manifest erscheint Ende 1929 in der Révolution surréaliste und im Januar 1930 als selbständige Veröffentlichung. 2 Ebd., S. 783.  

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dieser Skandal in den „émeutiers de Mai 1968“3 ebenso fort wie in den heutigen Terroristen und ihren Selbstmordattentaten. Breton hat, wie man an seiner Fußnote erkennen kann, gewusst, dass sein Quasi-Aufruf skandalisieren würde, auch wenn er in den Kontext des höchst seriös argumentierenden Zweiten Manifests eingebettet war. Doch wenn ein solches Skandalpotential noch heute gegeben sein sollte, wäre das definitionswidrig; wenn die Breton’sche Proklamation mehr als ein Dreivierteljahrhundert später noch wirklich skandalisieren könnte, müssten wir unsere begriffsgeschichtlichen Konzeptionen von Skandal zumindest teilweise revidieren. Denn unabhängig davon, ob wir am Skandal die Struktur der klassischen Dramaturgie zu entdecken glauben, wie es etwa der „Skandal“-Artikel des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik nahelegt, von einer Störung der oder einem Verstoß gegen die Normalität als Ausgangspunkt, über das Auftreten der Normbrecher und/oder ihrer Opfer, das Öffentlichmachen dieses Tabubruchs und die abschließende Strafe und das Wiederherstellen der Normalität,4 ob wir mit der Phänomenologie des politischen Skandals von Karl Otto Hondrich einen ähnlichen Vierklang von Regelverletzung als notwendiger Voraussetzung, Enthüllung, Entrüstung und abschließender Reparatur, sei es durch Strafe, sei es durch Genugtuung der öffentlichen Moral annehmen,5 oder ob wir mit Nathalie Heinich den Skandal als einen „révélateur du rapport à la norme“ betrachten, dessen wichtigster Effekt die „réaffirmation collective des valeurs atteintes“ sei,6 entsprechen weder das Beispiel des Breton’schen Tabubruchs als solcher und das seiner Rezeption, noch die avantgardistischen Skandale insgesamt dieser Skandalogie. Die durchweg überzeugende Argumentation von Heinich und Hondrich, dass Skandale eine systemstabilisierende Funktion haben, da sie im Sinne der Durkheim’schen Pathologien und der moralischen Spaltung der Gesellschaft, wie die Dreyfus-Affäre zu Durkheims Zeit exemplarisch illustriert, „auf dem Gebiet der Moral kreativ sind“,7 Skandale also als Beschleuniger des Normenwandels inner-

3 „D’autres [émeutiers de Mai 1968] pour qui descendre dans la rue et, au nom d’une idéologie de la Libération, tirer au hasard, comme il était écrit, dans la foule, devenait un devoir“, Jean Clair, Du surréalisme considéré dans ses rapports au totalitarisme et aux tables tournantes, Paris 2003, S. 19. 4 Vgl. Cornelia Blasberg, „Skandal“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, S. 923–929. 5 Vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2001, hier die Einleitung: „Einblicke in die Unterwelt“, S. 9–23. 6 Nathalie Heinich, „L’art du scandale. Indignation esthétique et sociologie des valeurs“, in: Politix, 2005, 71, S. 121–136, hier: S. 122, S. 35. Ich danke Andreas Gelz dafür, mich auf diesen Aufsatz aufmerksam gemacht zu haben. 7 Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, S. 46.

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halb der zivilgesellschaftlichen Regeln zugleich die conscience collective der Subkultur moralischer Grundüberzeugungen stabilisieren: Diese Funktion religiöser, politischer, wirtschaftlicher, juristischer usw. Skandale scheint sich nicht ohne weiteres auf Kunst- oder Literaturskandale übertragen zu lassen. Wenn Hondrich seine ‚Skandaltheorie‘ so resümiert, dass der Skandal „über alle Interessen- und Wertkonflikte hinweg […] momentan und spontan die moralische Einheit aufblitzen [lässt], ohne die es auch in der modernen Welt keine Gesellschaft gibt“,8 dann fragt man sich, ob es eine solche „moralische Einheit“ innerhalb des Feldes von Kunst und Literatur der Moderne und noch mehr im Falle der Avantgarden überhaupt geben kann. Die Skandalgeschichte der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, auf die in diesem Zusammenhang immer wieder gern hingewiesen wird, illustriert vielmehr, dass diese ‚Einheit‘, gerade in moralischer Hinsicht, mehr und mehr an Verbindlichkeit verliert. Geschieht dies in der Romantik noch vergleichsweise vorsichtig, man denke an den Skandal, den nicht nur für die Schauspielerin Mlle Mars sondern für große Teile des Publikums der Hernani-Premiere im Frühjahr 1830 der von ihr als Doña Sol an Hernani gerichtete Alexandriner „Vous êtes mon lion superbe et généreux!“ (Akt III, Szene 4) hervorgerufen hat,9 so werden nur kurze Zeit später grundsätzlichere Werte und Normen von Moral und Literatur infrage gestellt. Die Skandale der sogenannten Immoralismus-Prozesse in Kunst und Literatur sind hinreichend dokumentiert,10 sodass sie hier nicht im Einzelnen erwähnt werden müssen, doch der Doppelskandal des Jahres 1857 mit den Prozessen gegen Baudelaire und Flaubert ist ein deutlicher Indikator dafür, dass das, was die Gesellschaft skandalisiert, nicht mehr Verstöße gegen die klassische Regelpoetik oder die bienséance sind, sondern gegen das, was Hondrich die „Tiefenschichten der Moral“ nennt. Die Skandale, die gleichzeitig in der Malerei, man denke an den bis heute andauernden um Courbets L’Origine du monde (1866) oder die Impressionistenskandale, sowie in der Musik stattfinden, etwa um die Pariser Tannhäuser-Aufführung, vor allem aber um die Diaghilev-Nijinski-Ballette des Debussy’schen L’Après-midi d’un faune (1912) und noch mehr um Stravinskis Le Sacre du printemps (1913),11 zeigen, dass sich eine tiefgreifende Anpassung

8 Ebd., S. 22. 9 Vgl. Agnès Spiegel, „La légende de la bataille d’Hernani“, in: Marie Dollé (Hrsg.), Quel scandale!, Paris 2006, S. 13–27. 10 Vor allem und bis heute: Klaus Heitmann, Der Immoralismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert, Bad Homburg 1970. 11 Zu Kunst und Musik: vgl. die Teile „Images du scandale“ und „Notes de scandale“ in: Dollé, Quel scandale!, S. 77–164. Der vom Titel her vielversprechende Beitrag von Claudine Grammont, „L’avant-garde comme stratégie: l’exemple du scandale des Fauves“ (S. 67–75), ist fast aus-

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dieser Tiefenschichten an die Bedingungen von Kunst und Literatur der Moderne vollzieht, deren Transgressionen immer wieder neue Skandale provozieren. Noch handelt es sich aber eher um einen Modifikationsprozess (und zumeist einen solchen der Moral) als um einen Bruch oder um einen wirklichen Paradigmenwechsel. Es dürfte nicht zufällig sein, dass sich diese Skandale in der Dritten Republik häufen, die mit einer fast uneingeschränkten Pressefreiheit am Ende des Jahrhunderts der Alphabetisierung erstmals die Bedingungen für eine breite demokratische Öffentlichkeit schafft. Freilich kann man die Skandale, die sich insbesondere im politisch-ökonomischen Bereich häufen, noch für Begleiterscheinungen einer besonders virulenten Phase des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses halten, in dem zwar auch Teile der erwähnten Tiefenschichten, diese jedoch nicht als solche infrage gestellt werden. Unabhängig davon, ob es auch bei diesem Strukturwandel der Öffentlichkeit zu einem Habermas’schen Vorausgehen einer literarischen vor der politischen Öffentlichkeit kommt, fällt auf, dass sich der größte Skandal, jener der in Frankreich als Dreyfus-Affäre die gesamte politischkulturelle Öffentlichkeit erschüttert, wohl nicht ohne den mit Zola verbundenen literarischen Hintergrund hätte entwickeln können; Zola selbst war sowohl durch seine eigenen Werke wie durch sein Engagement für die Impressionisten zum Zeitpunkt seines den eigentlichen Skandal erst zu einem öffentlichen machenden Artikels „J’accuse“ durchaus skandalerfahren. Solchen Literaturskandalen der Moderne bis hin zur Gegenwart gehen in letzter Zeit mehrere Sammelbände nach; ob es ihnen allerdings gelingt, „Repräsentationsformen eines gesellschaftlichen Ärgernisses“ zu diskutieren und zu etablieren, wie es der Anspruch unserer Tagung formuliert, darf bezweifelt werden. Dies gilt etwa für den 2006 erschienenen Sammelband von Marie Dollé, Quel scandale!, dessen Einleitung zwar feststellt, „On peut s’étonner que la notion de scandale n’ait pas été d’avantage théorisée“,12 diesen Mangel, von einem Beitrag von Alain Schaffner abgesehen, jedoch in keiner Weise behebt. Und wenn in dem mehr als 700-seitigen Sammelband, Literatur als Skandal,13 allein zwölf Beiträge der ‚Theorie des Skandals‘ gewidmet sind, müssten die erwähnten Repräsentationsformen dort entwickelt worden sein, doch auch diese Erwartung wird enttäuscht. Wir finden vielmehr von Wirkungsanalysen über Marketinginstrumente, Paratexte und Wertungsbegriffe alle möglichen Aspekte des Skandals in Literatur

schließlich dem Salon d’automne 1905 gewidmet und konzentriert sich auf Hängung und Wirkung der Fauves-Bilder im Saal VII, der „cage aux fauves“. 12 Ebd., „Présentation“, S. 5. 13 Johann Holzner/Stefan Neuhaus (Hrsg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2009.

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und Literaturbetrieb, bis hin zu „Skandalstrategien der Avantgarde“, auf die zurückzukommen sein wird.14 Der Eröffnungsaufsatz des Erziehungswissenschaftlers Volker Ladenthin ist in dieser Hinsicht repräsentativ: von Schlagworten wie „Moderne Literatur ist Skandal“ geleitet, findet er zu Einsichten wie „Der Skandal ist das wertvolle Zentrum der modernen Literatur“ oder „Der schlimmste Skandal wäre es, wenn Literatur keinen Skandal mehr auslöst.“15 Insofern ist den Herausgebern zuzustimmen, wenn sie in ihrem Vorwort schreiben: „Die Beiträge des Bandes können zweifellos keine vollständige Theorie und Geschichte von Literaturskandalen liefern“.16 Hans-Edwin Friedrich versucht in der Einleitung zu seinem Sammelband Literaturskandale nicht nur einen Problemaufriss, sondern eine Typologie des Literaturskandals, bei der er zwischen „autonomen“ und „heteronomen“ Literaturskandalen unterscheidet. Während die heteronomen Skandale durch Normkonflikte zwischen dem literarischen und anderen gesellschaftlichen Feldern entstehen, also mit dem Rechtssystem bis hin zur Zensur, mit dem religiösen System oder dem der Politik, sieht Friedrich die autonomen Skandale dadurch charakterisiert, dass besonders häufig „Skandale aus Streitigkeiten zwischen Autoren [entstehen], bei denen es zur Skandalisierung eines Autors durch einen anderen kommt.“ Davon unterscheidet er zu Recht den Skandal der Avantgardeästhetik, in dem „der Kunstbegriff und die Bedeutung von Kunst selbst auf dem Spiel“ stehen.17 Beide autonomen Skandalformen betreffen in besonderem Maße die Avantgarde, insofern ist es bedauerlich, dass dieser Frage kein Beitrag des Sammelbandes gewidmet ist. Roland Barthes hat in einem Text des Jahres 1959 mit dem Titel „Qu’est-ce qu’un scandale“ konstatiert: „Au-dessous d’un certain revenu, une affaire de justice n’est jamais qu’un fait divers. Pour qu’il y ait scandale, il faut une Dividende Minimum Garantie.“18 Dies kann man nicht nur auf die Skandale der Avantgarde, sondern auch auf unsere Rezeption übertragen. Die Futuristen, Dadaisten, Surrealisten usw. mussten über ein symbolisches Mindestkapital verfügen, sich also im literarischen Feld schon bemerkbar gemacht und einen marginalen oder prekären, aber bemerkenswerten Platz gefunden haben, bevor sie skandalisieren konnten. Und für uns sind die damaligen nur deshalb noch

14 Der Rest des Bandes ist unter der Überschrift „Praxis des Skandals“ mehr als 50 Einzelstudien, von Gottfried von Straßburg bis zu Max Biller, gewidmet. 15 Volker Ladenthin, „Literatur als Skandal“, in: Holzner/Neuhaus, Literatur als Skandal, S. 19– 28, hier: S. 27. 16 Vgl. Vorwort der Herausgeber in: Holzner/Neuhaus, Literatur als Skandal, S. 11–16, hier: S. 14. 17 Friedrich, „Literaturskandale“, S. 17. 18 Roland Barthes, „Qu’est-ce qu’un scandale?“, in: Œuvres complètes, Bd. 1, Éric Marty (Hrsg.), Paris 1993, S. 784–786. (zuerst in: Lettres nouvelles, 04.03.1959).

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heute Skandale und stehen als solche für mehr als historische faits divers, weil ihre Protagonisten Figuren der Literatur des 20. Jahrhunderts geworden sind, auch und gerade wenn sie das mit einem Teil ihrer skandalisierenden Proklamationen und Provokationen gerade verhindern wollten. Anders als Marc Angenot den Skandal in der Parole pamphlétaire definiert, wo für den Pamphletisten der Skandal immer die Anderen und ihre Ideologie sind („Le pamphlétaire identifie l’idéologie adverse à un scandale“19), richtet sich der Skandal für einen Teil der Avantgarde weniger auf die Gegner und ihre Ideologie, als auf die von diesen repräsentierte „Dividende Minimum Garantie“, also auf die von ihnen eingenommene Position im literarischen Feld und mehr noch auf die damit verbundene Funktion von Kunst und Literatur in der modernen Gesellschaft und auf Kunst und Literatur als Institution. Dies hat schon Walter Benjamin gesehen, wenn er den Dadaisten in seinem „Reproduzierbarkeits“-Essay attestiert: In der Tat gewährleisten die dadaistischen Kundgebungen eine recht vehemente Ablenkung, indem sie das Kunstwerk zum Mittelpunkt eines Skandals machen […]. Aus einem lockenden Angebot oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu.20

Man kann vielleicht noch etwas weiter gehen und behaupten, dass diese Kunstwerke nicht nur auf die Betrachter schießen, sondern auf die Kunst selbst, und dass darin ihr skandalisierendes Potential, aber auch ihre eigentliche Skandalisierungsintention besteht, vielleicht keine Dividende Maximale Garantie, aber zumindest die Absicht, eine solche zu realisieren. In seinem „Sürrealismus“-Aufsatz unterscheidet Benjamin daher konsequent die einzelnen Figuren oder Anlässen gewidmeten Skandale der Surrealisten, also etwa „den berühmten Skandal bei dem Bankett Saint-Pol-Roux“, die für ihn „in den Grenzen des Skandals bleiben“, und den eigentlichen Skandal, der im „radikalen Begriff von Freiheit“ der Surrealisten besteht, zu dem Benjamin viel zitiert formuliert: „Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen.“21 Die Frage, die dieser Skandal, wenn es denn einer war, uns stellt, ist, ob uns diese Infragestellung, bei der „der Kunstbegriff und die

19 Marc Angenot, La Parole pamphlétaire. Typologie des discours modernes, Paris 1982, S. 339. 20 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften, Abhandlungen, Bd. I/2, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, S. 502. 21 Walter Benjamin, „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: Gesammelte Schriften, Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II/1, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1977, S. 295–310, hier: S. 303, S. 306 f.  

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Bedeutung von Kunst selbst auf dem Spiel“ stehen, noch heute skandalisiert, oder ob dieser Skandal sich zu dem gewandelt hat, was Roland Barthes in „Qu’est-ce qu’un scandale“ schon 1959 desillusioniert bilanziert: „Nous savons maintenant ce qu’est un scandale: c’est essentiellement ce à quoi on ne participe pas.“22 Skandale prägen und orchestrieren die historischen Avantgardebewegungen in besonderer Weise, sodass jüngst behauptet werden konnte: „Der Skandal war einst das zentrale, wertschöpfende Werkzeug der künstlerischen Avantgarden, um Aufmerksamkeit zu erlangen“,23 und der schon erwähnte Aufsatz zu den „Skandalstrategien der Avantgarde“ stellt einleitend fest: „Im Zeitalter der Avantgarde-Bewegungen avancieren nämlich Provokationen und Skandale in einem früher nie da gewesenem Maße zur bevorzugten Äußerungs- und Ausdrucksform.“24 Es sind dies sowohl heteronome wie autonome Skandale, wobei die Transgressionen der Normen anderer gesellschaftlicher Felder ebenso wichtig sind wie die Skandalisierung von Autoren. Diese skandalisierten Autoren, die in gewisser Weise das gegnerische Skandalobjekt von Angenot repräsentieren, stehen im Sinne einer Bourdieuschen Avant-garde consacrée zumeist für die traditionellen Normen, sodass heteronome und autonome Funktion des Skandals zusammenfallen und diesem besondere Schlagkraft verleihen, wie es die Skandale um Maurice Barrès und vor allem Anatole France mit dem skandalträchtigen Avezvous déjà giflé un mort? Aragons illustrieren. Nur wenn es innerhalb der Avantgarde selbst, sei es durch die Konkurrenz verschiedener Strömungen (etwa Dadaismus gegen Futurismus oder Surrealismus gegen Dadaismus), oder wegen Ausschlussinszenierungen zwecks Stabilisierung einzelner Bewegungen, zu Auseinandersetzungen kommt, gibt es autonome Skandalisierungen eines Autors (oder einer Autorengruppe) durch die anderen Autoren. Ein solcher Skandal, in dem „le pamphlétaire identifie l’idéologie adverse à un scandale“,25 wird etwa in der Entstehungsphase des Surrealismus gegen Yvan Goll (La Querelle du Surréalisme) inszeniert, um eine eventuelle Konkurrenz auszuschalten. Dafür kann aber auch das gegen Breton gerichtete Pamphlet Un Cadavre stehen, in dem 1930 zwölf ehemalige Surrealisten einen Skandal um den Breton des Zweiten Manifestes zu inszenieren versuchen, mit Titeln wie Papologie d’André Breton (Ribe-

22 Barthes, „Qu’est-ce qu’un scandale?“, S. 786. 23 Einleitungstext zum Radioessay „Kunst, Skandal, Avantgarde“ von Ralf Homann (Bayern 2, 07.04.2009); http://blog.zhdk.ch/kschoenberger/2009/04/05/bayern-2-kunst-skandal (Stand: 16.01.2013). 24 Arturo Larcati, „Skandalstrategien der Avantgarde: vom Futurismus zum Dadaismus“, in: Holzner/Neuhaus, Literatur als Skandal, S. 110–127, hier: S. 110. 25 Marc Angenot, La parole pamphlétaire, Paris 1995 (1982), S. 339.

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mont-Dessaignes) oder Moralement puer (Roger Vitrac) oder Gedichten wie jenem von Raymond Queneau, in dem es nicht weniger als viermal heißt, „André Breton, le doigt dans le trou du cul“.26 Solche heteronomen oder autonomen Skandale prägen ebenso wie die Manifeste und Proklamationen, und oft mit ihnen verbunden oder durch sie provoziert, die jeweiligen Avantgardebewegungen. Natürlich ist es literarhistorisch zumindest eine Fußnote, dass es 1924 auch einen anderen Surrealismus hätte geben können oder sollen, doch einen Skandal konnte das nur im Moment selbst bilden. Und dank ihrer von Betroffenheit kündenden Beleidigungen lassen viele Texte des Anti-Bretonschen Cadavre noch heute etwas von der Skandalisierung der Autoren durch den angeblichen Papst des Surrealismus spüren. Insofern ist der Skandal ein wertschöpfendes Werkzeug der künstlerischen Avantgarden und die Abfolge der avantgardistischen Skandale bildet einen nicht unwichtigen Teil der Avantgarde-Geschichte. Benjamins „radikaler Begriff der Freiheit“ sollte unsere Aufmerksamkeit aber darauf lenken, dass es nicht nur um solche Skandale des Augenblicks und der momentan wichtigen Personen geht, sondern dass die Avantgarde insgesamt oder zumindest einzelne ihrer Bewegungen einen Skandal repräsentieren wollen, weil mit ihnen der Kunstbegriff und die Bedeutung von Kunst selbst auf dem Spiel stehen. Diesem Skandaltyp möchte ich mich am Beispiel der drei Bewegungen des Futurismus, des Dadaismus und des Surrealismus widmen und dabei zugleich der Frage nachgehen, ob die historischen Avantgarden für Kunst und Literatur (noch immer) einen Skandal darstellen können. Arturo Larcati attestiert dem futuristischen Manifestantismus zu Recht, „den Zusammenhang von künstlerischer und politischer Programmatik performativ vorführen“27 zu wollen, worauf Birgit Wagner schon 1997 hingewiesen hat.28 Natürlich haben die Futuristen mit ihren Manifesten versucht, zu provozieren und zu skandalisieren, Marinetti spricht in einer Gebrauchsanleitung für Manifeste von der Notwendigkeit einer „genau dosierten Beschimpfung“.29 Der performative Charakter als Voraussetzung für einen doppelten Skandal lässt sich jedoch weniger mit der Veröffentlichung eines Manifests, und sei es im Figaro (wie das Gründungsmanifest des

26 Vgl. José Pierre (Hrsg.), Tracts surréalistes et déclarations collectives, Bd. 1, Paris 1980, S. 133–136. 27 Larcati, „Skandalstrategien“, S. 113. 28 Vgl. Birgit Wagner, „Auslöschen, vernichten, gründen, schaffen: zu den performativen Funktionen der Manifeste“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.), „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 39–57. 29 Zit. nach: Walter Fähnders, „‚Vielleicht ein Manifest‘. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifests“, in: Asholt/Fähnders, „Die ganze Welt“, S. 25.

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Futurismus am 20. Februar 1909), erreichen als mit dessen öffentlicher Inszenierung. Marinetti systematisiert dieses Verfahren ebenso wie jenes des Manifesteschreibens. Die futuristischen Serate versuchen nicht nur, das Publikum zu provozieren und damit deutlich erkennbare Skandale zu werden, sie beabsichtigen auch die Grenzen zwischen avantgardistischen Performern und Publikum aufzulösen, oder wie es im Manifest Il teatro di varietà (1913) heißt: „Il Teatro di Varietà è il solo che utilizzi la collaborazione del publico. Questo non vi rimane statico como un stupido voyeur, ma partecipa rumorosamente all’azione“ usw.30 Und mit einigen Stücken und an einigen Abenden gelingt es den Futuristen tatsächlich, Performances und Happenings zu veranstalten, in denen zumindest momentan die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht mehr markiert ist. Das skandalisiert zuallererst das so zu einem Teil der Performance werdende Publikum, wie etwa beim Happening der Battaglia di Firenze im Dezember 1913, stellt aber darüber hinaus einen Skandal für die autonome Literatur der Moderne als solche dar. Und schließlich gibt es noch den Skandal, dass die futuristische Avantgarde diese Skandalisierung der Literatur der Moderne vor allem unternimmt, um Autonomie und Autoreferentialität in Gewalt umschlagen zu lassen, in gewisser Weise ein Skandal der Avantgarde. Bei den Dadaisten ist es weniger die offene Provokation des Publikums im Sinne einer Beschimpfung als vielmehr dessen Desavouierung und Desorientierung, die einen Skandal bewirken (sollen). Wenn Benjamin davon spricht, dass die dadaistischen Auftritte „das Kunstwerk zum Mittelpunkt eines Skandals machen“ (s.o.), dann wird klar, dass nicht mehr nur das Happening und die Performance den Anlass der Provokation oder des Ärgernisses bilden, sondern der Status des Kunstwerkes oder das Nicht-Kunstwerk als Kunstwerk. Die Anti-Kunst, die die Dadaisten damit proklamieren, ist es, die „das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß“ macht. Zwar gibt es auch Zürcher Provokationen und den Dadaisten gelingt es durchaus, das Publikum zu desorientieren, doch den eigentlichen Skandal formuliert Tzara, wenn er das Kunstwerk im Manifest Dada 1918 so definiert: „Ordnung – Unordnung. Ich – Nicht-Ich, Bejahung – Verneinung: höchste Ausstrahlungen absoluter Kunst“,31 nachdem er schon in seinem beim Eröffnungsabend am 14. Juli 1916 vorgetragenen Manifest des Herrn Antipyrine erklärt hatte: „Aber wir, Dada, sind nicht ihrer Meinung, denn die Kunst ist nicht ernst.“32 Die Kunst wird gewissermaßen in und von der kreativen Indifferenz Dadas aufgelöst, sie wird ein Opfer des „dadaistischen Ekels“ der Logik des 30 Filippo Tommaso Marinetti, Teoria e invenzione futurista, Mailand 1983, S. 83. 31 Tristan Tzara, „Manifest Dada 1918“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders, Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1939), Stuttgart 1995, S. 151. 32 Tristan Tzara, „Manifest des Herrn Antipyrine“, in: ebd. S. 122.

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literarisch-künstlerischen Feldes gegenüber, dem, was Peter Bürger „Institution Kunst“ nennt: „Mit der Logik vermählt [so Tzara] würde die Kunst im Inzest leben.“ Der Skandal besteht darin, Kunst und Kunstwerk, wie sie sich in der Epoche der Autonomisierung herausgebildet haben, zum Mittelpunkt des Skandals zu machen: „Freiheit: Dada, Dada, Dada, aufheulen der verkrampften Farben, der Gegensätze und aller Widersprüche, der Grotesken und der Inkonsequenzen: Das Leben.“33 Diese Skandalisierung gelingt Dada vor allem während seiner Zürcher Periode. In Berlin sind sehr schnell nicht mehr die Kunstwerke die Geschosse, da Dada sich 1918/1919 politisiert. In Paris hingegen wird der Skandal zum Programm, doch die damit verbundene Automatisierung lässt den Skandal um den Status von Kunst und Literatur der Moderne in den Hintergrund treten. Ein Manifest von Aragon, das unter dem Titel Le Manifeste est-il mort? am 1. Mai 1923 in Littérature erscheint, bilanziert diese Entwicklung und stellt ihren Höhepunkt dar. Mit deutlicher Anspielung auf den Autonomisierungsschub, den der L’art pour l’art fast ein Jahrhundert zuvor repräsentierte, propagiert Aragon „LE SCANDALE POUR LE SCANDALE“, um zu bekennen: „Je n’ai jamais cherché autre chose que le scandale et je l’ai cherché pour lui-même“, und Kunst sowie Literatur stellen vor allem „un moyen commode de provoquer le scandale“ dar.34 Noch in dieser Generalisierung des Skandals wird die Kunst aufgelöst, die Frage bleibt freilich, wie lange der „scandale pur“ à la Aragon tatsächlich intentionsfrei praktiziert werden kann. Im Grunde hat André Breton mit seinem Appell Lâchez tout ein Jahr zuvor schon die Antwort gegeben, dessen Schlussaufruf mit „Lâchez tout. Lâchez Dada“ beginnt, um mit „Partez sur les routes“ zu enden.35 Dieser Appell ratifiziert den Bruch mit Dada und öffnet den Weg zum Surrealismus. Zwar benötigt auch diese neue Avantgarde-Bewegung heteronome und autonome Skandale, doch ihr eigentlicher Skandal besteht in jenem „radikalen Begriff von Freiheit“, den ihr Benjamin attestiert. Der Surrealismus macht nicht mehr nur wie Dada „das Kunstwerk zum Mittelpunkt des Skandals“, stärker noch als bei Dada ist die Kunst als solche das Skandalon, und eben das macht den Skandal des Surrealismus aus; die zahlreichen Skandale, vom Hommage à Germaine Berton (also einer Mörderin gewidmet) über die Aragon-Affäre bis zu den Ohrfeigen zwischen Ehrenburg und Breton im Kontext des Congrès international pour la défense de la culture (1935), sind im Vergleich dazu eher anekdotische,

33 Tzara, „Manifeste Dada 1918“, S. 154, S. 155. 34 Louis Aragon, „Le Manifeste est-il mort?“, in: Littérature 1923, 10, S. 10–13, vgl. den Abdruck des Manifests am Ende dieses Artikels, Hervorhebungen im Original. 35 André Breton, „Lâchez tout“, in: José Pierre (Hrsg.), Tracts surréalistes, S. 4.

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wenn auch notwendige Begleiterscheinungen, deren Funktion es ist, das Skandalon einer Kunst, die sich in der Autonomie eingerichtet hat, sichtbar zu machen. Der Skandalcharakter des Surrealismus wird zu seiner Zeit selbst nicht nur in solchen Provokationen oder Affären erblickt. In Silhouette du scandale ordnet Marcel Aymé ihn 1938 immerhin unter die „scandales […] purement littéraires“36 ein, die für ihn durchaus in der Tradition der Bataille d’Hernani durch formale Entautomatisierungen gekennzeichnet sind. Doch wenn er einräumt, „Le surréalisme et l’écriture automatique amenèrent un débridement de la syntaxe“, so um hinzuzufügen, „mais ce n’était qu’un jeu de chapelle où le public n’était pas invité“,37 und anschließend Céline als den eigentlichen Skandalautor zu apostrophieren.38 Dass über die künstlerische Form hinaus, das, was Alain Schaffner in dem erwähnten Beitrag „Le scandale formel“ nennt,39 Kunst und Literatur selbst zum Objekt des Skandals gemacht werden können, stellt den eigentlichen, aber gern ignorierten Skandal dar. Eben dies ist in den beiden großen surrealistischen Manifesten der Jahre 1924 und 1930 der Fall: der Begriff und die Bedeutung von Kunst und Literatur selbst stehen auf dem Spiel. Das scheint mir ein Skandal zu sein, der zunächst unmittelbar Kunst und Literatur infrage stellt, und seitdem, nach dem sogenannten Scheitern der Avantgarde, als Widergänger oder Gespenst durch Neoavantgarde und Postmoderne spukt. Nicht ohne Grund kommt Niklas Luhmann auf der letzten Seite seiner Kunst der Gesellschaft noch einmal auf die Avantgarde zurück: „Die Avantgarde hat nur das Problem gestellt und in Form gebracht [d.h. das Problem der Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst, das eng mit der Rückführung von Kunst und Leben zusammenhängt]. Man wird jetzt das Kunstsystem daraufhin beobachten müssen, wie es mit dieser Selbstherausforderung fertig wird.“40 Dem Surrealismus, den Breton im Ersten Manifest als einen „non-conformisme absolu“ angesichts des „monde réel“ bezeichnet, wird in der berühmten Definition dieses Manifests die Aufgabe erteilt und die Fähigkeit zugebilligt: „à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie.“41 Wenn der Sur-

36 Marcel Aymé, Silhouette du scandale, Paris 1973, S. 183. 37 Ebd., S. 189. 38 Dazu Alain Schaffner, „Silhouettes du scandale: de Marcel Aymé à Céline“, in: Dollé, Quel scandale!, S. 29–43, der sich der These Aymés von der nachlassenden Wirkung von literarischen Skandalen anschließt. 39 Ebd., S. 40–43. 40 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 507, S. 506. 41 André Breton, „Manifeste du surréalisme“, in: Œuvres complètes, Bd. 1, Marguerite Bonnet (Hrsg.), Paris 1988, S. 346, S. 328.

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realismus einen Quasi-Exklusivanspruch auf die Lösung der wichtigen Probleme des Lebens erhebt, dann reklamiert er mehr als jenes Lebenswissen, das vor kurzem als ein notwendiger Teil von Literatur und Literaturwissenschaft proklamiert worden ist.42 Die Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst soll obsolet werden, und mit dieser „Selbstherausforderung“ muss das „Kunstsystem“ seitdem fertig werden. Maurice Blanchot hat in seinen Réflexions sur le surréalisme schon 1949 gefragt: „Le surréalisme s’est-il évanoui?“ und selbst die Antwort gegeben: „C’est qu’il n’est plus ici ou là: il est partout. C’est un fantôme, une brillante hantise“.43 Dieses Gespenst, das vielleicht ebenso wie Derridas Spectres de Marx durch unsere Gesellschaft, durch Kunst und Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geistert, bildet noch immer einen Skandal. Paul Mann hat vor bald 20 Jahren mit seinem Theory-Death of the Avant-Garde die These der unbegrenzten Rekuperierbarkeit des Skandals einer avantgardistischen Kunst und Literatur (die dem ‚Scheitern‘ der Avantgarde bei Bürger entspricht) mittels der These einer „Afterlife“-Existenz der Avantgarde relativiert: „The anti (in whatever mutation) is impossible and the anti is inevitable.“44 Wenn die Avantgarde also heute noch potentiell skandalträchtig ist, so wegen dieser Widergänger-Existenzform, der sie ihre Funktion als „Selbstherausforderung“ verdankt. Wenn dies so wäre, würde die Avantgarde einen Skandal repräsentieren, der weder mit den Kategorien der klassischen Dramaturgie, noch mit jenen der systemstabilisierenden Beschleunigung des Normenwandels zu erfassen ist, sondern dem allenfalls der ‚autonome‘ Skandal, in dem „der Kunstbegriff und die Bedeutung von Kunst selbst auf dem Spiel“ stehen (Friedrich), ansatzweise gerecht wird. Dabei hat dieser ‚Skandal‘ der Avantgarde, die zu ihren historischen Zeiten, also zwischen 1909 und 1939 ja gern mit Skandalen agierte und provozierte, wahrscheinlich sein unmittelbares Skandalpotential verloren bzw. macht nur noch selten davon Gebrauch, und in der Literatur wohl noch weniger als in der Kunst. Wenn man an die jüngsten Skandale in der deutschen (Hegemann) wie der französischen Literatur (Lanzmann-Haenel-Karski, aber auch Littell) denkt, verlaufen diese nach dem banalen Schema von Herausforderung und Sich-Herausfordernlassen (Ladenthin) des literarischen Feldes, wobei die postulierte Notwendigkeit solcher Skandale, „Wenn es nicht mehr zu Skandalen kommt, ist Gefahr im Verzuge“,45 eigentlich übersieht, dass diese Skandale systemintern funktionieren und die Rekuperation als Skandal sozusagen markt-

42 Vgl. Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen 2010. 43 Maurice Blanchot, „Réflexions sur le surréalisme“, in: ders.: La Part du feu, Paris 1993, S. 90. 44 Paul Mann, The Theory-Death of the Avant-Garde, Bloomington 1991, S. 142. 45 Ladenthin, „Literatur als Skandal“, S. 27.

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gerecht einkalkulieren. Wo die Gefahr liegen könnte, die beim Ausbleiben solcher Skandale drohen würde, und für wen eine solche Gefahr Konsequenzen haben würde, ist offensichtlich. Es ist eben jener Teil des literarischen Feldes, der nur noch Marktmechanismen entsprechend funktioniert und seine Autonomie den „profits économiques“, um es mit Bourdieu zu formulieren, untergeordnet hat, der heute noch mehr des Skandals bedarf. Deshalb stellt Nathalie Heinich zu Recht fest: „Comparativement à la radicalité de certaines de ses propositions, l’art contemporain suscite, somme toute, étonnamment peu de scandales.“46 Wenn sie den Grund dafür in der „stratification des milieux et l’extrême différentiation des valeurs esthétiques raréfiant à l’extrême les occasions de confrontation entre le sens commun et les spécialistes“47 erblickt, so bietet sie nur eine partielle Erklärung. Denn die extreme Differenzierung hat auch zur Folge, dass es allgemein gültige Normen nicht mehr gibt, der Prozess der Auflösung von Grenzen, den Foucault in der „Préface à la transgression“ beschrieben hat,48 ist zwischenzeitlich deutlich fortgeschritten. Foucault hatte verlangt, die Transgression von dem zu befreien, „ce qui est le scandaleux ou le subversif“;49 dies scheint weitgehend auch für den Skandal erreicht zu sein. Die systematische Transgression der Normen im Verlauf des 20. Jahrhunderts macht neue Transgressionen, und d.h. die eigentlich notwendige Bedingung für Gegenwarts-Skandale, nahezu unmöglich. Gerade wegen ihrer seit Dada-Paris praktizierten Skandalstrategien waren sich Surrealisten wie Breton dieses Automatisierungscharakters des Skandals bewusst. Der Skandal wird also nicht mehr so sehr durch Verstöße gegen Normen des künstlerisch-literarischen oder moralischen Feldes versucht, sondern besteht vielmehr im Versuch, dieses Feld als solches infrage zu stellen, bildet also eine Art Meta-Skandal. Bei den Skandalen der Gegenwartsliteratur, wenn es denn überhaupt noch solche sind, steht die Bedeutung von Kunst jedenfalls nicht mehr auf dem Spiel, das Kunstwerk ist kein Geschoss mehr, das dem Betrachter zustößt (Benjamin) und man bleibt, um noch einmal Benjamin zu zitieren, „in den Grenzen des Skandals“, um den eigentlichen Skandal, jenen eines „radikalen

46 Heinich, „L’art du scandale“, S. 134. 47 Ebd. 48 Vgl. Michel Foucault, „Préface à la transgression“, in: Critique 18/1963, 195/96, S. 751–769. Wenn es bei Foucault heißt: „La transgression porte la limite à la limite de son être, elle la conduit à s’éveiller sur sa disparition imminente“ (S. 755), so gilt dies auch für die vom Skandal infrage gestellten ‚Werte‘. 49 „La [la transgression] libérer de ce qui est le scandaleux ou le subversif […] La transgression ne s’oppose à rien […] Elle affirme l’être limité […] aucune limite ne peut le retenir“, ebd., S. 756.

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Begriffs von Freiheit“, auch in Kunst und Literatur, umso besser als „verlorene Illusionen“ der Avantgarden verdrängen zu können.50 Für heutige Skandale trifft also das zu, was Roland Barthes vor 50 Jahren konstatierte: „Pour qu’il y ait scandale, il faut une Dividende Minimum Garantie“,51 und das ist, wie von ihm schon mit der Begrifflichkeit verdeutlicht, durchaus und fast ausschließlich ökonomisch zu verstehen. Eine Ahnung der ‚Avantgarde als Skandal‘ ist noch in dem schon zitierten Radio-Essay (von Bayern 2) zu spüren. Dort heißt es: „Im Skandal kommt die moderne Kunst zu sich selbst, in dem sie das jeweils Bestehende angreift und alt aussehen lässt und damit über den Haufen – der Geschichte wirft“, was zu der Frage führt: Was wäre, wenn die Avantgarde also im Skandal weiterlebte? Positiv gesehen: Wenn die Kunst den Weg ins Leben gefunden hätte – der alte Traum der Avantgarden – so sehr, dass die Kunst selbst unsichtbar wurde, namenlos, aber in der von ihr geschaffenen Form des Skandals noch weiter wirkmächtig ist?52

Hier wird die Gegenposition zu meiner Argumentation vertreten. Die Avantgarde hat ihr Projekt umfassend durchgesetzt, und wir bedürfen des Skandals nur, um überhaupt noch zu bemerken, dass es Kunst gibt, weil „die Kunst den Weg ins Leben gefunden hat“. Wenn das Projekt der Avantgarde, wie es hier in Anlehnung an Bürgers Diktum von der „Überführung der Kunst in Lebenspraxis“53 formuliert wird, zum Scheitern verurteilt war, wozu benötigte die historische Avantgarde den Skandal oder wieso benötigen ihn die Neoavantgarden noch heute? Vielleicht, um die Unsichtbarkeit und Namenlosigkeit wenigstens momentan zurücknehmen zu können, und als noch immer skandalisierender Widergänger den eigenen Tod infrage zu stellen? Die gegenwärtigen Literaturskandale zeigen, dass sich an dieser Situation nichts geändert hat. Die Avantgarde muss wohl noch länger ein Afterlife als Widergänger fristen und in dieser Erscheinungsform wird sie wohl noch lange eine skandalöse „Selbstherausforderung“ von Kunst und Literatur repräsentieren.

50 51 52 53

Vgl. Benjamin, „Der Sürrealismus“, S. 502, 303, 306. Barthes, „Qu’est-ce qu’un scandale?“, S. 784–786. Homann, „Kunst, Skandal, Avantgarde“. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1987, S. 72.

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Abb. 2a: Louis Aragon, „Le manifeste est-il mort?“ (1923)

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Abb. 2b: Louis Aragon, „Le manifeste est-il mort?“ (1923)

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Abb. 2c: Louis Aragon, „Le manifeste est-il mort?“ (1923)

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Abb. 2d: Louis Aragon, „Le manifeste est-il mort?“ (1923)

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Überlegungen zu einer Poetik des Skandals am Beispiel von Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir (1931/1933) Untersucht man die spanische Literatur des 18.–20. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Skandal und Literatur im Sinne einer Poetik des Skandals, dann gilt es, sich nicht nur auf jenen Skandalbegriff zu konzentrieren, der sich im Zuge der Entstehung von Strukturen kritischer Öffentlichkeit als Konstituente moderner, säkularisierter Gesellschaften herausgebildet hat. Gemeint ist jener Dreischritt von transgression, public allegations bzw. public disclosure und public disapprobation, so das Basismodell des politischen Skandals nach Thompson, das durch die Annahme sogenannter, im Zuge der Eindämmungsversuche von Skandalen entstehender, second order transgressions und diverser medialer Eigenlogiken ausgebaut werden kann.1 Anders als dies der Untersuchungszeitraum erwarten lässt, geht es im Folgenden gerade nicht primär um den Skandal als Ausdrucksform öffentlich ausgetragener gesellschaftlicher Norm- bzw. Wertkonflikte und als eine Form säkularisierender und säkularisierter soziologischer ‚Aufklärung‘.2 Zentrum der Untersuchung ist vielmehr der lange Zeit scheinbar obsolete, in den postsäkularen Gesellschaften unserer Gegenwart jedoch erneut virulente religiöse Skandal. Gemeint ist jenes, so das Etymon des Skandal-Begriffs, Stellholz einer Falle, jener Stein des Anstoßes, das bzw. der die skandalisierte Person zu Fall bringt, im Neuen Testament Anstoß zum Unglauben, Ursache von Heilsverlust und damit Verführung zu Sünde und moralisch anstößigem Verhalten. Denn blickt man auf das Beispiel Spaniens im 18.–20. Jahrhundert, das vom Gesichtspunkt einer aktuellen „resurgence of religion“3 weniger als Beispiel verspäteter Modernisierung und Säkularisierung als vielmehr einer alternativen, ‚anderen‘ Geschichte der Moderne erschiene, dann fällt beim Blick auf die Schriften dieser Zeit die überraschende Kontinuität und die hohe Frequenz der Verwendung von Begriffen wie escándalo, sacrilegio, blasfemia u.a. mehr ins Auge,

1 Vgl. John Brookshire Thompson, Political Scandal: Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000, S. 24. 2 Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 57, S. 65. 3 Talal Asad, Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity. Cultural Memory, Stanford 2003, S. 1.

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die den religiösen Diskurs spannungsvoll auf andere gesellschaftliche Bereiche und ihre Entwicklung beziehen. Doch wie ließe sich die Beziehung von Skandal und Literatur anders bestimmen als über Verfahren historischer Semantik oder eine in der bisherigen Forschung dominierende Stoff- oder Motivgeschichte des Skandals oder über die Analyse ausgesuchter Fälle der Skandalisierung von Literatur selbst, sogenannter Literaturskandale? Die Antwort auf diese Frage müsste sich mit eventuellen Homologien zwischen Skandal und Text als Phänomenen gesellschaftlicher Kommunikation beschäftigen – z.B. bzgl. der Produktion von Bedeutungspluralität und Ambivalenz, eines Konflikts der Interpretationen, der sich auf die Legitimität, die Attribution und Transgression von Normen bezieht, oder bzgl. der Transformation kollektiver Wissensbestände und normativer Horizonte – und dies u.a. vor dem Hintergrund der Rolle der Literatur als privilegiertem Medium des Skandals, die ihn nicht nur repräsentiert, sondern in performativer Hinsicht Teil seiner Dynamik wird und dabei ihrerseits skandalisiert werden kann. Im Vordergrund der literaturwissenschaftlichen Analyse stünde demnach eine Poetik des Skandals, die für die Entstehung jener für den Skandal charakteristischen Ambivalenz zwischen der Ausbildung von Semantiken mit disziplinierender Wirkung auf das Publikum auf der einen und der Problematisierung der „Grenzen des Sagbaren“4 auf der anderen verantwortlich wäre – so der Historiker Frank Bösch über die Duplizität der kommunikativen Wirkung des Skandals –, für jene Mehrdeutigkeit also zwischen Komplexitätsreduktion und -steigerung. Der Medienwissenschaftlicher Steffen Burkhardt bezeichnet Skandale als „Vereinfachungsmechanismen“, als „Elementargeschichten des sozialen Systems“, die „sich der Personifikation des sozialen Leitcodes [bedienen], indem sie die Komplexität der Narration auf eine Binarität von Gut und Böse zuspitzen“.5 Roland Barthes hingegen erkennt in seinem 1959 erschienenen Aufsatz „Qu’est-ce qu’un scandale?“ in der Komplexität gar das Telos eines bzgl. seiner Gegenstände, Kausalitäten und Finalitäten letztlich ungreifbaren Skandals: Son principe et sa fin, c’est la complexité. […] [Le scandale] tend à un spectacle du mystère, l’imbroglio est à la fois l’être et la forme qui en justifient la publicité. Mythiquement, tout est ici indifférent à la réalité ou au dénouement: seule compte l’épaisseur de l’écheveau.6

4 Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse: Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritanien 1880–1914, München 2009, S. 14. 5 Steffen Burkhardt, Medienskandale: Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 340. 6 Roland Barthes, „Qu’est-ce qu’un scandale?“, in: Roland Barthes: Œuvres complètes, Bd. 1, Éric Marty (Hrsg.), Paris 2002, S. 940–942, hier: S. 941.

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Anstatt die theoretische Diskussion an dieser Stelle fortzusetzen, möchte ich an einem literarischen Beispiel und einer spezifischen Erzählstruktur, der Figur der Wiederholung, ein mögliches Element jener noch zu schreibenden Poetik des Skandals vorstellen. Die Wiederholung ist dabei, könnte man behaupten, eines der grundlegenden Strukturelemente des Skandalnarrativs. Biblische Beispiele wären etwa das als blasphemisch gedeutete wiederholte Murren der Israeliten7 beim Auszug aus Ägypten, das von Gott, der den Wünschen der Israeliten wiederholt nachgegeben hatte, zuletzt bestraft wird, oder die dreimalige Leugnung Christi durch Simon Petrus. Die Repetition dient dabei als rhetorisches Äquivalent einer im Erzählrhythmus verankerten Skandaldynamik, als eine akkumulativer Logik gehorchende Steigerungsfigur, die im Kontext des religiösen Schemas von Prüfung bzw. Versuchung, Umkehr, Buße und ggf. Bestrafung funktionalisiert wird. Dieselbe Figur findet sich auch im Kontext profaner Literatur, man denke etwa, um drei Beispiele aus der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit herauszugreifen, an die Übertragung des am Beispiel der alttestamentarischen Texte gerade evozierten religiösen Verbots des Murrens, der üblen Nachrede, der murmuración, auf die Poetik literarischer Texte. Eine paradigmatische Diskussion dieses Vorbehalts findet sich in einer der bekanntesten exemplarischen Novellen Miguel de Cervantes’, dem Coloquio de los perros aus dem Jahr 1613, in der die im Dialog der zwei Hunde Cipión und Berganza repetitiv vorgebrachte Mahnung bzw. Zensurformel „¡No murmures!“ die spezifische Gestalt der parabelartigen Erzählung konfiguriert und dabei zugleich besagten religiösen Imperativ zu unterlaufen bemüht ist.8 Das Verbot der murmuración erlangt in Gestalt der Kritik satirischer Schriften sogar gattungstheoretische Relevanz und bleibt bis ins 18. Jahrhundert auch in mediengeschichtlicher Hinsicht wirkmächtig, als die sich in Spanien entwickelnde Presse wiederholt den Vorwurf gewärtigen muss, sie sei nichts weiter als ein den Skandal befördernder „murmurador público“,9 betreibe nichts weiter als üble Nachrede. Ein zweites Beispiel wäre die Episodenstruktur des pikaresken Romans als Ausdruck einer über die Wiederholung skandalöser Handlungen des pícaro begründeten Dynamik, die in diesen im Kontext der Gegenreformation publizierten Texten zu variantenreicher Exemplifizierung mo-

7 Vgl. u.a. Joh 6,41, Lk 15,2, sowie zahlreiche Passagen der Bücher Moses, z.B. 2. Mose 15–17. 8 Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra, „El coloquio de los perros“, in: Novelas Ejemplares, Bd. 2, Harry Sieber (Hrsg.), Madrid 2001, S. 297–359. 9 Vgl. Andreas Gelz, „El pensador como ‚murmurador público‘: el escándalo de los semanarios morales y la esfera pública en la España del siglo XVIII“, in: Klaus-Dieter Ertler/Alexis Lévrier/ Michaela Fischer (Hrsg.), Regards sur les ‚spectateurs‘. Periodical Essay – Feuilles volantes – Moralische Wochenschriften – Fogli moralistici – Prensa moral, Frankfurt am Main 2012, S. 213–225.

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ralischen Fehlverhaltens und zur über die Figur des Sündenbocks operierenden Etablierung gesellschaftlicher wie religiöser Ein- und Ausschlussmechanismen führt. Ein drittes Beispiel, das seinen frühneuzeitlichen Entstehungskontext zugleich radikal überschreitet, ist die Figur des Don Juan, dessen wiederholte Skandalisierungen der Gesellschaft und ihrer Werte am Ende bestraft werden. Im Spanien des 19. Jahrhunderts dient die für das Skandalnarrativ konstitutive Figur der Repetition oftmals zu geschichtsphilosophischen Perspektivierungen. Die Vorstellung, dass sich der religiöse Skandal im geschichtlichen Verlauf stets wiederholt, wird dabei insbesondere im konservativen Spektrum der Gesellschaft zum Versuch einer an gegenreformatorische Traditionen anknüpfenden Definition nationaler Sendung im Sinne der Abwehr einer insbesondere seit der Französischen Revolution in Europa, aber auch in Spanien selbst angeblich proliferierenden Heterodoxie genutzt. Menéndez y Pelayos 1880–1882 erschienene Historia de los heterodoxos españoles ist hier das einschlägige Beispiel.10 In seiner acht Bände umfassenden Nationalgeschichte entwickelt der spanische Polyhistor eine Vision spanischer Geschichte und Identität, die in der Abwehr der Heterodoxie ihren Wesenskern erkennt, für die der Skandal gleichsam zur raison d’être wird – von der Christianisierung der iberischen Halbinsel in der Römerzeit bis zur bürgerlichen Revolution 1868 und der Gründung der Ersten Republik 1873, deren aufklärerisches Programm dem erzkonservativen Menéndez y Pelayo zum Anlass seines umstrittenen, aber höchst einflussreichen Geschichtswerks wurde. Im Vordergrund der nun folgenden Analyse zur Literatur des 20. Jahrhunderts steht ein Roman von Miguel de Unamuno, als Philosoph, Schriftsteller, Altphilologe und Rektor der Universität Salamanca eine Galionsfigur des politischen Republikanismus im Spanien des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts und einer der wenigen spanischen Intellektuellen europäischen Formats. Unamuno veröffentlicht San Manuel Bueno, mártir 1933,11 drei Jahre nach dem Sturz des Militärdiktators Primo de Rivera und seiner eigenen triumphalen Rückkehr aus dem französischen Exil, ein Jahr nachdem er in Salamanca die Zweite Republik ausgerufen hatte und zum Rektor auf Lebenszeit ernannt worden war, und drei Jahre vor seinem Tod, der ihn ereilte, nachdem ihn Franco seines Amtes als Rektor enthoben und unter Hausarrest gestellt hatte. Im Mittelpunkt des Romans steht der exemplarische Lebenslauf des Dorfpriesters Don Manuel, der aufgrund seines Wirkens bei der Dorfbevölkerung bereits zu Lebzeiten den Status eines Heiligen besitzt und nach seinem Tod auf Betreiben des Bischofs selig gesprochen werden soll. Repetition meint in diesem Text zunächst die wiederholte Schil-

10 Marcelino Menéndez y Pelayo, Historia de los heterodoxos españoles, Madrid 1963. 11 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, Mario Valdés (Hrsg.), Madrid 2000.

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derung karitativer, geradezu wundersamer Handlungen mit dem Ziel des Nachweises der Wirkung göttlicher Gnade, der Steigerung des exemplarischen Charakters der beschriebenen Vita und ihrer moralischen Wirkung auf den Leser, ein Erzählmuster, das Modelle christlicher Hagiographie fortzuschreiben scheint. Da ist u.a. die Rede vom Wirken Don Manuels am Ufer des am Ort gelegenen Sees, an dem sich die Hilfsbedürftigen in der Johannisnacht einfinden, vom Wunder seiner Stimme („milagro de voz“), die überraschende Heilungen, „curaciones sorprendentes“, verursache, von seiner erneut wundersamen Fähigkeit, sein Wissen selbst an den Dorftrottel weiterzugeben („que parecía milagro que las hubiese podido aprender“).12 Der Höhepunkt dieser Ereigniskette sowie offenkundiger Nachweis des charismatischen Wirkens von Don Manuel ist die während einer Messfeier öffentlich vollzogene Konversion des Bruders der Erzählerin namens Lázaro, der mit kirchenfeindlichen Äußerungen von sich reden macht: [Don Manuel] Le pareció un ejemplo de la oscura teocracia en que él suponía hundida a España. Y empezó a barbotar sin descanso todos los viejos lugares comunes anticlericales y hasta antirreligiosos y progresistas que había traído renovados del Nuevo Mundo.13

Die Dorfbevölkerung hatte – im Wissen um traditionelle Formen der Beendigung dieses bis auf das 18. Jahrhundert und die Entstehung des Topos von den ‚Zwei Spanien‘ zurückzuverfolgenden Skandals – sowohl ein Duell zwischen Lázaro und Don Manuel als auch eine Konversion Lázaros für möglich gehalten. Y ya en el pueblo se fue formando, no sé cómo, una expectativa, la de una especie de duelo entre mi hermano Lázaro y don Manuel, o más bien se esperaba la conversión de aquél por éste.14

Die erste Kommunion Lázaros wird von der Dorfbevölkerung folgerichtig als ein Akt gesellschaftlicher Reintegration und damit der Aufhebung des Skandals betrachtet („recorrió un íntimo regocijo al pueblo todo, que creyó haberle reco-

12 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 120. 13 Ebd., S. 136. „Er [der heilige Kirchenmann] schien ihm beispielhaft für die finstere Theokratie, in der er Spanien begraben sah. Unermüdlich brummte er sämtliche Gemeinplätze gegen den Klerus, gegen die Religion überhaupt und für den Fortschritt vor sich hin, die er aufgefrischt aus der Neuen Welt heimgebracht hatte.” Alle Hervorhebungen in Unamunos Text stammen hier, sowie im weiteren Verlauf des Textes, vom Verfasser. Deutsche Übersetzung: Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, Erna Brandenberger (Hrsg./Übers.), Stuttgart 2003. 14 Ebd., S. 137 f. „Schon bald entstand im Dorf – wie weiß ich nicht – erwartungsvolle Spannung; man rechnete mit einer Art Zweikampf zwischen meinem Bruder Lázaro und Don Manuel oder eher mit der Bekehrung meines Bruders durch ihn.“  

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brado“15). Diese kanonische Form der Auflösung des Skandals erweist sich jedoch als Scheinlösung, die im weiteren Verlauf des Romans ihrerseits skandalisiert werden wird. Diesem Zweck dienen drei Textstrategien Unamunos, deren Funktionsweise ich am Beispiel von San Manuel Bueno, mártir aufzeigen möchte und deren Repräsentativität im Sinne einer Poetik des Skandals durch die Berücksichtigung weiterer Texte überprüft werden müsste. In einer m.E. bis dato in der spanischen Literaturgeschichte noch nicht gesehenen Weise neutralisiert Unamuno die Grundunterscheidung des Skandals zwischen Orthodoxie und Heterodoxie durch seinen literarischen Versuch ihrer aporetischen Gleichsetzung. Zweitens multipliziert Unamuno die Darstellung literaturhistorisch überlieferter Formen des Skandalmanagements, die vor dem Hintergrund dieser von Unamuno postulierten fundamentalen Ambivalenz des Skandalbegriffs einer Revision unterzogen werden. Beide Verfahren unterlaufen qualitativ wie quantitativ die ursprüngliche Funktion des Skandals, die gerade in der Orientierung stiftenden Reproduktion der Grenzen von Orthodoxie und Heterodoxie gelegen hatte. Ein drittes Textverfahren liegt in der Verschiebung der Prozessualität des Skandals (transgression, public allegations bzw. public disclosure und public disapprobation) von der Handlungsebene – seine intradiegetische Inszenierung war in der ideologisch aufgeheizten Stimmung im Spanien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typisch für zahlreiche Thesenromane – auf unterschiedliche Fiktionalitäts- und Beobachtungsebenen, auf denen sie reflektiert werden kann.16 Beginnen möchte ich mit der in meinen Augen wichtigsten literarischen Strategie Unamunos, der Engführung von Orthodoxie und Heterodoxie. Der Geruch des Skandals umgibt nämlich auch das Leben des Priesters Don Manuel selbst. Einmal

15 Ebd., S. 140. „[… Ein inniger Jubel] durchströmte die ganze Dorfbevölkerung, die meinte, ihn wiedergewonnen zu haben.“ 16 In diesem Sinn setzt meine Analyse eine Tendenz der Forschung fort, der zufolge die Produktion von Ambivalenzen und Paradoxien als eines der Merkmale von Unamunos Umgang mit kulturellen und religiösen Traditionen Spaniens angesehen werden kann. Vgl. auch Orringer: „None of Unamuno’s novels has so moved nor so perplexed its readers as San Manuel Bueno, mártir. Deemed at one time insidiously subversive to the Catholic Church, and at another time reactionary in its defense of the faith, it has more recently struck critics as simply a web of paradoxes spun for its own sake, with no loftier purpose than unsettling the spirit“, oder Krömer, der Unamunos Roman als ein „Vexierspiel, wo Glauben und Unglauben nicht mehr zu unterscheiden sind“ bezeichnet. Nelson Orringer, „Saintless and Its Unstudied Sources in San Manuel Bueno, mártir“, in: Harold Boudreau/Luis González-del-Valle, Studies in Honor of Sumner M. Greenfield, Lincoln 1985, S. 173–185, hier: S. 173; Wolfram Krömer, „Unamunos ‚San Manuel Bueno, mártir‘ und die Erzähltechnik des Romans des metaphysischen Zweifels“, in: Dieter Kremer (Hrsg.), Aspekte der Hispania im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1983, S. 59–68, hier: S. 65.

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weil die im Text inszenierte biographische Erzählung über seine Person als Grundlage des angestrebten Kanonisierungsverfahrens sich implizit am Skandal und der ihn konstituierenden Leitdifferenz von Orthodoxie und Heterodoxie orientiert, insofern der Nachweis der Heiligkeit Don Manuels (San Manuel Bueno) den Skandal, den es auszuschalten gilt, als ihr Gegenteil präsupponiert, und damit den Verdacht als gleichsam inquisitorisches Dispositiv in den Text integriert.17 Parece que el ilustrísimo señor obispo, el que ha promovido el proceso de beatificación de nuestro santo de Valverde de Lucerna, se propone escribir su vida, una especie de manual del perfecto párroco, y recoge para ello toda clase de noticias. A mí me las ha pedido con insistencia, ha tenido entrevistas conmigo, le he dado toda clase de datos, pero me he callado siempre el secreto trágico de don Manuel y de mi hermano. Y es curioso que él no lo haya sospechado. Y confío en que no llegue a su conocimiento todo lo que en esta memoria dejo consignado. Les temo a las autoridades de la tierra, a las autoridades temporales, aunque sean las de la Iglesia.18

Doch Unamuno belässt es nicht bei der Konstruktion eines impliziten Korrespondenzverhältnisses von Orthodoxie und Heterodoxie, auch nicht bei der Repräsentation eines Skandals in Latenz und damit bei einer virtuellen Multiplikation skandalträchtiger Vorgänge. Unamuno geht vielmehr zweitens so weit, den Skandal ins Zentrum selbst des scheinbar so exemplarischen Lebenslaufs zu stellen. Denn die wiederholte Beschreibung der exemplarischen Taten des Priesters ist zugleich auch, was im Roman nur die Erzählerin Ángela sowie ihr Bruder Lázaro wissen, ein einziger und mit jeder aus dem Leben von Don Manuel vorgestellten, scheinbar nachahmenswerten Episode vertiefter Skandal: Don Manuel glaubt nämlich nicht an die leibliche Auferstehung nach dem Tod.19 Das gleiche gilt auch für Lázaro:

17 Ein solches Dispositiv ist in der spanischen Kulturgeschichte seit der Einführung der Inquisition in der Frühen Neuzeit und der Pflicht, den Nachweis der „Reinheit des Blutes“, der limpieza de sangre, zu führen, nicht unbekannt. 18 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 166. „Anscheinend beabsichtigt der hochwürdigste Herr Bischof, welcher den Seligsprechungsprozess unseres Heiligen von Valverde de Lucerna in die Wege geleitet hat, ein Buch über sein Leben zu schreiben, eine Art ‚Handbuch des vollkommenen Gemeindepfarrers‘, und zu diesem Zweck sammelt er alle nur möglichen Unterlagen. Auch mich hat er nachdrücklich darum ersucht, er hat Gespräche mit mir geführt, und ich habe ihm die verschiedensten Angaben gemacht, aber immer habe ich mich über Don Manuels und meines Bruders tragisches Geheimnis ausgeschwiegen. Es wundert mich, dass er keinen Verdacht geschöpft hat; und ich hoffe zuversichtlich, dass er nichts von dem erfährt, was in dieser Gedenkschrift festgehalten ist. Ich fürchte nämlich die irdischen Amtsträger, die weltlichen Behörden, auch wenn es die der Kirche sind.“ 19 „Y al llegar a lo de ‚creo en la resurrección de la carne y la vida perdurable‘ la voz de don Manuel se zambullía, como en un lago, en la del pueblo todo, y era que él se callaba“, ebd., S. 123.

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–¡Pero esa comunión tuya ha sido un sacrilegio! –me atreví a insinuar, arrepintiéndome al punto de haberlo insinuado. – ¿Sacrilegio? ¿Y él, que me la dio? ¿Y sus misas? – ¡Qué martirio! –exclamé. – Y ahora –añadió mi hermano– hay otro más para consolar al pueblo. […] – Y el pueblo –dije–, ¿cree de veras?20

Hierbei handelt es sich um eine sicher extreme Form der Zuspitzung einer Skandaldynamik, bei der Heterodoxie und Orthodoxie so gegeneinander geführt werden, dass sie am Ende überblendet und ohne die Kenntnis des Geheimnisses von Don Manuel gleichsam ununterscheidbar werden – denn weder die Dorfgemeinde als potentielles Publikum des Skandals und Metonymie der spanischen Gesellschaft noch der Bischof als Hüter der religiösen Norm erfahren davon, wodurch der öffentliche Skandal auf der Ebene der Haupthandlung ausbleibt – jene fiktionale Ebene, auf der in der spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts üblicherweise über die Skandalisierung scheinbar heterodoxen Verhaltens die Reaffirmation religiöser Werte und Dogmen betrieben wird. Durch diese Erzählanlage radikalisiert Unamuno die scheinbar konstitutive Serialität des Skandalnarrativs, indem er sie untrennbar mit der Erzählung religiös exemplarischer Verhaltensweisen verknüpft und auf diese Weise die Orientierungsfunktion des Skandals unterläuft: Die ethische Unterscheidung zwischen exemplarischem und verurteilungswürdigem Verhalten ist am Ende des Textes nämlich nicht mehr deckungsgleich mit der durch den Skandal etablierten Unterscheidung von Orthodoxie und Heterodoxie. Die Projektion des religiösen Skandals – der Unglaube des Priesters – auf die Repräsentation religiöser Exemplarität par excellence, die das Heiligenleben darstellt, schafft eine Kippfigur,21 die sich deutlich von der von manchen Kritikern auch Unamuno unterstell-

„Wenn wir zu der Stelle kamen: ‚Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben‘, tauchte Don Manuels Stimme in die der Gemeinde ein wie in einen See, denn nun schwieg er.“ 20 Ebd., S. 143. „‚Aber dann ist ja deine Kommunion ein Frevel gewesen!‘, wagte ich einzuwerfen und bereute es auch schon wieder, kaum hatte ich es getan. ‚Frevel? Und er, der sie mir spendete? Und seine Messen?‘ ‚Was für eine Marter!‘ rief ich aus. ‚Und jetzt‘, fügte mein Bruder hinzu, ‚gibt es noch jemanden, der den Leuten Trost bringt.‘ […] ‚Und das Volk‘, sagte ich, ‚glaubt es wirklich?‘“ 21 Ein Ringen um das literaturgeschichtlich bedeutsame Postulat der Exemplarität im Sinne eines literarisch vermittelten, moralisch normstiftenden Verhaltens diagnostiziert Butt auch vor gattungsgeschichtlichem Hintergrund, indem er die Tradition der sogenanten novelas ejemplares (von Cervantes gleichnamigen novelas ejemplares aus dem Jahr 1613 bis zu Unamunos eigenen Tres novelas ejemplares y un prólogo von 1920) auf den Roman bezieht: „The novel […] is in some ways a tentative, hesitant and what Unamuno would call an exemplary (ejemplar) work – i.e. it offers a particular instance or case of human behavior but in many ways suspends judgment on it“, John Butt, Miguel de Unamuno: San Manuel Bueno, mártir, London 1981, S. 10.

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ten Parteinahme für die eine oder andere Seite des für den religiösen Skandal charakteristischen ideologischen Dualismus unterscheidet, wie sie für zahlreiche Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts typisch ist, die auf diese Weise die Skandaldynamik und die von ihr ausgeprägte Kultur der Gewalt befördert haben.22 In diesem Licht betrachtet weitet sich der Roman Unamunos zu einem literaturhistorischen Kommentar, zu einer Genealogie literarischer Inszenierungsformen des religiösen Skandals, die wie ein historisches Paradigma aufgerufen und auf syntagmatischer Ebene abgearbeitet, auf ihre Wirksamkeit befragt und durch das Vexierspiel, die Oszillation zwischen orthodoxer Oberfläche und heterodoxem Grund nicht selten in ihrer Geltung suspendiert werden. Ich will in aller Kürze auf diese Formen einer réécriture des Skandals als zweiter Textstrategie Unamunos eingehen, um den Roman Unamunos auf die spanische Geschichte bzw. Literaturgeschichte hin zu öffnen. Mit der Figur Lázaros, im Zentrum des Skandals um Don Manuel, rekurriert Unamuno nicht nur auf eine bestimmte religiöse Gestalt, in der sich die Frage der vom Glauben ermöglichten Wiederauferstehung und damit die Frage des Wunders sowie – jedenfalls in der Lesart Unamunos – der Konversion konkretisiert, sondern auch auf eine in der spanischen Kultur- und Literaturgeschichte seit der Frühen Neuzeit traditionelle Figur, diejenige des indiano. Dieser Repräsentant der spanischen return migration aus Lateinamerika hatte in der Literaturgeschichte seit dem 17. Jahrhundert immer schon als eine Verkörperung des Skandals im Zeichen der Illegitimität, unbekannter Herkunft, eines zweifelhaften Reichtums gegolten, als Verkörperung einer ökonomischen Logik in der lange Zeit ständegesellschaftlich geprägten Diskurswelt des spanischen Romans. Die Überblendung von indiano und Lazarus-Figur, beides Protagonisten einer Bewegung der Rück- und Wieder-

22 Lázaro stilisiert den Priester und sich selbst dabei explizit zu Figuren eines Zwischenraums zwischen Orthodoxie und einer im Roman materialistisch ausgeprägten Heterodoxie: „– Él me curó de mi progresismo. Porque hay, Ángela, dos clases de hombres peligrosos y nocivos: los que convencidos de la vida de ultratumba, de la resurrección de la carne, atormentan, como inquisidores que son, a los demás para que, despreciando esta vida como transitoria, se ganen la otra, y los que no creyendo más que en este… – Como acaso tú… –le decía yo. – Y sí, y como don Manuel. Pero no creyendo más que en este mundo esperan no sé qué sociedad futura y se esfuerzan en negarle al pueblo el consuelo de creer en otro…“, ebd., S. 160 f. „‚Er hat mich vom Fortschrittsglauben geheilt. Es gibt nämlich zwei Arten von gefährlichen und schädlichen Menschen, Angela: die einen sind überzeugt vom Leben nach dem Tod, von der Auferstehung des Fleisches, und quälen wie Inquisitionsrichter – was sie ja sind – alle übrigen, damit sie dieses Leben als Übergangsdasein gering achten und sich das jenseitige gewinnen; die andern glauben ausschließlich an das irdische Leben…‘ ‚Wie möglicherweise du…‘, sagte ich zu ihm. ‚Ja, und wie Don Manuel. Aber da sie nur an diese Welt glauben, hoffen sie auf irgendeine zukünftige Gesellschaft und geben sich alle Mühe, dem Volk den Glauben an eine andere zu verweigern…‘“  

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kehr, die man auch in anderen Romanen des spanischen 19. Jahrhunderts, z.B. in Pedro Antonio de Alarcóns El escándalo von 1875 findet, kann dabei sowohl im Sinne einer skandalträchtigen Grenzüberschreitung gelesen werden, die die Rückkehr in die spanische Gesellschaft unmöglich macht, als auch gerade umgekehrt im Sinne eines klassischen Modells der Auflösung des Skandals durch die Wiedergeburt und die Reintegration des Außenseiters in die religiös geprägte Gesellschaft. Dies war die Lösung, die noch Alarcón in seinem Roman vorgeschlagen hatte und die Unamuno mit der ja nur scheinbaren Konversion Lázaros in signifikanter Weise abwandelt, weil er die beiden skizzierten Handlungsverläufe verknüpfend vielmehr die Ambivalenz der Figur des indiano betont als Figur, die Spanier ist und zugleich als Fremder gebrandmarkt wird, bei der Identität und die als skandalträchtig wahrgenommene Alterität, Orthodoxie und Heterodoxie sich paradoxal verschränken, ein Schicksal, an dem andere Protagonisten der spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts zerbrechen, als berühmtester unter ihnen vielleicht der Protagonist in Duque de Rivas Stück aus dem Jahr 1835, Don Álvaro o la fuerza del sino, Vorlage zu Verdis Oper Die Macht des Schicksals. Don Álvaro el indiano sucht als Klosterbruder seinem gewalttätigen Schicksal zu entrinnen und stürzt sich dennoch im Modus einer Selbststigmatisierung als Teufel von einem Fels in den Tod. Mit der erwähnten Konversion Lázaros wird eine weitere kulturhistorisch und literarisch eingeführte Form der Beendigung des Skandals aufgerufen, ein in dieser Hinsicht emblematisches Beispiel wäre der Don Juan von José Zorrilla aus dem Jahr 1844 und insbesondere sein ungewöhnlicher Schluss, der die gesamte Stofftradition auf den Kopf stellt, in dem Don Juan als die Inkarnation des Skandals sich in articulo mortis bekehrt und sein Tod daher nicht den Moment der Verdammnis, sondern seiner Rettung darstellt. Dieses Modell wird bei Unamuno allerdings dadurch relativiert, dass die Konversion von einem sakrilegischen Priester vollzogen wird und sie darüber hinaus einer heiligen Sache, einer „causa santa“ gilt, die im religiösen Sinne keine ist. Wieder werden Orthodoxie und Heterodoxie enggeführt: Entonces –prosiguió mi hermano– comprendí sus móviles y con esto comprendí su santidad; porque es un santo, hermana, todo un santo. No trataba, al emprender ganarme para su santa causa –porque es una causa santa, santísima–, arrogarse un triunfo, sino que lo hacía por la paz, por la felicidad, por la ilusión si quieres, de los que le están encomendados; comprendí que si les engaña así –si es que esto es engaño– no es por medrar. Me rendí a sus razones, y he aquí mi conversión.23

23 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 142. „‚Da begriff ich‘, fuhr mein Bruder fort, ‚seine Beweggründe, und damit begriff ich auch seine Heiligkeit; denn er ist ein Heiliger, Schwes-

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Das Gleiche gilt auch für das Sakrament der Beichte, die in Alarcóns Roman El escándalo und anderen Texten des 19. Jahrhunderts als Erzählrahmen – der Protagonist erzählt einem Priester sein von der Sünde geprägtes Leben, der ihm am Ende die Absolution erteilt – oftmals dazu dient, die vorgeblich sündhafte gesellschaftliche Wirklichkeit in einen christlichen Horizont zu reintegrieren und damit auch in ästhetischer Hinsicht den Skandal des aus Frankreich importierten Realismus und seines Wirklichkeitsmodells zu revozieren. Anders in Unamunos San Manuel Bueno, mártir, in dem zum einen Ort und Praxis der Beichte radikal säkularisiert werden und zum anderen der biographische Text über Don Manuel selbst als eine Beichte Ángelas erzählt wird, die, weil sie in ihren Berichten über das Leben Don Manuels an den Bischof den eigentlichen Skandal, das Geheimnis von Don Manuel, verschweigt, ihre eigene Autobiographie mit der umfassenden Schilderung des Lebens von Don Manuel verschränkt und Absolution nunmehr beim Leser einfordert.24 Der Beichtstuhl als Ort der Absolution, des Skandals und seiner Aufhebung, als Ort, in dem sich Skandal und religiöse Norm für einen kurzen Moment überlagern, wird diesseits transzendenter Bezüge transfiguriert. Beim Zusammentreffen von San Manuel Bueno und der aufgrund ihrer Kenntnis seines Geheimnisses in ihrem Glauben erschütterten Erzählerin ist es letztere, die nicht nur die Frage nach der tatsächlichen Hierarchie im Beichtstuhl stellt: „¿quién era el juez y quién el reo?“,25 sondern am Ende den Priester von der Aura des Skandals, die seine

ter, ein richtiger Heiliger. Als er es unternahm, mich für seine heilige Sache zu gewinnen – denn es ist eine heilige, hochheilige Sache – versuchte er nicht, den Triumph für sich zu beanspruchen, sondern er tat es um des Friedens, um des Glückes willen, zur frommen Täuschung der ihm Anvertrauten, wenn du willst; ich begriff, dass er nicht sich selbst brüsten will, wenn er sie auf diese Weise betrügt – falls das überhaupt ein Betrug ist. Ich beugte mich seinen Überlegungen, und das ist also meine Bekehrung.‘“ 24 Eine weitere, nicht weniger skandalträchtige Ableitung jener gegenüber den Lesern abgelegten ‚Beichte‘ in Gestalt ihrer autobiographischen Erzählung besteht in der Annahme eines erotischen Begehren Ángelas gegenüber Don Manuel: „In addition to indications that don Manuel is both a surrogate father and the object of Ángela’s desire, there are signs that she sees him as her child, preoccupied as she is with his falling into danger without her“, eine Gefahr, die nicht nur ihre ‚Beicht-Erzählung‘, sondern gemäß dieser Interpretation auch ihre phantasmatische Identifikation mit der Figur Marias bannen soll: „Of these aspects of Ángela-the-woman, the maternal element, with Mary as paradigm, is not the least important, for by means of auto-assimilation into virginal maternity, sin and death are dramatically eliminated and this provides yet another explanation for her assumption that there can be no hell for her“, Pamela Bacarisse, „Will the Story Tell? Unamuno’s ‚San Manuel Bueno, mártir‘“, in: dies. (Hrsg.), Carnal Knowledge: Essay on Flesh, Sex and Sexuality in Hispanic Letters and Film, Pittsburgh 1991, S. 64 f. 25 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 145. „Wer war der Richter und wer der Angeklagte?“  

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Person umgibt, befreit, in einem wiederum skandalösen, illegitimen Akt der Absolution. –Tienes razón, Angelina, no sé ya lo que me digo; no sé ya lo que me digo desde que estoy confesándome contigo. Y sí, sí, hay que vivir, hay que vivir. Y cuando yo iba a levantarme para salir del templo, me dijo: –Y ahora, Angelina, en nombre del pueblo, ¿me absuelves? Me sentí como penetrada de un misterioso sacerdocio, y dije: –En nombre de Dios Padre, Hijo y Espíritu Santo, le absuelvo, padre.26

Eine prägnante Ausprägungsform dieser Reprisen traditioneller Darstellungsformen des Skandals stellt der Titel von Unamunos Roman San Manuel Bueno, mártir selbst dar, der die Titelfigur scheinbar kanonisiert und als Märtyrer, als Figur des Widerstands gegen bzw. als Opfer des religiösen Skandals heroisiert. Auf diese Weise ordnet er seinen Text über dessen Titel zwar in eine Genealogie literarischer Helden des religiösen Skandals im 19. Jahrhundert ein, nur um diese Ahnenreihe durch die in seinem Roman geleistete Transformation des Märtyrer-Konzepts in ihrem Geltungsanspruch zu relativieren und mit ihr jene Texte, die einen christlichen Märtyrerbegriffs propagierten, wie etwa Ángel Ganivet, El escultor de su alma, Pedro Mártir : drama místico en tres autos: de la fe, del amor y de la muerte (1898); Enrique Pérez Escrich, El mártir del Gólgota (1863–64), La Esposa Mártir : Novela de costumbres (1865), um nur zwei Autoren beispielhaft zu nennen. Auf diese Weise unterbricht Unamuno nicht nur eine bestimmte ideologische, sondern auch eine ästhetische bzw. gattungsgeschichtliche Kontinuität im Zeichen des religiösen Skandals. Den Kulminationspunkt dieser Erzählstrategie Unamunos stellt jedoch die implizite Gleichsetzung Don Manuels mit der Figur Jesu Christi dar, eine Art Übersteigerung der imitatio Christi unter neuem Vorzeichen, bei der Glauben und Unglauben deckungsgleich werden.27

26 Ebd., S. 146. „‚Du hast recht, Angelina, ich weiß nicht mehr, was ich rede; ich weiß nicht mehr, was ich rede, seit ich vor dir meine Beichte ablege. Und doch, doch, man muss leben, man muss leben.‘ Als ich aufstehen und aus der Kirche gehen wollte, sagte er zu mir: ‚Und jetzt, Angelina, im Namen des Dorfes, sprichst du mich los?‘ Ich fühlte mich von einer Art Priestertum geheimnisvoll durchströmt und sagte zu ihm: ‚Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes spreche ich Sie los, Herr Pfarrer.‘“ 27 Vgl. Eduardo Godoy Gallardo, „El trasfondo bíblico en San Manuel Bueno, Mártir de Miguel de Unamuno“, in: Revista Chilena de Literatura, 2001, 58, S. 19–43.

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¡Y cómo sonó entonces aquel ‚¡Dios mío, Dios mío!, ¿por qué me has abandonado?‘, el último que en público sollozó Don Manuel!28 Y cuando en el sermón de Viernes Santo clamaba aquello de: ,¡Dios mío, Dios mío!, ¿por qué me has abandonado?‘, pasaba por el pueblo todo un temblor hondo como por sobre las aguas del lago en días de cierzo de hostigo. Y era como si oyesen a Nuestro Señor Jesucristo mismo, como si la voz brotara de aquel viejo crucifijo a cuyos pies tantas generaciones de madres habían depositado sus congojas.29

Diese spezifische Umgangsweise des Textes mit der Figur der Wiederholung unterschiedlicher literaturgeschichtlicher Ausprägungsformen des Skandal-Narrativs wird dabei auch – wie ich in einem kurzen Exkurs zeigen möchte – durch die Berücksichtigung des historischen Kontexts plausibel, insofern der aufgrund seiner scheinbaren Zeitlosigkeit über Strecken wie eine Fabel erscheinende Roman Unamunos in Wirklichkeit nicht zufällig an einem der emblematischen Orte einer im Spanien der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert stattfindenden Auseinandersetzung mit Fragen nationaler Identität und ihrer Krise angesiedelt ist, der aldea, dem pueblo, dem Dorf. Als Ort, an dem der geschichtliche Wandel und Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse aller Art spurlos vorbeigegangen zu sein schienen, geriet er den Autoren der sogenannten 98er-Bewegung, zu denen Unamuno gehörte und die ihren Namen der Prägung ihrer Schriften durch das nationale Trauma, den Verlust der letzten spanischen Kolonien in Übersee 1898, verdankten, zum Ausgangspunkt einer literarischen Spurensuche, bei der die Konturen von Vergangenheit und Gegenwart oftmals verwischten: Die Landschaft, das Dorf, die Religion, zum Teil allegorisch bzw. mythisch überhöhte Motive und Figuren in Literatur und Malerei, das Kastilien der Meseta, die Figuren Abels und Kains, die spanischen Mystiker, Figuren wie der Cid, Don Quijote, Don Juan, Maler wie El Greco und Velázquez standen im Vordergrund einer Reflexion über kollektive Identitätsmerkmale und Ideologeme, zu denen – und dies ließe sich am Beispiel jeder einzelnen der genannten Figuren, ja sogar der Landschaftsdarstellungen eines Großteils der Autoren jener Zeit zeigen – auch der Skandal gezählt werden muss – als Ausdruck einer Geschichte, die sich zu wiederholen scheint, die nicht vergehen will.

28 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 153. „Wie klang doch das ‚Mein Gott! Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘, als es Don Manuel zum letzten Mal öffentlich schluchzte!“ 29 Ebd., S. 121. „Wenn er in der Karfreitagspredigt den Klageruf ausstieß: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ erzitterte das ganze Volk wie an stürmischen Nordwindtagen das Wasser des Sees. Es war ihnen, als hörten sie unsern Herrn Jesus Christus selbst, als gehe die Stimme vom alten Kruzifix aus, zu dessen Füßen Generationen von Müttern ihren Kummer getragen hatten.“

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Daran ändert auch Unamunos Versuch nichts, einer Verklärung der aldea als folkloristisch-patriotischem Ausdruck von lo español, eines spanischen casticismo, also einer nationalidentitären Einheit von Spaniertum und katholischer Kirche, die nicht zuletzt in der Identifikation der Dorfbevölkerung mit dem Priester als gutem Hirten sichtbar wird, einen Riegel vorzuschieben. Das, was als Ausdruck spanischer Traditionalität im Text erscheinen könnte, wird deshalb von Unamuno als das Ergebnis einer Täuschung bzw. Manipulation präsentiert, wenn sich der Priester die im Grunde genommen religionskritischen Einschätzungen von der Religion als „Opium des Volkes“ ebenso zu eigen macht wie jene der Funktionsäquivalenz unterschiedlicher Religionen und zur Legitimation seiner skandalösen „causa santa“, seines seelsorgerischen Handelns gegenüber der Dorfbevölkerung einsetzt: Sí, ya sé que uno de esos caudillos de la que llaman la revolución social ha dicho que la religión es el opio del pueblo. Opio…, Opio…, Opio, sí. Démosle opio, y que duerma y que sueñe. Yo mismo con esta mi loca actividad me estoy administrando opio.30 ¿Religión verdadera? Todas las religiones son verdaderas en cuanto hacen vivir espiritualmente a los pueblos que las profesan, en cuanto les consuelan de haber tenido que nacer para morir […].31

Diese Provokation des zeitgenössischen Publikums, und damit komme ich abschließend zur dritten Erzählstrategie Unamunos, beruht paradoxerweise gerade auf der weiter oben beschriebenen Suspension des Skandals im Text sowie der Fragmentierung des im Text dargestellten Dorfpublikums als Kommunikationsund Skandalgemeinschaft, eine Erzählstrategie, durch die inkompatible Sichtweisen auf den Priester, unterschiedliche Versionen seiner Biographie – die offizielle und vom Bischof verantwortete, diejenige Lázaros, Ángelas sowie des fiktiven Herausgebers ihres Manuskripts namens Unamuno – unverbunden nebeneinander stehen bleiben.32

30 Ebd., S. 152. „Ja, ich weiß wohl, dass einer der Anführer der sogenannten sozialen Revolution gesagt hat, die Religion sei Opium für das Volk. Opium… Opium… Opium, ja. Geben wir ihm Opium, damit es schlafen und träumen kann. Ich selbst verabreiche mir mit meinem verrückten Tätigkeitsdrang Opium.“ Vgl. Anthony Zahareas, „Unamuno’s Marxian Slip: Religion as Opium of the People“, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association, 17/1984, S. 16–37. 31 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 143. „Wahre Religion? Alle Religionen sind wahr, sofern sie die Völker, die sich dazu bekennen, zum geistigen Leben führen, sofern sie ihnen Trost spenden, weil sie auf die Welt kommen müssen, um zu sterben […].“ 32 Vgl. unter umgekehrter Betrachtungsweise die Diagnose der Multiplikation textinterner Leserschaft: „Manuel is a performer with a double audience that consists, on the one hand, of at least two intimates who, when hints are dropped, are aware both of Manuels’ secret and of the people’s

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Durch den Verzicht auf die öffentliche Sanktionierung Don Manuels wird die Einschätzung des skandalösen Charakters menschlichen Verhaltens, im Roman der Handlungen Don Manuels, auf die Ebene individueller Interpretation der verschiedenen Protagonisten sowie außerliterarisch auf die Ebene einer öffentlichen, kritischen Rezeption von Unamunos, durch den Verzicht auf die Darstellung eines öffentlichen Skandals paradoxerweise skandalös erscheinenden Text verlagert. Damit ist der Text Unamunos der Ort des Übergangs von einem älteren Konzept eines religiösen Skandals, dessen vielfältige literarische und kulturelle Erscheinungs- und Bearbeitungsformen er, wie beschrieben, noch einmal aufgreift, zu jenem eingangs erwähnten, zunächst jedoch unberücksichtigt gelassenen modernen, eng mit dem Phänomen von Öffentlichkeit verbundenen Skandalbegriff, der nicht das Strukturmodell und die Ausdrucksform der religiösen wie gesellschaftlichen Abwehr von Heterodoxie meint, also einer binären Struktur gehorcht, sondern einen öffentlichen, kommunikativen, perspektivabhängigen Prozess heterogener, hybrid miteinander verbundener Geschichten. Im Roman Unamunos geht es um eine bewusste literarische Auseinandersetzung mit erworbenen kulturellen Erzählschemata des religiösen Skandals, der damit seinerseits von der Objekt- auf die Metaebene gehoben und reflexiv wird. Die Dynamik des religiösen Skandals als solche wird dabei nicht angegriffen (vgl. das weiter oben zum Kanonisierungsverfahren und seiner inquisitorischen Logik Gesagte), sie wird vielmehr unterlaufen, insofern der Skandal durch die paradoxe ‚Beichte‘ Ángelas, d.h. ihr der Öffentlichkeit als Protagonist des Romans entzogenes, jedoch dem Leser von Unamunos Text offenliegendes Bekenntnis, ausbleibt und mit ihm die (Re-)Affirmation der Interpretationshoheit der Kirche. In diesem Sinne ist Unamunos Text an einer Schwelle angesiedelt, an der religiöse Normvorstellungen und deren über das Mittel des Skandals und im Sinne einer Machtlogik erfolgende Durchsetzung kommunikativ bearbeitet werden können, an der die beiden eingangs geschilderten unterschiedlichen Vorstellungen des Skandals in seiner religiösen wie säkularisierenden Dimension aufeinanderprallen.33

incomprehension. Thanks to the confession, on the other hand, the fictive villagers’ ignorance is the historical readers’ information”. Zahareas, „Unamuno’s Marxian Slip“, S. 19. Die textinterne Verdopplung der Biographie Manuels stelle „a radical mode of rereading ecclesiastical (and, in general, most ‚official‘) discourses“ dar (ebd. S. 20). Der Leser werde Beobachter der sozialen Konstruktion und Dekonstruktion einer Heiligenfigur und damit eines religiösen Diskurses. Dabei schrecke Unamuno nicht vor paradox anmutenden Zuspitzungen zurück: „Angela lives on for many years in the village, and finally consigns the strange story to writing, hoping paradoxically that it will never be seen by the Church authorities“, John Butt, Miguel de Unamuno, S. 22. 33 In diesem Zusammenhang erlangt auch Unamunos Rekurs auf verschiedene Medien mit unterschiedlicher öffentlicher Reichweite seine Bedeutung im Sinne der Berücksichtigung mediengeschichtlicher Entwicklungen für das Verständnis der Veränderung von Skandalkonzepten.

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Y ahora, al escribir esta memoria, esta confesión íntima de mi experiencia de la santidad ajena, creo que don Manuel Bueno, que mi san Manuel y que mi hermano Lázaro se murieron creyendo no creer lo que más nos interesa, pero sin creer creerlo, creyéndolo en la desolación activa y resignada. […] Y es que creía y creo que Dios Nuestro Señor, por no sé qué sagrados y no escrudiñaderos designios, les hizo creerse incrédulos. Y que acaso en el acabamiento de su tránsito se les cayó la venda. ¿Y yo, creo?34

Ob es sich beim Skandal Don Manuels und Lázaros also am Ende nicht doch bloß um eine List des Glaubens handelt – die beiden hätten nur geglaubt, nicht zu glauben –, um ein „heiliges Spiel“, als welches Ángela das Verhalten Don Manuels beschreibt, ob diese List des Glaubens den Skandal noch in ein Glaubenszeugnis verwandeln kann oder ob es sich bei dieser Aussage nicht vielmehr um eine letzte List der Literatur handelt, die die Frage nach Glauben und Unglauben mit Blick auf die für Don Manuel wichtige Frage nach dem guten Handeln in einer gewissen Weise indifferent werden lässt, muss offenbleiben. Mit der Frage nach dem guten Handeln, dem obrar bien, das er aus seiner orthodoxen Klammer herauszulösen bemüht ist, antwortet Unamuno in seinen eigenen Worten in einer letzten Ausprägung der Wiederholung der Figur des Skandals auf eine barocke Problematik, die im Zentrum von Calderóns berühmten Stück La vida es sueño (1635) gestanden hatte, die Suche nach der Begründung menschlichen Handelns angesichts des Skandalons menschlicher Existenz, der Zweifel bzgl. ihres ontologischen Status – das Leben als Traum? – sowie ihrer Verlorenheit – der größte Fehler des Menschen bestehe darin, heißt es im Stück, geboren worden zu sein.

Dieser Aspekt wird besonders plausibel, wenn man sich die Editionsgeschichte des Textes vor Augen führt, der zufolge seine Veröffentlichung in der Presse vor der Buchpublikation erfolgte: Der Text wurde im November 1930 verfasst, ist am 13. März 1931 in La Novela de hoy und in Buchform bei Espasa-Calpe im Sommer 1931 veröffentlicht worden. Diese Reihenfolge ist mit Blick auf die Bedeutung der Medien für öffentliche Skandalisierungsprozesse nicht ohne Belang, vgl. John Butt, Miguel de Unamuno, S. 13. 34 Miguel de Unamuno, San Manuel Bueno, mártir, S. 165. „Jetzt, da ich dies zum Gedenken niederschreibe, dieses Bekenntnis meines inneren Erlebens fremder Heiligkeit, glaube ich, dass Don Manuel Bueno, dass mein heiliger Manuel und mein Bruder Lázaro in dem Glauben starben, nicht zu glauben, was uns am meisten bewegt, aber dass sie es, ohne zu glauben, doch glaubten, dass sie es in tätiger und ergebener Betrübnis glaubten. […] Denn ich glaubte und glaube es noch, dass Gott unser Herr in seinem weisen, unerforschlichen Ratschluss sie glauben ließ, ungläubig zu sein. Und dass vielleicht im Augenblick ihres Hinscheidens die Binde von ihren Augen fiel. Und ich, glaube ich?“

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–¿Cuál es nuestro pecado, padre? –¿Cuál? –me respondió–. Ya lo dijo un gran doctor de la Iglesia Católica Apostólica Española, ya lo dijo el gran doctor de La vida es sueño, ya dijo que ‚el delito mayor del hombre es haber nacido‘. –Ese es, hija, nuestro pecado: el de haber nacido. –¿Y se cura, padre? –¡Vete y vuelve a rezar! Vuelve a rezar por nosotros, pecadores, ahora y en la hora de nuestra muerte… Sí, al fin se cura el sueño…, y al fin se cura la vida…, al fin se acaba la cruz del nacimiento… Y como dijo Calderón, el hacer bien, y el engañar bien, ni aun en sueños se pierde...35

In zahlreichen Passagen seines Romans greift Unamuno das Bild vom Traum als zentraler Metapher Calderóns wieder auf, insbesondere dann, wenn Don Manuel über das Leben seiner Gemeinde, aber auch über die menschliche Existenz im Allgemeinen spricht: – No te aflijas, Ángela, y sigue rezando por todos los pecadores, por todos los nacidos. Y que sueñen, que sueñen. ¡Qué ganas tengo de dormir, dormir, dormir sin fin, dormir por toda una eternidad y sin soñar!, ¡olvidando el sueño!36 – Y hasta nunca más ver, pues se acaba este sueño de la vida.37 – Tú, Ángela, reza siempre, sigue rezando para que los pecadores todos sueñen hasta morir la resurrección de la carne y la vida perdurable…38 ¿Es que sé algo? ¿es que creo algo? ¿Es que esto que estoy aquí contando ha pasado y ha pasado tal y como lo cuento? ¿Es que pueden pasar estas cosas? ¿Es que todo esto es más que un sueño soñado dentro de otro sueño? ¿Seré yo, Ángela Carballino, hoy cincuentona,

35 Ebd., S. 154 f. „‚Welches ist unsere Sünde, Herr Pfarrer?‘ ‚Welches?‘, antwortete er mir, ‚das hat schon ein großer spanischer Gelehrter der katholischen und apostolischen Kirche gesagt, das hat schon der Dichter von ‚Das Leben ein Traum‘ gesagt, nämlich: ‚die größte Schuld des Menschen ist geboren zu sein‘. Das, meine Tochter, ist unsere Sünde: geboren zu sein.‘ ‚Kann sie geheilt werden, Herr Pfarrer?‘ ‚Geh heim und bete! Bete immer wieder für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes… Ja, am Ende heilt der Traum…, und am Ende heilt das Leben… und schließlich ist das Kreuz der Geburt zu Ende… Calderón sagt auch, dass man nicht einmal im Traum verlerne, gut zu handeln und gut zu täuschen…‘“ 36 Ebd., S. 156 f. „Sei nicht traurig, Angela, und bete weiterhin für alle Sünder, für alle Geborenen. Damit sie träumen, träumen. Wie ich mich sehne zu schlafen, zu schlafen, endlos zu schlafen, eine ganze Ewigkeit lang zu schlafen, ohne zu träumen! Den Traum zu vergessen!“ 37 Ebd., S. 156. „Somit verabschiede ich mich für immer, denn dieser Traum, der Leben heißt, geht zu Ende…“ 38 Ebd., S. 157. „‚Du, Angela, bete immerzu, bete, damit alle Sünder bis zu ihrem Tod von der Auferstehung des Fleisches und vom ewigen Leben träumen können…‘“  



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la única persona que en esta aldea se ve acometida de estos pensamientos extraños para los demás?39 Y yo no sé lo que es verdad y lo que es mentira, ni lo que vi y lo que sólo soñé –o mejor lo que soñé y lo que sólo vi–, ni lo que supe ni lo que creí. No sé si estoy traspasando a este papel, tan blanco como la nieve, mi conciencia que en él se ha de quedar, quedándome yo sin ella. ¿Para qué tenerla ya…?40

Interessanterweise wird, dies zeigt die Folge der Zitate, der Traum hier jedoch sukzessive von einer religiösen in eine anthropologisch deutbare Problematik des Imaginären, des Erzählens und Schreibens verwandelt, eine vielleicht letzte Variante der Überblendung einer sakralen und profanen Problematik, die in Unamunos Text anstelle von Glaubensgewissheit als Motor des religiösen Skandals den Zweifel und sein literarisches Äquivalent als Antidot setzt,41 jene von manchen zeitgenössischen Lesern als Skandal wahrgenommene Inszenierung von Ununterscheidbarkeitssituationen, Paradoxien und Aporien.

39 Ebd., S. 166. „Weiß ich überhaupt etwas? Glaube ich überhaupt etwas? Ist das, was ich hier erzähle, tatsächlich geschehen, und ist es so geschehen, wie ich es erzähle? Können solche Dinge überhaupt geschehen? Ist das alles mehr als nur ein Traum, der in einem andern Traum geträumt wird? Bin ich, Angela Caraballino, heute eine Fünfzigerin, als einzige Person in diesem Dorf mit dem Gedanken beladen, die für andere Leute fremd und seltsam sind?“ 40 Ebd. „Und ich weiß nicht, was Wahrheit ist und was Lüge, noch was ich wirklich gesehen und was ich nur geträumt habe – oder besser, was ich geträumt und was ich nur gesehen habe – und auch nicht, was ich wusste, noch was ich glaubte. Ich weiß auch nicht, ob ich auf dieses Papier, das weiß wie der Schnee vor mir liegt, tatsächlich mein Gewissen übertrage; hier soll es nämlich bleiben, damit ich es los bin. Denn wozu muss ich es noch haben…?“ 41 In säkularer Perspektive formuliert Gordon die Calderónsche Problematik um: „In short, Angela’s narrative […] is successful neither as hagiographical testament nor intimate record, for the ‚real‘ Don Manuel is destined forever to elude us. Thus we have a novel which is not simply about belief and unbelief, death and immortality, but about the tragic paradox of human personality, torn between a public self which is the prisoner of history and external image, and an intimate self which is condemned to insubstantiality“, M. Gordon, „The Elusive Self: Narrative Method and Its Implications in San Manuel Bueno, Mártir“, in: Hispanic Review, 54/1986, S. 147– 161, hier: S. 157.

Dietmar Hüser, Saarbrücken

Vom „Un-Skandal“ des Algerienkrieges zum „Post-Skandal“ der Gedächtniskultur: Die Pariser Polizei-Repressionen vom 17. Oktober 1961 Am 17. Oktober 2001 weihte der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë eine Gedenktafel auf dem Pont Saint-Michel ein.1 Darauf war Folgendes zu lesen:

Abb. 3: Gedenktafel zum 17. Oktober 1961

Offensichtlich der 40. Jahrestag eines 17. Oktober 1961. Doch was war an diesem Tag passiert? Die Plakette gibt nur bedingt Aufschluss: von „des nombreux algériens tués“ ist die Rede: „vielen getöteten Algeriern“, von einer „manifestation pacifique“: einer „friedlichen Demonstration“ und von einer „sanglante répression“: einem „blutigen Niederschlagen“ des Protestmarsches. Doch in welchem Zusammenhang war dies geschehen? Wie viele Algerier waren betroffen?

1 Vgl. Philippe Bernard/Christine Garin, „Le massacre du 17 octobre obtient un début de reconnaissance officielle“, in: Le Monde, 17.10.2001.

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Dietmar Hüser

Wer war für die Tat verantwortlich? Weshalb erst vier Jahrzehnte nach dem Vorfall eine Gedenktafel? Es muss doch schon damals ein handfester Skandal gewesen sein, wenn eine gewaltlose Demonstration durch Paris in einem Blutbad an vielen Algeriern endet: formal immerhin französische Staatsbürger aus den drei nordafrikanischen Departements der République une et indivisible, die mit den Nummern 91 (Alger), 92 (Oran) und 93 (Constantine) unmittelbar auf die alphabetisch letzten metropolitanen Departements folgten. Doch der 17. Oktober war kein Skandal im damaligen Frankreich. Eher ein „Un-Skandal“, ein Ereignis, das kein Skandal sein sollte. Das dann Jahre brauchte, um unter veränderten Rahmenbedingungen doch noch als skandalträchtig zu gelten, um den öffentlichen Raum zu erobern und kollektive Empörung auszulösen, um als „Post-Skandal“ schließlich Formen zumindest symbolischer Genugtuung und Wiedergutmachung zu generieren. Wie eben bei der zitierten Gedenktafel auf dem Pont Saint-Michel. Gefragt wird im Folgenden nach Erklärungen für den ‚Un-Skandal‘ im zeitlichen Kontext des 17. Oktober 1961 selbst, nach Gründen, die dazu führten, dass sich trotz offensichtlicher Normverletzung und öffentlicher Enthüllung nur individuelle, keine kollektive Empörung über die Repression gegenüber den algerischen Arbeitsmigranten Bahn brach. Weiter dann nach maßgeblichen Aspekten des Wandels im gesellschaftlichen wie politischen Umgang mit Frankreichs nationaler Meistererzählung im allgemeinen, mit belasteten Vergangenheiten aus Kriegs- und Kolonialzeiten im besonderen, die seit den späten 1960er Jahren zutage traten, sich in den 1970er, 1980er, 1990er Jahren verstärkten und Grundvoraussetzungen für die zunehmende Skandalträchtigkeit der polizeilichen Gewalt waren. Schließlich nach dem 17. Oktober als „Post-Skandal“ im neuen Jahrtausend: auf der Ebene einer unveränderten, aber umbewerteten Normverletzung, auf der Ebene der nunmehr öffentlichkeitswirksamen Enthüllung, auf der Ebene einer nunmehr breiteren kollektiven Empörung, auf der Ebene nunmehr sichtbarer Konsequenzen im öffentlichen Raum. Doch beginnen wir mit dem Ereignis selbst, dem 17. Oktober 1961,2 sowie den Kontexten, in denen es den Tag zu verorten gilt.

2 Dazu v.a. Jean-Luc Einaudi, La bataille de Paris: 17 octobre 1961, Paris 1991; Jean-Paul Brunet, Police contre FLN. Le drame d’octobre 1961, Paris 1999; Olivier Le Cour Grandmaison (Hrsg.), Le 17 octobre 1961. Un crime d’Etat à Paris, Paris 2001; Jean-Luc Einaudi, Octobre 1961: un massacre à Paris, Paris 2001; Jim House/Neil MacMaster, Paris 1961: Algerians, state terror and memory, Oxford 2006. Als journalistische Zeitzeugenberichte, einige Wochen bzw. einige Monate nach den Ereignissen notiert, damals aber gleich bei den Editions François Maspero durch die Kriminalpolizei beschlagnahmt worden, vgl. die Texte von Paulette Péju, „Ratonnades à Paris“, précédé de „Les harkis à Paris“, Paris 2000.

Vom „Un-Skandal“ zum „Post-Skandal“

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I Das Ereignis Um dem Geschehen auf die Spur zu kommen, bedarf es einer doppelten Einordnung, einmal im weiten Rahmen der französischen (De-)Kolonialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts, dann im engeren Rahmen des Algerienkrieges, den Frankreich seit dem 1. November 1954 gegen den Front de Libération Nationale (FLN) und die Armée de Libération Nationale (ALN) auf der anderen Seite des Mittelmeers, mehr und mehr aber auch in der Metropole selbst führte. Algerien bildet für Frankreichs Kolonialgeschichte in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall.3 Unterworfen im Jahre 1830 aus vorrangig innenpolitischen Erwägungen eines schwächelnden Restaurationsregimes unter Karl X.,4 war dies schon als Zeitpunkt eher ungewöhnlich und fiel in eine Phase relativer Eroberungsruhe zwischen den Kolonialreichen in Amerika, Indien und Sibirien seit dem späten 15. Jahrhundert und der Epoche imperialistischer Kolonialreiche in Vorder- und Ostasien, in Nord- und Schwarzafrika seit den 1870er/1880er Jahren.5 Auch administrativ und staatsrechtlich war Algerien etwas Besonderes. „Déclaré territoire français“6 im Artikel 109 der Verfassung der II. Republik von November 1848, unterstanden die drei Departements, deren Schaffung ein Erlass einen Monat später anordnete, künftig und auf Dauer dem Pariser Innenminister. Kein anderes Gebiet im Kolonialreich, das sich Frankreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aneignete, sollte jemals einen vergleichbaren Status als integraler Bestandteil des französischen Territoriums aufweisen. Hinzu kommt, dass es sich um eine Siedlungskolonie handelte. Im Laufe der Jahrzehnte fanden Menschen aus Frankreich, aber auch aus zahlreichen anderen europäischen Ländern in Algerien ein Auskommen. Durch das Einbürgerungsgesetz von 1889, das auch dort aus Kindern nicht-französischer Eltern automatisch französische Staatsbürger machte, ging der Ausländeranteil stetig zurück: von gut 47% im Jahre 1872 auf nur noch gut 5% bei Kriegsausbruch 1954.7 Damals lebten in Algerien neben der fast zehnfachen Anzahl autochthoner Alge-

3 Einen prägnanten Überblick zu Frankreichs Kolonialgeschichte bietet nun Daniel Mollenhauer, „La plus grande France? – Grundzüge der französischen Kolonialgeschichte 1830–1945“, in: Jörn Leonhard/Rolf G. Renner (Hrsg.), Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart, Berlin 2010, S. 69–86. 4 Vgl. klassisch Charles-Robert Ageron, Histoire de l’Algérie contemporaine, 10. Aufl., Paris 1994, S. 6–8. 5 Vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995, S. 32–41. 6 Vgl. den Verfassungstext bei Maurice Duverger, Constitutions et documents politiques, 2. Aufl., Paris 1960, S. 90–100, hier: S. 100. 7 Zahlen nach Claude Liauzu, Histoire des migrations en méditerranée occidentale, Brüssel 1996, S. 65.

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rier knapp eine Million europäischstämmige Siedler, gern als Algerienfranzosen oder Pieds-Noirs bezeichnet, die sich nach Ankunftsdatum, Herkunftsland und Religionszugehörigkeit, nach Region, Beruf und Sozialstellung beträchtlich unterscheiden mochten, aber allesamt meist seit mehreren Generationen im Land ansässig waren, es ebenfalls als Heimat empfanden und gegenüber der muslimischen Mehrheitsbevölkerung das eigene Französisch-Sein betonten.8 Die République coloniale blieb Utopie,9 die Kolonialgesellschaft trotz republikanisch-assimilatorischer Diskurse und Sonntagsreden über Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit hierarchisch organisiert auf der Grundlage ethnischer Gemeinschaften.10 Obschon in den kulturellen Praktiken eindeutige Herrschaftsverhältnisse und stille Segregation vorherrschten, schloss dies weder ansatzweise Gegenakkulturation oder interkulturelle Berührungspunkte aus, noch Momente der Faszination für die Kolonialmacht und lange idealisierte Vorstellungen von Frankreich als Träger westlicher Moderne und der Prinzipien von 1789.11 Umso schwerer wog gerade in Algerien die nach 1918, erst recht nach 1945 wachsende Ernüchterung über – jedenfalls weitgehend – uneingelöste Versprechen und vorenthaltene Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, auch in Fragen faktischer politischer Partizipation und Mitsprache – Besonderheiten des algerischen Falles verglichen mit anderen Konstellationen im Empire, ohne die sich die Virulenz und Grausamkeit dieses Dekolonialisierungskonflikts in einem achtjährigen Krieg bis ins Jahr 1962 kaum erklären lassen. Ebenso wenig das ambivalente bilaterale Verhältnis danach,12 das komplexe Wechselspiel von Selbst- und Fremdbildern diesseits wie jenseits des Mittelmeers sowie dessen fortwährendes Rückwirken auf die französische Politik, Gesellschaft und Kultur.13 Für den Algerienkrieg selbst sind hier weder die zentralen Etappen bis zum 17. Oktober 1961 darzustellen, noch die Frage nach de Gaulles tatsächlichen

8 Dazu Benjamin Stora, Histoire de l’Algérie coloniale 1830–1954, Paris 1994, S. 93–100. 9 Über Algerien hinaus vgl. Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Françoise Vergès, La République coloniale. Essai sur une utopie, Paris 2003, besonders S. 27–33. 10 Dazu schon Pierre Bourdieu, Sociologie de l’Algérie, Paris 1958, S. 117–119; zuletzt Todd Shepard, 1962 – Comment l’indépendance algérienne a transformé la France, Paris 2008, S. 58–61, 349–354. 11 Anschaulich Gilbert Meynier, „Rapport au passé et conflits historiographiques“, in: Gilles Manceron (Hrsg.), Algérie. Comprendre la crise, Brüssel 1996, S. 37–52, hier: S. 43 f., S. 49 f. 12 Vgl. Rémy Leveau, „Frankreich – Algerien: wechselseitige Vorstellungen“, in: FrankreichJahrbuch, 10/1997, S. 59–70, hier: S. 61, S. 64 f. 13 Mit zahlreichen Fallstudien Dietmar Hüser (Hrsg.) in Zsarb. m. Christine Göttlicher, „Frankreichs Empire schlägt zurück“ – Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Kassel 2010.  





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Absichten zu erörtern, als der ‚Retter der Nation‘ aus dem Zweiten Weltkrieg im Sommer 1958 unverhofft und zu seinen institutionellen Bedingungen an die Hebel der Macht einer nunmehr V. Republik zurückkehrte.14 Fest steht: Im Oktober 1961 war längst klar, dass es auf Dauer keine Algérie française mehr geben würde. Im Grunde seit de Gaulles Rede über die Selbstbestimmung der Algerier Mitte September 1959, allerspätestens seit de Gaulles „Algérie algérienne“-Ansprache Anfang November 1960.15 Die Modalitäten für einen künftigen Frieden freilich, der Status Algeriens, die Rolle und Interessen Frankreichs, die Rechte der französischen Minderheit: All dies war noch zu verhandeln, und beide Seiten boten alles auf, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Damit kam verstärkt das Hexagon, allen voran Paris als Kriegsschauplatz ins Spiel. Zwar war es von Beginn an Kampffeld, mehr noch seit Eröffnen einer zweiten Front durch den FLN im Sommer 1958, was Überfälle auf Polizeiwachen und ähnlich neuralgische Punkte nach sich zog, zahlreiche Ordnungskräfte das Leben kostete, zugleich die Repression anheizte, Razzien, Hetzjagden und Gewaltexzesse gegen Algerier zum Tagesgeschäft machte.16 Auch diente die Metropole als Bühne für einen grausam geführten inneralgerischen Bürgerkrieg um die Vorherrschaft im Lager der Nationalisten, der zwischen 1956 und 1960 rund 4000 Tote und mehr als 9000 Verletzte gefordert hatte.17 Nun aber verkomplizierten sich die Fronten noch mehr, die Gewaltspirale schaukelte sich höher und höher. Mit der Organisation armée secrète (OAS) trat im Februar 1961 als Reaktion auf das Referendum über die algerische Selbstbestimmung ein zusätzlicher Akteur auf den Plan, der auch im „Mutterland“ mit Mitteln des Terrors, mit PlastikbombenAnschlägen und gezielten Attentaten den „Ausverkauf“ der Algérie française doch noch verhindern wollte.18

14 Als prägnante Synthesen vgl. Benjamin Stora, Histoire de la guerre d’Algérie 1954–1962, Paris 1993, 2. Aufl., Paris 2006; Alain-Gérard Slama, La guerre d’Algérie. Histoire d’une déchirure, Paris 1996, Nachdr., Paris 2006; Sylvie Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris 2005; Guy Pervillé, La guerre d’Algérie 1954–1962, Paris 2007. 15 Olivier Germain-Thomas/Philippe Barthelet, Charles de Gaulle jour après jour, Paris 1990, S. 187, S. 213. 16 Vgl. House/MacMaster, Paris 1961, S. 61–87; Jean-Luc Einaudi, „Le crime: violence coloniale en métropole“, in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire (Hrsg.), Culture impériale 1931–1961. Les colonies au cœur de la République, Paris 2004, S. 225–235, hier: S. 227 f. 17 Vgl. Benjamin Stora, „1955–1962: la guerre entre Algériens“, in: L’Express, 30.04.1987, S. 40–47. 18 Zur OAS vgl. Olivier Dard, Voyage au cœur de l’OAS, 2. Aufl., Paris 2007; zum OAS-Terror jenseits des Mittelmeers vgl. Sylvie Thénault, „L’OAS à Alger en 1962. Histoire d’une violence terroriste et de ses agents“, in: Annales – Histoire, Sciences sociales, 63/2008, S. 977–1001.  

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Der Putsch der Generäle im April 1961 und der Einsatz des Notstandsartikels 16, das Hin-und-Her der algerisch-französischen Verhandlungen in Evian seit Mai 1961, das Anschwellen terroristischer Aktionen von OAS und FLN, eine ganze Anschlagswelle im sommerlichen und herbstlichen Paris bis hin zum gescheiterten Attentat auf den Staatspräsidenten bei Pont-sur-Seine auf dem Heimweg nach Colombey-les-Deux-Eglises: bürgerkriegsähnliche Verhältnisse in der Metropole.19 Angriffe auf Polizisten, bei denen auch Zivilisten, Frauen und Kinder zu Schaden kommen konnten, prägten das Klima ebenso wie Jagdszenen und Übergriffe von Ordnungskräften gegenüber algerischen Arbeitern oder brutale, archaisch anmutende Kämpfe zwischen FLN-Kräften und den algerischen Hilfspolizisten, gern verkürzt als Pariser Harkis bezeichnet,20 die als algerische „Handlanger“ für die französische Polizei im Einsatz waren und im Ruf standen, systematisch Angst und Schrecken unter den eigenen Landsleuten zu verbreiten und selbst die „schmutzigsten Geschäfte“ bedenkenlos zu erledigen.21 In dieser Situation einer veritablen Bataille de Paris, wie es damals häufig in Anspielung auf die Bataille d’Alger vier Jahre zuvor hieß, verhängten Innenminister Roger Frey und der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon am 5. Oktober eine nächtliche Ausgangssperre, um den „agissements criminels et terroristes algériens“ ein Ende zu bereiten.22 Ausdrücklich betroffen waren die Français musulmans d’Algérie, es ging um die Stunden zwischen 20.30 Uhr abends und 5.30 Uhr morgens, doch auch zu anderen Zeiten sollten die algerischen Arbeiter allein statt in Gruppen unterwegs sein. Cafés mit algerischer Kundschaft waren um 19 Uhr zu schließen. Das entsprechende Kommuniqué veranlasste den FLN am 10. Oktober, zu einem groß angelegten Demonstrationszug algerischer Männer, Frauen und Kinder für den Abend des 17. Oktober in Paris aufzurufen, um gegen Ausgangssperre und Polizeigewalt aller Art zu protestieren. Ausdrücklich sollte es dabei friedlich zugehen: Striktes Waffenverbot lautete die Anweisung, schließlich galt es durch tadelloses Verhalten für die eigenen Anliegen zu

19 Von „guerre civile“ für diese Monate spricht Jean-Pierre Rioux, „L’adieu à l’Algérie“, in: ders./ Jean-François Sirinelli (Hrsg.), La France d’un siècle à l’autre 1914–2000, Bd. 1, Paris 1999, S. 117– 124, hier: S. 120; Zeitzeugenberichte zum „heißen Herbst 1961“ nun bei Jean-Luc Einaudi, Scènes de guerre d’Algérie en France. Automne 1961, Paris 2009. 20 Differenziert nun Rémy Valat, Les calots bleus et la bataille de Paris. Une force de police auxiliaire pendant la guerre d’Algérie, Paris 2007, S. 12 f., S. 80–84. 21 Eindrucksvoll ebd. sowie die Zeugnisse von Péju, „Ratonnades“, S. 25–133; daneben Valat, Les calots bleus et la bataille de Paris. 22 Vgl. „Communiqué du préfet de police de Paris, rendu public le 6 octobre 1961, instituant le couvre-feu“, in: Le Cour Grandmaison (Hrsg.), Le 17 octobre 1961, S. 204 f.  



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werben.23 Die Pariser Behörden erfuhren von dem Vorhaben und trafen Vorkehrungen. Am Abend des 17. Oktober strömten an die zwanzig- bis dreißigtausend Algerier mit Bussen oder mit der Metro nach Paris, um sich an symbolischen, ohnehin stark frequentierten Orten zu treffen und um von dort aus die Boulevards entlang zu marschieren. Manchen Parisern schien sich die Präsenz dieser Menschen erst jetzt zu erschließen, die da ruhig, entschlossen, selbstbeherrscht in Sonntagskleidern durch die Straßen zogen.24 Angesichts der massiven Präsenz mehrerer tausend Polizisten kamen viele Demonstranten allerdings nicht allzu weit, etliche wurden bereits in den Metroschächten abgefangen, häufig niedergeknüppelt. Polizeieinheiten trieben die Protestzüge, die sich dennoch gebildet hatten, brutal auseinander, traten, schlugen oder schossen in die Menge, wie auf dem Boulevard Bonne Nouvelle. Das Gerücht erschossener Kollegen heizte die Stimmung zusätzlich auf. Im Innenhof der Polizeipräfektur kam es zu massiven Übergriffen an den dort eingeschlossenen Demonstranten. Szenen des Grauens spielten sich ab, mitten in Paris: „une nuit d’horreur et de honte“.25 Dutzende und aberdutzende Tote waren zu beklagen, allesamt erschossene oder ansonsten umgekommene Algerier, deren Leichen vielfach in der Seine „entsorgt“ worden sind.26 Daneben hunderte Verletzte, die Ordnungskräfte in Polizeilastern oder mit beschlagnahmten Bussen der Pariser Verkehrsbetriebe an mehrere Orte verfrachteten: das sogenannte Centre d’Identification de Vincennes im Osten der Stadt; das Stade de Coubertin im Westen, eine Sporthalle im 16. Arrondissement unweit des Parc des Princes; der Palais des Sports, Porte de Versailles. Erst 1960 errichtet, lag der Sportpalast nur wenige Kilometer entfernt

23 Vgl. Brigitte Gaïti, „Les ratés de l’histoire. Une manifestation sans suites: Le 17 octobre 1961 à Paris“, in: Sociétés contemporaines 18+19/1994, S. 11–37, hier: S. 13. 24 Vgl. Péju, „Ratonnades“, S. 135–193, hier: S. 137; dort wieder umfängliche Zeitzeugenberichte. Weitere prägnante Schilderungen des Abends und der folgenden Tage finden sich z.B. bei JeanLuc Einaudi, „Ce qu’il s’est vraiment passé“, in: Le Cour Grandmaison (Hrsg.), Le 17 octobre 1961, S. 51–58, hier: S. 53–55. 25 Dies die Bilanz von Michel Winock, „Une nuit d’horreur et de honte“, in: ders., Chronique des années soixante, Paris 1987, S. 32–35. 26 Die tatsächlichen Todeszahlen werden sich kaum mehr genau ermitteln lassen. Offiziell war zunächst von drei Toten, darunter ein Polizist, etwas später dann von sechs Opfern die Rede. In wissenschaftlichen Publikationen differieren die Angaben erheblich und bewegen sich zwischen mehr als 30 und weit mehr als 300 Todesopfern. Knapp nachgezeichnet wird die historiographische Kontroverse seit Anfang der 1990er Jahre bei Raphaëlle Branche, La guerre d’Algérie: une histoire apaisée?, Paris 2005, S. 207–213. Vielfach eingeschliffen hat sich, von „plusieurs dizaines de morts“ zu sprechen; vgl. z.B. dies., „Présentation“, in: dies. (Hrsg.), La guerre d’indépendance des Algériens 1954–1962, Paris 2009, S. 7–18, hier: S. 13.

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vom Standort der gerade abgerissenen Pariser Radrennbahn und weckte Erinnerungen an schlimmste Zeiten des Vichy-Regimes.27 In den nächsten Tagen nahm die Zahl der Internierten beständig zu. Über vierzehntausend Männer nahm die Polizei vom 17. bis zum 19. Oktober fest, meist ging es mit Bussen oder Metro in die umfunktionierten Sportstätten oder auf Polizeiwachen. Die sanitären Verhältnisse stellten sich ebenso katastrophal dar wie die ärztliche Betreuung, ungezügelte Gewalt und Schikanen blieben gang und gäbe – weit über „Empfangskomitees“ schlagstockprügelnder Wärter hinaus. Noch viele Tage lang.

II Der „Un-Skandal“ Gern wird ein idealtypischer Skandalverlauf in vier Phasen eingeteilt: zunächst ein moralisches Fehlverhalten, eine Normverletzung; dann das öffentliche, häufig massenmedial begleitete Enthüllen eines solchen wirklichen oder angeblichen Regelverstoßes; weiter Momente kollektiver Empörung, die das Freilegen des Regelverstoßes hervorruft; schließlich Akte offensichtlicher Genugtuung, die verletzte Werte heilen, unklare Regeln schärfen und Missetäter sanktionieren sollen.28 Auf dieser Folie sind für die unmittelbare potentielle Skandalträchtigkeit der Vorfälle am 17. Oktober 1961 und an den Folgetagen mehrere Rückschlüsse zu ziehen. Einmal lässt sich festhalten, dass das moralische Fehlverhalten außer Frage steht. Bei aller Notwendigkeit, die unrühmlichen Begebenheiten angemessen im Kriegsjahr 1961 zu verorten und die immer rascher rotierende Gewaltspirale bei immer konfuseren (inner-)algerisch-(inner-)französischen Kampffronten zu berücksichtigen, ändert dies wenig daran, dass es sich beim grausamen Unterdrücken des Protestmarsches um ein ganz und gar unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizeikräfte gegenüber friedlichen Demonstranten handelte, das als Akt staatlicher Repression in der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte seinesgleichen sucht. Kontextualisierung des Ereignisses meint nicht Relativierung des Fehlverhaltens.

27 Als im Zuge der Judenrazzien am 16./17. Juli 1942 fast dreizehntausend Menschen unter unwürdigsten Bedingungen im Vél’d’hiv’ eingepfercht, dann in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Dazu pointiert Annette Wieviorka, „Le Vél’d’Hiv’. Histoire d’une commémoration“, in: Jean-Pierre Bacot (Hrsg.), Travail de mémoire 1914–1998. Une nécessité dans un siècle de violence, Paris 1999, S. 161–165. 28 Vgl. klassisch Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 15–17.

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Doch wessen Fehlverhalten? Das der Staatsmacht, das des Staatspräsidenten de Gaulle persönlich, der die zivile Kontrolle über die Armee in Algerien retablierte, einer fast militärischen Ausrichtung der Pariser Polizei aber nichts entgegensetzte, die Anti-FLN-Aktionen stützte und breiten Raum ließ für illegale Praktiken? Das der Fédération France der algerischen Befreiungsfront, die mittlerweile konkurrenzlos – und wenn es darauf ankam: mit eiserner Hand – die Algerier in Frankreich für die Unabhängigkeit zu mobilisieren wusste,29 die mögliche Ausschreitungen bei einem Bruch der Ausgangssperre billigend in Kauf nahm, die keinerlei Mittel scheute, um in der diplomatischen Verhandlungspause Stärke zu demonstrieren?30 Das des „unpolitischen“ Polizeichefs Maurice Papon, der gemäß seiner repressionstechnischen Kolonialerfahrungen als Präfekt in Constantine den Pariser Polizeiapparat umgestaltete,31 der seinen Männern bereitwillig carte blanche gab und der noch Anfang Oktober 1961 im Kontext der Beisetzung des Polizeibrigadiers Demoën verlauten ließ, für jeden erhaltenen Schlag werde es zehn zurückgeben?32 Das der Polizeikräfte, die in der Spätphase des Algerienkrieges grenzenlos überfordert waren, zugleich mit Rückendeckung der Polizeipräfektur, der Spitzenverwaltung und der Ministerialkabinette den Habitus einer „violence massacreuse“33 entwickelten, der über den 17. Oktober hinaus einen wochen- und monatelangen Zyklus aus Gewalt und Totschlag generierte? Das der ebenso unfreiwilligen wie in der Regel tatenlosen ‚Zuschauer‘ des blutigen Spektakels, die im abendlichen Paris flanierten oder sonstigen Beschäftigungen nachgingen? Ein öffentliches Enthüllen des moralischen Fehlverhaltens gab es durchaus, jedoch hielt es sich in engen Grenzen. Solche Grenzen bestanden überall dort, wo sich Enthüllungspotential überhaupt hätte breitenwirksamer entfalten können. Der Staat selbst trat von vornherein nicht als Ent-, sondern lange als Verhüller auf: durch unmittelbare Zensurmaßnahmen, dann durch verschleppte Opferklagen und verhinderte Untersuchungskommissionen im Senat, im Pariser Stadtrat, im Generalrat des Seine-Departements, später durch zügige Amnestiegesetze,

29 Vom systematischen Aufbau eines „counter state“ für die gesamte algerische Bevölkerung im Großraum Paris sprechen House/Macmaster, Paris 1961, S. 63–66. 30 Vgl. Paul Thibaud, „Le 17 octobre 1961. Un moment de notre histoire“, in: Esprit 279/2001, S. 6–19, hier: S. 9 f. 31 Dazu der Polizeipräfekt selbst in seinen Memoiren: vgl. Maurice Papon, Les chevaux du pouvoir. Le préfet de police du général de Gaulle ouvre ses dossiers 1958–1967, Paris 1988, S. 90. 32 Vgl. Einaudi, Ce qu’il s’est vraiment passé, S. 52 f., zitiert nach Le Monde, 03.10.1961; Brunet, Police contre FLN, S. 87 f., S. 336. 33 Vgl. die Interpretation polizeilicher Auswüchse 1961/1962 bei Alain Dewerpe, Charonne, 8 février 1962. Anthropologie historique d’un massacre d’Etat, Paris 2006, v.a. S. 192–227, hier: S. 210.  





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jahrzehntelanges Verschließen relevanter Archivmaterialien und ein offizielles Geschichtsbild, in dem der Krieg weiterhin kein Krieg war. Die wortstarken und leidenschaftlichen Beiträge, die einzelne Abgeordnete in aufklärerischer Absicht Ende Oktober in der Nationalversammlung lieferten, verhallten wieder.34 Und auch die Medien vermochten unter Kriegs- und Zensurbedingungen keine Massen zu mobilisieren. Radio und Fernsehen waren ohnehin ganz eng staatlich kontrolliert, den Film Octobre à Paris von Jacques Panijel, in den Monaten nach dem Geschehen gedreht, kassierte die Polizei bei der Erstaufführung am 9. Oktober 1962 im Beisein von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.35 Die Tagespresse übernahm am 18. Oktober meist die offizielle Version, brachte in den Folgetagen je nach Couleur mehr oder weniger Zweifel an, manche boten Berichte über Polizeiexzesse, kaum aber über deren Ausmaß. Klarere Worte – bei allerdings geringerer Auflage – fanden manche (Wochen-)Zeitschriften: France Observateur, Vérité-Liberté, Les Temps modernes, Esprit oder Témoignage Chrétien. Eine Petition der Temps modernes gegen „de pareilles violences“ kam auf 229 Signaturen.36 Die bundesdeutsche Presse reagierte ähnlich, informierte nüchtern, mit offiziellen Zahlen und eher aus staatlicher Perspektive. Der Spiegel schwieg völlig, die Zeit verwies in einer Randnotiz auch auf kritische Reportagen der französischen Presse zur Demonstration und den Zuständen im Palais des Sports.37 Die Linke wirkte schon länger wie gelähmt in Algerienkriegsfragen. Spätestens seit 1956, als der Front Républicain im Januar die Parlamentswahlen gewann und die Sozialisten, die sich im Wahlkampf „la paix en Algérie“ auf die Fahnen geschrieben hatten, künftig mit Guy Mollet den Ministerpräsidenten stellten.38 Auch die Position der meisten Kommunisten blieb zwiespältig. Letztlich stimmte deren Fraktion in der Nationalversammlung im März 1956 den pouvoirs spéciaux zu, umfassenden Sondervollmachten für die Exekutive, die einer Repressionspolitik neuer Qualität in Algerien den rechtlichen Weg ebnete.39 Schon wenige

34 Dazu Alfred Grosser, Le crime et la mémoire, Paris 1990, S. 178–180. 35 Vgl. Einaudi, Octobre 1961, S. 341. Zu den (Un-)Möglichkeiten, den Film zu zeigen, vgl. Jacques Panijel, „Octobre à Paris. Festivals d’un film maudit“, in: Le Cour Grandmaison (Hrsg.), Le 17 octobre 1961, S. 223–230, hier: S. 228. 36 Vgl. Bernard Droz/Evelyne Lever, Histoire de la guerre d’Algérie 1954–1962, Paris 1982, S. 325. 37 Dazu nun Nina Pauer, Frankreichs Algerienkrieg in der Bundesrepublik, Magisterarbeit Universität Hamburg 2008, S. 45–69; Dies., „Europa und die Frage der Gewalt. Die bundesrepublikanische Resonanz auf den Algerienkrieg am Beispiel des Massakers vom 17. Oktober 1961 in Paris“, in: Hüser (Hrsg.), „Frankreichs Empire schlägt zurück“, S. 157–188, hier: S. 173–178. 38 Dazu Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance, S. 47. 39 Zur Zaghaftigkeit der PCF-Kritik bis in die Spätphase des Algerienkrieges vgl. Jean Touchard, La gauche française depuis 1900, 2. Aufl., Paris 1981, S. 331f.

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Monate nach dem 17. Oktober 1961 begann für die französische Linke ein anderes Ereignis die Gewaltakte gegen die Algerier in den Schatten zu stellen: Charonne, wo im U-Bahnschacht am 8. Februar 1962 nach brutaler Polizeiintervention bei einer Anti-OAS-Demonstration acht PCF-Mitglieder zu Tode gedrückt wurden.40 Es sollte zu dem Symbol der anti-gaullistischen Algerienkriegserinnerung der Linken „mit anti-faschistischer Speerspitze“41 gerinnen, das bald Einzug in die Geschichtsbücher hielt. Mittelfristig blieb der 17. Oktober in der Skandalkonkurrenz gegen den 8. Februar chancenlos. Daran konnten auch studentische und gewerkschaftliche Initiativen, lokale Protestmärsche und anti-kolonialistische Stellungnahmen unmittelbar nach den Vorfällen wenig ändern. Auch bekannte Figuren der Zivilgesellschaft oder einzelne Geistliche erzielten keine sichtbare Breitenwirkung, keine Deutungsmacht im öffentlichen Raum. Ebenso wenig die Intellektuellen, die wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Claude Lanzmann, Marguerite Duras, Aimé Césaire oder andere die Petition der Temps modernes unterzeichneten oder die rund zweitausend Studierenden und Lehrkräfte, die sich am 21. Oktober 1961 im Hof der Sorbonne versammelten.42 Es schien fast, als habe es für das Verhalten von Staat und Polizei am 17. Oktober und in den Tagen danach nicht nur auf der Ebene der Institutionen und Würdenträger, sondern auch gesellschaftlich einen höheren Bedarf nach Verhüllung als nach Enthüllung gegeben. Zugleich hatte jeder Enthüller einen strukturell schweren Stand angesichts von Krieg und Terror, Notstand und Zensur. Gewiss bildete der 17. Oktober schon zeitgenössisch kein Tabu,43 denn wer sich interessierte oder sich entrüstete, kurz: wer wissen wollte, der konnte wissen. Doch waren zugleich die Grenzen des Enthüllungspotentials äußerst eng gezogen. Keine Rede von kollektiver Empörung, bestenfalls waren individuelle Empörungsmomente zu verzeichnen, auch solche von zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen, die bei allem Engagement aber keinen Sturm der Entrüstung zu entfachen vermochten. Es gab keine bedeutungsmächtigen pressure groups, die darauf hin gearbeitet hätten, die Opfer selbst, die algerischen Arbeitsmigranten und deren Familien, kamen dafür am wenigsten in Frage. Offenbar waren die Umstände damals nicht reif, offenbar schätzte die französische Politik und Gesell-

40 Neben Dewerpe, Charonne, vgl. knapp Guy Pervillé, „Métro Charonne“, in: Jean-François Sirinelli (Hrsg.), Dictionnaire historique de la vie politique française au XXe siècle, Paris 1995, S. 657–658. 41 House/MacMaster, Paris 1961, S. 251. 42 Vgl. Brunet, Police contre FLN, S. 298. 43 Vgl. Sylvie Thénault, „Le fantasme du secret autour du 17 octobre 1961“, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 58/2000: Le secret en histoire, S. 71–76; Dewerpe, Charonne, S. 647.

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schaft die Relevanz des moralischen Fehlverhaltens, der verletzten Werte in Algerienkriegszeiten und den Jahren danach nicht hoch genug ein, als dass daraus ansatzweise kollektive Empörung entstanden wäre. „Que restera-t-il dans la mémoire des Parisiens, des Français, de cette tragique soirée du 17 octobre 1961?“,44 sorgten sich engagierte Beobachter bereits wenige Wochen nach den Vorfällen. Damit erübrigt sich die Frage nach Genugtuung und Sanktion, die unter den geschilderten Verhältnissen undenkbar war. Ganz im Gegenteil: keine verletzten Werte, die geheilt, keine unklaren Regeln, die geschärft, keine Missetäter, die verurteilt, keine Polit-Spitzen, die zur Verantwortung gezogen worden wären. Stattdessen blieb es beim staatlichen Amnestieren, Verschweigen und Zensieren, beim Nicht-Aufklären- und Nicht-Haften-Wollen. Der „Un-Skandal“ – wie das Deckeln kritischer Ansätze gegenüber dem Algerienkrieg ganz allgemein – war gesetzt und erfüllte Funktionen auf zwei Ebenen. Politisch galt es wenigstens rhetorisch – und in Umkehrung des eigentlichen Sinns der Ereignisse – aus einer faktischen Niederlage im Kolonialkonflikt einen Erfolg gaullistischer Außen- und Dritte-Welt-Politik zu konstruieren.45 Daneben war möglichst rasch vom Bürgerkrieg zum Bürgerfrieden überzugehen und im Zeichen nationaler Versöhnung nach vorn und nicht nach hinten zu schauen. Gesellschaftlich stand endlich die „kriegsfreie Konsumgesellschaft“46 auf der Agenda und ließ das Gros der Menschen bereitwillig das Dogma des unerklärten Krieges teilen. Und gehörten die maghrebinischen wie die anderen Arbeitsmigranten nun nicht irgendwie zum Dekor, quasi als Nachweis für den unaufhaltsamen Zuwachs an materiellem Wohlergehen im Land?47 Nicht nur staatliche und gesellschaftliche Impulse für ein kritisches Auseinandersetzen mit dem Algerienkrieg blieben zunächst Mangelware. Sämtliche Bereiche des Kulturschaffens boten zunächst das gleiche Bild. Zwar gab es vereinzelte Filme, Romane oder Lieder, die sich damit beschäftigten und später als Klassiker galten. Doch bemerkenswerter als die Ausnahmen war die Regel weitgehender Abwesenheit in Kino und Literatur, nicht zuletzt das Defizit an nachhaltiger „Trauer- und Wut-Arbeit“ im Chanson, das Beobachtern bereits während

44 Vgl. Paul Thibaud, „L’espérance des pauvres“, in: Esprit, 305/1961, S. 907–908, hier: S. 907. 45 Vgl. René Rémond, Notre siècle 1918–1995, 3. Aufl., Paris 1996, S. 605 f.; Maurice Vaïsse, La grandeur. Politique étrangère du général de Gaulle 1958–1969, Paris 1998, S. 79. 46 Vgl. Henri Mendras, La Seconde Révolution française 1965–1984, 2. Aufl., Paris 1994, S. 15–17. 47 Bezogen auf spanische Arbeitsmigranten in Paris vgl. in diesem Sinne Isabel Taboada Leonetti, Les immigrés des beaux quartiers. La communauté espagnole dans le XVIe arrondissement de Paris: cohabitation, relations inter-ethniques et phénomènes minoritaires, Paris 1987, S. 125–127, S. 131–133.  

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des Krieges aufgefallen war.48 Lediglich bei Live-Auftritten war es im übrigen engagierten Künstlern wie Léo Ferré möglich, gegen Folterpraktiken anzusingen oder wie Jacques Brel wenige Tage nach dem 17. Oktober 1961 im Olympia eine Staatsräson zu geißeln, der mit Schlagstockhieben die Vernunft ausgetrieben worden sei.49 Dann aber geriet der Tag auch in der Populärkultur erst einmal gänzlich in Vergessenheit. Über Algerien und den 17. Oktober hinaus waren die 1950er und frühen 1960er Jahre grundsätzlich noch keine Zeit, in der sich belastete Vergangenheiten zu breitenwirksamen öffentlichen Skandalthemen auswuchsen. Zwar erfuhr das klassische republikanische Modell durch die gaullistischen Institutionen und Politpraktiken der V. Republik eine profunde inhaltliche Neuausrichtung, doch blieb das dominante national-republikanische Geschichtsbild zunächst noch intakt, die politische Kultur Frankreichs in Algerien(kriegs)fragen noch weit von einer Skandalkultur entfernt. Dies begann sich seit den späten 1960er Jahren schubweise zu ändern und trug dazu bei, aus einem kolonialhistorischen „UnSkandal“ einen erinnerungskulturellen „Post-Skandal“ zu machen.

III Die Paradigmenwechsel Dass die langen 1960er Jahre sozio-ökonomisch und sozio-kulturell eine Epoche fundamentaler und beschleunigter Wandlungsprozesse darstellten, die über den französischen Fall oder andere nationale Beispiele hinaus gern mit starken Begriffen belegt wird,50 lässt sich hier nur vorausschicken. Ohne die Veränderungen, die sich daraus für die sozialen und kulturellen Praktiken der Menschen ergaben, für Lebensalltag und Wertehaushalt, für Erfahrungswelten und Erwartungshorizonte, für den Umgang mit Autoritäten und Hierarchien, lassen sich freilich die geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte kaum nachvollziehen: konkret das mehr und mehr

48 Vgl. Philip Dine, Images of the Algerian War. French Fiction and Film 1954–1962, Oxford 1994, S. 234; Walther Fekl, „Temps difficiles. (Nicht nur didaktische) Kommentare zum Verhältnis Algerienkrieg und Chanson“, in: Heidemarie Sarter (Hrsg.), Chanson und Zeitgeschichte, Frankfurt 1988, S. 102–138, hier: S. 132; Lucien Rioux, „De „bambino“ à „mustapha“. Le fonds sonore de la guerre“, in: Laurent Gervereau/Jean-Pierre Rioux/Benjamin Stora (Hrsg.), La France en guerre d’Algérie. Novembre 1954 – Juillet 1962, Paris 1992, S. 256–261. 49 Vgl. Serge Dillaz, Vivre et chanter en France, Bd. 1: 1945–1980, Paris 2005, S. 87. 50 Begriffe wie „goldenes Zeitalter“: vgl. z.B. Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 324; Cord Arendes/Edgar Wolfrum, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 156.

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kritische Hinterfragen klassischer Geschichtsbilder und nationaler Meistererzählungen, das öffentliche Thematisieren belasteter Vergangenheiten aus Kriegsund Kolonialkontexten bis hin zum Skandalisieren des 17. Oktober 1961. Dabei galt das Land noch in den Nachkriegsdezennien als Musterbeispiel eines Nationalstaats, der für die Ewigkeit Frankreichs stand, für die Einheit aller Franzosen und die Kongruenz von National- und Universalgeschichte. Seit den späten 1870er Jahren hatte sich Frankreichs Geschichte als ein einheitsstiftender roman national ausgebildet, der die mitunter widersprüchlichen Facetten des historischen Erbes versöhnen und die III. Republik als Höhepunkt erstrahlen lassen sollte.51 Produkt nachträglicher Konstruktion für Gegenwartszwecke, entsprang ein solches Heldenepos dem festen Willen, eine positiv besetzte nationale Identität zu schaffen und regionale, ethnische, religiöse und andere gesellschaftliche Minderheiten in das nationale Ganze zu integrieren. Nach republikanischem Selbstverständnis begann alles 1789, als es gelang, aufklärerischem Gedankengut gegen das Kleinhalten des Volkes politisch-praktische Relevanz zu verschaffen: eine Wende in der Geschichte der Menschheit, ein Sieg der Vernunft über die Ignoranz, des Guten über das Böse.52 Solchen Bildern höchstmögliche Präsenz in der Gegenwart zu verleihen, bemühten sich die Träger der III. Republik, vom Minister in Paris bis zum Volksschullehrer in der Provinz, wo sie nur konnten. Ziel war, über offizielle Diskurse und Geschichtspädagogik, über Marianne-Statuetten und Rathaus-Dekor, über Schulgebäude und Kriegerdenkmäler, über TrikoloreFarben und Liberté – Egalité – Fraternité die Grundsätze der Französischen Revolution in Köpfe und Herzen, in Alltagskultur und Heimatwelten der Menschen zu verankern.53 Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein dominierte diese Sicht der Dinge die öffentlichen Geschichtsdiskurse und bot wenig Raum für Alternativen. In den späten 1960er und 1970er Jahren keimten dann konkurrierende Geschichtsbilder auf und verschafften sich Gehör gegenüber dem summarisch-konsensstiftenden Entwurf. Der lange unantastbare Kanon der Nationalgeschichte, dem stets auch etwas Selbstgefälliges und Überhebliches anhaftete, begann einem offeneren und kritischeren Umgang zu weichen. Geschichte als Kollektivsingular zerfiel in den 1980er und 1990er Jahren förmlich in einen Plural

51 Vgl. Vincent Duclert/Christophe Prochasson, „La République et l’histoire“, in: dies. (Hrsg.), Dictionnaire critique de la République, Paris 2002, S. 17–35, hier: S. 24–32. 52 Vgl. Serge Berstein, „Le modèle républicain: une culture syncrétique“, in: ders. (Hrsg.), Les cultures politiques en France, Paris 1999, S. 113–143, hier: S. 123–125. 53 Dazu Maurice Agulhon, „Politique, images, symboles dans la France post-révolutionnaire“, in: ders., Histoire vagabonde, Bd. II: Idéologies et politique dans la France du XIXe siècle, Paris 1988, S. 283–318.

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von Geschichten, die jeweils eigenen Logiken gehorchten und beanspruchten, mit gleichem Recht im öffentlichen Raum erzählt zu werden. Aus verschiedenen Motiven und Perspektiven begann auch Geschichte als Wissenschaft „mit der allzu selbstverständlichen Evidenz des Nationalen zu brechen.“54 Dieser Paradigmenwechsel beschränkte sich nicht auf Frankreich, sondern war ein europa- und weltweites Phänomen. Nicht zuletzt auf der Folie einer immer universaleren Dimension des Erinnerns an den Holocaust als allgemein verfügbare „Katastrophen-Chiffre“ für alle, die sich als Opfer der Geschichte wähnten.55 Besonders hat das Eintreten in eine „Epoche des Gedenkens“56 folglich den Umgang mit kriegsund gewaltbelasteten Zeitabschnitten modifiziert, die offizielle Versöhnungsdiskurse, Geschichtsfresken und „mémoires patriotiques“57 oft jahrzehntelang verkleistert hatten. Dies zwar rund um den Globus, doch schien es, als gestalte sich der Abgesang auf den „republikanischen heiligen Kanon der Nationalgeschichte“58 in Frankreich vergleichsweise schmerzvoll, wird doch dem Land nachgesagt, traditionell ein besonderes, geradezu leidenschaftliches Verhältnis zur eigenen Geschichte zu pflegen.59 Gerade die langen 1990er Jahre nach der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution beschleunigten die Trends in Richtung Geschichtsboom, Gedächtniskonjunktur und Jubiläumskultur. Davon zeugten weitere Museen und Ausstellungen, zusätzliche institutionalisierte Gedenk-Orte und Gedenk-Zeiten, erst recht die anhaltenden, öffentlich und leidenschaftlich geführten Debatten über dunkle Flecken auf der vormals weißen Geschichtsweste. Zunächst noch vorsichtig, bald schon selbstsicher eroberten Gruppen die Vergangenheitsbühne, die dort bislang kaum mehr als eine Nebenrolle spielten, nun aber als Betroffene finsterer Zeiten und furchtbarer Taten ins Rampenlicht rückten. Weniger um das

54 Pointiert Jacques Revel, „Diskordanz der Zeiten. Die Franzosen und ihre Nationalgeschichte heute“, in: Frankreich-Jahrbuch, 23/2010, S. 41–53, hier: S. 47. 55 Vgl. z.B. Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001, S. 314–332. 56 Vgl. Pierre Nora, „Gedächtniskonjunktur“, in: Transit – Europäische Revue 22/2002, hier zitiert nach http://www.eurozine.com/pdf/2002-04-19-nora-de.pdf (Stand: 20.03.2011). 57 Dazu Pieter Lagrou, Mémoires patriotiques et occupation nazie. Résistants, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Brüssel 2003, S. 23. 58 Maurice Agulhon, „Überlegungen zum Gedenken im heutigen Frankreich“, in: Alexandre Escudier (Hrsg.), Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns, Göttingen 2001, S. 101–108, hier: S. 102 f. 59 Vgl. z.B. Jacques Le Goff, „L’histoire nouvelle“, in: ders. (Hrsg.), La Nouvelle Histoire, 2. Aufl., Brüssel 1988, S. 35–75, S. 52; Antoine Prost, Douze leçons sur l’histoire, Paris 1996, S. 13–18; Philippe Joutard, „Une passion française: l’histoire“, in: André Burguière (Hrsg.), Histoire de la France. Choix culturels et mémoire, 2. Aufl., Paris 2000, S. 301–394.  

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ruhmreiche Frankreich und die vergangene Größe ging es, eher um die ganze französische Geschichte, um Licht, Schatten, Grautöne. Und es ging um einen Platz von Opfern und Minderheiten in dieser Geschichte, um offizielle Anerkennung und symbolische Akte, um das Durchsetzen eigener Rechte, Interessen und Erinnerungen. Über die Realgeschichte hinaus entstand eine facettenreiche Repräsentationsgeschichte konfliktträchtiger Kriegs- und Kolonialperioden, die kritisch-kontrovers deren öffentliche Aufarbeitung begleitete. Dass im französischen Fall der Zweite Weltkrieg und die „schwarzen Jahre“ des Vichy-Regimes unter deutscher Besatzung den Anfang machten, wird niemanden verwundern. Auch nicht, dass über kurz oder lang die Entzauberung des entlastenden Vichy-Mythos auf den Umgang mit dem „Krieg ohne Namen“ in Algerien sowie der Kolonialgeschichte als ganze überschwappen und Deutungskämpfe im öffentlichen Raum generieren musste. Mehr und mehr war „Koloniales“ präsent, nicht nur als Kontroverse über Geschichte in meinungsführenden Organen.60 Auf zahlreichen Foren, in vielerlei Formen und mit vielfältigen Konsequenzen „schlug das Empire zurück“. Bei allen Diskussionen über Immigration und Integration, bei Banlieue-Krawallen minderen oder größeren Ausmaßes, bei Skandalen über staatliche Vorschriften für das Lehren einer „positiven Rolle französischer Überseepräsenz“ an Schulen oder bei Debatten über eine fracture coloniale und konstant verankerte koloniale Denkmuster im Hexagon.61 Auch bei sportlich vermittelten Black-Blanc-Beur-Bildern französischer Nationalteams oder einer farbenfrohen Kultur-Szene, die längst post-koloniale und migrationskulturelle Inspirationsquellen in das patrimoine national integriert hatte.62 Auf allen Ebenen fand sich die République une et indivisible konfrontiert mit einer selbst60 Aufschlussreich die regelmäßigen Dossiers in breitenwirksamen Fach- und Wochenmagazinen. Etwa Le Monde diplomatique – Manière de voir 58/2001: Polémiques sur l’histoire coloniale; daneben „Le temps des colonies“, in: Les collections de L’Histoire, 11/2001, S. 3–114; „La colonisation en procès“, in: L’Histoire, 302/2005, S. 40–89; „Sétif, Madagascar, Cameroun – Les brûlures de la colonisation“, in: L’Histoire, 318/2007, S. 30–56. Für die Wochenmagazine z.B. „1944– 1962 – Les autres crimes commis au nom de la République“, in: Marianne, 14.05.2001, S. 54–65; „La vérité sur l’esclavage“, in: Le Nouvel Observateur, 03.03.2005; „La vérité sur la colonisation“, in: Le Nouvel Observateur, 08.12.2005, S. 4–14. Zuletzt mit Algerienbezug „Quand l’Algérie était française“, in: Le Point, 22.05.2008, S. 70–92; „Notre guerre d’Algérie“, in: Le Nouvel Observateur, 21.10.2010, S. 22–38. 61 Programmatisch Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire (Hrsg.), La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris 2005; zuletzt Nicolas Bancel u.a. (Hrsg.), Ruptures postcoloniales. Les nouveaux visages de la société française, Paris 2010. 62 Zuletzt dazu die Kulturbeiträge in: Hüser (Hrsg.), „Frankreichs Empire schlägt zurück“, S. 253– 346. Vgl. daneben Driss El Yazami/Yvan Gastaut/Naima Yahi (Hrsg.), Générations. Un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France, Paris 2009; Claude Boli/Yvan Gastaut/Fabrice Grognet (Hrsg.), Allez la France! Football et immigration, Paris 2010.

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bewussten France au pluriel, die begann, nationale Selbstbilder maßgeblich mitzuprägen.63

IV Der „Post-Skandal“ Ohne Rückwirkungen auf den Umgang mit dem 17. Oktober 1961 konnten die Paradigmenwechsel kaum bleiben. Und tatsächlich trat der Tag aus der Erinnerungsflaute heraus und bekam Aufwind, vereinzelt schon in den 1980er, verstärkt dann in den 1990er Jahren. Der 17. Oktober mutierte vom „Un-Skandal“ zum „Post-Skandal“, für manche gar zu einem „Symbol-Skandal“. Zum einen als Symbol für kolonialhistorische Kontexte selbst: für den Widerspruch zwischen der republikanischen Zivilisationsutopie, den Sonntagsreden in den Kolonien und der gelebten Realität der Menschen vor Ort, auch für lange verschwiegene französische Gewalt und Verbrechen im Rahmen der Kolonialherrschaft. Zum anderen als Symbol für den Brückenschlag vom Damals zum Heute: für den Zusammenhang zwischen latenter Xenophobie in Frankreich und unverdauten Algerienund Kolonialerfahrungen der Franzosen oder für mögliche Analogien zwischen damaliger ethnischer Hierarchisierung und heutiger ethnisch-sozialer Ausgrenzung an „Bann-Orten“ trostloser vorstädtischer Wohnanlagen.64

Normverletzung Mit Blick auf den Vierschritt des Skandals: Normverletzung, Enthüllung, Empörung und Genugtuung, lässt sich zunächst konstatieren, dass sich an dem Geschehen als solchem, an dem moralischen Fehlverhalten am 17. Oktober 1961 und den Tagen danach nichts geändert hatte. Wohl aber erhielt die Bewertung des Geschehens als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als ein durch nichts zu rechtfertigender Akt staatlicher Gewalt, als ein blutiges Unterdrücken von Straßenprotest im Land der Menschen- und Bürgerrechte immer mehr Zuspruch. Anders formuliert: Erst unter den Rahmenbedingungen der 1990er Jahre gelang es wissenschaftlichen, journalistischen und zivilgesellschaftlichen Kreisen, die Pariser Polizei-Repressionen als beispiellose Normverletzung öffentlich zu enthüllen, auf

63 Vgl. Catherine Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Paris 2009, S. 16. 64 Vgl. Dietmar Hüser, „Die sechs Banlieue-Revolten im Herbst 2005 – Oder: Überlegungen zur sozialen, politischen und kolonialen Frage im frühen 21. Jahrhundert“, in: ders. (Hrsg.), „Frankreichs Empire schlägt zurück“, S. 15–54, hier: S. 39–44; daneben Robert Castel, Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in der Pariser Banlieue, Hamburg 2009, S. 69, S. 80–84.

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breiterer Front Empörung über das offensichtliche moralische Fehlverhalten zu erzeugen und auf Sanktionen zumindest symbolischer Art zu drängen. Kurzum: die prinzipielle Skandalträchtigkeit der polizeilichen Gewalt in der Spätphase des Algerienkrieges, die durchaus schon zuvor – z.B. in historischen Darstellungen zur Geschichte der V. Republik – als „brutal“, als „Exzess“ dargestellt und in eine vergleichende Warte zu den Judenrazzien während der Vichy-Jahre gerückt worden waren,65 stand nunmehr außer Frage. Das öffentliche Enthüllen des 17. Oktober und das progressive kollektive Empören über das seinerzeit Geschehene vollzog sich eingebettet in die Debatten und Kontroversen, die sich um den 30. Jahrestag des Algerienkriegsendes am 16. März 1992 rankten. Anders als bisher beförderte das Ereignis die Nachfrage in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens. Ausstellungen und Tagungen, zahlreiche Buchveröffentlichungen, mehrere Spiel- und Dokumentarfilme, Fernsehdiskussionen zur besten Sendezeit und Sondernummern einschlägiger Wochenmagazine in den Monaten zuvor und danach veranschaulichten dies. Erstmals gelang es dem Algerienkrieg, in kritisch-aufklärerischer Absicht den öffentlichen Raum zu erobern. Besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhren die ehemaligen Wehrpflichtigen, etliche brachen nach drei Jahrzehnten das Schweigen und veranlassten andere betroffene Gruppen, ebenfalls das Wort zu ergreifen. Damals noch im Schatten virulenter Vichy-Debatten, entwickelte das Thema „Algerienkrieg“ eine zunehmende, bis heute andauernde Eigendynamik.66 Eine Kugel war ins Rollen gekommen, die auch dem 17. Oktober dauerhaft einen deutlichen Aufmerksamkeitsschub einbringen sollte.67

65 Vgl. etwa das Buch von Pierre Viansson-Ponté, Histoire de la République gaullienne, Bd. 1: La fin d’une époque: Mai 1958–Juillet 1962, Paris 1970, S. 431. 66 Mit massenmedial begleiteten „Enthüllungen“, die oftmals längst keine mehr sind: vgl. z.B. den Band von François Malye/Benjamin Stora, François Mitterrand et la guerre d’Algérie, Paris 2010. 67 Zur „Repräsentationsgeschichte“ des Algerienkriegs vgl. klassisch Benjamin Stora, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1991; Ders./Mohammed Harbi (Hrsg.), La guerre d’Algérie 1954–2004. La fin de l’amnésie, Paris 2004; Anny Dayan Rosenman/Lucette Valensi (Hrsg.), La guerre d’Algérie dans la mémoire et l’imaginaire, Saint-Denis 2004; Raphaëlle Branche, La guerre d’Algérie. Une histoire apaisée?, Paris 2005; Christiane Kohser-Spohn/Frank Renken (Hrsg.), Trauma Algerienkrieg – Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt am Main 2006; Frank Renken, Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt, Göttingen 2006.

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Enthüllungskontext Als „Enthüller“ in Algerienkriegsfragen betätigten sich zahlreiche Akteure mit durchaus unterschiedlichen Motiven. Die Geschichtswissenschaft stellte sich der Herausforderung. Internationale Tagungen fanden statt, verbesserte Zugangsmöglichkeiten zu den Archiven ermöglichten quellengesättigte Studien zu strittigen Kernpunkten des Krieges, gerade auch aus der Feder einer jüngeren Historikergeneration.68 Die Medien blieben am Ball, weil Algerienkrieg und Kolonialverbrechen nun öffentlich auf Resonanz trafen und durch andere Anlässe wie die Dauerdebatten über Republik und Laizität, Immigration und Integration, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit immer wieder an die mediale Oberfläche gespült wurden. Besondere Relevanz unter Skandalisierungsgesichtspunkten gewannen Reportagen über Folterpraktiken während der Kriegsjahre. Betroffene Zeitzeugen, die sich äußerten, hochbetagte Generäle wie Bigeard, Massu oder Aussaresses, die Stellung nahmen: Emotionalisierung und Personalisierung der Diskussion waren die Folge.69 Mehr noch gilt dies für das erschöpfende massenmediale Begleiten des Prozesses gegen Maurice Papon seit 1997.70 Angeklagt wegen der Organisation von Judentransporten in Vernichtungslager als Generalsekretär der Präfektur Gironde in den Vichy-Jahren, brachte das Verfahren dennoch wieder und wieder seine Rolle am 17. Oktober 1961 ins Spiel und ließ Papon als Feindbild Nummer 1 gleich mehrerer belasteter französischer Vergangenheiten erscheinen.71 Im Zuge des Papon-Verfahrens beauftragte die Linksregierung unter Premierminister Lionel Jospin 1998/99 eine erste, dann eine weitere Kommission, um mehr Licht ins Dunkel des 17. Oktober zu bringen und die verstärkt vorgebrachten Aufklärungswünsche zu befriedigen. Die Berichte auf der Grundlage der Archive zunächst im

68 Paradigmatisch Raphaëlle Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie 1954– 1962, Paris 2001; Sylvie Thénault, Une drôle de justice. Les magistrats dans la guerre d’Algérie, Paris 2001. 69 Dazu Benjamin Stora, „1999–2003, guerre d’Algérie: les accélérations de la mémoire“, in: ders./Harbi (Hrsg.), La guerre d’Algérie 1954–2004, S. 501–514 (505 f.); Branche, Une histoire apaisée?, S. 50–54. 70 Dazu die Bücher der Journalisten Eric Conan, Le procès Papon. Un journal d’audience, Paris 1998, sowie Jean-Michel Dumay, Le procès de Maurice Papon. La chronique, Paris 1998. 71 Über die französischen Medien hinaus vgl. die nachgedruckten Artikel verschiedener Provenienz in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Vichy vor Gericht. Der Papon-Prozeß. Der Strafprozeß gegen Maurice Papon in der deutschen Presseberichterstattung 1997/98, Baden-Baden 2000, S. 18–22, S. 35–39, S. 64–67, S. 67–70.  

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Innen-, dann der im Justizministerium korrigierten die bisherige offizielle Opferbilanz nach oben, blieben gleichwohl umstritten.72 Ein Mehr an öffentlicher Präsenz und Enthüllung eigener Leiden bildete auch ein gemeinsames Anliegen der ansonsten oft heillos zerstrittenen Veteranenverbände, die gerade im lokalen Raum das gesellschaftliche Leben weiterhin stark prägen. Die Vorstandsetagen verjüngten sich, ehemalige Nordafrikakämpfer lösten sukzessive die Weltkriegssoldaten ab und verliehen den jenseits des Mittelmeers ausgetragenen Konflikten höheres Gewicht und größere Sichtbarkeit. Davon zeugten allein schon die vielen neu eingeweihten Gedenkstätten sowie die Ergänzungslisten oder Zusatztafeln an schon existierenden Kriegerdenkmälern, die doch traditionell den Weltkriegsopfern vorbehalten waren. Algerienveteranen in der Führungsspitze der Verbände, das meinte zugleich einen unmittelbareren Zugang zu Regierenden und Mandatsträgern auf allen Ebenen. Denn auch dort hatte der Generationswechsel seine Konsequenzen gezeitigt, ehemalige Kriegsteilnehmer bekleideten nunmehr höchste Staatsämter, standen an der Spitze politischer Parteien, besetzten zu Dutzenden die Parlamentsbänke beider Kammern. Kaum verwunderlich, dass der Staat selbst als ‚Enthüller‘ in Erscheinung trat, dies allerdings weniger mit Empörungs- als mit Entspannungsabsichten und dem Ziel, für Konsens auf dem Flickenteppich konfliktueller gruppenspezifischer Erinnerungsfetzen zu sorgen.73 Besonders Jacques Chirac, gerade ins höchste Staatsamt gewählt, empfand die Pflege der mémoire nationale als Privileg und Pflicht. Nachdem der Präsident mit seiner Vél’d’hiv’-Rede am 16. Juli 1995 versucht hatte, den Vichy-Querelen seiner Vorgängergeneration beizukommen, ging er daran, die Wunden seiner eigenen Generation, die des Algerienkrieges, zu heilen. Chirac war es, der bereits 1996 in der symbolträchtigen Begriffsfrage dafür warb, die französische Amtssprache in Einklang mit der Alltagssprache zu bringen. Deputierte und Senatoren zogen nach und verabschiedeten im Juni bzw. Oktober 1999 einstimmig ein Gesetz, das fortan die Wortwahl „Algerienkrieg“ in offiziellen Texten vorschrieb, anstatt schönfärberisch von „Ereignissen in Nordafrika“ oder „Operationen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ zu sprechen.74 Trotz des Einweihens eines Nationalen Algerienkriegsdenkmals Ende 2002 stießen die Konsensfindungsmühen an Grenzen,75

72 Vgl. House/MacMaster, Paris 1961, S. 9, S. 106 f., S. 161–163, S. 312–314. 73 Als konzisen Überblick zu den politiques mémorielles in Frankreich vgl. nun Johann Michel, Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris 2010. 74 Zur Parlamentsdebatte vgl. Renken, Frankreich im Schatten des Algerienkrieges, S. 437–441. 75 Vgl. Dietmar Hüser, „Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen in Frankreich – Vom zersplitterten Gedenken an den Algerienkrieg seit 1962“, in: Frankreich-Jahrbuch, 13/2000, S. 107–128.  

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sowohl was dessen Ort, den Quai Branly, als auch das Datum der künftigen journée commémorative anbelangte, den 5. Dezember, der nach jahrzehntelangem Gedenktagsstreit von oben verordnet worden war, ohne den geringsten Bezug zum Geschehen zu haben.76 Gängige Praxis blieb ein zersplittertes Erinnern.

Enthüllung & Empörung Und dies gilt eben umso mehr, als zunächst weder die Akteure der „Großen Politik“ noch die Verbände der Veteranen, Algerienfranzosen und Harkis die Vorfälle vom 17. Oktober 1961 als relevantes Ereignis der Kriegserinnerung und Gedenktagsdiskussion in Rechnung stellten. Es waren andere Personen und Gruppen, die den Tag auf die Agenda setzten und im Laufe der 1990er Jahre als „un fait majeur de l’histoire de la guerre d’Algérie“77 öffentlichkeitswirksam zu positionieren wussten. Im Zuge von Bildungsexpansion und Wertewandel, von Enthierarchisierungs- und Liberalisierungstrends, im Umfeld von Geschichtsboom, Gedächtniskonjunktur und Jubiläumskultur, im Kontext eines entmystifizierten roman national sowie einer verstetigten öffentlichen Präsenz französischer Kriegs- und Kolonialgeschichten unter kritischen Vorzeichen gelang etwas, das sich noch in den 1970er und 1980er Jahren als unmöglich erwiesen hatte: aus vereinzelter Entrüstung und punktueller Mediatisierung eine breitere Empörungsfront zu generieren und damit den 17. Oktober skandalträchtig zu machen. Dabei waren die Polizei-Repressionen auch zuvor keineswegs völlig von der Bildfläche verschwunden.78 Zeichnete in den 1970er Jahren vor allem die Amicale der Algerier in Europa dafür verantwortlich, so waren es in den 1980er Jahren antirassistische Vereinigungen und Zusammenschlüsse junger Franzosen aus maghrebinischen Migrationskontexten, die das Erinnerungsheft in die Hand nahmen, aber eher sporadisch als systematisch Gedenkfeiern, Versammlungen und Demonstrationen organisierten. Auch die Tagespresse beging nun die runden und halbrunden „Jubiläen“. Le Monde berichtete am 17./18. Oktober 1981 über „une nuit sanglante“,79 Libération wartete mit einem ausführlichen Dossier auf, L’Hu-

76 Dazu Dietmar Hüser, „Quai Branly, Paris, 7ème – Ein Algerienkriegsdenkmal und (k)ein Ende des Gedenkstreits?“, in: ders./Armin Heinen (Hrsg.), Tour de France – Eine historische Rundreise, Stuttgart 2008, S. 479–488. 77 Vgl. Branche, Une histoire apaisée?, S. 46. 78 Dazu House/MacMaster, Paris 1961, S. 290–295; Dewerpe, Charonne, S. 652 f. 79 Philippe Boucher, „Une nuit sanglante“, in: Le Monde, 18.10.1981, nachgedruckt in: Le Monde. Dossiers et documents, numéro spécial: L’Histoire au jour le jour, Bd. 2: 1955–1962, Paris 1985, S. 187.  

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manité dann fünf Jahre später. Engagierte Schriftsteller verschafften dem 17. Oktober zeitweise eine literarische Bühne, allen voran Didier Daeninckx mit seinem Krimi Meutres pour mémoire, der 1984 bei Gallimard erschien und im Jahr darauf den renommierten Grand prix de littérature policière gewann.80 All dies, ohne dass daraus eine breite öffentliche Debatte mit Chancen auf kollektive Empörung und Skandalisierung erwachsen wäre. Erst die frühen 1990er Jahre brachten die Wende. Nicht nur die Zahl derer, die zivilgesellschaftlich in den Gedenk-Chor für den 17. Oktober einstimmten, weitete sich aus, auch die Frequenz und die Orte öffentlicher Auseinandersetzung damit. Kaum ein Dossier meinungsführender Wochenmagazine zum Algerienkrieg kam noch umhin, den Tag und die damaligen escadrons de la mort français au travail zu thematisieren.81 Mehr und mehr begannen sich Migrantenkinder algerischen Ursprungs einzumischen, unterstützt durch Jugendliche aus Einwandererfamilien anderer Herkunftsländer, durch „autochthone“ Franzosen und eine wachsende Schar weiterer Akteure im öffentlichen Raum, die argumentative Brücken schlugen von der latenten Xenophobie im Land in lebensweltlich spürbarer wie parteipolitisch verfestigter Form und der langen Amnesie in Algerienkriegsfragen. Ein mentaler Transfer vom früheren zum heutigen théâtre colonial, hieß es, ein „transfert d’une mémoire de l’Algérie française au racisme anti-arabe“.82 Als junge Staatsbürger pochten sie auf Einlass in die Gesellschaft mit gleichen Chancen und Rechten, als tatsächliche oder virtuelle Kinder von Kolonialsoldaten oder Arbeitsmigranten beanspruchten sie einen Platz in Frankreichs Nationalgeschichte. Ein zunächst kleiner Kreis engagierter Journalisten, Schriftsteller, Filmemacher, Historiker rief 1990 den Verein Au nom de la mémoire ins Leben, der sich auf die Fahnen schrieb, besonders für den 17. Oktober 1961 Aufklärungsarbeit durch Bücher, Filme, Ausstellungen, Kolloquien, durch Präsenz in Rundfunk und Fernsehen zu leisten. Breit rezipiert fand sich 1991 die erste umfassende Darstellung der Ereignisse von Jean-Luc Einaudi, La bataille de Paris, die von 325 algerischen Opfern der französischen Polizei ausging. An die zehntausend Menschen nahmen

80 Vgl. http://www.polars.org/article253.html (Stand: 24.11.2010); daneben Philippe Videlier, „17 octobre 1961: rendez-vous avec la barbarie“, in: Le Monde diplomatique – Manière de voir 58/ 2001, S. 14. 81 Vgl. den entsprechenden Artikel im Dossier „Algérie: Les Français ont-ils été des criminels de guerre?“, in: L’Événement du Jeudi, 18.10.1990, S. 70–104, hier: S. 98. Dazu viele andere Beispiele, etwa das Dossier „Algérie 1954/1962 – La mémoire ensablée“, in: Les Lettres françaises, April 1992, S. 2–23. 82 Dazu Benjamin Stora, Le transfert d’une mémoire. De l’„Algérie française“ au racisme antiarabe, Paris 1999, v.a. S. 9–12, S. 22–31, S. 58–69, S. 119–128. Zum théâtre colonial vgl. Didier Lapeyronnie, „La banlieue comme théâtre colonial, ou la fracture coloniale dans les quartiers“, in: Bancel/Blanchard/Lemaire (Hrsg.), La fracture coloniale, S. 209–218.

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im selben Jahr an einem Gedenkmarsch teil, der auf den Spuren der Algerier im Frühherbst 1961 am Canal Saint-Martin vorbei zum Rex-Kino führte. Tages- und Wochenpresse berichteten fortan regelmäßig, die nicht-privaten Fernsehanstalten strahlten Dokumentationen aus, die Klagen mehrten sich, für den Algerienkrieg existiere noch kein Datum wie der Vél’d’hiv’-Tag seit 1992 für die VichyOpfer rassistischer und antisemitischer Verfolgung.83 Im Gefolge des Papon-Prozesses und im Vorfeld des 40. Jahrestages bildete sich über den Verein „17 octobre contre l’oubli“ eine noch breitere Bewegung heraus, die das staatliche Anerkennen des Verbrechens, einen angemessenen Gedächtnisort und freien Archivzugang forderte. Immer besser gelang es den Protagonisten, sich öffentlich und massenmedial in Szene zu setzen. Libération druckte 1999 eine imposante Unterstützerliste des Aufrufs „17 octobre 1961: Pour que cesse l’oubli“ mit den Namen von hunderten Politikern, Intellektuellen, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Juristen, Journalisten und Kulturschaffenden.84 Weniger bekannt, aber kaum weniger bedeutsam für ein zivilgesellschaftliches Verankern von Enthüllungs- und Empörungspanoramen zum 17. Oktober 1961 über Generationsgrenzen hinweg, war das umfassende Einziehen des Algerienkrieges in massenhaft rezipierte kulturelle Angebots- und Ausdrucksformen. Allen voran sind verschiedene engagierte populärmusikalische Genres zu erwähnen, die über den Algerienkrieg hinaus auch konkret den 17. Oktober aufgriffen und dazu beitrugen, dass sich gerade Jugendliche solche Debatten aneigneten. Alternative Rocksparten oder das neorealistische Chanson boten eine Plattform für kritische Texte. Polizeihorden, besoffen nach Schlägen und Blut, die „eurent carte et nuit blanches, pour leur apprendre à vivre, à ces rats d’souche pas franche“, hieß es etwa bei La Tordue, „peuple français, …, tu as vu la police assommer les manifestants et les jeter dans la Seine, la Seine rougissante …“ bei den Têtes Raides.85 Als Dauerthema etablierten sich Kolonialgeschichte, Algerienkrieg und 17. Oktober in der hochpolitisierten Rap-Szene, die seit den frühen 1990er Jahren ein jugendliches Massenpublikum quer durch alle Gesellschaftsschichten eroberte.86 Persönliche Geschichten aus post-kolonialer Perspektive erzählten die Künstler, über Erfahrungen mit den trous de mémoire der Gesamt-

83 Vgl. Benjamin Stora, „Cicatriser l’Algérie. Entretien“, in: Dimitri Nicolaïdis (Hrsg.), Oublier nos crimes. L’amnésie nationale, une spécificité française, Paris 1994, S. 227–243. 84 Nachdruck beim Gründungsvorsitzenden Le Cour Grandmaison (Hrsg.), Le 17 octobre 1961, S. 254–264. 85 La Tordue, „Paris, Oct. 61“, Les choses de rien, 1995; Têtes Raides, „Dans la gueule du loup“, Chamboultou, 1998. 86 Dazu Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln 2004, S. 342–348.

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gesellschaft oder dem verordneten Beschweigen in der Schule:87 „Des progromes en plein Paris, de rafles à la benne / Et ce 17 octobre 61 qui croupit au fond de la Seine / On m’a demandé d’oublier.“88

Genugtuung? Alles in allem ein ziemlich breites Enthüllungspanorama, das sich im Laufe der 1990er Jahre entfaltet hat, und ein beträchtliches Empörungspotential, das um die Jahrtausendwende zur Verfügung stand, um politische Akteure zivilgesellschaftlich in die Pflicht zu nehmen, endlich Akte symbolischer Reparation und Sanktion für moralisches Fehlverhalten und staatlich begangenes Unrecht auf den Weg zu bringen. Tatsächlich waren nun – verglichen mit den Jahrzehnten zuvor – Ausmaß und Intensität der Enthüllung wie der Empörung in manchen benennungsmächtigen Teil-Öffentlichkeiten und entscheidungsrelevanten Politik-Kreisen derart gewaltig, dass die Skandalträchtigkeit des 17. Oktober 1961 mittlerweile außer Zweifel stand. Aus dem „Un-Skandal“ des Algerienkrieges war endgültig ein „PostSkandal“ der Gedächtniskonjunktur geworden. Das Anbringen der eingangs erwähnten Gedenktafel durch den Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë am 17. Oktober 2001 auf der Pariser Saint-Michel-Brücke, um der „vielen Algerier“, die vier Jahrzehnte zuvor durch das „blutige Niederschlagen einer friedlichen Demonstration“ umgekommen waren, zu gedenken, steht – wie auch ähnliche Gesten im Großraum Paris (Asnières, Aubervillers, Clichy-La-Garenne, Colombes) oder auch in Givors südlich von Lyon89 – ganz im Kontext dieser Erinnerungsdynamik. Zugleich waren solche Akte symbolischer Reparation stets umstritten, rechtsextreme, aber auch einige gaullistische und liberale Politiker reagierten mit heftigen Protesten auf die Delanoë-Initiative.90 Massive Präsenz bedeutete eben noch keinen Konsens. Schon die Interessen der „Enthüller“ waren alles andere als gleichgerichtet im hart umkämpften Raum französischer Algerienkriegserinne-

87 Vgl. Assassin, „A qui l’histoire“, Le futur que nous réserve-t-il?, 1992; Rootsneg, „Griot“, Cercle rouge, 1998; zu den Gedächtnislücken vgl. z.B. Aktivist, „Si t’en as conscience“, Toujours aktif, 2000. 88 La Rumeur, „On m’a demandé d’oublier“, Le franc-tireur, 1998; ähnlich Kabal, 11’30 contre les lois racistes, 1997 oder später Médine, „17 octobre“, Table d’écoute, 2006. 89 Vgl. den Artikel „Un devoir de mémoire pour un monde de fraternité“, in: Vivre à Givors – Magazine municipale 119/2010, S. 4. 90 Vgl. Philippe Bernard/Christine Garin, „Le massacre du 17 octobre 1961 obtient un début de reconnaissance officielle“, in: Le Monde, 17.10.2001; Jean-Jacques Bozonnet/Christine Garin, „Les controverses politiques sur la guerre d’Algérie marquent la commémoration du 17 octobre 1961“, in: Le Monde, 19.10.2001.

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rung. Dies betraf nicht allein die mehrfach verminten Fronten zwischen nationalen Gedenkbemühungen des Staates und spezifischen Erinnerungsansprüchen der oftmals selbst im eigenen Lager zerstrittenen Opfergruppen der Veteranen, PiedNoirs und Harkis. Selbst unter denen, die an sich dieselben Ziele verfolgten, nämlich staatliche Gewalt und polizeiliche Übergriffe in der Spätphase des Algerienkrieges aufzuklären und zu sanktionieren, ging hier und da die Sorge um, der 17. Oktober könne die Vorfälle an der Metro Charonne knapp vier Monate später in den Schatten stellen und vergessen machen.91 Konkurrenz um Deutungsmacht allenthalben, auch in der „Großen Politik“, ging es doch der linken Mehrheit im Pariser Stadtrat und dem sozialistischen Bürgermeister Delanoë seit 2001 um ein breiter angelegtes Projekt, der hauptstädtischen Erinnerungslandschaft einen anderen, weniger an der nationalen Meistererzählung orientierten Anstrich zu geben. Gerade in Algerienkriegsfragen lagen etliche geschichtspolitische Initiativen quer zu den Bestrebungen des französischen Staates und seines gaullistischen Präsidenten.92 Aus Anlass des 50. Jahrestages, zehn Jahre nach dem Einweihen der Gedenktafel auf dem Pariser Pont Saint-Michel, gedachte schließlich der parteiintern frisch gekürte sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande in Clichy-LaGarenne der Opfer des 17. Oktober 1961, sprach Kindern und Enkeln seine Solidarität aus und streute Blumen in die Seine.93 Wiederum ein Jahr später unternahm Hollande – nunmehr im Amt des französischen Präsidenten – einen ersten offiziellen Schritt, staatlicherseits die Verantwortung für die begangenen Untaten zu übernehmen. Im Kommuniqué des Elysée-Palastes war von Toten durch eine „sanglante répression“ die Rede, von der Republik, die diese Tatsache „avec lucidité“ anerkenne: „Cinquante et un ans après cette tragédie, je rends hommage à la mémoire des victimes“, hieß es.94 Vordergründig mag dies als logische Konsequenz erscheinen und in der Dynamik langsam, aber stetig verschobener Rechtfertigungszwänge liegen, die dazu geführt haben, dass nunmehr in kolonialhistorischen Fragen eher die Kräfte im Abseits stehen, die dem Gesamtunternehmen

91 Dazu ausführlich Dewerpe, Charonne, S. 655–669. 92 Etwa das Einweihen des Place du 19 mars. Die Ortswahl fiel in Absprache mit der Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie, Tunisie et Maroc auf einen Platz gut 200 Meter nordöstlich vom Gare de Lyon, für zehntausende junge Wehrpflichtige und Reservisten zentraler Ausgangspunkt des Kriegseinsatzes, der über Marseille nach Algerien weiterführte. Dazu Sylvia Zappi, „Polémique à Paris autour de la ‚place-du-19-mars-1962‘ dédiée aux morts d’Algérie“, in: Le Monde, 22.04.2004. 93 Vgl. Anne Chemin, „Au pont de Clichy Hollande rend hommage aux Algériens morts en 1961“, Le Monde, 17.10.2011. 94 http://www.elysee.fr/president/root/bank/print/14120.htm (Stand: 21.10.2012).

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Kolonialismus noch wirklich Positives abgewinnen können, als diejenigen, die einen grundsätzlich kritischen Diskurs gegenüber kolonialen „Errungenschaften“ pflegen. Bei genauerem Betrachten lässt sich jedoch kaum übersehen, dass der 17. Oktober trotz der Initiative des neuen französischen Präsidenten hochgradig umstritten bleibt: Die einen streiten weiter ein durch Reparation und Sanktion zu heilendes moralisches Fehlverhalten der Polizeikräfte in der Spätphase des Algerienkrieges schlicht ab, andere empfinden bei aller Genugtuung den erfolgten Akt symbolischer Wiedergutmachung als längst nicht ausreichend und kämpfen nach wie vor für ein unverblümtes Benennen der Missetäter und Verantwortlichen.95 Wer jedenfalls um die Jahrtausendwende geglaubt hatte, es handele sich um einen linearen Prozess und nur noch um eine Frage der Zeit, wann der 17. Oktober von höchster Stelle in den Kanon der journées nationales commémoratives aufgenommen würde, der sah sich zunächst eines Besseren belehrt und in den folgenden Jahren konfrontiert mit vermehrten Anstrengungen des französischen Staates, geschichtspolitische Akzente unter ganz anderen Vorzeichen zu setzen. Im Spannungsfeld von Histoire – Mémoire – Pouvoir verstärkte sich das Bemühen, ein weiteres Dekonstruieren der einheitsstiftenden historischen Meistererzählung zu verhindern und die vorgeblich ausufernden Geschichten im Plural zu kanalisieren. Etwa durch das Einrichten der nationalen Gedenkstätte für Algerienkriegsopfer am Pariser Quai Branly als Symbol eines nie existenten Konsenses im Jahre 2002 und den dekretierten Gedenktag am 5. Dezember. Oder auch im Kontext des Gesetzes zur „Anerkennung der Heimkehrer durch die Nation“ vom Februar 2005. Es enthielt einen – knapp ein Jahr später nach einer Welle von Protesten wieder revidierten96 – Passus zu universitären Forschungs- und schulischen Unterrichtsprogrammen, künftig „insbesondere die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee, vornehmlich in Nordafrika“ hervorzuheben.97 Schon vor, erst recht aber nach der Übernahme des Präsidentenamtes 2007 intensivierte Nicolas Sarko-

95 Vgl. o.A., „Hollande: La République reconnaît la répression ‚sanglante‘ du 17 octobre 1961“, in: Libération, 17.10.2012; Guillaume Perrault, „17 octobre 1961: Hollande fait repentance“, in: Le Figaro, 17.10.2012; Jean-Baptiste Garat, „17 octobre 61: pour la droite Hollande cherche à diviser“, in: ebd. 96 Vgl. Béatrice Gurrey, „Mémoire coloniale: Jacques Chirac temporise“, in: Le Monde, 11./ 12.12.2005; Jean-Baptiste de Montvalon, „Nicolas Sarkozy s’engage dans la querelle des mémoires“, in: Le Monde, 25./26.12.2005; Béatrice Gurrey/Jean-Baptiste de Montvalon, „M. Chirac invite la France à assumer toute son histoire“, in: Le Monde, 31.01.2006. 97 Dazu Alice Ebert, „Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit. Die Debatten und Kontroversen um das „Kolonialismusgesetz“ von 2005“, in: Dietmar Hüser (Hrsg.), „Frankreichs Empire schlägt zurück“, S. 189–216; Dirk Petter, „Die koloniale Vergangenheit als Deutungsreservoir in den politischen Debatten um das französische Erinnerungsgesetz vom Februar 2005“, in: Frankreich-Jahrbuch, 23/2010, S. 91–104.

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zy das Bemühen, die Uhren wieder zurückzudrehen auf eine Zeit, als die französische Nationalgeschichte offiziell noch intakt war, die weiße Weste des roman national noch keine dunklen Flecken aufwies. Dass auch dabei nicht zuletzt elektorale Hintergedanken eine Rolle spielten und das Projekt, durch Schönfärben der Historie auch auf diesem symbolischen Kampffeld den rechtsextremen Front National auszustechen, ließ sich rasch erkennen.98 „Staat-Macht-Geschichte“ gerann zu einem der Markenzeichen Pariser Präsidentenpolitik. Bunt gemischte Vorstöße ohne Richtung, Erklärung oder Kontextualisierung,99 freilich einem Projekt untergeordnet: staatlich zu dekretieren, was historisch richtig und was wichtig ist, welche Momente und Personen sich eignen, das für nötig gehaltene, durch ein eigenes Ministerium beförderte Mehr an nationaler Identität zu generieren: eine präsidentiell definierte, ein für allemal fixierte nationale Identität wohlgemerkt. Dazu galt es einen Schlussstrich zu ziehen unter die selbstquälerische Manie der Nation, sich unentwegt als reumütiger „Verbrecherstaat“ auf der erinnerungskulturellen Bühne zu präsentieren.100 Mit Blick auf die Kolonialgeschichte meinte dies einen zweigleisigen (Dis-)Kurs:101 zum einen Fehler, Missstände, Entgleisungen, Untaten durchaus zu benennen anstatt zu verschweigen; zum anderen die Verantwortlichkeiten unter den Tisch zu kehren, die kolonialen Errungenschaften samt mission civilisatrice dagegenzuhalten,102 damit das Gesamtunternehmen Kolonisation schönzufärben und in Watte zu packen.

98 Vgl. z.B. Bertrand Le Gendre, „Nicolas Sarkozy, la France et son histoire“, in: Le Monde, 10.05.2007, oder Marc Zitzmann, „Große Nation, starke Identität, bereinigte Geschichte“, in: Neue Züricher Zeitung, 01.07.2007. Dazu, dass Sarkozy dieses Konzept im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 wiederbelebt hat, vgl. Nathalie Funès/Agathe Logeart, „Comment Sarkozy drague les rapatriés“, in: Le Nouvel Observateur, 21.10.2010, S. 46–50; prägnant zuletzt Jean-Claude Monod, „Les troubles de la mémoire et de l’histoire“, in: Esprit 371/2011, S. 100–104, hier: S. 101 f. 99 Eine kritische Zusammenschau der zahllosen Einzelinitiativen bei Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009. Bezogen auf den Umgang Sarkozys mit Vichy, Kollaboration und Widerstand ebenfalls kritisch, zugleich skeptisch, ob es sich um eine „rupture radicale“ gegenüber den Vorgängern im Amt handele: Olivier Wieviorka, La mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres de la Libération à nos jours, Paris 2010, S. 269–274. 100 Zu den konkreten Hintergründen und Zielen der „Anti-Repentance-Kampagne“ vgl. Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire colonial, S. 133 f., S. 139–141. 101 Vgl. Catherine Coquio, „Retours du colonial?“ in: dies. (Hrsg.), Retours du colonial? Disputation et réhabilitation de l’histoire française, Nantes 2008, S. 9–43, hier: S. 14–16, S. 18 f.; Pascal Blanchard, „L’impossible débat colonial“, in: ebd., S. 159–175, hier: S. 162 f. 102 Zur vergleichsweise stark ausgeprägten Rolle der mission civilisatrice als kolonialpolitische Triebfeder wie für das nationale Selbstverständnis in Frankreich vgl. Dino Constantini, Mission civilisatrice. Le rôle de l’histoire coloniale dans la construction de l’identité politique française, Paris 2008.  







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Gegenüber diesem Kurs der Sarkozy-Jahre, erneut einer glattpolierten Meistererzählung durch und durch beispielhafter französischer Nationalgeschichte das Wort zu reden, hat François Hollande gleich zu Beginn seiner Amtszeit ganz bewusst einen Bruch vollzogen und in der Frage des staatlichen Umgangs mit den blutigen Polizei-Repressionen am 17. Oktober 1961 ein erstes verhaltenes, aber völlig unmissverständliches Zeichen gesetzt. Es wird abzuwarten sein, wie sich Geschichts-, Kriegs- und Kolonialdebatten künftig entwickeln werden.

V Fazit – Skandal & Geschichte Es war ein langer Weg vom kolonialhistorischen „Un-Skandal“ der 1960er, 1970er und 1980er Jahre bis zum „Post-Skandal“ der Gedächtniskultur in den 1990er Jahren und danach. Skandalträchtig zunächst lediglich für kleinere zivilgesellschaftliche Akteursgruppen, die zu enthüllen suchten, doch nicht kollektiv zu empören wussten, hielten die polizeilichen Auswüchse und das staatliche Vertuschen schließlich Einzug in das „Pantheon“ memorabler Begebenheiten aus Algerienkriegszeiten. Sollte das Gewicht der verletzten Werte ein Gradmesser für das Empörungs- und Skandalisierungspotential sein, dann haben anfangs Staat und Gesellschaft das moralische Fehlverhalten am 17. Oktober 1961 nur für bedingt relevant gehalten. Mehr und mehr sank dann aber die Schwelle, die Vorfälle als verwerflich einzustufen. Die lange dominant angelegten Maßstäbe und Messlatten verloren an Plausibilität. Aus der zeitlichen Distanz des Heute heraus erwuchsen seit den 1990er Jahren moralische Ansprüche gegenüber dem Gestern. Manchem fiel es nun leichter, klar in „gut“ und „böse“, in Täter und Opfer zu unterscheiden, im Abgleich zwischen Staatsräson und Individualrechten ergaben sich andere Gewichtungen zugunsten der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in Kriegszeiten.103 Für die Debatten, die sich um belastete Vergangenheiten aus Kriegs- und Kolonialzeiten, um staatliche Geschichtspolitik und gruppenspezifische Erinnerungsmodi ranken, verspricht der Ansatz des Skandals einen dreifachen Mehrwert und erlaubt es, die historische Forschung – über das Analysieren und Interpretieren dieses oder jenes Skandals hinaus – ertragreich in den interdisziplinären „Skandal-Dialog“ einzubringen. Die Brille des Skandals erlaubt es erstens, die Zeitbedingtheit rezipierter Normverletzungen schlüssig auf den Punkt zu bringen und zu einem Kernbereich dessen vorzudringen, was Geschichte als Wissenschaft anstrebt: synchrone und

103 Nach Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, S. 63–65.

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diachrone Zusammenhangerkenntnis. Stets sind moralisches Fehlverhalten, öffentliches Enthüllen, kollektives Entrüsten und greifbares Sanktionieren kontextabhängige Größen, stets sind Skandale eine Frage des gesellschaftlichen Aushandelns in einer bestimmten Phase und damit eine Chiffre für dominante Werte und Normen im öffentlichen Raum. Das multiperspektivische Rekonstruieren zeitspezifischer Zusammenhänge bildet eine maßgebliche Aufgabe einer geschichtswissenschaftlich dimensionierten Skandalforschung, wenn es darum geht, die Mehrdeutigkeit und Komplexität historischer Situationen zu veranschaulichen. Dabei haben Historiker nicht zu richten, sondern zu erklären, Kritikfähigkeit und Augenmaß an den Tag zu legen: Kritikfähigkeit beim Abwehren historischer Flickschusterei zu politischen oder memoriellen Zwecken, Augenmaß im Beurteilen des historischen Geschehens, das die zeitgenössische Sicht der Dinge und nicht allein aktuelle Standards, etwa in Menschrechtsfragen, zu berücksichtigen hat.104 Dass es daran gerade kolonialgeschichtlich manchmal hapert, steht außer Frage. Nicht nur im französischen Fall im Übrigen.105 Daran anknüpfend hilft der Skandal-Ansatz zweitens, Einsichten in auseinanderstrebende Eigendynamiken geschichtswissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher bzw. massenmedialer Enthüllungsarbeit für belastete Vergangenheiten zu gewinnen. Häufig zeigt sich, dass es ursprünglichen Aufklärern aus akademischen Kreisen, die wenig rühmliche, bislang unterbelichtete Aspekte aus Kriegs- und Kolonialzeiten ans Tageslicht bringen und einen kritischeren Umgang mit dunklen Flecken auf der nationalen Geschichtsweste anmahnen, nicht gelingt, das Heft auf Dauer in der Hand zu behalten und einer sachgerechten kontextualisierten Rekonstruktion der Tatbestände öffentliche Durchschlagskraft zu verleihen. Unbehagen allenthalben, gerade unter Historikern, wenn einmal angestoßene Debatten durch zivilgesellschaftliche und massenmediale Strategien der Emotionalisierung und Personalisierung, der Mobilisierung und Skanda-

104 Vgl. Michel Winock, „Une République très coloniale“, in: L’Histoire 302/2005, S. 40–49, hier: S. 41 f.; Marc Ferro, „La République a trahi ses valeurs“, in: Les collections de L’Histoire 11/2001, S. 8 f. Daneben Gilles Manceron, „Eclairer par l’histoire les malaises de la société“, in: Bacot (Hrsg.), Travail de mémoire, S. 39–45, hier: S. 42. 105 Für Frankreich der vielfach kritisierte Band von Olivier Le Cour Grandmaison, Coloniser, exterminer. Sur la guerre de l’Etat coloniale, Paris 2005; fundamentale Kritik an diachron wie synchron völlig verquerten Vergleichsperspektiven z.B. durch Gilbert Meynier/Pierre Vidal-Naquet, „,Coloniser, exterminer‘ – Des vérités bonnes à dire à l’art de la simplification idéologique“, in: Esprit, 320/2005, S. 162–177. Für die britische Kolonialgeschichte vgl. Caroline Elkins, Britain’s Gulag. The Brutal End of Empire in Kenya, London 2005. Aufschlussreich in britisch-französischer Warte Stephen Howe, „Colonising and Exterminating? Memories of Imperial Violence in Britain and France“, in: Histoire@Politique – Politique, culture, société, 11/2010, www.histoire-politique. fr. (Stand: 16.01.2013).  



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lisierung kaum mehr den Maßstäben akademischer Kolloquien gerecht werden, geschweige denn der komplexen historischen Realität als solcher.106 Bei allem Bedauern darüber, dass Bilder zirkulieren, die der deutschen Besatzung, Ausbeutung und Drangsalierung in den Vichy-Jahren keinen Federstrich mehr widmen, oder die französische Kolonialgeschichte umstandslos mit einem Projekt genozidartiger Menschenvernichtung gleichsetzen,107 liegt es in der Natur der Sache, dass die historische Forschung keine Deutungshoheit auf Dauer beanspruchen und das zielgerichtete Funktionalisieren gerade belasteter Vergangenheiten nicht verhindern kann. Höchstens noch staatliche „Übergriffe“ auf die eigene Disziplin an Schule und Hochschule, die positive Rolle französischer Präsenz in Übersee besonders hervorzuheben.108 Neben stichhaltigen Aussagen über die Zeit- und Kontextgebundenheit von Skandalisierungspotentialen sowie die Eigendynamik von Enthüllungs- und Empörungsszenarien schärft der Skandalansatz drittens den Blick für historische Umbruchsituationen. Im Wettkampf konkurrierender Deutungsangebote sind die Momente herauszuarbeiten, in denen sich die Waagschale von der einen zur anderen Seite zu neigen beginnt, sowie die tieferen Ursachen dafür. Es geht um Paradigmenwechsel im öffentlichen Raum, um ein Neuvermessen politischer und gesellschaftlicher Geschäftsgrundlagen in Fragen belasteter Vergangenheit und um Prozesse der Selbstvergewisserung über grundlegende Werte und Normen. Dies an den brutalen Polizei-Repressionen gegenüber algerischen Arbeitsmigranten am 17. Oktober 1961 festzumachen, war Ziel des vorliegenden Artikels. Aufzeigen ließen sich solche Umbrüche öffentlicher Deutungshoheit auch an Beispielen aus den Vichy-Jahren: die französische Verstrickung in den nationalsozialistischen Völkermord zum Beispiel, deren Skandalisierungsversuche lange kein kollektives Empören auslösten, bis dies seit den frühen 1980er Jahren mehr und mehr gelang.109 Auch künftig wird damit zu rechnen sein, dass frühere

106 Vgl. z.B. Pierre Nora, „Malaise de l’identité historique“, in: Le Débat, 141/2006, S. 48–52, hier: S. 49 f. 107 Entschieden in diesem Sinne der Historiker Daniel Lefeuvre, Pour en finir avec la repentance coloniale, Paris 2006, der freilich selbst weit über das Ziel hinausschießt, wenn die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion über Kolonialverbrechen lapidar als „une campagne de dénigrement de la France“ diskreditiert wird, ebd., S. 15. 108 Vgl. Claude Liauzu, „Non à la loi scélérate!“, in: L’Histoire, 302/2005, S. 52 f. Über den konkreten Fall hinaus und die Gründung des Comité de vigilance face aux usages publics de l’histoire vgl. Jocelyne George, „Sur les usages publics de l’histoire. Polémiques, commémorations, enjeux de mémoire et enseignement“, in: Cahiers d’histoire – Revue d’histoire critique, 98/ 2006, S. 111–117. 109 Symbolstatus hat in diesem Kontext der Dokumentarfilm „Le chagrin et la pitié“ von Marcel Ophüls, Sohn des weltbekannten Regisseurs Max Ophüls, der 1933 mit seiner Familie zunächst  



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Untaten, besonders Kolonialverbrechen in Afrika und Asien, noch stärker in den Fokus geraten und den „bilan globalement négatif“110 für eine breite Öffentlichkeit weiter schwärzen.111 Noch sind die meisten vom Stadium der Skandalträchtigkeit ein Stück weit entfernt. Anders als der 17. Oktober 1961.

nach Frankreich, dann in die USA emigriert war. Der Film spielt in Clermont-Ferrand und zeichnet mit Zeitzeugengesprächen den Besatzungsalltag nach. Widerstandskämpfer kommen zu Wort, erstmals auch die ganze Palette des „anderen Frankreich“ der Zeit, das durch gewiefte Frage- und Montagetechniken mit feinsinnigem Spott überzogen wird. Ganz bewusst wollte die über vierstündige Dokumentation provozieren und das gaullistische Bild vom Volk im Widerstand konterkarieren. 1969 fertiggestellt, konnte der Film in Frankreich erst ab April 1971 in einem kleinen Kino im Quartier Latin laufen, blieb dort 87 Wochen im Programm und wurde von 600.000 Zuschauern gesehen. Versuche, die Dokumentation im Fernsehen auszustrahlen, scheiterten regelmäßig. Erst im Oktober 1981 konnten 15 Millionen Franzosen den Film im dritten Programm anschauen. Zwölf Jahre nach Abschluss des Projekts, die zeigen, wie weit sich die Schere geöffnet hatte zwischen den Anliegen einer ausdrucksfähigen Öffentlichkeit, Vichy aufzuarbeiten und dem Ansinnen des Staates, weiter als Gralshüter nationaler Erinnerung zu fungieren. Dazu Henri Rousso, Le syndrome de Vichy 1944–198…, Paris 1987, S. 124 f. 110 Nach Marc Ferro, „Un bilan globalement négatif“, in: Le Nouvel Observateur, 08.12.2005, S. 10 f. 111 Zahlreiche prägnante Beispiele für potentielle Kolonialskandale bietet das Dossier „1944– 1962 – Les autres crimes commis au nom de la République“, in: Marianne, 14.05.2001, S. 54–65.  



Ingrid Gilcher-Holtey, Bielefeld

Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit Welche Mittel und Wege stehen Intellektuellen zur Verfügung, um mit Aussicht auf Einflusschance und Wirkungsmacht die Öffentlichkeit zu erreichen und sie aufzuklären? Gehört die Skandalisierung als Waffe zum Repertoire der Intellektuellen? Wie lässt sich das Verhältnis von Intellektuellen und Skandal beschreiben? Last but not least, ist die Affäre, mit der man die Rolle des Intellektuellen zumeist verknüpft, ein Skandal? Die Beantwortung der Fragen setzt analytische Begriffsklärung voraus. ‚Skandal‘ und ‚Affäre‘ sollen daher in einem ersten Schritt voneinander abgegrenzt werden (I), bevor ausgewählte Interventionsstrategien von Intellektuellen am Beispiel der Spiegel-Affäre skizziert werden (II). Drei Überlegungen schließen die Darstellung (III).

I Eine Affäre ist kein Skandal. Zwar überlagert die Affäre den Skandal, aber Affäre und Skandal sind nicht identisch, zumindest nicht aus der Perspektive einer Soziologie der Kritik, wie der französische Soziologe Luc Boltanski und die Historikerin Élisabeth Claverie sie entwickelt haben.1 Der Begriff affaire ist in Frankreich mit der Affäre Calas und der Dreyfus-Affäre verknüpft, zwei Prozessen, die die Rolle des Intellektuellen entscheidend geprägt haben. „Criez, et qu’on crie“,2 hat Voltaire im April 1762 an Etienne Noël Damilaville geschrieben. Seine Worte waren ein Aufschrei der Empörung und zugleich die Aufforderung, diese Empörung weiterzutragen. Gerichtet an die kleine Gruppe der Aufklärer, zielten sie darauf ab, ein Tribunal der öffentlichen Meinung als Gegenmacht zur Justiz zu schaffen, die den hugenottischen Kaufmann Jean Calas in Toulouse zum Tode durch das Rad verurteilt hatte, und zu den antiprotestantischen Vorurteilen, die mit dazu beigetragen hatten, Calas vorzuverurteilen und des Mordes am eigenen Sohn zu beschuldigen. Über-

1 Luc Boltanski/Élisabeth Claverie, „Affaires, Scandales et Grandes Causes“, in: Luc Boltanski/ Elisabeth Claverie/Nicolas Offenstadt/Stéphane Van Damme (Hrsg.), Affaires, Scandales et Grandes Causes. De Socrate à Pinochet, Paris 2007, S. 395–453, hier: S. 422. Vgl. ferner Nicolas Offenstadt/Stéphane Van Damme, „Introduction“, in: ebd., S. 7–18, hier: S. 11. 2 Voltaire an Etienne Noël Damilaville, Brief vom 4. April 1762, in: Voltaire/Theodore Besterman (Hrsg.), Correspondance VI (octobre 1760–décembre 1762), Paris 1980, S. 858 f.  

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zeugt, dass der Fall Calas tragischer als alle Tragödien war, die er jemals geschrieben hatte,3 führte Voltaire einen dreijährigen Kampf zur Rehabilitierung von Jean Calas.4 Seine Kampagne wurde zum Vorbild für Émile Zola in der Dreyfus-Affäre.5 Boltanskis und Claveries analytische Definition trägt diesen historischen Konnotationen Rechnung, abstrahiert aber vom historischen Geschehen.6 Was zeichnet die Affäre aus? Eines ihrer zentralen Elemente ist die Verteidigung eines zu unrecht Beschuldigten, präziser noch: einer zu unrecht beschuldigten gewöhnlichen Person. Die Affäre unterscheidet sich damit deutlich vom politischen Skandal, in dem eine „moralische Verfehlung“ (Hondrich) oder „Regelverletzung“ (Neckel), zumeist von „hochgestellten Personen oder Institutionen“ begangen (oder ihnen unterstellt), im Zentrum steht. Während eine ‚moralische Verfehlung‘, deren ‚Enthüllung‘ sowie die dadurch ausgelöste allgemeine ‚Entrüstung‘/‚kollektive Empörung‘ den Skandal ausmachen,7 sind die Inversion der Rollen von Ankläger und Beschuldigtem, die Anklage des Anklägers sowie die Umkehr des Urteils über das Opfer und den Ankläger in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit die Merkmale der Affäre.8 Bleibt die Frage nach ihrer Funktion. Boltanski und Claverie sehen diese in der Subversion der öffentlichen Meinung, in der Umkehr etablierter Wahrnehmungsschemata, in der Entstehung eines neuen Publikums, mithin in Elementen sozialen Wandels. Während der Skandal zur Konsensbildung führt, insofern sich, so die Hypothese der Skandalforschung, in der allgemein geteilten Empörung über die enthüllte Normverletzung die in Wertgemeinschaften zerfallende Gesellschaft als ungeteilte erfährt,9 weist die Affäre über die Empörung des Skandals hinaus, indem sie diese kritisch reflektiert, infragestellt und abzuändern, d.h. mittels divergierender Sicht- und Teilungskriterien

3 Vgl. Peter Gay, Voltaire’s Politics. The Poet as Realist, London 1988, S. 275. 4 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Voltaire. Die Affäre Calas, Berlin 2011; Ingrid Gilcher-Holtey, „,Don Quichotte des Malheureux‘: Voltaire und die Affäre Calas“, in: dies., Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 15–38. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Daniel Mollenhauer in diesem Band. Vgl. ferner Ingrid GilcherHoltey, „Menschenrechte oder Vaterland: Émile Zola und die Dreyfus-Affäre“, in: dies., Eingreifendes Denken, S. 73–85. 6 Um die analytische Dimension des Begriffs von der alltagssprachlichen sowie von der historischen Konnotation abzuheben, wählt sie den Ausdruck forme d’affaire, der die Affäre als „Figur im politischen Repertoire“ charakterisiert. 7 Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 59 f. 8 Offenstadt/Damme, Affaires, Scandales, S. 9; Boltanski/Claverie, ebd., S. 398 und S. 422. 9 Hondrich, Enthüllung, S. 64; Sighard Neckel, „Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals“, in: Rolf Ebighaus/Sieghard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 55–82, hier: S. 57, S. 62.  

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der sozialen Welt in eine andere Richtung zu lenken versucht. Betrachtet man die Mobilisierungsstrategien, tritt ein weiterer Unterschied hervor: Im Skandal erfolgt die Mobilisierung durch Hervorhebung des Persönlichen, in der Affäre durch die Generalisierung des Einzelfalls, durch seine Überführung in eine allgemeine Angelegenheit. Bleibt die Frage: Wer handelt? Wer löst den Skandal, wer löst die Affäre aus? Die Soziologie der Kritik nennt, um die Affäre zu charakterisieren, den nicht professionellen Ankläger im öffentlichen Raum, soll heißen: eine Person, die über Autorität verfügt, ohne durch eine Institution legitimiert zu sein, einen unparteiischen Zuschauer, der als Ankläger keine materiellen Interessen verfolgt, wie exemplarisch Voltaire in der Affäre Calas. Es sind vor allem Intellektuelle, einzeln oder in Gruppen, die diese Aufgabe übernehmen. Für den politischen Skandal hingegen gilt, dass Akteure des politisch-administrativen Systems unmittelbar oder auslösend in ihm verwickelt sind,10 mächtige Interessenten oder Interessengruppen ihn anzetteln und damit materielle sowie ideelle (vor allem politische) Interessen verfolgen.11 Zunehmend fällt, so die Skandalforschung, in demokratischen Gesellschaften aber auch Presse, Funk und Fernsehen die Rolle des Skandalisierers zu, desjenigen, der Verfehlungen denunziert.12 Für Skandalisierer ebenso wie für Ankläger im öffentlichen Raum gilt, dass sie ohne das Votum der Öffentlichkeit nicht auskommen. Sie müssen die öffentliche Meinung gewinnen. Beide setzen dabei Skandalisierung als eine Waffe ein, sei es, um a) ein Ereignis oder einen Sachverhalt zu skandalisieren oder b) den Skandal zu skandalisieren. Während der Skandal auch ohne Intellektuelle auskommt, ist die Skandalisierung des Skandals das Metier des Intellektuellen in der Affäre (vgl. zu dieser Differenzierung auch das Schaubild „Skandal und Affäre“). Eine Skandalisierung des Skandals liegt häufig auch vor, wenn Kunst und Literatur zum Skandal werden. „Nicht das Durchbrechen der Regel ist der Skandal, sondern Skandal sind die Regeln, die erst noch durchbrochen werden müssen“, heißt es im Sammelband Literatur als Skandal, in dem die gesamte Moderne Kunst zu einem Regelbruch erklärt wird.13 Wenn literarische Skandale das Regelsystem selbst betreffen mit dem Ziel, die Regeln der Regeln zu verändern, kann die Regelverletzung zu einem von Künstlern vollzogenen spielerischen Einsatz werden, der darauf zielt, eine Empörung des Publikums zu evozieren, in der, aus künstlerischer Sicht, das eigentliche Skandalon liegt. Die Avantgarde – mit ihrer 10 Ebd., S. 57. 11 Hondrich, Enthüllung, S. 62. 12 Neckel, Anatomie, S. 67. 13 Volker Ladenthin, „Literatur als Skandal“, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007, S. 19–28.

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Strategie Épatez le bourgeois – baut den Skandal in die künstlerische Praxis ein. Die Erregung des Publikums wird zum festen Bestandteil künstlerischer Ausdrucksweise. Sie wird dergestalt zum Mittel, innovativen Auffassungen der Kunst zum Durchbruch zu verhelfen, sowie zur Strategie, in Interaktion mit dem Publikum zu treten. Über Empörung und Wut, mit künstlerischen Mitteln erzeugt, die idealiter zur Empörung über die Empörung führen, soll das Publikum zur Selbstreflexion, Selbst- und Gesellschaftskritik angestoßen werden. Tabelle 1: Skandal und Affäre Politischer Skandal

Affäre

Literarischer Skandal

Normverletzung Enthüllung Kollektive Empörung

Verteidigung eines zu unrecht Beschuldigten Umkehr der Rollen von Ankläger und Angeklagtem Umkehr der Urteile über Ankläger und [Justiz]Opfer in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit

spielerische Regelverletzung Entlarvung der Empörung des Publikums Veränderung der Regeln der Regeln

Merkmale

Funktion

Wiederherstellung der Norm Rehabilitierung Selbstvergewisserung der Redefinition von Gesellschaft über Leitideen grundlegende Werte

Personalisierung eines Mobilisie- Konflikts rungsstra- Skandalisierung einer tegien Person

Auslöser

Personen des politischadministrativen Systems, politische Gegner, Journalisten

Dekonstruktion von Wahrnehmungsschemata Durchsetzung neuer Auffassungen von Kunst

Generalisierung eines Einzelfalls Skandalisierung eines Skandals

Spektakularisierung einer Aktion Skandalisierung eines Skandals

nicht professionelle Ankläger im öffentlichen Raum, Intellektuelle

Künstler, Schriftsteller

Einige Skandalisierungsstrategien von Intellektuellen sollen nachfolgend am Beispiel der Spiegel-Affäre (1962), der eine weitreichende Wirkung in der Geschichte der Bundesrepublik zugeschrieben wird, aufgezeigt und analysiert werden.14 Indes, war die Spiegel-Affäre überhaupt eine Affäre?

14 Frank Bösch, „Spiegel-Affäre“, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld/Leipzig 2007, S. 58–67.

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II Hamburg, Oktober 1962: Der Spiegel, ein Apparat der Bewusstseins-Industrie,15 wird in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober 1962 zum Ziel einer Polizeiaktion.16 Mit 411 Beschäftigten ist das Nachrichtenmagazin ein Unternehmen, das größer ist als der Parteivorstand der SPD (144), der zentrale CDU-Apparat (187) oder die Vorstandsverwaltung der Gewerkschaft IG-Metall (304).17 Seine Büros erstrecken sich über 117 auf sieben Stockwerke verteilte Räume. Der Durchsuchungsbefehl gilt für alle Büros einschließlich des Spiegel-Archivs. Wonach genau gesucht werden soll, ist in ihm nicht präzisiert.18 Es wird daher umfangreich beschlagnahmt. Der Leiter der Hamburger Einsatzgruppe, Siegfried Buback, erteilt zudem die Weisung, die Druckfahnen der kommenden Spiegel-Ausgabe sicherzustellen, sodass der neue Spiegel nicht erscheinen kann.19 Die Anklage, die dem Durchsuchungsbefehl zugrunde liegt, lautet: Verdacht auf Landesverrat. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat sie erhoben, ausgelöst durch zwei Klagen des Würzburger Professors für Staats- und Völkerrecht Friedrich August Freiherr von der Heydte, der als ehemaliger Wehrmachtskommandeur eines Fallschirmjägerbataillons soeben zum Brigadegeneral der Reserve der Bundeswehr ernannt worden ist.20 Aufgrund seiner Privatklagen hat die Bundesanwaltschaft ein Gutachten beim Bundesverteidigungsministerium in Auftrag gegeben. Das Bundesjustizministerium, die in Ermittlungsfragen für die Bundesanwaltschaft zuständige Behörde, ist darüber erst mit einer Woche Verzögerung informiert worden. Das Gutachten, das verfahrensauslösenden Charakter bekommt, wenn es den Geheimnisverrat bestätigt, ist unterzeichnet worden von dem Minister, der seit 1957 die vom Spiegel am schärften kritisierte Persönlichkeit gewesen ist, Franz Josef Strauß. Das Ermittlungsverfahren führt zur Verhaftung des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein sowie zur Festnahme des Chefredakteurs Conrad Ahlers

15 Vgl. dazu Hans Magnus Enzensberger, „Bewusstseins-Industrie“, in: ders., Einzelheiten I.: Bewusstseins-Industrie, Frankfurt am Main 1964, S. 7–17. 16 Jürgen Seifert, „Die Spiegel-Affäre als Staatskrise“, in: Alfred Grosser/Jürgen Seifert (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre, Bd. 1: Die Staatsmacht und ihre Kontrolle, Olten 1966, S. 37–234, hier: S. 44 f. 17 Ebd., S. 44 f. 18 David Schoenbaum, Ein Abgrund von Landesverrat. Die Spiegel-Affäre, Berlin 2002. 19 Seifert, „Spiegel-Affäre“, S. 76. 20 Der Spiegel hatte im Juli 1962 eine einstweilige Verfügung gegen den Staatrechtslehrer erwirkt, die Verbreitung der Bemerkung zu unterlassen, der Spiegel betreibe „unter dem Mantel einer scheinbar objektiven Berichterstattung…bewussten Landesverrat“, vgl. ebd., S. 77. Im Gegenzug dazu hatte von der Heydte am 1. Oktober 1962 erstmals, gestützt auf sechs Ausgaben des Blatts, Klage bei der Bundesanwaltschaft gegen den Spiegel wegen Landesverrats erhoben. Vgl. zum Text der Klage „Chronik“, in: Grosser/Seifert, Die Spiegel-Affäre, S. 235–299, hier: S. 236.  



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in Spanien – „etwas außerhalb der Legalität“, wie der Innenminister einräumen muss.21 Bereits am Montag, dem 29. Oktober 1962, dem ersten Wochentag nach der Polizeiaktion, wird in der Presse konstatiert, dass es sich bei den Ermittlungen gegen den Spiegel um „eine schwerwiegende Affäre mit möglicherweise großen Folgen handelt.“22 Das deutsche Wort Affäre, aus affaire (avoir à faire) abgeleitet, bezeichnet, so Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1972), eine peinliche, skandalöse Angelegenheit, einen Vorfall, einen Fall oder eine Streitsache.23 Geht man mit einer analytischen Definition des Begriffs an den Fall heran, ist zu konstatieren, dass die Spiegel-Affäre in weiten Teilen keine Affäre war und besser mit dem Begriff Skandal bezeichnet wäre. Unterschiedliche Skandalisierungsstrategien lassen sich feststellen. Nur eine einzige erfüllt in Ansätzen die Merkmale der Affäre. Analytisch betrachtet, ging der Polizeiaktion gegen den Spiegel eine Kette von Medienskandalen voraus, soll heißen: von Skandalen, über die in der Presse nicht nur berichtet wurde, sondern die von der Presse, in diesem Fall dem Spiegel, lanciert wurden.24 In der Presse wurden sie – und der Spiegel hatte eine eigene Rubrik dafür – ‚Affären‘ genannt; ‚Fibag-Affäre‘, ‚Onkel Aloys-Affäre‘, ‚BarthAffäre‘. Es waren Versuche des Spiegels, den Politiker Strauß zu skandalisieren, um seinen Plan einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr zu torpedieren und seinen Anspruch auf das Kanzleramt zu delegitimieren. Mittels investigativer journalistischer Methoden recherchiert, waren die Artikel im Stil der crusade press, der Kampfpresse, geschrieben.25 Mit dem Instrumentarium der Skandalforschung lassen sich auch die ersten öffentlichen Reaktionen auf das von der Bundesanwaltschaft initiierte Ermittlungsverfahren gegen den Spiegel wegen Landesverrats greifen. Machte sich infolge der Fragen und Kritik eines Teils der Presse, sowie der journalistischen Standesvertretungen, die unmittelbar nach der Aktion einsetzten, doch vor allem Empörung gegen die sich nach und nach enthüllende Vorgehensweise der Bundesanwaltschaft und der Polizei breit. Die Empörung richtete sich gegen die „Nachtund Nebelaktion“, gegen die Beschlagnahme der im Erscheinen begriffenen Spiegel-Ausgabe, gegen die Unterbrechung des Kontakts zur Spiegel-Redaktion.

21 „Etwas außerhalb der Legalität“ Höcherl zur Festnahme von Ahlers, wieder Tumulte im Bundestag, Strauß bejaht Amtshilfe, in: Heidelberger Tageblatt vom 09.11.1962, S. 1. 22 „NATO-Stellen mit ‚Spiegel’-Affäre befasst“, in: Heidelberger Tageblatt vom 29.10.1962, S. 1–2, hier: S. 2. 23 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 1, Mannheim/Wien/Zürich 1972, S. 318. 24 Vgl. dazu Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006. 25 Vgl. dazu Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Biographie, München 2007, S. 272.

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Fand sich niemand, der den Blick auf die Beschuldigten lenkte? Als Ankläger im öffentlichen Raum und Verteidiger eines zu unrecht Beschuldigten traten allein Schriftsteller der Gruppe 47 auf. Sie setzten zu einer Skandalisierung des staatlichen Vorgehens gegen den Spiegel in einem Manifest an, das sie ad hoc in Berlin verfassten, wo sie am Wochenende der Polizeiaktion gegen den Spiegel zu ihrer Herbsttagung zusammengekommen waren. Unter dem Eindruck der Festnahme Augsteins, der als Gast der Tagungen erwartet worden war, sowie vor dem Hintergrund der Kuba-Krise, die die Spannungen zwischen Ost- und West dramatisch zugespitzt hatte, formulierten sie: Der deutsche Journalist Rudolf Augstein, Herausgeber des Spiegels, ist im Zusammenhang mit dem Verrat sogenannter militärischer Geheimnisse und unter dem Vorwurf, sie der Öffentlichkeit mitgeteilt zu haben, verhaftet worden. Ein Akt von staatlicher Willkür gegen den Spiegel begleitete diese Verhaftung. Die Unterzeichneten drücken Herrn Rudolf Augstein ihre Achtung aus und sind mit ihm solidarisch. In einer Zeit, die den Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar gemacht hat, halten sie die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht, die sie jederzeit erfüllen würden. Die Unterzeichneten bedauern es, dass die Politik des Verteidigungsministers der Bundesrepublik sie zu einem so scharfen Konflikt mit den Anschauungen der staatlichen Macht zwingt. Sie fordern diesen politisch, gesellschaftlich und persönlich diskreditierten Minister auf, jetzt endlich zurückzutreten.26

Indem sie sich mit Augstein solidarisierten und den Rücktritt von Strauß forderten, nahmen die 49 Unterzeichner – unter ihnen Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Uwe Johnson, Siegfried Unseld und Martin Walser – einen Rollentausch zwischen Angeklagtem und dem vermeintlichen Ankläger vor. Sie wiesen die Anklage des Landesverrats als Tatbestandsdefinition zurück und erklärten die „Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht“. Doch eigentlich hatten sie noch einen Schritt weitergehen und in einer „Zeit, die den Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar gemacht hat“, Landesverrat zur ‚sittlichen Pflicht‘ aller erklären wollen. Sie hatten mithin das Ziel, den Straftatbestand, der dem Ermittlungsverfahren gegen den Spiegel zugrunde lag, zu dekonstruieren und ihn zu redefinieren, d.h. zu einer humanitären, im Interesse aller Menschen liegenden Handlungsform zu deklarieren. Irgendjemand hatte das Wort „sogenannte“ einzufügen vorgeschlagen und dergestalt die Provokation (die den Straftatbestand des Aufrufs zum Landesverrat erfüllte) abgebogen. In einem Brief von Uwe Johnson an Hans Magnus Enzensberger heißt es dazu:

26 „Erklärung zur Spiegel-Affäre“, in: Reinhard Lettau (Hrsg.), Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch, Neuwied, Berlin 1967, S. 458 f.  

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So zufrieden wie Du bin ich nicht mehr mit unserer Erklärung anlässlich der Aktion gegen den Spiegel. Denn sie hat nicht funktioniert. Zu kleineren Teilen mag das gelegen haben an dem gleitenden Denken, das wir an dem Sonnabend-Abend bei mir durchgehen ließen: wir fingen an mit der Absicht der Provokation, wollten die Behörden nötigen demonstrativ zu verhaften; dann brachte aber einer das Wort „sogenannt“ vor die militärischen Geheimnisse, in der Art verpackt erscheint der Gegenstand aber stumpf und unklar. Zu noch kleineren Teilen mag das auch gelegen haben an der vielfältigen Formuliersucht der anderen Unterzeichner am anderen Morgen, die brachte nicht nur stilistische Änderungen sondern auch Vorsicht hinein, so dass die Kante, war da je eine, nicht mehr schnitt.27

Daraus folgt: Erstrebt wurde, zumindest von einigen, über eine Regelverletzung den Staat zu weiteren Verhaftungen herauszufordern, um dergestalt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu steigern und über das Ineinandergreifen von Protestaktion und staatlicher Reaktion das Bewusstsein für die Problematik des Tatbestandes Landesverrat zu schärfen.28 Das französische Manifest der 121 (1960) gegen den Algerienkrieg, das das Recht auf Gehorsamsverweigerung einforderte, mag ein Vorbild für den ersten Entwurf gewesen sein. Hatten doch Schriftsteller der Gruppe 47 sich mit den Unterzeichnern solidarisiert und das Manifest zum „Beispiel freier Meinungsäußerung“ deklariert.29 Das Vorbild könnte aber auch der Tradition der literarischen Avantgarde entlehnt gewesen sein. Gleichviel, mit der Einfügung von ‚sogenannte‘ war die Strategie der Dekonstruktion des Vorwurfs des Landesverrats durch ‚Entwendung‘ (soll heißen: Subversion und Redefinition) des Begriffs in eine Negation des Tatbestandes umgeschlagen, der der Anklage zugrunde lag. Die Mitglieder der Gruppe sahen am Ende nur die tatbestandlichen Voraussetzungen des Landesverrats nicht als gegeben an. Es war die entschärfte Erklärung der Gruppe 47 zur Spiegel-Affäre, die am Montag, dem 29. Oktober in der Frankfurter Rundschau publiziert wurde. Große Strahlkraft entfaltete sie nicht. In den beiden Heidelberger Tageszeitungen – Rhein Neckar Zeitung sowie Heidelberger Tageblatt, in denen ich die Berichterstattung über die Spiegel-Affäre verfolgte, um in einer Universitätsstadt die Aktionen, Reaktionen und Interventionen von Intellektuellen aufzuspüren, findet sich keine Erwähnung der Erklärung der Gruppe 47 zur Spiegel-Affäre, lediglich eine Bezugnahme auf eine Distanzierung von der Stellungnahme der Gruppe. „Auf keinen Fall“, so wurde im Heidelberger Tageblatt ein ‚Sprecher‘ der Gruppe zitiert,

27 Uwe Johnson an Hans Magnus Enzensberger, „Brief vom 15. November 1962“, in: Henning Marmulla/Claus Kröger (Hrsg.), „Für Zwecke der brutalen Verständigung“. Hans Magnus Enzensberger – Uwe Johnson. Der Briefwechsel, Frankfurt am Main 2009, S. 50–53, hier: S. 51. 28 Vgl. dazu Dorothee Liehr, Von der Aktion gegen den Spiegel zur Spiegel-Affäre: zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt am Main 2002. 29 Vgl. dazu „Erklärung zum Algerienkrieg“, in: Lettau, Die Gruppe 47, S. 452.

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„dürften militärische Geheimnisse preisgegeben werden“. Das Wort ‚sogenannte‘ sei in der Presse und im Rundfunk unrichtig ausgelegt worden.30 Der Chefredakteur des Berliner Tagespiegels, Wolf Jobst Siedler, warf den Unterzeichnern „Aufforderung zu Staatsgeheimnis- und Landesverrat“ vor und klagte sie an, sich „aus der moralisch-politischen Verantwortung für dieses Gemeinwesen“ heraus zu manövrieren.31 Josef Hermann Dufhues, Innenminister von NRW und geschäftsführender Vorsitzenden der CDU, warf der Gruppe vor, eine Meinungsdiktatur errichten zu wollen, und deklarierte sie als „geheime Reichsschriftumskammer“.32 Gewonnen für ihre Position hatte die Gruppe die Öffentlichkeit nicht. Ziehen wir eine weitere intellektuelle Stellungnahme heran.33 Die deutsche Sektion von Amnestie International veranstaltete, unter Leitung des Journalisten Gerd Ruge, eine Podiumsdiskussion zum Thema Landesverrat und Pressefreiheit, an der Juristen, Politologen, Militärexperten sowie der französische Journalist und Herausgeber des France Observateur, Claude Bourdet, teilnahmen.34 Bourdet, der in Frankreich acht Jahre lang einem Landesverratsverfahren ausgesetzt gewesen war, das soeben erst niedergeschlagen worden war, argumentierte offensiv. Er ging von seinem Fall aus, bestrebt, ihn zu generalisieren und daraus eine allgemeine Angelegenheit, eine Prinzipienfrage zu machen, die auch den Fall des Spiegels umfasste. Er erklärte: Es war die Zeit des Indochinakrieges 1953. Wir waren gegen den Krieg, aus allen möglichen Gründen, so wie Augstein gegen die deutsche Politik ist. Wir fühlten, das Wichtigste war, dem französischen Volk zu zeigen, dass dieser Krieg undurchführbar war. Es kam darauf an, zu zeigen, wie es um die wahre Kraft der französischen Armee bestellt war, wie die französischen Kommuniqués voll Lügen waren, wie die Lage in Indochina war und so weiter. Die Situation war ähnlich der des Spiegel.35

30 Vgl. dazu „Spiegel-Affäre immer verworrener“, in: Heidelberger Tageblatt vom 31.10.1962, S. 1 f., hier: S. 2. 31 Wolf Jobst Siedler, „Der Spiegel und die Gruppe 47“, in: Lettau, Die Gruppe 47, S. 480–482, hier: S. 482. 32 Vgl. dazu „Dufhues über den Einfluss der Gruppe 47 besorgt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21./22.01.1963, sowie den Briefwechsel Hans Werner Richters mit Dufhues sowie mit Mitgliedern der Gruppe 47 zu dessen Äußerungen, in: Sabine Cofalla (Hrsg.), Hans Werner Richter. Briefe, Berlin 1997, S. 446–448. 33 Einen Überblick über die öffentlichen Stellungnahmen geben Thomas Ellwein/Manfred Liebel/Inge Negt (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre Bd. II: Die Reaktionen der Öffentlichkeit. Texte und Dokumente zur Zeitgeschichte, Olten 1966, vgl. hier insb. die Dokumentation von 30 öffentlichen Stellungnahmen, S. 381–383. 34 Gerd Ruge, Landesverrat und Pressefreiheit. Ein Protokoll, Köln 1963. 35 Ebd., S. 46.  

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In Köln spitzte sich im Anschluss an Bourdets Stellungnahme die Debatte auf die Frage zu, die sich auch die Schriftsteller der Gruppe 47 gestellt hatten, die Frage: ob „unter gewissen Umständen aus moralischen oder politischen Gründen eine objektive Pflicht zum Landesverrat besteht?“36 Für Bourdet bestand daran kein Zweifel. Aber auch der Politologe Ossip K. Flechtheim stimmte zu. Flechtheim war, wie Bourdet, unter der Herrschaft des Nationalsozialismus Mitglied einer Widerstandsgruppe gewesen. Er argumentierte: Wenn ich nur die Wahl habe zwischen einem Vernichtungskrieg und dessen Verhinderung durch Preisgabe eines Geheimnisses an die Öffentlichkeit, dann entscheide ich mich in dieser Situation hierfür, dass dieser Krieg unter diesen Umständen nicht stattfindet.37

Bourdet brachte die Unterscheidung zwischen Veröffentlichung militärischer Pläne und Veröffentlichung eines militärischen Tatbestands in die Debatte ein. In seinem Fall, ebenso wie im Fall des Spiegels, habe es sich um letzteres gehandelt. „Wir haben das alles nur zusammengestellt“, erklärte er. Auf den Zuruf: „Sie haben also keine Geheimnisse verraten!“, antwortete er: „Das waren keine militärischen Geheimnisse. Das Ganze war vielleicht ein Geheimnis, die Teile waren kein Geheimnis.“38 Damit war die Debatte bei der Mosaik-Theorie angelangt, einer Besonderheit des deutschen Strafrechts, die besagte: „Selbst wenn alle mitgeteilten Tatsachen einzeln längst veröffentlicht sind, so kann die zusammenfassende Darstellung doch als Landesverrat verfolgt werden.“39 Die Mosaik-Theorie war im August 1951 in das deutsche Strafrecht aufgenommen worden, nachdem der Kontrollrat 1946 die Landesverratsparagraphen des Strafgesetzbuches (§99 und §100) außer Kraft gesetzt hatte. Vor dem Hintergrund des Korea-Krieges waren die Landesverratsparagraphen ohne Debatte vom deutschen Bundestag wieder in das Strafgesetzbuch eingefügt worden und zwar so wie sie 1934 formuliert worden waren.40 Aus ideellen Gründen handelnde Täter trugen bei der 1962 geltenden Rechtslage daher „ein vorher kaum kalkulierbares Risiko“, stand doch das, was als Staatsgeheimnis galt, nicht fest, sondern wurde von Fall zu Fall durch den Staat dekretiert.41 Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, vom Spiegel aufgefordert, die Problematik zu erörtern, schlug eine Differenzierung zwischen ‚Spionage‘ und ‚publizistischem Landesverrat‘ vor, die bislang, wie er kritisierte,

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Ebd., S. 51. Ebd., S. 39. Ebd., S. 53. Vgl. dazu Fritz Bauer, „Was ist Landesverrat?“, in: Der Spiegel, 1962, 45, S. 93–96, hier: S. 94. Ebd., S. 93. Ebd.

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weder in der Rechtslehre noch in der Rechtspflege behandelt worden war. Dies sollte sich im Verlauf der Spiegel-Affäre ändern, wie das dritte Beispiel zeigt. Am 1. Dezember 1962 nahmen 285 Professoren, Dozenten und Assistenten der Universität Heidelberg Stellung zur „sogenannten Spiegel-Affäre“.42 Beim „Vorgehen der Bundesbehörden“, so ihr Ausgangspunkt, seien „Regeln der parlamentarischen Demokratie und der rechtstaatlichen Grundsätze missachtet worden.“ Die Rolle des öffentlichen Anklägers nahmen sie, Regelverletzungen kritisierend, jedoch nicht ein. Sie präsentierten ihre Stellungnahme in Form einer an den Bundestagspräsidenten gerichteten Petition, die nicht in das schwebende Verfahren eingriff oder eventuelle Sanktionen forderte, sondern den Bundestag aufforderte, „alle ihm zu Gebote stehenden Mittel [zu] ergreifen, um in Zukunft zu verhindern, dass…“. Es folgte eine Liste von fünf Regelverstößen.43 Aufgefordert wurde der Bundestag von den Heidelberger Dozenten zudem, „Mängel der Gesetzgebung“ zu beheben: u.a. die Definition „der aus der nationalsozialistischen Zeit übernommenen Bestimmungen“ von Geheimnis- und Landesverrat zu präzisieren sowie darauf hinzuwirken, dass Rechtsgutachten in Fällen des Landesverrats nicht ausschließlich vom Verteidigungsministerium erstellt würden. Vorgeschlagen wurde eine vom Bundespräsidenten einzusetzende unabhängige Kommission. Betrachtet man die Petition der 285 Heidelberger Dozenten unter Rückgriff auf die eingangs entfalteten analytischen Kriterien, lässt sich sagen: Die Wissenschaftler ergriffen nicht Partei für einen zu unrecht Beschuldigten, klagten nicht den Ankläger an, handelten nicht aus einer politique de la pitié,44 Politik des Mitleids mit dem/den Angeklagten heraus, sondern um zukünftig bessere Praktiken und Gesetze zu haben. Was sie wollten, war ein Zeichen setzen. „Ich bin Zeuge gewesen“, hatte Alexander Mitscherlich, einer der Mitunterzeichner der Petition während einer Podiumsdiskussion in Heidelberg erklärt, „wohin schon einmal Nicht-Empörung akademischer Ämter geführt hat.“45 „Wir dürfen uns

42 Vgl. ebd., S. 397–399. 43 „Petition von 285 Professoren, Dozenten und Assistenten der Universität Heidelberg an Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier vom 1. Dezember 1962“, in: Ellwein/Liebel/Negt (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre, S. 397–399, hier: S. 398. Die fünf Regelverstöße betrafen: 1. Verhaftung durch unzuständige Behörden, 2. Auskünfte der Bundesregierung auf Anfragen des Bundestags, die eher der „Verdunkelung“ als der „wahrheitsgemäßen Information“ dienten, 3. die Nichtunterrichtung von zuständigen Ministern über Aktionen ihrer Untergebenen, 4. die Verlagerung politischer Verantwortung von Ministern auf Beamte, 5. die Verletzung der Unschuldsvermutung gegenüber Beschuldigten durch Inhaber von Regierungsämtern. 44 Vgl. dazu Botanski/Claverie, Affaires, Scandales, S. 428–430. 45 „Die Empörung machte sich Luft. Turbulente Podiumsdiskussion über ‚Kontrolle der Macht‘ in der Universität Heidelberg“, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 28. 11.1962, S. 7.

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nicht nur fragen, wogegen wir uns empören“, hatte Dolf Sternberger repliziert, „sondern auch, was wir wollen.“ Denn, so seine Maxime, „Wir sind der Staat“.46 Was die Heidelberger Wissenschaftler wollten, machte nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form ihrer Stellungnahme klar. Die Petition bündelte und kanalisierte die Empörung, die sich zuvor in der Stadt auf einer Demonstration am 7. November sowie anlässlich einer Podiumsdiskussion am 27. November artikuliert hatte, zu der auch Freiherr von der Heydte eingeladen, aber nicht erschienen war. Bei beiden Veranstaltungen ernteten die Kritiker der Polizeiaktion gegen den Spiegel nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerspruch. Transparenten mit Parolen wie „Die Lage war noch nie so ernst“ wurden Transparente mit „Keine Panikmache“ entgegengehalten und auf Flugblättern davor gewarnt, „mittels Diffamierung der führenden Persönlichkeiten unseres Staates, dessen innere Ordnung entscheidend zu schwächen.“47 Die Empörung war in Heidelberg mithin keineswegs eine ungeteilte. Als einen Tag nach der Podiumsdiskussion das Amerikahaus zu einem Vortrag über „Unsere Pressefreiheit“ einlud, blieb das Echo aus. Auf die Frage, warum der Vortrag nicht zu aktuellen Fragen zur Spiegel-Affäre anleite, bekam der Reporter zur Antwort, man habe das Thema in Heidelberg „totdiskutiert“.48 In Konstanz saß zu diesem Zeitpunkt Rudolf Augstein weiterhin in Haft. Noch 72 Tage Einzelhaft standen ihm bevor. In der Universitätsstadt Heidelberg war das Thema indes ‚durch‘. Die Petition der 285 Wissenschaftler trug, so gesehen, die Empörung, die lokal zu erlöschen drohte, weiter und vermittelte sie in das politische Institutionensystem. Mit 285 Unterzeichnern lag Heidelberg in der Bündelung von Einzelstimmen (von Akademikern) vor den Universitäten Göttingen (63), Tübingen (54) und Köln (29). Die Petition wurde am 4. Dezember in beiden Heidelberger Tageszeitungen veröffentlicht – eine Debatte oder ein Kommentar durch die jeweiligen Redaktionen erfolgten nicht.

46 Ebd. Vgl. ferner „Was ist publizistischer Landesverrat? Zustimmung und Widerspruch bei einer Podiumsdiskussion über die ‚Kontrolle der Macht‘ im überfüllten Hörsaal 13“, in: Heidelberger Tageblatt vom 28. 11.1962, S. 9. 47 Vgl. dazu die Fotos in: Heidelberger Tageblatt vom 07.11.1962, S. 11, sowie (Bericht und Bilder) „Studentische Kundgebung. Meinungen in Sachen ‚Spiegel‘ – Professor Duden sprach“, in: RheinNeckar-Zeitung vom 07.11.1962, S. 5. 48 „,Unsere Pressefreiheit‘. Vortrag fast ohne Diskussion“, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 29.11.1962, S. 4.

Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit

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III Der Spiegel-Affäre, die, folgt man den analytischen Kriterien einer Soziologie der Kritik, keine Affäre war, sondern eher als Skandal zu charakterisieren ist, wurden bislang vorwiegend emanzipatorische Folgen zugeschrieben.49 Dies gilt es, orientiert an den Hypothesen der Skandalforschung, die sich vor allem für die Funktion von Skandalen interessiert, zu überprüfen. Dazu abschließend drei Überlegungen. Erstens: Lässt man sich von der Hypothese der Skandalforschung leiten, dass die in Wertgemeinschaften zerfallende Gesellschaft sich infolge des Skandals als ungeteilte erfährt, wäre der durch den Skandal vorübergehend erzielte Grundkonsens, die Selbstvergewisserung der Gesellschaft über grundlegende Werte zu spezifizieren. Um welche Selbstvergewisserung handelte es sich? Um einen Konsens über das Grundrecht auf Pressefreiheit im Konflikt mit Landesverrat? Wurde Landesverrat neu definiert? Während des Skandals war die öffentliche Meinung in Kritiker und Verteidiger der Polizeiaktion gegen den Spiegel wegen Landesverrats geteilt. Zwar wurde die Spiegel-Affäre mehrheitlich als ein Ärgernis wahrgenommen, aber worin dieses bestand, wurde nicht einheitlich benannt. Nicht alle, die die Aufregung für berechtigt hielten, nahmen, wie eine Untersuchung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ergab, Anstoß an den widerrechtlichen Maßnahmen der Polizeibehörden. „Nicht das Vorgehen gegen das Nachrichtenmagazin, sondern vielmehr der etwaige Verrat militärischer Geheimnisse war einigen Anlass zu Besorgnis.“50 Fast die Hälfte der Befragten stimmte der Meinung zu, dass bei Verdacht auf Landesverrat die Behörden es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht so genau nehmen mussten. Nur ein gutes Viertel wies eine solche Ansicht mit Bestimmtheit zurück.51 Das Institut für Demoskopie Allensbach kam zu ähnlichen Ergebnissen.52 Aufgefordert, den Begriff Landesverrat zu definieren, erklärten fünf Prozent, dies sei Kritik an bestehenden Gesetzen, 23 Prozent meinten, es handele sich bei Landesverrat um Widerstand gegen das Dritte Reich, 43 Prozent verstanden darunter Veröffentlichung militärischer Informationen und 83 Prozent die Weitergabe militärischer Geheimnisse für

49 Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 383 f; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit, Göttingen 2006, S. 331; Thomas Ramge, Die großen PolitSkandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2003, S. 85. 50 Regina Schmidt/Egon Becker, „Spiegel-Affäre“, in: dies., Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1967, S. 25–66, hier: S. 32. 51 Ebd. 52 Ebd.

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Geld.53 Eine Veränderung der Landesverratsparagraphen nahm erst die Große Koalition im 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 vor. Es schloss die Mosaik-Theorie aus und führte die Unterscheidung zwischen ‚Spionage‘ und ‚publizistischem Landesverrat‘ ein. Zweitens: Die Funktion des politischen Skandals geht, so eine andere Hypothese, über die politische Sphäre hinaus. Sie reicht weiter und tiefer. Tiefer will sagen: Er berührt nicht nur die jeweiligen Spielregeln oder die Moral des politischen, wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Lebens, sondern auch die Werte und Regeln, die all diesen Sphären gleichermaßen unterliegen und die Einheit einer Gesellschaft und Kultur ausmachen.54

Nimmt man die Skandalisierer Augstein und Ahlers sowie die Schriftsteller der Gruppe 47 in den Blick, die jeweils aufgrund ihrer Skandalisierungsstrategien zu Skandalisierten wurden, zeigt sich, dass sie binnen kurzer Zeit die Position des Konflikts, in die sie als führende Repräsentanten des politischen Systems geraten waren, zu verlassen und zu korrigieren suchten, um sich (und ihr Unternehmen, ihre Gruppe) in die Gesellschaft zu reintegrieren. Nonkonformismus legten sie, einmal selbst in die Kritik geraten, nicht an den Tag. So bemühten sich sowohl Ahlers als auch Augstein um Kontakt zu Konrad Adenauer, der beide während des schwebenden Verfahrens als Landesverräter bezeichnet hatte und sie bis zum Abschluss des Spiegel-Prozesses vor dem Bundesgerichtshof nicht empfing. Ahlers kündigte bei der ersten Begegnung mit Adenauer einen Kurswechsel des Spiegels an, erklärte mit dem Herausgeber einig zu sein, in Zukunft den Spiegel „zu einer Time“ zu entwickeln und „bestimmte Formen des politischen Kampfes auszuschließen“. Adenauer bedankte sich mit einer Widmung in seinem Memoirenband bei Ahlers und der Erklärung: „Damit ist Ihre Spanienreise beendet.“55 Augstein beschrieb 2002 seinen letzten Besuch bei Adenauer 1966 mit den Worten: „Er war der größte Politiker, dem ich je begegnet bin. Wir haben uns umarmt und versöhnt. Ich war sehr bewegt, sentimental sogar, aber er auch.“56 Diese Szenen beschreiben Praktiken des Obrigkeitsstaates und des obrigkeitsstaatlichen Denkens sowie eine Befangenheit in patriarchalischen Strukturen, mit anderen Worten, alles andere als den „Epilog auf den Obrigkeitsstaat“, wie ihn Theo Sommer konstatierte.57

53 54 55 56 57

Schoenbaum, Abgrund von Landesverrat, S. 181. Hondrich, Enthüllung, S. 18. Zit. nach Schoenbaum, Abgrund von Landesverrat, S. 235. Zit. nach Merseburger, Augstein, S. 231. Zit. nach ebd. S. 267.

Skandalisierung des Skandals: Intellektuelle und Öffentlichkeit

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Das gleiche gilt für Hans Werner Richter, den ‚Chef‘ der Gruppe 47. Er lud Dufhues zur disputatio über seinen Vergleich der Gruppe 47 mit der „Reichsschrifttumskammer“ ein, für Uwe Johnson eine Handreichung, die er als einen neuen Skandal ansah.58 Erst als Dufhues ein Gespräch ablehnte, solange die Gruppe sich nicht von ihrer Erklärung zur Spiegel-Affäre distanzierte, strengte Richter eine Klage gegen Dufhues an, der sich Johnson, Enzensberger, Grass und Andersch als Mitkläger anschlossen, doch zog Richter diese Klage alsbald zurück.59 Dufhues’ Diktum blieb bestehen. Mit anderen Worten, die Skandalisierer knickten ein, suchten den Konsens mit den politischen Machthabern, nicht den Konsens in der Öffentlichkeit für ihre Kritik an diesen. Am Ende obsiegte der Staatsgeist. Der Berliner Kabarettist Wolfgang Neuss, der die Erklärung der Gruppe mitgetragen und in seinem Kabarett verlesen hatte, kommentierte: Ich finde mich nicht mehr durch. Wer hat hier noch ne Richtung Ist die Gruppe 47 noch ganz dicht. Ist Dufhues denn schon Dichtung? Ist unser Volk der Reimerchen Seit Gottfried Benn im Eimerchen Ich finde mich nicht mehr …60

Neuss’ Kritik kam wie zuvor schon Johnsons’ kritische Worte in seinem Brief an Enzensberger einer Skandalisierung der Skandalisierer gleich. Johnson verarbeitete die Geschehnisse im Rahmen seiner Gastdozentur für Poetik in Frankfurt 1979.61 Drittens: Aus Skandalen lernen Gesellschaften, so eine weitere Hypothese, welche Werte oder übergeordneten Leitideen des Handelns ihnen wichtig sind. Skandale beschleunigen Normwandel. Es gab Podiumsdiskussionen und Protestkundgebungen,62 Sitzstreiks63 und Tumulte in Hörsälen. Wurden dadurch direktdemokratische Praktiken eingeübt, wie sie die 68er-Bewegung später propagier-

58 Bernd Neumann, Uwe Johnson, Hamburg 1994, S. 488. 59 Vgl. „Dufhues vs. Gruppe 47 vs. Dufhues“, in: Lettau, Die Gruppe 47, S. 503–505. 60 Zit. nach Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1980, S. 286. 61 Ebd., S. 283–287. 62 Liebel weist im Zeitraum vom 1. November bis 18. Dezember 1962 15 Podiumsdiskussionen in 13 Universitätsstädten nach. Vgl. Liebel, Spiegel-Affäre, S. 172–174. 63 „Wer sich heute nicht setzt, kann morgen schon sitzen“ skandierten 150 Frankfurter Studierende vor der Hauptwache am 30. Oktober 1962. Vgl. ebd., S. 155.

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te? Die 68er-Proteste unterschieden sich, so meine These, von den 62er-Protesten. Waren sie doch nicht länger staatszentriert. 1962 richteten Studenten der Universität Heidelberg noch ein Telegramm an Bundeskanzler Adenauer mit den Worten: Verehrter Herr Bundeskanzler, Angesichts der nun schon elf Tage andauernden Vorgänge um das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘, angesichts der Flut von undurchsichtigen Darstellungen, Gegendarstellungen und Dementis der Gegendarstellungen durch staatliche Organe halten wir es für dringend erforderlich, dass Sie sich mit der ganzen Würde Ihres Amtes für eine Wiederherstellung des schwer diskreditierten Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtstaatlichkeit der Bundesrepublik einsetzen. Wir bitten Sie, an die katastrophalen Auswirkungen zu denken, die es auf die öffentliche Meinung im In- und Ausland haben muss, wenn einem Minister gestattet wird, die Bevölkerung nahezu eine Woche lang über die wahren Umstände der Mitwirkung seines Ministeriums bei der Spiegel-Affäre zu täuschen.64

1968 hatte sich nicht nur der Ton, sondern auch die Strategie geändert. Die Petition und der Bittbrief an den Kanzler waren out, die Strategie der begrenzten Regelverletzung, von den Schriftstellern der Gruppe 47 begonnen, aber nicht konsequent durchgeführt, war in. Peter Schneider brachte es am 5. Mai 1967 auf den Punkt: Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik zitieren können, ohne dass die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur den Rasen betreten müssen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir etwas an den Notstandsgesetzen ändern können, dass wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können.65

Die Neue Linke appellierte nicht an die Staatsmacht, um eine Veränderung des nicht hinnehmbaren Zustandes herbeizuführen, sondern setzte auf Bewegung von unten sowie von den Rändern der Gesellschaft, auf participatory democracy, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung sowie direkte provokative Aktionen. Ein neuer Typus des Intellektuellen wurde erprobt: ein Intellektueller, der sich nicht über Wertsetzung und Dramatisierung von Leitideen definierte, sondern in seinen und durch seine Aktionen, und das hieß z.B. für Enzensberger, der aus dem

64 „Brief des Forum Academicum, Heidelberger Studentenzeitschrift vom 6. November 1962“, in: Heidelberger Tageblatt vom 07.11.1962, S. 11. 65 Zit. nach Peter Schneider, Wirklichkeit und Wahn. Mein ’68, Köln 2008, S. 135 f.  

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Scheitern der Erklärung der Schriftsteller der Gruppe 47 vielleicht die nachhaltigsten Konsequenzen zog: durch „Störungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, ‚Störung des autoritären Betriebs und Bildung von Gegeninstitutionen‘“.66

66 Hans Magnus Enzensberger, „Berliner Gemeinplätze II“, in: ders. (Hrsg.), Kursbuch 13, 1968, S. 196 f.  

Sabine Ruß-Sattar, Kassel

Skandale als Symptome und Katalysatoren politisch-kulturellen Wandels: Das Beispiel Frankreich I „Girlanden des Politischen“? – Skandale als Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft Skandale sind Bestandteil des politischen Lebens – nicht erst unter den zeitgenössischen Bedingungen der ‚Mediendemokratie‘, doch hier und heute in besonders ausgeprägter Weise: […] the significance of scandal is rooted in the characteristics of a world where visibility has been transformed by the media and where power and reputation go hand in hand. Scandal matters because, in our modern mediated world, it touches on real sources of power.1

Zum Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft wurde das Phänomen Skandal allerdings erst vergleichsweise spät und gegen gewisse Widerstände. Anders als für die Geschichtswissenschaft schien der Skandal als stark kontextgebundenes Geschehen einem an Strukturen und allgemeinen kausalen Zusammenhängen interessierten politikwissenschaftlichen mainstream kein lohnenswertes Forschungsterrain zu bieten. Dieser skeptischen Sicht zufolge stellten Skandale lediglich „Girlanden des Politischen“ dar.2 In einem Referenzwerk der sozialwissenschaftlichen Skandalforschung aus dem Jahre 1989 heißt es dazu: Von Politikwissenschaftlern, die sich dem gewichtigen Studium ‚wirklicher‘ Konflikte – etwa von Kriegen, Revolutionen, Wahlen oder Klassenkämpfen – widmen, wird das Thema ‚Skandal‘ schlicht für zu leicht befunden. […] Zudem haben Skandale etwas Eklektizistisches, zwar allgegenwärtig, sind sie doch je verschieden und einzigartig […], sie treten in so vielen Formen und Verkleidungen auf, dass sie sich einer klaren Kategorisierung entziehen. Damit bedrohen sie das wissenschaftliche Desiderat der Sparsamkeit von Erklärungen:

1 John B. Thompson, Political scandal. Power and visibility in the media age, Cambridge 2000, S. xi. 2 Sighard Neckel, „Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals“, in: Rolf Ebbinghausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 55–82, hier: S. 56.

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Skandale sind ein zu weicher und zu wenig klar umrissener Gegenstand, um zu systematischer wissenschaftlicher Untersuchung zu taugen.3

Mit dem sogenannten cultural turn auch in der Politikwissenschaft hat sich die Scheu vor sogenannten ‚weichen‘ Untersuchungsobjekten freilich inzwischen verloren. Die Ebene der Wahrnehmungen, Deutungen und kollektiven Bilder der Politik ist in den Untersuchungsfokus der Disziplin gerückt und diese bedient sich infolgedessen nun auch wieder verstärkt verstehender und interpretativer Methoden.4 Skandale bieten Einblick in die kulturelle Dimension der Politik, insofern „es sich bei ‚Politik‘ im allgemeinen, politischen Skandalen im besonderen auch darum handelt, politische Menschen-, Gesellschafts- und Weltbilder zu erzeugen, zu stabilisieren und zu verändern“.5 So eröffnet laut Dirk Käsler der Skandal einen Blick auf die normativen Muster einer Gesellschaft, denn Skandale seien Konflikte über die Verteilung, Ausübung, Legitimität und Kontrolle von politischer Herrschaft […]. Da es bei und durch politische Skandale um den Geltungsanspruch von Normen geht, die durch den Skandal als verletzt definiert werden, verweist die sozialwissenschaftliche Analyse von politischen Skandalen auf die Untersuchung von gesamt- und teilgesellschaftlich relevanten Normensystemen.6

Etwas zu eng gefasst scheint dem gegenüber die Auffassung der beiden Soziologen Andrej S. Markovits und Mark Silverstein, für die das Spezifikum des politischen Skandals im Streit um den Geltungsanspruch von Verfahrensregeln gründet. Diese beiden Autoren vertreten die These, genuin politische Skandale träten nur in liberalen Demokratien auf und manifestierten deren innere Widersprüche zwischen einer auf Exklusivität zielenden Logik der Macht und einer auf Inklusivität und Transparenz zielenden Logik des angemessenen Verfahrens.7 In politischen Skandalen geht es in der Tat um Machtbegrenzung und Machtmissbrauch

3 Andrej S. Markovits/Mark Silverstein, „Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratie“, in: Ebbinghausen/Neckel (Hrsg.), Anatomie, S. 151–171, hier: S. 152. 4 Vgl. Birgit Schwelling, „Der kulturelle Blick auf politische Phänomene. Theorien, Methoden, Problemstellungen“, in: dies. (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 11–28. 5 Dirk Käsler u.a., Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991, S. 28. 6 Ders., „Der Skandal als ‚politisches Theater‘. Zur schaupolitischen Funktionalität politischer Skandale“, in: Ebbinghaus/Nickel, Anatomie, S. 307–333, hier: S. 308. 7 Andrej S. Markovits/Mark Silverstein, „Macht und Verfahren“, S. 162.

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oder den Konflikt zwischen Individualrechten und Staatsräson, aber zugleich auch viel allgemeiner und grundsätzlicher darum, wie und durch wen Herrschaft ausgeübt werden soll. Zum ‚Wie‘ gehören auch Rollenerwartungen, die jeweils an öffentliche Funktionsträger gestellt werden, sowie kollektive Selbstbilder und soziale Gruppenidentitäten und somit im weiteren Sinne politisch-kulturelle Fragen. Mit Hilfe der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung wird auf der Schaubühne der Macht ausgefochten, welche Spielregeln für die Herrschenden und die Ausübung von Herrschaft zu gelten haben, wie die politische Rang- und Kleiderordnung auszusehen hat, wer also herrscht bzw. herrschen darf und auf welche Weise. Kennzeichnend für den Ablauf dieser besonderen Form eines gesellschaftlichen Konflikts ist das Vorliegen einer Akteurs-Trias aus Skandalierten, Skandalierern und Publikum. ‚Politisch‘ wird dieser soziale Prozess laut Nathan Yanai durch drei Größen: durch die Identität der in ihm auftretenden Akteure, die Natur des skandalisierten Verhaltens bzw. der skandalierten Regelverletzung und die Notwendigkeit, zur Sanktionierung des skandalierten Verhaltens die öffentliche Meinung zu mobilisieren, da die normalen Verfahrensroutinen nicht zur Verfügung stehen, weil sie durch interessierte Akteure blockiert sind.8 Politisch wird ein Skandal meines Erachtens zudem dadurch, dass die Dynamik des Prozesses aus der Konkurrenz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bzw. Teileliten erzeugt wird. Die ‚Skandalisierer‘ gerieren sich dabei als „moralische Unternehmer“.9 Deren Engagement zielt nicht unbedingt darauf ab, neue Spielregeln zu setzen – „in fact, it often revolves around legal or social norms that are already established (codified or discursively upheld) but underenforced.“10 Skandale sind vielschichtige dynamische Ereignisse, die auf verschiedenen Funktionsebenen entsprechend gelesen werden müssen. So unterscheiden etwa Frank Esser und Uwe Hartung zwischen der manifesten Funktion des politischen Skandals, der in der Auseinandersetzung um soziale Normen und in der sozialen

8 Vgl. Alain Garrigou, „Le scandale politique comme mobilisation“, in: François Chazel (Hrsg.), Action collective et mouvements sociaux, Paris 1993; Nathan Yanai, „The Political Affair: A Framework for Comparative Discussion“, in: Comparative Politics, 22/1990, 2, S. 185–197. 9 Die Figur des „moralischen Unternehmers“ entstammt der Theorie kollektiven Handels und fand vor allem in der Bewegungsforschung Verwendung sowie in der Forschung zu öffentlicher Agenda und sozialen Problemen (vgl. Bernd Giesen, „Moralische Unternehmer und öffentliche Diskussion. Überlegungen zur Thematisierung sozialer Probleme“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 35/1983, S. 230–267). In Übereinstimmung mit Alain Garrigou (Fußnote 8) sehe ich hier eine Parallele zu Skandalisierungsprozessen, bei denen ebenfalls die Mobilisierung der Öffentlichkeit zentral ist. 10 Arid Adut, On Scandal. Moral Disturbances in Society, Politics and Art, Cambridge 2008, S. 130.

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Kontrolle besteht, und der latenten Funktion, nämlich der Austragung von Konflikten um Macht, Geld und gesellschaftliches Ansehen.11 Letztlich geht es beim politischen Skandal damit um die (Re)Konfiguration politisch-gesellschaftlicher Macht zwischen Gruppen und ihre Legitimierung und somit um eine zentrale politikwissenschaftliche Problematik. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags gilt in erster Linie der politics-Ebene des Skandals und somit der Frage, welche Akteure bzw. sozialen Gruppen über den Skandal ihre Position im Herrschaftssystem verteidigen oder neu definieren und damit die Strukturen bzw. die polity-Ebene verändern. Im Folgenden soll indes zunächst hinter der anekdotisch-zufälligen EreignisEbene des Phänomens Skandal zunächst seine strukturelle Bedingtheit aufgezeigt und die Rahmenbedingungen in Erinnerung gerufen werden, die in der jüngeren Gegenwart Skandalisierungsprozesse bestimmen. Anschließend werde ich am Beispiel der französischen Politikfinanzierungsskandale der letzten beiden Jahrzehnte herausarbeiten, wie bzw. inwiefern Skandale als von Akteuren getragene Konflikte diese Strukturen wiederum selbst zu verschieben vermögen. Der betrachtete Zeitraum beginnt mit der Wende zu den 1990er Jahren und endet 2011, wobei der Fokus auf dem Jahrzehnt mit der höchsten Skandaldynamik12 und somit den 1990er Jahren liegt. Mit Hilfe der Analyse von Skandalen lassen sich, so die untersuchungsleitende Annahme, Prozesse des Wandels identifizieren, die in der ‚lebenden Verfassung‘ eines politischen Systems ablaufen und die informelle Verhaltensmuster, ungeschriebene Spielregeln und faktische Machtverhältnisse verändern (können). Nimmt man kein einzelnes Skandal-Ereignis in den Blick, sondern ‚Skandal-Cluster‘ – also in gedrängter Zeitfolge auftretende Gruppen von Skandalen – treten hinter den vermeintlichen „Girlanden des Politischen“ (Sighard Neckel) strukturelle Spannungen und Verschiebungen im politischen System zutage.

II Politische Skandale als Wachstumsbranche in westlichen Demokratien Bevor die jüngeren Skandal-Cluster Frankreichs beleuchtet werden, ist es unerlässlich auf einige Rahmenbedingungen hinzuweisen, die in sämtlichen west-

11 Frank Esser/Uwe Hartung, „Nazis, Pollution, and no Sex: Political Scandals as a Reflection of Political Culture in Germany“, in: American Behavioral Scientist, 47/2004, S. 1040–1071, S. 1046. 12 Die Skandaldynamik ist sinnvoll messbar über Frequenz und Umfang der Berichterstattung.

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lichen Demokratien einen konvergenten Wandlungsprozess in Richtung einer erhöhten Skandalisierungstendenz bzw. -frequenz bewirken. Wie allerdings im nächsten Schritt gezeigt wird, waren diese strukturellen Faktoren im Frankreich des ausgehenden 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägt.

FAKTOR I Anstieg der Legitimationsempfindlichkeit der Politik13 Wegen der seit Ende der 1970er Jahre wachsenden Steuerungsprobleme der Politik sinkt die Möglichkeit einer Output-basierten Herrschaftslegitimation, zugleich findet sich infolge der erodierenden klassischen Institutionen massendemokratischer Politik, wie Wahlteilnahme oder Parteimitgliedschaft, auf der InputSeite auch die Legitimationszufuhr erschwert. Aufgrund des steigenden Bildungsniveaus der Bevölkerung und der „schweigenden Revolution“ (Ronald Inglehart) des Wertewandels wächst die Zahl der elitenkritischen Bürger und somit ein potentiell interessiertes Skandal-Publikum.

FAKTOR II Veränderung des Mediensystems und Ausweitung des „Skandalierungsmarktes“ Veränderungen im Mediensystem und in der politischen Kommunikation führen zu einer Personalisierung von Politik, die wiederum die für Skandale typische Dramatisierung begünstigt und das persönliche Verhalten von öffentlichen Amtsträgern verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Die steigende Konkurrenz im Mediensystem führt zu einer Ausdehnung des „Empörungs-“ bzw. „Skandalierungsmarktes“.14

FAKTOR III Zunahme von Informationsmöglichkeiten („Enthüllung“)15 Die durch neue Medien gestiegenen Informationsmöglichkeiten vermehren die Chance zur Enthüllung von Sachverhalten, die skandalisiert werden können.

13 Vgl. Rolf Ebbinghausen, „Skandal und Krise. Zur gewachsenen ‚Legitimationsempfindlichkeit‘ staatlicher Politik“, in: Ebbighausen/Neckel, Anatomie, S. 171–200. 14 Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 62. 15 Ders., Phänomenologie, S. 61.

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FAKTOR IV Erweiterter Konflikthaushalt und Legalisierung = mehr ‚Skandal-Stoff‘ Last but not least ist auch der politische Konflikthaushalt der westlichen Gesellschaften komplexer geworden: Er hat sich beispielsweise seit den späten 1960er Jahren um Fragen der Identität aber auch der Ökologie erweitert, und an der Grenzziehung zwischen Wirtschaft und Politik sowie Religion und Politik entzünden sich wieder verstärkt Konflikte. All das kann natürlich nicht nur im Modus des gesellschaftlichen Skandals bearbeitet werden, vermehrt aber jedenfalls das potentielle Repertoire an Grenzüberschreitungen. Auch die zunehmende Normierung von sozialen Sachverhalten verbreitert laut Karl Otto Hondrich diese skandalisierungsfähigen Normenbereiche, denn sie führt zu einer verstärkten Tendenz zur „Verhüllung“ im Sinne einer Herausbildung voneinander abgeschotteter sozialer Kreise mit ihren eigenen, von der Offizialnorm abweichenden Spielregeln.16 Véronique Pujas analysiert vor diesem Hintergrund die Welle politischer Skandale, die Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre in westeuropäischen Demokratien ansteigt.17 Zusätzlich zu den genannten erklärenden Faktoren nennt sie die infolge von Globalisierung und Privatisierungspolitik erweiterten Gelegenheiten zu Korruption und Regelbruch sowie den erhöhten Wettbewerbsdruck in den Parteiensystemen, der aus der Neukonfiguration der Parteiensysteme nach Wegfall des Kalten Krieges und dem Auftauchen neuer politischer Herausforderer wie der grünen und rechtspopulistischen Parteien resultiert. Neben der konstatierten Konvergenz bezüglich der günstigen Skandal-Gelegenheitsstruktur fallen jedoch nach wie vor Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern sowie auch in ein- und demselben Land zu verschiedenen Zeitpunkten ins Auge. Diese Unterschiede betreffen zum einen die thematischen Auslöser der Skandale – den ‚Skandalhaushalt‘ – und zum anderen die Akteure des Skandals. Skandalträchtig sind schließlich nicht bestimmte Sachverhalte an sich. Bekanntlich führt bei weitem nicht alles, was Tag für Tag von Einzelnen oder einzelnen Gruppen als Regelverstoß behauptet und zum Skandal ausgerufen wird, auch zu einem öffentlichen Skandal. Im Gegenteil, viele der Versuche finden keine Resonanz im Publikum und scheitern bei der Mobilisierung der Öffentlichkeit – also der conditio sine qua non für die Existenz eines Skandals im hier gemeinten Sinne.18 Die synchronen und diachronen Unterschiede in den

16 Ebd. 17 Véronique Pujas, „Understanding the Wave of Scandal in Contemporary Western Europe“, in: John Garrard/James L. Newell (Hrsg.), Scandals in Past and Contemporary Politics, Manchester 2006, S. 30–46. 18 Vgl. Garrigou, „Le scandale politique comme mobilisation“.

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gesellschaftlichen Skandalhaushalten verweisen also auf Unterschiede bzw. Wandel im breiteren politisch-kulturellen Kontext. So konstatierte etwa John Frears Ende der 1980er Jahre mit Blick auf Großbritannien und Frankreich, dass in Großbritannien oft das persönliche und insbesondere das sexuelle Verhalten von Politikern erfolgreich skandalisiert wird, während in Frankreich aufgrund des extrem hierarchischen und machtkonzentrierenden Regierungssystems der Machtmissbrauch das Bild bestimmt.19 Auch Stephen E. Bornstein macht mit Blick auf den gleichen Zeitraum diese Beobachtung und erklärt dies – in Anschluss an Überlegungen von Alfred Grosser – aus der politischen Kultur des Landes, deren Wurzeln im Katholizismus liegen. Daraus, so die These, ergebe sich sowohl eine klare Trennung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen als auch ein spezifisches Misstrauen gegenüber Geld und Macht. Während in der Bevölkerung Zynismus der Politik und den Politikern gegenüber herrschten, genössen jedoch Staat und Staatsräson hohes Ansehen bzw. Gewicht, und Affären wie die um die Versenkung des Greenpeace-Schiffs Rainbow Warrior lösten bei weitem nicht die Erschütterung aus, die sie vermutlich im angelsächsischen Raum hätten. Als angelsächsischer Beobachter konnte Stephen E. Bornstein im Jahr 1990 über die in Frankreich fehlenden Konsequenzen solcher Skandale nur staunen.20 Dieser letzte Punkt verweist auf eine zweite Kategorie von Unterschieden bezüglich politischer Skandale, nämlich auf die der potentiellen Skandalierer und ihre Machtressourcen bzw. ihr Sanktionspotential. Letzteres ist abhängig sowohl von institutionellen Gelegenheitsstrukturen als auch von konjunkturellen Faktoren (Aufmerksamkeit des Publikums). Die konkrete Machtkonstellation innerhalb der Skandal-Trias von Skandalierten, Skandalierern und Publikum gilt es in der nun folgenden Fallanalyse im Blick zu behalten und zu fragen, ob sich bezüglich des Befunds zur politischen Kultur, wie ihn Beobachter früherer Epochen der französischen Politik formuliert haben, inzwischen etwas verändert hat.

19 John Frears, „Not Sex, the Abuse of Power. Political Scandal in France“, in: Corruption and Reform, 3/1988, S. 307–322. Dass der prominente französische Sozialist Dominique Strauss-Kahn infolge der Anklage wegen sexueller Nötigung eines Zimmermädchens in New York als Direktor des IMF zurücktreten und auch auf seine – erfolgversprechende – Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2012 verzichten musste, widerspricht dem Bild nur bedingt. Immerhin ging es hier um den Verdacht eines strafrechtlichen Tatbestandes und nicht um eine Frage der moralischen Bewertung eines sexuellen Verhaltens. Außerdem nahm die Affäre zunächst im angelsächsischen Kulturraum ihren Lauf und erzeugte in Frankreich zu Beginn verharmlosende Stellungnahmen, was Feministinnen über Demonstrationen usw. zu skandalisieren versuchten. 20 Stephen E. Bornstein, „The politics of scandal“, in: Peter A. Hall u.a. (Hrsg.), Developments in French Politics, Basingstoke 1990, S. 269–281.

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III Les affaires politico-financières in Frankreich: Symptom und Katalysatoren politischkulturellen Wandels Die im die im zweiten Abschnitt genannten strukturellen Determinanten eines für Skandale günstigen Umfelds sind in Frankreich stark ausgeprägt: Die Legitimationsempfindlichkeit der französischen Politik war enorm gewachsen, nachdem ein deutlicher Politikwechsel in der Fünften Republik zwischen den beiden ideologisch weit auseinander liegenden Lagern im Jahr 1981 ausgeblieben war. Gerade in Frankreich und seinem in der politischen Kultur verankerten Glauben an eine voluntaristische, vom Staat gesteuerte Politik war die Enttäuschung der Bürger über die offenbaren Steuerungsprobleme der Regierung – etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit – besonders hoch. Augenfälliges Symptom dieser Legitimationskrise war der Aufstieg der rechtspopulistischen Partei Front national. Zudem fällt in der Tat auch in Frankreich die oben genannte Erweiterung des skandalisierungsfähigen Themenrepertoires auf, wobei das Feld der Vergangenheits- und Erinnerungspolitik samt der Frage der kollektiven Identität ins Auge springt, das im vorliegenden Band von Dietmar Hüser am Beispiel des Algerienkrieges behandelt und hier bei der vorliegenden Betrachtung der Skandal-Cluster dieser Jahre ausgeklammert wird. Im Mittelpunkt steht hier vielmehr die von der Frequenz der Ereignisse prominenteste Skandalfamilie, und zwar die sogenannten affaires politico-financières, also die verschiedenen Parteienfinanzierungsund Korruptionsskandale mit ihrem Höhepunkt in den 1990er Jahren.21 Die verdeckten Finanzierungsmuster der politischen Parteien wie die Abzweigung von Geldern für Parteien aus öffentlichen Aufträgen über sogenannte Planungsbüros oder Schmiergelder bei großen Exportaufträgen waren in ihren Grundzügen bereits in den 1980er Jahren in der satirischen Wochenzeitung Le Canard Enchaîné nachzulesen.22 Es ist bemerkenswert, dass hier tatsächlich die in Frankreich bekanntlich organisatorisch vergleichsweise schwachen Parteien in

21 Zu den Gelegenheitsstrukturen dieser Finanzierungspraktiken findet sich ein sehr guter Überblick bei Véronique Pujas/Martin Rhodes, „Party Finance and Political Scandal in Italy, Spain and France“, in: West European Politics, 22/1999, 3, S. 41–63, hier: S. 52–54. 22 Zu den Mustern der verdeckten Parteienfinanzierung siehe Sabine Ruß, Die Republik der Amtsinhaber. Politikfinanzierung als Herausforderung liberaler Demokratien am Beispiel Frankreichs und seiner Reformen, Baden-Baden 1993, S. 45–69, zu den Mustern politischer Korruption allgemein: dies., „Analytische Schattenspiele. Konturen politischer Korruption in Frankreich“, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption, Politische Vierteljahresschrift, 2005, Sonderband 35, S. 365–383.

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diesen Korruptionsaffären eine Rolle spielten und nicht persönliche Bereicherung. So ist auch bezeichnend, dass bei vielen Beteiligten dieser in der Grauzone des Rechts oder auch in der Illegalität angesiedelten Finanzierungspraktiken kaum Unrechtsbewusstsein bestand und im Frankreich dieser Jahre von einer systemischen, „grauen Korruption“23 gesprochen werden muss. Ermöglicht wurden diesen Praktiken durch die – bereits von Stephen E. Bornstein24 hervorgehobene – Machtkonzentration bei der Exekutive auf der nationalen wie lokalen Ebene des politischen Systems der Fünften Republik und die von den Exekutivspitzen aus über Partei-Loyalitäten laufenden Patronagesysteme. Aufschlussreich hinsichtlich des Wandels der institutionellen Gelegenheitsstrukturen ist hier ein vergleichender Blick auf die politischen Finanzskandale der Dritten und Vierten Republik, als die zentralen Akteure noch einzelne Parlamentarier waren.25 Dass die Skandale im legitimationsempfindlichen Kontext der späten 1980er und vor allem der 1990er Jahre ins Rollen kamen, lag zunächst daran, dass – auch hier sei auf die oben genannten allgemeinen Faktoren verwiesen – der Wettbewerb zwischen den Parteien schärfer wurde, und die erst seit den 1980er Jahren einsetzenden Regierungswechsel dafür sorgten, dass sich die politischen Rivalen gegenseitig in die Karten schauen und Informationen weitergeben konnten. Dazu kamen neue politische Kräfte wie die Grünen, die bereit waren, mit anderen sozialen Kräften wie der Justiz zusammenzuarbeiten, um die etablierten Parteien öffentlich zu kritisieren und so beispielsweise in Marseille und Grenoble letztlich Ermittlungsverfahren ermöglichten. So waren die Gelegenheitsstrukturen für eine Skandalisierung günstig. Statt das aus vielen Episoden bestehende Skandal-Cluster hier chronologisch aufzurollen, werden im Folgenden lediglich die Aspekte des politischen Prozesses aufgeführt, die entsprechend der Leithypothese Aussagekraft bezüglich der Machtkonfiguration und ihres Wandels besitzen. Dabei wird davon ausgegangen, dass das untersuchte Skandal-Cluster als Abfolge von Ereignissen verstanden werden kann, von denen einige von besonderer Qualität sind. Meine These lautet, dass es innerhalb solcher Skandal-Katarakte kritische Ereignisse gibt, die die Muster und informellen Spielregeln der politischen Kultur spürbar zu verschieben vermögen. Diese kritischen Ereignisse sind oft gar nicht auf der ersten Stufe des politischen Skandals angesiedelt, in der es

23 Arnold J. Heidenheimer, „Perspectives on Perception of Corruption“, in: ders., Corruption. Readings in Comparative Analysis, New York 1979, S. 18–32, hier: S. 27. 24 Bornstein, „The politics of scandal“. 25 Zum diachronen Vergleich der Skandalkulturen am Fallbeispiel Frankreich siehe Brian Jenkins/Peter Morris, „Political Scandal in France“, in: Modern & Contemporary France, 1993, 2, S. 127–137.

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um die „Enthüllung“ einer Normverfehlung geht, sondern sehr viel öfter auf einer weiteren Stufe, auf der die Reaktionen der Skandalisierten den Skandal potenzieren oder auch die Skandalisierer versuchen, eine Sanktion durchzusetzen. Betrachtet man die Skandale um die französische Parteienfinanzierung, so bildet beispielsweise das Auffinden der sogenannten „Delcroix“-Hefte am 17. April 1989 in Marseille, mit dem das landesweite Finanzierungssystem der Parti socialiste über Gutachterbüros und Baufirmen zu Tage trat,26 die vielleicht folgenreichste einzelne Enthüllung in dieser Skandalreihe. Die eigentliche Skandaldynamik ergab sich jedoch erst aus dem Umstand, dass den Inspektoren vom zuständigen Justizministerium die beantragte erweiterte Fahndungserlaubnis verweigert wurde und der betroffene Inspektor Antoine Gaudino mit Hilfe der Presse und dem Schreiben eines Buchs mit dem Titel L’enquête impossible27 dieses Verfahren skandalisierte. Was also waren im Untersuchungszeitraum die eigentlich kritischen Ereignisse innerhalb der politischen Kultur und insbesondere innerhalb der politischen Skandalkultur Frankreichs? Zu nennen sind hier zwei prominente Ereignisse: Das erste Ereignis ist das Amnestiegesetz von 1990, mit dem sich die allesamt in Parteienfinanzierungsskandale verstrickten regierenden Parteien selbst von der Straffälligkeit dieser Vergehen befreien wollten, und die zum Auslöser einer kollektiven Protestmobilisierung in der französischen Justiz führte. Das zweite Ereignis ist die Einbestellung von Jacques Chirac, Bürgermeister von Paris in den Jahren 1977 bis 1995 und Präsident Frankreichs in den Jahren 1995 bis 2007, vor ein Strafgericht in Sachen Scheinarbeitsverhältnisse zugunsten von Parteiaktivisten im Pariser Rathaus und seine letztliche Verurteilung im Dezember 2011. Die erste Einbestellung Chiracs in dieser Sache war bereits im Jahr 2001 erfolgt, doch damals beschied der Kassationshof, dass ein amtierender Präsident Immunität genieße und nicht vor Gericht zu erscheinen brauche. Nach dem Ende der Amtszeit wurde jedoch im Oktober 2009 tatsächlich ein Strafverfahren wegen Vorteilsnahme und Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen Chirac eingeleitet. Seine Vorladung vor ein Strafgericht sorgte für großes Aufsehen, immerhin war dies zuvor nur in zwei dramatischen Momenten der Landesgeschichte der Fall gewesen, nämlich im Falle von Maréchal Philippe Pétain aufgrund seiner Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland und im Falle Ludwigs XVI. während der Französischen Revolution. Chirac

26 Einen sehr guten Überblick über die Ereignisse bietet die Le Monde-Serie „Urbatechnic à livre ouvert“, erschienen in Le Monde vom 17., 18. und 19.04.1991. 27 Antoine Gaudino, L’enquête impossible, Paris 1990.

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selbst ließ seinen Anwalt Jean Veil vor Gericht einen Brief verlesen, in dem es hieß: Je mesure que ce rendez-vous est nécessairement un instant politique. Je crois qu’en permettant de remettre les choses à leur vraie place, [ce procès] peut être bénéfique à notre démocratie. Il donne tort aux démagogues qui soutiennent que, dans notre pays, la justice serait sévère aux faibles et complaisante aux puissants.28

Dem ehemaligen Präsidenten Frankreichs wurde vorgeworfen, dass er in seiner Zeit als regierender Bürgermeister aus der Stadtkasse 21 Stellen finanzieren ließ, deren Inhaber de facto entweder für die gaullistische Partei arbeiteten oder reine Gefälligkeitszahlungen erhielten. Gegen die Entscheidung des Staatsanwalts, der im September 2008 die Einstellung des Verfahrens beantragt hatte, zeigte sich der Untersuchungsrichter davon überzeugt, dass die Anklagepunkte für eine rechtskräftige Verurteilung ausreichten. Er sollte Recht behalten. Am 15.12.2011 kam es entgegen aller Erwartung tatsächlich zur Sensation: Erstmals wurde ein ehemaliger Präsident der Republik zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. In diesen beiden Ereignissen scheinen drei Aspekte strukturellen Wandels auf: Erstens enthüllen sie ein neues Selbstverständnis der französischen Justiz, das nicht unbedingt durch die Institutionen abgesichert ist, sondern eher etwas mit der Professionalisierung des Berufsstands zu tun hat. Das Insistieren auf Unabhängigkeit scheint in dieser Form neu zu sein, und in der veröffentlichten Meinung wurde die Tatsache, dass Chirac vor Gericht gestellt wurde, als Manifestation dieser Selbstbehauptung der dritten Gewalt angesehen. Zweitens zeigt sich in den 1990er Jahren ein neues Zusammenspiel von Untersuchungsrichtern und investigativen Journalisten in Frankreich und damit eine neue politische Allianz von Skandalierern. Drittens zeigt sich in diesen Vorgängen eine verstärkte Einforderung von Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht in der traditionell sehr autoritär und hierarchisch geprägten politischen Kultur Frankreichs. In einer erhellenden Studie zur Rolle der Richter in den politischen Skandalen Frankreichs hat Violaine Roussel gezeigt, dass der Protest gegen die SelbstAmnestierung der Parteipolitiker im Jahr 1990 zum Kristallisationspunkt eines neuen Selbstverständnisses und Korpsgeistes der französischen Justiz wurde.29 Zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik vereinigten sich alle 28 Zitiert nach Le Monde über http://www.lemonde.fr/societe/article/2011/12/16/jacques-chiraccondamne-un-jugement-historique_1619692_3224.html (Stand: 27.06.2013). 29 Violaine Roussel, Affaires des juges. Les magistrats dans les scandales politiques en France, Paris 2002.

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Gewerkschaften dieses Sektors zu einer nie dagewesenen Streik- und Protestwelle, in deren Rahmen es sogar zu symbolischen Widerstandsaktionen wie Freisprüchen für gering Straffällige kam.30 Traditionell stieß die richterliche Unabhängigkeit in der politischen Kultur Frankreichs schon deshalb auf Skepsis, weil es ihr an legitimierender, historischer Kontinuität fehlt und die Justiz in der Geschichte des Landes oft als abhängige Variable der Staatsraison erschien. In den ersten 200 Jahren nach Verabschiedung der ersten republikanischen Verfassung kam es sieben Mal zu einer Aufhebung des Prinzips der Unabsetzbarkeit von Richtern und neun Mal zu einer umfassenden personellen ‚Säuberung‘ des Justizapparats. In seinem Buch Le droit au juge beschreibt Jean-Marc Varant, wie die Indienstnahme der Gerichte für die Staatsraison mit den Revolutionstribunalen beginnt und bis zu den von Richtern sanktionierten Menschenrechtsverletzungen im Algerienkrieg weiterführt.31 Neben diesen historischen Faktoren mindern auch aktuelle Faktoren institutioneller und sozialer Art die Autorität und Unabhängigkeit der Justiz gegenüber den politischen Amtsinhabern. Kritisiert werden die Verhältnisse in der Staatsanwaltschaft, wo der Justizminister mit der letzten Entscheidungsgewalt über die Karrierechancen ein Druckmittel in der Hand hält, das die Lust, sogenannte sensible Fälle anzupacken, zu mindern vermag. Bis in die 1960er Jahre war es anscheinend normal, bei sensiblen, also Politiker betreffenden Fällen erst einmal beim Präfekten nachzufragen, wie zu verfahren sei. Das hat sich geändert, ohne dass sich der institutionelle Rahmen dramatisch geändert hätte. Roussel schreibt dies der Professionalisierung der Justiz zu: Erst 1959 wurde eine Hochschule gegründet, die für die Ausbildung der Justizberufe zuständig war, während zuvor unterschiedliche Zugangswege bestanden hatten. Erst Ende der 1980er Jahre war tatsächlich die Mehrheit der Justizbeamten so rekrutiert worden, und somit eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung einer gemeinsamen Gruppenidentität gegeben. Die Amnestie 1990 wurde von dieser Gruppe als absolute Provokation empfunden, denn die französische Justiz arbeitete unter recht erbärmlichen Bedingungen und genoss zudem nur das geringste Ansehen unter den öffentlichen Institutionen.32 Wie groß die Frustration bei den Justizangehörigen in diesen Jahren war, zeigte ein berühmt gewordenes Wort aus dem Jahr 1988 des damali-

30 Ruß, Die Republik der Amtsinhaber, S. 130 f. 31 Jean-Marc Varaut, Le droit au juge, Paris 1991. 32 Zu den Zuständen in diesem Zeitraum existiert ein Bericht des Senats: Sénat/Jean Arthuis, Rapport de la Commission de contrôle chargée d’examiner les modalités d’organisation et les conditions de fonctionnement des services relevant de l’autorité judiciaire, n° 357, 1990/1991.  

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gen Generalstaatsanwalts Pierre Arpaillange, der im Prozess gegen Michel Noir angesichts der Behinderungen der Arbeit des Richters Grellier die Richter zu „Narren der Republik“ reduziert sah.33 Seit den 1990er Jahren schafften dann aber ausgerechnet die rangniedrigsten Angehörigen dieses Stands, nämlich die als petits juges vielsagend bezeichneten Untersuchungsrichter einen Imagewandel. Bei diesem Amt handelt es sich um eine in Deutschland so nicht (mehr) existente Funktion, die „90 Prozent Polizist mit 10 Prozent Richter“34 kreuzt. Im Rahmen der sogenannten affaires politicofinancières gelang es diesen Beamten in den 1990er Jahren vom „Hofnarren“ zum „Zorro“ und „Rächer der Republik“ aufzusteigen. Namen wie Thierry Jean Pierre, Renaud van Ruymbeke oder Eva Joly kennt fast jeder in Frankreich. Die Bezeichnung „Zorro“ stammt übrigens von einem Mitglied der sozialistischen Regierung, der verächtlich davon sprach, dass sich die petits juges wohl für Zorro hielten. Einer dieser Zorros hatte es nämlich gewagt, die Parteizentrale der Sozialisten zu durchsuchen. Tatsächlich oblagen in jüngerer Zeit zwar nur knapp fünf Prozent der Ermittlungs- und Strafverfahren den Untersuchungsrichtern, der Rest lag in den Händen der wesentlich enger an das Justizministerium gebundenen Staatsanwaltschaft. Doch bei diesen knapp fünf Prozent handelte sich um die ‚sensiblen‘ Fälle. Vor diesem Hintergrund erstaunen die heftigen Proteste gegen die unter dem Präsidenten Nicolas Sarkozy angestrebte, letztlich aber auf halbem Weg stecken gebliebene Justizreform nicht, in deren Rahmen diese Institution abgeschafft werden sollte.35 Im März 2010 gingen Tausende von Richtern, Anwälten und sonstigen Angehörige des Justizapparats in Marseille, Bordeaux und Paris auf die Straße. Die Tageszeitung Libération sekundierte dem Protest am 10. März 2010 auf der Titelseite mit der Schlagzeile „La réforme à etouffer les affaires“. Der zweite, oben bereits erwähnte Aspekt des Wandels betrifft die Entwicklung des französischen Journalismus.36 Traditionell dominierte in der journalistischen Kultur Frankreichs als Rollenideal die Vorstellung einer literarisch-

33 Zu dieser Affäre siehe Annick Cojean, „L’affaire Michel Droit devant la cour d’appel: Les blocages de la justice“, in: Le Monde, 22.04.1988, S. 14. 34 Jean Pierre, „Le métier de juge d’instruction“, in: Etudes, 7/1988, 369, S. 43–52. 35 Zwar sieht die Reform im Gegenzug die Schaffung eines juge des libertés vor, doch würde dieser nur das von der Staatsanwaltschaft geführte Verfahren ex post kontrollieren und könnte eben nicht wie der Untersuchungsrichter eigene Initiativen ergreifen. Vgl. Bernard Schmid, „Umstrittene Justizreform“, in: trend online Zeitung, 03/2010, http://www.trend.infopartisan.net/ trd0310/t380310.html (Stand: 17.01.2013). 36 Zur Rolle und Stellung des Journalismus in der französischen Politik siehe Denise Burgert, Politisch-mediale Beziehungsgeflechte. Ein Vergleich politikfeldspezifischer Kommunikationskulturen in Deutschland und Frankreich, Berlin u.a. 2010, S. 101–114.

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journalistischen Edelfeder, die sich vor allem dem Kommentar widmete.37 Als investigative Instanz fungierte lange ziemlich allein auf weiter Flur das Satiremagazin Le Canard Enchaîné, das aber spätestens nach dem Skandal um die Versenkung des Greenpeace-Schiffs Rainbow Warrior durch den französischen Geheimdienst in dieser Funktion durch die Tageszeitungen Le Monde und Libération, aber auch das Wochenmagazin Le Point u.a. Unterstützung erhielt. Doch auch in regionalen Zeitungen wie Sud-Ouest wandelte sich das Selbstverständnis der Journalisten in Richtung einer weniger institutionen- und autoritätsgläubigen Einstellung.38 Inzwischen gibt es auch zwei sich ausdrücklich als investigative Organe verstehende Online-Zeitschriften, nämlich Médiapart (http://www.mediapart.fr/) und Bakchich.info (http://www.bakchich.info/) (Slogan: „Information, enquête, mauvais esprit“), wobei die erstgenannte vom ehemaligen Le Monde-Journalisten Edwy Plenel gegründet wurde, dem Prototypen des investigativen Journalisten in Frankreich. Er war es auch, der in den 1990er Jahren rechtzeitig mit den Untersuchungsrichtern im Morgengrauen vor den Planungsbüros und Parteizentralen stand.39 Der Bedeutungsgewinn des investigativen Journalismus lässt sich als Marktverhalten interpretieren, hängt aber sicherlich auch zusammen mit der Professionalisierung des Berufsstands40 sowie der Liberalisierung und Privatisierung der audiovisuellen Medien mit den Gesetzen von 1982, 1986 und 1989. Außerdem betonen ausgewiesene Kenner der französischen Medien, dass zwar der Prestigegewinn des investigativen Journalismus in diesem sozialen Feld unübersehbar ist, sich der Zuwachs der investigativen Praxis aber schon aus wirtschaftlichen, aber auch aus juristischen Gründen in Grenzen hält: […] the legal safeguards put in place by politicians will determine to a great extent news organizations’ ability to discover information and publish unauthorized material.41

37 Vgl. Pierre Albert, „La presse française“, Notes et études documentaires, Nr. 4901, 1990, S. 38 f. 38 Cyril Lemiaux, „Heurs et malheurs du journalisme d’investigation en France“, in: Christian Delporte/Michael Palmer/Denis Ruellan (Hrsg.), Presse à scandale, scandale de presse, Paris 2001, S. 85–96. 39 Die Ereignisse aus der Sicht der Hauptakteure lassen sich nachlesen in: Edwy Plenel, Un temps de chien, Paris 1996 und Thierry Jean-Pierre, Bon appétit, Messieurs. Un juge contra la corruption, Paris 1993. 40 Denis Ruellan, Le ‚pro‘ du journalisme. De l’état au statut, la construction d’un espace professionel, Rennes 1996. 41 Jean K. Jalaby, „Scandal and the Rise of Investigative Reporting in France“, in: American Behavioral Scientist, 47/2004, 9, S. 1194–1207, hier: S. 1206.  

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Der dritte Aspekt, der – wie weiter oben erwähnt – in den großen Skandalen der letzten beiden Jahrzehnte auffällt, ist die Einforderung einer konkreten Rechenschaftspflicht und politischer wie auch strafrechtlicher Verantwortung von Politikern. Dies war lange nicht der Fall, in der Republik hatte gewissermaßen die monarchische Maxime „Le Roi ne peut mal faire“ überlebt. Das hat sich im Zuge der großen Skandale verändert: Mit der Anklageerhebung gegen den ehemaligen Präsidenten wurde der spektakulärste Fall schon erwähnt. Dass dies aber kein Einzelfall ist, zeigen weitere Beispiele wie das von Henri Emmanuelli, dem ehemaligen Schatzmeister der Parti socialiste, Regierungsmitglied von 1981 bis 1986 und Präsident der französischen Nationalversammlung im Jahr 1994, der 1997 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung unter Aberkennung der bürgerlichen Rechte für zwei Jahre verurteilt wurde. Des weiteren zu nennen ist Alain Juppé, ehemaliger Premierminister (Mai 1995 bis Juni 1997) und mehrfaches Regierungsmitglied im Ministerrang – unter anderem als Europa- und Außenminister während der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy (Februar 2011 bis Mai 2012) –, der im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Parteienfinanzierungsaffäre im Pariser Rathaus zu 14 Monaten auf Bewährung verurteilt und zu einer unfreiwilligen politischen Auszeit von einem Jahr gezwungen wurde (Verlust des passiven Wahlrechts). Noch deutlicher wird der politisch-kulturelle Wandel mit Blick auf einen Skandal anderer Art, nämlich den um mit HI-Viren infizierte Blutkonserven Anfang der 1990er Jahre. Auf Anklage der Interessenvertretung der Bluter-Kranken hin fanden sich der ehemalige Premierminister Laurent Fabius und seine damaligen Gesundheitsminister Edmond Hervé und Georgina Dufoix im Jahre 1999 vor dem Cour de Justice de la République wieder (sie wurden frei gesprochen).42 Tatsächlich war im Jahre 1993 unter dem Eindruck der Skandale ein neuer Artikel in die Verfassung eingefügt und ein Cour de Justice de la République vorgesehen worden, vor dem Mitglieder der Regierung sich zu verantworten haben, wenn Bürger sie aufgrund von im Amt begangenen Akten verklagen.43 Die Strafbarkeit des Präsidenten, der sich in der Fünften Republik ursprünglich nur bei Hochverrat vor dem Hohen Gericht der beiden Parlamentskammern zu verantworten hatte, ist – nachdem 2002 Präsident Jacques Chirac und sein Premier Dominique de Villepin unter dem Eindruck der Diskussionen um politische Korruption und Immunität die Avril-Kommission eingesetzt hatten – mit dem Gesetz vom 23. April 2007 um den Tatbestand manquement à ses devoirs manifestement incompatible 42 Violaine Roussel, „Scandales et redéfinitions de la responsabilité politique. La dynamique des affaires de la santé et de la sécurité publique“, in: Revue française de science politique, 58/2008, 6, S. 953–983. 43 La loi constitutionnelle n° 93–952 du 27 juillet 1993.

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avec l’exercice de son mandat erweitert worden. Hiermit wurde ein normativer Wandel kodifiziert, dem, wie in den Skandalen sichtbar geworden, ein Wandel in den gesellschaftlichen normativen Erwartungen vorausgegangen war.

IV Befund Was lässt sich also aus dem Skandal-Cluster der affaires politico-financières über die Machtkonfiguration im politischen System Frankreichs herauslesen? Zum einen, dass dieses exekutivlastige politische System ein Stück weit an autoritärem Gefälle verloren hat. Zum anderen, dass der für dieses Skandal-Cluster zentrale Konflikt zwischen Vertretern der lokalen und nationalen Exekutive und der Justiz verläuft. Hierbei fungieren die rangniedrigsten Vertreter der Richterschaft als „moralische Unternehmer“, die in strategischer Allianz mit den Medien Fälle von Amtsmissbrauch jeweils dort öffentlich machen, wo eine politische Blockade des ordentlichen Verfahrens droht. Insofern ist der Analyse von Philippe Garraud zuzustimmen, der diese Skandalgruppe durch drei Entwicklungen gekennzeichnet sieht, nämlich durch „publicisation, judiciarisation et juridicisation“ und als treibende Kraft hinter diesen Skandalisierungsprozessen die Professionalisierung der beiden sozialen Felder Justiz und Medien benennt.44 Dabei sind die skandalisierten Normbrüche im Kontext verdeckter Parteienfinanzierung für die Dynamik der Skandals weniger wichtig als die Reaktion der Regierenden auf diese „Enthüllungen“: Es ist die Verabschiedung des Amnestiegesetzes von 1990, das in den Augen der Richterschaft, schließlich aber auch der Öffentlichkeit, zum eigentlichen Kern des Skandals wird. An diesem Schlüsselereignis kristallisiert sich die ganze Malaise der französischen Justiz. Diese findet darüber zu Corpsgeist und neuem Selbstbewusstsein. Als Erfolg kann die Justiz für sich verbuchen, dass die Politik die Berufungen innerhalb des Justizapparats künftig diesem selbst überlässt und den Conseil supérieur de la Magistrature entsprechend reformiert. Allerdings zeigte sich, dass die medienorientierte Strategie der Untersuchungsrichter, die teilweise taktierend eigene Verfahrensverletzungen begingen, mit der Zeit deutlich an Wirkung einbüßte. Wie Ari Adut feststellt, verlor diese Strategie mit der Wiederholung des Vorgehens an Akzeptanz in der Öffentlichkeit, weil das Handeln der Untersuchungsrichter von der Öffentlichkeit zunehmend als parteiisch bzw. egoistisch wahrgenommen und selbst von den

44 Philippe Garraud, „Les nouveaux juges du politique”, in: Critique internationale, 3/1999, 3, S. 125–139, hier: S. 138.

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eigenen Kollegen zunehmend als Gefährdung von Rollenbild und Reputation des Berufsstands abgelehnt wurde.45 Hier zeigen sich paradoxe Effekte der Skandalisierungslogik: Die Skandalisierer, die den Skandalisierten Verstoß gegen ihre Pflichten vorwerfen, fallen sozusagen selbst aus ihrer sozialen Rolle. Zudem bestätigt sich im Falle Frankreichs eine Tendenz, die im Rahmen der vergleichenden Demokratieforschung für den Bereich der etablierten Demokratien von John Keane hellsichtig diagnostiziert wurde, dass sich nämlich diese im letzten Vierteljahrhundert weniger eines Zugewinns an bürgerschaftlicher Teilhabe rühmen können als eines Zuwachses an Kontrollmechanismen, und so auf dem Weg zu einer monitory democracy zu sein scheinen.46 Zum Phänomen des politischen Skandals allgemein erlaubt das Fallbeispiel außerdem zwei Aussagen: Zum einen, dass sich nicht aus einem einzelnen Skandal, wohl aber aus einem ganzen Skandal-Cluster Verschiebungen der informellen Handlungsmuster und somit auch der Machtverhältnisse im politischen System ablesen lassen. Insofern bestätigt diese Fallanalyse die von Rolf Ebbinghaus und Sighard Neckel in ihrer „Anatomie des politischen Skandals“ vertretenen Auffassung des Skandals als „Fokus, in dem sich langfristige soziale Prozesse verdichten, die im Skandal ‚lesbar‘ werden.“47 Zum anderen zeigt sie darüber hinaus, dass Skandale auch ein katalysatorisches Potenzial besitzen und vorhandene Trends des sozialen Wandels nicht nur sichtbar machen, sondern zugleich beschleunigen (können). Hier erweist sich für die Politikwissenschaft der Rückgriff auf eine historische Analyse als lohnenswert, denn tatsächlich scheint mir das präsentierte Fallbeispiel zu zeigen, wie einzelne „kritische Ereignisse“ – ein Begriff, der vom historischen Institutionalismus eigentlich in Bezug auf Entwicklungspfade bei der Institutionenbildung verwendet wird48 – die normative Matrix einer politischen Kultur aufzuweichen und zu verschieben vermögen.

45 46 47 48

Adut, On Scandal, S. 171 f. John Keane, Life and Death of Democracy, Chatham 2009, S. 585–838. Rolf Ebbinghaus/Sighard Neckel, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Anatomie, S. 7–14, hier: S. 9. Vgl. Paul Pierson, Politics in Time: History, Institutions, and Social Analysis, Princeton 2004.  

Guido Thiemeyer, Düsseldorf

Der Skandal als Konstruktion eines transnationalen Kommunikationsraumes: Die Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich im Jahr 2000 Am 31. Januar 2000 veröffentlichte die portugiesische Ratspräsidentschaft der Europäischen Union eine Stellungnahme, in der angekündigt wurde, dass die 14 Mitgliedstaaten der EU für den Fall, dass in Österreich eine Regierung unter Beteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) gebildet werden würde, drei Maßnahmen ergreifen würden. Governments of XIV Member states will not promote or accept any bilateral official at political level with an Austrian Government integrating the FPÖ; [t]here will be no support in favour of Austrian candidates seeking positions in international organisations; Austrian Ambassadors in EU capitals will only be received at a technical level.1

Die Erklärung war eine Reaktion auf die österreichischen Parlamentswahlen vom 3. Oktober 1999, in denen die konservative ÖVP und die FPÖ gemeinsam knapp 54% der Stimmen und damit Möglichkeit zur Regierungsbildung erhalten hatten.2 Nach zwei Monaten der Unsicherheit zeichnete sich im Januar 2000 ab, dass die beiden Parteien tatsächlich eine Koalitionsregierung bilden würden. In der Tat wurden die Sanktionen am 4. Februar 2000 in Kraft gesetzt, nachdem der Parteivorsitzende der ÖVP, Wolfgang Schüssel, sein Amt als Bundeskanzler einer konservativ-liberalen Koalition angetreten hatte. Das Vorgehen der EU-14 gegen den 15. Mitgliedstaat Österreich war in der Geschichte der europäischen Integration beispiellos. Niemals zuvor war eine Regierung eines Mitgliedstaates mit solchen Instrumenten unter Druck gesetzt worden. In der Regel werden Sanktionen dieser Art gegenüber autoritären oder

1 Council of the European Union, Statement by the Portuguese Presidency of the EU on behalf of XIV Member States (31 January 2000), 2012, http://www.cvce.eu/content/publication/2009/12/ 16/8a5857af-cf29-4f2d-93c9-8bfdd90e40c1/publishable_en.pdf (Stand: 16.01.2013). 2 Eine detaillierte Analyse der Vorgänge: Michael Gehler, „Demokratie-Enforcement? Die EU 14 und der Fall Österreich 2000: Vom Paternalismus zum Neoliberalismus mit einem Ausblick bis in die jüngste Zeit“, in: Guido Thiemeyer/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Europäische Perspektiven der Demokratie. Historische Prämissen und aktuelle Wandlungsprozesse in der EU und ausgewählten Nationalstaaten, Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 181–230.

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diktatorischen Regimen angewandt, und dies nach langen Vorwarnungen. Ein demokratischer Staat, der zudem auch Mitglied der EU war, war auf diese Weise noch nie behandelt worden. Die beispiellose Schärfe der Maßnahmen sollte der europäischen Öffentlichkeit suggerieren, dass die Beteiligung der FPÖ an einer Bundesregierung in Österreich ein Skandal sei, ein massiver Regelverstoß, der eben deswegen auch mit drastischen Konsequenzen geahndet werden müsste. Unter einem Skandal soll hier ein öffentlich ausgetragener, moralischer Konflikt verstanden werden, der zumindest drei Funktionen erfüllt: Zum einen muss es einen moralischen Normbruch durch eine Gruppe oder eine Einzelperson geben, der – zweitens – öffentlich thematisiert wird. Hierbei spielen Medien und die durch sie geschaffene Öffentlichkeit eine zentrale Rolle.3 In diesem Beitrag soll die Frage untersucht werden, warum die EU-14, wie sie in der Debatte genannt wurden, die Skandalisierung der Regierungsbeteiligung der FPÖ vorantrieben. Welche Absichten verfolgten sie, und warum griffen sie in dieser Situation zu solch dramatischen Instrumenten? Welche Rolle spielt der Skandal in den internationalen Beziehungen, insbesondere jenen innerhalb der Europäischen Union? Welche Bedeutung hat der Skandal für die seit langem diskutierte Frage nach der Existenz einer transnationalen europäischen Öffentlichkeit? Im Folgenden soll zunächst kurz auf den Begriff des Skandals eingegangen werden. In einem zweiten Kapitel wird der Prozess der Skandalisierung beschrieben und in verschiedene Phasen eingeteilt. Anschließend sollen die Strukturen des Skandals analysiert werden, bevor schließlich nach den Inhalten der Debatte gefragt wird.

I Der Skandal als Thema der Wissenschaft Skandale bilden seit einigen Jahren ein bevorzugtes Forschungsgebiet der Sozialwissenschaften und – etwas verzögert – auch der Kulturwissenschaften. Man

3 Obwohl es nicht grundsätzlich neu ist, haben sich Skandale unter dem Eindruck der kulturwissenschaftlichen Methode in den letzten Jahren zu einem Modethema der Geschichts- und Sozialwissenschaften entwickelt. Grundlegend: Ari Adut, On Scandal. Moral Disturbance in Society, Politics and Art, Cambridge 2008; Alan Bisbort, Media Scandals, Westport, London 2008; Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009; Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002; Julius Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Bonn 1992; John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000.

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kann sogar von einem rechten Boom der Skandal-Forschung sprechen. Die Ergebnisse lassen sich vereinfacht zusammenfassen: Erstens sind Skandale, auch wenn sie keineswegs ein völlig neues Phänomen sind, ein Thema der Neuzeit. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Entstehung einer von Medien getragenen, in der Regel nationalen Öffentlichkeit gehört die regelmäßige skandalöse öffentliche Erregung zu den Charakteristika moderner Gesellschaften. Skandale sind gesellschaftliche Ereignisse, die durch Medien rezipiert werden. Medien spielen allerdings nicht nur eine Vermittlerrolle, sie sind in vielen Fällen wesentlich an der Schaffung von Skandalen beteiligt. Ihr ideologischer und wirtschaftlicher Konkurrenzkampf förderte sensationelle Enthüllungen und Beschuldigungen. Seit dem Ende des 19. Jahrhundert nahm die Bedeutung von Skandalen im gesellschaftlichen Leben der Nationen daher deutlich zu, mit weiterhin steigender Tendenz bis in die Gegenwart. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat die Entstehung von Massenmedien, insbesondere der Zeitung im 19. Jahrhundert, die als gesellschaftliches Leitmedium in den 1920er Jahren in Europa vom Rundfunk abgelöst wurde, dem wiederum in den 1960er Jahren das Fernsehen folgte. Skandale, das kann als erstes wichtiges Ergebnis der Forschung festgehalten werden, sind also in starkem Maße Medienereignisse. Neben ihrer Bedeutung für die Medien haben Skandale auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Durch Skandale werden gesellschaftliche Werte bestimmt und immer wieder neu ausgehandelt, Grenzen werden definiert. Menschliche Gemeinschaften, gleich welcher Art, beruhen nicht zuletzt auf einem gemeinsamen Wertekanon. Dieser aber ist keineswegs statisch, sondern dynamisch. Werte verändern sich, sie wandeln ihre Bedeutung, bisweilen werden alte Werte durch neue ersetzt. Skandale stehen an den Bruchstellen dieser Entwicklung, weil sie den Punkt markieren, in dem alte Wertvorstellungen mit neuen konfrontiert werden und an dem die alten manchmal durch neue ersetzt werden. Insofern definieren Skandale die Regeln einer Gesellschaft, sie klären, was erlaubt ist und was nicht. Sie sind darüber hinaus aber auch Instrumente zur Klärung von Machtfragen. Wer definiert die Grenzen einer Gemeinschaft, wer hat die Deutungshoheit über die gemeinschaftliche Realität? Auch diese Fragen werden in Skandalen und durch sie geklärt. Schließlich hat die Forschung einen typischen Skandal-Verlauf festgehalten: Am Anfang des Skandals steht in der Regel die Normverletzung durch eine Person oder eine Gruppe. Zum Skandal wird diese Normverletzung aber erst dadurch, dass sie enthüllt wird, das heißt, dass sie in den Medien als ungerecht oder unzulässig dargestellt wird. Es folgt die kollektive Empörung, das heißt die Reaktion derjenigen, die an den bestehenden Werten festhalten wollen und deswegen diejenigen, welche die Normverletzung begangen haben, angreifen. Skandale können auf zwei Weisen enden: Entweder durch die Zurückweisung des

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Regelverstoßes (durch Rücktritt der betroffenen Person oder durch ihre Bestrafung), oder die neue Norm setzt sich durch und wird zur herrschenden Norm der Gemeinschaft.

II Der Prozess der Skandalisierung Der Skandal des Jahres 2000 hatte eine lange Vorgeschichte.4 Sie beginnt mit dem Zerfall der alten Staatsideologie der zweiten österreichischen Republik, der Opferthese, wonach das Land 1938 das erste Opfer nationalsozialistischer Aggression geworden war, und der Idee der ‚immerwährenden Neutralität‘ im Ost-WestKonflikt, die mit dem Zusammenbruch des östlichen Imperiums obsolet geworden war. Schon zwischen 1986 und 1988 hatte die Affäre um den Bundespräsidenten Kurt Waldheim die Opferthese in Frage gestellt, die erwähnte Vorstellung der ‚immerwährenden Neutralität‘ des Landes nach Schweizer Vorbild zerbrach 1989/1990.5 In das in diesem Kontext entstandene identitäre Vakuum stieß der Obmann der FPÖ, Jörg Haider, der seit Beginn der 1990er Jahre die Öffentlichkeit immer wieder provozierte, indem er darauf anspielte, dass sich Österreich für seine nationalsozialistische Vergangenheit nicht zu schämen brauche. Zwar relativierte er seine Äußerungen im Nachhinein immer wieder, sie verfehlten aber ihre Wirkung nicht. Die liberalen Parteien der meisten europäischen Staaten distanzierten sich von der FPÖ, im Juli 1993 trat diese aus der Liberalen Internationalen, dem transnationalen Zusammenschluss liberaler Parteien, aus, kam damit allerdings lediglich dem Ausschluss zuvor. Die FPÖ wurde unter der Führung Haiders zu einer rechtspopulistischen Partei, was ihr durchaus Zustimmung in der Wählerschaft verschaffte. Haider wurde Landeshauptmann des Bundeslandes Kärnten, die FPÖ stieg zeitweise in Umfragen zur bundesweit stärksten politischen Kraft auf. So lag die Partei bei den Nationalratswahlen vom 3. Oktober 1999 knapp vor der konservativen ÖVP (beide 26,91% der Stimmen), die SPÖ gewann die Wahl mit 33,15% der Stimmen. Obwohl eine Fortsetzung der großen Koalition aus SPÖ und ÖVP möglich gewesen wäre, entschied sich Wolfgang Schüssel für Verhandlungen mit den Freiheitlichen. Schon als im Vorfeld dieser Entscheidung über eine solche Koalition spekuliert wurde, hatte es Dis-

4 Vgl. für das Folgende Gehler, „Demokratie-Enforcement?“; Ders., „Der Präventivschlag als Fehlschlag: Motive, Intentionen und Konsequenzen der EU 14-Sanktionsmaßnahmen gegen Österreich im Jahr 2000“, in: Wilfried Loth (Hrsg.), Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Opladen 2001, S. 325–382; Waldemar Hummer/Anton Pelinka, Österreich unter EUQuarantäne, Wien 2002. 5 Barbara Tóth/Hubertus Czernin (Hrsg.), 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006.

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kussionen gegeben. Auf dem Europäischen Rat von Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 war Jean Claude Juncker vom Europäischen Rat beauftragt worden, den österreichischen Außenminister Wolfgang Schüssel vor einem solchen Bündnis zu warnen. Auch auf dem Treffen der OSZE-Staaten in Istanbul im November 1999 hatte es ähnliche Reaktionen gegeben, sodass auch das österreichische Außenministerium im Falle einer Regierungsbeteiligung der FPÖ vor Reaktionen der internationalen Gemeinschaft warnte. Obwohl es also entsprechende Vorzeichen gab, traf die eingangs zitierte Erklärung der portugiesischen Ratspräsidentschaft die politische Elite in Wien, ebenso wie die österreichische Bevölkerung, weitgehend unvorbereitet. Die österreichische Bevölkerung war gespalten. Auf der einen Seite gab es Empörung und Opposition gegen die Maßnahmen der EU, auf der anderen Seite kam es in Wien Mitte Februar zu Massendemonstrationen anlässlich der Vereidigung der neuen Regierung. Die Proteste richteten sich vor allem gegen Jörg Haider, auch dessen Rückzug vom Vorsitz der FPÖ in die Kärntner Landespolitik änderte an dieser Situation nichts. Unterdessen wurden die Sanktionsmaßnahmen der 14 EU-Staaten am 4. Februar 2000 in Kraft gesetzt, nachdem die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ abgeschlossen waren. Dem Boykott schlossen sich auch die Regierungen der USA, Norwegens und Israels an, später folgten Kanada, Costa Rica und Argentinien, die ihre Botschafter aus Wien zurückzogen. Die EU-Staaten schlossen die Vertreter Österreichs in der Folgezeit von informellen Treffen aus, der portugiesische Ratspräsident ließ Wien bei seiner üblichen Rundtour durch die Hauptstädte der Gemeinschaft aus. Nicht nur auf politischer Ebene, auch wirtschaftlich-gesellschaftlich und kulturell geriet Österreich in Isolation. Österreichische Wissenschaftler wurden von internationalen Tagungen ausgeladen, Schüler- und Studentenaustauschprogramme sistiert, und es gab Boykott-Maßnahmen in den USA gegen österreichische Produkte. Dennoch erwiesen sich die Maßnahmen als problematisch vor allem aus zwei Gründen: Zum einen bewegten sie sich in einer völkerrechtlichen Grauzone. Es war nicht ganz klar, ob es der Europäische Rat, also eine Institution der EU, war, der die Maßnahmen verhängte oder ob es sich um eine gemeinsame Aktion der Mitgliedstaaten handelte. In jedem Fall waren die Maßnahmen nicht durch die EU-Verträge gedeckt, die Boykotte gegen Mitgliedstaaten nicht vorsehen. Nicht minder problematisch als die rechtliche war die politische Dimension der Maßnahmen. Die portugiesische Ratspräsidentschaft hatte ihre Ankündigung am 30. Januar 2000 gemacht, das heißt vor dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ am 4. Februar. Sie war daher ein Instrument, um diesen Abschluss zu verhindern. Nachdem die Koalition doch zu Stande gekommen war, wurden die Sanktionen zwar in Kraft gesetzt, im Grunde genommen aber hatte die Ankündigung ihr Ziel

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verfehlt. Überraschenderweise gab es auf Seiten der 14 EU-Staaten keine Pläne für den nun eingetretenen Fall, dass die ÖVP-FPÖ-Regierung in Wien trotz der Androhung politischer Isolation zu Stande kommen würde. Die neue österreichische Regierung reagierte mit einer maßvollen Politik der Selbstdisziplin. Einerseits kritisierte sie die Sanktionen als völkerrechtswidrig, andererseits signalisierte sie Kooperationsbereitschaft bei der Lösung des Konfliktes. Schon im Mai 2000 hoben die 14 EU-Staaten ihre Sanktionen gegen Österreich de facto auf, auch wenn sie offiziell weiterhin Bestand hatten. Auf Initiative des dänischen Premierministers Poul Nyrop Rasmussen wurde am 29. Juni 2000 ein „Komitee der Weisen“ eingerichtet, für das der ehemalige finnische Ministerpräsident, Martti Ahtisaari, der deutsche Professor für Völkerrecht, Jochen Frowein, und der frühere spanische Außenminister und EU-Kommissar, Marcelino Oreja, gewonnen werden konnten. Am 8. September 2000 wurde der Bericht der Kommission dem französischen Staatspräsidenten Chirac vorgelegt. Er empfahl die Aufhebung der Sanktionen, insbesondere weil sie kontraproduktiv wirken würden, sollten sie andauern. Insgesamt wurde der Republik Österreich bescheinigt, eine stabile Demokratie zu sein, die FPÖ jedoch war nach Meinung der Weisen eine rechtspopulistische Partei mit „radikalen Elementen“.6 Als Reaktion auf den Bericht gaben die 14 EU-Staaten am 12. September 2000 die Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich bekannt. Welche Phasen der eingangs vorgestellten Skandal-Typologie lassen sich identifizieren? Der Regelverstoß begann damit, dass die österreichische ÖVP die rechtspopulistische FPÖ an der Regierung beteiligen wollte. Als dies trotz der internationalen Warnungen geschah, lösten die 14 EU-Regierungen den Skandal aus. Es folgte eine erregte Debatte in Österreich, aber auch auf internationaler Ebene, während derer die politische Unverhältnismäßigkeit der Sanktionen und ihre völkerrechtliche Problematik deutlich wurden. Der Skandal endete mit der Einsetzung der Expertenkommission, die eine Art Vermittlung vornahm, und schließlich mit der Aufhebung der Sanktionen im September 2000.

III Die Struktur des Skandals Wer waren die Akteure des Skandals und welche Motive verfolgten sie? Ausgelöst wurde der Skandal durch den portugiesischen Premierminister António Guterres, der zum fraglichen Zeitpunkt gleichzeitig die Präsidentschaft über die Europäi-

6 Gehler, „Demokratie Enforcement?“, S. 206.

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sche Union und die Sozialistische Internationale hatte. Beide Organisationen spielten eine Rolle. Die Sozialistische Internationale, der transnationale Zusammenschluss sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien, spielte in diesem Kontext gewiss eine Rolle. Wichtig war hier, dass die SPÖ aus den Parlamentswahlen vom 3. Oktober 1999 als stärkste Kraft hervorgegangen war und damit ein gewisses Vorrecht der Regierungsbildung besaß. Da aber die ÖVP nicht zur Fortsetzung der Großen Koalition mit der SPÖ bereit war und die Alternative FPÖ bereitstand, fühlten sich die Sozialdemokraten um Parteichef Alfred Gusenbauer um ihren Sieg betrogen, weil sie nun trotz des Wahlerfolgs in die Opposition verwiesen wurden. Es ist offensichtlich, dass die SPÖ großes Interesse daran hatte, eine mögliche Koalition zwischen ÖVP und FPÖ zu verhindern. Ob es nun in diesem Sinne direkte Kontakte zwischen der SPÖ-Führung und der Sozialistischen Internationalen gegeben hat, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden, auch wenn es entsprechende Spekulationen in der österreichischen Presse gab.7 Bedeutsamer jedoch als das Netzwerk der Sozialistischen Internationale erwies sich die EU. Das zeigt sich allein daran, dass die eingangs zitierte Androhung der Sanktionen vom 31. Januar 2000 zum einen vom amtierenden Ratspräsidenten der Europäischen Union bekannt gegeben wurde, andererseits direkt auf diese Bezug genommen wurde. Guterres verkündete, dass die 14 EU-Staaten die Sanktionen gemeinsam verhängen würden, was bedeutet, dass im Vorfeld eine detaillierte Absprache stattgefunden haben muss. Ob es auch im völkerrechtlichen Sinne eine EU-Maßnahme war, bleibt zweifelhaft. Die österreichische Regierung behauptete nach Verhängung der Sanktionen, dass dies keineswegs der Fall gewesen sei. Eine solche Maßnahme, so die Argumentation, könne nur einstimmig verabschiedet werden, die österreichische Regierung aber sei an der Entschlussbildung selbstverständlich nicht beteiligt gewesen. Hinzu kam, dass die EU-Kommission sich gegenüber den Sanktionen sehr zurückhaltend zeigte. In der offiziellen Stellungnahme vom 1. Februar 2000 erklärte die Kommission unter der Präsidentschaft des Sozialdemokraten Romano Prodi, dass sie die gemeinsame Stellungnahme der 14 Mitgliedstaaten „zur Kenntnis nehme“ und die „Besorgnis, die dieser Entscheidung zugrunde liegt“, teile.8 Sie wies zudem auf ihre Pflicht hin, die Einhaltung der Art. 6 und 7 des EU-Vertrages zu überwachen, die die Respektierung der Menschenrechte, den Schutz der fundamentalen Freiheiten 7 Vgl. Gehler, „Demokratie-Enforcement?“, S. 187. 8 Für die englische Textfassung vgl. RAPID, The Press and Communication Service of the European Commission, Commission statement on Austria (1 February 2000), 2012, http://www. ena.lu/commission_statement_austria_february_2000-020008654.html (Stand: 16.01.13).

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und des Rechtsstaates verlangen. Andererseits erklärte die Kommission, dass sie die Arbeitsbeziehungen mit den österreichischen Behörden aufrecht erhalten werde, die Arbeit der europäischen Institutionen sei von den Sanktionen „nicht betroffen“.9 Dies entsprach einer vorsichtigen, vermittelnden Haltung, insofern, als sich die Kommission einerseits hinter die Erklärung von Guterres stellte, andererseits deren Konsequenzen, die Sanktionen, nicht mit vollzog. Eindeutiger war die Stellungnahme des Europäischen Parlamentes vom 3. Februar 2000. Das Parlament verurteilte alle „beleidigenden, ausländerfeindlichen und rassistischen Aussagen“ von Jörg Haider, dem Vorsitzenden der FPÖ. Die Aufnahme der FPÖ in die Koalitionsregierung legitimiere die extreme Rechte in Europa. Die Erklärung der portugiesischen Ratspräsidentschaft wurde daher ausdrücklich begrüßt, ja das Parlament ging sogar noch einen Schritt weiter: Das Europäische Parlament fordert den Rat und die Kommission auf, im Falle einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung von in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union genannten Grundsätzen durch welchen Mitgliedstaat auch immer darauf vorbereitet zu sein, Maßnahmen nach Artikel 7 des Vertrags zu ergreifen und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die sich aus der Anwendung des Vertrags ergebenden Rechte dieses Mitgliedstaates auszusetzen.10

Das heißt, das Parlament drohte sogar mit noch härteren Maßnahmen, der Aussetzung von Rechten Österreichs im Rahmen der EU. Insgesamt war daher die EU ein wesentlicher Akteur im Skandal, auch wenn, wie gezeigt, die Institutionen durchaus verschiedene Standpunkte einnahmen. Dieser europäische Identitätsdiskurs wurde durch innenpolitische Konstellationen in einzelnen Nationalstaaten verstärkt. In besonderem Maße hatte sich der wallonisch-liberale belgische Außenminister Louis Michel als Österreich-Kritiker hervorgetan. Er war einer der treibenden Kräfte hinter dem Beschluss des Europäischen Rates und trat auch in der Öffentlichkeit entschlossen für die Verhängung von Sanktionen auf. Dies gipfelte in der Aufforderung an seine Landsleute, keinen Ski-Urlaub mehr in Österreich zu machen, weil dies „unmoralisch“ sei.11 Hierbei spielten gewiss individuelle Motive eine Rolle, Michel stammt aus einer Familie, die unter dem Nationalsozialismus verfolgt wurde, wichtiger aber noch dürften innenpolitische Motive gewesen sein. Auch in Belgien hatten 1999 Parlaments-

9 Ebd. 10 Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Ergebnis der Parlamentswahlen in Österreich und dem Vorschlag zur Bildung einer Koalitionsregierung zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) am 03.02.2000. 11 Zit. nach: Gehler, „Demokratie-Enforcement?“, S. 190 f.  

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wahlen stattgefunden, bei denen der rechtsradikale Vlaams Blok zusammen mit dem Front National mit 11,3% der Stimmen einen beachtlichen Erfolg hatte verbuchen können. Michels Ziel war es, rechtsorientierte Parteien durch eine transnationale, gemeinschaftliche Aktion unter Druck zu setzen und auf diese Weise den innenpolitischen Gegner zu bekämpfen. Der belgischen Wahlbevölkerung sollte vor Augen geführt werden, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn auch die belgische Rechte eines Tages an der Regierung beteiligt werden würde. Zugespitzter noch war die Situation in Frankreich. Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1995 hatte Jean Marie Le Pen 15% der Stimmen im ersten Wahlgang erhalten, sieben Jahre später gelang es ihm – vor allem Dank der Schwäche der französischen Linken – in die Stichwahl gegen Jacques Chirac zu kommen. Der Front National blieb trotz der internen Machtkämpfe zwischen Bruno Mégret und Jean Marie Le Pen ein wichtiger Faktor der französischen Innenpolitik. Im Jahr 2000 bemühte sich Präsident Jacques Chirac um eine scharfe Abgrenzung des bürgerlich-konservativen Lagers von den Rechtsradikalen, und so wie in Belgien diente die Ausgrenzung der FPÖ und Österreichs auch der innenpolitischen Abgrenzung. Die deutsche Reaktion auf die Sanktionen war deutlich zurückhaltender. Die Bundesregierung unter der Leitung von Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer unterstützte zwar die Sanktionen der EU-14, trat jedoch im Gegensatz zur französischen Regierung nicht als treibende Kraft auf. Ausschlaggebend hierfür waren zwei Motive: Zum einen wollte die Bundesregierung in keiner Weise den Verdacht erwecken, Sympathie oder auch nur Verständnis für eine politische Partei zu zeigen, die nach dem Urteil der europäischen Öffentlichkeit als rechtsradikal galt oder gar neonazistisch war. Ein solcher Schritt hätte jede deutsche Regierung, gleich welcher parteipolitischen Zusammensetzung, in Erklärungsnotstände gebracht, zumal einige Kommentatoren im In- und Ausland darauf hinwiesen, dass es sich bei der Ausgrenzung der ÖVP nicht nur um ein Signal an Österreich, sondern auch an die Bundesrepublik Deutschland handelte. Mindestens ebenso wichtig war der Aspekt, dass sich die Bundesregierung in dieser Frage auf keinen Fall in einen Gegensatz zur französischen Regierung bringen lassen wollte, die sich eindeutig positioniert hatte. Jede deutsche Regierung musste darum bemüht sein, Konflikte um die Deutung des Nationalsozialismus mit Frankreich aus übergeordneten politischen Gründen zu vermeiden. Aus diesem Grund bemühte man sich in Berlin, die Haltung der EU-14 zu übernehmen, ohne selbst die Initiative zu ergreifen. Im Gegensatz zur Regierung Schröder/ Fischer hatte der Vorsitzende der CSU und bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber schon im Herbst 1999 für eine Koalition aus ÖVP und FPÖ plädiert. Hier mag die traditionelle Furcht der CSU vor dem Erstarken einer Protestpartei rechts der CSU eine Rolle gespielt haben. Auf dem Höhepunkt der Krise im Frühjahr

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2000 jedoch war die CDU/CSU wegen des gleichzeitig diskutierten Spendenskandals der Partei nicht handlungsfähig. Insgesamt wurde die Position der nationalen Regierungen während der Österreich-Krise mithin durch zwei Faktoren bestimmt: Zum einen spielte die innenpolitische Situation, vor allem die jeweils nationalen Probleme mit rechtspopulistischen Parteien eine Rolle. Es ging darum, durch ein entschiedenes Auftreten gegen die FPÖ den eigenen Wählern vor Augen zu führen, wohin eine rechtspopulistische Regierungsbeteiligung in Europa führen könnte. Dies war vor allem in Frankreich und Belgien der Fall. Zweitens dürfte – auch wenn er aus den gegenwärtig zugänglichen Quellen schwer rekonstruierbar ist – der Einfluss der Sozialistischen Internationale eine Rolle für die sozialdemokratisch geführten Regierungen gespielt haben. Schließlich wurden die nationalen Positionen durch das politische Gefüge der EU bestimmt: Die französische Regierung hatte sich eindeutig positioniert, die deutsche Bundesregierung wollte sich nicht in Gegensatz zu ihr bringen lassen. Damit waren die beiden Führungsmächte der EU in der Österreich-Frage einig und zogen auf diese Weise kleinere europäische Staaten mit sich. Die Position der nationalen Akteure wurde also in je unterschiedlicher Weise durch eine Mischung von innen- und außenpolitischen Motiven bestimmt. Eine dritte wichtige Akteursgruppe des Skandals waren neben den europäischen Institutionen und den nationalen Regierungen die Medien. Allerdings unterscheidet sich der Österreich-Skandal in einem wesentlichen Punkt von der eingangs geschilderten Typologie des Medien-Skandals: Es war keine klassische mediale Enthüllung, die den Skandal auslöste. Der Österreich-Skandal wurde ausgelöst durch die Erklärung des portugiesischen Regierungschefs Guterres, die allerdings ihre Wirkung nur entfalten konnte, weil die angekündigten diplomatischen Maßnahmen in ihrer Härte außergewöhnlich waren. Diese Härte sollte auf den Skandal der Regierungsbeteiligung der FPÖ hinweisen, die Ankündigung der Maßnahmen entsprach demnach in gewisser Weise der Enthüllung des Skandals. Erst hierdurch wurde eine umfangreiche Berichterstattung und Kommentierung, vor allem in Frankreich und Deutschland, ausgelöst: Stefan Seidendorf hat in seiner Analyse deutscher und französischer Medien zwischen dem 24. Januar und dem 30. Dezember 2000 alleine in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen, Le Figaro und Le Monde 573 Berichte und Kommentare gezählt.12 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch die europäischen Medien erheblich zur Beschleunigung des Skandals beigetragen haben, auch wenn er nicht durch

12 Eine Analyse bei: Stefan Seidendorf, Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse? Ein Vergleich französischer und deutscher Printmedien, Baden-Baden 2007.

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Enthüllungsjournalismus ausgelöst wurde, sondern durch die gezielte politische Provokation.

IV Die Inhalte des Skandals Worum ging es eigentlich bei der Skandalisierung der ÖVP-FPÖ-Regierung? Der Sprecher der portugiesischen Regierung erklärte am 2. Februar 2000, dass die grundlegenden Werte der Gemeinschaft verteidigt werden müssten: Die EU-14 „should continue to defend the essential values that underpin the European construction and which are also the reference framework for the way the European Union behaves in its external relations.“13 Damit war die inhaltlich entscheidende Ebene des Skandals angesprochen, es ging um die Werte der ‚Europäischen Konstruktion‘. Diese jedoch sind keineswegs klar, geschweige denn unumstritten. Man könnte die Geschichte Europas auch als Geschichte der Debatte um die europäische Identität schreiben.14 ‚Europa‘ war und ist, wie man in Anschluss an die Nationalismus-Forschungen Benedict Andersons sagen kann, eine „vorgestellte Gemeinschaft“. Europäische Identität beruht auf der dynamischen, immer wieder neu entstehenden Selbstzuschreibung der Europäer. Oder, wie Wolfgang Schmale treffend formuliert, Europa ist da, wo Menschen von Europa reden und schreiben, wo Menschen Europa malen oder in Stein meißeln, oder anders ausgedrückt, wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und dem Begriff Europa Sinn und Bedeutung konstituieren.15

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, von einer konstruktivistischen europäischen Identität zu sprechen,16 zu deren Merkmalen Begriffe bzw. Phänomene wie die Antike und das Christentum, die Menschenrechte oder auch die Vorstellung friedlichen Zusammenlebens gehören. Charakteristisch war, dass die Begriffe jeweils für eine gewisse Zeit gemeinschaftsbildend wirkten, weil eine Mehrheit die Vorstellung von der jeweiligen europäischen Identität teilte. So betrachtet, war auch der Österreich-Skandal Bestandteil eines konstruktivistischen europäischen Identitäts-Diskurses.

13 Erklärung Francisco Seixas de Costa, Agence Europe, 03.02.2000. 14 Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008. 15 Ders., Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 14. 16 Begriffsklärung bei Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 198–220.

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Er stand an einem Wendepunkt dieses Diskurses, an dem eine neue Begrifflichkeit von europäischer Identität etabliert wurde. Die hier zu Grunde liegenden Absichten brachte Ferdinando Riccardi, Chefredakteur der Agence Europe in einem Kommentar auf den Punkt: Selon Max Kohnstamm, si l’Europe unie d’aujourd’hui avait existé auparavant, il n’y aurait même pas eu Hitler ni la Deuxième Guerre mondiale! Nous ne savons pas s’il a raison, mais nous avons encore dans les oreilles sa voix brisée par l’émotion lorsqu’il nous exprimait au téléphone cette conviction. Peut-être qu’en lisant les lignes qui précèdent, quelques lecteurs comprendront mieux les raisons de la passion qui nous habite, ensemble avec quelques autres, lorsque nous parlons de la construction européenne et de la sauvegarde de notre civilisation commune.17

Es ging darum, das oft als abstrakt und identitätslos bezeichnete politische Gebilde der EU mit Werten zu füllen, ihm eine gemeinsame Mission zu geben, um den oft beklagten Mangel an europäischer Identität zu überwinden. Insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre hatte in Westeuropa – mit einiger Verzögerung auch im Osten des Kontinents – eine Debatte über den Umgang des jeweiligen Nationalstaates mit dem nationalsozialistischen Deutschland eingesetzt. Das bislang in allen europäischen Staaten dominierende Selbstverständnis der unterschiedlichen Nationen, die sich über ihre Mitwirkung am Widerstand gegen NaziDeutschland definierten, wurde zunehmend in Frage gestellt, ein oft schmerzhafter Prozess, weil gerade der Widerstand des Landes gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg in den meisten Ländern wesentlicher Bestandteil nationaler Einigungsnarrative geworden war. Jetzt wurde deutlich, dass der Widerstand keineswegs so allumfassend war, wie oft dargestellt, dass es vor allem im Kontext des Mordes an den europäischen Juden erhebliche Kollaborationsbereitschaft mit den Deutschen gab, ohne die der Völkermord in diesem Ausmaß kaum hätte realisiert werden können.18 In diesem Kontext entwickelten sich – neben anderen – die Ablehnung und der Kampf gegen Rassismus und Totalitarismus zu einem wesentlichen Bestandteil des europäischen Identitätsdiskurses. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war die internationale Holocaust-Konferenz, die auf Einladung der schwedischen Regierung vom 26. bis 28. Januar 2000 – also exakt zeitgleich mit der Eskalation des Skandals um Österreich – unter dem Titel Holocaust: Erziehung, Gedenken und Forschung in Stockholm stattfand. Hier wa-

17 Ferdinando Riccardi, „Grâce à l’affaire autrichienne, l’opinion publique a découvert la nature politique de l’Europe unie“, in: Europe, 08.02.2000, S. 1 f. 18 Übersicht bei Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, 2 Bd., Berlin 2004; Norbert Frei/Volkhard Knigge (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002.  

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ren keineswegs nur Wissenschaftler vertreten, der Schwerpunkt lag vielmehr im politischen Bereich. Zu den Teilnehmern gehörten neben dem polnischen Staatspräsidenten Alexander Kwasniewski der französische Ministerpräsident Lionel Jospin, der britische Außenminister Robin Cook, Bundeskanzler Gerhard Schröder und – per Video zugeschaltet – der amerikanische Präsident Bill Clinton. Alle Beteiligten betonten, dass es Ähnliches wie den Holocaust nie wieder geben dürfe und bekräftigten damit den moralischen Konsens, der zuvor in zahllosen Museen und Denkmälern zur Erinnerung an die Opfer des Völkermordes in vielen europäischen Hauptstädten seinen Ausdruck gefunden hatte. Das öffentliche Bekenntnis gegen Rassismus und Totalitarismus hatte sich zu einer der wichtigsten geistigen Klammern europäischer Einheit und Identität entwickelt. Das spiegelt sich auch in der Einrichtung des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus durch die Bundesrepublik Deutschland am 3. Januar 1996. Schon zuvor hatten Israel, Italien und Großbritannien Gedenktage eingeführt, am 1. November 2005 erklärte auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar (der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahre 1945) zum internationalen Holocaust-Gedenktag. Am 28. November 2008 verabschiedete die EU einen Rahmenbeschluss, der „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ unter Strafe stellte.19 Alle diese Schritte waren Bestandteil eines in Europa und den USA geführten transnationalen Identitätsdiskurses, der sich auf den politischen Kampf gegen Totalitarismus und Gewaltherrschaft im Allgemeinen richtete und aus der europäischen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus speiste.20 Vor diesem Hintergrund diente die Skandalisierung der Vorgänge in Österreich der Formulierung der europäischen Identität, so wie sie von den Institutionen der EU gewünscht wurde. Die absichtsvolle Skandalisierung sollte verdeutlichen, dass rechtspopulistische Politiker, die sich bewusst der antirassistischen und antitotalitären Rhetorik entziehen, um rechte Wählerstimmen zu mobilisieren, nicht akzeptiert wurden. Die FPÖ und Jörg Haider waren zu willkommenen Projektionsflächen dessen geworden, was Europa nicht sein sollte. Umgekehrt konnte durch die Skandalisierung zugleich geklärt werden, was Europa sein soll: Eine Festung gegen Rassismus und Rechtsradikalismus. Die Skandalisierung diente daher dazu, öffentlich zu klären, was richtig und was falsch ist, was gesell-

19 „Rahmenbeschluss zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ vom 28.11.2008, in: Amtsblatt der Europäischen Union, Nr. L 328, 6.12.2008, S. 55–58, hier: S. 56. 20 Vgl. auch Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München/Wien 2006, insbesondere den Epilog.

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schaftlich akzeptiert wird und was geächtet werden muss. Das war auch eine Machtfrage: Es ist interessant zu beobachten, dass es vor allem die französische und die belgische Regierung waren, die den Diskurs zu bestimmen versuchten, tatkräftig unterstützt vom Europäischen Parlament. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen, die in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine strukturelle Führungsrolle einnimmt, spielte in diesem moralischen Diskurs eine untergeordnete Rolle. Manche Beobachter waren sogar der Meinung, dass sich die Initiative zwar vordergründig gegen Österreich richte, Deutschland aber in gleicher Weise gemeint sei. Es handele sich um einen Präventivschlag gegen deutschen und österreichischen Rechtspopulismus. So schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 17. Februar 2000: Selbst die Bundesregierung […] konnte sich nicht dem sich seit der Stockholmer HolocaustKonferenz aufbauenden internationalen Meinungsdruck entziehen, der jeden Politiker, vor allem aber jeden deutschen, in ein finsteres Eck stellt, wenn er nicht mit Wort und Tat beweist, dass er der aufrechteste aller deutschen Antifaschisten ist.21

Aus dieser Perspektive war es nicht verwunderlich, dass solche Akteure eine führende Rolle übernahmen, die sonst politisch schwach waren (Belgien, Europäisches Parlament), bzw. sich ökonomisch Deutschland unterlegen fühlten (Frankreich). Noch ein anderer Aspekt verdient Beachtung. Medien spielen eine zentrale Rolle in Skandalen – die Existenz von Massenmedien wird wohl zu Recht als Voraussetzung für den Skandal der Moderne betrachtet – ebenso wie Skandale gleichzeitig Öffentlichkeit erzeugen. Beide stehen in einem symbiotischen Verhältnis zueinander: Massenmedien sind Voraussetzung für die Skandalisierung, sonst könnte der Skandal nicht enthüllt und mit gesellschaftlicher Relevanz diskutiert werden. Andererseits liefern Skandale die Inhalte der Medien; erst durch die Enthüllung eines Skandals werden, so eine mögliche These, Massenmedien für Konsumenten interessant. Aus diesem Grunde gehören Medien und Skandale untrennbar zusammen. Zugleich dienen beide in zentraler Weise der Konstruktion einer Öffentlichkeit, in der verschiedene gesellschaftliche Milieus und Foren (Medien, Parlamente, Formen und Räume der Geselligkeit) miteinander verknüpft wurden. Wie Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und andere gezeigt haben, lassen sich Öffentlichkeiten zudem als Voraussetzung für die Entstehung von (nationalen) Gemeinschaften ansehen. Erst durch gemeinsame Kommunikation, so die These, entstehen moderne Gemeinschaften. Aus dieser Perspektive war der Österreich-Skandal ein bemerkenswertes Beispiel für eine transnationale Medien-

21 FAZ, 17.02.2000.

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Öffentlichkeit, die in Bezug auf Europa ebenfalls seit einigen Jahren diskutiert wird.22 Im Kontext des Österreich-Skandals entstand, das hat Stefan Seidendorf nachgewiesen, zumindest eine deutsch-französische mediale Öffentlichkeit, in der die jeweilige Haltung zur ÖVP-FPÖ-Regierung diskutiert wurde.23 Diese Öffentlichkeit kann auf zwei Ebenen nachgewiesen werden: Zum einen wurde die Österreich-Frage im Frühjahr 2000 in den Medien nahezu aller westeuropäischen Staaten gleichzeitig diskutiert, sie schuf für einige Monate eine Konvergenz des öffentlichen Interesses in Europa. Insbesondere am deutsch-französischen Beispiel lassen sich darüber hinaus noch wechselseitige Bezugnahmen unter den führenden Tageszeitungen beobachten. Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche Zeitung auf der einen, Le Figaro und Le Monde auf der anderen Seite bildeten für einige Monate einen gemeinsamen Kommunikationsraum, wobei sich transnationale, gemeinsame Positionen zwischen der Süddeutschen und Le Monde ausmachen lassen. Zudem ließ die FAZ verschiedentlich französische Autoren zu Wort kommen in Texten, die in deutscher Übersetzung aus Le Monde stammten.24 Damit ist eine weitere wesentliche Funktion von Skandalen im Allgemeinen definiert: Sie wirken gemeinschafts- und damit identitätsbildend. Skandale dienen der gemeinschaftlichen Verständigung auf konkrete Werte, und in diesem Sinne wirken sie raumbildend. Der Österreich-Skandal schuf einen Kommunikationsraum, der nicht alleine die EU-Staaten oder europäische Nationen umfasste, sondern auch Kanada und die USA, die ebenfalls ihre diplomatischen Vertreter kurzzeitig aus Wien zurückriefen und damit auf die Skandalisierung reagierten. Es entstand so ein transnationaler politischer Raum, der durch die Definition von Werten gekennzeichnet war, wobei für diese Frage irrelevant ist, dass die völkerrechtliche Rechtmäßigkeit der konkreten politischen Schritte insbesondere der EU-14 höchst umstritten war. Innerhalb dieser durch Regierungen und Medien geschaffenen transnationalen Öffentlichkeit bildete der deutsch-französische Raum interessanterweise ein Kerngebiet im Sinne eines gemeinsamen Kommuni-

22 Vgl. Klaus Eder/Kai Uwe Hellmann/Hans Jörg Trenz, „Regieren in Europa jenseits der öffentlichen Kommunikation? Eine Untersuchung zur Rolle von politischer Öffentlichkeit in Europa“, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 29/1998, S. 321–344. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernick (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeit und Identität im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2002; Hartmut Kaelble, „The Historical Rise of an European Public Sphere?”, in: JEIH, 8/2002, S. 9–22; Guido Thiemeyer, „,Maastricht‘ in der öffentlichen Debatte. Eine deutsche und eine französische oder eine deutsch-französische Diskussion?“, in: Jean-Francois Eck/Dietmar Hüser (Hrsg.), Medien – Debatten – Öffentlichkeiten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, S. 307–320. 23 Vgl. Seidendorf, Europäisierung, S. 262–305. 24 Ebd., S. 297.

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Guido Thiemeyer

kationsraumes, in dem nicht nur die gleichen Themen diskutiert wurden, sondern wesentliche Leitmedien aufeinander Bezug nahmen.

V Fazit Der Österreich-Skandal des Jahres 2000 weicht von der sozialwissenschaftlichen Skandal-Typologie in signifikanter Weise ab. Der Skandal wurde nicht durch die Medien enthüllt, sondern die Initiative zur Skandalisierung ging von der Politik aus. Es war der Beschluss der EU-14 vom 31. Januar 2000, der den Skandal bewusst auslöste, indem sie mit ungewöhnlich scharfen und völkerrechtlich umstrittenen diplomatischen Instrumenten auf die Bildung einer formal demokratisch legitimierten Regierung in Österreich reagierten. Erst diese Reaktion führte zur Skandalisierung der ÖVP-FPÖ-Regierung. Es folgte eine erregte, zum Teil polemisch ausgetragene öffentliche Debatte, die erst im Sommer 2000 endete, als das „Komitee der Weisen“ die Rechtmäßigkeit der österreichischen Regierungsbildung bestätigte und Jörg Haider seinen Rückzug aus der österreichischen Bundespolitik erklärt hatte. Wesentliche Akteure des Skandals waren die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union unter der Leitung des portugiesischen Ministerpräsidenten Guterres, die Regierungen Frankreichs und Belgiens, das Europäische Parlament und – in ihrer Bedeutung auf der gegenwärtigen Quellengrundlage nicht genau zu definieren – die Sozialistische Internationale. Diese Akteure trieben die Skandalisierung der österreichischen Regierungsbildung voran, andere Regierungen akzeptierten die Führung dieser Akteure aus unterschiedlichen Motiven. Wichtig war auch die Rolle der Medien, die den Skandal thematisierten. Bemerkenswert war das Zusammenspiel von innen- und außenpolitischen Motiven. Insbesondere in Belgien und Frankreich war die aggressive Politik gegenüber der FPÖ auch ein Signal an die eigene Bevölkerung, die Stimme keinesfalls einer rechtsradikalen oder rechtspopulistischen Partei zu geben. Gerade in diesen beiden Ländern hatten die Parteien der extremen Rechten Ende der 1990er Jahre beträchtlich an Einfluss gewonnen. Aus deutscher Sicht spielten ebenfalls innenpolitische Motive eine Rolle (insbesondere für die im Bund oppositionelle CSU). Die Politik der Bundesregierung wurde aber in starkem Maße von außen- und europapolitischen Motiven geprägt: Es ging darum, keinesfalls einen Konflikt mit Frankreich zu riskieren, das sich in der Frage der ÖVP-FPÖ Regierung so eindeutig positioniert hatte. Die Bundesregierung bemühte sich, die Solidarität mit der westlichen Gemeinschaft, vor allem im Rahmen der EU, zu demonstrieren. Nimmt man die Inhalte in den Blick, dann ergeben sich zwei zentrale Dimensionen des Skandals: Zum einen markiert er einen Wendepunkt in der Debatte um

Der Skandal als Konstruktion eines transnationalen Kommunikationsraumes

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die Werte und die Identität der Europäischen Union. In diesem Kontext hatten bis in die 1970er Jahre hinein Begriffe wie Antike und Christentum eine wichtige Rolle gespielt; auch der Antikommunismus wirkte bis 1990 identitätsstiftend. Seither wurden neue geistige Fermente für die Gemeinschaft gesucht, und die Abwehr von Rassismus und Rechtsradikalismus unter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, die Kollaboration und den Holocaust rückten seit den 1990er Jahren in den Vordergrund. Hier ist auch ein wichtiger Grund dafür zu finden, warum die Beteiligung des zuvor rechtsextremen MSI unter Gianfranco Fini in Italien 1994 nicht zu ähnlichen Reaktionen der europäischen Öffentlichkeit geführt hatte. Noch war die Debatte um Kollaboration und Holocaust nicht auf Regierungsebene angekommen, auch wenn die Fragen durchaus in den je nationalen Öffentlichkeiten bereits kontrovers diskutiert wurden. Aus dieser Perspektive hatte der Skandal um Österreich noch eine zweite Konsequenz: Er schuf für einen begrenzten Zeitraum von ca. einem halben Jahr einen transnationalen Kommunikationsraum, der im Wesentlichen Westeuropa umfasste. Für Deutschland und Frankreich konnte in dieser Zeit eine besonders intensive transnationale Medien-Öffentlichkeit nachgewiesen werden, weil die Österreich-Frage in beiden Ländern nicht nur gleichzeitig ein zentrales Thema der Leitmedien war, sondern auch eine grenzüberschreitende Debatte stattfand, in der Deutsche und Franzosen in den Medien über die Konsequenzen der EU-Politik gegenüber Österreich diskutierten. Damit ist eine weitere Funktion von Skandalen benannt: Sie schaffen – zumindest für einen begrenzten Zeitraum – öffentliche Räume, die bisweilen unabhängig von Nationalstaaten existieren können.

Michael Dellwing, Kassel

Doing Scandal: Skandal als Performativität des radikalen Beziehungsbruchs Wenn Skandale untersucht werden, dann regelmäßig in Bezugnahme auf Brüche sozialer Normen. Diese werden als ‚Gründe‘1 der Skandale identifiziert, was dann als ‚normale‘ Variante thematisiert wird.2 Alternativ wird bemängelt, wenn Skandale auf ‚ungenügender Basis‘, nämlich mit ‚fehlenden‘ zugrundeliegenden Normbrüchen, aufkommen3 – und umgekehrt, wenn Normbrüche identifiziert werden, die ohne größere Reaktion vorbeigezogen waren. An diese ‚Unregelmäßigkeiten‘ können dann Untersuchungen angeschlossen werden, die die Regelmäßigkeiten dieser Unregelmäßigkeiten aufzudecken versuchen, indem sie feststellen, auf welche Normbrüche wie wann reagiert wird (und weshalb). Diese Variante nimmt häufig einen kritischen Duktus an und stellt dann ‚Interessen‘, ‚Macht‘ und andere Einflussfaktoren in den Vordergrund, die als die ‚wahren‘ Gründe für Skandalisierungen (oder ihr Ausbleiben) präsentiert werden können, wenn festgestellt wurde, dass die Verbindung zur Norm ‚unregelmäßig‘ war.4 Diese Version behält jedoch immer noch die Normbindung bei, dann als ‚unerreichtes Ideal‘ oder als Grundlage, auf deren Basis der zweite Vergleich erst möglich wurde.

1 Ich verwende Anführungszeichen, um Aufmerksamkeit für die Tatsache zu generieren, dass es sich hier auf breiter Basis um soziale Konstruktionen handelt, Konstruktionen, die in ihrer Verwendung fixiert und objektiviert werden. Diese Objektivierung lässt sie fest erscheinen; eine soziologische Analyse muss von diesen Verwendungen ausgehen, ohne sie zu teilen, kann aber nicht ohne sie. Die folgende Darstellung wird diesen Punkt, hoffe ich, ausführlicher verdeutlichen; vgl. auch Heinz Bude/Michael Dellwing, Stanley Fish. Das Recht möchte formal sein. Essays, Berlin 2011. 2 Das war der dominante Modus in einigen Beiträgen der Konferenz, zu der dieser Band erstellt wurde; in der wissenschaftlichen Betrachtung außerhalb dieses Rahmens siehe Bulkow und Petersen, die von der „Interdependenz von Skandal und Norm“ sprechen, Kristin Bulkow/Christer Petersen, „Skandalforschung: Eine methodologische Einführung“, in: dies. (Hrsg.), Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 9–25, hier: S. 9. 3 Bulkow und Petersen sprechen hier mit Jean Baudrillard von „Simulakren“ von Skandalen, ebd. 4 Steffen Burkhardt erkennt hierin den „relevanten Vorwand für die Ausgrenzung Einzelner und für die Abgrenzung von Vielen“, Ders., „Skandal, mediatisierter Skandal, Medienskandal“, in: Bulkow/Petersen, Skandale, S. 131–156, hier: S. 131.

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Diese Herangehensweise an Skandalisierungen ist um den Bruch sozialer Normen und um Macht und Interessen als Dreh- und Ankerpunkte herum organisiert. Damit baut sie auf der Prämisse der Sicherheit auf, dass soziale Prozesse normativ geordnet ablaufen und erhebt das zur Legitimation erforderliche Vorderbühnenvokabular zur Prämisse ihrer Erklärung:5 Was zur sozialen Rechtfertigung der Skandalisierung verwendet wird, taucht in ihr als abstrakter Faktor auf – als wären Normbruch und Empörungsgenerativität als einfache, objektive Faktoren in der Welt vorhanden. So beteiligt sich die Perspektive, die nach den Normbrüchen sucht, an genau den sozialen Rechtfertigungsprozessen, die eine Skandalisierungsforschung analysieren sollte. Sieht man die soziale Welt nicht als Raum einer erkennbaren Ordnung an, in der Objekte als abstrakte ‚Faktoren‘ mit anderen verbunden sind, sondern als einen offenen Prozess beständiger Aushandlung sozialer Bedeutungen, zu denen auch die Bedeutungen von Handlungen, Personen (= Identitäten), Normen und Ideen gehören, kann von einer solchen Beteiligung Abstand genommen werden.6 In einer interaktionistischen Perspektive wird ein solches Vertrauen auf Normen, Interessen oder Macht als ‚Einflussfaktoren‘ problematisiert, gemeinsam mit jeder Form stabiler Theoretisierung von Kausalitäten in Abläufen von Skandalisierungsprozessen.7 In der Folge wird ein Raum der Thematisierung des Skandals

5 Der Begriff des „Vorderbühnenvokabulars“ knüpft an Erving Goffmans Begriff der „front-stage“ an, der Darstellung vor einem öffentlichen Publikum (Erving Goffman, The presentation of self in everyday life, New York 1959, S. 106–108), vor dem eine Darstellung aufrechterhalten werden muss, ein Begriff, der die Praxis der Gruppe als eine solche präsentiert, die nach den Kriterien dieser Zuschauer legitim ist. Auf „Hinterbühnen“, „backstages“, wird dagegen eine Präsentation sozialer Realität aufgeführt, die diese öffentliche Legitimität zurücklässt. Diese ist nicht ‚echter‘, sondern findet in einem anderen Kontext statt, in dem die öffentlichen Ideen von Legitimität häufig als naiv belächelt werden können. ‚Macht‘ und ‚Interessen‘ sind das Hinterbühnenvokabular in der öffentlichen Diskussion: Vor einem Publikum werden Prinzipien, Moral, Recht als Gründe präsentiert, die auf der Hinterbühne aber fallengelassen werden (vgl. Judith Schmelz, „The backstages of the political establishment“, unveröffentl. Vortragsmanuskript 41th Annual Conference of the European Group for the Study of Deviance and Social Control, Oslo 2013). Sie sind dagegen Vorderbühnenvokabular des kritischen Projekts: Hier wird vor Publikum auf Macht und Interessen als Erklärung für Verhalten gebaut. 6 Vgl. Herbert Blumer, Symbolic Interactionism: Perspective on Method, Berkeley 1986 [1969]. Blumer bemerkt, dass eine interaktionistische Thematisierung die Interaktion nicht als „neutrales Verbindungsglied“ zwischen Normen, Strukturen, etc. und Handlungen sieht, was ihnen ihre Erklärungsmacht raubt und es stattdessen erforderlich macht, kontextuelle Situationen zu betrachten, vgl. S. 61–63. 7 Das geht damit einher, die Kausalfrage nach den ‚Ursachen von was-auch-immer‘ als unterkomplex und zu rigide aufgeben zu müssen. Vgl. Friedhelm Neidhardt, „Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen

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geöffnet, in dem nicht ‚der Skandal‘ als Objekt im Verhältnis zu ‚Normen‘ (oder ‚Interessen‘ oder ‚Macht‘) als Objekte übrig bleibt, sondern ‚Skandalisieren‘ (und ‚Normieren‘, ‚Interessieren‘ und ‚Kontrollieren‘) als Handlungen, offene soziale Prozesse, in denen multiple Bedeutungen in sozialer Interaktion emergieren. Was übrig bleibt, wäre eine Ethnografie der Skandalisierung statt einer Theorie des Skandals, eine Untersuchung von eigendynamischen (und unkonsolidierbar unordentlich-pluralen) Skandalisierungsprozessen statt der Stütze der Analyse auf abstrakte ‚Normen‘, ‚Interessen‘ oder ‚Mächte‘. Fragen wie die nach den Gründen, warum ‚gewisse Normbrüche skandalisiert werden und andere nicht‘ würden sich dann nicht mehr stellen: Sie werden für wissenschaftliche Betrachter sogar unverständlich, da sie unhinterfragt voraussetzen, dass ein Normbruch in der Welt läge, ohne zu bemerken, dass diese Bedeutung auch erst zugeschrieben und dramatisiert wurde. Wird dies übersehen, wirken Analysten an den Konstruktionen dieser Prozesse vielmehr implizit mit: Sie würden zu Akteuren im Skandalisierungsdrama anstelle von wissenschaftlichen Beobachtern desselben.

I Normbruch als Definitionsprozess Adut unterscheidet zwischen „objektivistischen“ und „konstruktionistischen“ Positionen in der Skandalforschung.8 Erstere suchen die „significant transgressions such as political or corporate corruption that elicit (or should elicit) reaction once publicized“9 und haben als Ziel, die Systematik der Übertritte zu erkennen, die zu Skandalen führen oder führen sollten. Im Rahmen einer solchen Position tritt eine scharfe Transgression, die nicht zum Skandal führt, als Dysfunktion oder Fehler hervor, dessen Gründe gesucht werden müssen, wie in einer objektivistischen Position in der Devianzsoziologie eine fehlende soziale Reaktion ein ‚Nichterkennen‘ oder gar interessiertes Ignorieren darstellen könnte. Dagegen steht die ‚konstruktionistische‘ Variante der Skandalforschung, in der nicht die Transgressionen, sondern die sozialen Konstruktionen des Skandals im Zentrum der Untersuchung stehen. Für diese ist nun die öffentliche Reaktion als konstituierendes Element einer Bedeutungszuschreibung zentral.10 Aus dieser Position kann eine

Gruppe“, in: Heine von Alemann/Hans Peter Thurn (Hrsg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum 75. Geburtstag, Opladen 1981, S. 244; Michael Dellwing, „Langeweile mit der Eindeutigkeit“, in: ders./Helge Peters (Hrsg.), Langweiliges Verbrechen, Wiesbaden 2011. 8 Vgl. Ari Adut, On Scandal. Moral Disturbances in Society, Politics and Art, Cambridge 2008. 9 Ebd., S. 8. 10 Ebd., S. 9.

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Prozessbetrachtung der Skandalisierung begründet werden, in der die eigenen Interpretationen von Normen und Normbrüchen der beobachtenden Wissenschaftler als Missverständnisse gesehen werden können: Normbrüche sind keine ‚gegebenen Objekte‘, vielmehr kann festgestellt werden, dass die soziale Welt eine beständig fließende Produktionsstätte sozialer Bedeutungen darstellt, in der all die putativen ‚Merkmale‘ immer wieder konstituiert und rekonstituiert werden, ihre Bedeutungen sich beständig in Interaktion miteinander verschieben. Die Frage, warum einige Normbrüche zu Skandalisierungen führen, während andere (putativ schwerwiegendere) Normbrüche unskandalisiert bleiben, ist erst auf Basis der Annahme möglich, dass Normbrüche als beobachtbare und für Beobachter überprüfbare Phänomene in der Welt liegen. Thematisierungen des ‚Skandals‘, die von emotionalisierten öffentlichen Inszenierungen von Normbrüchen sprechen, gehen ebenso von dieser Prämisse aus. Beide nutzen ‚Norm‘ (und damit ‚Normbruch‘) als Maßstab, der an den Skandal angelegt werden kann. Diese Annahme ist jedoch schwerwiegend und stellt, wie die interaktionistische Soziologie bereits vor Jahrzehnten bemerkt hat, eine Teilnahme am zu untersuchenden Phänomen dar. Wer als beobachtender Sozialwissenschaftler einen ‚Normbruch‘ konstatiert, greift definierend in das Feld ein, dessen Definitionen sein originäres Erkenntnisinteresse sein sollten.11 Während ‚objektivistische‘ Positionen von ‚Normbrüchen‘ als sozialen Tatsachen ausgehen, sieht die interaktionistische Devianzforschung den ‚Normbruch‘ als Zuschreibungsergebnis eines interaktiven und vor allem offenen Zuschreibungsprozesses.12 Die Sinnzuschreibung eines ‚Normbruchs‘ ist eine dramaturgische Leistung, die in einer konkreten Situation zwischen konkreten Akteuren erbracht wird, keine erkennbare, objektive Tatsache. ‚Norm‘ und ‚Normbruch‘ sind hier zunächst claims,13 Definitionen der Situation,14 die in einer konkreten Situation, einem konkreten Kontext und mit konkreten Zielen aufkommen und die der Ausdruck einer gebrochenen Situation sind; diese Definitionen bewähren sich nicht an einer ‚gegebenen‘ Realität, sondern an den Reaktionen signifikanter 11 Vgl. Robert Prus, Symbolic Interaction an Ethnographic Research, Albany 1996; John Kitsuse/ Malcolm Spector, Constructing Social Problems, New Brunswick 2001 [1977]. 12 Vgl. Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1973; Jack P. Gibbs, „Sanctions“, in: Social Problems, 14/1966, S. 147–159; Walter Gove (Hrsg.), The Labelling of Deviance, New York 1975; Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980; Ders., Phänomene der Macht, Tübingen 1992. 13 Vgl. Kitsuse/Spector, Constructing; Peter Ibarra/John Kitsuse, „Vernacular Constituents of Moral Discourse: An Interactionist Proposal for the Study of Social Problems“, in: James A. Holstein/Gale Miller (Hrsg.), Reconsidering Social Constructionism, New York 1993, S.25–58. 14 Vgl. Dorothy Swaine Thomas/William I. Thomas, The Child in America: Behavior Problems and Programs, New York 1929; Blumer, Symbolic Interactionism.

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Anderer.15 Normbrüchig ist damit das, was in einer signifikanten peergroup erfolgreich als Normbruch definiert wird. Sie sind weder Abpausen objektiver Gegebenheiten noch individuell-solipsistische Leistungen, da sie im Rahmen der Erwartungen an die Reaktionen in einem relevanten und ganz konkreten sozialen Raum erst auftreten können. Blumer nennt das die „hartnäckige Realität“, die nicht die Form von objektiv Gegebenen annimmt, sondern den Raum der Definitionen konkreter Anderer.16 In dem Maße, in dem diese Definitionen sich auch immer wieder im Prozess des aufeinander Beziehens verändern, ist das Hartnäckige an dieser Realität die Präsenz Anderer, die den sozialen Raum bevölkern. Devianzforschung als Norm-, Prävalenz- und Ursachenforschung ist für diese Perspektiven ‚langweilig‘: solche klassischen Beschäftigungen mit dem Feld konstruieren das Feld mit, das zu untersuchen sie vorgeben.17 Wo es keine ‚abstrakte‘ Bedeutung von Normen oder ‚richtige‘ Identität gibt, sind die Ergebnisse von Aushandlungen in hartnäckig sozialen Räumen alles, was als Bedeutung emergieren kann und stehen damit nicht als Affront gegen eine Realität, die sie ‚repräsentieren‘.18 Normbruchsvorwürfe rufen, wenn sie erfolgreich sind, soziale Kittleistungen hervor (als aligning actions19): accounts als Rechtfertigungen und Entschuldigungen, Gegenvorwürfe oder eben auch ‚Warum-Reden‘ als Kittleistung.20 Diese stellen fest, dass das Vorgefallene nicht normal ist (und eben daher erklärt werden muss). Die Frage ‚Warum wird auf bestimmte Normbrüche skandalisierend reagiert und auf andere nicht‘ ist als Warum-Frage ebenso eine solche Kittleistung: sie versucht eine Schließung einer Irritationssituation herbeizuführen. Da es sich jedoch um eine wissenschaftliche Frage eines wissenschaftlichen Beobachters handelt, ist die Irritation keine, die notwendigerweise im beobachteten Feld aufkommt: Wird sie diskutiert und beantwortet, als wäre sie für das Feld relevant, ist das Verständnis des Feldes hinter die eigenen Erwartungen getreten.

15 Vgl. George Herbert Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1974; Michael Dellwing, „LookingGlass Crime: Definitionskoalitionen im Prozess der Zuschreibung von Kriminalität“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 31/2010, S. 209–229, hier: S. 210. 16 Blumer, Symbolic Interactionism, S. 22. 17 Dellwing/Peters, Verbrechen, S. 201. 18 Das ist die – sehr – kurze Fassung einer Argumentation, die in der Soziologie des abweichenden Verhaltens breit geführt wurde und die hier nicht ausgeführt werden kann; zur Debatte vgl. Michael Dellwing, „Reste: Die Befreiung des Labeling Approach von der Befreiung“, in: Kriminologisches Journal, 38/2006, S. 161–178. 19 Vgl. John P. Hewitt/Randall Stokes, „Aligning Actions“, in: American Sociological Review, 41/ 1976, S. 838–849. 20 Vgl. Stanford M. Lyman/Marvin B. Scott, A Sociology of the Absurd, Dix Hills 1989, die von „accounts“ sprechen, S. 112–114; Erving Goffman, Relations in Public, New York 1971, der von „remedial interchanges“ spricht, S. 95–97; Dellwing, „Langeweile“.

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Diese Definitionsperspektive21 steht auf der Basis der interaktionistischen Soziologie mit ihrer Prämisse, dass die Bedeutung von Objekten in mehrseitigen und verwobenen sozialen Aushandlungsprozessen und damit in einem komplexen, „dicht besiedelten“22 sozialen Raum emergiert. Handelnde geben ihrer Handlung Bedeutung, die in der Aushandlung allerdings scheitern und ‚überschrieben‘ werden kann; unterschiedliche Definitionsräume können im Widerstreit zueinander stehen; Handelnde können ein Umfeld mit abweichender Definition ihrer Handlung von ihrer Bedeutungszuschreibung überzeugen, sie können Fassadenzustimmung zeigen oder Kompromisszuschreibungen können ausgehandelt werden, um gegenseitig nicht in offene Definitionskonflikte einzutreten.23 Dieses offene Spiel mit Bedeutungszuschreibungen schließt auch die Identität von Personen ein, die in der klassischen Literatur zur Konstruktion von Abweichung im Vordergrund stehen.24 Wird eine Norm an ein Verhalten angewandt, sieht der Faktorensoziologe zwei Merkmale, die vermessen und verglichen werden, um zu einem stabilen Ergebnis zu gelangen; der Prozesssoziologe dagegen sieht verschiedenste Objekte, die miteinander verwoben in einem Prozess der Bedeutungsaushandlung stehen, von denen keines mit stabilen, übersituationalen Bedeutungen ausgestattet ist. Damit verschieben sich die Bedeutungen dieser Objekte und somit diese Objekte selbst beständig. Wird eine Norm auf ein Verhalten angewandt, heißt das tatsächlich, dass eine Person (oder eine Gruppe von Personen) Normvokabular verwendet, um ein Verhalten einer anderen Person zu definieren, und das in einer bestimmten Situation, die eine Reihe weiterer bedeutungstragender Objekte beinhaltet. Diese Anwendung lässt keines dieser Objekte unangetastet und keines bietet einen festen Anker für die Verschiebung der Bedeutungen der

21 Michael Dellwing, „Rhetoriken von Norm und Risiko“, in: Soziale Passagen, 2011/3, S. 81–95, hier: S. 95. 22 Vgl. Anselm Strauss, Continual Permutations of Action, New York 1993, S. 25. 23 Erving Goffman, Presentation of Self in Everyday Life, Garden City 1959. Ibarra/Kitsuse, „Vernacular Constituents of Moral Discourse“. Ibarra/Kitsuse zeigen in ihrer Thematisierung „wohlwollender Gegenrhetorik“ Beispiele einer solchen Entgegnung. Eine Seite definiert etwas als ein wesentliches soziales Problem; die andere Seite reagiert damit, das Problem anzuerkennen, aber festzustellen, dass man nichts dagegen tun könne. Das erlaubt, offen eine gemeinsame Bedeutungszuschreibung – „ja, das ist ein Problem“ – aufrechtzuerhalten, aber diese Zuschreibung – ebenso gemeinsam – nicht zur Grundlage einer Handlung zu machen. Für die ursprünglich das Problem definierende Seite, die vielleicht eine gemeinsame Handlung wollte, mag das als Niederlage thematisierbar sein. In der Vorderbühnenaushandlung ist es jedoch keine, da es im Format „ja – aber“ präsentiert wurde und eine neue Übereinstimmung auf der Basis der Problemdefinition gefunden wurde. 24 Vgl. Howard Becker, Außenseiter, voraussichtlich Wiesbaden 2013, der bemerkt, die Gerichteten können umgekehrt ihre Richter richten.

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anderen: Die Bedeutung der Norm in dieser Situation emergiert in ihrer Anwendung durch eine Person auf eine Person und das Verhalten; die Identität der Person wird in der Anwendung der Norm auf ihr Verhalten neu bestimmt (und ihre Reaktionen und ihr Umfeld sind an dieser Aushandlung beteiligt); zufällig mit involvierte Symbole wie Kleidung, Beweismittel, mit auftretende Personen etc. werden in ihren Bedeutungen mitverhandelt; etc.25 Eine ineinandergreifende Verschiebung all dieser Symbole erfolgt mit unabsehbarem Ausgang, wenn auch mit Zielen und Erwartungen an Ausgänge, die jedoch alle enttäuscht werden können. Dazu gehören in erster Linie auch Aushandlungen sozialer Beziehungen: pragmatistische Herangehensweisen sind vor allem mit dem Projekt befasst, der Ersetzung sozialer Beziehungen durch abstrakte Ordnung, die von weiten Teilen der Sozialwissenschaft geleistet wird, zu widerstehen und umzukehren.26

II Face und reziproke Definitionsdeckung Es war besonders Erving Goffmans Anliegen, die Ausmaße offenzulegen, wie Menschen die Welt gemeinsam machen oder „tun“27 (doing social life,28 doing things together29) und in diesem Rahmen Beziehungsdefinitionen gemeinsam „tun“ (doing relationships), die ihrerseits im Zentrum von Bedeutungsaushandlungen stehen. Soziale Beziehungen sind, ebenso wie soziale Identitäten, Normen und Normbrüche, keine abstrakten Objekte in der Welt, sondern bestehen nur, solange sie gegenseitig (und in einem Kontext) definiert werden. Wesentliche Definitionspartner sind hier selbstverständlich die an der Beziehung Beteiligten; definieren sie keine Beziehung zusammen, kann schwerlich von einer Beziehung gesprochen werden. Jedoch sind Beziehungen keineswegs Folgen der individuellen Definitionen der Beteiligten: Auch Beziehungsdefinitionen sind, wie Normbruchsdefinitionen, komplexe Gebilde, bei denen Definitionen immer im Rahmen sozialer Umfelder und Definitionserwartungen der ‚signifikanten Anderen‘ aufkommen. Cooley spricht bei diesen Definitionserwartungen anderer vom „lookingglass self“, das sich selbst definiert, indem es die Definitionen „in the minds of others“ zu spiegeln versucht,30 die Unterstellung der Urteile ‚signifikanter Anderer‘

25 Vgl. Michael Dellwing, „Das interaktionistische Dreieck“, in; Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 92/2009, S. 3–17. 26 Vgl. Luc Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010, S. 18; Lyman/Scott, Sociology. 27 Siehe Michael Dellwing, Zur Aktualität von Erving Goffman, Wiesbaden 2013 (im Druck). 28 Vgl. John Lofland (Hrsg.), Doing Social Life, New York 1976. 29 Vgl. Howard Becker, Doing Things Together, Evanston 1986. 30 Vgl. Charles Cooley, Human Nature and the Social Order, New York 1922, S. 11.

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strukturiert die eigenen Vorstellungen von Beziehungen. Diese sind sowohl direkt als auch indirekt beteiligt, indem zum einen eigene Beziehungsdefinitionen vom Umfeld eingebracht werden (erneut in Antizipation der Definitionen hier signifikanter sozialer Umfelder), zum anderen jede Partei ihre Beziehungen auch in Rekurs auf die Erwartungen des sozialen Umfelds definiert. ‚Sozial unerwartete‘ Sozialbeziehungen sind daher viel schwieriger einzugehen als ‚erwartete‘, weil Konflikte antizipiert werden, deren Antizipation bereits zur eigenen Erwartung werden und in die eigenen Beziehungsdefinitionen eingehen kann, selbst wenn niemand sie konkret beginnt. Damit sind Beziehungen gemeinsam gemacht, keine Folgen irgendwelcher außerhalb der Beziehung liegender ‚Faktoren‘. Besonders einschlägig sind hier Goffmans Betrachtungen, wie Menschen gemeinsam konstruieren, wer sie (für die Zwecke einer Interaktion) sind, und wie sie sich dabei gegenseitig in ihren Definitionen ihrer Selbste unterstützen. Gemeinsame Definitionen sozialer Realität sind damit ein Hilfsgerüst zur gemeinsamen Definition sozialer Beziehungen, insofern „der gegenseitige Umgang miteinander sich im Rahmen von Identifizierungsprozessen abspielt“.31 Menschen präsentieren in ihren Aussagen und Handlungen Definitionen der Situation und Definitionen ihrer Identität; um mit ihnen in Beziehungen treten zu können, benötigt man eine Dramaturgie des Teilens eben jener Definitionen, die in der Beziehung als beziehungsrelevant definiert werden und eine Dramaturgie des Debattierens unterschiedlicher Definitionen, die ebenso als relevant interpretiert werden.32 Beides ist wesentlich: Je lockerer die Beziehungen, desto mehr wird von Definitionen wenig bekannter Anderer einfach zur Fassade stattgegeben, denn wenn Übereinkunft nicht beziehungsrelevant ist, ist auch Streit nicht beziehungsnützlich. Je enger dagegen die Beziehung, desto relevanter werden die Definitionen der Anderen für die eigene Realität und die eigenen Identitätsdefinitionen. Hier ist man eher geneigt, Definitionen Anderer in Frage zu stellen, um eine miteinander ausgehandelte Definition der Situation zu erreichen, die nicht einfach nur höflich gedeckt ist. Somit ist die Definition der Beziehung und damit die Definition der Signifikanz der jeweiligen Anderen intim verwoben mit den Definitionen, die im Alltag angeboten werden und der Bedeutung, die diesen anderen Definitionen zugesprochen wird. Sie ist damit verwoben, wie öffentlich die Definitionen Anderer aufrechterhalten werden. Definitionen sozialer Realität sind zerbrechlich. Goffmans Werk ist durchzogen von der Einsicht, dass face in winzigen Interaktionen, in kurzen Momenten,

31 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt am Main 2007, S. 255. 32 Vgl. Thomas/Thomas, The Child, die von der „Definition der Situation“ sprichen, S. 565; siehe allgemeiner auch Goffman, Presentation; Blumer, Symbolic Interactionism.

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aufgrund kleinster Handlungen irreparabel beschädigt werden könnte, wenn auch üblicherweise nicht wird, bis zum Punkt der Zuschreibung von ‚Geisteskrankheit‘. Dabei ist face ein Begriff für die Soziation einer Person in einer bestimmten sozialen Beziehung und damit der gegenseitigen Annahmen, die Personen gegeneinander machen: Solche ‚Gesichter‘ sind soziale Identifizierungsleistungen. [O]ne puts forth a possible self, a self which will continue to exist only if it is affirmed by the cooperation of others […]. [T]he common man’s claims to a self are displaced, his ritual ‚face‘ is offered, and his honor is put to a test of the moment. This claim proffered for others to accept, not to who one ‚really is‘ (that is in fact a moot point).33

Handlungen von Personen, und damit Personen, können harmlos oder skandalös gedeutet werden, und diese Deutungen können ignoriert werden oder aber Grundlage einer öffentlichen Bedeutungszuschreibung sein. Diese Zuschreibungen können auf die involvierten Personen ausgedehnt werden oder nicht, aus ihnen kann ein sozialer Konflikt erwachsen – oder nicht. Definitionen über sich selbst und Andere aufzustellen ist ein Eintritt in eine soziale Aushandlung von Identitäten und Handlungsinterpretationen, gegebenenfalls ein Eintritt in einen Konflikt. „Each claim is a risk, each affirmation a tribute“,34 denn man „bringt sich selbst damit in eine Position, in der [man] von anderen be- oder verurteilt werden kann“.35 Das macht die soziale Welt unberechenbar und gefährlich: Wenn Individuen in die unmittelbare Nähe anderer Individuen kommen, wird durch die Territorien des Selbst ein weit gespanntes Netz von Stolperdrähten auf dem Schauplatz hervorgerufen, das Individuen dank ihrer einzigartigen Ausstattung zu überwinden vermögen. Auf diese Weise werden […] ständig potentiell offensive Konfigurationen produziert, die nicht vorauszusehen waren, oder vorauszusehen, aber nicht beabsichtigt waren.36

Weit entfernt von ontologischer Sicherheit ist die Bedeutungs-Welt der Teilnehmer an sozialen Situationen ständiger Aushandlung und potentiell ständigem Zusammenbruch ausgesetzt, der nur abgewendet wird, weil die Teilnehmer mitspielen, weil sie reziprok Definitionen decken, weil sie es vermeiden, in der Öffentlichkeit Definitionskonflikte einzugehen.

33 Peter K. Manning, „The Decline of Civility: a Comment on Erving Goffman’s Sociology“, in: Revue Canadienne de Sociologie & Anthropologie/Canadian Review of Sociology and Anthropology, 13/1973, S. 13–25, hier: S. 16. 34 Ebd. 35 Boltanski, Soziologie, S. 101. 36 Goffman, Individuum, S. 152.

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Aus dieser ständigen Gefahr der Identitätsverschiebung erwächst für Goffman die (gefühlte) Notwendigkeit von face-work als Korrektivstrategie.37 Nimmt man die Definitionsperspektive der Devianzsoziologie ernst, der auch Goffman zugeordnet werden könnte, wenn man einen konkreten Grund sieht, das zu tun,38 ist dies jedoch mehr als nur Selbstkontrolle zur Verhinderung von und Rettungsdramaturgie im Fall von Normverletzungen.39 „Eine Tat ist […] eine Handlung, deren Bedeutung durch einen rituellen Akt vermittelt wird, der dazu bestimmt ist, deutlich zu machen, worin diese Bedeutung besteht“; gerade die Bedeutung steht unter ritueller Aushandlung, steht damit niemals bereits unverbrüchlich fest.40 Die untermauernde Unterstützung einer Bedeutungszuschreibung durch face-work ist jedoch nur nötig, wenn diese Bedeutung, also face, in Frage steht, d.h. zumindest als umkämpft gesehen wird. Allerdings haben Andere, selbst wenn sie die ‚schlimmstmögliche Deutung‘ auch kennen, kein Interesse daran, diese Basis der öffentlichen Kommunikation über die Person zu machen. Im Gegenteil: Im sozialen Raum wird gegenseitiges Wohlwollen unterstellt. Wir kooperieren miteinander, damit die schlimmstmögliche Bedeutung nicht die öffentlich tradierte Bedeutung wird.41 Für Goffman ist es Zeichen der Zivilisation, die Anzeichen gegenseitiger Bedrohung (auch der Definitionen sozialer Realität) zu verstecken, Fassaden des Wohlwollens aufrechtzuerhalten und somit Anderen die ontologische Sicherheit, dass ihre Definitionen auch die ihrer Mitmenschen sind, nicht zu nehmen: Er bemerkt, dass man sich im Alltag gegenseitig Zeichen gibt, dass man bereit ist, die Selbstidentifikationserzählung der anderen Person weitgehend öffentlich mitzutragen, um das ‚Gesicht‘ der 37 Dabei hält Goffman fest, dass die „schlimmstmögliche Deutung“ bezüglich der eigenen Handlung in der Regel in diesem Netz von Unwägbarkeiten vom Handelnden selbst kommen, nicht von außen. Diesen, die gar nicht „aktual“ sein müssen, wird begegnet, indem erklärt, entschuldigt und gebeten wird, vor allem aber Addenda zur Interpretation angeboten werden, um diese „schlimmstmögliche“ Interpretation mit Zusatzzeichen aufzufangen und um damit andere daran zu hindern, auf Basis dieser „virtuellen Vergehen“ Identitäten zuzuschreiben. Vgl. Goffman, Individuum, S. 156. 38 Aus pragmatistischer Perspektive sind abstrakte Theorievergleiche und Autorenkategorisierungen leer, was der Grund ist, warum auch Goffman diese Einordnungen immer abgelehnt hat: Einordnungen in Schulen haben Gründe, man argumentiert mit ihnen, um damit etwas zu erreichen. „Die Position von Autor X“, abstrakt, gibt es nicht; Positionen werden mit Zielen, also intentional und damit kontextual kontingent bezogen. Vgl. zum Zweifel: Charles S. Peirce, The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, Bd. 2 (1893–1913), Peirce Edition Project, Indiana University Press (Hrsg.), 1998. 39 Dellwing, „Dreieck“; Ders., „Rituelle Spiele mit Beziehungen“, in: Berliner Journal für Soziologie, 20/2010, S. 527–544. 40 Vgl. Goffman, Individuum, S. 195. 41 Vgl. ebd., S. 156.

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Person nicht zu beschädigen. Menschen betreiben damit „reziproke Definitionsdeckung“.42 Diese Definitionsdeckung ist nicht uneigennützig: ein Zerstören der Definitionen der Anderen beinhaltet auch eine Zerstörung der eigenen Situation, die dann in komplexe Neuaushandlungen übergehen müsste, um nicht völlig gebrochen zu sein. Das bindet Ressourcen und bringt die eigenen Definitionen in öffentliche Aushandlungen ein, was potentiell zu Niederlagen führen kann. Wer das Gesicht anderer schützt, schützt daher auch seine eigene soziale Realität mit. Goffman bemerkt daher, dass „es in sozialen Situationen häufig vor[kommt], dass beide Parteien gleichzeitig die Rolle des Regelübertreters auf sich nehmen und gleichzeitig Korrektive zum Ausdruck bringen“43 – um die Situation zu retten, indem ein Konflikt über Ausgrenzungen von Handlungen und damit potentiell auch von Personen vermieden wird, der immer aufkommen kann, wenn Definitionen in die Öffentlichkeit gestellt werden. Weit davon entfernt, dass Gesichter nur geschützt werden müssen, wenn die richtigen Korrektive angewandt werden, geht jeder Teilnehmer davon aus, Gesichter gegenseitig aufrechtzuerhalten und interpretiert das Verhalten Anderer regulär auch in diesem Rahmen: „Sobald der Fragende gleichsam einen Einwurfschlitz für eine Antwort geschaffen hat, wird er bereit sein, ein zeitlich richtig platziertes nicht so gleichgültiges Schulterzucken als eingeworfenes Geldstück anzuerkennen.“44 Das wird öffentlich auch erwartet: Wenn eine Person diesen Ritualakten die Kooperation verweigert, läuft auch der Verweigerer Gefahr, als seltsam oder böswillig gesehen zu werden. Er kündigt die öffentliche Kooperation zur Wahrung der Definition sozialer Realität auf, und damit kündigt er die Beziehungen auf, in denen diese Aufkündigung aufkam. Wurde diese Aufkündigung nicht erwartet, will eine solche Aufkündigung erklärt sein. Face, nämlich die eigenen Selbstdefinitionen, die nach außen hin vertreten werden (während zugleich putativ gefährliche Selbstdefinitionen als ‚virtuelle Vergehen‘ bedacht und gefürchtet werden),45 wird daher im Alltag rundherum geschützt. Wenn das nicht der Fall ist, ist das ein Skandal, oder vielmehr: Wird das nicht getan (oder als nicht getan gedeutet; auch hier keine Objektivität), kann das als Skandalisierungsprozess gelesen werden. Skandalisierungen sind dann Performativitäten des deutlichen öffentlichen Bruchs von solchen gegenseitigen Gesichtswahrungsritualen, der theatralische, öffentliche Bruch von reziproker Definitionsdeckung. So ist Skandalisierung als generischer sozialer Prozess verständlich, der keine klaren Grenzen, keine festen Kausalitäten und keine abspulbaren Pro42 43 44 45

Dellwing, „Rituelle Spiele“, S. 534. Goffman, Individuum, S. 210. Ebd., S. 223. Ders., Relations, S. 108.

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gramme mit sich bringt: Ein Ablauf, der nicht abschließend und einheitlich beschrieben werden kann, der keine klaren, festgezurrten Grenzen hat, der aber als Narrativ einen Vergleich verschiedenster Prozesse um eine offene Frage herum geordnet erlaubt.46 Skandalisierung kann als Prozess betrachtet werden, in dem Normbruchsvorwürfe verwendet werden, um die öffentliche Unterstellung von Gruppenzugehörigkeiten nachdrücklich und schnell zu verschieben. Viele Ethnografien haben beispielsweise den generischen sozialen Prozess der Erlangung von Gruppenmitgliedschaft thematisiert, der nicht abstrakt operationalisierbar ist, weil es darum geht, wann die konkrete Gruppe eine Person als Mitglied definiert (und sie diese Definition teilt): Die Definition der Situation verbleibt in der Definition und wird nicht zugunsten einer abstrakt-universalen Operationalisierung überschrieben. Es handelt sich um problematische, uneinheitliche, unordentliche Alltagsdefinitionen, deren Komplexität nicht reduziert, sondern geschützt werden soll.47 Insoweit sie selbst umgekehrte Skandalisierungsprozesse zu vermeiden suchen, suchen sie daher nach öffentlicher Unterstützung durch Definitionspartner für die fehlende Unterstützung der Definitionen Anderer, also nach sozialer Legitimation für ihre Abkehr von reziproker Definitionsdeckung: Insofern dieser Skandalisierung Böswilligkeit unterstellt werden kann, muss sie legitimatorisch untermauert werden. ‚Normbruch‘ und ‚Emotionalisierung‘ sind die zwei Schienen, auf denen diese Untermauerung sozial erfolgt. Sie sind keine abstrakten Grundlagen oder Faktoren. Für Normbrüche wurde das bereits dargelegt; Emotionen sind für „außen-erklärende“ Soziologen ebenso nicht als einfache biologische Realitäten, die sich in der Situation aufzwängen, verständlich. Wie Motive48 sind sie viel mehr als „typical vocabularies having ascertainable functions in delimited societal situations“ verständlich.49 „They do not denote any elements ‚in‘ individuals. They stand for anticipated situational consequences or questioned conduct“.50 Was Mills über Motive schreibt, „The quest for ‚real motives‘ suppositiously set over against ‚mere rationalization‘ is often informed by a metaphysical view that the ‚real‘ motives are in some way biological“, ist ohne Abstriche auch auf Emotionen

46 Vgl. Prus, Symbolic Interaction; Ders., Subcultural Mosaics and Intersubjective Realities. An Ethnographic Research Agenda for Pragmatizing the Social Sciences, Albany 1997, der in diesem Buch eine ausführliche Anleitung liefert, dieses zu tun. 47 Vgl. Patricia Adler/Peter Adler, Membership Roles in Field Research, London 1987, S. 12. 48 Vgl. Wright C. Mills, „Situated Action and Vocabularies of Motive“, in: American Sociological Review, 5/1940; Alan F. Blum/Peter McHugh, „Die gesellschaftliche Zuschreibung von Motiven“, in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II, Frankfurt am Main 1975, S. 171. 49 Vgl. Mills, „Situated Action“, S. 904. 50 Ebd., S. 906.

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anwendbar:51 Anstatt „wahre Gefühle“ als rein biologische Veranstaltungen zu sehen, können sie als „öffentliches Produkt“ anstatt als „privater Zustand“ verstanden werden.52 Wenn in der öffentlichen Debatte immer wieder von der ‚Emotionalisierung‘ die Rede ist, die mit dem Skandal einhergeht, dann finden wir hier eine weitere Legitimationsleistung, die ‚Emotionen‘ gerade erbringen können, weil sie öffentlich als ‚einfach natürlich‘ gelten. Emotionen sind Kommunikationsformen, die sich dem Druck der Rechtfertigung entziehen, unter dem so definierte ‚rationale‘ Äußerungen stehen.53 Als ‚natürlich‘ konnotiert gelten sie als ‚unfreiwillig‘ und damit der Kontrolle der Person entzogen, umgekehrt gar als kontrollierende Kraft, die geradezu mystische Macht über sie hat. Damit schneidet die emotionalisierte Kommunikation der Skandalisierung einige der Hauptmöglichkeiten der Gegenrede ab und erbringt damit eine wesentliche Leistung. Zwar können die Existenz und Gewichtigkeit der Gründe der emotionalen Reaktion in Frage gestellt werden, nicht aber die Reaktion selbst, die hinter dem Vorhang der natürlichen Körperlichkeit verschwindet.54 Durch dieses Abschneiden der Möglichkeit der Hinterfragung der Emotion als Emotion dient sie auch der Beschleunigung des kommunizierten Ausschlusses. Insofern Angriffe auf das ‚Gesicht‘ der anderen Person öffentliche Neuaushandlungen ihrer Identität darstellen, und die Identität über die Definition von Beziehungen konstituiert wird, handelt es sich in der Skandalisierung um eine besondere Form der Beziehungsaushandlung. Durch die Norm- und Empörungslegitimation ist es eine Form sozialer Kontrolle, die besonders schnell soziale Ausschlüsse produziert und damit besonders schnell Unterstellungen von Beziehungen verschiebt.

III Skandale als fast track zum Beziehungsbruch Öffentlich wird Skandalisierung daher über die Darstellung einer ‚falschen‘ Beziehung zu den Normen erreicht. Zu Normen kann man aber keine Beziehun-

51 Vgl. ebd., S. 909. 52 Vgl. Blum/McHugh, „Zuschreibung von Motiven“, S. 176. 53 Damit ist die Benennung unterschiedlicher Handlungen als ‚emotional‘ und ‚rational‘ ebenso als soziale Konstruktion verständlich; es handelt sich um einen historisch entwickelten Dualismus, der keinen natürlichen Dualismus repräsentiert. Vgl. Richard Rorty, Contingency, Irony and Solidarity, Cambridge 1989. 54 Dabei kann eine Skandalisierung selbstverständlich auch eine Strategie sein, in der die Permanenz der Beendigung für den Fall angedroht wird, die Skandalisierung der eigenen Handlung nicht mitzutragen. Dann ist es eine Strategie zur Neuaushandlung der gemeinsamen Definition sozialer Realität und vor allem der Beziehung.

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gen haben; sie sind keine Interaktionspartner. Man kann nur zu ‚Normsendern‘ und zur Öffentlichkeit, vor der skandalisiert wird, Beziehungen haben. Skandale sind nicht Normbrüche, sondern die gar nicht so seltenen öffentlichen Konflikte, in denen die andere Seite die wohlwollenden Unterstellungen der face-work auslässt, mit der anderen Seite nicht mehr zur gemeinsamen Definition sozialer Realität kooperiert und dies öffentlich und emotionalisiert kundtut. Während Skandale über ‚Beziehungen zu Normen‘ thematisiert werden, geht es in ihnen um die Unterstellung von Beziehungen zwischen Personen und Gruppen: Skandale organisieren unsere Abneigung, und das Normvokabular erlaubt ‚guten Mitmenschen‘, zumindest auf der Vorderbühne der Tat mit Abneigung zu begegnen und nicht der Person – sich ‚gerecht‘ zu empören. Skandalisierer und jene, die sie überzeugen können, machen nun schlimmstmögliche Zuschreibungen und ignorieren alle ‚Korrektivarbeit‘, in der Zusätze zur Bedeutungsverschiebung angeboten werden. Sie wenden Entschuldigungen und Erklärungen zu Schuldeingeständnissen, die zum Skandal noch eine Defensivhaltung hinzufügen und dadurch zur Unterstellung der Bestätigung der Zuschreibung und zur Verschiebung der Hierarchiepositionen zueinander verwendet werden können. Sie machen Vorwürfe damit zu einem Mittel für einen öffentlichen Gesichtskonflikt, zum Angriff mit dem Ziel, Soziation, die Unterstellung von Sozialbeziehungen (also Sozialbeziehungen; die Betonung der Unterstellung kann wegfallen) durch Austritt aus gemeinsamen Definitionen zu zerstören, die andere Seite für den Austritt verantwortlich zu zeichnen und damit das eigene Ausscheren als Sammelpunkt für Zuschauer zu konstruieren. Aber damit hat das Thema gerade erst begonnen. In einem pluralistischen Universum gibt es keinen einheitlichen Skandal, nicht das eine ‚Skandal-Rezept‘ und keinen einheitlichen ‚SkandalProzess‘. So kann eine kurze, immer notwendigerweise unvollständige Darstellung versucht werden, in welchen Situationen sie welche Leistungen erbringen können. Zunächst sind Skandale zur Verschiebung von Beziehungen und Identitätszuschreibungen selbstverständlich nicht nötig. Beziehungen und Identitätszuschreibungen befinden sich in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess, in dem jede Interaktion eine manchmal winzige, manchmal massive Stärkung, Schwächung, Verschiebung oder Bestätigung, in jedem dieser Fälle eine Neuverhandlung in sich birgt. Identitäten sind zu jedem Zeitpunkt im Flux, und ihre Verschiebung kann im Zweifelsfall sehr schnell gehen (Goffmans Arbeiten sind voller Angst vor schneller Verschiebung55). Oft sind solche Verschiebungen aber lange Prozesse, in denen erst in bestimmten sozialen Beziehungen Zuschreibun-

55 Dellwing, Goffman, Kapitel 6: „Zerbrechlichkeit der Welt“.

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gen aufkommen, die dann die Runde machen. Goffman beschreibt einen dieser Prozesse langsamer Verschiebung als moralische Karriere des Geisteskranken: Da es sich in Fällen sogenannter Geisteskrankheit in erster Linie um die Interpretation einer Verhaltensweise oder einer Serie von Verhaltensweisen als irritierend und (motivational) unverständlich handelt, ist die erste Reaktion oft die der Normalisierung, während die irritierende Seite Signale geben muss, die Irritation als solche bemerkt zu haben, um damit die Erwartungen als Normalität zu stärken; im Falle des Scheiterns solcher Normalisierungen, indem die irritierenden Verhaltensweisen aufrechterhalten oder verstärkt werden oder keine Kenntnis des Irritationsgehalts des Verhaltens unterstellt wird, wächst die Irritation, und die Rollenzuschreibungen, die zuvor gemacht werden, beginnen zu wackeln: Die Person befindet sich in einem Prozess der schweren Verschiebung.56 Dazu werden zunächst Koalitionspartner gesucht: Das irritierende Verhalten wird anderen berichtet, und andere werden nach ihren irritierenden Erfahrungen mit der Person, deren Identität verschoben wird, befragt.57 Verschoben sind Identitäten nur, wenn Verschiebungsleistungen, von welcher Seite auch immer, in einem relevanten sozialen Raum Anerkennung finden: Andere müssen mitspielen, und Bedeutungsverschiebungen auf Beziehungen müssen Widerstände überwinden und Koalitionen schmieden. Der Rahmen der Erwartung verschiebt die Rahmen der Wahrnehmung: Wenn erwartet wird, dass Irritation zu finden ist, wird sie nun auch einfacher aufgefunden.58 Die Kreise gemeinsamer Definitionen der Person als seltsam, möglicherweise ‚krank‘ erweitern sich, lange bevor die Person mit dieser Verschiebung konfrontiert wird. Passiert das, ist es zumeist bereits zu spät. Auch das oft fehlverwendete Konzept der sekundären Devianz war, richtig verstanden, immer eine solche Idee: Verschiebungen von Zuschreibungen auf einzelne Handlungen verschieben die Zuschreibung auf die Person, was die Zuschreibung auf spätere Handlungen der Person verändert. Dabei ist keiner dieser Prozesse notwendig und unvermeidlich; jede neue Bedeutungszuschreibung ist eine neue Situation, ein „fresh judgment“.59 Identitätsverschiebungen sind alltäglich, kontingent und nicht völlig vorhersehbar. Sie beginnen oft in kleinen Interpretationsgemeinschaften und pflanzen sich dann langsam fort. Manche Beziehungen werden aber tatsächlich so schnell

56 Michael Dellwing, „,Geisteskrankheit‘ als hartnäckige Aushandlungsniederlage“, in: Soziale Probleme, 19/2008, S. 150–171; Ders., „Wie wäre es, an psychische Krankheiten zu glauben?“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 35/2010, S. 40–58. 57 Vgl. Erving Goffman, Asylums, New York 1961, S. 24. 58 So das Kernargument in Edwin M. Lemert, Social Pathology, New York 1951; Becker, Outsiders. 59 Vgl. Stanley Fish, Doing What Comes Naturally. Change, Rhethoric and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Durham 1989, S. 505.

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verschoben, wie Goffman das befürchtet. Diese Goffman umtreibende Angst ist umgekehrt gerade die mit der Skandalisierung verbundene Hoffnung, ihre Zielsetzung: Sie kann, wenn sie erfolgreich ist, die soziale Zuschreibung von Beziehungen schnell verschieben:60 Skandalzuschreibungen sind ein Werkzeug, das einen fast track zum Beziehungsbruch leisten kann. Wessen Unterstellung getrennt werden soll, ist dabei offen: Sie sind Methoden, Andere zum schnellen Mitspielen in einer Bedeutungsverschiebung zu bewegen. Goffman unterscheidet in seiner Diskussion von Beziehungszeichen zwei Arten solcher Zeichen: Jene, die für die Mit-Teilnehmer, die Partner in der Beziehung, gedacht sind und jene, die für ein äußeres Publikum gedacht sind.61 Diese Anderen können ein Publikum sein, oder auch – in bestimmten Skandalisierungssituationen – die Skandalisierten selbst. Das ist die Unterscheidung zwischen zwei Formen, die man ‚private‘ und ‚öffentliche‘ Skandalisierung nennen könnte, die jedoch keinesfalls getrennte Phänomene darstellen. Zudem kann sie ritualisiert oder tatsächlich konfliktisch sein: Conflict exchanges may be used to meet other goals, such as displaying verbal skills and maintaining status hierarchies within groups. […] Conflict which is not aimed at resolution has sometimes been referred to as ritual conflict.62

Ritualisierte Skandale brechen Beziehungen um dieses Bruches selbst willen; konfliktische Skandale sind jene, denen es um die Veränderung der skandalisierten Umstände positiv geht. Wenn die Unterstellung innerhalb einer Beziehung selbst verschoben werden soll, hat man es meistens mit privater Skandalisierung zu tun. Hier ist die ‚Öffentlichkeit‘, vor der emotionalisiert wird, zugleich das Ziel der Skandalisierung: Der Skandalisierte und das Publikum sind identisch. Das kommt vor allem in romantischen Beziehungen häufig vor. Vor dem Skandalisierten als Publikum wird eine Beziehungsunterstellung schnell verschoben, indem von face-work abgesehen wird, Normbrüche definiert und auf die Vorderbühne gezerrt werden, Konflikte offen begonnen und Rechtfertigungen verlangt werden. Aus einer ‚normalen‘ Interaktion wird eine Dominanzinteraktion, in der eine Seite von der anderen erwartet, sich der Definition des Normbruchs anzuschließen und die Emotionalisierung als ‚natürliche Reaktion‘ zu akzeptieren und sich ihr zu ergeben. Die

60 Wie Normbrüche nicht theoretisch-abstrakt entscheiden werden, sondern situationale Leistungen darstellen, ist auch die Feststellung einer Leistung eine offene, situationale Leistung; das unterscheidet den pragmatistischen Instrumentalismus vom Funktionalismus. 61 Vgl. Goffman, Relations, S. 188–190. 62 Donna Eder, „Serious and Playful Disputes: Variations in Conflict Talk Among Female Adolescents“, in: Allen Day Grimshaw, Conflict Talk, Cambridge 1990, S. 67.

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Aufkündigung der Unterstellung einer Beziehung ist im Beginn der Vorderbühnenkonflikte impliziert, da das gegenseitige wohlwollende Gesichtswahren und damit die gemeinsame Definition der sozialen Identität der Personen aufgekündigt wird, die die Grundlage einer Sozialbeziehung darstellen.63 Aus ihr wird ausgetreten, um aus dieser Außen- und Vorwurfsposition Raum für Neuaushandlungen zu gewinnen, der immer auch eine Neuaushandlung der Hierarchien in einer solchen Beziehung beinhaltet. Dabei ist der Rekurs zu Normbruch und Emotionalität Mittel, diese Beziehungsverschiebung und Neuaushandlung schnell und mit starkem sozialen Druck zu verbinden. Zu bemerken ist, dass hier die rituelle und konfliktische Verwendung des Skandals immer bereits zusammenspielen: Das Ritual des Beziehungsbruchs ist die notwendige Rahmung, um Neuaushandlung außerhalb der üblichen Wohlwollenserwartungen zu erreichen. Thema sozialwissenschaftlicher Skandalisierungsliteratur ist in der Regel nicht diese private Form der Skandalisierung, sondern der schwere, öffentliche Skandal. Der ‚private‘ Skandal ist ein politisch vergleichsweise uninteressanter Fall, leitet aber zu diesen politisch interessanten Fällen über. Diese unterscheiden sich von solchen privaten Beziehungsbrüchen im Ausmaß des Publikums und gegebenenfalls darin, dass die Skandalisierer gar nicht Teil der skandalisierten Sozialbeziehungen sind. Ansonsten geht es aber auch hier um emotional geführte und damit nur schwer hinterfragbare schnelle Bruchkommunikationen sozialer Beziehungen, oft mit ähnlichen rituellen Neuverhandlungszielen. Öffentliche Skandalisierungen dieser Art sind im Rahmen eines Konzepts verständlich, das Goffman Kollusion genannt hatte.64 In einer Kollusion verbünden sich Akteure, um die Realitätsdefinition einer dritten Person zu lenken: Man erzählt sich in eine (antizipierte) gemeinsame Definition einer Öffentlichkeit herein, indem man eine Negativdefinition der Handlungen der anderen Person skandalisiert.65 Den Dritten, der Öffentlichkeit, wird die Definition angeleistet, dass die beiden Kolludierenden keine Beziehung mehr hätten, indem sie sich gegenseitig skandalisieren. In einer Skandalisierung wird versucht, durch emotionalisierte Normbruchsvorwürfe eine Öffentlichkeit zur Neudefinition der Identität der skandalisierten Person zu bewegen, wodurch die Definition der sozialen Beziehung dieser Person zum Umfeld verschoben werden soll. Wie im Fall der privaten Skandalisierung trennt die Abkehr von face-work die Beziehungsunterstellung zwischen den Personen. Während die private Version das zur Neuverhandlung oder zur legitimatorischen Untermauerung der Beziehungsverschiebung (oder -trennung) verwen63 Vgl. Michael Dellwing, „Frenemies und das ‚wahre Selbst’“, in: Berliner Debatte Initial, 21/ 2010, S. 94–104. 64 Goffman, Relations, S. 339. 65 Vgl. Goffman, Individuum.

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det, nutzt die öffentliche Version diese Verschiebung komplexer. Dabei können zwei öffentliche Versionen unterschieden werden: Einerseits das Veröffentlichen der privaten Version, in der eine Skandalisierung innerhalb einer Beziehung geschieht und nach außen getragen wird, entweder indem vor Publikum skandalisiert wird oder die Skandalisierung später einem Publikum kommuniziert wird. Andererseits die Skandalisierung einer Beziehung von einer Position außerhalb dieser Beziehung. In der ersten Version wird die Beziehung von innen öffentlich gebrochen. Damit soll die Definition einer Beziehung, die bisher öffentlich zugeschrieben wurde, aufgehoben werden. Dieser Bruch in der skandalisierten Beziehung übersetzt sich in einen öffentlichen Bruch mit einer Person, den der Skandalisierer und das Publikum gemeinsam vollziehen. Wie häufig festgestellt wurde, wird Labeling-Ritualen selten ein Delabeling-Ritual zur Seite gestellt, um einmal gemachte Negativzuschreibungen, ggf. Stigmatisierungen, wieder zu entfernen.66 Ist also öffentlich erfolgreich skandalisiert worden, bleibt häufig nur die öffentliche Trennung des ‚Restes‘ von der skandalisierten Person, und genau das war das Ziel der Skandalisierung. Da jedoch ein Teil der Beziehung die Skandalisierung angeleitet hatte, präsentiert dieser Teil sich als Wortführer der Abgrenzung, also als Kernelement der Gruppe, die sich gegen die Person, mit der man zuvor eine Beziehung unterhalten hatte, solidarisiert. Man erreicht so öffentlichen Einschluss durch die Rolle, Fackelträger des Ausschlusses ‚von innen heraus‘ zu sein. In der zweiten wird die Beziehung von außen öffentlich gebrochen. In dieser Version handelt es sich häufig um eine ritualisierte Art der Abgrenzung, die weniger mit dem Ziel der ‚Normkonformität‘ des Skandalisierten einhergeht als mit der öffentlichen Selbstpräsentation der Skandalisierer durch Abgrenzung zu den Skandalisierten. So ist diese Version eine öffentliche Aushandlung von Symbolbedeutungen, in der die Symbole in erster Linie die Personen sind, über die gesprochen wird. Dabei wird Dissoziationsdruck zwischen den thematisierten Personen erzeugt, oder aber tentativer Abgrenzungsdruck, der wieder ein Einlenken auf diese gemeinsame Definition erreichen soll. Sie beinhaltet zudem eine Sonderform der ersten Version: Hier wird zugleich die Beziehungsunterstellung zwischen dem Skandalisierer und der skandalisierten Personen öffentlich mit verhandelt. Obwohl hier zuvor keine Beziehung zugeschrieben wurde, besteht nun eine solche, wenn auch negative, in Abgrenzung als ‚Feindbild‘.

66 Harrison M. Trice/Paul Michael Roman, „Delabeling, Relabeling, and Alcoholics Anonymous“, in: Social Problems, 1969/17, S. 538–546.

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In beiden Fällen sind bestehende Zugehörigkeitszuschreibungen zwischen dem Skandalisierer und dem Publikum zentral: Adut schreibt, „For a scandal to break, a transgression must be communicated to an audience that is negatively oriented to it“,67 es muss aber zugleich festgehalten werden: sie muss von vom Publikum als ‚glaubwürdige Quellen‘ angesehenen Skandalisierern ausgehen, um erfolgreich zu sein; das Publikum muss sich bereits eine Beziehung zum Skandalisierer zuschreiben oder es muss ihm leicht fallen, dies zu tun. In allen Fällen ist Skandalisierung ein Werkzeug, um unterstellte Gruppezugehörigkeiten (es gibt keine anderen) zu trennen, und das schnell und ohne langwierigen Prozess: Ein Skandal ist kein erfolgreicher Skandal, wenn er kriechend kommt und seine Zielgruppen (d.h. das Publikum) erst mühselig in Debatten überzeugt werden müssen.68 Ein Skandal als Unterschlagung der Erwartungen öffentlichen Wohlwollens ist jedoch für sich ein Erwartungsbruch, wenn er nicht gerechtfertigt wird (das macht die Skandalisierung zu einer Form der Sanktion, die selbst Normbruch wäre, wäre sie nicht erfolgreich als Reaktion auf Normbruch gerechtfertigt, wobei die Sanktion nicht abstrakt Sanktion ist, weil sie auf Normbruch reagiert, sondern vielmehr erfolgreich in einem sozialen Prozess als Sanktion markiert wird, indem sich ihre Vertreter erfolgreich auf einen Normbruch berufen).69 Damit erscheint die Soziologie des Skandals in einem Licht, das nicht länger die Verteidigung von sozialen Normen oder die Konstruktion veröffentlichter Moralpaniken in den Fokus rücken muss (was aber selbstverständlich durchaus getan werden kann), sondern vielmehr Skandalisierung als eine bestimmte Art des öffentlichen Spiels mit Bedeutungen versteht. Durch Skandalisierung von Personen wird deren öffentliche Bedeutung, z.B. Identität, ausgehandelt und über die Symbolassoziationen dieser Personen auch die ihrer Gruppen, ihrer Themen, ihrer Positionen. Dieses Spiel eröffnet der Soziologie ein breites Feld von Analysemöglichkeiten, aber verschließt eine wesentliche Möglichkeit: die der eigenen Beurteilung des Skandals. Wenn niemand im Feld reagiert, hat niemand im Feld einen ‚Normbruch‘ erkannt. Wenn nur einer reagiert und ruhiggestellt wird, hat das Feld die Normbruchsdefinition der Person abgelehnt, und er ist an der ‚hartnäckigen Realität‘ der Anderen gescheitert. Das Hartnäckige an der Situation sind die konkreten Anderen und ihre Reaktionen auf die eigene Definition, die vieles sein darf, nur nicht einsam. Mit sozialen Definitionen (beständig) alleine zu stehen, führt im schlimmsten Fall zu einer Zuschreibung von Geisteskrankheit,

67 Adut, On Scandal, S. 16. 68 Vgl. ebd. 69 Ein Argument, das ich in Michael Dellwing, „Ein Kreis mit fünf Sanktionen“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 34/2009, S. 43–61 ausgeführt habe.

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wenn dieses Alleinestehen über Widerstand hinweg ohne erkennbares Aufeinanderbezogensein zum Umfeld aufrechterhalten wird.70 Entscheidet eine wissenschaftliche Studie nun, dass doch ‚objektiv‘ ein Normbruch vorgelegen habe, auf den aber nicht reagiert wurde, schreibt dieser wissenschaftliche Beobachter Normbruch zu. Das ist keine objektive Position, sondern einfach nur eine Position, die ihre eigenen Ziele und ihre eigenen Gruppendefinitionen mit sich bringt. Generell sind solche externen Definitionen hinter einem Schleier der objektivistischen Eindeutigkeit versteckt, indem davon ausgegangen wird, dass eine Situation fraglos vorläge, die in der empirischen Welt interpretierender Teilnehmer aber keineswegs fraglos und alles andere als eindeutig ist.71 Es ist die Einschätzung, man habe das Recht, die im Feld relevanten Definitionen autoritativ zu bestimmen. Will der Forscher der Gruppe die Definition andichten (‚Es gab dort einen Normbruch, auf den aber nicht reagiert wurde‘) macht er Unterstellungen, für die es im Feld möglicherweise keinen Anhaltspunkt gibt; will er die Gruppe oder die Leser gar überzeugen, tritt er als Autorität einer Gruppe auf, der er gar nicht angehört und schreibt sich im Namen der zu beobachteten Gruppe Definitionsmacht zu. Jeder Versuch von Seiten der Wissenschaftler, die Frage nach den ‚differentiellen Konsequenzen‘ von Normbrüchen zu stellen, begeht diese Einmischung und leistet daher eine eigene Definition, was als Normbruch zu gelten hat und was nicht; ‚Operationalisierungen‘ sind ohne diese Einmischung unmöglich und schaffen dadurch feldfremde Abstraktionen, die John Lofland „abominations upon the land“ nennt: Frankensteindefinitionen.72 Diese stellen die Strukturierung des Versuchs dar, Definitionen der Situation jenseits von im Feld tatsächlich aufkommenden Definitionen zu verankern und damit eine sterile, alltagsferne, verallgemeinerte Abstrahierung zu

70 Vgl. Dellwing, „Geisteskrankheit“. Dabei ist auch das ein Prozess, dessen Ausgang nicht immer schon gegeben ist. Wer mit einer Definition alleine steht, kann andere von ihr überzeugen und nicht mehr alleine stehen, was das Problem beseitigt. Wer mit Autorität alleine definiert, kann seine Getreuen auf seine Seite ziehen und gilt dann oft nicht als verrückt (es sei denn, die gesamte Getreuengruppe wird als verrückt etikettiert, wie z.B. im Fall einiger Sekten). 71 Vgl. Dellwing, „Langeweile“, S. 198. Die Tatsache, dass ‚Recht‘ existiert, nämlich die Instanzen der Rechtspflege, ist gerade auf diese Uneindeutigkeit zurückzuführen. Als Institutionen ist es ihre Aufgabe, das Unordentliche durch legitime Schließung zu ordnen (vgl. dazu Boltanski, Soziologie), indem sie sie dem Raum der Perspektivität entheben sollen. Dabei ist uns zugleich bewusst, dass das eine unmögliche Bewegung verlangt und dass Rechtsentscheidungen immer perspektivische, situationale und letztlich unvorhersehbare „fresh judgments“ bleiben: Jede neue Rechtsentscheidung ist eine neue Konstruktion, die Konflikte autoritativ regeln soll, nicht aber neutrale und nicht anders denkbare Deduktionen aus dem abstrakten Recht darstellt. Zu „fresh judgments“ vgl. Fish, Doing. 72 Lofland, Social Life, S. 63.

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erschaffen. Eine soziologische Thematisierung, die die Welt, ihre Akteure und deren plurale Wahrheiten ernst nimmt, darf die Frage nach dem Normbruch also nicht bereits als entschieden abstempeln, bevor sie überhaupt ihre Analyse beginnt. Die Prozesse von Behauptung und Gegenbehauptung sind dagegen viel spannendere Erkenntnisziele, die zudem den Vorteil mit sich bringen, die ‚hartnäckige Realität‘ der Präsenz anderer im Feld und ihrer Definitionen ernst zu nehmen.

Ingeborg Villinger, Freiburg

Riskante Wahlverwandtschaften: Medien und Skandale I Einleitung und Problemskizze Der Titel „riskante Wahlverwandtschaften“ ist erklärungsbedürftig. Denn er behauptet Austauschreaktionen zwischen Medien und Politik, die ebenso elementar sind wie im damit aufgerufenen Referenztext Goethes, in dem er wahlverwandtschaftliche Anleihen bei der Chemie seiner Zeit vornimmt. Entfalten sich dort die Risikofolgen der Wahlverwandtschaften in den zwischenmenschlichen Beziehungen, so geht es hier um die Wirkung der Medien im Bereich des Politischen, die durch den permanenten, alltäglichen Tenor des Skandals beträchtlich ist. Im Folgenden werden deshalb einige zentrale Gesichtspunkte des Verhältnisses von Medien und Politik im Sinne einer erkennbaren Tendenz aufgezeigt, sodann die politische und gesellschaftliche Funktion der Massenmedien kurz in Erinnerung gerufen, um vor diesem Hintergrund in zwei Schritten die doppelte Attraktivität des Skandals als Selektionskriterium der Medien erläutern zu können. In einem vierten Abschnitt schließlich werden sowohl Stellenwert und Notwendigkeit des Skandals als auch die riskanten politischen Folgen einer permanent skandalisierten politischen Rationalität und damit das aktuelle wahlverwandtschaftliche Verhältnis von Medien und Politik aufgezeigt. Alles, was wir über politische Skandale wissen, wissen wir durch die Medien, denn durch sie wird der Skandal erst zum politisch existierenden Faktum.1 Kennzeichen dieses Faktums ist, dass der Skandal – wie noch zu zeigen sein wird – nicht als Abbild von Realität verstanden werden darf, sondern dass es sich dabei um eine medienerzeugte, selektive, stark komplexitätsreduzierte und personalisierte Realität handelt. Media runs the scandal meint – neben der Beobachtung, dass Medien sich ihre Skandal-Objekte selbst schaffen – zunächst zwei sehr grundlegende Merkmale: Erstens ist der Skandal, insbesondere in einer modernen, demokratischen Gesellschaft, elementar an seine Darstellung in der Öffentlichkeit gebunden. Demokratie benötigt den Skandal, denn er ist Signum einer freien Öffentlichkeit zur Meinungs-, Informations-, und Willensbildung des Souveräns, er dient aber auch umgekehrt der Information seiner Repräsentanten in Politik und Kultur, weshalb Pressefreiheit nicht nur grundrechtlich gesichert,

1 Siehe dazu: Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9.

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sondern auch in der politischen Kultur verankert ist.2 Zweitens benötigt nicht nur demokratische Politik die Medien und ihre Fähigkeit zur Skandalisierung, sondern auch die Medien benötigen den politischen Skandal. Mehr noch: seine Nachrichtenwertfaktoren machen ihn für die mediale Berichterstattung zum entschieden bevorzugten Selektionskriterium, mit dem aus der Fülle der Informationen diejenigen Nachrichten ausgewählt werden, die im Schema eines Skandals präsentiert werden können. Diese Attraktivität hat verschiedene Gründe: es sind zum einen die hohen Aufmerksamkeitswerte, die den Medien mit einem Skandal zukommen. Skandale nobilitieren quasi die Medien, denn sie beanspruchen damit die Funktion einer demokratischen Kontroll-Institution zu übernehmen, die die Defizite der politischen Institutionen kompensiert – in der irreführenden Selbst-Bezeichnung der Medien als vierte Gewalt kommt dies sinnfällig zum Ausdruck.3 Dieser Immunisierungs-Begriff der Medien suggeriert, dass die mediale Berichterstattung an der Legitimität der gewählten Institutionen partizipiert, weshalb sie auch als Anwalt demokratischer Regeln in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ihre öffentliche Anerkennung als vierte Instanz des politischen Systems soll nicht nur ihre Gemeinwohlorientierung beglaubigen, sondern auch Objektivität und Richtigkeit ihrer Berichterstattung im Dienste des Erhalts moralischer Normen. Doch Medien operieren zwar im Modus von Moral, gleichzeitig handelt es sich dabei aber auch um das wichtigste mediale Machtmittel im Kampf um Deutungshoheit und Aufmerksamkeit, was im Kontext von Skandalen besonders deutlich erkennbar wird.4 Die medieninduzierte Moral jedoch hat immer eine doppelte Optik: Missstände werden nur dann und solange angeprangert wie sie dem Skandal-Schema der medialen Aufmerksamkeitswerte entsprechen. Skandale intensivieren das Interesse an der medialen Berichterstattung, weil die skandalisierten Sachverhalte im Modus moralischer Unterscheidung von Gut und Böse, Freund und Feind präsentiert werden. Dieser Modus zielt häufig „unmittelbar auf Personen“, weil sie die stärkste Form der medialen Komplexitätsreduktion ermöglichen und erkennbar Moral zu dem machen, was sie immer schon war: „streit2 §5 GG der Bundesrepublik Deutschland. Die angesichts der Veröffentlichungen von Wikileaks heftig diskutierten Grenzen dieser Öffentlichkeit sollen hier nur erwähnt werden, obwohl sie durchaus das Risiko des erörterten wahlverwandtschaftlichen Verhältnisses streifen. 3 Medien als vierte Gewalt zu bezeichnen, heißt die Seiten (ver)wechseln, denn damit werden Medien – neben der Legislative, Exekutive und Judikative – zum Bestandteil des Regierungssystems gemacht, was vor allem ein Merkmal von Diktaturen ist. Siehe dazu auch: Dirk Käsler, Der politische Skandal: zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991, S. 13–15. 4 „Das Böse hat einen Namen: Vattenfall“ – so bringt die FAZ die Auseinandersetzungen um einen vom Atomenergie-Konzern finanzierten Lesewettbewerb auf den moralischen Begriff, in: FAZ, 09.04.2011, S. 33.

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erzeugend“.5 Das heißt, die attraktiven Aufmerksamkeitswerte des medialen Skandals beruhen ganz entschieden darauf, dass es nur scheinbar „im Wesen von Moral“ liegt, „für Frieden, für Ausgleich, für Solidarität“, kurz für objektiv Richtiges zu optieren.6 Dieser Form von Konflikt kommt zur Sichtbarmachung von prozeduralen Normen und Regeln eines Gemeinwesens eine wichtige Funktion zu, die allerdings auch eine prekäre Seite aufweist: die Asymmetrie des moralischen Schemas, das die Medien im Kampf um Aufmerksamkeit zum Einsatz bringen, wirft die Frage auf, ob der Modus der Skandalisierung überhaupt geeignet ist, über Sachverhalte hinreichend zu informieren oder sie zu beseitigen. Die Janusköpfigkeit des Skandals zwingt zu einer weiteren definitorischen Differenzierung und Unterscheidung und zwar zwischen dem politischen Skandal als Ausnahme und der medialen Tendenz zur alltäglichen Skandalisierung in Permanenz politischer Kommunikation. Auch wenn diese Unterscheidung nicht immer präzise sein und teilweise unscharf bleiben wird, so kann doch aus politischer Perspektive von der Inhalts- und Informationsseite her der Skandal als Ausnahme näherungsweise identifiziert werden.7 Es handelt sich im ersten Falle um aus dem Alltäglichen herausragende Konfliktfelder, die in den Bereichen rechtlicher und kultureller Normen einer Gesellschaft entstehen und die als Rechts- und/oder Normenbruch, sowie als Überschreitung von geschriebenen, aber auch ungeschriebenen Regeln als Missstand wahrgenommen und skandalisiert werden. Das heißt, der Skandal als Ausnahme beruht auf einem definierbaren Bruch bestehender juridischer und kultureller Normen und Regeln, die zwar nicht gänzlich, doch der Tendenz nach im Sinne geltender Legalität objektivierbar sind. Doch die mediale Skandalisierung greift darüber weit hinaus und operiert häufig im Bereich dessen, was dem Begriff der – oftmals nur „gefühlten“ – Legitimität zugeordnet werden kann. Damit bewegt sich der Skandal erkennbar auf dem stets „vulkanischen Boden“ politischer bzw. medialer Macht, auf dem die (zunehmend medial erzeugten) wechselnden Kräfteverhältnisse personelle, strukturelle und normative Verschiebungen und Veränderungen innerhalb des politischen Systems, aber auch im kulturell-gesellschaftlichen Bereich hervorbringen können.8 Wesentlich in diesem Kontext ist, dass ein Skandal, der der Logik der Medien (mit ihrer intensivierten Strategie zur Komplexitätsreduzierung und Personalisie-

5 Claudio Baraldi u.a., GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt am Main 1997, S. 119. 6 Luhmann, Realität, S. 142. 7 Siehe dazu auch: Mathias Kepplinger, Die Mechanismen der Skandalisierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen, München 2001, bes. S. 133–135. 8 Vgl. Ernst Cassirer, Mythus des Staates, Frankfurt am Main 1994, S. 364.

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rung) folgt, häufig nur scheinbar erfolgreich einen Missstand anprangert. Denn Skandalisierung ist zwar ein Machtmittel, der Einfluss ihrer emotionsbasierten Aufmerksamkeit bleibt aber vorwiegend auf die Vorderbühne der Darstellungspolitik beschränkt.9 Daher ist auch der bloße Austausch von Personen, an dem der Erfolg eines Skandals in der Öffentlichkeit zumeist gemessen wird, häufig durchaus problematisch, weil er die eigentlichen, zumeist strukturellen Probleme eines Missstandes eher verdeckt als offenlegt. Für die Medien sind jedoch die backstage liegenden komplexen Sachverhalte eines Problems kaum von Interesse, weil sie nur schwer „ins Bild zu setzen“ oder auf eine griffige Schlagzeile zu bringen sind. Die durch einen Skandal provozierte Konzentration auf Personen spielt sich nicht nur vorwiegend auf der Vorderbühne des Politischen ab, sondern ermöglicht geradezu eine Politik des „weiter so wie bisher“.10 Im schlimmsten Falle können durch Skandalisierung auch sinnvolle Entscheidungen durch weniger angemessene ersetzt werden.11 Da sachliche Genauigkeit nicht als Qualitätsmerkmal der Skandalberichterstattung bezeichnet werden kann, betont Kepplinger zu Recht mit Nachdruck, dass die Einführung „einer Produkthaftung für Skandalberichte“ nicht wenige Medienunternehmen „in kurzer Zeit konkursreif“ machen würde.12 Gleichfalls trägt die eintretende Ermüdung bei länger anhaltenden Konflikten, trotz anfänglich heftiger Skandalisierung, aufgrund des Verlustes an marktattraktiven Aufmerksamkeitswerten, nicht wirklich zum Erfolg einer politischen Korrektur bei. Die begrenzte Reichweite des Skandals resultiert aus seiner Technik, öffentlich anzuprangern. Auch wenn der „Medienpranger“ anders als seine historischen Vorläufer funktioniert, ist dies zur „Ausschaltung von Akteuren […] eine archaische Maßnahme“.13 Dennoch arbeitet die mediale Skandalisierung – auch

9 Ein Skandal verallgemeinert fast immer Einzelfälle zum politischen Paradigma. Kepplinger betont, dass je eher die Dämme brechen, die normalerweise „eine Vorverurteilung verhindern“, es desto besser gelingt, den Schaden als sehr groß erscheinen zu lassen. Kepplinger, Mechanismen, S. 44 und S. 146. 10 Vgl. dazu: Dirk Käsler, „Der Skandal als ‚Politisches Theater‘“, in: ders. u.a. (Hrsg.), Der politische Skandal, S. 307–333. Dieser Risikobereich der Wahlverwandtschaften wird im Abschnitt vor Kapitel II und in Kapitel IV ausgeführt. 11 Wie dies bspw. bei der Entsorgung der Brent Spar im Jahre 1995 der Fall war. Es ist unbestritten, dass der Skandal um die Brent Spar – trotz problematischer Weichenstellung bei der Entsorgung – im Sinne einer Schärfung ökologischen Bewusstseins langfristig auch einen Gewinn an sozialer Aufmerksamkeit mit sich brachte, die sich jedoch bei einer Skandalisierung in Permanenz rasch verbraucht. 12 Kepplinger, Mechanismen, S. 160. 13 Ebd., S. 146. Insbesondere personale Zurechnung ist in einer hochkomplexen Gesellschaft kaum noch problemadäquat.

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wenn sie nicht mehr dem tatsächlichen Handlungsspielraum der politischen Akteure entspricht – mit personalisierten Strategien und ruft damit den Eindruck personaler Herrschaft hervor.14 Noch ein weiterer Aspekt lässt die Personalisierungsstrategie der Skandalisierung als „Tigersprung“ des 17. ins 20. Jahrhundert erscheinen: sie rekurriert auf einen politischen Verhaltenstypus der „Äußerlichkeiten“, der der Scham- und Ehrkultur angehört.15 Dessen Mechanismen jedoch funktionieren in einer hochkomplexen Gesellschaft weder als hinreichendes Korrektiv politischer Missstände, noch als vorbeugendes Regulativ. Ein weiteres Problem ist, dass diesem Verhaltensmuster auf journalistischer Seite immer seltener eine auf investigativen Ergebnissen beruhende, sachinformierte Berichterstattung gegenüber steht. Stattdessen werden oftmals nur unzureichend geklärte Sachverhalte mit ad hoc-Legitimität ausgestattet, was den Medien erlaubt, selbst zum politischen Akteur zu werden.16 Dennoch ist zu betonen, dass trotz der Kollateralschäden, die eine wenig informierende Skandalberichterstattung hervorruft, Medien und ihre Skandalisierungskompetenz sowie eine freie Öffentlichkeit für demokratische Verhältnisse unerlässlich sind. Wie funktional oder dysfunktional diese auch sein mag: Skandale können – ähnlich wie Proteste – im Sinne eines Frühwarnsystems Ausgangspunkt für Meinungsbildung und eine daran anknüpfende Komplexitätssteigerung zu einer wirklichen Problem-Bearbeitung sein.17 Denn der Skandal vermag mit seiner Übertragung von stark reduzierter Komplexität (bei breiter Aufmerksamkeit) die „Anschlussprobleme zwischen Systemen oder von Segmenten innerhalb eines Systems“ zu bewältigen.18 Angesichts dieses positiven Effekts des Skandals als Ausnahme, ist aber mit Nachdruck an die negativen Folgen der zunehmenden Tendenz der Medien zur Skandalisierung in Permanenz zu erinnern, denn die Dauerskandalisierung verändert nicht nur die politisch-gesellschaftliche Funktion der Medien, sondern reduziert auch das grundlegende Systemvertrauen und führt zu einem Gewöhnungseffekt, d.h. wenn der Skandal seinen Ausnahmecharakter verliert und zur Regel wird, besteht die Gefahr, dass er gesellschaftliche Normen aufhebt.

14 In der einschlägigen Literatur wird dieses Phänomen bspw. von Oberreuter u.a. unter dem Stichwort des „Neo-Bonapartismus“ diskutiert. 15 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 72 und S. 29; vgl. dazu auch: Hans Kepplinger, „Ein Skandal ist ein Skandal, wenn die Ehre auf der Strecke bleibt“, in: Forum Loccum, 21/2002, 3, S. 6–11. 16 Zum Zusammenhang von Komplexitätsreduktion und Interpenetration siehe: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1994, S. 317–319. 17 Siehe dazu u.a.: Niklas Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Kai-Uwe Hellmann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1996. 18 Käsler, Der politische Skandal, S. 57.

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II Politisch-gesellschaftliche Funktion der Massenmedien Im Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Funktion der Massenmedien stehen die Kategorien Information und Kommunikation. Letztere ist grundsätzlich binär codiert und tastet anhand dieses Schemas die Umwelt ab. In diesem binären Modus findet die „Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems“ statt, für die die Medien Hintergrundwissen bereitstellen und fortschreiben. Das dabei entstehende, Informationen verarbeitende und bereitstellende kulturelle Gedächtnis ist die eigentliche gesellschaftliche Funktion der Massenmedien, die damit zugleich die „Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit“ erzeugen.19 Denn das Gedächtnis der Gesellschaft ermöglicht den weiteren Anschluss von Kommunikation und unterliegt permanent der Irritationsbereitschaft durch die Massenmedien, die ihrerseits zur ständigen Erneuerung von Information gezwungen sind. Nur in diesem (hier stark verkürzt dargestellten) Prozess können Wissensfortschreibung und Kommunikation sichergestellt werden. Im Bereich der politischen Kommunikation der Nachrichten und Berichte bestehen „deutliche strukturelle Koppelungen zwischen Mediensystem und politischem System“.20 Die rekursive Vernetzung zwischen beiden Systemen, deren alltägliche Kommunikation in den existierenden Organen und Organisationen wie Regierung, Opposition, Parteien, Verbänden etc. weiterverarbeitet wird, führt in der Gegenwart moderner medialisierter Gesellschaften keineswegs zu konsensuellen Grundüberzeugungen – im Gegenteil.21 Denn Konsens wird durch ständig neue Informationen permanent aufgekündigt oder infrage gestellt – wobei der entstehende Dissens der weiteren Kommunikation dient. Solange dieser Prozess läuft, Kommunikation also weitergeführt wird und weitere Akzeptanz oder Ablehnung, jedenfalls weitere Kommunikation möglich ist, gefährdet dies nicht die Stabilität einer Gesellschaft. Da jedoch unter modernen Medienbedingungen das „Riskieren von Dissens“, sichtbar an der Tendenz zur Veralltäglichung des Skandals, deutlich zunimmt, entsteht für den politischen Prozess ein durchaus prekäres Problemfeld, das im vierten Kapitel weiter erörtert werden soll.22 Zunächst jedoch sollen der Skandal und

19 Luhmann, Realität, S. 172 f. 20 Ebd., S. 124. Besonders augenfällig im Verhältnis von öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Parteien: beide haben die Funktion der Meinungs- und Willensbildung. Siehe dazu die einschlägigen Rundfunkurteile des BVG, sowie das GG und die Urteile zur Parteienfinanzierung. 21 Vgl. dazu Luhmanns Hinweis auf Jürgen Habermas und dessen Begriff „Lebenswelt“, in dem der Konsens „untergebracht“ worden sei, in: ebd., S. 176 f. 22 Ebd., S. 178 f.  





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dessen Attraktivität als Selektionskriterium und Nachrichtenwertfaktor der Massenmedien erläutert werden.

III Alltägliche Wahlverwandtschaft – der Skandal als Selektionskriterium Durch die technische Übermittlung von Kommunikation in modernen Gesellschaften sind hohe Freiheitsgrade der Kommunikation und zugleich ein hoher Überschuss an Kommunikationsmöglichkeiten entstanden. Dieser Überschuss wird durch die Sendebereitschaft der Medien und das Einschaltinteresse der Rezipienten geregelt. Anhand dieser beiden Kategorien gestalten die Massenmedien ihre eigene Realität, wobei man von Realität in einem zweifachen Sinne sprechen kann: die erste – hier nicht weiter verfolgte – meint die Realität der Massenmedien selbst. Die zweite Realität der Massenmedien ist diejenige, die sie herstellen und die den Zuschauern als Realität erscheint. Die Medien bieten ihnen damit im kognitiven, im normativen und im evaluativen Bereich Orientierung an. Bei einem Skandal erhalten die Rezipienten politische Informationen von der zweiten, medial erzeugten Realität. Dessen Konturierung und Beschreibung entsteht durch eine Vorauswahl, also durch Selektion aus einer Fülle von Kommunikationsmöglichkeiten, die stets die beiden Seiten des Selektierten und des Nicht-Selektierten aufweisen. Welche Seite aus diesem binären Modus die Medien auswählen, hängt davon ab, welche Realität sie mit welchen Sinnkomplexen erzielen wollen. Im politischen Bereich des Nachrichten- und Berichtswesens werden vorwiegend Selektoren der Unruhe, der Diskontinuität und des Konflikts gewählt. Das heißt zunächst einmal, dass die andere, die nicht beachtete Seite unbeleuchtet bleibt. Deshalb erscheinen in der Darstellung der Medien von Politik und Gesellschaft vor allem Brüche – „sei es auf der Zeitachse, sei es im Sozialen“ oder im politischjuridischen Bereich, während die andere Seite, also Konformität, Einvernehmen, Wiederholung derselben Erfahrungen, Konstanz, Problemlösung und funktionale Reproduktion der Rahmenbedingungen, unterbelichtet bleibt.23 Die Bevorzugung der Unruhe, des Negativen, moralisch Fragwürdigen, hat nicht nur den Effekt, dass die Gesellschaft selbst zu ständiger Innovation gereizt wird, sondern auch, dass die Medien damit das Einschaltinteresse sicherstellen können. Dass dabei der Selektion „Skandal“ die größte Aufmerksamkeit für die massenmediale Reali-

23 Ebd., S. 177, S. 141.

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tätskonstruktion zukommt, bedarf zunächst keiner weiteren Erläuterung. Was jedoch von weitreichendem Interesse ist, ist der Umgang der Medien mit dem einseitigen Binarismus ihrer Konstruktion von Realität: sie bieten die bei der Selektion nicht zur Geltung gekommene Seite implizit als Moral, die eingefordert wird, an und das heißt, die Einseitigkeit der Auswahl wird durch moralische Wertungen, die ein Supplement dieser Selektivität sind, kompensiert. Diese Form von Kommunikation im Modus einer zwar generell existierenden, jedoch im Falle des Skandals offenbar nicht vorhandenen Moral sichert die Fortsetzung von Kommunikation, da sie ständig angemahnt werden muss: „Ist der Übergang, die Ablenkung auf Moral einmal geschafft, läuft es wie von selbst, wie auf Rollen, manchmal zu schnell.“24 Skandalkommunikation sichert also nicht nur die Aufmerksamkeit der Rezipienten und damit die medialen Erfolgsfaktoren, sondern sie repräsentiert (insbesondere bei der alltäglichen Skandalisierung) das Handeln der politischen Akteure permanent in einer höchst defizitären Weise, deren Wirkung mit den Stichworten Politikverdrossenheit, Alarmismus, Krisenwahrnehmung, Sehnsucht nach Sicherheit und Überschaubarkeit hier nur kurz angedeutet wird. Neben dieser immateriellen Seite der Ökonomie der Aufmerksamkeit sollte die materielle nicht aus dem Blick geraten, da sie der Aufhellung der idealistischen Deckung medialen Handelns dient. Denn der Skandal, der die Partizipation an der knappen Ressource Aufmerksamkeit sicherstellt, ist auch in diesem Sinne der wichtigste Erfolgsfaktor der Medien. Auch wenn sie ausschließlich die andere, die idealistische Seite der Inanspruchnahme ihres Rohstoffes zumeist nicht ohne Furor betonen, so ist er doch eng mit der „monetären Ökonomie verkoppelt“ – die aktuelle Medienkonkurrenz verstärkt dieses Faktum ganz erheblich.25 Das heißt, die Selektionsauswahl, die nach dem moralischen Modus Gut – Böse prozediert, erfüllt für die Medien zugleich die Kriterien der ökonomischen Selektion erfolgreich – nicht erfolgreich. Die Medien-Angebote sind also keineswegs nur an den gesellschaftlichen Anforderungen öffentlicher Kommunikation und Gemeinwohlsicherung ausgerichtet, sondern sie sind zugleich „nach den Kategorien von Kosten und Gewinn, Macht und Einfluss strukturiert.“ Man benötigt keine italienischen Verhältnisse, sprich keine monopolistische Verknüpfung zwischen Medien- und Politiksystem, um das „Machtpotential von Medien“ im Kampf um Deutungshoheit und damit „im Prozess politischer Entscheidungsbildung“ zu erkennen. Das Mediensystem muss deshalb entschieden auch als Wirtschafts24 Ebd., S. 143. 25 Andreas Bade, „Kritische Anmerkungen zur neuen Ökonomie der Aufmerksamkeit“, in: Joan Kristin Bleicher/Knut Hickethier (Hrsg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, Münster 2002, S. 179–193, hier: S. 182.

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system mit „institutionalisierter Aufmerksamkeit“ wahrgenommen und sichtbar gemacht werden, dass dessen Marktverhalten in hohem Maße von politischer und gesellschaftlicher Relevanz ist. Denn „Medienunternehmen verbreiten formal fixierte Inhalte als Produkte mit Informations-, Werbe- und Unterhaltungswert für die gesellschaftliche Öffentlichkeit“, wobei diese Produkte so beschaffen sind, dass sie zugleich dem Informations- wie dem Unterhaltungsbedürfnis der Rezipienten Rechnung tragen.26 Bedenkenswert für das Politische dabei ist, dass diese Strategien zur Sicherung der zentralen Währung Aufmerksamkeit nicht nur der politischen Meinungs- und Willensbildung der Bürger dienen sollen, sondern dass sie längst ihr Pendant im politischen System gefunden haben: die Akteure orientieren sich zusehends an den medialen Selektionskriterien und passen immer öfter die Selektion der politischen Entscheidungen dem medial erzeugten Handlungszwang an. Neben der Medienkompetenz von Politikern und dem steigenden Stellenwert der Darstellungspolitik zeigt nicht zuletzt der intensive Personalaustausch zwischen den beiden Systemen Medien und Politik den Stand der gegenseitigen Durchdringung. So ist unübersehbar, dass die allgegenwärtige Medienpräsenz Wahlkämpfe und damit auch das Marktverhalten von Politik längst – über die eigentlichen Wahlkampfzeiten hinaus – verstetigt hat. Angesichts sich verstärkender Medienkonkurrenz und der knappen Ressource Aufmerksamkeit, die zu einer Bevorzugung des Skandals führt, ist daran zu erinnern, dass alltägliche Skandalisierung keineswegs eine hinreichend differenzierte Beschreibung von Politik und Gesellschaft vermittelt, sondern vor allem die intersystemisch provozierte Konkurrenz um Deutungshoheit und Aufmerksamkeit erkennbar macht – die Folgen für die politische Willensbildung wurden bereits knapp angedeutet.

IV Riskante Wahlverwandtschaft und die Zukunft demokratischer Politik Welche Folgen zeitigt diese – Öffentlichkeit und Politik prägende – (Markt)Macht der Medien? Sichern ihre Wahlverwandtschaften eine wirklich demokratische Politik oder führen ihre Interventionen eher zu einer Emotionalisierung des Politischen im Modus von moralischen Kategorien? Dient die alltägliche Skandalisierung der kritischen Meinungs- und Willensbildung oder fördert ihr ständiger

26 Joan Kristin Bleicher, „Medien, Markt und Rezipienten. Aufmerksamkeit als Grundbedingung medialer Kommunikation“, in: Bleicher/Hickethier (Hrsg.), Aufmerksamkeit, S. 127.

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Alarmismus die Sehnsucht nach einer Politik, die uns konfliktfreie Sicherheit verspricht? Provoziert eine alltägliche Skandalisierung politische Innovation oder eher populistische politische Entscheidungen? Die Antwort auf solche Fragen, die Indiz für das Vorhandensein echter Problemlagen sind, fällt je nach Perspektive unterschiedlich aus. Zunächst ist optimistisch davon auszugehen, dass – solange der Kommunikationsprozess über einen Skandal andauert und nicht durch Negierung eines Konflikts gestoppt wird – dadurch Probleme präzisiert und politische Alternativen erkennbar werden. Das heißt der Konflikt, den eine ernsthafte Skandalisierung hervorruft, kann imstande sein, die im politischen Feld bestehenden Regeln zu aktualisieren und dazu beitragen, dass sie wahrgenommen und zur Geltung gebracht werden. In diesem Sinne betonen auch moderne Demokratietheorien, dass ein antagonistisches Politikmodell mithilfe der medialen Artikulation von Informationen imstande sein wird, dem Bürger künftig „wirkliche Alternativen“ zur Verfügung zu stellen.27 Auf diesem Wege könnten, trotz einer an neoliberaler Marktlogik orientierten und strukturelle Missstände negierenden Politik, zukunftsorientierte demokratische Politikinhalte aufgezeigt werden. Eine solche, auch künftigen globalen Herausforderungen gerecht werdende Wahlverwandtschaft von Politik und Medien beruht auf einem Demokratieverständnis, das nicht primär an der Herstellung von Konsens ausgerichtet ist, den eine permanente Skandalisierung von Politik gefährden könnte, sondern an der „integrativen Rolle“ von „Konflikten in der modernen Gesellschaft“. Im Kontext einer solchen Politik kommt dem Skandal die Funktion einer „Anerkennung der Bedeutung von Pluralismus und liberal-demokratischen Institutionen“ zu.28 Berücksichtigt man ferner die Fähigkeit des Skandals zur „Irritierbarkeit der Gesellschaft und die rekursive Vernetzung der Massenmedien-Kommunikation in den Interaktionen und Organisationen“, dann vermag moralisierte Kommunikation, die im Falle eines Skandals stark intensiviert wird, ein Zweifaches zu leisten: sie spannt einerseits einen „Horizont selbsterzeugter Ungewissheit“ und Erwartungen auf, die in Form von Ansprüchen und Ängsten auf die Kommunikation zurückwirken. Doch gerade durch diesen Prozess der Re-Politisierung wird – andererseits – der essentiell notwendige Anreiz zur Optimierung politischer Problemlösung erzeugt. Ein solcher Prozess kann jedoch nur dann stattfinden, wenn Skandalisierung nicht als alltäglicher, medial erzeugter Polit-Sound präsentiert wird, dessen Aufmerksamkeitsbindung zur Meinungs- und Willensbildung der Bürger statt auf Information auf moralisierte Gefühlslagen setzt.

27 Vgl. dazu: Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, Wien 2008, S. 115. 28 Mouffe, Paradox, S. 115 und S. 111.

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Anders dagegen sieht der Blick auf die Wahlverwandtschaften aus der Perspektive derjenigen Tradition aus, die davon ausgeht, dass „die Stabilität des Gesellschaftssystems in erster Linie auf Konsens“ beruht. Eine solche Perspektive lässt die Massenmedien (und damit gleichfalls die Skandalisierung) in einem deutlich „ungünstigen Licht“ erscheinen.29 Doch auch ohne diese konsensuale Präferenz muss an zwei wesentliche Risikoszenarien im Feld der Wahlverwandtschaften erinnert werden: neben der positiven Aktualisierung von Politik wirken der mediale Beschleunigungsdruck als Zeitfaktor wie auch die Überattribution moralisierender Systeme massiv auf das politische Handeln ein. Beides verstärkt sich wechselseitig und kann eine durchaus problematische Rolle spielen.30 So zwingt der durch eine Skandalisierung in Permanenz entstehende Handlungsdruck das politische System und dessen Entscheidungen unter den Beschleunigungsmodus der Medien. Angesichts ihrer durch binäre Selektion erzeugten Realitätsverzerrung, die bei Skandalen besonders ausgeprägt ist, steigert dieser Beschleunigungsfaktor deutlich die Gefahr von system- und problemfremdem, oft wenig sachdienlichem politischen Handeln. Ein Beispiel dafür ist die geringe Nachhaltigkeit kurzatmiger Politik, bei der es sich vielfach eher um Ausdruck eines mediengetakteten Aktionismus als um eine zukunftsorientierte, echte (auch unpopuläre) Problemlösung handelt.31 Verstärkt wird dieses Spannungsverhältnis von medial provozierter Innovation und Entdifferenzierung von Politik durch die „modernen Bedingungen“ von Kommunikation, in denen „das Riskieren von Dissens“, das „Testen von Kommunikation durch Kommunikation geradezu enthemmt“ wird.32 Mit der längst erkennbaren Tendenz einer medienkonformen Politik ist jedoch nur die eine Seite des Problems angesprochen. Denn das beschleunigte Testen der Medien von Kommunikation – das im Verbund mit Demoskopie auch von einer bloß reaktiv ausgerichteten Politik praktiziert wird – und das bereits eingangs als Skandalisierung in Permanenz identifiziert wurde, intensiviert die Überattribution moralischer Systeme in einer Weise, die eine demokratiegefährdende Wirkung entfalten kann. Denn ein nur medial erzeugter „moralistischer Diskurs und die obsessive Enthüllung von Skandalen in allen Feldern des Lebens“ trägt zu einer stark homogenisierenden und totalisierenden Form von Willensbildung im politischen wie im gesellschaftlichen System bei – die beobachtbare Muslimisierung des öffentlichen Diskurses ist nur ein Beispiel

29 Luhmann, Realität, S. 176 f. und S. 149. 30 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 319. 31 Um nur stellvertretend auf ein scheinbar kleines Beispiel aufmerksam zu machen vgl. „Skandal Bildungsarmut. Wenig Entrüstung über die Analphabetismus Zahlen“, in: FAZ, 13.04.2011, S. N5. 32 Luhmann, Realität, S. 179.  

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dafür.33 Dabei bleibt nicht nur unbemerkt, dass die alltägliche SkandalisierungsLogik der Medien eine stark asymmetrische, einseitige Information präsentiert, sondern auch, dass von den Akteuren der politischen Institutionen homogene Verhaltensmuster implizit eingefordert werden. Denn heterogene Stimmen politisch Verantwortlicher (z.B. innerhalb einer politischen Partei oder des Regierungslagers) werden nicht als informative Pluralität von Alternativen kommuniziert, sondern skandalisiert.34 Diese konsensorientierte Erwartung der Medien an die politischen Entscheidungsträger gratifiziert eine Form von entpolitisierter Kommunikation, die in mehrfacher Hinsicht der neoliberalen Logik des Marktes geschuldet ist. Dieser Logik – die den Medien als eigene Grundlage und „als Beobachter unsichtbar“ bleibt – trägt das politische System angesichts des sich verstärkenden Beschleunigungsdrucks durch zunehmend situatives, populistisches und öffentlichkeitswirksames Entscheidungshandeln Rechnung.35 Dass die Skandalisierung in Permanenz „allzu oft Ergebnis der Leere“ ist, die „von der Abwesenheit demokratischer, von konkurrierenden politischen Werten informierter Identifikationsformen erzeugt wird“, ist nur ein Moment des wahlverwandtschaftlichen Verhältnisses von Medien und Skandal.36 Ein weiteres zeigt, dass eine Gesellschaft, deren Selbstbeobachtung nicht von politisch aktiven Bürgern oder (intermediären) Organisationen, wie bspw. Parteien, wahrgenommen wird, sondern sie vor allem den Massenmedien überlässt, eben dem Diktat der medialen Logik unterliegt.

33 Chantal Mouffe erwähnt hier u.a. das „Anwachsen der verschiedenen Arten des religiösen Fundamentalismus“, Mouffe, Paradox, S. 113. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen erläutert unter dem Begriff des mythischen Denkens Funktion und Modalität einer binären Weltwahrnehmung; siehe dazu unter dem Aspekt des Politischen: Ingeborg Villinger, „Ernst Cassirer (1874–1945). Eine symbolische Logik des Politischen“, in: Martin Ludwig Hofmann/Tobias F. Korta/Sibylle Niekisch (Hrsg.), „Culture Club“. Klassiker der Kulturtheorie, Festschrift Wolfgang Eßbach zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2004, S. 67–85. 34 Heterogenität ist nur im Verhältnis von Regierung – Opposition vorgesehen, jenseits davon kann Willensbildung nicht öffentlich kommuniziert, sondern nur durch Demoskopie abgefragt werden. 35 Luhmann, Realität, S. 207. 36 Mouffe, Paradox, S. 113.

Jochen Mecke, Regensburg

Ästhetik des Skandals – Skandal der Literatur: Struktur, Typologie, Entwicklung I C’est un scandale!1 Am 27. Februar 2011 musste die französische Außenministerin Michèle AlliotMarie von ihrem Amt zurücktreten. Gründe dafür gab es genug: ihre persönliche Freundschaft mit dem gestürzten tunesischen Diktator Ben-Ali, die geschäftlichen Beziehungen ihrer Familie zu wichtigen Repräsentanten des alten Regimes, die Annahme privater Einladungen und Vergünstigungen wie zum Beispiel Flüge mit Privatjets von Freunden des Diktators, all dies wohlgemerkt, als die Revolution in Tunesien bereits in vollem Gange war. Den letzten Ausschlag jedoch hatte wohl ihre in einer Sitzung des französischen Parlaments ausgesprochene Empfehlung gegeben, man solle doch das Know-how der französischen Polizei der tunesischen Regierung zugutekommen lassen, um die schwierige Lage des Landes zu bewältigen.2 Kurze Zeit später ereilte den deutschen Verteidigungsminister das gleiche Schicksal. Guttenberg wurde nachgewiesen, dass er große Teile seiner Dissertation aus anderen wissenschaftlichen Publikationen abgeschrieben hatte, ohne die Quellen dabei anzugeben.3 Einige Monate vorher musste sich die junge Autorin Helene Hegemann gleichfalls mit einem Plagiatsvorwurf auseinandersetzen, hatte sie doch offenkundig in ihrem Romanerstling Axolotl Roadkill (2010) Schilderungen und auch Formulierungen aus der Erzählung Strobo (2009) des ehemaligen Drogenabhängigen Airen übernommen.4 Einige Jahre zuvor musste die französische Autorin Marie Darieussecq – bereits zum zweiten Mal – zu einer besonderen Art des Plagiatsvorwurfes Stellung

1 Der Titel bezieht sich auf eine Phrase des früheren Generalsekretärs der kommunistischen Partei Frankreichs Georges Marchais, dessen Ausruf „C’est un scandale“ zum Synonym für eine Form ritualisierter Empörung geworden war. 2 „Nous proposons que le savoir-faire qui est reconnu dans le monde entier de nos forces de sécurité permette de régler des situations sécuritaires de ce type. C’est la raison pour laquelle nous proposons aux deux pays [Algérie et Tunisie], dans le cadre de nos coopérations, d’agir en ce sens pour que le droit de manifester puisse se faire en même temps que l’assurance de la sécurité“, Sud-Ouest France, 12.01.2011, http://www.sudouest.fr/2011/01/12/mam-evoque-une-cooperationsecuritaire-entre-la-france-et-la-tunisie-288176-652.php (Stand: 27.03.2011). 3 Christian Stöcker, Netz besiegt Minister, 2011, http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0, 1518,748358,00.html (Stand: 27.03.2011). 4 Vgl. Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, Frankfurt am Main 2010; Airen, Strobo, Berlin 2009.

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nehmen:5 Die im gleichen Verlag erscheinende Schriftstellerin Camille Laurens warf ihr ein „psychisches Plagiat“ vor, da sie sich für ihren Roman Tom est mort (2007)6 der Geschichte des Todes ihres Sohnes bedient habe, die Camille Laurens selbst zuvor in ihrem Roman Philippe (1995)7 verarbeitet hatte.8 Diese zufällige Aufzählung von Skandalen aus Politik und Literatur wirft die Frage auf, ob es nicht einen tiefer gehenden Zusammenhang zwischen Skandal und Literatur gibt. Denn jedem unvoreingenommenen Betrachter muss auffallen, wie sehr die genannten Skandale sich in den Rahmen einer soziologischen Analyse einfügen, die von einer grundlegenden Affinität der modernen Gesellschaft zum Schauspiel ausgeht, und die vor allem Guy Debord in La société du spectacle entwickelt hat. Wer allerdings Debords Studie in der Erwartung liest, etwas über den Skandal zu finden, wird ausgerechnet dort bitter enttäuscht. Denn trotz aller Kritik an der Verwandlung des gesellschaftlichen Lebens in ein Spektakel, das die meisten Akteure in bloße Zuschauer verwandelt, ontologisiert Debord den Skandal, um ihn dann im gleichen Atemzug zu negieren. In den Commentaires sur la société du spectacle heißt es deshalb lapidar: „Tout ce qui n’est jamais sanctionné est véritablement permis. Il est donc archaïque de parler de scandale.“9 Und gleich darauf zitiert Debord – wie zur Bestätigung – einen italienischen Staatsmann, der es als Mitglied der Loge P2 Potere Due wissen muss: „Il y avait des

5 Camille Laurens, „Edition – Marie Darrieussecq accusée de plagiat“, in: Livres hebdo, 698/ 2007, S. 78; Anonym, „Romans: Marie Darrieussecq-Camille Laurens, finale dames“, in: Le point, 1947/2010, S. 80–82. 6 Marie Darieussecq, Tom est mort, Paris 2007. 7 Camille Laurens, Philippe, Paris 1995. 8 Es war nicht das erste Mal, dass sich die Autorin mit dem Vorwurf konfrontiert sah, sich des literarischen Universums anderer Autoren bedient zu haben. Bereits 1998 hatte die französische Autorin Marie NDiaye ihrer Kollegin vorgeworfen, dass diese sich für ihren Roman Naissance des fantômes (Paris 1998) ihres Werkes La sorcière (Paris 1996) bedient habe. Vgl. Antoine de Gaudemar, „Marie NDiaye polémique avec Marie Darrieussecq“, in: Libération, 03.03.1998, http://www.liberation.fr/culture/0101241197-marie-ndiaye-polemique-avec-marie-darrieussecq (Stand: 22.11.2010). Vgl. ferner Camille Laurens, „Marie Darrieussecq ou Le syndrome du coucou“, in: La Revue Littéraire, 32/2007, http://www.leoscheer.com/la-revue-litteraire/2009/12/15/22camille-laurens-marie-darrieussecq-ou-le-syndrome-du-coucou (Stand: 15.11.2010). 9 Guy Debord, Commentaires sur la société du spectacle, Paris 1992, S. 38. Deutsche Übersetzung: „Alles, was nicht geahndet wird, ist wirklich erlaubt. Von Skandal zu reden, ist somit überkommen“, vgl. Guy Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, übers. Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996, Abschnitt VIII. Natürlich leugnet Debord nicht die Existenz von Skandalen als gesellschaftliches Phänomen. Allerdings haben diese ihre Funktion verändert, denn statt Kontrollinstrument einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit zu sein, fallen sie selbst der Gesellschaft des Spektakels zum Opfer, in welcher gesellschaftliche Akteure in bloße Zuschauer verwandelt werden.

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scandales, mais il n’y en a plus.“10 Leben wir also, trotz der geradezu schwindelerregenden Proliferation von Skandalen in Wirklichkeit in einer ‚postskandalösen‘ Epoche? Zugegeben: Dies wäre die eine – kontrafaktische – Konsequenz, die man trotz der gegenwärtigen Häufung von Skandalen aus Debords These ziehen könnte. Allerdings verliert die These vom theatralischen Charakter der sozialen Wirklichkeit gerade aufgrund ihres allumfassenden Charakters an begrifflicher Trennschärfe, es sei denn, man wollte permanent mit dem Begriff des Theaters auf dem Theater operieren. Ungeachtet der Stumpfheit von Debords Begrifflichkeit wäre es allerdings den Versuch wert, seine grundlegende These vom Schauspielcharakter der kapitalistischen Gesellschaft beim Wort zu nehmen, um sie konkreter und gleichzeitig radikaler zu fassen und zu untersuchen, was eigentlich das ästhetische und literarische Faszinosum des Skandals ausmacht. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrags wird daher die Poetik des Skandals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, um dann im zweiten Teil Literatur aus der Perspektive des Skandals zu durchleuchten.

II Poetik und Ästhetik des Skandals Wenn man Skandal mit Karl Otto Hondrich als Enthüllung einer moralischen Verfehlung definiert, die von hochgestellten Persönlichkeiten begangen wurde und öffentliche Empörung auslöst,11 dann lässt sich festhalten, dass der Skandal mit künstlerischen Werken eine grundlegende semiotische Struktur teilt. Denn Skandale verweisen auf etwas Anderes, es sind Zeichenpraktiken, die einen rekriminierten Tatbestand anzeigen. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Skandal ist dadurch gegeben, dass er sowohl mediale Darstellungen von und öffentliche Reaktionen auf Tatbestände meint als auch metonymisch deren Referenzobjekt, in der Regel die Überschreitung einer Norm. Bereits die Referenz des Skandals verfügt darüber hinaus über eine narrative Struktur im Sinne von Jurij M. Lotman, denn er konstituiert ein in der Überschreitung eines semantischen Raumes, in diesem Fall einer Norm, bestehendes Ereignis.12 Skandale durchbrechen die Kontinuität des

10 Deutsche Übersetzung „Skandale hat es früher gegeben, heute nicht mehr“, Debord, Kommentare, Abschnitt VIII. 11 Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 40. 12 Nach Lotmans bekannter Definition besteht ein Ereignis in der Versetzung einer Figur über die Grenzen eines semantischen Feldes (Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 332). Auslöser eines Skandals wäre in dieser Perspektive die Überschreitung des semantischen Feldes gesellschaftlicher Normen durch eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.

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Alltäglichen und erzeugen damit Diskontinuität. Auf das erste pfropft sich ein zweites Ereignis auf, die Aufdeckung der bisher verdeckt gebliebenen Normübertretung. Insgesamt ergibt sich eine idealtypische narrative Sequenz, die aus den Elementen „Normdurchbrechung – Aufdeckung – öffentliche Empörung – Sanktionen“ besteht.13 Dabei enthalten bereits die ersten beiden Sequenzen ein gewisses ästhetisches Potenzial, weil sie in auffälliger Weise der Handlungsstruktur des Kriminalromans ähneln. Denn genau genommen enthält der Skandal zwei Geschichten.14 Die eine handelt von der Normdurchbrechung und ihrer Verdeckung, die andere von deren Aufklärung. Täter und Opfer sind die Akteure der ersten, Journalisten, Aufklärer und Öffentlichkeit diejenigen der zweiten Geschichte, wobei die Opfer des im Skandal rekriminierten Vergehens auch zu Adjuvanten der Aufklärer werden können. Da man aufgrund seiner semiotischen Verfasstheit erst dann von einem Skandal sprechen kann, wenn er öffentlich geworden ist, sind Ablauf und Ende der Handlung vorprogrammiert: Denn aufgrund der Paradoxie des Dementis, das nur verstärkt, was es negiert, ist die Auseinandersetzung zwischen Aufdeckung und Verdeckung häufig von vornherein entschieden.15 Auch wenn der Ablauf des Skandals eine Zeit lang von der Dialektik zwischen Denunziation und Dementi bestimmt wird, endet er zumeist doch mit Bekenntnissen der Schuldigen, öffentlicher Abbitte und Rücktrittsgesuchen. Die zugrunde liegende Logik ist häufig die des Sündenbocks und Bauernopfers, nach welcher die Strafe von Hauptakteuren auf Nebenfiguren verschoben wird.16 Der Fall Michèle Alliot-Maries weist deutliche Züge dieser Handlungsstruktur auf, denn die französische Außenministerin war keineswegs die einzige Politikerin, die freundschaftliche Beziehungen zu Diktatoren des Nahen Orients pflegte. Auch der

13 Vgl. Manfred Piwinger/Wolfgang Niehüser (Hrsg.), Skandale: Verlauf und Bewältigung, Wuppertal 1991, S. 9–11. Erich Straßner schlägt eine andere Abfolge von Latenzphase, Aufschwungphase, Etablierungsphase, Lösung und Abschwungs- und Rehabilitationsphase vor, Erich Straßner, Dementis, Lügen, Ehrenworte. Zur Rhetorik politischer Skandale, in: Rhetorik, 11/1992, S. 1–32, hier: S. 20. Allerdings wird auch hier sichtbar, dass die Sequenz eine dramatische Struktur hat. 14 „On peut encore caractériser ces deux histoires en disant que la première, celle du crime, raconte ‚ce qui s’est effectivement passé‘, alors que la seconde, celle de l’enquête, explique ‚comment le lecteur (ou le narrateur) en a pris connaissance‘“, Tzetan Todorov, „Typologie du roman policier“, in: ders. (Hrsg.), Poétique de la prose, suivi de Nouvelles recherches sur le récit (1971, 1978), Paris 1980, S. 9–19, hier: S. 12. 15 Für das Dementi gilt: „Hier dementiert sich die Leugnung selbst, und das ist auch ihr Schicksal in Skandalen“, Dietrich Schwanitz, „Die Barschel-Affäre. Beobachtungen zur Dramaturgie paradoxaler Selbstverstärkung beim Aufbau von Skandalen“, in: Hans U. Gumbrecht/Karl L. Pfeifer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 345. 16 René Girard, Le Bouc émissaire, Paris 1982.

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französische Premierminister François Fillon hatte vom ägyptischen Diktator Mubarak Vergünstigungen wie zum Beispiel einen Urlaub auf Staatskosten angenommen, Frankreichs Staatschef selbst hatte Gaddafi hofiert und ihm sogar gestattet, sein Beduinenzelt im Garten des Élysée-Palastes aufzuschlagen. Schließlich hatte ganz Europa die Diktatoren des Vorderen Orients als Schutzschild gegen Islamismus und Einwanderungsströme nach Europa benutzt. Konsequenzen dieses Verhaltens musste jedoch allein die französische Außenministerin tragen. Die Dramaturgie des Skandals erzwingt eine Katharsis, wie auch immer diese aussehen mag.17 Wie die Handlungsstruktur, so ist auch die Figurenkonstellation relativ einfach gestrickt: Sie besteht in der Regel aus einer Dreierkonstellation, das heißt dem Skandalisierer oder Subjekt des Skandals, der den Skandal hervorruft, dem Objekt oder dem Skandalisierten, den der Skandal betrifft, und der als Publikum wirkenden Öffentlichkeit.18 Im Rampenlicht stehen die als ‚Missetäter‘ wirkenden Skandalisierten und deren Mithelfer oder ‚Adjuvanten‘, die ein Interesse daran haben, die kritisierten Missstände zu verdecken. Bei den Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche waren die Skandalisierten jene Priester, die des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen bezichtigt wurden und die Adjuvanten diejenigen Verantwortlichen, die diesen Missbrauch jahrzehntelang verschwiegen hatten und auch nach den ersten Klagen noch zu verschweigen suchten. Diesen Skandalisierten gegenüber stehen die Skandalisierer als diejenigen, die an einer Aufdeckung und Aufklärung des Skandals interessiert sind, in besagtem Fall unter anderem die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die Ende Februar 2010 die Aufklärungsarbeit der katholischen Kirche bei den Missbrauchsfällen kritisierte.19 Die geborenen Antagonisten und Skandalisierer aber sind natürlich die Journalisten. Der ästhetische Reiz einer solchen – bisweilen manichäischen – Figurenkonstellation liegt auf

17 Christian Schütze hält dieser kathartischen eine institutionelle Funktion entgegen. Skandale haben vor allem die Funktion, Mängel, Fehler und zögerliches Handeln gesellschaftlicher Institutionen wie zum Beispiel der Jurisdiktion zu kompensieren und deren Aktionen in Gang zu setzen, Christian Schütze, Skandal, München 1985, S. 324. 18 Sighard Neckel spricht von einer Skandal-Triade aus dem Skandalisierten, der einer Verfehlung bezichtigt wird, dem Skandalisierer, der diese Verfehlung denunziert und dem Dritten, dem über die Verfehlung berichtet wird, Sighard Neckel, „Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals“, in: Leviathan, 14/1986, S. 581–605, hier: S. 585. Zur Personenkonstellation der Skandale, insbesondere zur Skandal-Triade siehe auch Piwinger/Niehüser, Skandale, S. 12. 19 Vgl. Kritik an katholischer Kirche – Justizministerin bringt Union gegen sich auf, http://www. stern.de/politik/deutschland/kritik-an-katholischer-kirche-justizministerin-bringt-union-gegensich-auf-1546340.html (Stand: 27. 07.2010).

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der Hand.20 Sie reduziert Komplexität und bietet die leicht zu erstellende und zu verstehende Orientierung eines Trivialromans, der soziale Identität durch den Ausschluss derjenigen erzeugt, welche Normen verletzen und Grenzen überschreiten.21 Komplexitätsreduktionen haben immer soziale Nebenwirkungen. So auch hier: Denn die Anomalität der Skandalisierten bestätigt die Normalität der Skandalisierer und des Publikums.22 Skandale funktionieren mithin in sozialer Hinsicht gemäß der von Émile Durkheim beschriebenen Struktur, nach welcher gerade die Normdurchbrechung mittels asozial, unmoralisch oder krankhaft erscheinender Handlungen einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leistet. Das normdurchbrechende Verhalten sichert die Flexibilität der Normen und Strukturen und liefert dadurch paradoxerweise einen Beitrag zu deren Fortbestehen.23 Die als Ende des Skandals wirkende Katharsis schafft darüber hinaus eine spezifische zeitliche Struktur. Skandale sind nur im Singulativ denkbar, sie können nicht permanent wiederholt oder gar auf Dauer gestellt werden. Während die Verdeckung eines Tatbestands dauerhaft sein kann, ist die zeitliche Erstreckung der Aufdeckung der Wahrheit zeitlich begrenzt bzw. punktuell. Jeder Versuch, Skandale zu ritualisieren, das heißt in den Repetitiv einer beständig sich wiederholenden Inszenierung zu überführen, hebt sie auf. Rituelle Denunziationen des Skandals nehmen die Form eines performativen Selbstwiderspruchs an: Sie widerlegen durch die Form der Behauptung ihren Inhalt. Skandale basieren darüber hinaus auf einer Fokussierung von Wissen und Nicht-Wissen. Journalisten, Aufklärer und Öffentlichkeit verfügen nur über eine begrenzte, externe Fokalisation der Nicht-Wissenden, die sich im Verlauf des Skandals dem Wissensstand der skandalisierten Täter annähern. Aus dieser begrenzten Perspektive ergibt sich zusammen mit der Struktur einer Kriminalerzäh-

20 Jens Bergmann und Bernhard Pörksen sprechen von einer eindeutigen Verteilung von Gut und Böse, Klaus Bergmann/Bernhard Pörksen, „Einleitung. Die Macht öffentlicher Empörung“, in: dies. (Hrsg.), Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, Köln 2009, S. 13–33, hier: S. 17. 21 Klaus Laermann hat darauf hingewiesen, dass komplexe Problemlagen nur dann skandalisiert werden können, wenn sie sich vereinfachen lassen, Klaus Laermann, „Die gräßliche Bescherung. Zur Anatomie des politischen Skandals“, in: Kursbuch, 77/1984, S. 159–172, hier: S. 171. 22 Daher haben Normdurchbrechungen in systemtheoretischer Perspektive im Rahmen von Skandalen normbestätigende Wirkungen: „Die Moral bedarf des deutlich Skandalösen, um sich am Fall zu verjüngen“, Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Bielefeld 1996, S. 144. 23 Vgl. Émile Durkheim, „Le crime, phénomène normal“, in: Les règles de la méthode sociologique, Paris 1960, S. 65–72. Vgl. ferner Andrei Markovits, „Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien“, in: Rolf Ebbinghaus/ Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 153 f.  

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lung ein Element des ästhetischen Reizes des Skandals. Nicht nur weil sie eine Ereignisstruktur haben, eignen sich Skandale besonders zur literarischen oder filmischen Darstellung, sondern auch und vor allem, weil sie das Interesse der société du spectacle an ihnen mittels des Spiels der Perspektivenvielfalt zu wecken wissen. Normenkonflikte tun ein Übriges, um die dem Skandal inhärente Polyperspektivik zu verstärken. Im Fall des Journalisten Kachelmann etwa kam es mehrmals zu neuen Enthüllungen tatsächlicher oder angeblicher Geliebter, die sich zu dessen sexuellen Vorlieben und vermeintlichen Persönlichkeitsstörungen äußerten. Gutachten stellten die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage und der Angeklagte selbst startete mediale ‚Gegenangriffe‘. Während über die dem Skandal zugrunde liegende Norm bei Presse und Publikum Einigkeit herrschte, stellte sich das Vorliegen der Normübertretung je nach Person und Perspektive unterschiedlich dar. Auch diese Vielfalt der Meinungen sorgt für einen bestimmten ästhetischen Reiz der Geschichte und trägt zur Spannung des Geschehens bei. Aber Skandale können natürlich auch insofern Polyphonie erzeugen, als sie Normen selbst zur Disposition stellen und Normenkonflikte hervorrufen.24 Häufig stehen solche Normenkonflikte in Zusammenhang mit einer Selbstskandalisierung. So riefen die französischen Frauen, die sich Anfang der siebziger Jahre in einer öffentlichen Anzeige, dem sogenannten Manifeste des 343, dazu bekannten abgetrieben zu haben, bewusst einen Skandal hervor, um eine öffentliche Diskussion über die der juristischen Verfolgung von Abtreibungen zugrunde liegende Norm auszulösen.25 Wenn es um Geschichten von Verdeckung und Aufdeckung, Erklärung und Aufklärung geht, spielen Aussagen und damit auch die Form ihrer Wiedergabe naturgemäß eine entscheidende Rolle. Wer zitiert wen, wer spricht im eigenen, wer im fremden Namen? Direkte und indirekte Rede sind natürlich die gebräuchlichsten Formen der Redewiedergabe im Skandalgeschehen. Eine zu große Nähe zum skandalisierten Diskurs, wie dies etwa bei der erlebten Rede der Fall ist, kann allerdings selbst für einen Skandal sorgen. Dies war etwa am 10. November 1988 bei der im Bundestag veranstalteten Feier zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 der Fall. Der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger hielt

24 Vgl. Ronald Hitzler, „Skandal ist Ansichtssache. Zur Inszenierungslogik ritueller Spektakel in der Politik“, in: Rolf Ebbinghaus/Sighard Neckel (Hrsg.), Politischer Skandal, S. 334–354. 25 „Un million de femmes se font avorter chaque année en France. Elles le font dans des conditions dangereuses en raison de la clandestinité à laquelle elles sont condamnées, alors que cette opération, pratiquée sous contrôle médical, est des plus simples. On fait le silence sur ces millions de femmes. Je déclare que je suis l’une d’elles. Je déclare avoir avorté. De même que nous réclamons le libre accès aux moyens anticonceptionnels, nous réclamons l’avortement libre“, „Le Manifeste des 343“, in: Le Nouvel Observateur, 334/5 avril 1971.

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eine Gedenkrede, in welcher er die Einstellung vieler Deutscher in den 1930er Jahren in der erlebten Rede wiedergab: Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird? […] Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals – die ihnen nicht zukam? […] Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?26

Obwohl allen anwesenden Pressevertretern und auch dem Publikum klar war, dass der Redner keinerlei Sympathien für die von ihm wiedergegebenen Gedanken hatte, reagierte die Öffentlichkeit dennoch empört, weil Jenninger es in seiner Rede an deutlichen Zeichen der Distanz hatte vermissen lassen. Kurze Zeit später musste er als Bundestagspräsident zurücktreten. Das Beispiel der Jenninger-Rede weist bereits auf ein weiteres wichtiges Merkmal hin, das Skandale mit literarischen Werken teilen, denn in beiden Fällen liegt eine Inszenierung vor. Skandale sind aus dieser Perspektive nichts weiter als die Gesamtheit all jener symbolischen und medialen Strategien, mit deren Hilfe sie hervorgerufen werden. Damit teilen Skandale jedoch mit literarischen Werken ein wichtiges Merkmal, nämlich eine partielle oder völlige ‚Gemachtheit‘, ‚Fingiertheit‘ oder Fiktionalität, die auch dann gilt, wenn das rekriminierte Ereignis tatsächlich stattgefunden hat.27 Schließlich ergibt sich eine weitere ästhetische Struktur des Skandals aus der Tatsache, dass die Öffentlichkeit durch Skandale zumeist nicht zu direktem Handeln aufgefordert wird, sondern rein auf den Status des zuschauenden Publikums beschränkt bleibt. Für die meisten Menschen ist das Skandalgeschehen mithin wie ein Theaterstück oder ein Roman in eigentümlicher Weise ‚entpragmatisiert‘. Es enthält keine Handlungsaufforderung, sondern lädt zur Betrachtung mit mehr oder weniger interesselosem Missfallen oder Wohlgefallen ein. Trotz dieser Entpragmatisierung können Skandale, ganz analog zur Literatur, ein hohes emotionales Beteiligungspotenzial hervorrufen. Wenn Karl Otto Hondrich von verletzten kollektiven Gefühlen und der Opferung von Individuen spricht, dann

26 Armin Laschet/Heinz Malangré, Philipp Jenninger, Rede und Reaktion, Aachen/Koblenz 1989, S. 17 f. 27 Damit ist nicht gemeint, dass der Gegenstand von Skandalen frei erfunden ist, sondern bestimmte reale oder vermeintliche Normübertretungen erst durch symbolische und mediale Inszenierungen zum Objekt eines Skandals gemacht werden. Insofern ist der Ausdruck „Medienskandal“ genau genommen eine Tautologie.  

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wird diese ästhetische Dimension des Skandals deutlich.28 Auch ‚den hohen Fall‘ bedeutender Persönlichkeiten und die ‚spontane Bewegung der Gefühle‘ teilt der Skandal mit der Tragödie.29 Die Affinität zwischen Literatur und Skandal liegt darüber hinaus in einem zentralen poetischen Prinzip begründet, das die russischen Formalisten als „Deautomatisation“ gewohnter Wahrnehmungsabläufe bezeichnet haben. So wie literarische Texte von alltagssprachlichen Normen und in der Moderne auch von den literarischen Normen vorangehender literarischer Strömungen abweichen, so verstoßen Skandale gegen gewohnte Abläufe in Politik und Gesellschaft. Sie durchbrechen Gewohnheiten und Erwartungshorizonte.30 Diese Struktur kommt ihrer öffentlichen Wirkung zugute, denn Skandale müssen, sollen sie wirksam sein, Aufmerksamkeit erzielen. Auch unerwartete Wendungen, Überraschungseffekte, dramatische Zuspitzungen und ungewohnte Praktiken gehören zu den wichtigsten Strategien der Skandalisierung.31 Letztendlich birgt auch die Tatsache, dass Skandale ein anderes Licht auf bekannte Phänomene werfen und dazu befähigen, die Dinge neu zu betrachten, ein beträchtliches ästhetisches Potenzial. Wenn Skandale jedoch eine potenziell ästhetische Struktur haben, dann kann es nicht verwundern, dass sie auch in der Geschichte der Literatur selbst eine wichtige Rolle gespielt haben. Eine Betrachtung der Literatur unter dem Blickwinkel des Skandals birgt daher ein vielversprechendes Potenzial. Im folgenden Teil sollen daher Struktur und Entwicklung von Literaturskandalen näher betrachtet werden.

III Literaturskandale. Strukturen, Typen, Entwicklung III.1 Literatur als Medium oder Objekt des Skandals. Reziprozität der Skandalisierung. Gegenskandalisierung Das Kompositum ‚Literaturskandal‘ ist allerdings vieldeutig. Je nachdem, ob wir den ‚Skandal der Literatur‘ im Sinne eines genitivus obiectivus oder eines genitivus subiectivus verstehen, treten ganz unterschiedliche Formen und Funktionen lite-

28 Karl Otto Hondrich, Enthüllung, S. 16. 29 Ebd., S. 15. 30 Viktor Sklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt am Main 1966, S. 14. 31 So konstatieren Bergmann und Pörksen: „Der Skandal braucht eine Dramaturgie, Anfang, Ende, Höhepunkte, überraschende Wendungen“, Bergmann/Pörksen, Skandal!, S. 23.

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rarischer Skandale zum Vorschein. Der Terminus kann sich zum einen auf Skandale beziehen, die durch Literatur ausgelöst werden, bei denen Literatur also als Medium auf Normbrüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen hinweist, zum anderen auch auf Skandale, bei denen Literatur selbst skandalisiert wird. Oftmals hängen beide Formen des Literaturskandals jedoch miteinander zusammen.32 Wenn wir die erste Bedeutungsvariante aufgreifen, dann sind sicherlich diejenigen Skandale am spektakulärsten, die gesellschaftliche Missstände denunzieren. Um einige Beispiele aus dem 17. Jahrhundert aufzugreifen: Molières Geißelung religiöser Heuchelei im Tartuffe, seine Kritik an der Geltungssucht bürgerlicher Neureicher im Bourgeois gentilhomme oder seine Parodie auf die sprachliche Affektiertheit preziöser Salonkultur in den Précieuses ridicules funktionieren im oben besprochenen Sinne. Der Skandal basiert in allen diesen Fällen darauf, dass Literatur dank einer – im Falle Molières durch den Mäzen Ludwig XIV. ermöglichten – Distanznahme in der Lage ist, gesellschaftliche Phänomene zu beobachten und zu kritisieren. Literatur wird dadurch zum Skandalon einer Gesellschaft, welcher sie den Spiegel ihrer Missstände oder geheimen Wünsche vorhält. Auffällig an diesen klassischen Literaturskandalen ist die Reziprozität der Skandalisierung. Literatur deckt einen gesellschaftlichen Missstand auf, skandalisiert ihn und wird im Gegenzug von den gesellschaftlichen Instanzen ihrerseits skandalisiert. So ruft der Tartuffe auch deshalb einen Skandal hervor, weil die Gesellschaft der Klassik die öffentliche Anprangerung religiöser Heuchelei, und nicht etwa diese selbst, als skandalös empfand. Diese der Gegenskandalisierung zugrunde liegende Reziprozität ist ein grundlegendes Merkmal zahlreicher Literaturskandale, das sie von den meisten gesellschaftlichen Skandalen unterscheidet. Da Literatur Missstände öffentlich anprangert, wird sie selbst häufig zum Objekt einer Gegenskandalisierung durch Aktanten, für welche der Skandal gerade in der öffentlichen Zurschaustellung der Missstände beruht.33 Sie modifiziert in gewisser Weise das Phasenschema von Normdurchbrechung – Aufdeckung – Empörung – Sanktionierung, da sich hier die Gegenskandalisierung zwischen Aufdeckung und Empörung schiebt.34 Dennoch rekurriert diese Form literarischer

32 Dies hängt mit der Strategie der Gegenskandalisierung zusammen, Näheres dazu im Laufe dieses Abschnitts. 33 Das Beispiel Guttenbergs zeigt, dass die Gegenskandalisierung nicht auf Literaturskandale beschränkt bleibt, denn die Reaktionen in der CSU waren darum bemüht, nicht das Plagiat Guttenbergs, sondern dessen Kritik in den Medien zu skandalisieren. 34 Christine Resch hat die Strategie der Gegenskandalisierung in ihrer Studie zu Kunstskandalen erörtert: „Der von den Medien inszenierte Skandal löst eine ebenso medial vermittelte Strategie der Gegenskandalisierung aus“, Christine Resch, Kunst als Skandal, der steirische Herbst und die öffentliche Erregung, Wien 1994, S. 80.

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Skandalisierung auf Wertvorstellungen, welche die literarischen Akteure zumindest mit einem Sektor der Gesellschaft teilen, im Fall des Tartuffe etwa auf Normen wie Mäßigung, Toleranz und gesunden Menschenverstand (bon sens), die im Ideal des honnête homme verankert waren. Die Möglichkeitsbedingung der Skandalisierung gesellschaftlicher Normbrüche durch die Literatur beruht in diesem Fall allein darauf, dass Molières Komödien im politischen Kalkül des Königs Instrumente zur Aufrechterhaltung und Sicherung seiner Macht waren. Das Theater funktionierte als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Es handelt sich hier jedoch immer um Skandale, bei denen Literatur Verstöße gegen externe, gesellschaftliche Normen denunziert. Diese Form von Skandalen ist zu unterscheiden von solchen, bei denen Literatur selbst zum Objekt des Skandals wird. In der aristotelischen Poetik kann Literatur den Tatbestand des Skandalösen erfüllen, wenn sie das Unmögliche und Vernunftwidrige darstellt oder aber gegen künstlerische Anforderungen verstößt: „Die Vorwürfe, die man zu erheben pflegt, lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas unmöglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Erfordernissen einer Disziplin entgegengesetzt.“35 Es handelt sich hier um die drei großen metaphysischen Ideen des Wahren (Unmögliches, Vernunftwidriges), Guten (sittlich Anstößiges) und Schönen (künstlerische Anforderungen der Disziplin). Der Skandal entsteht mithin eindeutig durch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Autors, die vorgegebenen Normen oder Regeln einzuhalten.36 Regelverstöße können zwar auch ohne gesellschaftliche Sanktionen vorkommen, doch werden diese dann durch die literarische Form amortisiert. Selbst in stark normbezogenen Zeiten wie etwa dem Mittelalter können literarische Werke gegen moralische und ästhetische Normen verstoßen, ohne einen Skandal auszulösen. Sie erkaufen sich diese Freiheit allerdings – wie dies zum Beispiel bei der Farce du Maître Pathelin der Fall ist – um den Preis, die Normverstöße in komischer Form zu präsentieren. Der Normenverstoß tritt dank der Komik im Narrengewand auf und kann deshalb toleriert werden.37

35 Aristoteles, „Poetik“, in: Hauptwerke, Wilhelm Nestle (Hrsg.), Stuttgart 1977, S. 336–376, hier: S. 373. 36 Volker Ladenthin, „Literatur als Skandal“, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal. Fälle. Funktionen. Folgen, Göttingen 2007, S. 19–29, hier: S. 20. 37 Vgl. Erich Auerbachs Stiltrennungsregel: „[…] alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden“, Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Basel 1971, S. 35.

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III.2 Der Meta-Skandal der Immoralismusprozesse als Diskursbegründer moderner Literatur Dass literarische Werke die Freiheit haben, gesellschaftliche Missstände auf der Basis eigener Normen anzugreifen, ohne dazu einer gesellschaftlichen Machtinstanz zu bedürfen, diese Errungenschaft verdanken sie selbst einem wichtigen Literaturskandal. Es handelt sich um jenen berühmten Doppelskandal, den Charles Baudelaire und Gustave Flaubert mit der Publikation der Fleurs du mal und von Madame Bovary Mitte des 19. Jahrhunderts auslösen. Auf den ersten Blick geht es bei den sogenannten Immoralismusprozessen um eine bereits bekannte, in der Aufdeckung und Denunziation rekriminierter Verhältnisse und Verhaltensweisen bestehende Form des Skandals. Flauberts Roman löst auch deshalb einen Literaturskandal aus, weil er in Madame Bovary die Engstirnigkeit, Profitsucht und Beschränktheit des französischen Bürgertums der Provinz geißelt. Seine Kritik bedient sich dabei einer neuen literarischen Strategie, die den bisher geltenden moralischen Pakt aufkündigt. War die Darstellung etwa eines Ehebruchs um den Preis entweder einer komischen Darstellung oder aber einer expliziten Verurteilung durch einen Erzählerkommentar erlaubt, so schildert Flaubert die Ereignisse komik- und kommentarlos. Diese Normdurchbrechung beantworten Presse und Publikum mit einer Gegenskandalisierung, die dann schließlich in den Immoralismusprozess mündet. Insofern folgt der Skandal um Flauberts Roman der gleichen Logik, mit der Stendhal in Le Rouge et le Noir mehr als zwanzig Jahre zuvor die bisher geltende Skandallogik zu einer wirkmächtigen Metapher vom Roman als Spiegel der Gesellschaft verdichtet hatte: Hé, monsieur, un roman est un miroir qui se promène sur une grande route. Tantôt il reflète à vos yeux l’azur des cieux, tantôt la fange des bourbiers de la route. Et l’homme qui porte le miroir dans sa hotte sera par vous accusé d’être immoral! Son miroir montre la fange, et vous accusez le miroir! Accusez bien plutôt le grand chemin où est le bourbier, et plus encore l’inspecteur des routes qui laisse l’eau croupir et le bourbier se former.38

In den Prozessen um Madame Bovary ging es allerdings weniger um die Thematik des Ehebruchs – „la donnée la plus usée, la plus prostituée, l’orgue de Barbarie le plus éreinté“ wie Baudelaire in seiner luziden Kritik des Romans treffend bemerkte39 –, also um eine Thematik, die zur gleichen Zeit in anderen Gattungen wie etwa im Boulevardtheater Heiterkeitsstürme auslösen konnte, sondern um

38 Stendhal, Le rouge et le noir, Paris 1960, S. 357. 39 Charles Baudelaire, „Gustave Flaubert. Madame Bovary, la Tentation de Saint-Antoine“, in: ders., Œuvres Complètes, Yves-Gérard LeDantec (Hrsg.), Paris 1968, S. 449–453, hier: S. 451.

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etwas Anderes. ‚Skandalös‘ an Madame Bovary waren vielmehr die ästhetischen Prinzipien der Unparteilichkeit, Undurchdringlichkeit und Unpersönlichkeit, mit denen Flaubert diese Thematik darstellte.40 Unter der Oberfläche des Immoralismusskandals verbirgt sich somit ein tiefer liegendes Skandalon.41 Der wahre Stein des Anstoßes besteht darin, dass Literatur mit Flauberts Roman ihre Unabhängigkeitserklärung abgibt und fortan einen Standpunkt jenseits von Gut und Böse einnimmt. Noch deutlicher wird dies im Parallelskandal der Fleurs du Mal, denn mit den ‚Blumen des Bösen‘ wird nicht nur das Schöne endgültig vom Guten abgekoppelt, sondern, viel wichtiger noch, das gesellschaftlich Schöne vom literarisch Schönen. Ganz unabhängig vom Ausgang – Flaubert wurde bekanntlich freigesprochen, Baudelaire verurteilt – haben wir es hier mit zwei Skandalen zu tun, bei denen der Bruch mit der Norm nicht mit deren Bestätigung, sondern mit ihrer Veränderung endet, sodass die Skandalisierung hier auf die Skandalisierer zurückwirkt. Die Skandale Flauberts und Baudelaires führen mithin letztendlich nicht nur zu einer Veränderung, die moralische Normen des Handelns betrifft, sondern auch zu einer Transformation literarischer Ethik. Der Skandal von 1857 ist Kulminationspunkt und Fanal eines Ablösungsprozesses, in dessen Verlauf Literatur sich – um mit Pierre Bourdieu zu sprechen – als „relativ autonomes Feld literarischer Produktion“ konstituiert, das nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und eigene, spezifische Skandalpraktiken hervorbringt.42 Der Skandal sprengt in diesem Fall den Rahmen seines normalen Funktionierens und schafft einen neuen, veränderten Rahmen skandalöser Praktiken. Man kann ihn insofern als Meta-Skandal bezeichnen, als durch ihn ein neuer Rahmen für Literaturskandale geschaffen wird und weil er die Regeln künftiger Skandale neu festlegt. Der durch Baudelaire und Flaubert ausgelöste Meta-Skandal eröffnet im Kontext einer zunehmenden Ablösung und relativen Autonomie des literarischen Feldes neue Formen des Skandals, die bisher allenfalls punktuell und subdominant auftreten konnten.

III.3 Versuch einer Typologie Bei den bisher erwähnten Literaturskandalen handelt es sich vorwiegend um Skandale, die keine rein literarischen Normen betreffen, sondern Normenkonflik40 Gustave Flaubert, Correspondance, tome II: 1851–1858, Paris 1980, S. 691. 41 Vgl. Klaus Heitmann, Der Immoralismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert, Bad Homburg 1979. 42 Vgl. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art, Paris 1994.

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te zwischen Literatur und anderen gesellschaftlichen Feldern wie zum Beispiel Religion, Wirtschaft oder Justiz.43 Darüber hinaus waren die Normen, in deren Namen literarische Werke bestimmte Verstöße kritisierten in den bisher behandelten Fällen zumeist von der Gesellschaft vorgegeben. Wenn Molière im Tartuffe die religiöse Heuchelei anprangert, handelt es sich dabei um eine Verhaltensweise, die eindeutig den damals geltenden religiösen und moralischen Normen widersprach. Das Normensystem, in dessen Namen die literarische Skandalisierung stattfand, war mithin außerhalb des literarischen Feldes angesiedelt, es war ‚heteronom‘, während das Objekt der Skandalisierung gleichfalls außerhalb des literarischen Feldes lag, und somit ‚extern‘ war.44 Im Prinzip liegt diese Grundstruktur eines externen und heteronomen Literaturskandals auch noch beim von Émile Zola ausgelösten Dreyfus-Skandal vor, da die Anklage in „J’accuse“ auch hier im Namen gesellschaftlich anerkannter Werte geschieht. Eine wichtige Änderung gegenüber der Position Molières liegt allerdings darin, dass die relative Autonomie dem literarischen Feld auch eine gewisse Freiheit von gesellschaftlichen Interessen und Parteinahmen verleiht. Dadurch erhalten von Schriftstellern vorgenommene Skandalisierungen den Nimbus gesellschaftlicher Interesselosigkeit. Ausgedrückt in den Termini der strukturalen Soziologie heißt dies, dass die von Schriftstellern ausgelösten Skandalisierungen ‚stellungslose Stellungnahmen‘ sind, denen Neutralität zugebilligt wird, wodurch sich ihre gesellschaftliche Wirkung beträchtlich verstärkt. Durch die Moderne wird auch die neue Möglichkeit eröffnet, dass die Maßstäbe der Skandalisierung sich in Opposition zu gesellschaftlichen Normen befinden können. In diesem Fall wäre der Skandal autonom. Darüber hinaus kann sich das

43 Vgl. dazu die von Claudia Dürr und Tasos Zembylas aufgestellte Typologie möglicher Konflikte oder Reibungsflächen zwischen Literatur auf der einen Seite und politischen Instanzen, Gesellschaft, Erwartungen an Intellektuelle, Persönlichkeitsrechten etc. auf der anderen Seite: Claudia Dürr/Tasos Zembylas, „Konfliktherde und Streithähne. Grenzzonen und Strategien im Literaturbetrieb“ in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, Göttingen 2007, S. 75–88. 44 Hans-Edwin Friedrich hat in seinem lesenswerten Aufsatz über Literaturskandale den Terminus heteronome Literaturskandale für solche Skandale vorgeschlagen, die auf einen Konflikt zwischen dem Literatursystem und seiner Umwelt, das heißt anderen gesellschaftlichen Feldern wie Religion, Justiz oder Wirtschaft, zurückgehen, während autonome Skandale innerhalb des Literatursystems auftreten. Die von mir vorgeschlagene begriffliche Differenzierung zwischen extern/intern und autonom/heteronom erlaubt es darüber hinaus, einen wichtigen Aspekt der Moderne zu erfassen, nämlich diejenigen Skandale, die sich auf Wertesysteme beziehen, die innerhalb des literarischen Feldes selbst entwickelt wurden, wie dies etwa bei den Avantgarden der Fall ist. Vgl. Hans-Edwin Friedrich, „Literaturskandale. Ein Problemaufriss“, in: ders. (Hrsg.), Literaturskandale, Frankfurt am Main/Berlin 2009, S. 7–27, hier: S. 18.

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Objekt der Skandalisierung innerhalb des gesellschaftlichen Feldes befinden. In diesem Fall handelt es sich um einen internen Skandal. Wenn etwa der Surrealismus die Gesellschaft einer radikalen Kritik unterzieht und deren Reduktion der menschlichen Möglichkeiten auf Verstand und Vernunft anprangert, dann ist der dadurch hervorgerufene Skandal extern. Er ist jedoch gleichzeitig autonom, denn die Wertmaßstäbe, in deren Namen diese Kritik vorgetragen wird, wie zum Beispiel Freiheit und Phantasie entsprechen genuinen Normen des literarischen Feldes.45 Diese extern-autonome Skandalform ist zu unterscheiden von internautonomen Formen, wie etwa die sich rein auf dem literarischen Feld bewegende surrealistische Skandalisierung Tristan Tzaras und des Dadaismus, und internheteronomen Skandalen, bei denen literarische Werke zum Objekt einer im Namen gesellschaftlicher Werte betriebenen Skandalisierung werden, wie dies zum Beispiel bei der Querelle du Cid der Fall war, als sich Corneille unter anderem mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen die Regeln der bienséance konfrontiert sah.46 Um die Funktionen von Skandalen in den Blick zu bekommen, ist noch eine weitere Unterscheidung zwischen affirmativen und kritischen Literaturskandalen notwendig, je nachdem, ob sie gesellschaftliche Normen bestätigen oder in Frage stellen.47 Die durch die Immoralismusprozesse begünstigte und manifest werdende Ausdifferenzierung des literarischen Feldes führt nun zu einer mehrfach motivierten Institutionalisierung des Skandals.48 Dank dieses Ausdifferenzierungsprozesses und der Konstitution eines relativ autonomen Feldes literarischer Produktion ist moderne Literatur von nun an ex officio, das heißt durch ihre Position und Funktion im gesamtgesellschaftlichen Feld, bereits potenziell skandalös.49

45 Die von Breton im ersten surrealistischen Manifest entwickelte Gesellschaftskritik geschieht im Namen von Werten wie Kindheit, Phantasie, Einbildungskraft, Freiheit, die sich jeweils auf literarische Normen zurückführen lassen. Vgl. André Breton, Manifestes du surréalisme, Paris 1985, S. 13–16. 46 Vgl. Jean-Marc Civardi, La querelle du Cid (1637–1638), Paris 2004. 47 Der Begriff des affirmativen Skandals ist Herbert Marcuse entlehnt, der mit „affirmativ“ eine Form bürgerlicher Kultur meint, die gesellschaftliche Verhältnisse, statt sie zu kritisieren, bestätige und sich ans Bestehende anpasse; Herbert Marcuse, „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1965, S. 63; vgl. ferner Stefan Neuhaus/Johann Holzner, „Literatur als Skandal“ in: dies. (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 11–18, hier: S. 12. 48 Arturo Larcati, „Skandalstrategien der Avantgarde: vom Futurismus zum Dadaismus“, in: ebd., S. 110–127, hier: S. 111. 49 Ladenthin, Literatur als Skandal, S. 21.

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III.3.1 Autonome externe Skandale Dies lässt sich anhand eines Skandals illustrieren, der durch die Aufführung von Jean Genets Stück Les Paravents (1966) ausgelöst wurde. Zwar hatte der damalige französische Kultusminister André Malraux dem Intendanten des Odéon-Theaters Jean-Louis Barrault die Erlaubnis zur Aufführung erteilt, doch Stück und Inszenierung stellten Bezüge zur Algerienkrise her. Die Gegenüberstellung der Armut der Algerier und der üppigen Lebensweise der reichen Franzosen rief Protestaktionen auf den Plan, an denen unter anderem der damals junge Abgeordnete Jean-Marie Le Pen beteiligt war. Jeden Abend demonstrierte er vor dem Theater mit einer Gruppe Gleichgesinnter gegen die Aufführung des ‚antifranzösischen‘ Stückes in einem vom französischen Staat subventionierten Theater, bis schließlich eine Gruppe französischer Fallschirmjäger eine Vorstellung durch das Werfen von Tränengasbomben sprengte. Genet wurde beschuldigt, die französische Gesellschaft zu verabscheuen, ein Vorwurf, auf den der Autor hocherfreut reagierte, bis Malraux ihm schließlich zu Hilfe eilte und festhielt: „Quiconque a lu cette pièce sait très bien qu’elle n’est pas antifrançaise. Elle est antihumaine. Elle est antitout.“50 Der Kontrast zur antiken Auffassung, so wie sie sich bei Aristoteles manifestiert, könnte größer nicht sein. Während der Skandal dort durch die Nichterfüllung oder Durchbrechung externer gesellschaftlicher Normen hervorgerufen wurde, gehören Normdurchbrechung und Skandal nunmehr zum Selbstverständnis des literarischen Feldes. Bezogen auf die genannten metaphysischen Ideen bedeutet dies, dass Literatur sich von moralischen Vorstellungen löst und ihre eigene Idee des Guten, oftmals gegen gesellschaftliche Vorstellungen entwickelt, dass sie sich von der ‚gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‘ löst und ihre eigene Wahrheit dem gesellschaftlich anerkannten Wahren gegenüberstellt und schließlich, dass sie vom geltenden guten Geschmack absieht und ihr eigenes Ideal des Schönen entwirft. Was bedeutet Baudelaires in den Fleurs du Mal entwickelte Ästhetik des Hässlichen anderes als den Anspruch der Literatur auf das Recht, eine eigene ästhetische Schönheit aus demjenigen Material zu entwickeln, das in der Gesellschaft als hässlich angesehen wird? „J’ai pétri de la boue, et j’en ai fait de l’or.“51 Auch die Begeisterung der Futuristen für die Schönheit der Technik, die sie gegen das traditionell Schöne ins Spiel bringen, lässt sich vor diesem Hintergrund verstehen. Wenn ein Automobil in den Augen der Futuristen schöner ist als die Nike von Samothrake, dann unterstreichen sie

50 Claire Julliard, Les Scandales littéraires, Paris 2009, S. 29. 51 Charles Baudelaire, „Bribes“, in: Œuvres, Yves-Gérard LeDantec (Hrsg.), S. 258–260, hier: S. 258.

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damit ihre Forderung nach der Schöpfung einer eigenen ästhetischen Norm, die von der gesellschaftlich anerkannten Schönheit radikal abweichen kann.52 Was bedeuten die Angriffe der Surrealisten auf die bürgerliche Moral anderes als dass sie dieser eine eigene, neue Ethik der Liebe und der Leidenschaft entgegensetzen, die sich über die Normen bürgerlicher Moral hinwegsetzt, so wie Breton dies etwa in L’amour fou vorexerziert? Was bedeuten die Skandale der Dadaisten anderes als dass sie der herrschenden Meinung über die Notwendigkeit des Krieges eine eigene Sichtweise gegenüberstellen?53 Die Normalisierung des Skandals in der literarischen Moderne besteht also in dem Nachweis, dass die gesellschaftlich geltenden Normen keine Legitimität haben, konkret in der Aufdeckung der Unsittlichkeit der geltenden Sitten (Zola, Nana), der Unwahrheit des gesellschaftlichen Wahren (Dada) und der Hässlichkeit des gesellschaftlich Schönen (Kitsch). Sie geht einher mit der Autonomie des literarischen Feldes und der durch sie hervorgerufenen Skandale, auch dann, wenn sie sich auf feldexterne Geschehnisse beziehen. Das Beispiel von Les Paravents und vor allem die Reaktion Genets auf die Kritiken zeigen deutlich, dass der Skandal hier, ganz unabhängig von den subjektiven Motiven und dramaturgischen Konzepten der involvierten Autoren, funktional auch als Nachweis der eigenen Unabhängigkeit und Unbeeinflussbarkeit von gesellschaftlichen Interessen dient. Der Skandal markiert somit auch die Grenze zwischen Literatur und Gesellschaft und hat daher eine legitimierende Funktion.

III.3.2 Autonome und interne Skandale Mit der neu erworbenen relativen Autonomie des literarischen Feldes hängt eine zweite Ursache der Institutionalisierung des Skandals zusammen. Da Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, besteht die größte Normdurchbrechung gerade in der Verletzung ihrer hart erkämpften Unabhängigkeit.54 Damit kann prinzipiell jederzeit gegen jedes Werk der Verdacht geäußert werden, seine Entstehung verdanke sich anderen als spezi-

52 „Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake“, Filippo Tomaso Marinetti, „Manifest des Futurismus“, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.), Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek b. Hamburg 1993, S. 77–80, hier: S. 77. 53 Vgl. Marc Dachy, Dada et les dadaismes: Rapport sur l’anéantissement de l’ancienne beauté, Paris 1994. 54 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art, Paris 1994, S. 355, passim.

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fisch literarischen Interessen. Ein literarisches Skandalon schlechthin sind etwa Werke, die andere imitieren, denn sie verstoßen gegen den kategorischen Imperativ der Authentizität. Desgleichen verletzt die Vertretung der herrschenden Moral das Autonomieprinzip, die Orientierung an einem vorgegebenen gesellschaftlich anerkannten Schönen das Gebot der Originalität.55 Das Misstrauen gegen eine mögliche Fremdbestimmung einzelner Werke durch externe Interessen trägt daher zu einer Institutionalisierung des Skandals bei. Diese Grundstruktur eröffnet der Gruppe nicht anerkannter und ‚dominierter‘ Autoren mit geringem spezifischen kulturellen Kapital einen in der Struktur des Feldes selbst verankerten Schachzug gegen dominante und anerkannte Autoren, die mit hohem symbolischen, feldspezifischen und ökonomischen Kapital ausgestattet sind. Er besteht darin, diese Autoren gerade wegen ihres Erfolges und hohen Ansehens dem doppelten Verdacht auszusetzen, sich eines immer wieder benutzten literarischen Rezeptes zu bedienen, bzw. sich selbst zu imitieren und zu plagiieren und überdies durch feldfremde ökonomische und soziale Interessen korrumpiert zu sein. Bei den öffentlich inszenierten Skandalen etwa der Dadaisten gegen Maurice Barrès oder der Surrealisten gegen Pierre Loti und Anatole France ging es zum Beispiel um den Verdacht, die Interessen der Literatur meistbietend an die französische Gesellschaft verraten und verkauft zu haben.56 Diese Form literarischer Skandalisierung entspricht allgemein einem re-entry der Differenz zwischen Literatur und Gesellschaft, zwischen System und Umwelt in die Literatur selbst.57 Dies gilt auch dann, wenn Skandale nicht – wie im Fall Genets – der Literatur extern sind und durch eine kritische Stellungnahme zur Gesellschaft ausgelöst werden, sondern wenn sie sich intern auf Literatur selbst beziehen. Dies war etwa bei den ersten expressionistischen Gedichten der Fall, bei den Stücken des absurden Theaters oder bei den ersten Werken des nouveau roman, deren literarische Formgebung gegen geltende ästhetische Normen verstieß. Auch hier hat der Skandal jenseits aller subjektiven poetologischen Intentionen der jeweiligen Autoren eine dem literarischen Feld inhärente objektive Funktion. Er unterstreicht die

55 So löste Helene Hegemanns Buch Axolotl Roadkill nicht wegen der dort beschriebenen Praktiken Jugendlicher einen Skandal aus, sondern erst dann, als bekannt wurde, dass die Autorin Teile der Texte von einem Autor abgeschrieben hatte. 56 „Loti, Barrès, France, marquons tout de même d’un beau signe blanc l’année qui coucha ces trois sinistres bonshommes: l’idiot, le traître et le policier. […] Avec France, c’est un peu de la servilité humaine qui s’en va. Que soit fête le jour où l’on enterre la ruse, le traditionalisme, le patriotisme, l’opportunisme, le scepticisme, le réalisme et le manque de cœur!“, vgl. Maurice Nadeau, Histoire du surréalisme, Paris 1970, S. 29–31. 57 Eine ähnliche Wiedereinschreibung betrifft die Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst bzw. alle jene Versuche, „jede mögliche Nichtkunst in die Kunst wiedereintreten zu lassen“, Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 476.

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Originalität der jeweiligen Werke und damit auch die Tatsache, dass die Autoren sich nicht von feldfremden, sondern einzig von literarischen Interessen haben leiten lassen. Der autonome und interne Literaturskandal dient mithin der Erzeugung eines spezifischen literarischen Kapitals. Damit verbunden ist allerdings eine Veränderung im Ablauf des Skandalisierungsschemas. Denn auch literarische Avantgarden lassen Skandalisierungen auf feldspezifische Weise reziprok werden: Auf die Skandalisierung der Avantgarden durch traditionelle Literaten und Kritiker antworten Avantgarden mit einer Gegenskandalisierung, indem sie deren Konservativismus denunzieren. Allerdings liegen die Normen, auf welche rekurriert werden kann, um deren ‚Durchbrechung‘ durch traditionelle Werke zu skandalisieren, in diesem Fall überhaupt noch nicht vor, sondern müssen erst konstruiert werden. Typisch für den modernen Literaturskandal scheint daher eine ‚antizipierende Skandalisierung‘ zu sein, die auf noch nicht existierende Normen vorgreift, deren Durchbrechung sie der vorangehenden ‚Tradition‘ vorwirft. Der Literaturskandal im engeren Sinne ist eine Strategie, mit der im literarischen Feld unterlegene Akteure, also noch nicht anerkannte Autoren mit geringem spezifischen kulturellen und symbolischen Kapital versuchen, das Ansehen anerkannter Schriftsteller zu beschädigen und dadurch selbst symbolisches Kapital zu erwerben.

IV Skandal und Selbstbewegungsprozess der Moderne Diese Struktur schafft darüber hinaus die Grundlage für eine weitere Kollusion zwischen Skandal und literarischer Moderne. Denn die oben beschriebene Konstellation sorgt dafür, dass das bisher zwischen den Epochen geltende Prinzip der Negation und Absetzung, also etwa der Renaissance vom Mittelalter, der Romantik von der Aufklärung etc., nunmehr reflexiv wird und sich auf die Moderne selbst und die Beziehung der zu ihr gehörenden Strömungen untereinander bezieht.58 Es entsteht eine Dynamik, in der sich in rascher Abfolge Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus etc. ablösen. Literaturskandale erfüllen hier eine zentrale Funktion, denn sie markieren auf deutlich sichtbare Weise feldinterne Differenzen und verbürgen dadurch die Identität einzelner Strömungen. Der Skandal ist der literarischen

58 Vgl. Hans Robert Jauss, „Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität“, in: ders. (Hrsg.), Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1974, S. 11–66, hier: S. 50–52.

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Moderne somit doppelt eingeschrieben, die Institutionalisierung des Skandals mit der Institution Literatur mitgesetzt. Allerdings richten sich avantgardistische Skandalpraktiken natürlich nicht nur auf die literarische, sondern auch auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Auch dann, wenn sie sich zunächst intern auf das literarische Feld selbst beziehen, haben sie doch oftmals eine feldexterne Dimension. Praktiken wie die écriture automatique, die Spiele der Surrealisten, die Umfragen zur Sexualität und vor allem die Emphase der Freiheit sind ausgerichtet auf eine Revolution alltäglicher Lebenspraxis, die Kindheit, Phantasie, das Verlangen und damit die menschliche Kreativität befreien sollen.59 Um diese Wirkung zu erlangen, scheint allerdings gerade die relative Autonomie des literarischen Feldes ein Hindernis dazustellen, sorgt sie doch dafür, dass die jeweiligen Provokationen der Avantgarden durch das Feld selbst amortisiert und aufgefangen werden, sodass sie sich letztlich im Elfenbeinturm oder eingezäunten Reservat für Literaten abspielen. Im theoretischen Rahmen von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde hätten avantgardistische Literaturskandale nun die präzise Funktion, gerade diejenigen Grenzmarkierungen zu zerstören, die sich durch die Institution von Kunst und Literatur, also durch das literarische Feld und seine Autonomie ergeben.60 Wenn André Breton und die Surrealisten Literatur kritisieren und sich ihr verweigern, dann scheint damit unter anderem genau jene Zerstörung der Grenzen anvisiert zu sein, in der Peter Bürger das grundlegende Charakteristikum avantgardistischer Skandale sieht.61 Unabhängig von den subjektiven Intentionen einzelner Akteure und der Übereinstimmung ihrer Äußerungen mit Bürgers Theorie wäre eine solche Strategie allerdings aus verschiedenen Gründen ein paradoxes Unterfangen. Denn die Skandalpraxis ist hier ja selbst institutionalisiert und erscheint daher kaum geeignet, mit der Institution Literatur zu brechen. Skandale sind vom Code des literarischen Feldes selbst vorgesehen und unterstreichen eher seine Autonomie als diese aufzuheben oder zu zerstören. Auch die mit dem Skandal verbundene

59 „L’homme propose et dispose: il ne tient qu’à lui de s’appartenir tout entier, c’est-à-dire de maintenir à l’état anarchique la bande chaque jour plus redoutable de ses désirs. La poésie le lui enseigne. Elle peut être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel pour la terre! […]“, André Breton, Manifestes, S. 28. 60 Bürger deutet die Provokationen der Avantgarden als Negation der Institution von Kunst und Literatur insgesamt, als Versuch, die Trennung zwischen Kunst und Lebenspraxis aufzuheben. Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 66. 61 Im ersten Manifest heißt es dementsprechend: „Dites-vous bien que la littérature est un des plus tristes chemins qui mènent à tout“, Breton, Manifestes, S. 41. „Nous n’avons rien à voir avec la littérature,“ heißt es in der „Déclaration du 27 janvier (1925)“, in: José Pierre (Hrsg.), Tracts surréalistes et déclarations collectives, Bd. 1, Paris 1980, S. 34.

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Strategie ist genauer besehen paradox, denn mit ihren Skandalen provoziert die literarische Avantgarde den bürgerlichen Geschmack, verstößt bewusst gegen bürgerliche Normen und staatliche Institutionen, und stößt das Bürgertum vor den Kopf, dies allerdings in der Absicht, gerade dieses Publikum, beziehungsweise dessen avancierteste Vertreter, für die eigene Sache zu gewinnen. Darüber hinaus würden derartige Strategien jedoch, vorausgesetzt sie wären erfolgreich, Literatur und Kunst gerade jenen Handlungsfreiraum entziehen, der es ihnen erlaubt, alternative Lebensformen zu entwickeln. Vielmehr handelt es sich bei den avantgardistischen Skandalen um eine gezielte Überschreitung des Feldes, die im Feld selbst vorgesehen ist und die gerade dazu dient, die im literarischen Freiraum entwickelten Praktiken in die restliche Gesellschaft hineinzutragen. Die mit den surrealistischen Skandalen verbundenen Schockwirkungen richten sich mithin nicht gegen die Institution Literatur, sondern sie nutzen deren Freiraum zu einer Überschreitung von Grenzen, hinter die sich Literatur dann jedoch wieder zurückziehen kann, um in größtmöglicher Freiheit mit neuen Literatur- und Lebensformen zu experimentieren.

V Der intermediale Skandal als Diskursbegründer des modernen Films – Nouvelle Vague In dem skizzierten Panorama darf aus Gründen der Systematik ein wichtiger Skandal nicht fehlen, der durch die Kritiker der Cahiers du Cinéma und späteren Regisseure der Nouvelle Vague heraufbeschworen wurde. Zunächst funktioniert er scheinbar nach den Gesetzmäßigkeiten der literarischen Moderne. Durch Filmkritiken mit manifestartigem Charakter wie Truffauts Generalabrechnung mit der französischen tradition de la qualité in Une certaine tendance du cinéma français,62 provokante Thesen wie Jacques Rivettes Feststellung, das tiefste Denken der Gegenwart sei in den Filmen Hitchcocks zu finden63 oder aber offenkundig kontrafaktische Behauptungen wie Chabrols Feststellung, „Tout ce qu’il faut savoir pour mettre en scène s’apprend en quatre heures“,64 sowie Filme, die fast

62 François Truffaut, „Une certaine tendance du cinéma français“, in: ders. (Hrsg.), Le plaisir des yeux, Paris 1990, S. 211–228. 63 Jacques Rivette, „Die Kunst der Fuge“, in: ders. (Hrsg.), Schriften fürs Kino, Revue CICIM, 24/ 25/Januar 1989, S. 44–50, hier: S. 45. 64 Claude Chabrol, „Tout ce qu’il faut savoir pour mettre en scène s’apprend en quatre heures. Interview avec François Truffaut“, in: Arts, 652/8.1.1958, zit. nach Jacques Siclier, Nouvelle Vague?, Paris 1961, S. 15.

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mit jeder Einstellung die Regeln der konventionellen Filmästhetik verletzen wie Jean-Luc Godards À bout de souffle,65 sollen zunächst die das Feld beherrschenden, mit hohem Ansehen, ökonomischem und symbolischem Kapital ausgestatteten, traditionellen Regisseure skandalisiert werden.66 Die Jungtürken der Cahiers du Cinéma werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Claude Autant-Lara, Jean Delannoy und andere Regisseure durch das viele Geld, das sie für einen Film zur Verfügung haben, korrumpiert worden, durch die reiche technische Ausstattung in den Studios dem Akademismus verfallen und durch die berühmten Schauspieler und die versiertesten Drehbuchautoren dazu verführt worden seien, Filmbilder auf den Krücken von Literatur und Prominenz laufen zu lassen.67 Diese Skandalpraktiken müssen jedoch auf den ersten Blick eigentümlich deplatziert wirken, denn der Film als ein Medium, bei dem, im Unterschied zur Literatur die Ökonomie bereits bei der Produktion eine entscheidende Rolle spielt, stellt in den 1950er Jahren ja gerade nicht ein relativ autonomes Feld künstlerischer Produktion dar. Deshalb ist zu vermuten, dass die Skandalpraktiken der Nouvelle Vague viel tiefer greifen. Wenn Jean-Luc Godard in einer Diskussion über Hiroshima, mon amour von Alain Resnais kategorisch festhält „Les travellings sont affaire de morale“,68 dann konstruiert er eine Norm, die bisher im Feld der Kinoproduktion gar nicht existierte. Was hier aber wie eine eigentümliche, mediale Donquichotterie aussieht, die darin besteht, die Windmühlen der Filmproduktion als literarische Riesen zu bekämpfen, macht erst dann Sinn, wenn man die Skandalisierungspraktiken als eine Strategie versteht, die nicht auf die bloße Veränderung der Machtverhältnisse innerhalb des Feldes der Kinoproduktion beschränkt bleibt, sondern dieses Feld selbst zu revolutionieren sucht. Die Skandale der Nouvelle Vague haben die Funktion, den Film aus der Vorherrschaft wirtschaftlicher Interessen und literarischer Vorgaben in Form von Drehbüchern zu befreien und ihn vom bloßen, technischen Handwerk zum eigenständigen Medium künstlerischen Ausdrucks zu befördern, das nicht mehr gezwungen ist, auf den Krü-

65 Jean-Luc Godard, A bout de souffle, Frankreich, 1960; hier vor allem die ersten Sequenzen des Films. 66 Vgl. Jochen Mecke, „Im Zeichen der Literatur. Literarische Transformationen des Films“, in: ders./Volker Roloff (Hrsg.), Kino-RoMania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen 1999, S. 97–123. 67 Vgl. dazu vor allem: François Truffaut, „Une certaine tendance“, S. 211–228, und François Truffaut, „Vous êtes témoins dans ce procès. Le cinéma français crève sous les fausses légendes“, in: ders., Le plaisir, S. 234–248. 68 Jean-Luc Godard, Pierre Kast, Jacques Rivette, Eric Rohmer, „Table ronde sur Hiroshima, mon amour d’Alain Resnais“, Cahiers du cinéma, n° 97, Juli 1959. Wiederaufgenommen in: Antoine De Baecque, Charles Tesson (Hrsg.), La Nouvelle Vague, collection Petite Bibliothèque des Cahiers du cinéma, Paris, Cahiers du cinéma, 1999, S. 36–62. hier, S. 43.

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cken der Literatur zu laufen. Denn nur dann, wenn das Kino nach dem Muster des literarischen Feldes konstruiert wird, verwandeln sich die Trümpfe der das Feld beherrschenden Regisseure in Fehlfarben, und die zahlreichen Fehlfarben der jungen Kritiker und Regisseure in symbolische Trumpfkarten: Geld, Studios und berühmte Schauspieler ermöglichen dann nicht größtmögliche Freiheit künstlerischer Gestaltung, sondern bedeuten vielmehr Einengung durch überdimensionierte Budgets. Unerfahrenheit wirkt im Gegenzug als Zeichen von Unverbrauchtheit und Authentizität, Geldmangel und Ausrüstungsdefizite als Befreiung von den Zwängen der Großproduktion, technisches Unwissen als Chance für Innovation und mangelndes Ansehen als ein auf künftige Kreativität ausgestellter Wechsel. Die Skandale der Nouvelle Vague haben in diesem Kontext mithin eine klare Funktion: Es geht um nichts weniger als die Transformation des von Ökonomie und Handwerk bestimmten Kinos in ein Medium künstlerischen Ausdrucks und damit in ein relativ autonomes Feld der Ästhetik, das zu einem großen Teil vom Autorenkino besetzt wird.

VI Postmoderne Paradoxierung und Skandalisierung des Skandals Unter diesen Voraussetzungen muss die Häufung von Skandalen in der Gegenwartsliteratur allerdings all jene literaturgeschichtlichen Periodisierungsversuche irritieren, welche das Ende der historischen Avantgarden als Vorbedingung für die Entstehung einer Epoche betrachten, deren Beschreibungen ausnahmslos mit einem Präfix beginnen, das ein Ende von etwas signalisiert: Posthistoire als das Ende der großen Metaerzählungen, bzw. als Verlust ihrer Glaubwürdigkeit, Postmoderne als das Ende des Projektes der Moderne oder Postavantgarde als das Ende avantgardistischer Bestrebungen nach Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit durch Literatur und Kunst. Die durch diese Begriffe bezeichneten Entwicklungen scheinen Literaturskandalen den Nährboden ihrer Funktionen zu entziehen. Die Romane Michel Houellebecqs, Christine Angots (L’Inceste, 1999; Léonore toujours, 1994), Virginie Despentes (Baise-moi, 2000) oder Catherine Millets (La vie sexuelle de Catherine M., 2001) sind jedoch offenbar der lebende Beweis dafür, dass Literatur auch unter den veränderten Bedingungen der postavantgardistischen Ära ihre Fähigkeit zu provozieren nicht verloren, sondern im Gegenteil offenbar noch gesteigert hat. In L’Inceste etwa berichtet Christine Angot offen von einer lesbischen Beziehung und von dem Missbrauch, dem sie als Kind durch ihren Vater ausgesetzt war, in Léonore toujours werden neben dem Inzest intime sexuelle Details ausgeplau-

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dert.69 Unter anderem stellt sich die autobiographische Ich-Erzählerin und Heldin mit Namen Christine Angot eine Szene vor, in welcher ein Handwerker ihre eigene Tochter vergewaltigt. Sie macht sich darüber Gedanken, was sie für ihre Tochter vorziehen würde, ein Leben als Lesbierin oder als Vergewaltigungsopfer, um sich dann für das Vergewaltigungsopfer zu entscheiden.70 Einen Skandal hat auch Catherine Millets autobiographischer Bericht La vie sexuelle de Catherine M. hervorgerufen, ein Werk, in dem die Autorin lang und breit erzählt, wann, wo, mit welchen und wie vielen Partnern gleichzeitig sie Geschlechtsverkehr hatte.71 Und auch postmoderne Skandale ziehen bisweilen gesellschaftliche Sanktionen nach sich. Als direkte Folge des von ihr provozierten Skandals musste beispielsweise Christine Angot, nachdem sie in L’Inceste eine sexuelle Beziehung zu ihrem Vater thematisiert hatte, aufgrund von öffentlichen Anfeindungen ihre Heimatstadt verlassen.72 Kann man die Postmoderne unter diesen Auspizien daher als getreue Fortschreibung der modernen Skandalkultur betrachten? Oder haben sich Form und Funktion der Skandale in der Gegenwart grundlegend geändert? Entgegen dem ersten Anschein weisen die oben aufgeführten Skandale allerdings gegenüber den erwähnten Literaturskandalen der Moderne eine Besonderheit auf. Sie besteht nicht darin, dass es sich hier offenkundig um externe Skandale handelt, und auch nicht darin, dass sie einen heteronomen Charakter haben, da sie auf einer öffentlichen Empörung über Literatur auf der Basis verbindlicher gesellschaftlicher Werte beruhen. Vielmehr liegt die Besonderheit darin, dass die genannten Skandale gegen Normen verstoßen, deren Verbindlichkeit längst aufgehoben ist. Wenn die Romane Christine Angots oder Catherine Millets noch Skandale auslösen, dann deshalb, weil sie sich der gleichen Mechanismen bedienen wie die Skandalpresse oder jene Pseudo-Skandal-Trash-Sendungen die das deutsche oder französische Privatfernsehen am Nachmittag heimsuchen.73 Dabei handelt es sich bei den ge-

69 „J’ai vécu des trucs durs, le pire l’inceste par voie rectale“, Christine Angot, Léonore, toujours, Paris 1997, S. 15. 70 „Ce matin, j’oubliais de dire, nous avons fait l’amour. Léonore adore quand on s’embrasse. Mais j’ai encore mal. […] La pénétration fait toujours mal. J’ai voulu quand même, parce que merde. […] Sinon, mon Dieu comme c’était bien comme ça fait du bien! C’est mieux que la masturbation. Même à deux“, Angot, Léonore, S. 122. 71 „Ma place était dans l’une des arrière-salles, allongée comme je l’ai dit sur une table. […] Alors je pouvais rester là deux ou trois heures. Toujours la même configuration: des mains parcouraient mon corps, moi-même j’attrapais des queues, tournais la tête à droite et à gauche pour sucer, tandis que d’autres queues se poussaient dans mon ventre. Une vingtaine pouvaient ainsi se relayer pendant la soirée. […] Baises vigoureuses et précises“, Catherine Millet, La vie sexuelle de Catherine M., Paris 2001, S. 27 f. 72 Vgl. „Interview mit Catherine Millet“, in: Bergmann/Pörksen, Skandal!, S. 248 f. 73 Vgl. die Sendungen Explosiv (RTL), taff (Pro 7), Zwei bei Kallwass (Sat 1), bzw. 100% Mag (M6).  



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nannten Autorinnen keinesfalls, wie man vielleicht vermuten könnte, um Schriftstellerinnen, die möglicherweise vom Publikum geschätzt werden, allerdings von der Kritik oder vom literarischen Feld selbst keine Anerkennung erfahren haben. Denn in den einschlägigen Literaturbeilagen von Le Monde, Le Figaro, Libération oder des Nouvel Observateur werden sie in einem Atemzug mit anerkannten Schriftstellern wie Patrick Modiano, Philippe Sollers oder Jean-Philippe Toussaint erwähnt. Überdies bedienen sich auch weltbekannte und gleichfalls im literarischen Feld anerkannte Schriftsteller wie zum Beispiel Michel Houellebecq in ähnlicher Weise neo-pornographischer Sequenzen. In der Regel orchestriert Houellebecq seine skandalträchtigen Thesenromane mit provozierenden Interviews, mit Plädoyers für die genetische Transformation der menschlichen Rasse, die Prostitution minderjähriger Thailänderinnen oder mit Ausfällen gegen den Islam.74 Die genannten Beispiele zeigen einen Funktionswandel des Skandals an. Zunächst einmal generieren diese Werke ihr skandalöses Potenzial auf eine Weise, die innerhalb des literarischen Feldes der Moderne selbst als skandalös stigmatisiert worden wäre, da sie auf feldfremdes Skandalpotenzial spekulieren. Sie sind aber darüber hinaus symptomatisch für einen noch tiefer gehenden Wandel des Skandals. Wenn man die Werke Angots, Millets, Despentes’ oder Houellebecqs genauer betrachtet, so ist bei ihnen die eigentliche Struktur des Skandals auf eine eigentümliche Weise aufgehoben: Denn die Tabus, welche sie zu brechen vorgeben, existieren in Wirklichkeit gar nicht mehr, die Türen, die sie einrennen wollen, stehen nach der sexuellen Revolution sperrangelweit offen. Statt zu skandalisieren bedienen sie vielmehr einen Markt für exhibitionistische oder pornographische Schlüssellochliteratur, die bisher lediglich außerhalb des literarischen Feldes ihren Platz hatte. Die auf die Aufdeckung verdeckter Wahrheiten und Wünsche gerichtete Struktur des Skandals, sein ‚Wahres‘ wird zur billigen ‚Skandal-Ware‘, die ‚nackte Wahrheit‘ wird präsentiert als ‚wahre Nackte‘. Dadurch werden die genannten Literaturskandale aber nicht nur heteronom und extern, es sind darüber hinaus auch Pseudoskandale, da sie keine Normen

74 „[Question] Plateforme est quand-même une apologie de la prostitution. M.H. Ah oui! Mais ça, j’assume à fond parce que je sais que j’ai raison. […] En Thaïlande, c’est une profession honorable. Elles sont gentilles, elles donnent du plaisir à leurs clients, elles s’occupent bien de leurs parents. […] Et la religion la plus con, c’est quand même l’Islam. Quand on lit le Coran, on est effondré… effondré! […] Mais dans la situation où il se trouve, il est normal que Michel ait envie qu’on tue le plus de musulmans possibles… Qui… oui, ça existe, la vengeance“, Didier Senecal, „Entretien avec Michel Houellebecq“, in: Lire, Septembre 2001. Vgl. ferner Jochen Mecke, „Der Fall Houellebecq. Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals“, in: Giulia Eggeling/Silke SeglerMessner (Hrsg.), Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen: Profile, Tendenzen, Strategien. Tübingen 2003, S. 194–217.

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mehr verletzen. Es handelt sich um selbstreferenzielle Skandale, die auf nichts anderes mehr als auf den Skandal verweisen, den sie selbst darstellen. Der Skandal besteht in diesem Fall nicht länger darin, dass die erwähnten Werke auf einen skandalösen Tatbestand verweisen, sondern darin, dass sie überhaupt einen Skandal hervorrufen. Damit wird aber auch der Skandal selbst zum Objekt einer Skandalisierung. Mit dieser ‚Skandalisierung des Skandals‘ liegt eine andere Struktur vor als die bisher beschriebenen Gegenskandalisierungen. ‚Skandalisierung des Skandals‘ meint hier, dass in diesem Fall die Inszenierung des Skandals der eigentliche Skandal ist. Das Ergebnis ist ein ‚struktureller Skandal‘, der jenseits aller subjektiven Provokationsabsichten angesiedelt ist und für diese einen Rahmen und eine Art auferlegter Relevanz darstellt. Sein zeitlicher Modus ist nun nicht mehr punktuell und singulativ, sondern auf Dauer und Wiederholung gestellt. Werden Skandale aber zur dauerhaften Begleiterscheinung, heben sie sich selbst auf. Die Konsequenz der Skandalisierung des Skandals ist dessen Paradoxierung. Die bisherige Analyse wäre allerdings unvollständig und würde sich überdies dem Vorwurf der selektiven Wahrnehmung aussetzen, wenn sie nicht einen gewichtigen Einwand entkräften könnte: Er lautet, dass es solche Phänomene der Vermarktung von Literatur auch zu Zeiten der literarischen Moderne gegeben habe und auch dort die Funktionsweise moderner Literaturskandale nicht beeinträchtigt habe. Weil einige Autoren Skandale inszenieren, die auf das Anwachsen des symbolischen oder ökonomischen Kapitals abzielen, ist noch lange nicht das Skandalpotenzial des literarischen Feldes insgesamt bedroht. Deshalb muss die bisherige Beschreibung ergänzt werden, um diejenigen Autoren, die innerhalb des literarischen Feldes auf der Seite der ‚Produktion für Produzenten‘, das heißt im Rahmen einer eingeschränkten Ökonomie angesiedelt sind. Wenn überhaupt, dann geht der letzte größere, dem literarischen Feld immanente und somit homonome Skandal auf den poetologischen Wechsel zurück, den die Autoren des Nouveau Roman mit der ‚Neuen Autobiographie‘ vollzogen haben. Am spektakulärsten waren vielleicht die programmatischen Äußerungen von Alain Robbe-Grillet in seinem Roman Le Miroir qui revient, der ein an die Poetologie des Nouveau Roman gewöhntes Lesepublikum mit der vor diesem Hintergrund skandalösen Behauptung provozierte: „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi,“75 um gleich darauf eine Philippika gegen die Prinzipien des Nouveau Roman vom Stapel zu lassen. Von einem modernen Strukturen entsprechenden Literaturskandal lässt sich allerdings nicht sprechen, handelt es sich hier doch um den Versuch eines anerkannten, renommierten Autors, der zu den

75 Alain Robbe-Grillet, Le miroir qui revient, Paris 1984, S. 10.

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dominanten Figuren des literarischen Feldes gehört, sich selbst im Gewand eines Jungtürken zu präsentieren. Ungewollt verkörpert Robbe-Grillet mit seiner Provokation damit jedoch die oben angesprochene Selbstreferenzialität des Skandals. Robbe-Grillets Versuch, einen literarischen Skandal hervorzurufen, ist der eigentlich skandalöse Tatbestand. Die Ursachen für die oben angesprochene Selbstaufhebung oder Skandalisierung des Skandals sind vielfältig. Ein zentraler Grund für das Verschwinden autonomer und interner Literaturskandale liegt in der Logik des Skandals selbst. Skandale setzen bestimmte Normen voraus, die bekannt sein und beim Normverstoß mitgedacht werden müssen. Wenn allerdings alle möglichen Normen gleichzeitig Geltung haben, so entsteht eine Situation, in welcher die Bezugspunkte für Normverstöße gar nicht mehr bekannt sind, erst recht nicht, wenn der Normverstoß selbst zur Norm wird. Dann tritt eine Situation ein, die Herbert Marcuse als „repressive Toleranz“ bezeichnet hat.76 Die Vervielfältigung der Normen sorgt für deren wechselseitige Aufhebung, sodass Skandale letztlich ihre Orientierungspunkte verlieren. Damit steht ein zweiter Punkt in Zusammenhang: Die Durchbrechung von Normen deautomatisiert gewohnte Handlungsabläufe und sorgt damit für ein gewisses ästhetisches Potenzial des Skandals. Wenn allerdings die Normdurchbrechung selbst zur Norm wird oder aber die Normen sich vervielfältigen, sodass die Durchbrechung der einen Norm einer anderen entspricht und durch diese aufgefangen wird, dann rufen Skandale keine Überraschungseffekte mehr hervor. Der Skandal wird auf diese Weise anästhesiert. Der Normverstoß findet nicht mehr statt. Von dieser neoskandalösen Praxis setzen sich jedoch eine ganze Reihe von Autoren ab, die dem Roman Nouveau oder der zweiten Generation des Verlags Minuit angehören. Weder Jean Echenoz noch Jean-Philippe Toussaint, Patrick Deville oder Christian Gailly sind bisher durch provokante Äußerungen aufgefallen. Sie verhalten sich in der Tat völlig unspektakulär. Auffällig an ihnen ist allein ihre extreme Unauffälligkeit. Aber diese Unauffälligkeit steht gleichfalls in engem Zusammenhang mit dem Reflexivwerden des Skandals. Denn wenn die von Angot, Despentes und Millet ausgelösten Skandale selbstreferenziell sind, dann lässt sich im Umkehrschluss behaupten, dass der wahre Skandal gegenwärtig das Ausbleiben von homonomen, internen Literaturskandalen ist. Dann wäre die auffällige Unauffälligkeit etwa des Roman Nouveau eine Form, mit der gegenwärtigen Paradoxierung des Skandals in produktiver Weise umzugehen. Wenn die übrige Literatur auf den Krücken heteronomer und externer Skandale daher-

76 Herbert Marcuse, „Kritik der reinen Toleranz“, in: Robert Paul Wolff/Barrington Moore/ Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt am Main 1966, S. 91–128, hier: S. 100.

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kommt, die mit ihr selbst nichts mehr zu tun haben, dann wäre es tatsächlich ein Skandalon höchsten Grades, keine Skandale mehr zu provozieren. Wenn sich alte und anerkannte Autoren als Jungtürken geben, dann bietet sich den wirklichen Jungtürken nur an, ‚alt‘ auszusehen. Die französische Gegenwartsliteratur ist im postskandalösen Zeitalter angekommen. Man kann das auch mit Guy Debord beschreiben: Es gibt keine Skandale mehr, weil der wahre Skandal in der Existenz der Gesellschaft des Spektakels liegt.