Gegenwartsdiagnosen: Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne 9783839441343

Diagnoses of the presence are booming: Imminent wars about the climate, the collapse of energy supply or even the extinc

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German Pages 628 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Gegenwart als Objekt der Diagnose
Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwart?
Gegenwart
»Wenn alles jetzt passiert« – Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung
Zukunftspraktiken
II. Sehen und Zu-Sehen-Geben
Gegenwartsdiagnose heißt: etwas als etwas sichtbar machen
Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren?
Sozialfiguren in soziologischen Gegenwartsdiagnosen
Das diagnostische Imaginäre des Sports
Diagnostische Atlanten
III. Soziologische Gegenwartsdiagnostik
Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsdiagnosen und Zeitdiagnosen
Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnosen
Soziale Pathologien
Stille Revolutionen: Über die Latenz sozialen Wandels in der soziologischen Zeitdiagnostik
IV. Historische Formen des Diagnostischen
Eine Schaubühne des Hier und Jetzt
Diagnose: Gefahr!
Blick zurück nach vorn
Das deutsche Universitätsmodell als Zukunftsentwurf
Diagnose: »Unaufmerksamkeit«
V. Felder des Diagnostischen
»The Great Moderation«
Die Gesellschaften der Bildung
Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm
Migrationsgesellschaft als Arena gegenwartsdiagnostischer Praktiken
Michel Houellebecqs »Unterwerfung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen« als Folgemodell nach dem Bedeutungsverlust soziologischer Zeitdiagnostik
VI. Medialität und Formenwandel des Diagnostischen
Wissenschaftsopern
Praktiken der Diagnostifizierung der Singer/ Songwriter-Figur am Beispiel der Fremd- und Selbstinszenierung Tom Morellos
Lärmkonflikte – soziale Aushandlungen auditiver Emissionen
Unsichtbare Sichtbarkeiten
VII. Diagnose als Kritik – Kritik der Diagnose
Mit den Mitteln des Affekts
Popmusik und Gesellschaftskritik
Unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch?
Abbildungsnachweise
Beiträger und Beiträgerinnen
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Gegenwartsdiagnosen: Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne
 9783839441343

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Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Thomas Etzemüller (Hg.) Gegenwartsdiagnosen

Sozialtheorie

Thomas Alkemeyer (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Universität Oldenburg. Nikolaus Buschmann (Dr. phil.) ist Historiker und forscht am Wissenschaftlichen Zentrum »Genealogie der Gegenwart« der Universität Oldenburg. Thomas Etzemüller (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg.

Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Thomas Etzemüller (Hg.)

Gegenwartsdiagnosen Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4134-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4134-3 https://doi.org/10.14361/9783839441343 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Gegenwar tsdiagnosen als kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Thomas Etzemüller | 9

I. G egenwart als O bjek t der D iagnose Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwart? Johann Kreuzer | 23

Gegenwart Erkundungen im zeitlichen Diesseits Achim Landwehr | 43

»Wenn alles jetzt passiert« – Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung Eckhard Schumacher | 63

Zukunftspraktiken Praxeologische Formanalysen des Kommenden Hannes Krämer | 81

II. S ehen und Z u -S ehen -G eben Gegenwartsdiagnose heißt: etwas als etwas sichtbar machen Wahrnehmung, Visualisierung und Inter vention in Gestalten der Moderne Thomas Etzemüller | 105

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren? Inter venierende Soziographie als Gegenwar tsdiagnose, oder: Die Herausforderung der factory girls Timo Luks | 127

Sozialfiguren in soziologischen Gegenwartsdiagnosen Tobias Schlechtriemen | 147

Das diagnostische Imaginäre des Sports Thomas Alkemeyer | 167

Diagnostische Atlanten Fotografie als Medium der Geschlechterkritik in künstlerisch-politischen Fotoprojekten um 1970 Anja Zimmermann | 187

III. S oziologische G egenwartsdiagnostik Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsdiagnosen und Zeitdiagnosen Über einige Gattungen der soziologischen Theoriebildung Hubert Knoblauch | 217

Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnosen Verhältnisbestimmungen und Themenpanorama Uwe Schimank/Ute Volkmann | 235

Soziale Pathologien Eine Archäologie des soziologischen Blicks, 1820-1860 Matthias Leanza | 257

Stille Revolutionen: Über die Latenz sozialen Wandels in der soziologischen Zeitdiagnostik Fran Osrecki | 277

IV. H istorische F ormen des  D iagnostischen Eine Schaubühne des Hier und Jetzt Das Theatrum Europaeum und die Frage nach der Gegenwar t Achim Landwehr | 297

Diagnose: Gefahr! Hydrotechnische Bedrohungsszenarien im 19. Jahrhunder t Nicolai Hannig | 319

Blick zurück nach vorn Untergangsprognosen der Familie seit dem 19. Jahrhunder t Gunilla Budde | 335

Das deutsche Universitätsmodell als Zukunftsentwurf Zur Rolle von Universität, Wissenschaft und Bildung i n den Gegenwar tsdiagnosen deutscher Hochschulrektoren seit dem 19. Jahrhunder t Dieter Langewiesche | 357

Diagnose: »Unaufmerksamkeit« Yvonne Ehrenspeck-Kolasa  | 377

V. F elder des D iagnostischen »The Great Moderation« Makroökonomische Zeitdiagnosen vor der Great Recession 2008ff. und die blinden Flecken der Mainstream-Ökonomik Hanno Pahl | 399

Die Gesellschaften der Bildung Pathologien und Therapien im zeitgenössischen Bildungsdiskurs Tobias Peter | 419

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm Nikolaus Buschmann | 439

Migrationsgesellschaft als Arena gegenwartsdiagnostischer Praktiken Eine analytische Annäherung Paul Mecheril | 461

Michel Houellebecqs »Unterwerfung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen« als Folgemodell nach dem Bedeutungsverlust soziologischer Zeitdiagnostik Die Antwor tversuche des roman expérimental auf die Migrationskrise Walter Reese-Schäfer | 481

VI. M edialität und F ormenwandel des D iagnostischen Wissenschaftsopern Gegenwar tsdiagnosen zwischen Kunst, Wissenschaft, Ethik und Gender Anna Langenbruch | 497

Praktiken der Diagnostifizierung der Singer/Songwriter-Figur am Beispiel der Fremd- und Selbstinszenierung Tom Morellos Martin Butler | 515

Lärmkonflikte – soziale Aushandlungen auditiver Emissionen Susanne Binas-Preisendörfer  | 531

Unsichtbare Sichtbarkeiten Kontrollverlust und Kontrollphantasmen in öffentlichen und jugendkulturellen Digitalisierungsdiagnosen Juliane Engel/Benjamin Jörissen | 549

VII. D iagnose als K ritik – K ritik der D iagnose Mit den Mitteln des Affekts Katarina Zdjelars The Perfect Sound eine (nicht) diagnostische Gegenwar tskritik?! Elke Bippus | 571

Popmusik und Gesellschaftskritik Praxissoziologische Überlegungen Frank Hillebrandt | 585

Unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch? Zeitdiagnostisches Wissen im Spiegel der Kritik Frieder Vogelmann  | 603

Abbildungsnachweise  | 623 Beiträger und Beiträgerinnen  | 625

Einleitung Gegenwartsdiagnosen als kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne * Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Thomas Etzemüller

1. V on der D iagnose zur I ntervention : Thema und F r agestellung des B andes Das Geschäft der Gegenwartsdiagnose hat Konjunktur. Ob in Schule, Sport oder Familie, in Wirtschaft, Gesundheitswesen, Politik oder Kultur: Mit zunehmender öffentlicher Resonanz versuchen sich Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Journalistinnen und weitere gesellschaftliche Deutungsspezialisten darin, den Zustand vergangener und aktueller Gegenwarten zu bestimmen. Sie verdichten diese Bestimmungsversuche in Schlagworten wie »Postdemokratie«, »Netzwerkgesellschaft«, »Migrationsgesellschaft», »Ungleichheitsgesellschaft« oder »Anthropozän«. Während insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zukunftsoptimistische Gegenwartsdiagnosen überwogen, florieren in jüngerer Zeit wieder vermehrt Krisennarrative, Katastrophenmotive und »Desaster-Szenarien«.1 Diagnostiziert werden beispielsweise ein fortschreitender Verlust sicherer Grundlagen des Entscheidens und Handelns,2 in naher Zukunft drohende »Klimakriege«,3 der Kollaps der Energie- und Nahrungsversorgung oder gar die Auslöschung allen irdischen Lebens.4 In diesem Band geht es dagegen nicht darum, weitere Gegenwartsdiagnosen zu präsentieren oder bereits publizierte zu kritisieren. Vielmehr fragen die Beiträge danach, wie und in welchen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen als * | Die in dieser Einleitung skizzierten Überlegungen gehen auf eine kollektive Arbeit am Wissenschaftlichen Zentrum »Genealogie der Gegenwart« der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zurück. Zu danken für ihre substanziellen Beiträge ist vor allem Martin Butler, Tobias Peter und Andrea Querfurt. 1 | Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M. 2005, S. 13. 2 | Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M. 2007. 3 | Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008. 4 | Schüle, Christian: Das Ende der Welt. Die Geschichte von der ewigen Lust am vorhergesagten Untergang, München 2012.

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Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Thomas Et zemüller

Diagnosen auftretende Gegenwartsdeutungen allererst entstehen und wirksam (gemacht) werden, und welche Phänomene sie dabei als existenzielle gesellschaftliche Probleme oder Chancen zu sehen geben. Das »Making« der Diagnosen rückt in den Mittelpunkt. Wir werfen einen Blick auf die Prozesse, in denen Diagnosen entstehen, und interessieren uns für die Wirkungen, die sie in der Öffentlichkeit entfalten können. Diesem Anliegen liegt die Annahme einer tiefen diagnostischen Prägung der neuzeitlich-modernen Welt- und Selbstwahrnehmung zugrunde: Mit der Vermessung der Gegenwart wird tendenziell alles und jeder einer diagnostischen Beobachtung unterzogen, im Hinblick auf mögliche Fehlentwicklungen, Abweichungen und Entwicklungspotenziale ausgekundschaftet und in diesem Sinne ›diagnostifiziert‹.5 Das Diagnostische ist, so die These, zu einem Kernelement des gesellschaftlichen Imaginären zumindest in der westlichen Moderne geworden, d.h. zu einer in die materielle, soziale Praxis eingewobenen schöpferischen Kraft, ohne die weder Institutionen und Lebensformen noch deren Veränderungen denkbar sind. Das Imaginäre bezeichnet, so ließe sich in aller Kürze zusammenfassen, eine in der gesellschaftlichen Ordnung immer schon angelegte, sie aber potenziell in Richtung auf eine andere Zukunft überschreitende Bildungskraft. Diese Kraft entfaltet einen spezifischen ›affektiven Drang‹, den es für jede Gesellschaft herauszufinden gilt. Sie bringt Bilder, Figuren, Gestalten und Entwürfe hervor, die eine grundlegende orientierende Wirkung auf das Denken, Fühlen und Handeln der Gesellschaftsmitglieder haben, gerade weil sie im Unbewussten wirken.6 Die Diagnostifizierung der Wirklichkeit zeitigt, mit anderen Worten, tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie sich moderne Gegenwartsgesellschaften wahrnehmen, entwerfen und verändern: Gegenwartsdiagnosen fordern aufgrund ihrer Zeit- und Argumentationsstruktur systematisch zum Handeln und somit zur Gestaltung von Wirklichkeit auf. Bei allen Unterschieden in ihrer Artikulationsform und in ihrer Reichweite teilen sie ein spezifisches Verhältnis zur Gegenwart: Sie verknüpfen diese mit einem bestimmten Bild der Vergangenheit (als ›dunkel‹ oder ›hell‹, ›chaotisch‹ oder ›geordnet‹ imaginiert) und entwickeln daraus eine entsprechende Version der Zukunft, deren Eintritt im Hier und Jetzt durch Eingriffe oder Unterlassungen ermöglicht oder verhindert werden könne. Offensichtlich motiviert kaum etwas mehr zu einem in den Lauf der Dinge eingreifenden Handeln als Narrative und Szenarien mit einer Zeitstruktur, die Gegenwart als einen zukunftsoffenen Möglichkeitsraum und Zukunft als beeinflussbar konzipierten. Gegenwartsdiagnosen sind nicht nur (kritische) Analyse gegenwärtiger Zustände von Gesellschaften und Individuen, und sie entwerfen nicht allein – wie Utopien oder Dystopien – eine mögliche Zukunft. Vielmehr postulieren sie einen Zwang zum Handeln, indem sie gegenwärtige Umstände und Vorgänge als tendenziell destruktive oder auch als aussichtsvolle Abweichungen identifizieren. Die Au5 | Mit dem Begriff der Diagnostifizierung ist zweierlei gemeint: erstens, dass Personen, Dinge und Ereignisse als Diagnostiker und als diagnostizierte Objekte eingesetzt bzw. hervorgebracht werden; zweitens, dass das Diagnostizieren in der modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden ist. Diagnostizieren ist demnach die Praktik, Diagnostifizieren die Ermächtigung zur Praktik. 6 | Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1990; Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 111-121.

Einleitung

toren von Utopien oder Dystopien können oder müssen damit leben, unbeachtet zu bleiben. Eine Utopie ist ein Wunsch, eine Dystopie ohnehin nicht abzuwenden. Die Autoren von Diagnosen dagegen sagen entweder eine Destruktion voraus, die der gesunde Menschenverstand nicht wollen kann, und/oder stellen eine bessere Zukunft für den Fall in Aussicht, dass im Hier und Jetzt entsprechend gehandelt wird. Diagnosen beleuchten vermeintlich streng empirisch Fehlentwicklungen oder positive Energien, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen, prognostizieren daraus auf eine wahrscheinliche Zukunft und bauen so Druck zu einem intervenierenden Handeln auf – oft dramatisierend verschärft durch eine angeblich davoneilende Zeit. In Diagnosen wird die Gegenwart also durch eine imaginierte Vergangenheit und eine imaginierte Zukunft regelrecht in die Zange genommen, wobei Erstere auf der Grundlage von Dokumenten etc., Letztere auf Basis von Extrapolationen, Ängsten usw. vergegenwärtigt wird. Gegenwartsdiagnosen sind mithin kulturelle Formen sowohl gesellschaftlicher Selbstproblematisierung als auch gesellschaftlicher Selbstveränderung und damit der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gegenwartsdiagnosen kommen in vielfältigen Praktiken und Artikulationsformen unterschiedlicher Reichweite zum Ausdruck. Zusätzlich zu einer (sozial-) wissenschaftlichen Zeitdiagnostik sorgt beispielsweise eine expandierende Zunft diagnostizierender Professionen für die Verbreitung und Konsolidierung einer diagnostischen Einstellung und Wahrnehmung. Beraterinnen, Coaches oder Therapeutinnen versprechen, Menschen Mittel an die Hand zu geben, mit denen sie in der Arbeitswelt wie im Privatleben ›Probleme lösen‹, ›Krisen bewältigen‹ oder ihre ›Potenziale entfalten‹ könnten.7 Mehr denn je nehmen auch ganz ›gewöhnliche‹ Menschen eine diagnostische Haltung gegenüber ihrer alltagsweltlichen Gegenwart ein und werden so problembezogen, lokal und temporär zu Diagnostikern: in der Erziehung, in Ernährungsfragen, im Sport, in Liebesbeziehungen, im Verhältnis zum eigenen Körper, in Praktiken der Selbstvermessung. Allem Anschein nach hat sich die Praxis des Diagnostizierens von einem partikularen »Handlungstyp« 8 zu einem weit über spezialisierte Expertenkulturen hinausweisenden »Gesamtgestus«9 entwickelt, der Einfluss auf kollektiv geteilte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Affektordnungen, Wertorientierungen und darüber auf alltägliche Praktiken und Subjektivierungsweisen in allen möglichen Lebensbereichen nimmt. Entsprechend bringen die Beiträge dieses Buches nicht nur explizite Diagnosen von Ausnahmezuständen in den Blick, sondern auch die diagnostische Prägung von Einstellungen und Wahrnehmungen in eher unspektakulären alltäglichen Praktiken. Veralltäglichte Diagnosen sind deshalb besonders wirkmächtig, weil sie 7 | Maasen, Sabine u.a. (Hg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld 2011; Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a.M. 2009. 8 | Willems, Herbert (Hg.): Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte, Produktionen und Rezeptionen, Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002. 9 | Dieser Begriff aus den theatertheoretischen Schriften Bertolt Brechts bezeichnet eine Stileigentümlichkeit, die der »Haltung einer Epoche« eine physische Gestalt verleiht: Brecht, Bertolt: Neue Techniken der Schauspielkunst. Über den Gestus (1949-1955), in: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 16, S. 753-754.

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sich der Aufmerksamkeit entziehen und hinter verschiedenen Formen der Evidenz verschanzen können. Ihre gesellschaftsformierende Kraft kommt nicht selten hinter dem Rücken der Akteure zur Wirkung: Gegenwartsdiagnosen setzen bestimmte Personen als Diagnostiker ein und positionieren andere oder Anderes als Diagnostiziertes. Sie leiten durch den Vorgriff auf eine Zukunft Handlungen an, legimitieren und autorisieren Entscheidungen und greifen auf diese Weise machtvoll ins Getriebe der Gesellschaft ein. Darum legt der Band besonderes Augenmerk darauf, wie Diagnosen funktionieren. Untersucht wird, wie Realität im Rahmen einer Diagnose gedeutet und gestaltet wird, wie Diagnosen bestimmte Interventionen vorbereiten und deren Durchführung orientieren, wie sie konkrete soziale Effekte zeitigen, und wie diese real-imaginäre Formung der Welt durch eigene Praktiken der Evidenzerzeugung gegen Kritik immunisiert wird. Eine derartige Analyse der diagnostischen Wahrnehmung bietet, so meinen wir, Einblicke in bislang kaum ausgeleuchtete Aspekte der Entstehung eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses in modernen Gegenwartsgesellschaften.

2. G egenwart, D iagnose , G egenwartsdiagnose : begriffliche S ondierungen , heuristische A nnahmen und theore tische P r ämissen Im Zentrum des Bandes steht die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Gegenwartsdiagnosen und entsprechenden Praktiken der Intervention in historischen Konstellationen der Moderne. Gegenwartsdiagnosen sind in dieser Perspektive keine bloß ideellen Konstruktionen, sondern rahmen die Wahrnehmung von Gesellschaft und erschaffen auf diese Weise »fungierende Ontologien«,10 in denen Menschen sich einrichten. Ihre Gestalt und Wirkung hängen davon ab, wie und mit welchen Mitteln die gesellschaftliche Wirklichkeit jeweils beobachtet und somit konstruiert wird. Dem Vorhaben, die Entstehung, Ausformung, Funktion und Wirkung von Gegenwartsdiagnosen in unterschiedlichen historischen Konstellationen der neuzeitlich-modernen Geschichte westlicher Gesellschaften analytisch in den Blick zu nehmen, liegen diverse theoretische Prämissen und heuristische Annahmen zugrunde. Diese betreffen zunächst den Begriff der Gegenwart. Gegenwart lässt sich auf der sozialen Makroebene als Zeithorizont eines vielstimmigen, umkämpften gesellschaftlichen Raums11 bestimmen. Auf der individuellen Mikroebene bezeichnet er indes das momenthafte Erleben dessen, was einer körperlich ins Hier und Jetzt eingebundenen Person lebendig ist, was sie anspricht, berührt und zu einem Tun oder Unterlassen bewegt.12 In der zweiten Bedeutung steht Husserls Begriff einer »lebendigen Gegenwart« Pate, der in der zeitphilosophischen Diskussion bis heute präsent ist. In beiden Bedeutungen ist Gegenwart durch eine janus10 | Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004, S. 11. 11 | Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Neuauflage mit einem Beitrag »Gegenwarten«, Wiesbaden 2008. 12 | Stepath, Katrin: Gegenwartskonzepte. Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen, Würzburg 2006, S. 58ff.

Einleitung

köpfige Mittelstellung gekennzeichnet – mit einem Fuß in der Vergangenheit und dem anderen Fuß in der Zukunft (Henri Bergson). Im Blick auf das gestaltende Moment des Diagnostischen markiert der Begriff jenen Zeitraum, in dem sich im gesellschaftlichen Selbstverständnis entscheidend auf den Gang der Dinge einwirken, ja dieser sich unter Umständen sogar umkehren lässt.13 Der Begriff der Diagnose als zweites begriffliches Bauelement des Kompositums »Gegenwartsdiagnose« lässt sich etymologisch bis in die Antike zurückverfolgen und ist in seinen Auslegungen bis heute insbesondere medizinisch konnotiert. Von diesem Begriffsverständnis ausgehend bezeichnet »Diagnose« eine Form der Problematisierung von Wirklichkeit, die sich durch eine zielbezogene Zeitstruktur auszeichnet und eine Aufforderung zu einem gerichteten intervenierenden Handeln umfasst. Vergangenheit und Zukunft sind nur insofern Gegenstand von Diagnosen, als sie auf die jeweils problematisierte Gegenwart bezogen werden. Eine Diagnose als das Bestreben, genau und durchgreifend zu erkennen, zu unterscheiden und zu beurteilen, beschränkt sich nicht auf eine zergliedernde Untersuchung (Analyse), die Erhebung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten (Vergleich), eine normativ begründete Entscheidung (Urteil) oder eine Vorhersage (Prognose), sondern führt diese Elemente problemorientiert und handlungsleitend zusammen. Weit über das seit dem 18. Jahrhundert gängige Verständnis als das Erkennen, Bestimmen und Beurteilen einer Krankheit durch den Arzt hinaus, begründet eine aus der Medizin in die Gesellschaft diffundierende diagnostische Wahrnehmung eine historisch spezifische (narrative) Form der Selbstproblematisierung. Als solche kann sie in Gestalt professioneller Gegenwartsdeutungen ausdrücklich als Diagnose auftreten, aber auch als ein ›stummer‹, impliziter diagnostischer Gestus das alltägliche Beobachten, Hören, Fühlen und Handeln anleiten. Gegenwartsdiagnosen lassen sich vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Annäherungen als eine kulturelle Form der Selbstproblematisierung des Sozialen und seiner Akteure begreifen, die eine Gegenwart erzeugt, in der eine bedrohliche oder aussichtsvolle Zukunft als Möglichkeit angelegt ist. Dieser bereits gegenwärtig auf die Gestaltung einer zukünftigen Wirklichkeit abzielende Gestus unterscheidet die Gegenwartsdiagnose von anderen Reflexionsmodi und Beschreibungsmustern der Gegenwart wie der Analyse oder der Kritik, die zwar ebenfalls die Gegenwart problematisieren, mitunter auch Zukunftsentwürfe formulieren, aber nicht notwendigerweise die Aufforderung zum Intervenieren beinhalten: Während sich kritische Beschreibungen und Stellungnahmen durch die Öffnung eines Möglichkeitsraums künftiger Gegenwarten – etwa durch gezielte Befremdung und Unterbrechung einer bestehenden Ordnung – auszeichnen, sind Diagnosen darauf gerichtet, Kontingenz in der Gegenwart qua Prognose der Zukunft beherrschbar zu machen. Gegenwartsdiagnosen treten dabei in heterogenen Formen und Weisen in Erscheinung und beziehen sich – in unterschiedlicher Brennweite – auf verschiedene gesellschaftliche und individuelle Phänomene: explizit wie implizit, gezielt oder ›bei Gelegenheit‹, als spektakuläre Zeitdiagnose oder alltägliche Praxis. Diese Formen und Weisen lassen sich als konkrete Artikulationen des diagnostischen 13 | Landwehr, Achim: Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2014; Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 1975.

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Imaginären im Sinne selbst (noch) unbestimmter Hintergrundannahmen bzw. einer grundlegenden Haltung und Einstellung zur Welt begreifen, die erst in konkreten, durchaus miteinander konkurrierenden und umkämpften Diagnosen narrativ-symbolisch gestaltet, in eingängige Bilder (der Bedrohung oder Verheißung) gefasst und so praktisch ausgearbeitet, bestimmt und materialisiert werden.14 Diagnosen beobachten Gegenwärtiges symptomatologisch, indem sie selektiv Momente eines beobachteten Wirklichkeitsausschnitts als Zeichen für eine bedrohliche oder aussichtsvolle Entwicklung relevant setzen, diese bündeln und daraus Zukunftsszenarien entwerfen. Auf diese Weise können sie »etwas Überraschendes und somit Problematisches«15 zutage treten lassen und Praktiken orientieren, die auf die Schaffung anderer Lebensbedingungen abzielen. Vermittelt über konkrete Diagnosen verfügt die sie antreibende Bildungskraft des in sie eingelassenen Imaginären mithin über ein »ontoformatives«,16 also ›unsere‹ Lebenswirklichkeit schaffendes Potenzial: Gerade solche diagnostischen Narrative und Praktiken, die mit einem erprobten Handwerkszeug, gängigen Erzählstrukturen und Alltagswissen operieren, erzielen, so ist zu vermuten, signifikante gesellschaftspolitische Effekte. Kollektive Sinnsysteme wie Wissensordnungen, Deutungsschemata, Semantiken und Narrative geraten in einer solchen Perspektivierung nicht lediglich als Epiphänomene der sozialen Praxis in den Blick, sondern als deren Konstituenten. In diesem Sinne bilden Gegenwartsdiagnosen die Realität nicht einfach ab, sondern bringen sie im Horizont gegenwärtiger Wertvorstellungen und Wissensordnungen als eine historisch kontingente, gesellschaftlich keineswegs ›neutrale‹ Wirklichkeit hervor: Sie bilden den stets umkämpften Sinnhorizont einer sich neu entwerfenden Praxis, indem sie in paradoxer Weise Momente der Beunruhigung des Bestehenden mit der Perspektive ihrer planerischen Bewältigung miteinander verbinden. Sie ›entdecken‹ hier und heute bestimmte Risiken oder Entwicklungspotenziale für die Zukunft, deren Ursachen wiederum in vergangenen Entwicklungen lokalisiert werden: Sie betreiben deren ›Anamnese‹ und identifizieren heute sich zeigende ›Symptome‹, die es erlauben, ein Morgen zu prognostizieren und verändernd in den Gang der Dinge einzugreifen. In diesem Sinne fungieren Gegenwartsdiagnosen als handlungsleitende Entwürfe für die Gestaltung von Zukunft, die rekursiv an fortlaufend sich verändernde Sachverhalte angepasst werden müssen.17 Gegenwartsdiagnosen versuchen somit, die neuzeitlich-moderne Deu14 | Vgl. neben C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, auch Taylor, Charles: Modern Social Imaginaries, in: Public Culture 14, 2002, S. 91-124; Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991; Koschorke, Albrecht: Staaten und ihre Feinde. Ein Versuch über das Imaginäre der Politik, Konstanz 2012. 15 | Reichertz, Jo: Ein Pfeil ins Blaue? Zur Logik sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnose, in: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg.): Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, Wiesbaden 2005, S. 45-54, hier S. 52. 16 | Kosik, Karel: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt a.M. 1976. 17 | Ausführlicher dazu Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus: Das Imaginäre der Praxis. Einsatzstellen für eine kritische Praxistheorie am Beispiel von Gegenwartsdiagnosen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44, 2019 (i. E.).

Einleitung

tung und Erfahrung der Zukunftsoffenheit von Gegenwart einzuhegen, indem sie zukünftige Entwicklungen als in der gegebenen Wirklichkeit verborgene Möglichkeiten sichtbar machen und Interventionen nahelegen, die diese Entwicklungen gestaltbar erscheinen lassen.18 Indem sich in ihnen unhintergehbar historisch, gesellschaftlich und kulturell geprägte Einstellungen, Wahrnehmungsmuster und Denkstile artikulieren, schneiden Gegenwartsdiagnosen die spezifisch neuzeitlich-moderne Zukunftsoffenheit der Gegenwart auf eine je bestimmte Weise zu. Genau dies macht Gegenwartsdiagnosen zu einer eigenen Vollzugsform des Sozialen, deren gegenwärtige Gestaltungskraft sich dem simulierten Umweg über eine imaginierte Zukunft samt einer kritischen Absetzbewegung von der Vergangenheit verdankt.

3. E ntstehung , A usformung , W irkung : U ntersuchungsdimensionen , E rkenntnisziele Die Beiträge dieses Bandes untersuchen, mit jeweils unterschiedlichem Fokus, den Zusammenhang zwischen der Entstehung, der Ausformung und der Wirkmächtigkeit von Gegenwartsdiagnosen. Erkenntnisleitend für ein solcherart konturiertes Forschungsprogramm ist das Ziel, zum Verständnis gesellschaftlicher Dynamiken und Transformationsprozesse moderner Gesellschaften beizutragen. Mit der Frage nach der Entstehung von Gegenwartsdiagnosen geraten, erstens, die historisch-gesellschaftlichen Konstellationen in den Blick, in denen jemand oder etwas (Eltern, Polizistinnen, Schriftstellerinnen, Bilder, Diagramme, Statistiken, fiktionale Texte, die kulturellen Aufführungen des Theaters, des Sports, der Mode oder der Musik, Technologien, Architekturen, stadt- und raumplanerische Entwürfe) diagnostisch relevant gemacht, gedeutet und behandelt wird. Von Interesse ist dabei zum einen das jeweilige Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte in der Hervorbringung einer Gegenwartsdiagnose: Was alles muss in welcher Weise zusammenkommen, damit aus Bedrohungskommunikationen, Krisenperzeptionen und Katastrophenszenarien ebenso wie aus Fortschritts- und Gestaltungsoptimismus eine Gegenwartsdiagnose mit einem besonderen Aufforderungscharakter und einer eigenen Reichweite entsteht? Wann wird ein spezieller Befund entweder – wie etwa die von Georg Picht und anderen in den 1960er Jahren beschworene »Bildungskatastrophe«19 – als ein nationales (und temporäres) Problem gedeutet, oder aber, wie im aktuellen Klimawandel-Diskurs, als ein existenzielles Menschheitsproblem, das räumliche, zeitliche und soziale Grenzen überschreitet und globale Maßnahmen erfordert? Zum anderen gilt das Interesse der Genese der diagnostischen Wahrnehmung, also der Entstehung eines diagnostischen Blicks aus heterogenen Anfängen und seiner Ausprägung in kontingenten historischen Konstellationen. Der Band schlägt dabei anhand punktueller Fallbeispiele und Sondierungen einen Bogen von der Evolution des Wissenschaftssystems seit dem Spätmittelalter bis zur heutigen Gegenwart. Im Zusammenhang mit der Heraus-

18 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 24. 19 | Lambrecht, Wolfgang: Deutsch-deutsche Reformdebatten vor »Bologna«. Die »Bildungskatastrophe« der 1960er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen 4, 2007, S. 472-477.

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bildung klassifizierender und normierender Wissens- und Denksysteme20 geraten dabei sowohl die Kontinuitäten wie auch die Diskontinuitäten dieser Entstehungsgeschichte in den Blick. Mit diesem weiten Erkenntnishorizont suchen die Beiträge genealogisch21 sowohl historische Referenzen und Linien einer derzeitigen gegenwartsdiagnostischen Welt- und Selbstwahrnehmung als auch Kontrastfolien ›protodiagnostischer‹ Haltungen, um auf diesem Weg auch die Frage nach der ›Modernität‹ dieser Wahrnehmung und Haltung anzugehen. Ein zweiter Fokus des Bandes richtet sich auf die konkreten Ausformungen von Gegenwartsdiagnosen: Wie werden Problemlagen und Krisen, aber auch verheißungsvolle Aussichten in Gegenwartsdiagnosen medial vermittelt und evident gemacht? Zur Beantwortung dieser Frage beleuchten die Autorinnen zum einen die vielfältigen medialen, wissenschaftlichen, künstlerischen und alltagspraktischen Erscheinungsformen von Gegenwartsdiagnosen, insbesondere auch bisher kaum untersuchte populäre Formen literarischer und musikalischer Gegenwartsdiagnostik jenseits der gängigen sozialwissenschaftlichen Genres. In Verbindung damit gilt das Interesse den eher geräuschlosen diagnostisch basierten Alltagspraktiken von Individuen oder Kollektiven, die zwar nicht so spektakulär auftreten wie politische oder mediale Inszenierungen von Krisen oder Verheißungen, diese jedoch erst breit wirksam werden lassen. Zum anderen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Durchsetzungsweisen von Gegenwartsdiagnosen: Wie formieren sich Gegenwartsdiagnosen im Verhältnis zueinander? Wie verschafft sich eine Gegenwartsdiagnose in diesem Verhältnis Geltung, während andere Diagnosen ungehört verhallen? Inwiefern und wie gehen einzelne Gegenwartsdiagnosen Allianzen ein und verstärken sich gegenseitig? Anzunehmen ist, dass sich Gegenwartsdiagnosen in einem Wechselspiel verschiedener Kräfte und Prozesse (top down und bottom up, vertikal und horizontal) ausformen, und eine Gegenwartsdiagnose auch nur in diesem Wechselspiel Deutungshoheit erlangen kann. Zum Beispiel dann, wenn wissenschaftliche (etwa statistisch vermittelte) Objektivierungen, politische oder mediale Inszenierungen und programmatisch proklamierte Interventionsstrategien ein Resonanzverhältnis mit diagnostischen Alltagspraktiken und lebensweltlichen Erfahrungen eingehen, sodass die verschiedenen Elemente dieser Konstellation einander verstärken. Umgekehrt stabilisiert die alltägliche Praxis ihrerseits jene großen gesellschaftsbezogenen Narrative, von denen sie orientiert wird, indem sie ihnen Evidenz verleiht. In dem Maße, in dem Gegenwartsdiagnosen durch das Hochrechnen gegenwärtig festgestellter Prozesse Zukunftsszenarien entwerfen und Resonanzen zwischen verschiedenen Narrativen, Alltagspraxis und Alltagserfahrung bedingen, erzeugen sie einen Handlungsdruck, der sich auf die Gegenwart bezieht: Gehandelt werden muss hier und jetzt. Mit Blick auf diesen Handlungsdruck geht es in diesem Band, drittens, um die Wirkmächtigkeit von Gegenwartsdiagnosen: Wie tragen Gegenwartsdiagnosen zur Schaffung sozialer Wirklichkeit bei? Diese Frage bezieht sich zum einen auf gezielte Interventionsmaßnahmen (sozialtechnologische Gestaltung, Entfaltung und 20 | Foucault, Michael: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt a.M. 1972. 21 | Wir begreifen Genealogie im Anschuss an Foucault als eine (macht-)kritische Methode, der es um das (historische, diachrone) Erschließen der Komposition von Phänomenen aus heterogenen Elementen und Kräften geht; vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Frankfurt a.M. 2001-2005, Bd. 2, S. 166-191.

Einleitung

Optimierung von Potenzialen, Abbruch oder Ausstieg aus bestimmten Technologien), die eine Gegenwartsdiagnose aufgrund ihrer besonderen, auf das Auffinden und Bearbeiten von Symptomen gerichteten Deutungsmuster gegenwärtiger Zustände nahelegt. Ein Beispiel dafür sind die in den letzten 200 Jahren vielfach wiederholten und variierten demografischen Untergangsszenarien des ›Aussterbens‹, der ›Überalterung‹ oder der ›Überfremdung‹ von Familie und Nation, die zu folgenschweren sozialtechnologischen Eingriffen in die biologische Reproduktion und das soziale Verhalten zahlloser Menschen geführt haben.22 Zum anderen geht es uns um die unbeabsichtigten Nebenfolgen von Gegenwartsdiagnosen. Mit der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Entstehung, der Ausformung und der Wirkmächtigkeit von Gegenwartsdiagnosen geht der Band einem Modus der Weltdeutung und -gestaltung nach, der das gesellschaftliche Selbstverständnis in weiten Teilen der heutigen Welt in unterschiedlichen, sich wandelnden Formen und Darstellungen so stark prägt, dass er zu einer Art »Selbsthermeneutik«23 geworden ist – mit überaus realen Konsequenzen für die Welt- und Selbstbildung.

4. Z ur G liederung des B andes Die Beiträge in diesem Buch sind als Versuchsanordnungen des in den vorangegangenen Abschnitten umrissenen Forschungsprogramms zu verstehen. Entsprechend erhebt der vorliegende Band nicht den Anspruch, das weite Feld der diagnostischen Selbst- und Weltwahrnehmung bereits systematisch zu erschließen. Er soll vielmehr dazu beitragen, dieses bislang nur partiell ausgeleuchtete Forschungsfeld allererst zu erkunden und die vorgestellten heuristischen Annahmen, begrifflichen Konzepte und analytischen Perspektivierungen zu erproben und in einem Wechselspiel aus Empirie und Theorie weiterzuentwickeln. Diesem explorativen Anliegen ist auch die Gliederung des Bandes geschuldet. Das erste Kapitel »Gegenwart als Objekt der Diagnose« widmet sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven den Fragen, wie und als was ›Gegenwart‹ seit der Spätantike bis heute gedacht wurde und unter welchen historischen und gesellschaftlichen Umständen sie zum Objekt der Diagnose werden konnte. Wie also, und unter welchen Möglichkeitsbedingungen, entstand jener Wahrnehmungsund Handlungsraum, der es ganzen Gesellschaften erlaubte, sich in einem ambivalenten Zusammenspiel aus Erfahrung und Erwartung nicht nur als irgendwie veränderlich, sondern als in zielgerichteter Weise gestaltbar zu entwerfen? Unter der Überschrift »Sehen und Zu-Sehen-Geben« sind, zweitens, Beiträge versammelt, die den Fokus auf die Formen und das Wirkungspotenzial der Darstellung und Aufführung von Diagnosen sowie auf deren Subjekte und Objekte legen. Untersuchungsschwerpunkte sind die Inszenierung, die Vermittlung und die Popularisierung von Diagnosen. Was zeichnet die je besonderen narrativen, visuellen oder performativen Realitätseffekte einer Gegenwartsdiagnose aus? Wel22 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 23 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 46.

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che Rolle spielen ihre Materialität und Medialität im Hinblick auf ihre jeweiligen Affizierungs-, Berührungs- und Beglaubigungspotenziale? Welchen Status haben Menschen, Personen, Körper, Dinge und Artefakte in den Diagnosen: als Subjekte, Objekte, Vollzugsorgane, Rezipienten? Das dritte Kapitel »Soziologische Gegenwartsdiagnostik« trägt dem Umstand Rechnung, dass in fachhistorischer Perspektive vor allem in der Soziologie zahlreiche Reflexionen über Gegenwartsdiagnostik 24 und ihre Funktion25 angestellt wurden und die Anzahl an Auseinandersetzungen mit einzelnen Autoren und inhaltlichen Aspekten soziologischer Gegenwartsdiagnostik beträchtlich ist. Wie funktionieren Gegenwartsdiagnosen im Unterschied zu anderen Formen des Wahrnehmens, Erkennens, Deutens und Theoretisierens und welche Charakteristika kennzeichnen sie? Welche Analogien und Homologien, aber auch Differenzen etwa von medizinischer und soziologischer Diagnostik lassen sich feststellen? Eine systematische Rekonstruktion der historischen Konstellationen, in denen etwas überhaupt als Diagnostizieren, Diagnostiziertes oder Diagnostiker eingesetzt, wahrnehmbar und anerkannt wird, steht, von Einzelforschungen abgesehen, bislang ebenso aus wie Analysen der historisch spezifischen Ausformungen des Diagnostizierens. Diesem Anliegen widmet sich das vierte Kapitel »Historische Formen des Diagnostischen«, das eine genealogische Perspektive auf die Entstehung, Ausformung und gesellschaftliche Wirkmacht von Gegenwartsdiagnosen seit der Frühen Neuzeit wirft. Was also zeichnet die Entstehungsgeschichte einer Gegenwartsdiagnose aus? In welchen gesellschaftlichen Kulturen, Praktiken und Medien des Alltagslebens, der Wissenschaft, oder der populären Kultur wird sie geschaffen? Auf welche Wissenselemente, Kräfte und historische Semantiken stützt sich eine Gegenwartsdiagnose? Und wie verändert sie sich in ihren Wiederholungen und Übersetzungen in andere Kulturen, Praktiken und Medien über die Zeitläufte hinweg? Das daran anschließende fünfte Kapitel wendet diese Fragen exemplarisch auf »Felder des Diagnostischen«, die in heutigen Gegenwartsgesellschaften entworfen werden. In den Blick geraten beispielsweise die makroökonomischen Zeitdiagno24 | Papcke, Sven: Gesellschaftsdiagnosen. Klassische Texte der deutschen Soziologie im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991; Lichtblau, Klaus: Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug, in: Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 15-47. 25 | Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, in: Berliner Journal für Soziologie 6, 1996, S. 377-390; Nassehi, Armin: Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose. Soziologie als gesellschaftliche Selbstbeschreibung, in: Bohn, Cornelia/Willems, Herbert (Hg.): Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive, Konstanz 2001, S. 551-571; Engelhardt, Anina: Soziologische Gegenwartsdiagnose als Orientierungswissen, in: Soeffner, Hans-Georg/Kursawe, Kathy (Hg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen, Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Wiesbaden 2010 (der Beitrag ist nicht in der Druckfassung, sondern auf der dem Buch beigelegten CDROM zu finden); Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011; Krähnke, Uwe: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig des Sozialwissenschaftlers, in: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnose, Wiesbaden 2016, S. 7-19.

Einleitung

sen im Umfeld der Finanzkrise von 2008 oder die im zeitgenössischen Bildungsdiskurs verhandelten Pathologien und Therapien. Hier wird deutlich, dass Zukunft nicht mehr ausschließlich als Möglichkeitsraum betrachtet wird, sondern auch als ein vorweggenommenes Faktum, von dem aus die Gegenwart modelliert wird.26 Das sechste Kapitel beleuchtet die »Medialität und den Formenwandel des Diagnostischen«. An den Beispielen von Wissenschaftsopern, gegenwärtiger Pop-Kultur, der sozialen Aushandlung auditiver Emissionen und Digitalisierungsdiagnosen wird nach den Realitätseffekten von narrativen, visuellen und theatralen bzw. performatorischen Gegenwartsdiagnosen gefragt. In den Blick kommen dabei Aspekte ihrer Materialität und Medialität etwa im Hinblick auf ihre Affizierungs-, Berührungs- und Beglaubigungspotenziale. Zudem wird danach gefragt, in welchen intertextuellen und intermedialen Bezügen Gegenwartsdiagnosen und daraus abgeleitete Interventionen erzeugt, mit Überzeugungskraft ausgestattet und als ein (hegemoniales) gesellschaftliches Imaginäres verbreitet und durchgesetzt werden. Die den Band abschließenden Beiträge greifen, siebtens, die Frage nach möglichen Alternativen zu diagnostischen Redeweisen aus der Perspektive ihrer Kritik auf. Der implizite wie explizite Umgang mit Gegenwartsdiagnosen in Wissenschaft und Kunst, sei es in Form von Abgrenzungsversuchen oder in affirmativer Weise, lenkt den Blick zum einen auf konkurrierende Diskursivierungen gegenwärtiger Zustände auf unterschiedlichen Feldern der gesellschaftlichen Wissensproduktion. Zum anderen reflektiert er die damit einhergehenden Kämpfe um gesellschaftliche Ressourcen und Deutungsmacht. Die Beiträge in diesem Buch verfolgen das gemeinsame Anliegen, die Analyse der diagnostischen Selbst- und Weltwahrnehmung moderner Gegenwartsgesellschaften als ein interdisziplinäres Forschungsfeld in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu entwerfen und zu etablieren. Sie möchten damit jene in neuzeitlich-modernen Gesellschaften wirkungsmächtige transformative Energie verständlich machen, die fortwährend neue Prozesse, Verfahren und Techniken gesellschaftlicher Veränderung anstößt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konflikthaftigkeit von Gegenwartsdeutungen und politischen Idealisierungen vergangener Gegenwarten (»Make America Great Again«) vermag der Band, so hoffen wir, das Diagnostizieren historischer und aktueller Erscheinungen und Vorkommnisse als ein Moment der Welterzeugung zu begreifen, das in zu rekonstruierenden geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellationen eine eigene performative, wirklichkeitsschaffende Macht entfaltet. Damit möchten wir dazu beitragen, die Macht von Gegenwartsdiagnosen für die Gestaltung gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten besser einschätzen zu können.

26 | Vgl. Avanessian, Armen/Malik, Suhail (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary, Berlin 2016.

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I. Gegenwart als Objekt der Diagnose

Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwart? Johann Kreuzer Auf die Frage, was Gegenwart heißt und worüber wir als Gegenwart sprechen, soll im Folgenden in acht Schritten geantwortet werden. Teil 1 dient der Situierung der Frage im Kontext der zeitphilosophischen Agenda des 20. Jahrhunderts. Teil 2 erläutert in einem ersten Schritt, weshalb für die Beantwortung dieser Frage auf einen spätantiken Autor: auf Augustinus zurückgegriffen wird. Die dabei gewonnenen Erklärungen werden in Teil 3 mit dem Anspruch von bzw. an Philosophie, in der Selbstreflexion dessen, was als Gegenwart besteht, selbst zu bestehen, konfrontiert: Referenzen sind hier Hegel und ein Arbeitsprogramm, das mit dem Stichwort vom ›Zeitkern der Wahrheit‹ (bei Benjamin und Adorno) verbunden ist. Teil 4 fügt eine der empirischen Gegenwart geltende Zwischenbemerkung ein. Teil 5 kehrt dann zur zeitphilosophischen Analyse dessen, was ›Gegenwart‹ meint und nicht meint, (bei Augustinus) zurück. Daraus abzuleitende Folgerungen für die Beantwortung der Frage, was Gegenwart heißt und worüber wir als Gegenwart sprechen, sind Gegenstand von Teil 6. Teil 7 dann hat den Zweck, diese Folgerungen anhand eines Fallbeispiels gegenwartsorientierter Diagnostik aus dem 20. Jahrhundert zu konkretisieren. Dabei geht es um Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit und seine Erschließungskraft. Eine Schlussbemerkung folgt in Teil 8.

1. E inleitung Als Einsatzpunkt zeitphilosophischer Diskussion können (im deutschsprachigen Raum) Husserls auf Vorlesungsskripte von 1904/05 und 1910 zurückreichende und 1928 von Heidegger herausgegebene Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, sowie des Herausgebers dieser Vorlesungen gleichsam in Parallelaktion erschienene Abhandlung Sein und Zeit gelten.1 Husserl nun hat seine Vorlesung 1905 mit der Feststellung begonnen, dass es »unsere wissensstolze Neu1 | Vgl. Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. Martin Heidegger, Tübingen 21980, S. 367 (urspr. 1928); Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 121972 (urspr. 1927), S. V. – Zum weiteren Überblick der ab Ende des 19. Jahrhunderts auf die Tagesordnung rückenden Frage nach der Zeit vgl. Zimmerli, Walter Ch./ Sandbothe, Mike (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993.

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zeit […] in diesen Dingen [nicht] erheblich weiter gebracht« habe als Augustinus.2 Inwiefern haben wir es – sofern wir uns als Zeitgenossen einer wissensstolzen Neuzeit erachten – nicht erheblich weitergebracht? Eine Antwort auf diese Frage könnte sein, dass es hier auf die Umsetzung der Einsicht ankommt, dass die relevanten Sachthemen der Selbstreflexion kultureller Erfahrung eine interne zeitliche Dimension haben. Diese Einsicht stößt nicht immer auf Akzeptanz. Sie kann mit dem Vorwurf konfrontiert werden, dass sie zu geltungstheoretischen Relativierungen führe: Man mache es dem, was Kant einmal faule Vernunft (ignava ratio) genannt hat, damit einfach: auf der einen Seite gäbe es die strengen Regeln eines methodisch purifizierten Wissenschaftsanspruchs, auf der anderen Seite opake Regionen unmittelbarer (›existentieller‹) Erfahrung, die singulärer Willkür überlassen bleiben.3 Husserl hat die eine Hälfte der eben skizzierten Bewusstseinsspaltung – den Glauben an die Wissenschaft, die sich als neutrales, von aller Kontextualität und Geschichte freies Instrument versteht und den Anspruch des Erkennens auf die Klärung ihrer formalen Methoden beschränkt – kurz vor dem Höhepunkt der Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ›Krisis‹ der europäischen Wissenschaft thematisiert. Diese Krisis zeige sich insbesondere in der »positivistischen Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft«. Ihr stellt Husserl die Notwendigkeit der Reflexion auf die Bedingungen der »Lebenswelt« wie die »Geschichtlichkeit« der Wissens- und Bewusstseinsformen, in denen sie zu Ausdruck gelangen, gegenüber.4 ›Verstehen‹ nötigt dazu, sich Aufklärung über die zeitliche Dimension zu verschaffen, auf die sich lebensweltliches Erfahren nicht nur bezieht, sondern die ihm intern eignet. In diesem Zusammenhang wird die Frage virulent, was mit Gegenwart gemeint und was darunter verstanden wird. Diese Frage hat einen diagnostischen Sinn und wird meist aus einem Korrektur- oder Veränderungsbedürfnis heraus gestellt. Ohne Beantwortung der Frage, was unter Gegenwart zu verstehen ist, werden die Diagnosen freilich willkürlich bzw. je nach ideologischer Absicht verzerrt oder beides zusammen bleiben. Ins Stocken gerät ihre Beantwortung, wenn externe, etwa wissenssoziologische oder ideologiekritische Relativierungen die sachlich interne Dimension, um die es bei 2 | Vgl. E. Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. 368. – Rudolf Bernet hat auf Husserls aufmerksame Lektüre von Confessiones XI hingewiesen: man könne »geradezu von Husserlschen ›Randbemerkungen‹ zu Augustinus sprechen« (vgl. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins [1893-1917], Einleitung, Hamburg 1985, S. XI [kursiv im Orig.]). Augustinus ist damit zum Ausgangspunkt zeitphilosophischer Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts geworden. 3 | Zur faulen Vernunft vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 717, 801, in: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, Bd. 4, S. 596, 654f. 4 | Vgl. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, § 2 und §§ 28ff., in: Ders.: Gesammelte Schriften, 8 Bde., Hamburg 1992, Bd. 8, S. 3f., 105ff. Neuartig an der Krisis-Schrift, die 1936 in Belgrad, da Husserl während der Naziherrschaft in Deutschland nichts publizieren durfte, erschien, ist die Hinwendung zur Geschichte als einem integralen Erfordernis phänomenologischer Reflexion. Diese letzte Wende in Husserls Spätwerk ist gerade in Rücksicht auf seine Anfänge, die in der Philosophie der Arithmetik lagen, bemerkenswert (vgl. z.B. Ströker, Elisabeth: Einleitung zu: Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Hamburg 1982, IXff.).

Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwar t?

dieser zeitlichen Perspektive geht, überlagern.5 Solchen Relativierungen entgegen bedarf es einer zeitphilosophisch reflektierten Klärung, was sich unter Gegenwart verstehen lässt. Ohne eine solche zeitphilosophische ›Sicherung‹ wird gerade eine sich genealogisch begreifende Diagnostik blind bleiben. Natürlich können im Folgenden nur holzschnittartige Hinweise auf die zeitphilosophisch reflektierten Klärungen und ›Sicherungen‹, die es hier braucht, gegeben werden.6 Aber vielleicht können sie zu einem Verständnis von Gegenwart beitragen, das den Begriff des mit ihr verbundenen Diagnostischen von jenen Trivialisierungen von Kritik absetzt, die diese letztlich auf eine Feedback-Schleife einschränken – wobei dies als Trivialisierung zu kennzeichnen selber eine Diagnose ist.7 Gerade wenn man solchen Trivialisierungen widerstehen will, muss man sich auf begriffliche Klärungen einlassen, was Gegenwart heißt und aus welchen Gründen wie Hinsichten über sie gesprochen wird. Das soll im Folgenden – im Ausgang zunächst von Augustinus’ Analysen und im Anschluss an einige die Frageperspektiven dieser Analysen justierenden Überlegungen – geschehen.

2. D er A usgangspunk t Warum wird für die Überlegungen, worüber wir als Gegenwart sprechen, interessant, was sich diesbezüglich in Augustinus’ Werk – in einem Abstand von immerhin ca. 1600 Jahren – reflektiert wie registriert findet?8 Bewusst und interessant wird Zeit als Index oder Subschicht kultureller Erfahrung in geschichtlichen Umbruchssituationen. Eine solche war die Gegenwart der Epoche, in die Augustinus gehört, in paradigmatischer Weise. Sie ist zugleich ein geschichtlicher Umbruch, der sich in einer Gegenwart vollzog, die als Zäsur und Jetztzeit erfahren wurde: als Beginn einer neuen Epoche. Das gelangte auch und 5 | Horkheimer hat 1930 aus guten Gründen die wissenssoziologische Universalisierung des Ideologiebegriffs kritisiert (vgl. Horkheimer, Max: Ein neuer Ideologiebegriff?, in: Ders.: Sozialphilosophische Studien, hg. v. Werner Brede, Frankfurt a.M. 1972, S. 13-32). Der Versuch, das »gesamte Bewußtsein unter Ideologieverdacht« zu stellen (vgl. ebd., S. 25) – es ist zu fragen, ob nicht genau dies mit den neostrukturalistischen wie kulturalistischen Universalisierungen von ›Kritik‹ ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von neuem stattgefunden hat und stattfindet –, laufe parallel dem »neuesten Angriff auf die Metaphysik«, dessen Ausgangspunkte Horkheimer 1937 im Logischen Empirismus verortete, vgl. Horkheimer, Max: Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in: Horkheimer, Max: Kritische Theorie, hg. v. Alfred Schmidt, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1968, Bd. 2, S. 82-136. 6 | Zum Überblick vgl. Art. »Zeit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Darmstadt 1971-2007, Bd. 12, S. 1186-1262 (im Folgenden: HWPh). 7 | Vgl. gegen solche Trivialisierungen auch: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2009. 8 | Zu Augustinus’ Auseinandersetzung mit ›Kraft und Natur der Zeit‹ vgl. Kreuzer, Johann: Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995, bes. S. 105-223; zur Vorgeschichte dieser Frage vgl. Ders.: Von der erlebten zur gezählten Zeit. Die Anfänge der Zeitphilosophie in der Antike, in: Ders./Mohr, Georg (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2007, S. 1-40.

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in terminologisch originärer Weise mit einer Wortneuschöpfung zu sprachlichem Ausdruck. Lässt man die Epoche des ›Mittelalters‹ mit der Zeit dieses Umbruchs einsetzen, so kann man dessen Beginn als erste ihrer selbst bewusste ›Moderne‹ bezeichnen.9 Es überrascht deshalb nicht, dass das Gewahrwerden dieses Umbruchs (bei Augustinus) über ein bloßes Konstatieren hinaus zur Reflexion seiner inneren zeitlichen Dimension führt.10 Die Frage nach der Zeit stellte er, weil der Boden der Gegenwart – Gegenwart als ›Boden‹ – schwankend geworden war. Gefolgert wird sie aus der Problematisierung alltagsphänomenaler Gewissheiten: Was ist es, was uns im Sprechen über Zeit und Zeiten so fraglos vertraut ist und im alltäglichen Umgang sowohl selbstverständlich erscheint wie entsprechend funktioniert?11 Die Alltagsgewissheiten, die hier tragen, entziehen sich freilich, sobald man genauer zusieht. »Zuversichtlich« ließe sich zwar sagen: »Wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts herankäme, gäbe es keine zukünftige Zeit, und wenn nichts (gewesen) wäre, gäbe es keine gegenwärtige Zeit.« Aber sofort ist zu fragen: »Diese beiden Zeiten also, die vergangene und die zukünftige, auf welche Weise sind sie, wo doch das Vergangene schon nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist?«12 Was alltagspraktisch funktioniert, erklärt nicht, wie und warum es funktioniert. Denn bei genauerem Zusehen zeigt sich: Das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige ist noch nicht, und das Gegenwärtige? Es ist jeweils jetzt schon, soll ›Zeit‹ nicht aufgehört haben vorüberzugehen, ins Vergangene übergegangen, also ebenfalls nicht. Augustinus folgert:

9 | Der gegen Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. belegte Ausdruck »modernus« wurde vom Adverb »modo« (= jetzt) abgeleitet (vgl. Art. »antiqui/moderni [Querelle des Anciens et des Modernes]« in: HWPh, Bd. 1, S. 410f.). 10 | Walter Benjamin hat in einer der letzten Rezensionen, die er verfasst hat (die in der Zeitschrift für Sozialforschung nach dem Umzug von deren Redaktion nach New York freilich nicht mehr erschienen ist), Henri I. Marrous Buch Saint Augustin et la fin de la culture antique besprochen und dabei hervorgehoben, dass »Augustin […] der erste Kirchenvater gewesen sei, dem der Niedergang der antiken Kultur als geschichtliches Phänomen gegenwärtig gewesen; der erste, der sich trotz aller technischen Abhängigkeit von dieser Kultur […] von ihr desolidarisiert habe« (Benjamin, Walter: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Heinrich Kaulen, 21 Bde., Berlin 2011, Bd. 13.1, S. 601; vgl. auch ebd., Bd. 13.2, S. 642f.). – Zur Situierung des Werks von Augustinus vgl. Kreuzer, Johann: Augustinus zur Einführung, Hamburg 22013. 11 | Die Frage: »Was also ist Zeit? Wenn es niemand von mir erfragt, weiß ich es; soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht«, ist Resultante folgender Beobachtung: »Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? Et intellegimus utique, cum id loquimur, intellegimus etiam, cum alio loquente id audimus. Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio« (Augustinus: Confessiones, hg. v. Lucas Verheijen, Turnhout 1981, XI.14.17, S. 202). 12 | »[F]identer tamen dico scire me, quod, si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adunerit, non esset futurum tempus et si nihil esset, non esset praesens tempus. Duo ergo illa tempora, praeteritum et futurum, quomodo sunt, quando et praeteritum iam non est et futurum nondum est?« (Augustinus: Confessiones XI.14.17, S. 202f.).

Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwar t? »Wenn also Gegenwart/das Gegenwärtige, soll Zeit sein, sich so vollzieht, dass sie/es ins Vergangene übergeht, wie können wir da sagen, dass sie/es ist, da doch der Grund, dass sie/ es ist, jener ist, nicht mehr zu sein, so dass wir in der Tat nur in dem Sinne sagen können, Zeit ist, weil sie zum Nichtsein strebt?«13

Ein dreifaches ›nicht‹ und ein ›tendit non esse‹ als Fazit: Reduziert sich, worüber wir als Zeit – und implizit damit als Gegenwart – sprechen, auf einen solchen destruktiven Befund? Wenn ein solches Triple-Nein nicht das letzte Wort sein soll, wird eine begriffliche Klärung wichtig. In der soeben aus Buch XI der Confessiones referierten Destruktion von Alltagsgewissheiten fällt auf, dass Augustinus zwischen dem Vergangenen und der Vergangenheit nicht und weder zwischen dem Zukünftigen und der Zukunft noch dem Gegenwärtigen und der Gegenwart unterscheidet oder differenziert. Die Trias ›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹ ist ein Schema für das Ordnen zeitlicher Ereignisse.14 Vergangenheit vergeht nicht, was vergeht, ist das Vergangene (oder eine vergangene Zeit), Zukunft ist als Teil einer Ordnungsschematik im Unterschied zum noch nicht gegenwärtigen Zukünftigen selbst nicht zukünftig – und Gegenwart? Sie kann nicht in dem Sinn gegenwärtig sein wie das Gegenwärtige, das jeweils jetzt schon vorbei, d.h. Vergangenes geworden ist. Wenn ›Gegenwart‹ in die Schematisierungstrias ›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹ gehört, also mit erfahrener Zeit, ›gelebter Gegenwart‹ nur höchst indirekt zu tun hat – und Gegenwärtigkeit etwas dergestalt Flüchtiges ist, dass das damit Gemeinte sich nicht feststellen, also auch nicht diagnostizieren lässt: was ist es dann, worauf sich ›Gegenwartsdiagnosen‹ beziehen? Dabei ist unterstellt, dass Diagnosen mit Gegenwart zu tun haben. Was gibt es ›zwischen‹ Gegenwart und Gegenwärtigkeit als dasjenige, was zum Gegenstand von Diagnosen werden kann?15 Ist es ein klassischer Zirkelschluss, wenn man sagt: es gibt Diagnosen, also gibt es auch das diagnostizierte Objekt ›Gegenwart‹? Vielleicht referieren ›Diagnosen‹ auf einen Gegenwärtigkeitsbegriff mittlerer Reichweite? – auf eine Spanne an Gegenwärtigkeiten, die noch nah genug sind, um sich weder in abgelebt Vergangenem noch in bloß Erwartetem oder ›visionär‹ (mit entsprechendem Verfallsdatum) prognostiziertem Zukünftigen zu erschöpfen? Auf so etwas wie gelebte und als gelebte zugleich erinnerbare Gegenwart also 13 | »Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus […]. Si ergo praesens, ut tempus sit, ideo fit, quia in praeteritum transit, quomodo et hoc esse dicimus, cui causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut scilicet non uere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse« (Augustinus: Confessiones XI.14.17, S. 203). 14 | Vgl. auch Anm. 38. 15 | Es fällt – nicht nur wegen dieser Frage – auf, dass es im Historischen Wörterbuch der Philosophie Einträge zu »Zeit«, »Zukunft/Vergangenheit« gibt, nicht aber zu »Gegenwart«. Sie gibt es nur mit einem Begriff Husserls als »Gegenwart, lebendige«. Entsprechend geht es dabei auch allein um das »transzendentale Ich der l.G., das […] durch notwendige Verzeitlichung seine volle Konkretion« gewinne (vgl. HWPh, Bd. 3, S. 139). Bei der Frage nach einer nicht am letztinstanzlichen ›Ich‹ orientierten Gegenwart besteht offenkundig begriffsgeschichtlicher (und nicht allein begriffsgeschichtlicher) Aufklärungsbedarf. Registriert wird dieser Bedarf im Art. zu »Präsenz« (vgl. HWPh, Bd. 7, S. 1259-1265) und »Vergegenwärtigung« (vgl. HWPh, Bd. 11, S. 664f.).

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wie auf den Horizont eines Erfahrens, dem seine Gegenstände (noch) reversibel erscheinen? Wir werden sehen (vgl. Teil 5), dass ein solcher Gegenwärtigkeitsbegriff mittlerer Reichweite mit der Ermöglichung der Verbindung von Gegenwärtigkeitswahrnehmungen (punktuellem Wahrnehmen) zu tun hat. ›Mittlere Reichweite‹ zielt dabei nicht auf Quanta oder Längen von Gegenwart(en) – nach Maßgabe zu messender Dauern oder des Umfangs einer Epoche. Thematisch ist vielmehr ein erfahrungskonstitutives wie durch Erfahrung sich bildendes Vermögen eines Verbindens: ein ›Behaltenkönnen‹, in dem uns bewusst bleibt, dass wir mit ihm der Bedingung zeitlichen Vorübergehens selbst unterworfen sind. Erscheint das Anerkennen dieses Faktums auf den ersten Blick wie Resignation (der Herrschaft des Chronos gegenüber), so wird auf den zweiten Blick deutlich, dass hierin sich zugleich ein Vermögen bezeugt, das vorübergehend Gegenwärtige mit dem Noch-Nicht-Gegenwärtigen zu verbinden und in die Zeitdimension Zukunft zu öffnen. ›Gegenwart‹ markiert so keine Grenze, die Zukünftiges von Vergangenem scheidet, sondern besteht in einer Art Klammer, die es erlaubt (wie ermöglicht), Vergangenes als das eben noch Gegenwärtiggewesene mit dem (Zukünftigen als dem) Noch-nicht-gegenwärtiggewesenen zu ›verspannen‹. Dass es zu dem sie gerade zu definierenden Begriff von Gegenwart gehört, ›spannungsvoll‹ zu sein, ist deshalb kein bloßes Wortspiel.

3. Ü ber G egenwärtigkeit und in ihren G edanken erfasste Z eit Zeittheoretisch finden sich die basalen Überlegungen zu einem ›Gegenwärtigkeitsbegriff mittlerer Reichweite‹ in der Zäsur (oder vielleicht besser: der Epochendrift) der Spätantike: bei Augustinus. Er hat – im Kontext einer epochalen Transformation – in originärer Weise nach der ›Dehnung‹ (distentio) gefragt, aus der sich jene ›spannungsvolle Gegenwart‹ bildet, die im Wahrnehmen eines zeitlichen Wandels virulent wird.16 Das erklärt, weshalb er – wie vorhin angemerkt – geschichtlichen Szenarien, die sich als Übergang wahrnehmen, jeweils zum Gesprächspartner werden konnte und wird. Als ein solcher Übergang begriff sich – mit dem Datum der Französischen Revolution ›im Rücken‹ – gerade auch die Epochenschwelle 1800.17 Es überrascht deshalb nicht, dass der zeittheoretisch eben angesprochene Gegenwärtigkeitsbegriff hier sich aufgegriffen findet: in prägnanter Weise bei He16 | Vgl. Augustinus: Confessiones XI.23.30, S. 209: »Video igitur tempus quandam distentionem.« Ebd., XI.26.33, S. 211: »Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem; sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi.« Zu den Antwortoptionen, die Augustinus im Hinblick auf das »implicatissimum aenigma« der »uis naturaque temporis« (vgl. Augustinus: Confessiones XI.23.30, S. 209) formuliert, vgl. oben, Anm. 8, und im folgenden Abschnitt 5. 17 | »Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiamus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Ders.: Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1970, Bd. 12, S. 529).

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gel, der in programmatischer Absicht Philosophie als »in ihren Gedanken erfaßte Zeit« verstanden hat. Diese oft zitierte Notiz formuliert Hegel in einem Kontext, den es gerade im Hinblick auf die Frage danach, was Diagnose meint, lohnt, sich etwas ausführlicher vor Augen zu führen. Es handelt sich um die »Vorrede«, die er den 1821 erschienenen Grundlinien der Philosophie des Rechts vorangestellt hat und in der er notiert: »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist eben so thöricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit […]. Geht seine Theorie in der That drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie seyn soll, so existirt sie wohl, aber nur in seinem Meynen, – [sic] einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.«18

›Ihre Zeit in Gedanken‹ zu erfassen: das ist ein ebenso diagnostischer wie dieses Diagnostische mit geschichtlichem Sinn – dem Sinn, dass ›Begreifen‹ sich auf geschichtlich-reale Praxen richtet und selber eine solche Praktik ist – verbindender Anspruch. In der »Einleitung« zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hält Hegel fest, dass wir es in ihr, »ob sie gleich Geschichte ist, […] doch nicht mit Vergangenem zu tun haben.« Im Kolleg 1827/28 hat er dies dergestalt zugespitzt, dass wir »es daher in der Geschichte der Philosophie mit dem Vergangenen, aber ebensosehr mit dem Gegenwärtigen zu tun [haben], d.h. mit solchem, das für unseren denkenden Geist notwendig Interesse haben muß.«19 Dass das Vergangene das ist, was einmal gegenwärtig war (und das Zukünftige das, was einmal gegenwärtig gewesen sein wird), lässt den Begriff des ›Gegenwärtigen‹ ins Zentrum des Interesses rücken. In der Auseinandersetzung mit den Problemstellungen jeweiliger Gegenwart(en) bleibt die Selbstreflexion ihrer Erfahrung ohne das Begreifen des Gewordenseins der in Praxen gegenwärtig werdenden Bewusstseinsleistungen blind. Philosophie erweist sich deshalb – so Hegel mitten in der die weitere, nicht nur die innerphilosophische Diskussion bestimmenden Epochenschwelle 1800 – als »der notwendige Versuch, […] das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein Produzieren zu begreifen.«20 Sind wir damit schon in unserer Gegenwart angekommen? Dass wir damit in der uns betreffenden Gegenwart angekommen sind, legte Adorno nahe, wenn er mit einigem Recht feststellte, dass Hegel mit der als »Forderung« zu verstehenden »Definition […], Philosophie sei ihre Zeit, in Gedanken

18 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Klaus Grootsch/Elisabeth Weisser-Lohmann, in: Ders.: Gesammelte Werke, bisl. 31 Bde., Hamburg 1968ff., Bd. 14, S. 15. 19 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1, neu hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1993, in: Ders.: Theorie-Werkausgabe, Bd. 18, S. 46, 292. 20 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Ders.: Theorie-Werkausgabe, Bd. 2, S. 22.

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erfaßt« als erster »die Einsicht in den Zeitkern der Wahrheit« erreicht habe.21 Adorno wird hier an Bestimmungen bei Hegel gedacht haben wie die in der »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes, dass »Zeit der daseyende Begriff selbst« sei, eine Bestimmung, die das begreifende Wissen (also Philosophie) an ›Zeit‹ (und damit an die Bedingung der Erfahrungswirklichkeit) bindet. Denn »Zeit ist der Beg r if f selbst, der d a ist« und die »Bewegung (des Geistes), die Form seines Wissens von sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als w irk lic he Gesc hic hte vollbringt.«22 Damit formuliert Hegel, wohl gemerkt, einen Anspruch. Auf ihn bezieht sich Adorno, wenn er Hegel als Kronzeugen für die Einsicht aufruft, dass dem, was Wahrheit meint, ein Zeitkern eigne. ›Zeitkern der Wahrheit‹? – ausgehend von Hegel und im Anschluss an Marx’ wie Nietzsches Kritik an ›idealistischen‹ Präsuppositionen zitiert Adorno mit dem Stichwort ›Zeitkern der Wahrheit‹ ein Programm, das er mit Walter Benjamin ab Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts teilte. Das Stichwort stammt von Benjamin. Es fällt im Kontext von dessen Arbeit an der Archäologie der die Erfahrungsund Wahrnehmungsmuster unserer Gegenwart prägenden Begriffe – einer Archäologie, die die Substrukturen (oder die Erfahrungslogik) dieser Begriffe im »Wahn und Gestrüpp« des 19. Jahrhunderts freizulegen und aufzuklären suchte.23 Das Arbeitsvorhaben, das Adorno im Hinblick auf Benjamins Passagen-Arbeit einmal emphatisch das »entscheidende Wort, das heute gesprochen werden kann«, nennt, sollte am 19. Jahrhundert exemplarisch vorführen, was bewusstseinsgeschichtlich-genealogische Arbeit in gegenwartsdiagnostischer Absicht zu leisten vermag.24 Die explizit zeittheoretischen Implikationen (oder Voraussetzungen) eines solchen sich gegenwartsgenealogisch verstehenden Erkenntniskonzepts hat Benjamin mit einer Feststellung angesprochen, hinter die man nicht zurück sollte, wenn es einem um das Begreifen von Gegenwart geht: »Entschiedene Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch die Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus behauptet – nur eine zeitliche Funktion des Erkennens, sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.« 25 21 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Wozu noch Philosophie?, in: Eingriffe, Frankfurt a.M. 51968, S. 26. 22 | Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 34, 429f. (Hervorh. im Orig.). 23 | Zum Anspruch, jene Subschichten des Bewusstseins »urbar« zu machen, die im 19. Jahrhundert von jenem »Gestrüpp des Wahns und des Mythos« überwachsen wurden, dessen eine Form die Negation ›idealistischer‹ Philosophie durch die verschiedenen Formen sich positiv verstehender Wissenschaften sind, vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: Ders.: Gesammelte Schriften, 7 Bde., Frankfurt a.M. 1982, Bd. 5, S. 570f. 24 | Zur Diskussion zwischen Benjamin und Adorno vgl. insbes. Lonitz, Henri (Hg.): Theodor W. Adorno – Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt a.M. 1994, bes. S. 109ff.; zum emphatischen Anspruch Adornos vgl. ebd., S. 112. – Zum Ganzen vgl. auch Kreuzer, Johann: Das Gespräch mit Walter Benjamin, in: Klein, Richard/Kreuzer, Johann/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Berlin 2 2019, S. 505-520. 25 | W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 578.

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Interessanter als zu diskutieren, was Benjamin mit ›Idee‹ umschreibt, ist im Rahmen dieser Überlegungen, was sich als der im Erkannten und Erkennenden »zugleich« steckende Zeitkern angesprochen findet. Denn das verschiebt die Frage, ob im Prozess des Erkennens das Erkennende oder das Erkannte bzw. zu Erkennende (das Bewusstsein oder das Sein, die Struktur oder der Akteur usw.) prioritär ist, zu der Frage, was in solchen Prozessen selber als Tätigkeit sich vollzieht und entsprechend wirklich ist. Kein Beobachten kann so tun, als wäre es in das Beobachtete nicht involviert wie verstrickt. Das gilt auch und gerade für das Beobachten von Gegenwart in diagnostischer Absicht. Es gilt einer Gegenwart (was immer diese sei) und ist zugleich Teil von Gegenwart und wirkt in ihr. Die Kritik der Annahme, dass Wahrheit eine zeitliche Funktion des Erkennens sei, gilt allen Relativierungen, die (in welcher Absicht auch immer) Gültigkeit beanspruchende Aussagen zeitlichen Semantiken überhoben sein lassen wollen.

4. E inschub Hier sei eine kleine Zwischenüberlegung erlaubt. Die Kritik der Annahme, dass Wahrheit ›bloß‹ eine zeitliche Funktion des Erkennens, selber aber mit überzeitlichen Tatsachen zu tun habe, trifft insbesondere ein ›Expertenwissen‹, das davon lebt, ›Gegenwart‹ als so etwas wie eine ahistorische Gegebenheit anzunehmen und eine an Effizienzkriterien orientierte ›Rationalität‹ als Überinstanz gesellschaftlichen Zusammenlebens durchzusetzen – eine Rationalität, die zu diesem Zweck längst dabei ist, ›Diagnostik‹ wie ›Kritik‹ als Feedback-Schleifen ebenso formalisierter wie technoformer Reflexivität in die Mechanik gesellschaftlicher Selbstkontrolle und entsprechender Steuerungsmechanismen einzuverleiben. Die Zeitgenossen solcher Lebenszusammenhänge werden zu Rückkopplungsphänomenen einer gesamtgesellschaftlichen Steuerungsmechanik, die sie als ihrer Einwirkung entrückt erleben. Das erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht. Jener gerade in den westlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer schriller werdende Protest, dessen Inhalt im Kern der Akt oder die Ostentation des Protestierens selber ist, belegt dies ebenso drastisch wie dramatisch. Jeweils zu differenzierende Gründe gibt es hier viele. Einer dürfte der sein, dass Diskursverfahren ihre legitimatorische Bindekraft verlieren, wenn sie als bloß scheinhaft empfunden werden – als ›Masken‹ von Steuerungsmechanismen, die so unzugänglich bleiben wie die Quellcodes der Oligopole im WorldWideWeb: Sie sind ein Beispiel dafür, wie in der digitalisierten Welt neofeudalistische Machtstrukturen entstehen, die zugleich die Tendenz haben, die gesamte Erfahrungswirklichkeit, die gelebte Gegenwart also und was als Gegenwart zu leben ist, zu durchherrschen. Sind dies Mutmaßungen übertreibender Art? Die Frage ist, ob sich Diagnose wie Kritik zu (evaluativen) Rückkoppelungstechniken in der zu steuernden Mechanik vergesellschafteten Zusammenlebens funktionalisieren lassen. Lassen sie sich dazu funktionalisieren, wird Gegenwart ein geschlossenes System bedeuten, das nur Diagnosen und keine Zukunft kennt. Die ›brave new world‹ solcher Diagnostik erfüllte sich in der Generierung von Algorithmen des Fortschreibens eines als al-

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ternativlos angesehenen Funktionierzusammenhangs.26 Doch welcher Begriff von Gegenwart ist hier im Spiel? Und welches Verständnis von Diagnose? Erwächst das Bedürfnis nach Diagnose(n) nicht gerade aus einem jeweiligen Unbehagen, aus einem Bewusstsein von Nöten? – einer ›Not‹, die einem gegebenen Zustand attestiert wird, um diese Not zu wenden bzw. hinter sich lassen zu können: etwas, was notwendig nur in der (genauer: als) Gegenwart zu geschehen vermag. Haben das Bedürfnis nach Diagnose(n) und Kritik hier ihren wechselseitigen Erfahrungsursprung? Und könnte es sein, dass dieser Erfahrungsursprung mit dem zu diskutierenden Verhältnis zu tun hat, das zwischen (der Rede von) Gegenwart und Gegenwärtigkeit besteht?

5. Z eit und ihr E rfahrensein Damit führt diese Zwischenüberlegung zu dem Sachthema zurück, das sich aus Augustinus’ Destruktion des alltäglichen Umgangs mit ›Zeit‹ ergeben hat als die Frage nach einem Gegenwärtigkeitsbegriff mittlerer Reichweite – einem, der ›Gegenwart‹ als Verbindung von Gegenwärtigkeiten erklärt, die als vergangene (gegenwärtig gewesene) und zukünftige (gegenwärtig werdende) noch nah genug sind, um miteinander verspannt werden zu können. Er muss sich zugleich in der Struktur eines der Bedingung von Zeit selbst unterliegenden Erfahrens, also aus der Perspektive endlicher Wesen auffinden lassen. Genau dieses zuletzt formulierte Erfordernis erklärt die Anziehungskraft, die die Thematisierung von Zeit bei Augustinus ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts erfahren hat.27 Denn er hat in originärer Weise die Frage nach der Zeit im Kontext des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit gestellt. Diese Frage ergibt sich aus der 26 | Anzeichen dafür gibt es zuhauf. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spürt diesen Anzeichen einer heranziehenden ›Algokratie‹ seit geraumer Zeit nach; vgl. z.B. Lobe, Adrian: Brauchen wir noch Gesetze, wenn Rechner herrschen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.2015, S. 13; »Apologeten der algorithmischen Gesellschaftssteuerung halten Gesetze für etwas Antiquiertes. Zu allgemein, zu bürokratisch«, so Tim O’Reilly (der den Terminus »Algorithmic Regulation« geprägt hat). Die Anfrage von Lobe beantwortete er wie folgt: »Niemand sagt, daß algorithmische Regulierung jedes Problem löst. Aber in der heutigen datengesteuerten Welt müssen die Regierungen entweder dieses Werkzeug anwenden, oder es wird von jemandem anderen eingesetzt – gegen die Öffentlichkeit, welche eine Regierung repräsentieren soll« (ebd.). Zwei Jahre später re-thematisiert ein Artikel von Yvonne Hofstetter den Sachverhalt: »Demokratie? Eine veraltete Technologie!«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.2017, S. 14. Vgl. auch das frühere »Plädoyer für einen neuen Humanismus« von Jaron Lanier zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014 (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2014, S. 13). 27 | Z.B. für Husserl, Heidegger, Cassirer, Wittgenstein oder Adorno; vgl. E. Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins; M. Heidegger: Sein und Zeit; Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009 (urspr. 1931), S. 169-190, hier S. 183; Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen I, § 89, in: Ders.: Werkausgabe, 8 Bde., Frankfurt a.M. 1984, Bd. 1, S. 291; Adorno, Theodor W.: Fortschritt, in: Ders.: Stichworte, Frankfurt a.M. 1969, S. 32-43.

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Einsicht, dass das Zeitliche das ist, was »zum Nichtsein eilt.«28 Keine Theorie über Zeit, sondern Selbstexplikation des Daseins in der Zeit ist der Gegenstand seiner Frage(n). Bewusstsein ist in zeitlicher Hinsicht immer Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. »Ich aber zersplittere in den Zeiten, deren Ordnung ich nicht kenne«, bekennt Augustinus gegen Ende von Buch XI der Confessiones.29 Damit kommt bei ihm die »Wahrheitschance der Zeithaftigkeit« in den (nicht nur zeittheoretischen) Blick.30 Worüber sprechen wir in der Perspektive solcher Zeithaftigkeit als Gegenwart? Die Antwort auf diese Frage ist eine Rekonstruktion der unausgesprochenen Leistungen und verborgenen Bewusstseinsakte, die so vertraut erscheinen, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Sie erweist sich als De- und Rekonstruktion der Voraussetzungen, die in unserem Reden, Verfügen und Ordnen von Zeit immer schon übersetzt sind. »Wir sprechen von langer und kurzer Zeit und werden verstanden«. Kann eine »gegenwärtige Zeit lang« (länger oder kürzer) sein? Kann etwas in der Zeit sich zu einer Dauer, sich zu »längerer oder kürzerer Präsenz«, ausspannen? – Natürlich nicht. Die gegenwärtige Zeit kann nicht lang sein: »praesens tempus longum se esse non posse«.31 Aber: Der menschlichen Seele ist es gegeben, Zeiträume wahrzunehmen und zu messen.32 Inwiefern? Wie lässt sich das Verstehen einer ›Länge‹ von Zeit begründen, wenn eine solche Länge bzw. Dauer nicht heißen kann, dass das Vorübergehen von Zeit sozusagen eine Zeit lang aufhören würde? Wie entsteht, anders gefragt, so etwas wie Gegenwart für uns? Wie lässt sich, was Gegenwart meint, ableiten aus dem, was einzig in der Zeit zu sein scheint – dem Gegenwärtigen, dessen ›Sein‹ darin besteht, nicht zu sein. Denn (wie oben erwähnt): das Vergangene ist das, was nicht mehr, das Zukünftige, was noch nicht, und das Gegenwärtige, was jeweils jetzt schon nicht mehr ist.33 Wie geht aus dem Vorübergehen von Gegenwärtigkeit hervor, worüber wir uns als Gegenwart verständigen? Wie leitet sich aus Gegenwärtigkeit Gegenwart her? Denn dass Gegenwärtigkeit als Erfahrungsdatum bzw. Erfahrungsgeschehen dem Bewusstsein und Sprechen von ›Gegenwart‹ vorgängig ist, bestätigt gerade auch

28 | Vgl. Anm. 13. 29 | »[A]t ego in tempora dissilui, quorum ordinem nescio« (Augustinus: Confessiones XI.29.39, S. 215). In De civitate dei ergänzt Augustinus diesen Befund um die Einsicht, dass wir keinen unendlichen Vorrat an Zeit (oder zu lebender Gegenwart) haben, da die »Zeit dieses Lebens nichts anderes als ein Lauf zum Tod« ist: »nihil [aliud sit] tempus huius uitae, quam cursus ad mortem« (Augustinus: De civitate dei 13.10, hg. v. Bernhard Dombart/Alphons Kalb, Turnhout 1955, S. 392). In diesem Wissen um die Endlichkeit sich seiner bewusst werdenden Daseins gründet der Gedanke der Geschichte. Das wird zum Einsatzpunkt einer von der Faktizität endlichen Daseins ausgehenden ›Geschichtsphilosophie‹, vgl. J. Kreuzer: Augustinus zur Einführung, bes. S. 123-158. 30 | Vgl. Blumenberg, Hans: Der Befehl des Delphischen Gottes, in: Ders.: Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart 1997, S. 123. 31 | Vgl. Augustinus: Confessiones XI.15.20, S. 204. 32 | »[D]atum enim est [anima humana] sentire moras atque metiri« (Augustinus: Confessiones XI.15.19, S. 203). 33 | Vgl. Anm. 12.

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die Etymologie.34 Wie bildet sich aus jeweils individuell erfahrener Gegenwärtigkeit jene Dehnung, die der Rede von Gegenwart zugrunde liegt? Die Antwortoptionen, die Augustinus auf diese Frage formuliert hat, haben ihn aus gutem Grund zur Referenz zeitphilosophischer Diskussion werden lassen.35 Was kennzeichnet diese Antwort? Die Antwort, die Augustinus bietet, setzt 1) die Objektivität physikalischer Zeit voraus: es ist, wie erwähnt, der menschlichen Seele gegeben, vorübergehende Zeiträume wahrzunehmen und zu messen. 2) betont er das Faktum, dass uns Zeit nicht den Gefallen tut, sozusagen einen Augenblick lang stillzustehen. Das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige ist noch nicht und das Gegenwärtige ist jetzt schon nicht mehr: das bereits erwähnte Triple-Nein, das sich daraus ergibt, dass das Gegenwärtige derart rasend vorüberfliegt, dass es sich zu keiner Zeitdauer – zu keiner andauernden Gegenwart mit fixierbaren Anfangs- und Endpunkten – ausspannt. Es dehnt sich zu keiner Länge.36 Nun gehen wir aber in unserem Sprechen von solchen ›Gegenwarten‹ und ihren ›Längen‹ aus: Worüber sprechen wir da – und verstehen und werden verstanden? 3) gibt es keinen privilegierten Zugang des Geistes zu einer Sphäre jenseits der zeitlichen Bedingungen unseres Erfahrens. Was also sind die Bewusstseinsleistungen, die im Spiel sind, wenn wir über Zeit sprechen und verstehen und verstanden werden? Was an Erfahrung drückt 34 | Zu den in der Etymologie sedimentierten Erfahrungsdaten vgl. die Art. »Gegenwart«, »Gegenwärtig«, »Gegenwärtigkeit« im Grimm’schen Wörterbuch: »G egenwart, f. praesentia, ein vielfach merkwürdiges wort« (Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., München 1984 [urspr. 1838ff.], Bd. 5, S. 2281). »G egenwärtigkeit (war) lange in gebrauch anstatt des spät auftretenden Gegenwart« (ebd., S. 2298; vgl. auch S. 2282). ›Gegenwärtigkeit‹ gehört mit ihrem Vorübergehen im ›Augenblick‹ zusammen. Gegenwärtig ist, was »jetzt in der gegenwart, für den Augenblick ist« (ebd., S. 2297). Für »gegenwärtig« ist der »zeitbegriff selber […] ein zweiseitiger, denn es kommt auch vom zukünftigen vor« (ebd.). Gegenwärtig ist das, »was mir schon gegenüber ist,[…] d.h. eigentlich so nahe, dasz es im augenblick auch vor mir oder an mir sein wird. […] so löst sich der widerspruch: gegenwertig eigentlich mir zugekehrt, ursprünglich einerlei ob noch in bewegung, oder schon in ruhe zu mir gelangt, denn beides liegt an sich sowohl in gegen […] als in wart« (ebd.). ›Gegenwart‹ steht für ein Sich-gegenüber-sehen, für die Möglichkeit eines ›Antwortens‹ (vgl. ebd., S. 2283), es bezeichnet so den »bereich der lebendigen wirkung […] einer person«, nicht den Zeitraum einer ›Anwesenheit‹ (vgl. ebd., S. 2285) Erst mit dem 18. Jahrhundert hat sich der Gebrauch des Wortes »wesentlich verändert. […] wenn wir (sie) uns nur als anwesenheit denken, ist es zum kahlsten begriffe des dabeiseins eingeschrumpft […] während […] die vor augen und händen gelagerten dinge gemeint sind, die nahe wirklichkeit« (ebd., S. 2287, 2289). Kursiv und Kapitälchen im Original. 35 | Am unprätentiösesten vielleicht bei L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I, § 89: »Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. Denn das scheinen wir in irgendeinem Sinne nicht zu verstehen. – Augustinus (Conf. XI/14) […]. – Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt)« (kursiv im Orig.). 36 | »[Q]uod praesens dicatur […] ita raptim a futuro in praeteritum transuolat, ut nulla morula extendatur […] praesens tempus longum se esse non posse« (Augustinus: Confessiones XI.15.20, S. 204).

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sich beispielsweise in der grammatischen Form des Futur II aus? – etwa darin, dass die diese Überlegungen Lesenden gleich ein Augustinus-Zitat gelesen haben werden? »Wir sagen das und hören das und werden verstanden und verstehen. Ganz offenkundig und gewöhnlich ist das, und doch ist es all zu sehr verborgen und immer von neuem zu entdecken.«37 Im Rahmen dieser Überlegungen, die im Interesse der Klärung der Absichten, die mit dem Begriff Diagnose verbunden sind, dem Sachverhalt ›Gegenwart‹ dienen, kann auf einen entscheidenden Punkt der Antwortoptionen, die sich in Augustinus’ Analysen seiner Frage nach der Zeit finden, freilich nur hingewiesen werden. Die gewohnte Parallelisierung der Reihe ›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹ mit der Reihe ›Erinnerung-Aufmerksamkeit-Erwartung‹ ist, wenn nicht falsch, doch stark reduktiv. Sie vermag die Frage, wie Gegenwart erfahren wird, gerade nicht zu erklären. Denn wir erinnern nicht nur Vergangenes – wir können z.B. auch (wie das erwähnte Futur II zeigt) das Zukünftige als das, was gewesen sein wird, als ›Vergangengewordenes‹ erinnert gegenwärtig haben. Das heißt, dass wir in der Erfahrung des Vorübergehens des Zeitlichen der Bedingung der Sukzession nicht nur unterliegen – wie es die Parallelisierung Vergangenes ↔ Erinnern, Gegenwärtiges ↔ Wahrnehmen, Zukünftiges ↔ Erwarten nahelegt.38 Natürlich ist dabei das primäre Datum, dass wir Vergangenes erinnern: dass wir, was gewesen ist, ›nur‹ erinnern können. Dieses Datum oder Faktum belegt im Übrigen auch, dass Zeit keine Einbildung des Bewusstseins ist, sondern ein je subjektives Erfahren, das auf etwas Nicht-Subjektives referiert. Es ist diese wechselseitige Referenz, in der die Objektivität der Erfahrung von Zeit gründet. Wäre eine Gegenwärtigkeit in der Zeit nicht gewesen und vergangen, bräuchten wir sie nicht zu erinnern. Umgekehrt wissen wir hierbei implizit, dass das Jetzt des Erinnerns vom erinnerten Jetzt unterschieden ist. Nur durch das Bewahren der Differenz zwischen den beiden Jetzten macht Erinnern Sinn – und zwar insbesondere in dem Sinn, dass es heißt, (mindestens) zwei Jetzte über ihr sukzessives Verschiedensein hinweg miteinander zu verbinden oder in ihrer zeitlichen Diskretion gegenwärtig zu haben. Erinnern bedeutet, dass etwas Vergangenes jetzt wieder – im Wissen um die zeitliche Differenz – gegenwärtig wird. Das heißt: der Akt, der uns das Vorübergehen alles Zeitlichen bewusst werden lässt – erinnern müssen wir, weil Zeit Form wie Bedingung des Vorübergehens des Endlichen ist –, steht zugleich für das Vermögen, das uns vom quasi natürlichen Abhängigsein von der ›strengen‹ Bedingung der Irreversibilität der Zeit wiederum unabhängig macht. In der und unter 37 | »Dicimus haec et audimus haec et intellegimur et intellegimus. Manifestissima et usitatissima sunt, et eadem rursus nimis latent et noua est inuentio eorum« (Augustinus: Confessiones XI.22.28, S. 208). 38 | Seit einem Aufsatz von John McTaggart Ellis McTaggart, der 1908 unter dem Titel »The Unreality of Time« in der Zeitschrift Mind erschienen ist (zugänglich etwa in: W. Ch. Zimmerli/M. Sandbothe [Hg.]: Klassiker der modernen Zeitphilosophie, S. 67-86), ist es üblich, für das Ordnen zeitlicher Ereignisse (also Gegenwärtigkeiten), zwei Reihen zu benutzen: entweder die Reihe ›Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft‹ oder die Reihung: ›früher als – gleichzeitig mit – später als‹ (vgl. ebd., S. 68). Seit diesem Aufsatz ist zugleich klar, dass die Art, wie zeitliche Ereignisse geordnet werden, nicht erklärt, was dabei geordnet wird. Es ist die Frage nach diesem ›Was‹, für deren Beantwortung Augustinus’ Analysen unverzichtbar sind.

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der Bedingung des stetigen Vorübergehens gehen wir im Verbinden verschiedener Gegenwärtigkeiten über die Zeitbedingung der Sukzession hinaus. Dieses ebenso zeitlich bedingte wie Zeit erfüllende Vermögen ist es, das ›Gegenwart‹ zu einer dynamischen, in sich geschichteten Entität werden lässt. Augustinus weist zur Verdeutlichung dieser ›Gegenwartssemantik‹ unserer Erfahrung von Zeit auf den Vortrag eines Liedes, das man kennt, als Beispiel hin. In der Analyse der Hörerfahrung eines musikalischen Gebildes – am Beispiel der Musik – wird die Semantik bzw. die Grammatik der Erfahrung von Zeit deutlich. Dabei ist für die Explikation der logischen Struktur der Erfahrung von Zeit folgende Bemerkung von zentraler Bedeutung: »Und wer bestreitet, dass die gegenwärtige Zeit der Ausdehnung entbehrt, weil sie im Augenblick vorübergeht? Aber dennoch dauert die Aufmerksamkeit (an), durch die hindurch dasjenige, was herankommt, fortfährt wegzusein.«39 Was als Gegenwärtiges notiert wird, ist dies vorübergehend – das ›herankommende‹ Zukünftige erscheint in den Augenblicken und durch die Augenblicke, durch die es ›fortfährt, weg zu sein‹. Es ist im Übergang, gleich vergangen zu sein, begriffen. Was in der Zeit ›ist‹ – also das Gegenwärtige –, geht im Augenblick vorüber. Es sind Augenblicke der Gegenwärtigkeit, die keine Ausdehnung haben – sich nicht zu einer Länge dehnen, die Gegenwart messbar machte wie eine Strecke, die von x bis y reicht. Was in der Zeit ist, dauert nicht an. Was andauert, ist die Aufmerksamkeit auf sein Vorübergehen. Wie kann man dieses Andauern der Aufmerksamkeit als jenes Substrat erklären, von dem her plausibel wird, was wir als Zeit und wie wir es erfahren? Diese Frage ist vielleicht am besten mit dem folgenden kleinen logischen ›Exerzitium‹ bezüglich der Semantik des Erinnerns – das sich leider nicht in elegantere Formulierungen herunterbrechen lässt40 – zu erklären: Erinnern heißt immer: wir erinnern jetzt ein erinnertes Jetzt – und: das Jetzt des Erinnerns ist mit dem erinnerten Jetzt verbunden – so wie jetzt präsent ist, dass schon so und so viel Minuten des Lesens vorbei sind und noch so und so viel vergehen werden, das heißt noch zukünftig sind, um dann zukünftig gewesen zu sein und als Vergangengewordenes erinnert werden zu können – so wie ›jetzt schon‹ erinnerbar ist, dass das Gegenwärtige (dieses logische Exerzitium) in Zukunft (ist es durchstanden) ein ›vergangenes Gegenwärtiges‹ geworden sein wird. Wir vermögen jetzt zu erinnern, dass das gewesene Jetzt ›jetzt‹ erinnerbar ist, weil es einmal gegenwärtig war. Das schließt zugleich ein, dass das, was für das erinnerte (gewesene) Jetzt gilt, auch für das ›jetzige Jetzt‹ – dass ›dann‹ ein gewesenes geworden sein wird – gilt: es lässt sich als dann gewesenes jetzt schon erinnern (usw.).41 Trotz der Umständlichkeit der Formulierungen mag deutlich geworden sein, dass das ›Jetzt des Erinnerns‹ keine Zeitstelle, sondern die Verbindung mehrerer 39 | »[Q]uis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit« (Augustinus: Confessiones XI.28.37, S. 214). 40 | Für die ausführliche Erläuterung von Augustinus’ Analysevorgaben bezüglich der zeitlichen Semantik des Vermögens der Erinnerung und der logischen (memorialen) Natur der Erfahrung von Zeit vgl. J. Kreuzer: Pulchritudo, S. 170-205, zur materialen Analyse des Erinnerns des Erinnerns insbes. S. 198-203. 41 | Vgl. Augustinus: Confessiones X.13.20.

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(mindestens zweier) zeitlich-diskreter oder in der Zeit verschiedener Jetzte bedeutet. Erinnern ist ein Akt oder das Vermögen relationaler Verbindung – ›relational‹ in dem Sinn, dass dabei das, was verbunden wird, in seiner Verschiedenheit erhalten bleibt. Erst durch Erinnern bildet sich Gegenwart – in der Verspannung verschiedener Gegenwärtigkeiten oder als ›spannungsvolle Gegenwart‹.

6. Z um B egriff der G egenwart Was haben wir damit für Antworten auf die Frage, was Gegenwart heißt und worüber wir als Gegenwart sprechen, gewonnen? Und was bedeutet ›Gegenwart‹ als praktiziertes Vermögen von Vergegenwärtigung? Wodurch erklärt sich, dass damit jene Spanne an Zeit umschrieben wird, in der Ereignisse reversibel erscheinen – in der wir also meinen, noch eingreifen, (etwas) verändern zu können (was gewiss ein Motiv des Diagnostizierens sein dürfte)? Was Gegenwart meint, steht für die Kopräsenz verschiedener Gegenwärtigkeiten, die als gegenwärtig gewesene oder gegenwärtig werdende präsent genug sind, um miteinander verbunden werden zu können, und in dieser Verbindung jenen Erfahrungszusammenhang, der für uns ›Gegenwart‹ meint, bilden. Verankert ist diese Kopräsenz im Vermögen der Erinnerung – darin, dass Erinnern nicht bloß dem Vergangenen gilt, sondern sich in entscheidender Weise als Vermögen der Erinnerung des Gegenwärtigen erweist. Im und durch den produktiv-reproduktiven Akt, der Erinnern ist, vollzieht sich, was für uns jeweils Gegenwart meint. Statt auf Gegenwart (als vergangene) allein uns wie auf einen äußeren Gegenstand zu beziehen, vollziehen wir sie erinnernd. Bewusst tun wir das meist nur in den Momenten, in denen wir darauf ausdrücklich reflektieren. Was sich dabei als zeitphilosophisch-fundamentale Struktur klärt, gilt aber für das ganz alltägliche Eingewobensein in das Übergangsgeschehen ›Gegenwart‹ und Gegenwart als jenes Übergehen, in dem Gegenwärtigkeiten in ihrem Verschiedensein verbunden sind, insgesamt. Hierfür braucht es keine aus dem zeitlichen Vorübergehen herausgehobene ›Gegenwart‹. Nicht nur gibt es deshalb keinen privilegierten Zugang des oder eines Geistes zu einer Sphäre jenseits der zeitlichen Bedingungen unseres Erfahrens, sondern man braucht ihn auch nicht – jedenfalls dann nicht, wenn es einem um individuell gelebte Gegenwart geht. Gäbe es einen solchen privilegierten Zugang, müsste er sich logisch formalisieren lassen – Gegenwart käme darin als Gegenwart (als das, was in seinem ›Noch-nicht-Bestimmtwerden-Können‹ entgegenkommt oder ›entgegenwartet‹) nicht mehr vor. Sie beschränkte sich auf einen programmierten Ablauf und gründete in einem matrixhaften ›Geist‹, der der Bedingung der Endlichkeit nicht unterläge. Ein solcher Geist, dem »alles Vergangene wie Zukünftige bekannt wäre«, ist »außerordentlich wundersam und Schrecken machend erstaunlich.«42 Was Augustinus hier als ›ad horrorem stupendus‹ kennzeichnet, entspricht dem Traum, das Erleben von Gegenwart logisch formalisieren wie programmieren und daraus Techniken ableiten zu können, die es (Zukunft wie Gegenwart) beherrschbar machen. 42 | »[A]nimus, cui cuncta praeterita et futura […] nota sint, […] nimium mirabilis est […] atque ad horrorem stupendus« (Augustinus: Confessiones XI.31.41, S. 215).

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Die Um- oder besser Durchsetzung dieses Traums käme dem Albtraum einer nicht aufhörenden Gegenwart gleich – einer Gegenwart, aus der es kein Entrinnen gibt. Ihm kommt eine rein an Effizienzkriterien orientierte ›Rationalität‹ als Überinstanz gesellschaftlichen Zusammenlebens nahe, die in der formalisierten wie technoformen Mechanik gesellschaftlicher Selbstkontrolle und entsprechender Steuerungsmechanismen nur Feedback-Schleifen anerkennt. Ist aber gelebte Gegenwart, wenn sie die Verbindung verschiedener Gegenwärtigkeiten durch uns meint, nur eine ›Feedback-Schleife‹? Ist es Regression, Gegenwart als durch uns zu vollziehendes Behalten wie Produktivmachen verschiedener – ›verschieden‹ nicht nur im Sinne differenter, sondern auch vorübergegangener – Gegenwärtigkeiten, als mehr also denn als allein einzuplanendes Rückkopplungsphänomen zu verstehen? Wohl nicht. Regressiv ist vielmehr ihre Filtrierung zu einem Rückkopplungsphänomen. Das sollte durch die vorher angeführten (wenn auch gewiss nur holzschnittartigen) Hinweise auf die Bewusstseinsleistungen bzw. -vermögen, die im Spiel sind, wenn wir uns verständigen wollen, was Gegenwart heißt und worüber wir als Gegenwart sprechen (und verstehen und verstanden werden), deutlich geworden sein. Bemüht man sich um Aufklärung dieser Vermögen, wird die begriffene Wirklichkeit des Gegenwärtigen zu einem unverzichtbaren Moment einer sich kritisch verstehenden Diagnose von Gegenwart. Ihre (›mittlere‹) Reichweite dürfte sich durch das Ensemble jener Gegenwärtigkeiten definieren, von denen wir meinen, dass wir auf sie oder sie auf uns Einfluss zu nehmen vermögen.

7. E in B eispiel Für die Umsetzung eines solchen Gegenwärtigkeitsbegriffs mittlerer Reichweite in die Diagnose von ›Gegenwart‹ als der Epoche, der man sich zugehörig empfindet, gibt es ein aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammendes Angebot, an das es sich im Zusammenhang unserer Überlegungen zu erinnern lohnt. Es hat sachlich mit der Frage zu tun, was bislang mit der im alltäglichen Erfahren von ›Zeit‹ verborgenen bzw. sich verbergenden Gegenwärtigkeit eher theoretisch angesprochen wurde. Im Bezug auf diese jede Rede von Gegenwart fundierende Erfahrungsschicht hat Ernst Bloch unmittelbar nach der Zäsur, mit der das lange 19. Jahrhundert im 1. Weltkrieg in sein Ende stürzte, und unmittelbar im Übergang, der zum 2. Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch des Holocaust folgte, Erklärungsangebote formuliert. Auf sie zurückzukommen, könnte im Hinblick auf die Frage, was Gegenwart meint und gelebte Gegenwärtigkeit bedeutet, vielleicht hilfreich sein (und die zeittheoretischen Überlegungen zugleich ›konkretisieren‹). Wie wir gesehen haben, ist die erlebte Zeit in einem durch Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart hindurchlaufenden Korrelat von Gegenwärtigkeit fundiert: im Kontinuum jener ›Augenblicke‹, die in ihrem Jetzt zwar immer schon vergangen sind, aber gerade dadurch Zeit qualitativ erfüllen. Diese ›erfüllenden‹ Jetzt-Augenblicke sind nicht in der Zeit, sofern diese mit linearer Sukzession identifiziert wird. Sie stehen für das Moment, aus dem alle Erfahrung von Zeitlichem hervorgeht – etwas, das ebenso verborgen wie uns allen gemein ist. Bloch hat es als ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ in die (nicht nur) zeitphilosophische Diskussion des

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20. Jahrhunderts eingebracht.43 Er nennt es »intensives Jetzt« und wendet es zugleich prozesstheoretisch: »Dieses intensive Jetzt [bezeugt durch das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks] ist noch exul seiner Erscheinung […]. Was […] ganz unaugenblicklich Gegenwart, Heute, Aktualität genannt wird, ist […] ganz raumhaft tingiert [als Behälter einer Gegenwart]. Der überhaupt nicht präsenshafte Jetzt-Augenblick [ist] nicht chronoshaft, nicht chronologisch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Statt dessen gibt es umgekehrt ein durch Vergangenheit und Zukunft hindurchlaufendes Korrelat von ›Gegenwart‹ als unerledigte Aktualität und […] immer wieder Vergegenwärtigung.« 44

Das strenge Nacheinander, die strikte Aufeinanderfolge des Zeitlichen, in der zwei Dinge nie zugleich sind, repetiert die Uhrzeit, die Zeit mit Chronometrie gleichsetzt und in der das Einzige, was in ihr wirklich ›ist‹: das Gegenwärtige in seinem Vorübergehen, immer schon übersprungen scheint. Zeit aber »ist nur dadurch, daß etwas geschieht, und nur dort, wo etwas geschieht. […] Die Uhrzeit ist eine gleichmäßig abgeteilte, in gleichen Abständen fortschreitende; so rückt sie ›unerbittlich‹ vor. […] Aber das so bezeichnete Fortschreiten ist völlig gleichgültig gegen die Inhalte […]. Die Uhrzeit ist abstrahiert von der erlebten«. 45

Sie hat keinen qualitativen Gegenwartsbegriff. Ihr ist deshalb die Forderung entgegenzustellen, dass es, um der erlebten Zeit zu entsprechen, eine Zeit(auffassung) braucht »mit variabel faßbarer Metrik. […] Das ist eine dynamische Zeitauffassung, [die in ihrer] Konsequenz auch die Zeitreihen der menschlichen Geschichte nicht als unveränderliche, überall gleichbeschaffene an[sieht].«46 – Zeit mit variabler Metrik: damit nähern wir uns einem Verständnis von Gegenwart, das Schichtungen in ihr wie sie selbst als Schichtung verschiedener Gegenwärtigkeiten diagnostizierbar macht. Wenn geschichtliches Bewusstsein ohne Zeiterfahrung nicht nur nicht denkbar ist, sondern in deren Erfahrungsmodi selbst gründet, dann ergibt sich unmittelbar aus dem eben Skizzierten die Folgerung, dass auch für es und die es konstituierenden soziokulturellen Praxen ein zeitlich interferenzielles Ineinander von Vergangenem, Zukünftigem und Gegenwärtigem zu berücksichtigen sein wird. Wer so verstanden ›Gegenwart‹ diagnostizieren möchte, wird dies nur können, wenn er mit zeitlichen Differenzierungsschichten in ihr selbst rechnet. Eine Gegenwart reicht jeweils so weit, wie das als sie Erfahrene reversibel erscheint. Das hat Konsequenzen für das, was im Bereich von Geschichte ›Fortschritt‹ heißt. Er »selber läuft […] in keiner homogenen Zeitreihe, er läuft überdies in verschiedenen unter-, übereinander liegenden Zeitreihen.« Kann dieses Ineinander verschiedener Zeiterfahrungsformen als Bedingung der Möglichkeit sich bewusst 43 | Vgl. Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Erste Fassung 1918, Frankfurt a.M. 1985, 371f.; Ders.: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1970 (urspr. 1959), S. 207, 221 u. pass. 44 | Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie, in: Ders.: Gesamtausgabe, 17 Bde., Frankfurt a.M. 1970/1985, Bd. 13, S. 151. 45 | Vgl. ebd., S. 129-130 (kursiv im Orig.). 46 | Ebd., S. 136.

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werdenden geschichtlichen Tuns gelten, so besteht »ein intensiv-qualitativer Unterschied der Geschichtszeit selber gegenüber der Naturzeit«.47 Dieser Unterschied wird gerade auch in der Hinsicht bedeutsam, dass ›Fortschritt‹ – soll es einer ›im Bewusstsein der Freiheit‹ sein48 – in der Zeit der Geschichte nicht nur nicht garantiert, sondern jederzeit gefährdet ist. Zivilisatorische Errungenschaften bedeuten in keiner Gegenwart unverlierbare Besitzstände. Jede Gegenwart ist vielmehr vom Rückfall in vergangen bzw. überwunden geglaubte ›Gegenwarten‹ bedroht. Das gilt für die Neuzeit in beschleunigter Weise. Denn gerade hier führt die Attributierung ›neu‹ zur komparativen Frage, was jeweils als neu/neuer resp. als alt/älter gilt. ›Gegenwart‹ wird damit zu etwas, was weder homogen noch jeweils nur eine ist. Sie stellt sich vielmehr als Erfahrungsraum dar, der von der Gleichzeitigkeit verschiedener in ihn hineinragender Zeitreihen und entsprechend unterschiedlicher Erfahrungsgegenwarten bestimmt erscheint. Sie können sich überlagern wie einander widersprechen und ragen nicht zuletzt als Gefahr des Rückfalls in die Gewalt bloßer Natur in die zu erfahrende Gegenwart hinein. Nicht erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sie aber insbesondere mit der in ihnen handgreiflich gewordenen Implosion neuzeitlicher Rationalität sind dafür der Beweis. Es braucht ein Gespür für diese Implosionen, gerade weil im 20. Jahrhundert die angesprochenen Rückfallsgefährdungen – insbesondere in Faschismus und Nationalsozialismus – faktische Realität geworden sind. Die Selbstaufgabe der Normen bürgerlicher Emanzipation und Aufklärung erzeugt(e) einen »Hohlraum mit Funken«.49 Ist er das Faktum, dem man sich gegenübersieht, gehört zu seiner Diagnose das Fragen nach den Gründen, die die Massenwirksamkeit (den temporären ›Erfolg‹) totalitärer Massenbewegungen, etwa faschistischer erklären helfen. Bloch war einer der ersten, der in diesem Sinn die Tiefenstruktur wie die Genese jener Irrationalismen thematisierte, die hier greifen.50 Was er dabei als Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik anspricht, gehört deshalb ins Stammbuch jeder Reflexion von Gegenwart, die den Anspruch hat, die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen.51 Eine kurze Reminiszenz dieser der Gegenwart von 1932 geltenden Modelldiagnose mag das verdeutlichen: »[J]eder aufrührende Widerspruch [hat] zwei Seiten: eine innere sozusagen, das etwas nicht paßt, eine äußere, worin etwas nicht stimmt. […] Als bloß dumpfes Nichtwollen des Jetzt ist dies Widersprechende subjektiv ungleichzeitig, als bestehender Rest früherer Zeiten in 47 | Vgl. Differenzierungen im Begriff Fortschritt, ebd., S. 137f. – Es waren diese ›Differenzierungen‹, die Bloch in der damaligen DDR endgültig haben in Ungnade fallen lassen. 48 | Vgl. Hegels ebenso griffige wie umstrittene Definition: »Die Weltgeschichte« sei »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben« (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 32). 49 | Vgl. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit (Nachschrift 1962), Frankfurt a.M. 1973, S. 22. 50 | Zum Beispiel den, dass sich ›das Proletariat‹ in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in dramatischer Weise nicht so verhielt, wie es die Konstruktion von Blochs Jugendfreund Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein vorsah (vgl. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Berlin 1970, S. 119-355: Kapitel »Klassenbewußtsein« und »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«). 51 | Zum programmatischen Stichwort vgl. E. Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 104.

Was heißt und worüber sprechen wir als Gegenwar t? der jetzigen objektiv ungleichzeitig. Das subjektiv Ungleichzeitige, nachdem es lange bloß verbittert war, erscheint heute als gestaute Wut. […] Dem entspricht das objektiv Ungleichzeitige als Weiterwirken älterer, wenn auch noch so durchkreuzter Verhältnisse und Formen der Produktion sowie älterer Überbauten. Das objektiv Ungleichzeitige ist das zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also untergehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit […]. Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch aktiviert diesen objektiv ungleichzeitigen, so daß beide Widersprüche zusammenkommen, der rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde des übergebliebenen Seins und Bewußtseins. Hier sind Elemente alter Gesellschaft und ihrer relativen Ordnung und Erfüllung in der jetzigen ungeordneten, und der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch belebt diese Elemente negativ wie positiv überraschend.« 52

Hier ist ein erfahrungstopologisches Szenario formuliert, das den Konstellationen von 1932 galt. Was lässt sich an ihm lernen – abgesehen davon, dass man fast meinen könnte, man habe es mit der Gegenwart der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu tun? Zunächst sicher dies, dass ›irrational‹ nicht allein die Irrationalismen sind, die in Welten erfahrungsmäßiger Ungleichzeitigkeiten hausen, sondern dass es irrational ist, mit diesen Schatten- und Zwischenreichen nicht zu rechnen. Dann weiter, dass Gegenwart kein chronometrisch zu fixierendes empirisches Datum meint, sondern als Verwobensein verschiedener Gleichzeitigkeiten zu begreifen ist – als zu lesender Text mit zeitlicher Tiefensemantik, mit sich verschleifenden Ungleichzeitigkeiten, mit unerledigten Aktualitäten wie unaufgearbeiteten Vergangenheiten und wiederkehrenden Gefährdungen. Schließlich – und vielleicht vor allem –, dass zwischen objektiven und subjektiven Ungleichzeitigkeiten unterschieden werden muss, will man, was als jeweilige Gegenwart geschieht, wirklich verstehen (wobei verstehen nicht mit Zustimmen zusammenfällt). In Analogie zu einem Modell aus der Geophysik könnte man sagen, dass es bei einem solchen Begriff von Gegenwart um die Plattentektonik geht, die sich in dem, was Gegenwart als Erfahrungsraum ist, wirksam zeigt. Ohne einen zeitphilosophisch imprägnierten Begriff von Gegenwart bleiben die ihr geltenden Diagnosen buchstäblich oberflächlich.

8. S chlussbemerkung Gegenwart ist keine homogene Gegebenheit und kein lineares (berechen- oder gar programmierbares) Geschehen. Was in zeitsemantisch reflektierter Hinsicht eine neutrale Beobachtung ist, gewinnt im Hinblick auf das als Gegenwart (jeweils) zu beobachtende Geschehen eine nicht immer beruhigende Dynamik. Keine Theorie führt darüber hinaus. Gerade das macht theoretisch überlegte, d.h. das eigene Tun reflektierende, Diagnostik nötiger denn je. Für sie sind zeitphilosophisch informierte Antworten auf die Frage, was Gegenwart heißt und worüber wir als Gegenwart sprechen, unverzichtbar. Der Skizzierung einiger dabei zu berücksichtigender Kriterien dienten diese Überlegungen.

52 | Ebd., S. 116f. (kursiv im Orig.).

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Gegenwart Erkundungen im zeitlichen Diesseits Achim Landwehr Gegenwart – nur ein Wort? Was steckt hinter diesem Ausdruck? Kann man die Frage stellen »Was ist Gegenwart?«, ohne als hoffnungslos naiv belächelt zu werden? Oder müsste die Frage nicht eher lauten: »Ist überhaupt noch etwas außer Gegenwart?« Es gibt sie doch, die Überlegungen von Augustinus bis Niklas Luhmann, die unterstreichen, dass es alles, was es gibt, nur gegenwärtig gibt. Das soll insbesondere für alles Nicht-Gegenwärtige gelten, für alles Vergangene und Zukünftige, das in all seiner Abwesenheit nur Wirksamkeit entfalten kann, wenn es gegenwärtig anwesend gehalten wird. Oder sollte Gegenwart noch nicht einmal ein Wort sein? Ist die Naivität solcher Fragen möglicherweise noch gar nicht weit genug getrieben, weil Gegenwart so unmittelbar einsichtig und so selbstevident zu sein scheint, dass man meint, sie nicht mehr eigens befragen zu müssen? Ja, liegt diese Gegenwart möglicherweise derart offen zu Tage, dass sie gerade deswegen kaum noch bestimmt werden kann? Und wäre ein solches Unbestimmt-Lassen nicht verständlich und nachvollziehbar? Denn wenn man sich auf die Klärung von Gegenwart einließe – müsste man dann nicht eigentlich alles klären?

1. E in W ort »What presence?!« Orange Juice1

In den Büchern von den Worterläuterungen ist es auffallend selten zu finden, dieses Wort ›Gegenwart‹. Wenn man aufgrund der Bedeutung von Sprache für das menschliche Leben der Intuition folgen mag, mit der Beschreibung der sprachlichen Hülle auch der Sache selbst auf den Grund gekommen zu sein, muss man im Fall von ›Gegenwart‹ einige Schwierigkeiten gewärtigen. Als problematisch erweist sich nicht ein Mangel an möglichen Belegen oder Verwendungsweisen, so dass man der Wort- und Begriffsgeschichte von Gegenwart nicht auf die Spur kommen

1 | Orange Juice: What presence?!, Polydor Records, 1984.

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könnte. Schwierig ist vielmehr eine nicht ganz leicht zu erklärende Zurückhaltung (oder Scheu? oder Befangenheit?), diesen Spuren von Gegenwart nachzugehen.2 Etymologisch scheint die Angelegenheit einigermaßen klar zu sein. In den europäischen Sprachen ist zumeist ein Schwenk von einem räumlichen zu einem zeitlichen Verständnis von ›Gegenwart‹ zu erkennen, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzog. Die raumbezogenen Wurzeln von Gegenwartsbegriffen sind auch heute noch allenthalben und unschwer zu entdecken. So hat das lateinische praesentia die Bedeutung von ›Beistand‹. Das deutsche ›Gegenwart‹ kann hingegen seine kämpferischen Fundierungen nicht verhehlen, wenn es zunächst etwas zu bezeichnen hatte, das einem feindlich begegnete. Bis heute ist diese räumliche Konnotation nicht verloren gegangen, da man immer noch die Gegenwart von jemand oder etwas verspüren kann (im theologischen Zusammenhang beispielsweise die Gegenwart Gottes). In der deutschen Sprache ist die vornehmlich räumliche Verwendung von ›Gegenwart‹ noch bis in das 18. Jahrhundert hinein, unter anderem noch bei Kant, nachzuweisen. Der Wechsel zu einer vornehmlich zeitlichen Verwendung von Gegenwart wird dann allmählich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich. In der Folge dynamisiert sich ›Gegenwart‹ – sie wird verzeitlicht, und zwar soweit, dass um 1800, z.B. bei Hegel und Fichte, das Begreifen von Gegenwart nicht nur zu einer philosophischen Aufgabe geworden ist, sondern auch explizit das Verstehen der eigenen Zeit und Wirklichkeit im Blick hat.3 Aber Etymologie und Begriffsgeschichte liefern kaum mehr als einige Mosaiksteine zur kniffligen Geschichte von ›Gegenwart‹. Denn selbst wenn die Wortform geklärt sein sollte, kann es noch nicht als ausgemacht gelten, womit man es zu tun hat, sobald man es mit Gegenwart zu tun hat. Die eher stiefmütterliche Behandlung, zum Teil auch gänzliche Auslassung von ›Gegenwart‹ in ansonsten einschlägigen wissenschaftlichen Konsultationsinstanzen macht die Suche nach weiteren Antworten nicht gerade einfach. Geht man den Weg des geringsten Aufwandes und befragt die Online-Enzyklopädie Wikipedia, sind die Ergebnisse recht spärlich. Der englischsprachige Eintrag enthält jeweils nur zwei bis drei Sätze zu Philosophie, Buddhismus, Christentum, Spezieller Relativitätstheorie und Kosmologie.4 Der deutschsprachige Eintrag ist zwar etwas umfangreicher, aber nicht weil er inhaltsgesättigter wäre, sondern weil er noch weitere Ein-Satz-Kurzbestimmungen versammelt, und zwar für die Themenbereiche Grammatik, Gehirnforschung, Psychologie und Soziologie.5 Der 2 | Als eine der wenigen Ausnahmen sei verwiesen auf Stepath, Katrin: Gegenwartskonzepte. Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen, Würzburg 2006. Vgl. auch Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 31-45. 3 | Hennig, John: Art. »Gegenwart«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel/Stuttgart 1971-2007, Bd. 3, Sp. 136-138, hier Sp. 136. Vgl. auch Hegels Ausführungen über »das Diese« und »das Jetzt« in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 3, S. 82-92. 4  |  Vgl. Art. »Present«, in: Wikipedia (URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Present [4.7.2017]). 5 | Vgl. Art. »Gegenwart«, in: Wikipedia (URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Gegenwart [4.7.2017]).

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französische Eintrag présent wartet eigentlich nur mit Synonymen auf.6 Aber auch das zeitaufwändige Vergnügen, die gedruckten Nachschlagewerke zu konsultieren, erbringt nur wenig tiefschürfende Einsichten. Die Brockhaus Enzyklopädie hat in ihrer letzten gedruckten Ausgabe für das Stichwort ›Gegenwart‹ gerade einmal 16 Zeilen reserviert, die nicht wesentlich über die intuitive Bestimmung hinauskommen, die Gegenwart sei »im engeren Sinn das Jetzt, der Zeitpunkt zw. Nicht-Mehr (Vergangenheit) und Noch-Nicht (Zukunft).« 7 Hinsichtlich Umfang und Inhalt noch knapper ist die französische Enzyklopädie Grand Larousse.8 Auf Einträge zum Stichwort ›Gegenwart‹ verzichten gänzlich die französische Encyclopaedia Universalis,9 das italienische Grande Dizionario Enciclopedico10 und auch die ansonsten bewährt ausführliche Encyclopaedia Britannica.11 In solchen generellen Nachschlagewerken nicht fündig zu werden, kann aufgrund der Allgemeinheit des Phänomens durchaus überraschen. Aber auch Lexika zu Wissenschaftszweigen, von denen man annehmen darf, dass sie ein größeres Interesse an dieser offenbar ominösen Gegenwart haben müssten, weil sie sie beschreiben, thematisieren, problematisieren, erforschen oder einfach nur in ihr leben, sind auffallend zurückhaltend, wenn es darum geht, diesen Gegenstand irgendwie in Worte zu fassen. Ohne entsprechende Verweise kommt z.B. das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft aus.12 Auch für die Geschichtlichen Grundbegriffe scheint ›Gegenwart‹ kein geschichtlicher Grundbegriff zu sein.13 Im Lexikon der Ästhetischen Grundbegriffe ist zwischen ›Gefühl‹ und ›Genie‹ ebenfalls kein Platz mehr für die Gegenwart gewesen.14 Die Theologische Realenzyklo6 | Vgl. Art. »Présent«, in: Wikipedia (URL: https://fr.wikipedia.org/wiki/Présent [4.7.2017]). 7 | Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Leipzig/Mannheim 21 2006, Bd. 10, S. 331 (Hervorh. im Orig.). 8 | Grand Larousse encyclopédique en dix volumes, Paris 1963, Bd. 8, S. 778. 9 | Alphabetisch einschlägig wäre hier Band 13 der Encyclopaedia Universalis, Paris 1968. 10 | Unter dem Stichwort ›presente‹ findet sich nur ein Verweis auf das entsprechende Tempus im Eintrag zum Stichwort ›verbo‹: Grande dizionario enciclopedico UTET, 19 Bde., Turin 3 1971, Bd. 15, S. 179. 11 | Im Micropaedia-Teil von The New Encyclopaedia Britannica (15. Aufl.) wäre einschlägig der Band 9, Chicago u.a. 2010. Auch der Eintrag zu ›Time‹ im Macropaedia-Teil kommt ohne Erläuterungen zur Gegenwart aus: The New Encyclopaedia Britannica, 32 Bde., Chicago u.a. 15 2010, Bd. 28, S. 662-673. 12 | Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin/ New York 1997, Bd. 1. 13 | Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 2. Vgl. auch Oesterle, Ingrid: Der ›Führungswechsel der Zeithorizonte‹ in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte, und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit ›Gegenwart‹, in: Grathoff, Dirk (Hg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985, S. 11-75, hier S. 48-53, sowie Luhmann, Niklas: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 95130, hier S. 98. 14 | Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/Weimar 2000-2005, Bd. 2.

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pädie verzichtet gänzlich auf einen Eintrag,15 und das Nachschlagewerk Religion in Geschichte und Gegenwart begnügt sich mit einem Verweis auf den übergreifenden Artikel zum Thema ›Zeit‹.16 In den Sozialwissenschaften taucht ›Gegenwart‹ zwar als Stichwort auf, jedoch zumeist im Kompositum der ›Gegenwartsorientierung‹, also einer eher augenblickszentrierten Problemlösungsperspektive, die typisch für ›Unterschichten‹ sein soll und sich von einer Zukunftsperspektive abgrenzen lässt.17 Aber müsste man dann nicht erst klären, was Gegenwart ist, bevor man eine entsprechende Orientierung diagnostizieren kann? Noch drängender wird diese Frage, wenn im Lexikon zur Soziologie – René König folgend – die Soziologie als Gegenwartswissenschaft definiert wird, ohne aber offenbar näher bestimmen zu müssen, um was es sich bei dieser Gegenwart handelt.18 Einzig das Historische Wörterbuch der Philosophie schwingt sich zur Ehrenrettung auf und reserviert der Gegenwart immerhin zwei Spalten.19 Selbst in einer Publikation wie dem erstmals 2004 veröffentlichten Glossar der Gegenwart, das zahlreiche Schlagworte zur Problematisierung des frühen 21. Jahrhunderts versammelt und das Herz des Gegenwartssuchers zunächst höher schlagen lässt, erwartet man das entsprechende Stichwort vergebens.20 Willkommen in der Wüste der Gegenwartskonzeptionen!21 Nun ist es wohlfeil, Versäumnisse der Lexikonliteratur aufzulisten. Deshalb soll es hier auch nicht um die denunziatorische Geste gehen. Die Herausgeberschaft von Nachschlagewerken ist als Aufgabe viel zu anspruchsvoll, um sie am Fehlen des einen oder anderen Stichworts festmachen zu wollen. Bedeutsam ist allerdings die Symptomatik. Denn wenn man für die Mehrzahl der von mir exemplarisch eingesehenen Lexika feststellen kann, dass sie ›Gegenwart‹ nicht oder nur unzureichend behandeln, und wenn man ebenfalls von der Voraussetzung auszugehen gewillt ist, dass es sich bei dem in Frage stehenden, aber nicht behandelten Phänomen um eine durchaus bedeutsame Angelegenheit handelt, dann stellt sich die schlichte Frage: Warum? Warum lässt sich an unterschiedlichen Stellen und in

15 | Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde., Berlin/New York 1976-2007, Bd. 12. 16 | Betz, Hans Dieter u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 8 Bde., Tübingen 41998-2005, Bd. 3, Sp. 546. 17 | Hillmann, Karl-Heinz (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 5 2007, S. 266; Darity, William A. (Hg.): International Encyclopedia of the Social Sciences, 17 Bde., Detroit u.a. 22008, Bd. 6, S. 440. 18 | Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 5 2011, S. 227. 19 | J. Hennig: Art. »Gegenwart«. Aber auch die Zeitphilosophie muss trotz zahlreicher Bemühen zu dem Schluss kommen, dass in ihrem Diskussionszusammenhang keine Einigkeit darüber herrscht, was Gegenwart oder was das Jetzt sein könnten: Strobach, Niko: »Jetzt – Stationen einer Geschichte«, in: Müller, Thomas (Hg.): Philosophie der Zeit. Neue analytische Ansätze, Frankfurt a.M. 2007, S. 45-71, hier S. 66f. 20 | Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004. 21 | Dies natürlich in Anlehnung an den Baudrillard-Matrix-Žižek-Satz von der Wüste der Wirklichkeit: Žižek, Slavoj: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien 2004, zitiert den Film Matrix (USA/Australien 1999), der wiederum Baudrillard, Jean: Agonie des Realen, Berlin 1978, zitiert.

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ganz verschiedenen Zusammenhängen eine so auffallende Lücke bei der Behandlung von ›Gegenwart‹ beobachten? Unterschiedliche Schlussfolgerungen liegen nahe. Möglichkeit 1: Gegenwart wird als so trivial und selbstverständlich erachtet, dass eine eingehendere Bearbeitung kaum lohnt. (Aber sind es nicht gerade die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die lexikalisch geklärt werden sollten?) Möglichkeit 2: Das Thema erweist sich als derartig komplex, dass eine angemessene Behandlung nicht möglich ist. (Ein schwaches Argument, denn je größer die Schwierigkeiten, desto umfangreicher die dazugehörigen Abhandlungen.) Möglichkeit 3: Es existiert noch gar keine hinreichende Aufmerksamkeit für das Problem, so dass ›Gegenwart‹ noch nicht in das Licht einer problematisierenden Öffentlichkeit getreten ist. (Aber sollte das anhand der doch offensichtlichen Bedeutung des Gegenstandes tatsächlich der Fall sein?) Vielleicht ist es doch dieser eine, von tiefer Weisheit zeugende Satz, zu finden im Grimm’schen Wörterbuch zum Stichwort ›Gegenwart‹, der all die Unwägbarkeiten angemessen zusammenfasst. Denn danach handelt es sich um »ein vielfach merkwürdiges wort«.22 Man könnte diesen Merkwürdigkeiten aus dem Weg zu gehen versuchen, indem man Gegenwart auf einen einzigen Aspekt reduziert, z.B. auf das menschliche Gehirn. Dann lässt sich auch experimentell nachweisen, dass im Gehirn bestimmte Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalte bis zu einer Dauer von drei Sekunden aktuell bleiben, bevor sie von einem nachfolgenden Eindruck abgelöst werden. Das Gehirn fasst bestimmte Ereignisse zu Gegenwartspaketen von dieser Dauer zusammen, um sie dann in die Vergangenheit oder das Vergessen zu verabschieden. Drei Sekunden – das wäre im Sinne der Hirnforschung als Gegenwart zu bestimmen.23 Aber für die Fragen nach den kulturellen und kollektiven Verständnissen einer Gegenwart, die gemeinsam mit Zukunft und Vergangenheit in eine wohlbekannte Trias eingelassen ist, helfen solche Antworten nur bedingt weiter. Zumindest ex negativo wird man sich schnell darauf verständigen können, dass eine Definition wie »Die Gegenwart dauert drei Sekunden« unzureichend wäre. Neben Positionen, die sich ihrer Sache recht sicher sind, lassen sich auch solche stellen, die von gänzlicher Ratlosigkeit zeugen, und das auch noch mit freundlicher Unterstützung hoch angesehener Autoritäten. Man darf sich daher einbilden, mit den Schwierigkeiten angesichts von Gegenwart nicht gänzlich alleingelassen zu sein, wenn selbst Albert Einstein davon beunruhigt war. In der Physik wird das ›Jetzt‹ üblicherweise nur als Übergangspunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit behandelt.24 Und genau dieser merkwürdige Übergangspunkt beschäftigte Einstein in seinen letzten Lebensjahren. Der Wissenschaftsphilosoph Rudolf Car22 | Art. »Gegenwart«, in: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 32 Bde., Leipzig 1854-1971, Bd. IV/I/2, Sp. 2281-2292, hier Sp. 2281. 23 | Fetz, Uta: Die Zeit – eine Erfindung des Gehirns?, in: Kreuzer, Johann/Mohr, Georg (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2007, S. 137-149; Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit?, Frankfurt a.M./Leipzig 2000, S. 5973; K. Stepath: Gegenwartskonzepte, S. 48. 24 | Ruhnau, Eva: Zeit als Maß von Gegenwart. Von den acht Zeitbildern der Physik über eine kurze philosophische Geschichte des Jetzt zur Logistik und Zeitwahrnehmung des Gehirns – Oder: Wie ist Gegenwart, in: Weis, Kurt (Hg.): Was treibt die Zeit? Entwicklung und Herrschaft der Zeit in Wissenschaft, Technik und Religion, München 1998, S. 71-95, hier S. 85.

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nap schreibt in seiner Autobiographie von den Begegnungen und Unterhaltungen mit Einstein, die er während seines Aufenthalts in Princeton in den Jahren 1952 bis 1954 geführt hat. Als ein zentrales Problem erschien hierbei die Frage nach der Gegenwart, die Einstein in der Welt der Physik vermisste: »Once Einstein said that the problem of the Now worried him seriously. He explained that the experience of the Now means something special for man, something essentially different from the past and the future, but that this important difference does not and cannot occur within physics. That this experience cannot be grasped by science seemed to him a matter of painful but inevitable resignation.«25

Einstein zumindest stellte sich dieser Beunruhigung. In vielen anderen Wissenschaftszweigen, denen man durchaus zutrauen würde, die Gegenwart zum Problem zu machen, kann man eher feststellen, dass diese als unproblematisierte Voraussetzung stillschweigend mitgeführt wird oder dass man auf die konkrete Raumerfahrung ausweicht, um dem Gegenwärtigen habhaft zu werden. So widmet sich die geschichtswissenschaftliche Subdisziplin der Zeitgeschichte (in anderen Sprachen als ›Gegenwartsgeschichte‹ bezeichnet: contemporary history, histoire contemporaine) laut geläufiger Arbeitsdefinition zwar der Geschichte der Mitlebenden, hat aber weitgehend darauf verzichtet, diesen zeitlichen (oder gar epochalen?) Zusammenhang theoretisch zu reflektieren.26 Tatsächlich meint diese vorausgesetzte Gegenwart häufig (und eher intuitiv) den zeitlichen Lebensraum eines Kollektivs, der unmittelbar und aktiv gestaltet werden kann. Solcherart verfährt auch Hans Ulrich Gumbrecht, der mit seiner These von einer »breiten Gegenwart« davon ausgeht, dass ein Chronotop der historischen Zeit abgelöst worden sei durch ein – bei ihm unübersehbar kulturpessimistisch getränktes – Chronotop, in dem die Zukunft kein offener Horizont mehr ist, die Vergangenheit nicht zurückgelassen werden kann und die Gegenwart sich verbreitert zu einer Dimension zahlloser Simultaneitäten.27 Aber wie unschwer zu erahnen sein wird: Auch er verrät seiner Leserschaft nicht, was er unter Gegenwart verstanden wissen will. 25 | Carnap, Rudolf: Intellectual autobiography, in: Schilpp, Paul Arthur (Hg.): The philosophy of Rudolf Carnap, La Salle/London 1963, S. 3-84, hier S. 37. 26 | So hat auch Gabriele Metzler festgestellt, dass die Zeitgeschichte ein »unbestimmtes Feld« ohne »eindeutige Epochenzuschreibung ist und nicht einmal begrifflich in allen Wissenschaftskulturen einheitlich gefasst wird«; Metzler, Gabriele: Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 7.4.2014 (URL: http://docupedia.de/zg/ Zeitgeschichte [8.8.2017]). Auch die Hoffnung, ein Beitrag des französischen Historikers Pierre Nora aus dem Jahr 1978 zum Stichwort ›présent‹ könnte sich als ›gegenwartsrelevant‹ erweisen, zerschlägt sich, weil es auch hier fast ausschließlich um die Gegenstände der Zeitgeschichte (histoire contemporaine) geht: Nora, Pierre: Présent, in: Le Goff, Jacques/Chartier, Roger/Revel, Jacques (Hg.): La nouvelle histoire, Paris 1978, S. 467-472. 27 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S. 16f. Vgl. auch A. Assmann: Zeit aus den Fugen. In eine ähnliche Richtung wie Gumbrecht zielt das Konzept der Historizitätsregime von Hartog, François: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003; Hartog, François: Von der Universalgeschichte zur Globalgeschichte? Zeiterfahrungen, in: trivium 9, 2011 (URL: http://trivium.revues.org/4059 [17.7.2017]); Hartog, François: Die Gegenwart der Historiker der Gegenwart, in: François, Étienne u.a. (Hg.):

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Gumbrecht spielt mit seiner Analyse aktueller Chronotopen auch eine wichtige Rolle in einer Diskussion, die sich seit der Jahrtausendwende um den Begriff der Präsenz entwickelt hat.28 Neben Gumbrecht hat unter anderem der niederländische Psychologe und Geschichtsphilosoph Eelco Runia damit eine Diskussion angestoßen, die für das Verständnis von Gegenwart unmittelbar einschlägig zu sein scheint. Bei genauerem Hinsehen kann man jedoch feststellen, dass die Diskussion um den Präsenzbegriff viel eher mit Raum- als mit Zeitverhältnissen befasst ist, dass es um Fragen der sinnlichen Wahrnehmung, der Körperlichkeit, der (reinen) Anwesenheit und der intensiven Erfahrung geht – und weniger um Aspekte temporaler Ausdehnung. Es steht also tatsächlich die Präsenz im Vordergrund und nicht das Präsens.29 Runia bringt das folgendermaßen zum Ausdruck: »›Presence‹, in my view, is ›being in touch‹ – either literally or figuratively – with people, things, events, and feelings that made you into the person you are.« Präsenz bedeutet mithin »being in touch with reality«.30 Ähnlich steht auch für Gumbrecht nicht Gegenwart als Zeitphänomen im Vordergrund des Interesses, sondern Gegenwärtigkeit als Präsenz der Dinge: »Ich meinte und meine mit Präsenz, daß die Dinge – ganz unvermeidlich – unseren Körpern ferner oder näher sind, von ihnen berührt werden können oder nicht, und daß sie Substanz haben.«31

2. E in G egenstand »Gestern und morgen sind Eigenschaften des Systems, und heute ist Eigenschaft des ›Ich‹.« Paul Valéry 32

Selbst wenn vielfach merkwürdig und nicht so umfassend behandelt, wie man sich das wünschen würde, gibt es doch wenig Anlass, an der Existenz des Wortes ›Gegenwart‹ zu zweifeln. Aber wenn es das Wort ›Gegenwart‹ gibt, gibt es dann auch schon die Gegenwart?33 Hier wartet die nächste Irritation, denn die eher dünne Ausbeute beim Fang in den lexikalischen Fischgründen deutet bereits an, dass die Gegenwart eine Zeitform zu sein scheint, die es als Zeitform noch zu entdecken und zu verstehen gilt.

Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 49-67. Vgl. auch Delacroix, Christian/Dosse, François/ Garcia, Patrick (Hg.): Historicités, Paris 2009. 28 | Vgl. dazu Ghosh, Ranjan/Kleinberg, Ethan (Hg.): Presence. Philosophy, history, and cultural theory for the twenty-first century, Ithaca/London 2013. 29 | Kiening, Christian: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte, in: Ders. (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 9-70, hier S. 17. 30 | Runia, Eelco: Presence, in: History and Theory 45, 2006, S. 1-29, hier S. 5. 31 | H. Gumbrecht: Gegenwart, S. 9. Vgl. auch Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, Berlin 2012. 32 | Valéry, Paul: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, Frankfurt a.M. 2011, S. 75. 33 | N. Strobach: Jetzt, S. 46.

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Beginnen wir daher wenigstens mit einer Arbeitsdefinition, um nicht weiter ziel- und orientierungslos im Begriffsdschungel umherirren zu müssen. Man könnte Gegenwart zunächst einmal behelfsmäßig mit Verfügbarkeit übersetzen. Das, was räumlich oder zeitlich noch von uns beeinflusst werden kann, lässt sich in diesem Sinn als gegenwärtig verstehen. Wie aber sind diese Beeinflussungsmöglichkeiten genauer ausgestaltet? Scheint das in räumlicher Hinsicht noch halbwegs einsichtig zu sein, insofern als gegenwärtig begriffen wird, wonach gegriffen werden kann, ist die zeitliche Perspektive schon schwieriger zu fassen. Niklas Luhmann hat den Mangel an Gegenwartsbestimmungen zu einem eigenen Vorschlag genutzt und Gegenwart als denjenigen Zeitraum bestimmt, in dem sich noch umdisponieren lässt. Der Unterschied zwischen einer Gegenwart und einer Nicht-Gegenwart besteht demnach darin, dass in der Gegenwart eine Angelegenheit noch umkehrbar und veränderbar ist, während sie in einer Nicht-Gegenwart bereits den Zustand der Irreversibilität erreicht hat. In einer Gegenwart kann daher laut Luhmann zweierlei geleistet werden: Zukunft lässt sich in Vergangenheit überführen, indem die Dinge irreversibel gemacht und der gegenwärtigen Verfügung entzogen werden. Das Irreversibelmachen ist eine Leistung der Gegenwart. In ihr verfügt man über »das praktisch Unmöglichwerden«.34 Zugleich können in einer Gegenwart die Dinge aber auch reversibel gehalten, können weiterhin verhandelt und behandelt werden. Es gibt mithin zwei verschiedene Sichtweisen auf Gegenwart, eine punktuelle, in der beständig Zukunft in Vergangenheit verwandelt wird, und eine dauernde, in der Zukunft und Vergangenheit stärker auseinandergehalten werden, um die Dinge in der Schwebe zu halten und um aushandeln zu können, was werden soll. Beide Umgangsweisen mit Gegenwart werden simultan benutzt und setzen sich gegenseitig voraus. Insoweit Kulturen überhaupt mit Zeit umgehen, gehen sie gleichzeitig mit Formen der Reversibilität und Irreversibilität um:35 »Die Gegenwärtigkeit der Gegenwart ist diese Simultaneität. Als stets gegenwärtig hält ein Handlungssystem sich offen für ein Simultantraktieren von Reversibilitäten und Irreversibilitäten und disponiert so über seine ›Bewegung‹ in der Zeit.«36 Derartige Bestimmungen von Gegenwart können durchaus auf eine lange Tradition zurückblicken, wenn beispielsweise Augustinus die unbeantwortbare Frage, was die Zeit denn sei, dadurch zu beantworten sucht, dass er Gegenwart in den Mittelpunkt stellt. Denn Augustinus meinte nicht sinnvoll über Vergangenheit oder Zukunft sprechen zu können, weil diese nicht eigentlich ›seien‹ und allein Gott einsichtig wären. Stattdessen stünden dem Menschen nur unterschiedliche Formen gegenwärtiger Zeiten zur Verfügung, nämlich »eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem«

34 | Gehring, Petra: Über Gegenwart verfügen. Mit Luhmann und Merleau-Ponty diesseits der Zeit, in: Journal Phänomenologie 24, 2005, S. 35-44, hier S. 39. 35 | Luhmann, Niklas: Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 21991, S. 126-150, hier S. 132f. Vgl. auch Nassehi, Armin: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011. 36 | N. Luhmann: Temporalstrukturen, S. 133.

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(praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris).37 Bereits Augustinus stellt also klar, dass die Gegenwart keine dünne Membran ist, durch welche sich ›die Zeit‹ hindurchzwängt, damit aus Zukunft mehr oder minder geschwind Vergangenheit wird. Gegenwart ist vielmehr die einzige temporale Dimension, mit der wir es überhaupt zu tun haben.38 Von dieser Gegenwart aus werden erst die Vergangenheiten und Zukünfte entworfen, die uns nach ihrer Erzeugung so unverfügbar zu sein scheinen. Damit ist aber, wie fast immer bei Fragen der Zeit, nicht nur ein theoretisches, sondern ebenso ein politisches, gesellschaftliches und kulturelles Problem angezeigt. Die Schwierigkeiten, die einem die Gegenwart stellen kann, werden unter anderem anhand der Synchronisation ersichtlich. Denn hat ein Kollektiv sich erst einmal auf die Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingelassen, um Probleme und Phänomene in abwesende Zeiten abschieben zu können (weil sie erst in der Zukunft relevant werden oder bereits der Vergangenheit angehören), dann müssen diese Zeiten miteinander koordiniert werden – sie bedürfen der Synchronisation. Die europäische Lösung für dieses Problem ist nur allzu vertraut. Eine einheitliche Chronologie auf der Basis von Kalender und Uhr bildet die temporale Grundlage, die für alle gleich ist und die alle Zeiten identisch markiert. Der 14. August 2017 ist dann für alle dasselbe Datum. Und auch wenn an diesem Tag alle etwas anderes machen, lassen sich diese zahllosen Unterschiede dank der Chronologie doch synchronisieren. Synchronisation löst und produziert simultan das Problem, dass ein Tag für alle derselbe und jeweils ein ganz anderer ist.39 Weiterhin sind es aber auch unterschiedliche Zeiten, die in der Zeit miteinander koordiniert werden müssen. Soll heißen: In jeder Gegenwart werden nicht nur unterschiedliche Perspektiven für verschiedene Vergangenheiten und Zukünfte entworfen, sondern innerhalb von Vergangenheit und Zukunft gibt es wiederum unterschiedliche Entwürfe des Vergangenen und Zukünftigen, die jeweils anders waren bzw. anders sein werden als die gegenwärtig favorisierten.40 Mit dem Kriterium der Reversibilität/Irreversibilität könnte man meinen, ein eindeutiges Merkmal zu besitzen, um Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft abgrenzen zu können. Insbesondere mit Blick auf vergangenes Geschehen sollte dies nicht allzu schwierig sein, schließlich sind einstige Ereignisse und Vorgänge von den Gegenwärtigen nicht mehr beeinflussbar, mithin tatsächlich und endgültig vergangen. Doch allzu voreilig darf man in dieser Angelegenheit wohl nicht sein. Denn es stellt sich nicht nur die Frage, wie weit Umkehrbarkeit reicht, sondern auch, was jeweils als reversibel bzw. irreversibel gelten kann. Schließlich 37 | Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, Frankfurt a.M./Leipzig 1987, S. 640-643. Vgl. auch Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a.M. 1988, S. 46-51; Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2003, S. 247f. 38 | Vgl. hierzu Kümmel, Friedrich: Zum Verhältnis von Zeit und Gegenwart, in: Reusch, Siegfried (Hg.): Das Rätsel Zeit. Ein philosophischer Streifzug, Darmstadt 2004, S. 73-81. 39 | Esposito, Elena: Die Konstruktion der Zeit in der zeitlosen Gegenwart, in: Rechtsgeschichte 10, 2007, S. 27-36, hier S. 29. Vgl. auch Landwehr, Achim: Zeitrechnung, in: Boer, Pim den u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 1. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 227-236. 40 | E. Esposito: Konstruktion der Zeit, S. 29.

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sind es unterschiedliche Facetten gegenwärtigen und vergangenen Geschehens, die auf unterschiedliche Weise noch verfügbar oder schon unverfügbar sind. Während sich ein bestimmtes Ereignis recht schnell durch Irreversibilität zu entziehen scheint (Sie können an dieser Stelle beispielsweise nicht mehr rückgängig machen, dass Sie begonnen haben, diesen Aufsatz zu lesen), gilt dies gerade für seine kulturellen Gehalte, also für seine Bedeutungsebenen keineswegs. Aber selbst auf der Ereignisebene sollten wir uns nicht allzu voreilig sicher sein über eine vermeintliche Abgeschlossenheit. Kann man denn ernsthaft behaupten, der Zweite Weltkrieg gehöre tatsächlich der Vergangenheit an, wenn immer noch und auch noch auf Jahrzehnte hinaus Fliegerbomben aus diesem Krieg entschärft werden müssen? Oder wenn immer noch Details über das Kriegsgeschehen zutage gefördert werden, von denen man bis dato in der Öffentlichkeit noch gar nichts gewusst hatte, die also gewissermaßen erst ›jetzt‹ stattfinden? Oder wenn sich die Deutungen des Kriegsgeschehens permanent verändern? Wird der Zweite Weltkrieg erst dann beendet und erst dann ungegenwärtig sein, wenn sich niemand mehr dafür interessiert – also vielleicht nie? Gegenwart ist daher nicht nur der Zeitraum, in dem Dinge reversibel bleiben. Gegenwart ist vielmehr der Zeitraum, den Kollektive zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als reversibel beschreiben! Deswegen verändern sich Gegenwarten. Und deswegen können Gegenstände auch wieder gegenwärtig werden, die schon längst als irreversibel und vergangen erschienen. Bestimmt man Gegenwart als denjenigen Zeitraum, in dem Kollektive über gegenwärtige Vergangenheiten und gegenwärtige Zukünfte verfügen, dann ist es offenbar notwendig, das Verhältnis dieser Zeiten zueinander genauer zu klären. Mit der Hilfe von George Herbert Mead lässt sich nicht nur feststellen, dass Vergangenes nur in der Gegenwart existiert, sondern dass die anwesende Abwesenheit von Vergangenheit in einer Gegenwart auch mehrfach relationiert ist (und Entsprechendes gilt für die Zukunft). Festlegungen der Vergangenheit wirken erstens auf unsere Gegenwart ein (so wie unsere gegenwärtigen Entscheidungen die Zukunft beeinflussen), tun dies aber nicht vollständig determinierend, sondern kontingent. Zweitens sind Entscheidungen der Vergangenheit zwar notwendig zum Verständnis der Gegenwart, aber nicht hinreichend. Deshalb ist zum dritten das, was in der Vergangenheit an Entscheidungen getroffen wurde und an Ereignissen geschehen ist, für die Gegenwart weiterhin relevant – die Vergangenheit ist also weiterhin präsent.41 Wir haben es also – und Obacht, nun wird es spitzfindig – nicht mit einer vergangenen Gegenwart zu tun, sondern mit einer gegenwärtigen Vergangenheit. Auch wenn es die vergangene Gegenwart, die gerade von Belang ist, gegeben haben mag, so ist sie uns (in einem umfassenden Sinn) völlig unzugänglich. Vergangenheit muss daher eine Konstruktion sein, die keine von einer Gegenwart unabhängige Realität besitzt. Das wird allein schon aufgrund der Tatsache ersichtlich, dass das Material, mit dem sich eine Gegenwart auf eine Vergangenheit bezieht, nur gegenwärtig vorliegt (und vorliegen muss, weil sonst die Bezugnahme nicht gelin41 | Mead, George Herbert: Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, Frankfurt a.M. 1969, S. 246. Vgl. auch Flaherty, Michael/Fine, Gary A.: Present, past, and future. Conjugating George Herbert Mead’s perspective on time, in: Time & Society 10, 2001, S. 147-161.

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gen könnte). Und die Vergangenheit, die jeweils gegenwärtig entworfen wird, kann auch nicht den Anspruch erheben, eine Rekonstruktion im Sinne eines Wiederaufbaus zu sein.42 Jede Gegenwart entwirft daher eine gegenwärtige Vergangenheit, von der sie nur eines mit Sicherheit sagen kann: dass sie genau so nicht stattgefunden hat.43 Womit wir uns auseinandersetzen können und müssen, ist eine Vergangenheit im Sinne einer Relationierung, die eine Gegenwart mit historisch älteren Zuständen hinsichtlich aktuell sie betreffender Probleme vornimmt. Man kann den Unterschied zwischen einer (uns betreffenden) gegenwärtigen Vergangenheit und einer vergangenen Gegenwart auch dadurch verdeutlichen, dass vergangene Gegenwarten nicht wiederholt, nicht wiederbelebt, nicht noch einmal durchlebt werden können als Gegenwarten.44 Gegenwärtige Vergangenheiten hingegen existieren nur im Hier und Jetzt. (Und diese Argumentation ließe sich mit Blick auf die Zukunft wiederholen.) Das bedeutet aber auch, dass die einzige zeitliche Stabilität in dem Zusammenhang zu erlangen ist, der gemeinhin als unsicher, flüchtig und instabil gilt – in der Gegenwart. Ganz im Gegensatz zu alltäglichen Zeitpraktiken, die der Zukunft generell Kontingenz unterstellen und in der Vergangenheit den Hort gesicherter Unveränderlichkeit und damit auch erkenntnismäßiger Verlässlichkeit vermuten, ist diese Vergangenheit eben keineswegs von Kontingenz befreit, sondern wird beständigen Neuentwürfen durch eine Gegenwart unterzogen. Deshalb kann letztlich nur Gegenwart Stabilität gewährleisten – oder daran scheitern.45 Gegenwart wird solcherart zum Knotenpunkt der Zeiten. Sie ist nicht einfach ein Stück, das aus dem endlos sich entrollenden Band der Zeit herausgehoben werden kann, bevor es von einer anderen Gegenwart abgelöst und zur Vergangenheit wird. Die Gegenwart ist vielmehr der Zeit-Ort, an dem Verfügbarkeit (und dadurch soll sich Gegenwart ja auszeichnen) gewährleistet wird, indem Relationen zu anwesend-abwesenden Zeiten hergestellt werden. Diese zeitlichen Relationen möchte ich bezeichnen als Chronoferenzen.46 Mittels Chronoferenzen wird in einer Gegenwart beständig und auf vielerlei Ebenen an den Bezügen zu Vergangenheiten und Zukünften gearbeitet. Gegenwart wird damit zu einer spezifischen chronoferentiellen Situation, in der Vergangenheiten und Zukünfte entworfen werden, die nach ihrem Entwurf einerseits zu Traditionen, Mythen, Geschichten, andererseits zu Prognosen, Hoffnungen, Erwartungen werden. »Eine derartige Situation ist eine Gegenwart. Sie definiert und selegiert in einem gewissen Sinne, was ihre Besonderheit möglich gemacht hat.«47

42 | G. H. Mead: Philosophie de Sozialität, S. 259f. 43 | Zum weiteren Zusammenhang einer solchen negativen Geschichtstheorie vgl. Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016. 44 | G. H. Mead: Philosophie der Sozialität, S. 245. 45 | A. Nassehi: Gesellschaft der Gegenwarten, S. 23; Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004, S. 109. Vgl. auch Dies.: Zeitmodi, in: Soziale Systeme 12, 2006, S. 328-344. 46 | Ausführlicher zu Chronoferenzen A. Landwehr: Anwesende Abwesenheit, S. 149-165. 47 | G. H. Mead: Philosophie der Sozialität, S. 253.

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Ein unumgänglicher, wenn auch in all seinen Ausfaltungen hier nicht auszuführender Nachsatz ist noch anzufügen: Wenn die Gegenwart der Knoten- und Differenzpunkt ist, an dem und durch den Unterscheidungen und Relationierungen zwischen Vergangenheiten und Zukünften vollzogen werden, dann muss diese Gegenwart auch unweigerlich zu einem Ort temporaler Auseinandersetzungen werden. In einer Gegenwart ringen mehr oder weniger offen divergierende Zeitkonzepte miteinander. Unterschiedliche Bewohner einer Gegenwart stehen im Konflikt miteinander um die chronoferentielle Ausgestaltung eben dieser Gegenwart, kämpfen um die Relationen, die zu bestimmten (und keinen anderen) Vergangenheiten und Zukünften etabliert werden sollen. Die Auseinandersetzungen um die Frage, aus welcher Vergangenheit heraus ein Kollektiv entstanden sein will und in welche Zukunft es hineinschreiten möchte, ist unabdingbarer Bestandteil von Politik.48

3. E in P roblem »Und ein Gestern kann man erzählen, ein Jetzt aber nicht.« Peter Bichsel 49

In zeitlicher Hinsicht stehen einer Gegenwart die Dinge also nicht deswegen zur Verfügung, weil diese selbst eine klare historische Ausdehnung hätte, sondern weil es ihr gelingt, mittels Chronoferenzen bestimmte Vergangenheiten und Zukünfte erfolgreich verfügbar zu halten (oder unter Umständen auch daran scheitert, ein solches chronoferentielles Geflecht zu etablieren). Mit einer solchen Bestimmung wird aber die Frage nur umso drängender, wie eine Gegenwart problematisiert und adressiert werden soll, die nicht mehr durch eine klare Ausschnitthaftigkeit aus einem gedachten zeitlichen Kontinuum gekennzeichnet ist, die also beispielsweise nicht mehr die Erlebenszeit einer Generation bezeichnet. Wie lässt sich eine Gegenwart behandeln, die vor allem dadurch geprägt ist, ungleichzeitig mit sich selbst zu sein, weil in ihr all diejenigen Zeiten vorkommen, mit denen gegenwärtig und gleichzeitig umgegangen wird?50 Einmal vorausgesetzt, die lexikalisch-definitorische Bestimmung von Gegenwart bereitet deswegen Schwierigkeiten, weil mit diesem Wort ›Gegenwart‹ alles angesprochen sein muss, was es im Hier und Jetzt gibt, dann bewegt sich diese ›Gegenwart‹ in großer Nähe zum nicht minder Ehrfurcht gebietenden Begriff ›Wirklichkeit‹. Ähnlich wie Wirklichkeit durch eine Unausdrücklichkeit gekennzeichnet ist, durch eine Vorausgesetztheit, die als Grundlage aller weiteren Differenzierungen dient 51 – auch und gerade die Unterscheidung wahr/falsch erfolgt 48 | Kubler, George: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a.M. 1982, S. 189. 49 | Bichsel, Peter: Über das Wetter reden. Kolumnen 2012-2015, Berlin 2015, S. 57. 50 | Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 2004. S. 11, 61f.; Agamben, Giorgio: What is an apparatus? and other essays, Stanford 2009, S. 52-54. 51 | Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S. 47-73.

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unter Bezugnahme auf eine Wirklichkeit, an der sich diese Differenz zumindest theoretisch bewähren können sollte –, so wird auch Gegenwart, also alles, was jetzt ist, zur Voraussetzung darauf auf bauender Differenzierungen gemacht. Vor allem wird Gegenwart zur Grundlage der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart lässt sich somit – oder: zumindest unter anderem – als Wirklichkeit in ihrer temporalen Verfasstheit beschreiben. Wenn Gegenwart auf diese Weise in die Nähe von Wirklichkeit rückt, dann stellt sich auf ähnliche Weise das Problem, wie eine Behandlung dieser Gegenwart vonstattengehen könnte. Und ähnlich wie im Fall von Wirklichkeit52 möchte ich auch mit Blick auf Gegenwart für eine Historisierung dieses Phänomens plädieren. Es mag zwar meiner professionellen Deformation als Historiker geschuldet sein, aber ich meine auch einige theoretisch fundierte Gründe angeben zu können, weshalb sich das zeitliche Problem, das die Gegenwart stellt, nur zeitlich behandeln lässt – und nicht überzeitlich gültig gelöst werden kann.53 Historisierung sollte dabei nicht einfach nur bedeuten, die jeweiligen Gegenwarten (die sich mit einem historisierenden Blick notwendigerweise vervielfältigen müssen) in ihrer spezifischen Verfasstheit zu beschreiben (Wie hat sich diese Gegenwart selbst historisch eingeordnet? Herrschte ein positives oder ein eher kritisches Bild der eigenen Gegenwart vor? Welche Zeiten und Räume wurden zur jeweils eigenen Gegenwart hinzugerechnet?). Historisierung von Gegenwarten muss vielmehr grundsätzlicher bedeuten, die jeweilige Form namens Gegenwart zu problematisieren und ihr Zustandekommen zu beschreiben. ›Die Gegenwart‹ gibt es nicht. Alles, was es gibt (oder möglicherweise auch nicht gibt), sind jeweils verfügbare Formen von Gegenwarten, die es Kollektiven ermöglichen, insbesondere ihre zeitliche Verfasstheit zu beschreiben.54 Deswegen kann es auch nicht hinreichen, eine Begriffsgeschichte von ›Gegenwart‹ zu schreiben, um den Formen von Gegenwart auf die Spur zu kommen, weil diese Formen durchaus unterschiedliche und begrifflich nicht immer eindeutige – zumindest für uns historisch Zurückschauende nicht immer eindeutige – Gestalt annehmen. Man kann daher mit Elena Esposito festhalten: »Die Gegenwart hat als einfache Aktualisierung der Veränderung keine Dauer, um Gegenstand von Untersuchungen zu sein oder um als Belehrung zu fungieren: Die Geschichte der Gegenwart verschwindet darum als Gattung, und es bleibt nur noch die den Journalisten überlassene Berichterstattung.«55 Das bedeutet auch, dass eine Geschichte der Gegenwart nicht darauf hinauslaufen kann, die Geschichte eines bestimmten Zeitraums zu sein. Denn über die Gegenwart als Zeitform wäre mit einer solchen Ausrichtung 52 | Vgl. Gehring, Petra: Radikaler Historismus oder Anthropologie? Hans Blumenberg über Wirklichkeitsbegriffe, antik und modern, in: Möller, Melanie (Hg.): Prometheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie, Paderborn 2015, S. 111-124, hier S. 117f. 53 | Überzeitlich gültig ist aber die physikalische Unmöglichkeit von Zeitreisen gepaart mit der kulturellen Kompetenz, solche Zeitreisen via Chronoferenzen zu bewerkstelligen. Menschen können physisch die Gegenwart nicht verlassen, aber sie können Vergangenheiten und Zukünfte in diese Gegenwart hineinholen. 54 | Vgl. auch Lyotard, Jean-François: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 3 2006, S. 73f. 55 | E. Esposito: Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 148.

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eher wenig zu lernen.56 Nötig ist vielmehr eine historische Betrachtung, welche die Form namens Gegenwart sowie die jeweils vorfindlichen Chronoferenzen in ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und auch räumlichen Variabilität zum Gegenstand macht. Gegenwart wird auf diese Art und Weise sichtbar als Differenz- wie als Relationierungsphänomen. Einige Andeutungen mögen und müssen genügen, um zu zeigen, wie sich Gegenwart auf unendlich vielfältige Weise in diversen Chronoferenzen auffaltet. Diese Auffaltungen betreffen nicht nur historische Geschehnisse im engeren Sinn, insofern diese einem angenommenen Kollektivsingular namens ›Geschichte‹ zugerechnet werden, sondern sie betreffen letztlich alle nur möglichen Formen der zeitlichen Relationierung. Denn wenn man den Begriff der Gegenwart sowohl in seiner selbstverständlichen Unmittelbarkeit als auch in seiner letztlichen Unbegreiflichkeit ernst nehmen will, dann kann keine der potentiellen Zeitformen ausgelassen werden, die eine Gegenwart ungleichzeitig mit sich selbst werden lässt, weil in ihr gleichzeitig immer schon so viele andere Zeiten anwesend sind. Die gegenseitige Verschränkung unterschiedlicher Zeiten geht zunächst von einem Jetzt aus, das sich auf andere, abwesende Zeiten bezieht, sich ihrer womöglich sogar bemächtigt. In diesem Fall kann man durchaus davon sprechen, dass die Gegenwart nicht einfach nur das vorläufige Ende von Vergangenheit ist, sondern Gegenwart vielmehr den sich immer wieder erneuernden Beginn von Vergangenheit darstellt.57 Das gilt auch für Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses, über die man mit chronoferentieller Hilfestellung sämtliche Illusionen verlieren darf. Denn alle möglicherweise noch vorhandenen Vorstellungen über das Funktionieren des Gedächtnisses als ›Speicher‹ vergangener Ereignisse sollten mit Hilfe zeitlicher Relationierungen ad acta gelegt werden. Was bereits die Alltagserfahrung lehrt und was spätestens durch die Hirnforschung bestätigt wurde, lässt sich auch in chronoferentieller Hinsicht nicht anders denken: Der Vorgang des Erinnerns kann nur in der Gegenwart stattfinden. Es handelt sich also gerade nicht um eine gedächtnisgestützte Zeitreise in die Vergangenheit, sondern um »gegenwartsbasierte Beobachtungen von Vergangenem«,58 wobei nichts anderes vorgenommen wird als eine Unterscheidung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem – eine Unterscheidung, die aber nur in der Gegenwart erfolgen kann. Es muss jedoch sogleich möglichen Missverständnissen vorgebeugt werden. Denn es sind bei weitem nicht nur die jeweiligen Gegenwarten, die das Heft der Chronoferenzen in der Hand halten – wie man in jeder Gegenwart unschwer feststellen kann, wenn man den Blick von den Vergangenheiten löst und den Zukünften zuwendet. Dann erweist sich die Zweideutigkeit einer jeden Zukunft, die nicht nur kontingent und unvorhersehbar, sondern im gleichen Maß bestimmt und bereits geschehen ist. Schließlich ist Zukunft in Teilen immer schon das Ergebnis gegenwärtigen Handelns, ist also determiniert, so dass man in einer Zukunft (zumindest partiell) nur Entscheidungen treffen kann, die längst getroffen worden 56 | Vgl. dazu auch F. Hartog: Gegenwart der Historiker. 57 | Schneider, Florian: Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Von neuen Wegen in eine neue Wirklichkeit, in: Berliner Gazette 16.1.2013 (URL: http://berlinergazette.de/dokumentarische-neue-wirklichkeit [14.7.2017]). 58 | Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden 22008, S. 197.

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sind. Und wie unschwer zu erkennen ist, gilt Nämliches auch für jede Gegenwart, deren Entscheidungen zu einem erheblichen Grad bereits in der Vergangenheit gefällt wurden.59

4. E in B eispiel »How soon is now?« The Smiths 60

Wenn es um eine Historisierung der Form namens Gegenwart gehen soll, dann muss man sich zunächst von der Illusion verabschieden, diese Historisierung könnte und würde in einer eindeutigen, in einer geradlinigen ›Geschichte‹ aufgehen. Die Geschichte der Form namens Gegenwart lässt sich nicht erzählen als Aufstieg und Fall eines Konzepts; auch nicht als Aufstieg ohne Fall im Sinne einer fortgesetzten Fortschrittsgeschichte; sie lässt sich wohl überhaupt nicht erzählen als zielgerichteter Vorgang, als teleologische Eindeutigkeit, bei der man im Nachhinein mit besserwisserischer Hochnäsigkeit behaupten könnte, schon immer gewusst zu haben, dass es gar nicht anders ausgehen konnte (obwohl da noch gar nichts ausgegangen ist). Die Historisierung der Form namens Gegenwart müsste eher eine Aufmerksamkeit dafür erzeugen, wie man in einem Hier und Jetzt die unterschiedlichen verfügbaren Zeiten chronoferentiell zueinander in Beziehung gesetzt hat. Die Frage kann daher nicht lauten: Wann ist (endlich) Gegenwart? Die interessante Frage müsste vielmehr lauten: Wie ist Gegenwart (wenn doch alles, was geschieht, gleichzeitig in dieser Gegenwart geschieht)? Eine Lösungsmöglichkeit zur temporalen Ausgestaltung von Gegenwart konnte und kann darin bestehen, sich auf einen recht engen Zeithorizont zu begrenzen und eher wenig Gebrauch davon zu machen, Vergangenheiten und Zukünfte als Entlastungszeiträume zu verwenden. Eine solche Zentrierung auf die eigene Lebenszeit ist in unterschiedlichen historischen Situationen an unterschiedlichen Orten von unterschiedlichen Gruppen vorgenommen worden. Wenn ich im Folgenden kurz und beispielhaft auf das Europa des 17. Jahrhunderts und die dort aufzufindenden Formen der Gestaltung von Gegenwart eingehe, soll das nicht heißen, das hier erstmals ›die Gegenwart‹ erfunden worden wäre.61 Es ist nur ein Beispiel dafür, dass und wie sich das chronoferentielle Gerüst eines Kollektivs verändern kann. Was also während des 17. Jahrhunderts in Europa geschieht, ist nicht die Er59 | Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 181. 60 | The Smiths: How soon is now?, Rough Trade Records, 1985. 61 | Auch wenn ich selbstkritisch anmerken muss, dass meine eigene Darstellung in Landwehr, Achim: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014, genau einen solchen Schluss nahelegt. Aber vielleicht ist auch das nur ein Beleg für die Tatsache, dass man nach dem Abschluss eines Buchs klüger ist (oder zumindest sein sollte) als zuvor, was den Wunsch nach sich zieht, das gleiche Buch noch einmal zu schreiben, nur diesmal anders – und hoffentlich besser. Nur um dann nach dem Abschluss dieser zweiten Version wiederum festzustellen, eigentlich klüger und auf andere Art unzufrieden geworden zu sein…

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findung der Form Gegenwart – aber diese Form gewinnt eine Gestalt, die in ihren Auswirkungen bis heute nachhallt. In diesem Zeitraum setzte sich allmählich eine andere Art und Weise durch, mit der Zeit umzugehen und Zeit zu denken. Dieses andere (ich will gar nicht sagen ›neue‹) Zeitwissen setzte nicht einfach nur auf Gegenwart, sondern setzte auf Varietät in der Gegenwart. Diese Verschiebung ging sehr allmählich und für die Zeitgenossen wohl kaum bemerkbar vonstatten, erweist sich eher als eine langsame tektonische Verschiebung denn als plötzliches Erdbeben. Woran aber liegt es, dass ausgerechnet in diesem Zeitraum die Gegenwart in ihrer Vielfältigkeit als temporaler Orientierungspunkt an Bedeutung gewann? Weil dem europäischen 17. Jahrhundert die temporalen Alternativen abhandenkamen. Wie man einschlägigen Überblickswerken unschwer entnehmen kann,62 zeichnete sich dieser Zeitraum durch einige erhebliche Erschütterungen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, militärischer, kultureller, religiöser und klimatischer Art aus (und das ist eher eine grobe, keineswegs vollständige Auflistung), die zu massiven Verunsicherungen führten.63 In zeitlicher Hinsicht führten nicht abreißende Kriege, religiöse Fundamentalismen, zahlreiche Aufstände und andere innerstaatliche Konflikte, der Ausbruch von Seuchen, die Verfolgung von Minderheiten, die Kleine Eiszeit und diverse Wirtschaftskrisen dazu, dass die jüngere Vergangenheit (und das heißt vor allem die Geschichte seit dem Beginn der reformatorischen Bewegungen) nicht mehr als Vorbild und Lehrmeisterin des Lebens in der eigenen Gegenwart dienen konnte. Schließlich waren in dieser jüngeren Vergangenheit all diejenigen Konflikte entstanden, mit denen man sich gegenwärtig herumzuschlagen hatte. Die Zukunft schied aber als Ausweichzeitraum ebenso aus. Sie war einerseits heilsgeschichtlich determiniert; alles, was noch geschehen würde, war in gewisser Weise bereits geschehen, weil im göttlichen Schöpfungsplan bereits festgelegt. Diese Zukunft konnte man – im wörtlichen Sinn – nur noch auf sich zukommen lassen, aber sie stand den menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten nur in bedingtem Maß offen. Andererseits bildete aber gerade diese vorherbestimmte Zukunft ein Problem, weil sich die ebenfalls seit dem Beginn der reformatorischen Bewegungen beständig genährte Erwartung an das nahe, eigentlich unmittelbar bevorstehende Ende der Welt einfach nicht erfüllen wollte. Sämtliche Vorhersagen in dieser Hinsicht mussten immer wieder revidiert und aufgeschoben werden, so dass das Jüngste Gericht allmählich im Nebel des Ungefähren verschwand. In genau dieser Situation, zwischen einer Vergangenheit, die ihre angestammte Vorbildfunktion eingebüßt hatte, und einer Zukunft, die sowohl als unbeeinflussbar wie auch als uneinsichtig galt, konnte die Gegenwart als verbleibender Ermöglichungszeitraum an Bedeutung gewinnen.64 Gegenwart wurde mithin zu einer Zeitebene, die im 62 | Stellvertretend seien hier nur genannt: Rabb, Theodore K.: The struggle for stability in early modern Europe, New York 1975; Münch, Paul: Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutschland 1600-1700, Stuttgart/Berlin/Köln 1999; Parker, Geoffrey: Global crisis. War, climate change and catastrophe in the seventeenth century, New Haven/London 2013. 63 | Csáky, Moritz/Celestini, Federico/Tragatschnig, Ulrich (Hg.): Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne, Wien/Köln/Weimar 2006; Flemming, Victoria von (Hg.): Barock – Moderne – Postmoderne. Ungeklärte Beziehungen, Wiesbaden 2014. 64 | Vgl. hierzu A. Landwehr: Geburt der Gegenwart.

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Verlauf des 17. Jahrhunderts neues Gewicht erhielt: Sie verbreiterte sich. Gegenwart wurde zur Alternative, wurde zum Dritten, das sich gegen die steigende Ambivalenz der Vergangenheit und die unausweichliche Kontingenz der Zukunft ins Spiel bringen ließ. Das Präsens schob sich zwischen Ambivalenz und Kontingenz. Die Veränderungen in der Zeitschaft65 des 17. Jahrhunderts könnten anhand unterschiedlicher Aspekte erläutert werden. Aber kaum ein Begriffspaar ist zur Erläuterung wohl besser geeignet als Sicherheit/Unsicherheit. Fraglos spielen Bedürfnisse nach Sicherheit sowie die Angst vor Unsicherheit zu allen Zeiten eine Rolle. Aber die Intensität und Breite der Debatten sowie vor allem die konkreten Antworten, die im europäischen 17. Jahrhundert gefunden wurden, sind bemerkenswert. Behandlungen des Zufalls, Theoretisierungen der Wahrscheinlichkeit, Versuche der Mathematisierung oder Neuschöpfungen wie das Versicherungswesen können darauf hinweisen, wie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Sicherheit und Unsicherheit zunehmend traktiert wurden. Zeit wurde dadurch in sich selbst reflexiv, unterschiedliche Zeithorizonte mit eigenen Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften konnten sich voneinander emanzipieren. Zeit ließ sich komplexer begreifen und wurde variantenreicher (wobei größere Varietät insbesondere für die Zeitgenossen keineswegs positiv konnotiert gewesen sein muss, denn sie konnte auch als Bedrohung wahrgenommen werden).66 Dieser zum Äußersten verknappte Blick auf das europäische 17. Jahrhundert soll nur als Hinweis dienen, aus welchen Gründen und mit welchen Auswirkungen eine Kultur sich stärker auf Gegenwart einlässt (oder einlassen muss). Die Herausforderungen, die für ein Kollektiv damit einhergehen, sind nicht zu unterschätzen. Für die Historisierung von Gegenwart muss das aber bedeuten, gerade nicht in einem modernisierungstheoretischen Sinn die Frage zu stellen, wann denn nun endlich Gegenwart begonnen habe. Damit würde man nämlich nur Antworten erhalten, die man zuvor bereits kannte, weil ja nur nach ›unserer‹ Form von Gegenwart gefragt würde. Der kurze Ausflug ins 17. Jahrhundert sollte illustrieren, dass es ertragreicher ist, nach den Variationsmöglichkeiten Ausschau zu halten, welche die ›Form Gegenwart‹ jeweils annimmt – oder eben auch nicht annimmt, weil beispielsweise die Vorherrschaft von Vergangenheiten oder Zukünften gerade dominiert (aber ist nicht auch das eine Form von Gegenwart?). Und man kann eben auch über Gegenwart verfügen, ohne über das Wort ›Gegenwart‹ zu verfügen. Man kann auch – wie das z.B. im 17. Jahrhundert geschehen ist – Komposita mit den Adverbien ›nun‹ oder ›jetzt‹ bilden, um zum Ausdruck zu bringen, was man ausdrücken möchte. Man kann das lateinische modernus in seiner ursprünglichen Wortbedeutung als ›gegenwärtig‹ verwenden, oder man kann in einem generellen Sinn von der ›Welt‹ sprechen, um der Jetztzeit Gestalt zu geben.67 65 | Zum Begriff der Zeitschaft vgl. A. Landwehr: Anwesende Abwesenheit, S. 281-316. 66 | Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987, S. 425f. 67 | Der Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Medientheoretiker avant la lettre Kaspar Stieler (1632-1707) sprach in seiner Abhandlung über die periodische Presse mit dem Titel Zeitungs Lust und Nutz beispielsweise vom »in der Welt sein« und von der »jetzigen Welt«; Stieler, Kaspar: Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, Bremen 1969, S. 4.

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5. E in oder z wei S chlussfolgerungen »Wann ist Gegenwart?« Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé 68

Diese knappen Hinweise lassen erahnen, in welches begrifflich-theoretische Wespennest man sticht, sobald man die Gegenwart aufruft. Mit Nachbarinnen wie Wirklichkeit, Welt oder Moderne bildet sie eine Gemeinschaft von Ehrfurcht gebietender Komplexität – eine Komplexität, die ich an dieser Stelle nicht zu durchleuchten oder gar aufzulösen vermag. Ich sehe mich also nicht in der Lage, den eingangs beobachtenden Mangel einschlägiger Handbuch- und Lexikonartikel zu beheben. Die Historisierung der Form namens Gegenwart muss die Aufmerksamkeit schärfen für Fragen der Zeitlichkeit. Mit dem eigentlich naiven, aber weiterhin vorherrschenden Modell einer Zeit, die als linearer Strahl angesehen wird, mit einer Vergangenheit hinter uns sowie einer Zukunft vor uns, lassen sich Probleme recht bequem temporal verschieben. Dann lässt sich ohne weiteres argumentieren, dass in der Vergangenheit (aber in welcher von den vielen vorhandenen?) Dinge falsch gemacht wurden, die zu den Problemen der Gegenwart führten, oder dass man in der Zukunft (aber in welcher von den vielen möglichen?) diese Probleme schon lösen werde. Die Gegenwart verschwindet mithin als Differenzpunkt zwischen einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, die es noch nicht gibt (und in der imaginierten Form möglicherweise auch niemals geben wird). Es wäre zeittheoretisch angemessener und wohl auch alltagspraktisch hilfreicher, wenn man sich ein wenig von Zeitmodellen des 17. Jahrhunderts abschauen würde. Es geht nämlich nicht darum, ›die Moderne‹ mit ihrer angeblich säkularisierten und angeblich aufgeklärten Auffassung der eigenen Gegenwärtigkeit zu feiern. Ganz im Gegenteil gilt es, dieses Konzept von Gegenwart zu befragen und mittels der Lehren, die uns unter anderem das 17. Jahrhundert erteilen kann, zu variieren. Die Vergangenheit wird dann nicht als inzwischen abgeschlossener Zeitraum musealisiert, sondern als gegenwärtig wirksam (weil gegenwärtig entworfen) in die Belange des Hier und Jetzt integriert. Und dass die Zukunft nicht mehr ausschließlich als Dimension gesehen werden kann, die sich praktisch endlos und mit infiniten Handlungsmöglichkeiten vor uns ausdehnt, haben uns zahlreiche Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte von den Massenvernichtungswaffen bis zu klimatischen Veränderungen deutlich vor Augen geführt. Gerade weil wir nur noch in einer »erstreckten Gegenwart«69 leben und Endlichkeit wieder denkbar wird (und werden muss), kann die Gegenwärtigkeit und Aktualität des 17. Jahrhunderts für uns lehrreich sein. Man kommt kaum um die platt erscheinende Forderung umhin, der Gegenwart als temporaler Dimension theoretisch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn bisher ist das noch nicht geschehen. Wählt man den von mir vorgeschlagenen Weg der Chronoferenzen, der auf die Relationierung anwesender und abwesender Zeiten setzt, hat das nicht ganz unwesentliche erkenntnistheoretische Konsequenzen. Damit hieße es nicht nur, Vergangenheiten und Zukünfte in ihrer 68 | Rilke, Rainer Maria/Andreas-Salomé, Lou: Briefwechsel, Frankfurt a.M. 21979, S. 444. 69 | Nowotny, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 31990, S. 53.

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Bindung an eine jeweilige Gegenwart zu verstehen, sondern dann müssten auch Gegenwarten in ihrer Bindung an Zukünfte und Vergangenheiten begriffen werden. Zu behaupten, dass ein Verständnis von Zeitlichkeit ohne ein Verständnis von Gegenwart unmöglich ist, kommt einer Binsenweisheit gleich. Und gerade deswegen muss die unzureichende Beschäftigung mit dieser Gegenwart auffallen. Die Frage von Rainer Maria Rilke, wann Gegenwart sei, bleibt daher mit ihrem irritierenden Impetus aktuell. Auf sie ist aber auch immer wieder mit der Gegenfrage zu antworten: Welche von den vielen Gegenwarten denn?

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»Wenn alles jetzt passiert« – Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung Eckhard Schumacher Folgt man den seit einigen Jahren verstärkt zirkulierenden Gegenwartsdiagnosen, hat das, was mit dem Schlagwort der Digitalisierung großflächig erfasst werden soll, die Gegenwartskultur nicht zuletzt insofern verändert, als unsere Auffassung von Gegenwart im Zuge der Digitalisierung neu formatiert worden ist. Gegenwartskultur nach der Digitalisierung erscheint demzufolge als eine Kultur, die auf signifikante – und aus Sicht vieler Gegenwartsdiagnosen problematische – Weise auf die Gegenwart fixiert ist. »Unsere Gesellschaft konzentriert sich auf den gegenwärtigen Moment. Wir erleben alles im Liveticker, in Echtzeit, always-on«. In diesem Sinn etwa eröffnet Douglas Rushkoff, Schriftsteller, Cyberpunk-Aktivist, Musiker und Medientheoretiker, seine 2013 veröffentlichte Studie Present Shock. When everything happens now.1 Beunruhigt schreibt er sich in die lange Reihe jener Gegenwartsdiagnosen ein, die eben das beobachten und problematisieren, was Rushkoff mit Blick auf die Digitalisierung benennt – einen »Gegenwartsschock«.2 Wenn alles »jetzt« passiert, so Rushkoffs Ausgangsthese, sorgen »neue Technologien und ein veränderter Lebensstil« nicht nur dafür, »dass wir alles immer schneller tun«, sie forcieren zugleich »den Bedeutungsverlust von allem, was nicht gegenwärtig ist – weil der Ansturm von allem, was genau jetzt passiert, so gewaltig ist.«3 Damit ist die grundlegende Verschiebung benannt, die für Rushkoff den Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert markiert: »So wie das Ende des 20. Jahrhunderts vom Futurismus geprägt war, steht das beginnende 21. im Zeichen des Präsentismus.«4 Rushkoff ist nicht der erste Zeitdiagnostiker, der die Fixierung auf die Gegenwart als zentrales Problem der heutigen Gesellschaft beschreibt, und er ist nicht 1 | Rushkoff, Douglas: Present Shock. When everything happens now, London 2013; zitiert wird nach der deutschen Übersetzung: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert, Freiburg 2014. Eine erste, kürzere Fassung der vorliegenden Überlegungen ist unter dem Titel »Present Shock. Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung« erschienen in: Merkur 72, 2018, H. 826, S. 67-77. 2 | Vgl. etwa die in vielen Punkten ähnliche Argumentation (und die in vielen Punkten ähnliche Rhetorik) in Eriksen, Thomas H.: Die Tyrannei des Augenblicks. Die Balance finden zwischen Schnelligkeit und Langsamkeit, Freiburg u.a. 2002 (urspr. 2001). 3 | D. Rushkoff: Present Shock, S. 12. 4 | Ebd., S. 13.

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der einzige, der ›die Medien‹ und die weltweite digitale Vernetzung für die von ihm diagnostizierte Kultur des Präsentismus verantwortlich macht. Es fällt vielmehr auf, dass in den vergangenen Jahren im weiteren Umfeld der Medien- und Kulturwissenschaften verstärkt Gegenwartsdiagnosen publiziert werden, die eine neue Form der Gegenwartsfixierung ausmachen und diese als Folge von Digitalisierung und Vernetzung problematisieren. Wenn im Folgenden einige dieser Gegenwartsdiagnosen in den Blick genommen werden, geht es weniger um die Frage, inwiefern sie in der Sache zutreffen oder zumindest überzeugen können. Im Folgenden soll vielmehr nur gezeigt werden, wie sie argumentieren, wie sie Evidenz erzeugen. Ausgangspunkt dafür ist die Beobachtung, dass sie auffallend häufig plausibel und anschaulich angeführte Beispiele mit einem warnenden, wenn nicht alarmierten Ton verknüpfen, der die gegenwärtige Situation als Krise präsentiert. Die Krisenrhetorik kann, auch dies soll im Folgenden gezeigt werden, ganz unterschiedliche Ansätze verbinden und sie zugleich in die bereits vorgefertigten Bahnen moderner Zeitdiagnostik einschreiben. So bestätigt sich nicht nur, dass die Konstatierung von »Symptomen einer ›Krisenzeit‹«, wie Hartmut Rosa hervorgehoben hat, »als konstitutiv für alle Versuche der Positions- oder Epochenbestimmung in der Kulturgeschichte« erscheint.5 Aufgerufen wird auch die »Empfindung«, so Rosa im Rückgriff auf Reinhart Koselleck, dass die »Krisenzeit das Resultat einer Zeitkrise ist«. Zugleich wird deutlich, dass im Zuge von »digitaler Revolution« und »globaler Vernetzung« neben der ohnehin für die Moderne kennzeichnenden Beschleunigungserfahrung ein »neuerlicher Beschleunigungsdiskurs« einsetzt.6 Dabei bestimmt die für die Moderne charakteristische »Grunderfahrung, ›alles werde immer schneller‹, alles sei beständig im Fluss«, nur »die eine Seite der gegenwärtig vorherrschenden kritischen Zeit-Diagnosen«. Daneben trete, so Rosa mit Blick auf das Ende des 20. Jahrhunderts, die auf den ersten Blick »diametral entgegengesetzte«, aber letztlich als komplementär zu begreifende Zeiterfahrung der »Erstarrung«, des »Zuendegehens aller Bewegung«, die mit Paul Virilio im Bild des »rasenden Stillstands« erfasst worden ist.7 Wenn im Folgenden ausgehend von Rushkoffs Present Shock weitere Gegenwartsdiagnosen – u.a. von Wolfgang Hagen, David Gelernter, Hans Ulrich Gumbrecht, Mark Fisher und Simon Reynolds – nebeneinander gerückt und zueinander in Beziehung gesetzt werden, soll vor diesem Hintergrund untersucht werden, wie sich die verschiedenen Ansätze entlang der einschlägigen Paradigmen von Beschleunigung und Stillstand positionieren und dabei das Problem der Gegenwartsfixierung zwischen den Koordinaten Zukunft und Vergangenheit verorten. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Überlegungen häufig im Modus kulturkritischer Skepsis entwickelt werden, soll zugleich nach der Form, der Rhetorik und dem Gestus der Gegenwartsdiagnosen gefragt werden, nach den Erzählmustern, den Narrativen, mit denen hier Krisenszenarios entwickelt und Verfallsgeschichten erzählt werden. 5 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, S. 39. 6 | Ebd., S. 39f. 7 | Ebd., S. 40ff.; vgl. Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München 1992 (urspr. 1990) sowie Kodalle, Klaus M./Rosa, Hartmut (Hg.): Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels: Konsequenzen und Grenzen, Würzburg 2008.

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Wenn dabei deutlich wird, dass die Argumentationslinien häufig nicht erst mit der Digitalisierung einsetzen, sondern historisch weiter zurückreichen, spricht das nicht notwendig für eine Vordatierung oder Relativierung der Ansätze. Es wird vielmehr ein weiter ausgreifender Zusammenhang erkennbar, der die gegenwärtigen Konstellationen einerseits in den Zeitstrukturen der Moderne, andererseits aber auch insofern ›nach der Digitalisierung‹ verortet, als diese nicht etwa erledigt, sondern zum Normalfall geworden ist.8 Denn auch wenn viele Gegenwartsdiagnosen der letzten Jahre ihre Beobachtungen direkt auf Prozesse und Konsequenzen der Digitalisierung beziehen, ist mit der Etablierung des World Wide Web Mitte der 1990er Jahre und den nachfolgenden Entwicklungen im Bereich von Smartphones und Social Media ein Zustand erreicht, in dem digitale technologische Innovationen auch insofern zum Standard geworden sind, als sie in ein Ensemble eingebettet sind, in dem verschiedene, alte wie neue Medien koexistieren und aufeinander bezogen werden. So ist die in den 1990er Jahren noch vorherrschende Rede von ›Neuen Medien‹ in den vergangenen Jahren zunehmend gegenüber Reflexionen zu Verschränkungen zwischen alten und neuen Medien zurückgetreten.9 ›Digitalisierung‹ nimmt in den einschlägigen Debatten nunmehr häufig die Funktionsstelle ein, die zuvor von den ›Neuen Medien‹ besetzt war, betrifft bei genauerem Hinsehen aber zumeist Zusammenhänge, die insofern ›nach der Digitalisierung‹ zu verorten wären, als diese zwar weiterhin eine wichtige Rolle spielt, aber nicht mehr eigens hervorgehoben werden müsste, zumal analoge und digitale Konstellationen längst vielfach ineinandergreifen.10

1. G egenwartsschock – D ougl as R ushkoff Gleichwohl wird dem Schlagwort der Digitalisierung weiterhin eine immense Suggestivkraft zugeschrieben. Dabei kommt, das zeigt nicht zuletzt Rushkoffs Present Shock, der flächendeckenden Verwendung des Adjektivs ›digital‹ eine wenigstens doppelte Funktion zu. Es fungiert nicht nur als Symptom für das Problem des Gegenwartsschocks, sondern zugleich als Ausweis für die Aktualität der vorgelegten Analyse – auch wenn sich zeigt, dass das Problem nicht in jeder Hinsicht neu ist. Wenn Rushkoff seine Beobachtungen zum »digital optimierten Tagesablauf«, zum »rigiden digitalen Zeitregime«, zum »digitalen Leben« in der »digitalen Welt« im »digitalen Universum« in das pathologisch aufgeladene Bild der »Digiphrenie« überführt, weist er selbst darauf hin, dies sei »nur die neueste Stufe einer langen, leidvollen Entwicklung«, und fügt hinzu: »[J]edes Mal, wenn sich unser Verhältnis zur Zeit veränderte, hatte das Auswirkungen auf unser Menschenbild.«11

8 | Vgl. Cramer, Florian: What is »Post-digital?«, in: APRJA (URL: www.aprja.net/?p=1318 [1.9.2018]). 9 | Einschlägig in dieser Hinsicht vor allem das Konzept der »Remediation«, vgl. Bolter, Jay D./Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge 2000. 10 | Zur Verwendung des Schlagworts der Digitalisierung vgl. Passig, Kathrin/Scholz, Aleks: Schlamm und Brei und Bits. Warum es die Digitalisierung nicht gibt, in: Merkur 69, 2015, H. 798, S. 75-81. 11 | D. Rushkoff: Present Shock, S. 78, 80, 83.

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Eine Eigenheit jenes »Phänomens unserer unmittelbaren Gegenwart«, das er in Anlehnung an Alvin Tofflers Konzept des »Future Shock« nunmehr als »Present Shock« bezeichnet,12 liegt für Rushkoff darin, dass es bei aller Gegenwartsfixierung gleichwohl »wenig mit Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit zu tun« hat.13 Denn entgegen der sich zunächst aufdrängenden Vermutung führen die Echtzeittechnologien der Smartphones, der Zustand des always-on und die korrespondierenden Konsumkreisläufe Rushkoff zufolge nicht zu einer intensiveren Fokussierung auf die Gegenwart. Die permanente Fixierung auf die Gegenwart tendiert seiner Auffassung nach vielmehr dazu, dass man diese gar nicht mehr wahrnimmt: »Der Versuch, den flüchtigen Moment einzufangen, macht aus unserer Kultur ein einziges entropisches, statisches Rauschen. Erzählstrukturen und Ziele lösen sich auf, und was übrig bleibt, sind verzerrte Aufnahmen vom Echten und Unmittelbaren in Form von Tweets und Status-Updates. Was wir gerade im Augenblick tun, wird wichtiger als alles andere – mit verheerenden Folgen.«14

Neben »Digiphrenie«, »Überspanntheit«, »Fraktalnoia« und »Apokalypsie«, die Rushkoff in den entsprechend betitelten Kapiteln als Pathologien des Gegenwartsschocks entfaltet, ist es ein grundlegender »Narrativer Kollaps«, den er im ersten Kapitel seines Buchs ausführlich als Folge der Gegenwartsfixierung konstatiert. Unterstützt durch eine in der Addition eindrucksvolle Aufreihung von Beispielen, die Filme, Fernsehserien, Reality-TV, Fernsehwerbung und Computerspiele wie auch die Occupy-Bewegung und – vorgestellt als »erste genuin präsentistische Bewegung« – die Tea Party umfassen, lässt er wenig Zweifel daran, dass ›die Medien‹ und deren weltweite digitale Vernetzung für den Kollaps von kohärenten Erzählstrukturen verantwortlich sind.15 Da die Beispielketten jedoch nicht mit einer ähnlich eindrucksvollen Argumentation unterlegt werden, verliert sich der Text zunehmend in seinen reichhaltigen Redundanzen. Dabei bleibt die Rede vom »Kollaps des Erzählens«, die die von Rushkoff entfaltete Verfallsgeschichte gleichsam antreibt, ähnlich vage wie das Gegenbild einer »narrativen Weltordnung« mit ihren »traditionellen Narrativen«.16 Denn auch wenn einiges dafür spricht, dass die Nutzer das Fernsehen durch den Einsatz der Fernbedienung »dekonstruiert« haben, führt das nicht notwendig zu dem Schluss, das Fernsehen habe dadurch die Fähigkeit verloren, »kohärente Geschichten zu erzählen«.17 Sichtbar wird hier nicht die gegenwärtige Komplexität von Mediengebrauch und Medienrealität, sondern vielmehr ein Wunsch nach kohärenten Erzählstrukturen, nach »linearen Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss«, nach »großen Geschichten«.18 An die Stelle von Differenzierung und Analyse, die angesichts der vielen bemerkenswerten Beispie12 | Toffler, Alvin: Future Shock, New York 1970; eine deutsche Übersetzung erschien im gleichen Jahr unter dem Titel Der Zukunftsschock, München 1970. 13 | D. Rushkoff: Present Shock, S. 13. 14 | Ebd., S. 16. 15 | Diese und weitere Beispiele finden sich im Kapitel Narrativer Kollaps, ebd., S. 19-75, Zitat S. 61. 16 | Ebd., S. 37, 39. 17 | Ebd., S. 32f. 18 | Ebd., S. 32, 28

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le wünschenswert wären, rückt ein Impuls, der nach dem postmodernen »Ende der großen Erzählungen« deren Rückkehr herbeizuwünschen scheint – und auf diesem Weg zugleich jene Vorstellungen vom »Echten und Unmittelbaren« zu restituieren versucht, deren Verlust Rushkoff ebenso beklagt.19 Entsprechend schwach bleibt auch die zu Beginn des Buches ausgegebene Forderung nach einer Intervention: »Wenn sich alles unkontrollierbar beschleunigt, ist manchmal Geduld das Einzige, was hilft. Drückt auf Pause.« Am Ende, nach knapp 300 Seiten, ist Rushkoff kaum weiter: Man kann widerstehen, ermuntert er seine Leserinnen und Leser, weil wir »innehalten – und wieder loslegen können«.20 Das ist in der Sache sicher nicht falsch, angesichts der durchaus pausenlosen Verkettung von Beispielen, die Rushkoffs eigenes Buch strukturiert und es somit eher als weiteres Symptom denn als Analyse des diskutierten Problems erscheinen lässt, aber letztlich wenig überzeugend – es sei denn, man gibt sich damit zufrieden, der allgegenwärtigen Beschleunigung Oasen der Entschleunigung entgegenzusetzen.21

2. G egenwartsvergessenheit – W olfgang H agen Dass eine Stärke von Rushkoffs Buch darin liegt, eingefahrene Bilder und Argumentationsmuster anschaulich zu aktualisieren, wird noch deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass sich die Medienwissenschaft schon seit geraumer Zeit dem Problem der Gegenwartsfixierung widmet und dabei auf vergleichbaren Wegen zu vergleichbaren Einsichten kommt. In historisch ausgreifender und zugleich gegenwartsdiagnostisch pointierter Weise hat dies Wolfgang Hagen 2003 in seinem Buch Gegenwartsvergessenheit gezeigt.22 Bei Hagen wird deutlich, dass vieles von dem, was Rushkoff später der Digitalisierung anlasten wird, schon einige Jahrzehnte zuvor den Diskurs über die ›Neuen Medien‹, insbesondere die Massenmedien bestimmt hat. Ausgehend von der Beobachtung, »dass vor lauter Gegenwart nichts als Gegenwart und nur die Gegenwart zählt, der gegenüber alles Andere verrauscht und verklingt«, problematisiert Hagen die Gegenwartsfixierung durch Medien wie das Fernsehen. »Diese Gegenwart ist die Gegenwart der elektronischen Massen19 | Zum »Ende der großen Erzählungen« vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, Wien 1999 (urspr. 1979). 20 | D. Rushkoff: Present Shock, S. 268. 21 | »Exklusiv für Rushkoff-Leser« bietet Present Shock den Zugang zur »(OFFTIME)-App«: »Mit (OFFTIME) bestimmst Du, mit wem Du wann verbunden bist. So kannst Du leichter das tun, was jetzt gerade wichtig ist. Schalte ab und sei ganz bei Deiner Arbeit, bei den Menschen, die Dir wichtig sind, oder genieß einfach einen Moment der Ruhe« (URL: http://off​ time.co/rushkoff [20.3.2017]); zu »Entschleunigungsoasen« und zu »Entschleunigung als Ideologie« vgl. Rosa, Hartmut: Bewegung und Beharrung in modernen Gesellschaften. Eine beschleunigungstheoretische Zeitdiagnose, in: K. M. Kodalle/H. Rosa (Hg.): Rasender Stillstand, S. 3-21, hier S. 16f. 22 | Hagen, Wolfgang: Gegenwartsvergessenheit. Lazarsfeld – Adorno – Innis – Luhmann, Berlin 2003; die folgenden Überlegungen habe ich zunächst in einem anderen Zusammenhang skizziert, vgl. Schumacher, Eckhard: »Immer neu loslegen wie neu.« Gegenwartsfixierung als Programm, in: Brokoff, Jürgen/Geitner, Ursula/Stüssel, Kerstin (Hg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur, Göttingen 2016, S. 311-323.

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medien«, von denen alle »modernen Industrienationen«, so schreibt Hagen das hier einschlägige Kollektivsymbol aus, »überflutet« sind.23 Aus der Flut trete »nur eine einzige Gegenwart hervor«, nämlich »die, die von den Massenmedien selbst erzeugt wird«.24 Auf Basis der Beobachtung, dass Massenmedien »räumliche Verhältnisse und Begebenheiten […] unter dem einen, ausschließlichen Gesichtspunkt der Zeit« abbilden, entwickelt Hagen seine Vorstellung von Gegenwartsvergessenheit, die im Modus von permanenter Aktualisierung der Gegenwart diese selbst aus dem Blick verliert: »In der Nomenklatur der Massenmedien trägt diese Zeitstruktur den Namen Aktualität. Alles, was gezeigt, bebildert oder berichtet wird, schnurrt darin auf eine Gegenwart zusammen, die ein selbstähnliches Muster zeigt.«25 »Gegenwartsvergessenheit« heißt in diesem Sinn für Hagen »nicht nur, dass vor lauter Fixierung auf die Aktualität von iterativ erzeugten Gegenwarten diese selbst überlagert, vergessen und verborgen bleiben«, sie erzeugt zugleich eine, wie Hagen schreibt, »Gier nach mehr«.26 Hagen baut seine Überlegungen unter anderem auf Harold A. Innis mediengeschichtlichen Thesen auf, denen zufolge sich die »raumgreifenden Monopole« Presse und Radio von den früheren Kommunikationstechnologien insofern unterscheiden, als diese »(noch) über ein Wissen von Dauer, Vergangenheit und Zukunft« verfügten. »Presse, Radio und Fernsehen hingegen sind Medien«, resümiert Hagen, »die technologisch und ökonomisch auf ein ›Jetzt‹, d.h. auf ihre instantane Ersetzung, und nicht auf die Dauerhaftigkeit einer Speicherung Bezug nehmen.«27 Die »Geltung« der »Grund-Generatoren« Nachrichten und Werbung liege »allein im Jetzt ihrer Übermittlung« und verlange »deshalb ständig nach Erneuerung«.28 Entsprechend seien »Nachrichten, wie sie Massenmedien verbreiten, […] ihrer Struktur nach Jetztberichte, und damit strukturell Börsenkursen äquivalent«. Hagen begrenzt diese Charakterisierung nicht auf Nachrichten und Werbung, sondern bezieht sie insgesamt auf die Massenmedien und verzeichnet so schon für die 1950er Jahre einen Gegenwartsschock, wenn er mit Innis folgert: »Es sind die modernen Massenmedien, die eine ›Episteme‹ und einen Wissensraum monopolisieren, in welchem auf die Frage, was morgen kommt, keine Antworten mehr möglich sind, außer, dass es ein System sein wird, das wiederum auf Gegenwartsfixierung setzt.« 29

23 | W. Hagen: Gegenwartsvergessenheit, S. 7. 24 | Ebd. 25 | Ebd., S. 8. 26 | Ebd., S. 12, 19; Hagen verweist an dieser Stelle auf Überlegungen von Avital Ronell, Hannes Böhringer und Norbert Bolz. 27 | Ebd., S. 118. 28 | Ebd., S. 118f. 29 | Ebd., S. 120.

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3. »U nd je t z t…« – N eil P ostman und A ndy W arhol Mitte der 1980er Jahre wurden die Überlegungen von Innis öffentlichkeitswirksam von Neil Postman aufgenommen, der in seinem Bestseller Wir amüsieren uns zu Tode den »Diskursmodus des ›Und jetzt…‹« sowie die darauf auf bauende »›Und jetzt…‹-Kultur« als Verfallssymptome einer durch die Unterhaltungsindustrie bestimmten Gesellschaft medien- und kulturkritisch anprangert: »Mit ›Und jetzt…‹ wird in den Nachrichtensendungen von Radio und Fernsehen im allgemeinen angezeigt, daß das, was man soeben gehört oder gesehen hat, keinerlei Relevanz für das besitzt, was man als nächstes hören oder sehen wird, und möglicherweise für alles, was man in Zukunft einmal hören oder sehen wird, auch nicht. Der Ausdruck ›Und jetzt…‹ umfaßt das Eingeständnis, daß die von den blitzschnellen elektronischen Medien entworfene Welt keine Ordnung und keine Bedeutung hat und nicht ernst genommen zu werden braucht.« 30

Postman aktualisiert auf diese Weise eine in kulturkritischen Kreisen auch schon vor der Erfindung des Fernsehens vorgebrachte Klage über eine »Welt der Bruchstücke, in der jedes Ereignis, bar jeder Verbindung zur Vergangenheit, zur Zukunft oder zu anderen Ereignissen, für sich steht«.31 Und wie einige Jahrzehnte später Rushkoff überführt auch Postman seine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart über einige Umwege in den Diskurs der Pathologie: »Ich gehe so weit zu behaupten, daß dem surrealistischen Rahmen der Fernsehnachrichten eine Theorie der Anti-Kommunikation zugrunde liegt, die einen Diskurstyp propagiert, der Logik, Vernunft, Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit preisgegeben hat. In der Ästhetik bezeichnet man diese Erscheinung zumeist als Dadaismus, in der Philosophie als Nihilismus, in der Psychiatrie als Schizophrenie.« 32

Zur gleichen Zeit, 1985, mit ähnlichen Argumenten, aber ohne die Absehbarkeit der Pathologisierung und den apokalyptischen Ton, beschreibt Andy Warhol in seinem Buch America das gleiche Phänomen als ein ebenso verstörendes wie faszinierendes Moment einer massenmedial geprägten Umwelt: »But the real news, the big thing, whether it’s in the magazines or the newspapers or on TV, is the Now: What they’re doing right now, where they live right now, who they love right now. And as soon as their now gets summed up we move immediately on to another person … and another now.« 33

Die Fokussierung auf die Gegenwart, die Aktualität eines jeweils neuen »jetzt« wird, losgelöst von sinnstiftenden Zusammenhängen, zum bestimmenden, jede Erinnerung und jedes Verharren auslöschenden Modus der Zeitwahrnehmung:

30 | Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a.M. 1985, S. 125, 129, 123f. 31 | Ebd., S. 136. 32 | Ebd., S. 130. 33 | Warhol, Andy: America, New York 1985, S. 27.

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»We don’t have time to remember the past, and we don’t have the energy to imagine the future; we’re so busy, we can only think: Now!«34 Postman und Warhol treffen aus unterschiedlichen Positionen aufeinander, rücken beide aber kulturelle Praktiken der Vervielfältigung von Gegenwart in den Blick, die, wie Dirk Baecker schreibt, »mit den Verbreitungsmedien Zeitung und Fernsehen möglich geworden sind, nämlich Praktiken einer extremen Aktualisierung, die zu ihrem eigenen Verständnis weder auf Vergangenheit noch auf Zukunft, sondern auf weitere, im nächsten Moment bereits folgende Aktualisierungen verweisen.« 35

So unterscheidet sich Warhols keineswegs ungebrochene Faszination zwar deutlich von Postmans kulturkritischer Problematisierung der »Und jetzt…«-Kultur, in der Diagnose ihrer Strukturen sind sich beide aber durchaus einig: Beide begreifen eine eng fokussierte Fixierung auf die Gegenwart als Kennzeichen massenmedial vermittelter Kommunikation und mithin als Zeichen der Zeit. Der »Gegenwartsschock«, den Rushkoff dreißig Jahre später angesichts der weltweiten digitalen Vernetzung konstatiert, erscheint auch aus dieser Perspektive nicht als ein substanziell neues Problem, sondern in dem Maß als konsequente Fortführung und Zuspitzung von Praktiken einer extremen Aktualisierung, in dem Rushkoff auf der Ebene des kritischen Diskurses fortführt, was bei Postman mehr als nur angelegt ist.

4. J e t zigkeit – D avid G elernter »Noch nie zuvor standen wir an einem so aufregenden und gefährlichen Punkt der technologischen Entwicklung wie heute«, schreibt David Gelernter 2010 in einem von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Auftrag gegebenen Manifest, das sich unter dem Titel »Die Zukunft des Internet« als eine weitere Gegenwartsdiagnose unter den Vorzeichen der Digitalisierung präsentiert.36 Auch Gelernter, der als Informatiker und Computerwissenschaftler wie als technikskeptischer Publizist aufgefallen ist, entfaltet kein prinzipiell neues, aber ein gleichwohl neu zu reflektierendes Problem, wenn er feststellt: »Die Netzkultur ist eine Kultur der Jetzigkeit.« Zur Erläuterung der Lage aktiviert Gelernter eine Reihe von Topoi, die Postman schon in der Debatte über das Fernsehen und die »Und jetzt…«-Kultur ausgespielt hat, die genau genommen aber spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks die Diskurse über ›Neue Medien‹ strukturieren.37 »Jetzigkeit blendet alle anderen Momente als diesen einen aus«, entwirft Gelernter sein Bild einer »idealen Internetkultur«, die er »von Jetzigkeit überflutet« sieht »wie eine Strandpromenade 34 | Ebd.; vgl. dazu auch Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003. 35 | Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin ²2001, S. 178f. 36 | Gelernter, David: Die Zukunft des Internet, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.2.2010. 37 | Vgl. dazu Kümmel, Albert/Scholz, Leander/Schumacher, Eckhard (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn 2004.

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vom Meerwasser«. In der Flut von »Jetzigkeit« geraten für Gelernter Geschichte und Vergangenheit zunehmend aus dem Blick: »Je mehr wir über das Jetzt lernen, desto weniger wissen wir über das Damals. […] Der Effekt der Jetzigkeit gleicht dem der Lichtverschmutzung in Großstädten, die es unmöglich macht, die Sterne zu sehen. Eine Flut von Informationen über die Gegenwart schließt die Vergangenheit aus. […] Das Internet verzerrt gewaltig zugunsten des Jetzt.« 38

Auch hier wird über die Bildfelder von Überflutung, Verschmutzung und Verzerrung ein Krisenszenario entwickelt, das schnell katastrophische Züge annimmt. Mit dem Modus des »Lifestream«, der in Form von Timelines die Darstellung von »Information-im-Fluss« ermöglicht, setzt Gelernter dem Bild der Überflutung aber zugleich das einer beruhigenden Kanalisierung entgegen. Veranschaulicht als »Strom mit einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft«, bei dem »die Zukunft […] durch die Gegenwart und in die Vergangenheit« fließt, ermöglicht der »Lifestream«, so die Grundidee des von Gelernter selbst Mitte der 1990er Jahren an der Yale University in Umlauf gebrachten Konzepts,39 eine vergleichsweise unaufwändige Koordination von Gegenwart und Zukunft: »Fließen Dokumente oder Nachrichten vorbei, die wichtig aussehen, für die man aber gerade keine Zeit hat, so kopiert man sie einfach in die Zukunft, zum Beispiel auf ›heute Abend um zehn‹, und dann kommen sie wieder vorbei.«40 Auf diese Weise kann aber nicht nur die Gegenwart in die Zukunft »kopiert« werden, auch das vermeintlich verdrängte »Damals« kann auf neue Weise in den Blick kommen. So ergeben sich mit Hilfe von »Lifestreams« nicht zuletzt auch neue Zugriffsmöglichkeiten für Historiker, die trotz der Überflutung von Jetzigkeit »Zeitleisten historischer Daten zusammenstellen, erörtern und immer weiter verfeinern« können.41 Eher implizit verweist Gelernter hier auf einen Aspekt, der in den Überlegungen zu »Jetzigkeit« und »Gegenwartsschock« häufig aus dem Blick gerät: Digitalisierung und Vernetzung arbeiten nicht nur den Paradigmen von Gegenwartsfixierung, Beschleunigung und Aktualität zu, sondern machen und halten aufgrund immenser Speicherungskapazitäten auch vermeintlich vergangene Dokumente, Daten und Dateien auf neue Weise verfügbar. In dieser Hinsicht wäre es grob verkürzend, die Möglichkeiten, die das Internet eröffnet, auf die Weiterführung jener Gegenwartsfixierung zu beschränken, die Innis mit Blick auf die Massenmedien Radio und Fernsehen hervorgehoben hat. Erscheint es genau genommen schon fraglich, ob die Geltung von Nachrichten in diesen Medien allein im »Jetzt ihrer Übermittlung« liegt,42 korrespondiert dem ›Gegenwartsschock‹ der digital vernetzten Kommunikation immer auch der Modus der Speicherung, Verfügbarkeit und Verfügbarmachung dessen, was nicht mehr einfach im Sinne eines »Damals« abgelegt werden kann.

38 | D. Gelernter: Die Zukunft des Internet, S. 25. 39 | Vgl. Livestreams. Organizing Your Electronic Life (URL: www.cs.yale.edu/homes/free​ man/lifestreams.html [1.9.2018]). 40 | D. Gelernter: Die Zukunft des Internet, S. 25. 41 | Ebd. 42 | W. Hagen: Gegenwartsvergessenheit, S. 118.

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5. B reite G egenwart – H ans U lrich G umbrecht An diesem Punkt setzen Hans Ulrich Gumbrechts Überlegungen zur »breiten Gegenwart« an, dessen Gegenwartsdiagnose sich, obwohl sie andere Akzente setzt und andere Theoriereferenzen bemüht, in vielen Punkten mit denen von Rushkoff, Hagen und auch Gelernter trifft. Gumbrecht geht in Unsere breite Gegenwart, 2010 erschienen, noch einen Schritt weiter, wenn er die Fokussierung auf die Gegenwart mit dem von ihm gleichermaßen konstatierten Ende der »historischen Zeit« verknüpft.43 In einem »neuen Chronotop«, den er in der Ablösung von der »Zeit-Konfiguration des ›historischen Denkens‹« ausmacht, erscheint Zukunft nicht mehr als Möglichkeitsraum, sondern als Bedrohung. Zudem, so ruft auch Gumbrecht das hier offenbar unausweichliche Bild auf, »überschwemmen Vergangenheiten unsere Gegenwart«.44 Nicht die Überflutung durch »Jetzigkeit« erscheint hier als Problem, Gumbrecht ruft das Bild vielmehr in umkehrter Perspektive auf, sieht die Gegenwart durch »Vergangenheiten« überschwemmt und kann so an Friedrich Nietzsches Metaphorik in »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« anschließen, wo dieser im Blick auf die Griechen wie auf seine eigene Gegenwart in der »Ueberschwemmung« durch das »Vergangne« die Gefahr sieht, »an der ›Historie‹ zu Grunde zu gehen«.45 Gegenwart ist für Gumbrecht im neuen Chronotop, für den »die Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale Rolle spielt«, zu einer »sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten« und mithin als »breite Gegenwart« konturlos geworden: »Alle jüngeren Vergangenheiten sind Teil dieser sich verbreiternden Gegenwart, es fällt uns schwer, irgendeinen Stil oder irgendeine Musik der vergangenen Jahrzehnte aus der Gegenwart auszuschließen.«46 Um das aus seiner Sicht »wirklich Neue« der gegenwärtigen »Hyperkommunikation« herauszustellen, »ihre Allgegenwart«, betont Gumbrecht das Verschwinden der Dimensionen von Vergangenheit wie Zukunft in der allgemeinen Verfügbarkeit und nähert sich so auch wieder den Überlegungen zu »Nowness« und »Present Shock« an: »In der heutigen elektronischen Gegenwart ist weder Platz für etwas ›Vergangenes‹, das wir zurücklassen müßten, noch für etwas ›Zukünftiges‹, das nicht durch simulierte Vorwegnahme ins Hier und Jetzt geholt werden könnte. Alles ist immer ›verfügbar‹.«47 Was Gumbrecht der digitalisierten Hyperkommunikation entgegensetzt, ist die Suche nach Präsenz, die »Insistenz« auf Präsenz-Bedürfnissen. Das ist naheliegend, bleibt angesichts der durchaus komplexen Gegenwartsverhältnisse jedoch etwas unbefriedigend, zumal wenn sich die »Präsenz-Perspektive«,48 wie Aleida Assmann dargelegt hat, als nicht viel mehr denn als eine Reaktivierung von Nietzsches Lebens-Begriff präsentiert, demzufolge ›echte‹ Kultur »nur aus dem

43 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S. 16. 44 | Ebd., S. 14, 16. 45 | Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, München 21988, Bd. 1, S. 243-334, hier S. 333. 46 | H. U. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, S. 16. 47 | Ebd., S. 116, 131. 48 | Ebd., S. 11f. u. pass.

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Leben hervorwachsen und herausblühen« könne.49 Weiterführend erscheint hingegen Gumbrechts Vorschlag, die »Form der Oszillation« als »konstitutiv für die Gegenwart« zu sehen50 – vor allem, wenn man die Oszillation nicht auf die Polarität von allgegenwärtiger Hyperkommunikation und singulären Präsenzmomenten beschränkt, sondern auch auf das Spannungsfeld zwischen Beschleunigung und Stillstand bezieht.

6. R e tromania – S imon R e ynolds und M ark F isher Gumbrechts Thesen zur »breiten Gegenwart«, die von Vergangenheiten überschwemmt wird, treffen sich in einigen Punkten mit den Überlegungen, die der Popkritiker Simon Reynolds in seinem Buch Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann entfaltet hat. »Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung«, schreibt Reynolds und legt so gleich zu Beginn seines Buchs nahe, dass die »größte Gefahr für die Zukunft« der Pop-Musik »ihre eigene Vergangenheit« sei.51 Wenn »die Klänge aus jeder einzelnen Epoche gleichermaßen als aktuelle Musik verfügbar sind«, schreibt Reynolds in Übereinstimmung mit Gumbrecht, »hat die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in der Gegenwart enorm zugenommen«.52 Und in diesem Fall handelt es sich um eine Vergangenheit, die unter den Vorzeichen von Pop gerade dadurch gekennzeichnet war, nicht auf Erinnerung und Vergangenheit, sondern auf den »Pulsschlag des JETZT« zu setzen, bei der es um die »Verheißung der Gegenwart« geht, die nun aber, so Reynolds Beobachtung, in ihr Gegenteil umgeschlagen zu sein scheint, wenn man sieht, in welchem Maß »die Gegenwart von Pop in den 2000ern immer mehr von der Vergangenheit verdrängt wurde, sei es durch die Erinnerungen aus dem Archiv des Gestern oder als Retro-Rock, der sich an alte Stile klammerte.«53 Aus dieser Sicht wird die Gegenwart geprägt durch ein scheinbar grenzenlos verfügbares Archiv, das im Netz über Plattformen wie YouTube oder hochspezialisierte Blogs die Geschichte der Pop-Musik vergegenwärtigt und dieser zudem permanent zuvor kaum bekanntes Material hinzufügt. Obskure Fundstücke, übersehene Klassiker, historische Momente wie auch unspektakuläre Nebenwege der Popmusik sind leicht verfügbar, immer schon vernetzt, jederzeit bereit zur instantanen Aktualisierung. Auch das hat Reynolds im Blick, wenn er die Gegenwart der Popmusik durch ihre eigene Vergangenheit bedroht sieht. Entsprechend nimmt er zwar skeptisch, in der Sache aber durchaus bestätigend die These der Cyberpunk-Autoren William Gibson und Bruce Sterling auf, die »heutige Jugend« lebe

49 | Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 248, 253; vgl. F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 326. 50 | H. U. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, S. 132. 51 | Reynolds, Simon: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, Mainz 2012, S. 17. 52 | Ebd., S. 375. 53 | Ebd., S. 18, 25.

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»in einer Art endlosem digitalen Jetzt«, das einem »Zustand der Zeitlosigkeit« gleichkomme und zu einer grundsätzlichen »Zukunftsmüdigkeit« führe.54 Diese Diagnose teilt prinzipiell auch der Kulturwissenschaftler, Journalist und Blogger Mark Fisher, wenn er in seiner Essaysammlung Ghosts Of My Life mit Blick auf Popmusik, Fernsehserien und weitere Ausprägungen der Popkultur eine Deflation von Erwartungen ausmacht.55 Wie Reynolds konstatiert Fisher, dass die Gegenwart auf außergewöhnliche Weise auf die Vergangenheit ausgerichtet sei, wobei nicht nur das »historische Verständnis von Zeit«, sondern letztlich die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart selbst zusammenbreche.56 Internet und mobile Telekommunikationstechnologien haben, argumentiert Fisher, die Alltagskommunikation insofern grundlegend verändert, als die Kultur die Fähigkeit verloren habe, die Gegenwart zu erfassen und zu artikulieren – wenn es denn überhaupt noch eine Gegenwart geben sollte, die man erfassen und artikulieren kann. Denn die Omnipräsenz eines frei verfügbaren Archivs führt in dieser Logik nicht nur dazu, dass unter »den Bedingungen digitaler Erinnerung […] der Verlust selbst verloren« geht.57 Da »dank VHS, DVD und YouTube […] praktisch alles jederzeit verfügbar« ist, drängt sich für Fisher zudem der Eindruck auf, dass es »keine Gegenwart mehr gibt, die sich fassen und artikulieren ließe«, kein »Jetzt« mehr gibt, das man von einer Vergangenheit abgrenzen und historisch reflektieren könnte.58 So erscheint der »Zusammenbruch zeitlicher Ordnung«, den Fisher zu Beginn seines Buches im Rückgriff auf die letzte Folge der britischen Fernsehserie Sapphire and Steel aus dem Jahr 1982 imaginiert, »wie der Vorgeschmack eines verallgemeinerten Zustands, in dem das Leben weitergeht, doch die Zeit irgendwie zum Stillstand gekommen ist«.59 Die Stärke von Fishers Gegenwartsdiagnose baut wie im Fall einiger anderer hier skizzierter Ansätze auf gut gewählten Beispielen auf, verliert aber an Überzeugungskraft, wenn man von den Beispielen abstrahiert oder sie in weitere Zusammenhänge rückt. So wie kritisch zu diskutieren wäre, ob mit dem Sinn für eine tatsächlich auf die Gegenwart bezogene »Nowness« unweigerlich auch der Sinn für »Newness« verloren geht, bleibt trotz überzeugender Beispiele Fishers These durchaus fraglich, die experimentelle Kultur des 20. Jahrhunderts sei noch durch ein »recombinational delirium« gekennzeichnet gewesen, das Neuheit und Gegenwärtigkeit unendlich verfügbar erscheinen ließ, während das 21. Jahrhundert nur noch von Endlichkeit und Erschöpfung erdrückt werde.60 Dieser Schematismus fügt sich zwar passgenau in die Argumentation ein, die ein weiter ausgreifendes, in vielen Hinsichten bedenkenswertes Verfallsszenario im post-fordistischen Kapi-

54 | Ebd., S. 352; vgl. dazu auch Sterling, Bruce: Unser quälendes Unbehagen. Denken im Internet-Zeitalter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.3.2010. 55 | Fisher, Mark: Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures, Winchester 2014; zitiert wird nach der deutschen Übersetzung: Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin 2015. 56 | Ebd., S. 21, vgl. auch S. 13 u. pass. 57 | Ebd., S. 10. 58 | Ebd., vgl. auch S. 18f. 59 | Ebd., S. 14. 60 | Vgl. etwa ebd., S. 24ff.

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talismus entfaltet,61 bleibt aber eine letztlich schwer nachvollziehbare Behauptung. Sie erscheint trotz der unübersehbaren Retro- und Nostalgie-Wellen ebenso wenig tragfähig wie die von Fisher und Reynolds gleichermaßen vertretene These, auf der Ebene der Form herrsche gegenwärtig deshalb Stillstand, weil die Pop-Musik ihre Entwicklung durch die Dominanz von Pastiche und Repetition selbst blockiere. Was in dieser Argumentation, die Stillstand und Erstarrung diagnostiziert, leicht aus dem Blick gerät, ist die Tatsache, dass es durch das historische Anwachsen und die neue Verfügbarkeit des Archivs auch möglich wurde, genauer zu erkennen, dass die Gegenwartsfixierung als Kennzeichen von Pop nie so geschichtsund referenzlos war, wie sie sich selbst gelegentlich dargestellt hat und von einigen gesehen wurde. »Nowness« war für Pop immer ein Prinzip, das Vergangenheit, Historizität und Referentialität gerade nicht ausblendet, sondern in der scheinbar gegenläufigen Fixierung auf die Gegenwart immer zugleich aufruft und dementiert.62 So wurde – und wird – im Modus von Pop in der Fokussierung auf die Gegenwart immer auch das Versprechen erneuert, dass es weiter geht, ohne jedoch Prognosen über das ›Wie‹ hinzuzufügen. »Tomorrow never knows«, das letzte Stück auf dem 1966 veröffentlichten Beatles-Album mit dem bezeichnenden Titel Revolver, ist insofern in mehrfacher Hinsicht auch heute noch programmatisch zu verstehen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden gleichermaßen adressiert, jedoch so, dass sich ihre Parameter verschieben, dass die vermeintliche Ordnung der Zeit durch Projektionen, Rekursionen und time loops aus den Fugen gerät. An solchen Komplikationen der Zeitverhältnisse, die Vorstellungen von Stillstand und Ende nachhaltig unterminieren, setzt das Konzept der Hantologie an, das Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen ›Ende der Geschichte‹ und der allgemeinen Verabschiedung von Marx nach 1989 entwickelt hat.63 In Marx’ Gespenster konturiert Derrida Zukunft als ein Versprechen, das in Form einer gleichsam programmierten Unvorhersehbarkeit unkontrollierbare Ambivalenzen freisetzt und über die Figur eines wiederkehrenden Gespensts die Grenzziehung von An- und Abwesenheit ebenso aus den Fugen geraten lässt wie die überkommene Ordnung der Zeit. So kommen unvorhersehbare Irritationen in den Blick, die man, wie Derrida zeigt, gerade dann produktiv machen kann, wenn man sie nicht stillzustellen versucht. Mark Fisher und Simon Reynolds haben Mitte der 2000er Jahre durch Zeitschriftenartikel und Blog-Posts das Konzept der ›Hauntology‹ in den Pop-Diskurs implementiert, wo es seitdem auch insofern angekommen ist, als es auf der Ebene von Diskussionsbeiträgen, etwa in den angeführten Büchern von Reynolds und Fisher, wie in der Ausdifferenzierung neuer Sounds und Pop-Subgenres weiter proliferiert. Auf der Suche nach Beschreibungsmustern für die gespenstig-melancholischen Rhythmen und Klänge, für die digitalisierte Wiederkehr von längst vergangen geglaubtem Schallplattenknistern und anderen Reminiszenzen an ein analog verfasstes Pop-Universum, die etwa auf Leyland Kirbys einschlägig betitelten

61 | Vgl. dazu Fisher, Mark: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2013. 62 | Vgl. dazu und zum Folgenden Schumacher, Eckhard: Popkolumne. Vergangene Zukunft: Repetition, Rekonstruktion, Retrospektion, in: Merkur 69, 2015, H. 788, S. 58-64. 63 | Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995.

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Album Sadly, The Future Is No Longer What It Was zu entdecken waren,64 kam Derridas zeitgleich auch in der Kunstszene kursierendes Konzept wie gelegen. Die sich in dieser Hinsicht eröffnenden Möglichkeiten für die Geschichtsschreibung wie für die Gegenwartsfokussierung der Pop-Musik lassen sich allerdings nur dann weiterdenken, wenn man bereit ist, sich auf die Figur des Gespensts (und das Prinzip des Loops) im Sinne einer Wiederholung mit Differenz einzulassen, die gerade nicht auf Erstarrung und Stillstand abzielt. Eher noch als bei Fisher und Reynolds selbst, die trotz gegenläufiger Tendenzen immer wieder Figurationen eines Endes entwerfen, lässt sich das Potenzial ihrer Überlegungen an einem weit ausgreifenden, Popmusik, Film, Kunst und viele weitere Felder und Subfelder verknüpfenden Blog-Post des Musikwissenschaftlers Adam Harper zum Stichwort ›Hauntology‹ studieren, das vielleicht auch deshalb andere Akzente setzen kann, weil der im Vergleich viel jüngere, 1986 geborene Harper aufgrund seines Alters viele Zusammenhänge tatsächlich erstmals und damit neu entdecken kann.65 Reynolds verweist zwar auf »die sonderbare Nostalgie für die wundervollen Tage des ›Leben im Jetzt‹ […], die man tatsächlich nicht erlebt hat«, verkürzt diesen Ansatz dann aber mit der Annahme, die 1960er Jahre seien durch eine »Nichtexistenz von Revivals und Nostalgie« geprägt und gingen auf »in ihrer völligen Fixiertheit auf die Gegenwart«.66 Denn das ist angesichts der vielfältigen Verknüpfungen, die in den 1960er Jahren zwischen Gegenwartsfixierung, Historisierung und Referentialisierung zu beobachten waren, ebenso ungenau wie der Ansatz, die 1970er und 80er Jahre als Zeit der »reinen Kreativität« zu beschwören. Was Reynolds in der Vergangenheit von Pop sucht und findet, sind »Wellen der ursprünglichen Produktion«, ist der »völlig originäre musikalische Einfall«, ist »künstlerische Authentizität«, sind, auf jeder der letzten Seiten des Buchs wiederholt, »Originalität und Innovation«.67 In der Gegenwart findet er hingegen nur eine »Rezession der Kreativität«, eine »Degradierung von Innovation«, das von den letzten Seiten auf das ganze Buch zurückstrahlende Horrorszenario einer »Recreativity«, die mit ihren Verfahren des Pastiche, des Zitats, der Wiederholung »unfruchtbar und parasitär« sei, »unfruchtbare und parasitäre Werke« hervorbringe und somit künstlerischen Stillstand produziere.68 Reynolds Gegenwartsdiagnose, die auch in dieser Hinsicht zur Erstarrungs-These tendiert, teilt so vor allem etwas über seine eigene Position gegenüber gegenwärtigen Phänomenen mit. Die in seiner Argumentation längst schon entschiedene Vision einer verschwundenen Gegenwart lässt nicht nur eine tiefe Abneigung gegen die Postmoderne sichtbar werden, sondern auch ein merkwürdiges Desinteresse an der eigenen Gegenwart – und das, obwohl er selbst deutlich macht, wie vielversprechend allein das Pop-Subgenre der ›Hauntology‹ für eine neu ansetzende Analyse der Zeitverhältnisse in der Gegenwart sein kann. 64 | Vgl. dazu M. Fisher: Gespenster, S. 34. 65 | Vgl. etwa die Überlegungen von Harper, Adam: Hauntology. The Past Inside The Present, in: Rouge’s Foam. Excessive Aesthetics, 29.10.2009 (URL: http://rougesfoam.blogspot. it/2009/10/hauntology-past-inside-present.html [1.9.2018]). 66 | S. Reynolds: Retromania, S. 33. 67 | Vgl. ebd., S. 381-403, das abschließende Kapitel »Recreativity. Die Hinterfragung des Innovations- und Originalitätsmythos«. 68 | Ebd., S. 403.

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Zugleich macht Reynolds’ Buch deutlich, dass eine Gegenwartsdiagnose ohne Reflexion auf die eigene Positionierung, auf das eigene Verhältnis zu eben jener Gegenwart, die Gegenstand der Diagnose ist, wenig wünschenswert erscheint. So ist es zunächst als Gewinn zu werten, wenn man in Rushkoffs Buch vor allem etwas über seinen »Gegenwartsschock« erfährt, wenn Fisher schon im Titel verdeutlicht, dass es um die Gespenster meines Lebens geht, und auch Gumbrecht über seine spezifische Sicht auf Unsere breite Gegenwart reflektiert. Der je spezifische, individuelle Blick wird als solcher durchaus offensiv hervorgehoben, führt jedoch gleichwohl nicht zu einer Relativierung der entsprechenden Diagnosen. Dem Rekurs auf die eigene Erfahrung, die individuelle Perspektive, die je spezifische Fokussierung der Weltwahrnehmung steht vielmehr eine Tendenz zur Verallgemeinerung entgegen. Im Modus eines essayistischen Schreibens, das sich von konventionellen akademischen Schreibweisen ebenso absetzt wie vom Komplexitätsanspruch wissenschaftlicher Analysen, wird die individuelle, häufig auch subjektiv fokussierte Perspektive vielmehr zur Grundlage für jene Einsichten, die dann in Form von umfassend angelegten Gegenwartsdiagnosen präsentiert werden – und die eine gleichermaßen umfassende Deutungskompetenz für sich beanspruchen. Die Annahme, dass sich der hier hervorgehobene Gestus des Zeitdiagnostikers nicht zuletzt einer spezifisch ›männlichen‹ Attitüde verdankt, kann sich angesichts der ausgewählten Gegenwartsdiagnosen, die allesamt von Männern stammen, durchaus aufdrängen. Und sie lässt sich durch medienwissenschaftliche oder soziologische Studien zu Veränderungen der Zeitverhältnisse im Zuge der Digitalisierung, wie sie etwa Sarah Sharma oder Judy Wajcman vorgelegt haben, auch nicht ohne Weiteres entkräften. Denn wenn Sharmas In the Meantime. Temporality and Cultural Politics und Wajcmans Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism Veränderungen der Zeitverhältnisse und der Zeitreflexion im Zuge der Digitalisierung in den Blick nehmen, wenden sie sich zwar ebenfalls den einschlägigen Konzepten von Akzeleration, Entschleunigung und Stillstand zu, sie verschieben die Perspektive aber zugleich und nehmen dabei, medienwissenschaftlich wie soziologisch reflektiert, auch die politischen Implikationen von medialen Dispositiven und Mediendiskursen mit in den Blick.69 Dabei ist in diesen Büchern weder der Gestus der Zeitdiagnostik noch die grundlegende kulturkritische Skepsis auszumachen, die die hier angeführten Autoren gleichermaßen verbinden. Sie lassen sich mit ihren differenzierten, an konkreten Konstellationen entwickelten, durchaus auch subjektiv geprägten, zugleich aber theoretisch fundierten und politisch reflektierten Analysen nicht in die lange Reihe kulturkritischer Gegenwartsdiagnostik einfügen, über die Autoren wie Rushkoff, Reynolds oder Gelernter die eingeführten Muster von Krisenrhetorik und Verfallsgeschichten fortschreiben. Wenn, was insbesondere bei Rushkoff unübersehbar ist, an die Stelle von Analyse und Differenzierung eine Form der Zeitdiagnostik rückt, die über die Entfaltung von Krisenszenarien und den Abruf eingefahrener Bilder Evidenz zu be69 | Sharma, Sarah: In the Meantime. Temporality and Cultural Politics, Durham/London 2014; Wajcman, Judy: Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism, Chicago/London 2015; vgl. dazu, mit kritischen Hinweisen auf die erste Fassung des vorliegenden Beitrags, Sprenger, Florian: Alternativen zur Gegenwart, in: Merkur Blog, 20.4.2018 (URL: https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/04/20/alternativen-zur-gegenwar t-replik-au​f -​ eckhard-schumacher/[1.9.2018]).

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haupten versucht, wird nicht zuletzt auch der Wunsch nach Deutungshoheit in einer tendenziell überübersichtlichen Situation sichtbar. Die Hoffnung, mit der vermeintlich maßgeblichen Diagnose zu den Konsequenzen der Digitalisierung nicht zu spät zu kommen, kann, auch das können die hier vorgestellten Texte verdeutlichen, zu einer Verengung der Perspektive führen, die nicht zu weiteren Analysen verleitet, sondern eher zu einem Rückgriff auf vorliegende Muster und Narrative. Der wiederholt beobachtbare Ansatz, den Wunsch nach (oder die Klage über den Verlust von) Unmittelbarkeit und Präsenz als Gegenentwurf zum medial induzierten Gegenwartsschock – oder ganz allgemein zur Digitalisierung – in Szene zu setzen, folgt diesem Weg.

7. A bsolute G egenwart ? Es könnte weiterführend wirken, auch in dieser Hinsicht mit und gegen Gumbrecht die »Form der Oszillation« als »konstitutiv« zu sehen,70 nicht nur für die »Gegenwart«, sondern auch für den zeitdiagnostischen Diskurs. Die Polarität von allgegenwärtiger Hyperkommunikation und singulären Präsenzmomenten lässt sich vor allem dann als ein Zusammenhang erfassen, wenn man weder eine Seite präferiert oder verabsolutiert noch auf eine vermittelnde Synthese abzielt. Auch die Kraftfelder, die in den diversen Gegenwartsdiagnosen zwischen Fragmentierung und Totalisierung, zwischen Beschleunigung und Stillstand, zwischen Akzelerationsemphase und Entschleunigungspathos sichtbar werden, kommen deutlicher in den Blick, wenn man sich in die Lage versetzt, die Seiten zu wechseln, Oszillationen wahrzunehmen und dies auch in der eigenen Darstellung, für die eigene Zeitdiagnose, das eigene Zeitbild nicht zu vergessen. »Von der eigenen Zeit zu sprechen oder zu schreiben, scheint immer auch zu bedeuten, an einem Bild zu arbeiten, ein Bild der Gegenwart zu entwerfen, indem man der Zeit Elemente entnimmt und ihnen eine Form gibt«, reflektiert Marcus Quent in dem von ihm herausgegebenen Band Absolute Gegenwart seinen Versuch, das Bild der »Vereinheitlichung der Zeit« in der »absoluten Gegenwart« zu konturieren.71 Die kleine Form eines Merve-Readers, der unterschiedliche Zugänge, verschiedene Perspektiven, offene Reflexionen vor Augen stellt und ermöglicht, erscheint dabei als eine mögliche Gegenstrategie zu der im Band selbst benannten Gefahr, im »Bild der ›absoluten Gegenwart‹« die für die Gegenwart konstatierte »Beschneidung des Mannigfaltigen, die Vereinheitlichung des Gegenwärtigen« zu wiederholen.72 So baut der Band durchaus auf der von Marcus Steinweg festgehaltenen Überzeugung auf, dass »der Begriff der Gegenwart konstanter Infragestellung bedarf«.73 Zugleich unterläuft das Buch aber seine Prämissen, wenn die »Zementierung der Gegenwart«, der »Totalismus des Heute«, das »Verschwinden der Gegenwart« in immer wieder neuen Wendungen konstatiert und derart ein70 | H. U. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, S. 132. 71 | Quent, Marcus: Absolute Gegenwart. Die Vereinheitlichung der Zeit, in: Ders. (Hg.): Absolute Gegenwart, Berlin 2016, S. 16-27, hier S. 21. 72 | Ebd., S. 21ff. 73 | Steinweg, Marcus: Gespenstische Gegenwart, in: M. Quent (Hg.): Absolute Gegenwart, S. 162-172, hier S. 162.

»Wenn alles jet zt passier t«

dringlich festgeschrieben wird, dass das entworfene Bild letztlich kaum mehr zu unterscheiden ist von den »Krisendiskursen und Verfallsgeschichten«, die im Buch ganz schlüssig als »Teil der absoluten Gegenwart« begriffen werden.74 Auf andere Weise gilt dies auch für den von Armen Avanessian vielfältig in Umlauf gebrachten Vorschlag, spekulatives Denken als Modus und Movens für eine Neubestimmung nicht nur des Begriffs der Gegenwart, sondern überhaupt für die Analyse von Veränderungen der Zeitverhältnisse produktiv zu machen. Gegenwartsfixierung erscheint aus dieser Perspektive nicht daher problematisch, weil sie Vergangenheit, Zukunft oder den vermeintlich eigentlichen Kern der Gegenwart vernachlässigt, sondern weil sie – gleichsam anachronistisch – an Konzepten von Gegenwart und Aktualität festhält, über die nicht realisiert werden kann, dass im Zeitalter von Finanzspekulation, Big Data und Steuerung durch Algorithmen die Gegenwart längst deaktualisiert ist, da die Zeit »aus der Zukunft« kommt und die Zukunft die Gegenwart »als primären strukturierenden Aspekt der Zeit ersetzt«.75 Man muss die Konsequenzen aus dieser Überlegung nicht teilen, um sehen zu können, wie das, was Avanessian in Der Zeitkomplex im Gespräch mit Suhail Malik entwickelt, ein Zusammendenken von Digitalisierung und Veränderungen in der Auffassung von Zeit ermöglicht, das weder die einschlägigen Verfallsgeschichten fortschreibt noch dem eigenen akzelerationsgeschulten Technikoptimismus verfällt. In einem Gespräch mit Hartmut Rosa, veröffentlicht im Rahmen des Schwerpunktthemas »Augenblick, verweile« im Philosophie Magazin, kommen noch bemerkenswerte polemische Spitzen gegen die Sehnsucht nach Entschleunigungsoasen oder die »Ideologie des Ganz-im-Hier-und-Jetzt-Seins« hinzu, die in überraschend vielen Gegenwartsdiagnosen im Hintergrund aktiv bleiben.76 Zugleich wird im Austausch der in manchen Hinsichten gegenläufigen Positionen von Avanessian und Rosa deutlich, wie eng es werden kann, wenn ein solcher Wechsel der Perspektiven ausbleibt. Es ist wohl schon dann einiges gewonnen, wenn die der Gegenwart gerade angesichts der Konsequenzen der Digitalisierung verschiedentlich zugeschriebenen Simultaneitäten, wenn ihre Asynchronie und ihre Multiplizität nicht nur konstatiert, sondern auch in der Form der Gegenwartsdiagnose, auf der Ebene des kritischen Diskurses und im Begriff der Gegenwart tatsächlich reflektiert werden. Wenn die Möglichkeit zur Oszillation auch auf der Ebene des kritischen Diskurses stärker genutzt wird, wenn das, was als Gegenwart erscheint, aus mehr als nur einer Perspektive in den Blick genommen wird, werden Alternativen zu den vorherrschenden Paradigmen Beschleunigung und Stillstand, mit denen die hier vorgestellten Autoren bevorzugt operieren, sichtbar. So lassen sich letztlich wohl auch Gegenwartsdiagnosen entwickeln, die weiter reichen als die, die Reynolds ans Ende seines Buches stellt: »Wir leben in einer paradoxen Mischung aus Geschwindigkeit und Stillstand.« 77 74 | Quent, Marcus: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Absolute Gegenwart, S. 7-15, hier S. 15. 75 | Avanessian, Armen/Malik, Suhail: Der Zeitkomplex, in: Dies. (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary, Berlin 2016, S. 7-36, hier S. 8. 76 | Wie viel Zukunft verträgt die Gegenwart? Ein Streitgespräch zwischen Hartmut Rosa und Armen Avanessian, in: Philosophie-Magazin 5, 2016, H. 5, S. 60-65, hier S. 60. 77 | S. Reynolds: Retromania, S. 377.

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Zukunftspraktiken Praxeologische Formanalysen des Kommenden* Hannes Krämer

1. E inleitung Die Zukunft kommt! Thematisch, theoretisch und vermeintlich unvermeidlich. In den Sozial- und Kulturwissenschaften hat das Thema Zukunft spätestens seit der Jahrtausendwende (wieder) verstärkt Konjunktur. Das schlägt sich in zahlreichen Einzeldeutungen nieder, welche die Zukunft als Katastrophe,1 als Risikoszenario,2 als Frage der Resilienz3 oder auch als Präventionsfolie4 zeichnen. Auch in den stärker theoretischen Auseinandersetzungen scheint das Kommende, zumindest als Unsicherheits- und Ungewissheitsfaktor, immer präsenter zu werden.5 Trotz der im Detail deutlichen Unterschiede der verschiedenen Analysen operieren diese mit einer Zukunftskonzeption, die nicht, wie vormoderne, zyklische Zeitmodelle, auf * | Die Überlegungen in diesem Beitrag gehen auf Diskussionen im Forschungsprojekt ›Temporale Grenzen der Gegenwart. Zur zeitgenössischen Praxis der Zukunftsbearbeitung‹ zurück, welches von 2014-2017 am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION in Frankfurt (Oder) durchgeführt wurde. Geleitet wurde das Projekt von Jochen Koch, Hannes Krämer und Andreas Reckwitz, vgl. zu den Ergebnissen Koch, Jochen u.a.: Zum Umgang mit Zukunft in Organisationen – eine praxistheoretische Perspektive, in: Managementforschung 26, 2016, S. 161-184; Reckwitz, Andreas: Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft, in: Ders. (Hg.): Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, S. 115ff.; Krämer, Hannes/ Wenzel, Matthias (Hg.): How Organizations Manage the Future – Theoretical Perspectives and Empirical Insights, London/New York 2018. 1 | Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M 2014. 2 | Zinn, Jens O.: Recent Developments in Sociology of Risk and Uncertainty, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Research 7, 2006, S. 275-286. 3 | Endreß, Martin/Maurer, Andrea (Hg.): Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen, Wiesbaden 2014. 4 | Lakoff, Andrew: Preparing for the Next Emergency, in: Public Culture 19, 2007, S. 247271. 5 | Esposito, Elena: Beyond the Promise of Security. Uncertainty as Resource, in: Telos. Critical Theory of the Contemporary 170, 2015, S. 89-107; Nowotny, Helga: The Cunning of Uncertainty, Cambridge 2015.

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die Wiederkehr des Immergleichen setzt, sondern auf die Potenzialität und Kontingenz des Kommenden. Sicher ist nicht, was geschieht; sicher ist aber, dass etwas geschieht, was sich prinzipiell von einem Heute unterscheidet. Historisch wird eine solche Fokussierung der Dynamik der Zukunft mit dem Anbruch der Moderne gesetzt.6 Während vormoderne Zeitkonzepte häufig noch als zyklisch beschrieben werden, das heißt als Ablauf wiederkehrender Elemente im Fortlauf der Zeit, wie es etwa im Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten ist, setzen moderne Zeitkonzepte bis in die ca. 1970er Jahre auf die Veränderung der Gegenwart durch technische Verfahren,7 was allerdings die Auseinandersetzung mit disruptiven Ereignissen wie Revolutionen, Krieg und eigendynamischen Impulsen keineswegs ausschließt. Zugespitzt lässt sich in der organisierten Moderne (ca. 1890-1970) Zukunft noch als stringente (Fort-)Entwicklung aus der Vergangenheit in die Zukunft begreifen, wobei mithilfe technisch-rationaler Verfahren die Unsicherheit der Zukunft entproblematisiert wird. Zukunftsbearbeitung ist hier der Versuch konsequenter Reaktionen auf prognostisch bestimmbare, das heißt wahrscheinlich eintretende, kommende Herausforderungen. Spätestens seit dieser Phase erhält auch die Zukunft eine maßgebliche Bedeutung für die Selbstvergewisserung von Gesellschaften, da die Positionierung gegenüber einer offenen Zukunft einen integralen Bestandteil der Selbstbeschreibung darstellt.8 Antworten auf die Frage, wie sich Gesellschaften, Organisationen oder auch Subjekte gegenüber der Zukunft verhalten, dienen maßgeblich der Ausbildung individueller sowie kollektiver Identitäten und Handlungsprogramme. In der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft hingegen gerät die Zukunftssicherheit als lineare Fortentwicklung ins Wanken. Zeitanalytische Studien zeigen, dass sich die Bedeutung zeitlicher Ungewissheit verstärkt, die Hoffnung auf technische Lösungen erodiert und sich Zeit- und Zukunftskonzepte pluralisieren.9 Spätmoderne Temporalordnungen zeichnen sich demnach durch eine ›Verzeitlichung der Zeit‹ aus, nach der in den jeweiligen gesellschaftlichen Feldern und Situation entschieden wird, welche Prozesse, durées, Reihenfolgen von Ereignissen und Handlungen wichtig werden. Der vorliegende Beitrag schließt an diese Deutung der Pluralisierung und Dynamisierung des Kommenden an, möchte allerdings einen spezifischen Analyserahmen vorstellen, der als Erweiterung geläufiger soziologischer Perspektiven auf Zukunft verstanden werden kann. Es soll darum gehen, die Konturen einer praxeologischen Zukunftsanalyse zu umreißen und damit die geläufigen soziologischen Perspektiven auf das Kommende – nämlich die Präokkupation mit risikobehafteter Zukunft von gesellschaftsumfassender Tragweite und die Fokussierung auf mentale Zukunftsvorstellungen – zu erweitern. Eine solche Analyse interessiert sich für die sozialen Praktiken, in denen Akteur*innen Zukunft imaginieren, erhoffen, befürchten, darüber reden, kurzum sich dieser gegenüber praktisch verhalten und sie somit hervorbringen. 6 | Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999. 7 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Temporalstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. 8 | Kaiser, Mario: Neue Zukünfte – Gegenwarten im Verzug, in: Maasen, Sabine u.a. (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie, Wiesbaden 2012, S. 395-408. 9 | Vgl. Urry, John: Sociology Beyond Societies. Mobilities for the Twenty-First Century, Oxon/New York 2000; Ders.: What is the Future?, Cambridge 2016.

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Damit ist eine Zukunftspraxeologie immer auch eine Analyse von Gegenwarten und ein maßgeblicher Bestandteil der Rekonstruktion kultureller Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung, womit sie maßgeblich an die Diskussion im vorliegenden Band zur Gegenwart als Objekt der Diagnose anschließt. Zum einen lässt sich aus den Ängsten und Hoffnungen gegenüber dem Kommenden sowie einem damit verbundenen praktischen Verhalten viel über die Jetztzeit sagen. Das ist eine therapeutische wie gleichermaßen soziologische Binsenweisheit. Zum anderen haben praxistheoretische Analyseperspektiven ein herausgehobenes Interesse an der Gegenwart. Sie untersuchen die praktischen und kontextgebundenen Hervorbringungen vergangener oder gegenwärtiger Gegenwarten in den Details körperlicher und artefaktgebundener Praxis.10 Entsprechend interessiert sich eine Untersuchung von Zukunftspraktiken auch für andere zukunftsaffine Analysen von Gegenwarten und damit maßgeblich auch für Gegenwartsdiagnosen.11 Diese werden aus der Perspektive einer Praxeologie des Kommenden als eine spezifische Zukunftspraxis begriffen, demnach sich dafür interessiert wird, in welcher Art und Weise ausgehend vom Jetzt und Hier Kommendes entworfen wird. Damit teilen beide Ansätze, die Analyse von Gegenwartsdiagnosen wie auch die Untersuchung von Zukunftspraktiken, wichtige Grundannahmen: Sie sind an einem Verständnis von Gegenwarten als sich verändernde Entitäten interessiert und haben damit prinzipiell einen Zukunftsbezug. Allerdings unterscheidet sich das Programm der hier umrissenen Zukunftspraxeologie im Detail von einer Gegenwartsdiagnostik hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes sowie der Analyseperspektive. Aus einer praxeologischen Sicht, die an den praktischen Zukunftsherstellungen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen interessiert ist, sind die diagnostischen Verfahren, die Gegenwart zu beschreiben und ihre temporale Verlängerung anzudenken, nur eine Variante neben anderen. Gegenwartsdiagnosen lassen sich quasi als ein funktionales Äquivalent hinsichtlich der Selbst- und Fremdpositionierung sozialer Entitäten (Personen, Gruppen, Gesellschaften) gegenüber dem Kommenden analysieren. Dies bedeutet, diese Form des Gegenwartsbezugs selbst zum Gegenstand einer Analyse von Zukunftspraktiken zu machen und das spezifische Verhältnis verschiedener Temporalitäten in den Blick zu nehmen. Während eine Zukunftspraxeologie versucht, die Gegenwart von ihrer (evozierten, imaginierten und immer praktisch hervorgebrachten) Zukünftigkeit her zu begreifen, muss eine Gegenwartsdiagnose diesen Punkt nicht zwingend ins Zentrum rücken. Vielmehr ist die Extrapolation der Deutung des ›Jetzt‹ in eine Zukunft eine Kann-Option und 10 | Dieser Fokus auf die Beobachtbarkeit und Gegenwärtigkeit der Praxis hat sie bislang nicht als geeignete Position in Erscheinung treten lassen, um methodologische Orientierung für Prognosen zu bieten oder gar zukünftige Entwicklungen zu präjudizieren. Andere sozialtheoretische Positionen oder empirieorientierte Verfahren sozialwissenschaftlicher Prognostik und des Forecastings sowie die mehr oder minder benachbarte Futurologie scheinen geeigneter zu sein, Vorhersagen über die Zukunft zu treffen, auch wenn der Status der Untersuchungen zwischen öffentlichkeitswirksamer, gleichsam spekulativer Zeitdiagnostik auf der einen und wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse auf der anderen Seite oszilliert. 11 | Vgl. Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011; Dimbath, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik. Generation – Gesellschaft – Prozess, Paderborn 2016.

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hängt von der (rhetorischen) Überzeugungsarbeit der jeweiligen diagnosestellenden Personen ab.12 Um zu verstehen, was eine solche zukunftspraxeologische Perspektive für die Analyse von Gegenwartsdiagnostik bedeuten kann, soll im Folgenden zuerst eine allgemeine Heuristik der Analyse von Zukunftspraktiken umrissen werden, um diese dann anschließend auf den Fall der Analyse von Gegenwartsdiagnostiken zu beziehen. So wird deutlich, worin der Gewinn eines solchen Unterfangens liegt. Bevor die Spezifik einer praxeologischen Untersuchung der Zukunft allerdings genauer in den Blick genommen wird, sollen die zwei maßgeblichen gegenwärtigen soziologischen Untersuchungslinien von Zukunft skizziert werden.

2. S oziologischer B lick auf die ›Z ukunf t‹ Auf den ersten Blick ist die Soziologie seit ihrer Gründung mit Zukunft befasst. Bei Auguste Comte über Karl Marx bis hin zu Max Weber, Emile Durkheim oder Georg Simmel geht es um Deutungen der Moderne als Ergebnis kapitalistischer, industrieller, technologischer und auch kultureller Umwälzungen und deren Extrapolation in zukünftige Zeiten – sei dies als Kulturkritik oder als teleologische Hoffnung. Weniger gesellschaftspolitisch, denn eher analytisch weisen diese Autoren mal mehr mal weniger deutlich auf die soziale Gemachtheit von Zukunft hin. Die Vorstellung, was als Zukunft gelten kann und damit auch, was als Vergangenheit oder Gegenwart zählt, verändert sich demnach in Abhängigkeit der technologischen, politischen und sozialen Gegebenheiten. Ein maßgeblicher Veränderungsschub lässt sich daher auch beim Übergang von modernen zu spätmodernen Zeitregimen beobachten – mit dem Ergebnis, dass Zukunft wieder zum Thema wird.13 Soziologisch wurde das Thema der Zukunft in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen analysiert: etwa in der Planungsforschung,14 in Studien zur Nachhaltigkeit,15 oder es wurden einzelne Zukunftsbezüge in verschiedenen sozialen Feldern wie der Finanzwirtschaft,16 der Wissenschaftspolitik17 oder bei einzelnen

12 | O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 317. 13 | Vgl. J. Urry: What is the Future? 14 | Siebel, Walter: Die Welt lebenswerter machen. Stadtplanung als Gesellschaftspolitik, in: Mittelweg 36 17, 2008, H. 6, S. 26-48. 15 | Görgen, Benjamin/Wendt, Björn: Nachhaltigkeit als Fortschritt denken. Grundrisse einer soziologisch fundierten Nachhaltigkeitsforschung. Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung 1, Münster 2015 16 | Langenohl, Andreas: Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft, Stuttgart 2007. 17 | Böschen, Stefan/Weis, Kurt: Die Gegenwart der Zukunft. Perspektiven zeitkritischer Wissenspolitik, Wiesbaden 2007.

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Praktikenkomplexen wie etwa der Szenarioanalyse18 oder der Simulation19 identifiziert. Daneben sind einflussreiche Studien in den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zum Thema Zukunft erschienen: Allen voran sind die Studien aus der Geschichtswissenschaft zu erwähnen, welche im Anschluss an Reinhart Kosellecks Reflexionen über die Konzeption des Vergangenen und des Kommenden20 den Wandel von Vorstellungen über die Zukunft beschrieben21 sowie auch konkrete epistemologische Zugriffe auf die Zukunft rekonstruiert haben.22 Darüber hinaus lässt sich ein literaturwissenschaftliches Interesse an einer ästhetischen sowie epistemologischen Dimension von Zukunftswissen feststellen.23 Neben und in erklärtem Bezug zu diesen Perspektivierungen stechen meines Erachtens vor allem zwei soziologische Thematisierungen des Kommenden heraus, die eine systematische Analyseposition gegenüber der Zukunft einnehmen: Dies sind zum einen die Studien zu gegenwärtigen Gefahren- und Sicherheitsdiskursen und zur Konturierung einer Zukunft als Risiko, Gefahr oder Katastrophe. Zum anderen sind es Analysen zu kollektiven Zukunftsvorstellungen, welche einen beinahe traditionellen Fokus soziologischer Zukunftsanalysen bilden.24 Beide Positionen formen das Zentrum soziologischer Beschäftigung mit dem Kommenden.

18 | Schulz-Schaeffer, Ingo: Scenarios as Patterns of Orientation in Technology Development and Technology Assessment. Outline of a Research Program, in: Science, Technology & Innovation Studies 9, 2013, S. 23-44. 19 | Schubert, Cornelius: Zukunft sui generis? Computersimulationen als Instrumente gesellschaftlicher Selbstfortschreibung, in: Cevolini, Alberto (Hg.): Die Ordnung des Kontingenten. Beiträge zur zahlenmäßigen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2014, S. 209-232. 20 | Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989. 21 | Frevert, Ute (Hg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000; L. Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft; Hölscher, Lucian: Zukunft und Historische Zukunftsforschung, in: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart/Weimar 2011, Bd. 1, S. 401-416; Minois, Georges: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf 1998. 22 | Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, Berlin/ Boston 2015. 23 | All diese Ebenen sind nicht mit der von den Sozialwissenschaften maßgeblich beeinflussten Futurologie (Flechtheim, Ossip K.: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln 1970) zu verwechseln. Diese verfolgt das Ziel, anwendungsorientiertes Wissen über die Zukunft bereitzustellen und nutzt dazu sowohl Prognosetechniken als auch futurologische Methodenkritik; vgl. Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013; Griffin, Michael J./Moylan, Tom (Hg.): Exploring the Utopian Impulse. Essays on Thought and Practice, Oxford u.a. 2007; E. Horn: Zukunft als Katastrophe; Weidner, Daniel/Willer, Stefan (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013. 24 | Bell, Wendell/Mau, James A.: Images of the Future, in: McKinney, John C./Tiryakian, Edward A. (Hg.): Theoretical Sociology. Perspectives and Developments, New York 1970, S. 205-234.

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2.1 Risiko, Gefahr, Prävention Innerhalb sozialwissenschaftlicher Zukunftsanalysen hat sich in den letzten dreißig Jahren das breite Feld der Risiko- und Sicherheitsforschung als zentraler Forschungsblick etabliert.25 Spätestens seit der Diagnose der Risikogesellschaft26 gerät die Zukunft als ein Sammelpunkt von Bedrohungsszenarien in den Blick. Diese Bedrohungen speisen sich aus den ökologischen, politischen, aber auch epistemologischen Veränderungen seit den ausgehenden 1960er Jahren als einem Zeitalter der »Planbarkeit und Machbarkeit«.27 Studien in diesem Umfeld knüpfen an die lange Tradition der Risiko- und Technikfolgenabschätzungen in der Militärforschung, Kybernetik und Steuerungstheorie an. Aus dieser Perspektive waren es vor allem verschiedene Planungstechniken und -verfahren, mithilfe derer der Ungewissheit von Zukunft adäquat begegnet werden konnte.28 Diese Plausibilität moderner Planungstechnologien wird allerdings brüchig in einer Gegenwartsgesellschaft, die durch eine Zunahme an komplexen Verflechtungslogiken auf sozialer, räumlicher, aber auch zeitlicher Ebene sowie aufgrund einer Zunahme an Nichtwissen und Risikolagen geprägt ist. Zukunft gerät hier als eine Grenze von Wissen, als ein grundlegendes Risiko der kommenden Entwicklungen in den Blick, die wiederum nicht planerisch ausgeglichen werden können. Entsprechend wird in diesem Zusammenhang der richtige Umgang mit Zukunft nicht als Planungsdefizit, sondern als grundsätzliche Kritik an der Planung selbst thematisiert.29 Soziologische Studien beschreiben diesen Wandel als eine Distanzierung von Risikoabschätzung und -berechnung und als ein Einstellen auf den Eintritt eines katastrophalen Ernstfalls mit gesamtgesellschaftlicher Reichweite.30 Ein solcher Wandel zieht maßgeblich auch eine Veränderung epistemischer Rationalität im Umgang mit diesen Gefahren-Herausforderungen nach sich,31 was sich etwa in der Ausbildung einer gesellschaftlichen Rationalität der Prävention32 zeigt. Dieses »Vorbeugungsparadigma« (F. Ewald) legt Strategien und Praktiken der Preemption, der antizipatorischen Überwachung, der Premediation, des allgemeinen Vorbereitetseins auf jegliche 25 | J. O. Zinn: Recent Developments in Sociology of Risk and Uncertainty. 26 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 27 | Metzler, Gabriele: Geborgenheit im gesicherten Fortschritt. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2003, S. 777-797. 28 | Bröckling, Ulrich: Alle planen, auch die, die nicht planen. – Niemand plant, auch die nicht, die planen. Konturen einer Debatte, in: Mittelweg 36 17, 2008, H. 6, S. 61-79. 29 | J. O. Zinn: Recent Developments in Sociology of Risk and Uncertainty. 30 | Adey, Peter/Anderson, Ben/Graham, Stephen: Introduction: Governing Emergencies: Beyond Exceptionality, in: Theory, Culture & Society 32, 2015, S. 3-17; Calhoun, Craig: A World of Emergencies: Fear, Intervention and the Limits of Cosmopolitan Order, in: Canadian Review of Sociology and Anthropology 41, 2004, S. 374-395. 31 | Opitz, Sven/Tellmann, Ute: Future Emergencies: Temporal Politics in Law and Economy, in: Theory, Culture & Society 32, 2015, S. 107-129. 32 | Bröckling, Ulrich: Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1, 2008, S. 38-48.

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Gefahren und der Resilienz nahe.33 Der Fokus dieses soziologischen Blicks ist vornehmlich auf die »großen Zukünfte«, die gesellschaftlichen, gar globalen Bedrohungen gerichtet und setzt dabei meist auf (Diskurs-)Analysen aus einer Makroperspektive. Die gesellschaftsumfassende Bedeutung einer solchen gefahrenvollen Zukunft verändert entsprechend also auch die Rolle der Zukunft innerhalb der Theorie: »Indizien […] nähren den Verdacht, dass die neuen métarécits uns nicht mehr über die Vergangenheit, sondern die Zukunft erreichen. Sie sind die neuen Alternativlosigkeiten, auf die wir zeitnah, proaktiv, flexibel, kreativ oder echtzeitig reagieren müssen«.34

2.2 Vorstellungen der Zukunft Einen zweiten Bereich soziologischer Studien bildet die Analyse von Zukunftsvorstellungen. Erfasst werden in diesem Zusammenhang Vorstellungen über kommende Zeiten, welche als kollektive Deutungsmuster untersucht werden und Aufschluss geben über die temporalen Orientierungen kollektiver Akteure.35 Auch wenn sich bei diesen Studien häufig über individuelle Schilderungen von Zukunft genähert wird, zielt die Analyse doch auf kollektive Zukunftsorientierungen, etwa von Gruppen wie Schüler*innen,36 Jugendlichen37 oder Sozialwissenschaftler*innen,38 aber ebenso von Nationen39 und Gesellschaften.40 Derartige Zukunftsvorstellungen – so die epistemologische Grundierung – entfalten ihre Wirkung maßgeblich in der Jetztzeit, da sie als »gegenwärtige Zukunft«41 an der Beschreibung und Hervorbringung sozialer Wirklichkeit beteiligt sind. Die Zukunftsvorstellungen wirken sich wiederum wahrnehmungs- und handlungsleitend auf die Einschätzung und Bewertung von Handlungsoptionen und -entwürfen aus, die mal die Menschheit als Gesamtes (etwa als imaginierte Schicksalsgemeinschaft im Angesicht des Klimawandels), mal einzelne Gesellschaften umfassen (etwa die Fragmentierung der Gesellschaft aufgrund eines umfassenden kulturellen Wandels). Trotz inhaltlicher Differenzen, ja im Detail sogar sich widersprechender Zukunftskonzeptionen, wird diesen Vorstellungen kollektive Orientierungskraft zu33 | Als Überblick: P. Adey/B. Anderson/S. Graham: Introduction. 34 | Kaiser, Mario: Über Folgen. Technische Zukunft und politische Gegenwart, Weilerswist 2015, S. 19. 35 | Hondrich, Karl Otto: Zukunftsvorstellungen, in: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 2001, S. 771-785. 36 | Unterbruner, Ulrike: Geschichten aus der Zukunft. Wie Jugendliche sich Natur, Technik und Menschen in 20 Jahren vorstellen, München 2011. 37 | Albert, Matthias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun: 17. Shell Jugendstudie. Jugend 2015, Frankfurt a.M. 2015. 38 | Bolte, Karl Martin: Auf dem Weg in eine andere Zukunft: Wandlungen der Zukunftsvorstellungen in den Sozialwissenschaften, in: Soziale Welt 43, 1992, S. 117-127. 39 | Honegger, Claudia/Bühler, Carolin/Schallberger, Peter: Die Zukunft im Alltagsdenken. Szenarien aus der Schweiz, Konstanz 2002. 40 | Uerz, Gereon: ÜberMorgen. Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, München 2006. 41 | Luhmann, Niklas: The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43, 1976, S. 130-153.

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gesprochen, mit inkludierenden und exkludierenden Effekten auf die Identität von Individuen, Gruppen und Gesellschaften.42 Vorstellungen darüber, was kommen wird, was es abzuwenden und welchen Ereignissen es sich zuzuwenden gilt, zählen zum festen Bestandteil von Selbst- und Fremdbeschreibung.43 Dabei werden die Zukunftsvorstellungen nicht selten in Abhängigkeit von sozialen Lagen positioniert. Eine Analyse von Zukunftsvorstellungen gibt demnach Aufschluss über die Zugehörigkeiten zu gewissen sozialen Milieus,44 über das Alter45 oder das Geschlecht der Akteur*innen.46 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass beide soziologischen Perspektiven auf die Zukunft lange Zeit vornehmlich Diskurse und Vorstellungen in den Blick genommen haben und die konkreten Praktiken und alltägliche Handlungslogiken vernachlässigten. Ebenso wurde sich häufig eher aus der Perspektive ›großer Zukünfte‹ angenähert und damit meta-narrative Deutungen des Kommenden, wie beispielsweise die der Katastrophe oder des Risikos, präferiert. Hier soll im Folgenden eine Ergänzung, zu Teilen ebenso eine Kritik dieser Perspektiven konturiert werden, die zentral auf die konkrete Handlungspraxis von Akteur*innen abstellt und dabei sowohl die ›großen‹, gesellschaftsumfassenden Visionen, wie auch die ›kleinen Zukünfte‹ alltäglicher Handlungswelten in den Blick nimmt. Eine solche praxeologische Perspektive auf die Zukunft interessiert sich maßgeblich für die körperlichen Routinen, die artefakt- sowie dinggebundenen Materialitäten und Medialitäten der Hervorbringung des Kommenden. Rationalitäten und Logiken der Prävention, des Risikos oder der Gefahr konkurrieren in der Dichte konkreter Körper, Praktiken und materialen Anordnungen mit anderen Zukunftsformaten. Sie erscheinen als eine Deutung neben anderen. Diskurse über die Zukunft sind dabei keineswegs ausgeschlossen. Sie sind im Kontext einer Zukunftspraxeologie in einen Zusammenhang mit nicht-diskursiven Praktiken eingebunden, sie stellen damit eine spezifische Perspektive dar. Der Forschungsfokus liegt also auf der Praxis selbst, welche als situative resp. kontextgebundene Aktivität, als ein »nexus of doings and sayings«47 soziologisch beobachtbar und beschreibbar wird. Der Erkenntnisgewinn einer solchen Perspektive liegt darin, die konkreten Konkurrenzen, Überlappungen und Verstärkungen verschiedener Zukunftsaktivitäten zu rekonstruieren, um das relationale Gefüge von Zukunft und dessen Präsenz greif bar zu machen.

42 | Schöneck, Nadine: Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger. Eine methodenintegrative Studie, Wiesbaden 2009. 43 | G. Uerz: ÜberMorgen, S. 21ff. 44 | C. Honegger/C. Bühler/P. Schallberger: Die Zukunft im Alltagsdenken. 45 | Zinnecker, Jürgen/Strzoda, Christian: Zeitorientierungen, Zukunftspläne, Identität. Von den Grenzen des Projektes Jugend, in: Silbereisen, Rainer K./Vaskovic, Laszlo A./Zinnecker, Jürgen (Hg.): Jungsein in Deutschland. Jugendliche und junge Erwachsene 1991 und 1996, Opladen 1996, S. 199-225. 46 | Trommsdorff, Gisela/Burger, Christine/Füchsle, Traudl: Geschlechterdifferenzen in der Zukunftsorientierung, in: Zeitschrift für Soziologie 9, 1980, S. 366-377. 47 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge, MA 1996, S. 89.

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3. Z ukunf tspr a xeologie Bei Praxistheorien handelt es sich um ein Ensemble heterogener Theoriestränge, die zwar nicht identisch sind, aber im Wittgenstein’schen Sinne eine Familienähnlichkeit aufweisen. Soziologische Praxistheorien teilen die Annahme, von sozialen Praktiken als kleinste Einheiten des Sozialen sowie deren Prozesshaftigkeit auszugehen. Damit wird etwas in den Blick gerückt, was von Anbeginn als strukturierte Aktivität begriffen werden kann, also als etwas, was Struktur und Handlung zugleich darstellt, ohne dabei einer subjektivistischen oder objektivistischen Erklärung den Vorzug zu geben. Von besonderem Interesse ist für Praxistheorien der sinnhafte Vollzug der vielfältigen Routinen, die alltäglich aus- und aufgeführt werden und die als solche situativ offen, zugleich aber auch sozial und kulturell strukturiert sind. Die Praxis als der genuine Untersuchungsgegenstand wie auch die Beobachtungsperspektive der Praxeologie weist damit eine spezifische Dynamik auf, die durch gruppenspezifische Aneignungen wie auch situative Hervorbringungen bestimmt ist. Diese Dynamiken operieren allerdings vor dem Hintergrund struktureller Routinevorgaben, die sich körperlich und artefaktbezogen niedergeschlagen haben. Diese gleichermaßen stabile wie auch veränderliche Praxis wird getragen von einer doppelten Materialität. Das bedeutet, dass sowohl teilnehmende Akteur*innen und ihre Körper, als auch die beteiligten Dinge und Artefakte als verschiedene »Partizipanden«48 die Praxis hervorbringen. Entsprechend wird die Gestalt der Praxis nicht in den vorgegebenen Strukturen oder den Intentionen der Individuen verortet, sondern aktivisch als ein Gefüge tätiger Relationierungen hervorgebracht. Des Weiteren begreifen Praxistheorien die Sozialwelt als ein Gefüge unterschiedlicher Elemente, als eine spezifische Konstellation von Körpern, Dingen, Artefakten und wiederum weiteren Praktiken. Analytisch geht es demnach auch immer um das spezifische Zusammenspiel verschiedener Praktiken und deren relationale Gestalt. Dabei lassen sich Praktiken identifizieren, die nur in spezifischen Feldern vorkommen und konstitutiv für diese sind – wie etwa religiöse Praktiken der Divination. Diese wurden von Theodore Schatzki als »integrated practices«49 beschrieben. Daneben aber lassen sich auch Praktiken beobachten, die in verschiedenen Feldern Anwendung finden. Ein Beispiel für derartige »dispersed practices«50 sind etwa Formen der Risikokalkulation, die sowohl in der Wissenschaft, als auch in der Wirtschaft und selbst im Familienleben Anwendung finden. Aufgrund der vielfältigen Ansätze, die als Praxistheorien geführt werden, hat sich kein umfassendes und gar konsensuales Theorievokabular ausgebildet. Vielmehr operieren Theorien sozialer Praktiken mit einem schlanken Begriffsapparat, der vor allem für materiale Analysen sensibilisieren soll. Sozialtheoretische Überlegungen werden entsprechend maßgeblich mit empirischen Forschungen verbunden.

48 | Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91. 49 | T. R. Schatzki: Social Practices, S. 89ff. 50 | Ebd., S. 91ff.

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3.1 Die Praxis der Zukunft Für die soziologische Analyse von Zukunft bedeutet ein derartig sozialtheoretisches Programm eine Ergänzung bisher gängiger Perspektiven.51 Zukunft wurde bislang vornehmlich aus einem subjektivistischen oder objektivistischen Blickwinkel untersucht. Ein objektivistisches Zeitverständnis betont die Neutralität und die Allgemeinheit des Temporalmodus des Kommenden. Zukunft wird demnach als situationsunabhängige, standardisierte und auch vergleichbare Kategorie verstanden, deren Abläufe prinzipiell identisch sind. Wenn etwa die Eintrittswahrscheinlichkeiten ökologischer Risiken berechnet werden, gilt dies für verschiedene gesellschaftliche Felder gleichermaßen – ganz unabhängig davon, welche ›Zeitkultur‹ innerhalb der einzelnen Felder vorherrscht. Ein subjektivistisches Verständnis von Zukunft hingegen fragt nach den spezifischen, individuell, kulturell und sozial verschiedenen Dimensionen des Zeiterfahrens und -erlebens. So wird dann die Potenzialität drohender Katastrophen in spezifischen Milieus der Mittelschicht anders wahrgenommen, als das etwa in Oberschichten der Fall ist.52 Praxistheorien nehmen nun eine Position jenseits dieser Dichotomie ein, indem sie sowohl die subjektiven als auch objektiven Zeit- und Zukunftsbezüge in ihre Analyse einbeziehen, jeweils um die andere Perspektive erweitern und damit auch diese klare Trennung unterlaufen. Zukunft wird als Resultat und zugleich als Bestandteil der jeweiligen Praxis verstanden. Praktiken vollziehen sich vor dem Hintergrund geronnener Zeitstrukturen, stehen zu diesen aber in keinem deterministischen Verhältnis. Vielmehr bringen Praktiken in ihrem Vollzug ihre eigene Zeitlichkeit, das heißt auch ihre eigene Zukünftigkeit, hervor, und beziehen damit sowohl die struktur- wie auch die situationsbezogene Dimension mit ein.53 Es lassen sich davon ausgehend54 prinzipiell drei Verhältnisse von Zukunft und Praxis herausstellen. Analytisch können die Zukünftigkeit von Praxis, die Zukünftigkeit von Praktiken und Zukunftspraktiken unterschieden werden. 1. Die Zukünftigkeit von Praxis bezieht sich auf die Zeitlichkeit der sozialen Praxis insgesamt. Diese verfügt als ein sich zeitlich entfaltender und räumlich verstreuter Nexus immer schon über eine Vergangenheit und Zukunft. Als relationales Gebilde ist die Praxis niemals isoliert, sondern über die geronnenen körper51 | Vgl. für das Folgende auch J. Koch u.a.: Zum Umgang mit Zukunft in Organisationen, S. 161-184. 52 | Diese Differenzierung zwischen einer vermeintlich objektiven und subjektiven Zeit findet sich an verschiedenen Stellen. In der Soziologie hält sie vor allem Einzug über die Rezeption von Henri Bergsons Zeitphilosophie – etwa bei Alfred Schütz (Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003). Bergson unterscheidet in seiner Dissertation zwischen einer räumlichen Zeit (le temps espaces) und einer erlebten Zeit (le temps durée) (Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena 1920). 53 | Schatzki, Theodore R.: A Primer on Practices. Theory and Research, in: Higgs, Joy u.a. (Hg.): Practice-Based Education. Perspectives and Strategies, Rotterdam 2012, S. 13-26. 54 | In Anlehnung an J. Koch u.a.: Zum Umgang mit Zukunft in Organisationen, und Reckwitz, Andreas: Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft, in: Ders. (Hg.): Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.

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lichen und artefaktgebundenen Routinen auf ihre Entstehung verwiesen. Darüber hinaus ist in diesen körperlichen Routinen und Artefaktbezügen ebenso eine Zukünftigkeit der Praxis angelegt, zielt doch der Routinecharakter auf die wiederkehrende Erreichung von Zielen, Zuständen und Situationen. Dies schließt eine prinzipielle Veränderlichkeit durch kommende Ereignisse keineswegs aus. Ob die Routinen Handlungserfolge zeitigen oder gar völlig neu adaptiert werden müssen, bleibt situationsoffen. Allerdings weist eine Praxis immer schon eine Zeitlichkeit auf, die neben einer Verknüpfung mit Vergangenem auch mit dem potenziell Kommenden verbunden ist. 2. Neben dieser prinzipiellen Zukunftsdimension von Praxis lassen sich einzelne Praktiken auch auf ihre spezifische Zukünftigkeit befragen und darüber unterscheiden. So finden sich Praktiken, die mehr oder weniger nachhaltig strukturiert sind, beispielsweise in ihrer Durchführung auf längere Zeitabschnitte hin orientiert oder über verschiedene Abfolgen organisiert sind – beispielsweise die Durchführung von Messintervallen, in denen einzelne Messungen wiederum andere, spätere Messungen nach sich ziehen und damit in ihrer ersten Ausführung bereits die zukünftigen Vollzüge dieser Praxis, zumindest prinzipiell, vorstrukturiert sind. Demgegenüber sind andere Praktiken auf punktuelle Ereignisse konzentriert – etwa der Besuch eines Konzerts. An dieses kann in der Zukunft immer angeschlossen werden, was wiederum über Praktiken der Erinnerung vollzogen wird, die als solche stärker auf die Vergangenheit hin orientiert sind. Im Vollzug der Praktiken ist damit ein temporaler Rhythmus angelegt, der ihre Auf- und Ausführung strukturiert. 3. Schließlich lassen sich davon noch die »Zeitpraktiken«55 abgrenzen, die dezidiert auf Auseinandersetzungen mit Zukunft gerichtet sind. Diese spezifischen Zukunftspraktiken können als Prozeduren der Hervorbringung zukunftsbezogener Muster sozialer Praxis begriffen werden sowie als Arten und Weisen, von Zukunft Gebrauch zu machen – beispielsweise Wahrsagen, Szenarios erstellen, Vorhersagen treffen etc. Sie strukturieren damit nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern finden Anwendung, sobald es um den Umgang mit dem Kommenden geht. Solche Praktiken umfassen gleichermaßen die vielfältigen Verfahren der Vorhersage, der Prognostik, der Divination ebenso wie Praktiken der Prävention, des Schutzes oder der Resilienz. Die Dimension der Zukunftspraktiken verweisen offenbar auf die Pluralität verschiedener Formen, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen und sich diese anzueignen.

3.2 Die Untersuchung von Zukunftspraktiken Im Zentrum einer soziologischen Praxeologie der Zukunft, die immer auch eine empirische Forschung ist, steht vornehmlich die Untersuchung dieser dritten Form  – der Zukunftspraktiken. Dabei liegt eine der großen Herausforderungen zunächst in der Identifikation des jeweils spezifischen Zukunftsbezugs der Praktiken, lässt sich doch, wie im Vorhergehenden herausgestellt, jeglicher Praxis ein Verweis auf Vergangenes und Kommendes attestieren – in einem phänomenologischen Sinne ein Verweis auf Erfahrung auf der einen und Erwartung auf der ande55 | Hörning, Karl H./Ahrens, Daniela/Gerhard, Anette: Zeitpraktiken. Experimentierfelder der Spätmoderne, Frankfurt a.M. 1997.

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ren Seite. Eine Zukunftspraxeologie identifiziert diesen Zukunftsbezug nicht aus der Logik der Theorie. Welche Praktiken schlussendlich als Zukunftspraktiken gelten können, ist eine Frage der Praxis. Zum einen unterliegen Zukunftspraktiken einem historischen Wandel, ihre Form ist Ergebnis sozialer und kultureller Entwicklungen. Verfahren der Vorhersage etwa haben sich im Kontext des Aufstiegs eines wissenschaftlichen-rationalen Zeitregimes maßgeblich verändert, mit dem Ergebnis, dass Techniken wie Simulation, Szenariotechnik oder Prognostik ältere Verfahren wie etwa die Weissagung, Orakelbefragung oder Zukunftsvisionen abgelöst oder zumindest ins Private verdrängt haben.56 Zum anderen erhalten Praktiken erst in ihrer sozialen Verankerung, also der Einbindung in soziale Geschehen, ihre Bedeutung. Die Praxis des Nichtstuns etwa erhält erst vor dem Hintergrund einer folgenreichen Entscheidungssituation den Charakter des Abwartens, der erst in dieser Relation und auch nicht selten im Nachhinein als strategischer Vorteil oder als paralysierte Schockstarre interpretiert wird. Entsprechend muss eine Zukunftspraxeologie in ihrer Analyse den Zukunftsbezug nachzeichnen. Die Frage, ob sich die zu analysierende Praxis tatsächlich adäquat als Zukunftspraktik beschreiben lässt, wird so zu einem ersten Ergebnis der Untersuchung. Zukunftspraktiken sind damit zu untersuchen als performative Gebilde, die der aktiven Aufführung bedürfen und die in dieser Aufführung zugleich Zukunft mit hervorbringen. So lassen sich dann Praktiken auch hinsichtlich ihrer Futurisierungs- und Defuturisierungsleistung befragen – also nach ihrer Form und ihrem Einfluss auf eine Zukunft, die sie zugleich mit hervorbringen. Der Zukunftspraktik der Prognose etwa wird zuweilen eine de-futurisierende Funktion zugeschrieben, da sie den Möglichkeitsüberschuss eines offenen Zukunftshorizonts einschränkt: Indem Prognosen Entscheidungsspielräume kanalisieren, werden nur noch wenige Optionen nahegelegt, deren Auswahlkriterien außerdem maßgeblich von der Gegenwart her bestimmt werden.57 Diesen Praktiken aber kann wiederum ein (Re-)Futurisierungspotenzial zugesprochen werden, indem diese Prognosen beispielsweise nicht als Kanalisierung, sondern als Ermutigung genutzt oder die in ihnen angelegten Entscheidungen vertagt werden. Zukunftspraktiken weisen, wie alle Praktiken, eine doppelte Materialität auf. Zukunftspraxis ist im Wesentlichen ein körperlicher wie auch materialer Prozess. Die prinzipielle Nichtanschaulichkeit des Kommenden erhält in der praxistheoretischen Zuwendung einen Konkretisierungsschub. In den analytischen Blick geraten die Bilder, Modelle und Grafiken der Zukunftsproduktion, aber auch die technischen Geräte, räumlichen Arrangements und visuellen Selbstrepräsentationen der dazugehörigen zeitgenössischen Zukunftsproduktionsstätten. Hinzu kommt eine körperliche Dimension, wenn beispielsweise beim sehr zukunftsorientierten Verfahren des Trend-Scoutings im Leistungssport, aber auch beim Arzt Körper auf ihre resilienten sowie entwicklungsdynamischen Potenziale überprüft werden. Auch kann »Futurität« körperlich und materiell signifiziert werden, wie Produktpräsentationen bei großen Technologiekonzernen ebenso zeigen wie der Blick auf die inzwischen weltumspannenden TED-Konferenzen. Es sind diese objektualen 56 | Schnettler, Bernt: Zukunftsvisionen. Transzendenzerfahrung und Alltagswelt, Konstanz 2004. 57 | Willer, Stefan: Art. »Prognose«, in: Uerding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 12 Bde., Tübingen 1992-2015, Bd. 10, S. 958-966; M. Kaiser: Neue Zukünfte.

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sowie körperlichen Dimensionen, mit denen maßgeblich die Zukunft hervorgebracht wird. Zukunftspraktiken sind immer auch als relationale Gebilde zu betrachten, die auf diachroner wie synchroner Ebene maßgeblich mit anderen Praktiken verbunden sind und zugleich selbst aus vielfältigen Bestandteilen wie Akteur*innen, Dingen und Objekten bestehen können. So sind etwa Szenarien, als eine zentrale Zukunftspraktik gegenwärtiger Wissensgesellschaften, eingebunden in ein Netz vielfältiger Bezüge.58 Szenarien operieren maßgeblich mit vergangenen Entscheidungen, denn was im Szenario verändert oder stabil gehalten wird, ist Resultat anderer Praktikenkomplexe und Entscheidungskonstellationen. Ebenso nutzen Szenarien häufig Statistiken, Prognosen etc., die für andere Gelegenheiten durchgeführt wurden, aber dennoch Einzug in die Szenarien halten. Schließlich sind Szenarien immer auch auf ihre Kommunikation angelegt und in diesem Zusammenhang als ein persuasives Zusammenspiel verschiedener Darstellungsformate wie Texte, Karten, Grafiken etc. zu begreifen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Zukunftspraktiken keineswegs nur auf nicht-textliche oder nicht-diskursive Ebenen zu beziehen sind. Vielmehr stellen diskursive Phänomene einen wichtigen Sonderfall der Zukunftspraxis dar. Zukunftsdiskurse sind Bestandteil einer Praxis der Repräsentation, also der zeichenhaften, symbolischen, narrativen, aber auch visuellen Herstellung und Vermittlung von Zukunft. Sie sind als solche immer verwoben mit nicht-diskursiven Praktiken zu einem »Praxis/Diskurskomplex«.59 Beispiele derartiger diskursiver Zukunftspraktiken sind Science-Fiction-Erzählungen, Geschichtsphilosophien, Utopien wie auch der Bericht des Club of Rome oder Schilderungen unternehmerischer Visionen. Die hiermit angedeutete Heterogenität von Zukunftspraktiken, also die Möglichkeit, dass zahlreiche Praktiken Bestandteil von Zukunftspraktiken werden können, erhält eine Zuspitzung angesichts der empirischen wie auch theoretischen Hinweise auf eine Zukunft im Plural.60 Die Pluralität von Zukunft verweist auf mehrere Zukunftskonzeptionen, die zeitgleich existieren und sich verstärken, widersprechen, aber auch relativ autonom bestehen können. Innerhalb von Organisationen beispielsweise wird eine solche Vielfältigkeit von Zukunftspraktiken deutlich: Ein Arbeitsbereich nutzt andere Zukunftspraktiken als ein anderer, um kommende Aufgaben zu bearbeiten, und orientiert sich dabei zugleich an einer anderen Logik, produziert mithin auch andere Konzeptionen von Zukunft – paradigmatisch etwa wird das bei der Spannung von Verwaltung und Forschungsabteilungen innerhalb von Unternehmen. Eine solche Zukunft im Plural lässt sich mit einer praxeologischen Brille gut beobachten, da darüber die einzelnen, vielfältigen praktischen Leistungen, das Kommende in den Griff zu bekommen, deutlich werden. Eine solche Perspektive ist keineswegs auf Organisationen oder gar private Zukunftskonzeptionen beschränkt, sondern umfasst gleichermaßen die Gegenwartsgesellschaft und damit ihre verschiedenen Teilbereiche, die sich bestenfalls 58 | Krämer, Hannes: Scenarios as an Epistemic Practice in Urban Transportation Planning, Vortrag, gehalten auf dem Third ISA Forum of Sociology (10.-14. Juli 2016) in Wien. Ungedr. Ms. 59 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 60 | Vgl. etwa M. Kaiser: Neue Zukünfte.

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temporär auf eine Zukunftsdeutung hin verdichten lassen. Dies kann zugleich einen Kampf um Deutungsmacht verschiedener Zukünfte und der korrespondierenden Praktiken nach sich ziehen. Zukunftskonzeptionen sind mächtige Instrumente, mithilfe derer sich verschiedenes Handeln legitimieren lässt. Des Weiteren bleibt eine Analyse von Zukunftspraktiken unvollständig ohne die Berücksichtigung der Affektivität der jeweiligen Praxis. Zukunftspraktiken sind eng mit Affekt- und Begehrenskonstellationen verbunden, da, zum einen, ihr Vollzug einen Affekt freisetzt und zum anderen auf die Produktion eines affektiven Gegenstands, nämlich der Zukunft zielt. Praktiken organisieren spezifische affektiv-sinnliche Aufmerksamkeiten und motivieren auch darüber Akteur*innen zur Teilnahme, die wiederum als solche affizierbar, also ›bereit‹ für derartige Anrufungen sein müssen. Häufig sind die einzelnen Praktiken eingebunden in die Hervorbringung ganzer »Affektgebilde« – wie es sich beispielsweise in der Herausbildung von »Zukunftsgemeinschaften« darstellt, die sich in Abgrenzung zu gesellschaftlich hegemonialen Vergemeinschaftungsformen in verschiedenem Maße als einen Bruch mit gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen und als Ermöglicher einer alternativen Zukunft begreifen.61 Hier werden im Aus- und Aufführen alltäglicher Verrichtungen wie Einkaufen, Wäschewaschen, Essenzubereiten, Kindererziehen maßgebliche und dezidierte Bezüge zur Zukunft hergestellt, die sich von der Gegenwart mit ihren ökologischen, sozialen, ökonomischen, politischen Verhältnissen abheben wollen. Eine solche praxeologische Analyse ist keineswegs auf eine einzelne Analyseebene beschränkt. Als »flache Ontologie«62 lässt sich ein solcher Blick nicht auf die eingeübten Skalenniveaus sozialwissenschaftlicher Analyse, die Ebenen des Mikro, Meso, Makro, beschränken. Von Interesse sind gleichermaßen große wie kleine Zukünfte sowohl in lokalen Situationen konkreter Aktivitäten, als auch als globale Phänomene übersituativer Zurechnung. Der Hinweis auf die Flachheit der Zukunftspraxis zielt darauf, diese Ebenen nicht hinsichtlich ihrer Fundierungsrelation zu befragen, sondern davon auszugehen, dass sich diese Phänomene auf einer »Realitätsebene«63 abspielen. Sie sind Teil von Praktikenbündeln, die sie mit anderen Praxiskonstellationen verknüpfen. Zukunftspraktiken können demnach einerseits höchst feldspezifische Praktiken darstellen, aber auch gleichzeitig in verschiedenen Feldern vorkommen, wobei sie in manchen Bereichen auch maßgeblich zur Strukturierung des Feldes beitragen können – so etwa die Praxis des Szenarios in militärischen Kontexten,64 die Praxis der Planung in der Politik65 oder auch die Zukunftspraxis des forecastings im Feld des Finanzmarktes.66

61 | Jamison, Andrew: Social Movements as Utopian Practice, in: Jacobsen, Michael Hviid/ Tester, Keith (Hg.): Utopia. Social Theory and the Future, Farnham 2012, S. 161-178. 62 | Schatzki, Theodore R.: Praxistheorie als flache Ontologie, in: Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, S. 29-44. 63 | T. R. Schatzki: Praxistheorie als flache Ontologie, S. 30. 64 | Bradfield, Ron u.a.: The origins and evolution of scenario techniques in long range business planning, in: Futures 37, 2005, S. 795-812. 65 | U. Bröckling: Alle planen, auch die, die nicht planen. 66 | Beckert, Jens: Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge/London 2016.

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Schließlich rekonstruiert eine Analyse der Zukunftspraktiken die Verbindungen mit anderen Zeithorizonten. Einerseits tragen, wie oben angedeutet, Zukunftspraktiken immer auch Spuren ihrer Entstehung mit sich – eine entsprechende Analyse fragt in einem quasi genealogisch-archäologischen Vorgehen nach den Herkünften und historischen Bedingungskonstellationen dieser Praktiken. So lassen sich beispielsweise Zukunftspraktiken wie Planungstechniken als Entwicklungen einer rationalisierten Moderne verstehen, während andere wiederum weiter zurück in einer »Geschichte der Zukunft« auf heilsgeschichtliche Motive zurückgreifen67 oder in der konkreten Analyse diese Trennung sogar unterlaufen. Zugleich ist dieses Verhältnis zwischen vergangenen und gegenwärtigen Zukunftspraktiken keineswegs deterministisch zu denken. Protagonist*innen im religiösen Feld etwa setzen ebenso auf Planungstechniken wie sich beispielsweise Wirtschaftsakteur*innen eschatologischer und liturgischer Praktiken bedienen. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion des Zusammenspiels der verschiedenen Zeithorizonte. Andererseits steht aber auch die Beziehung von Zukunft und Gegenwart zur Disposition. Mario Kaiser hat in diesem Zusammenhang an Barbara Adams’ Warnung erinnert, dass der Präsentismus der Soziologie eher zu einer »Soziologie der Erwartung« führe und damit gerade ihren Gegenstand, nämlich die »Soziologie der Zukunft«, außen vor lasse.68 Eine solche Orientierung am Gegenwärtigen ist auch für die Praxeologie zu attestieren. Aber sie lässt sich anders deuten als das Barbara Adam im Sinn hat: Zwar kann, Kaiser folgend, eine Analyse der Zukunftspraktiken das »Noch nicht« der Zukunft nur auf der Ebene von praktischen Imaginationen begreifen, sie kann allerdings das »Schon jetzt« zukünftiger Entwicklungen nachzeichnen.69 Sie kann nach den konkreten und abstrakten Formen der Anwesenheit von Zukunft fragen. Eine solche Perspektive sensibilisiert für die zahlreichen sozialen Herstellungsmodi der Zukunft als gegenwärtigem Phänomen sowie ihrer Konsequenzen, ohne dabei kontingente Entwicklungen zu leugnen. Zugleich hinterfragt ein solches Vorgehen die These von der Offenheit der Zukunft auf der Ebene der Praxis und schlägt vor, dieses Verhältnis auch zu »verflachen« und die Beziehung von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit als ein Zusammenspiel von Offenhalten und Beschränken zu begreifen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die spezifischen Verhältnisse von Gegenwart und Zukunft:70 Wird das Kommende als radikaler Bruch oder als sanfte Ablösung 67 | G. Minois: Geschichte der Zukunft. 68 | M. Kaiser: Neue Zukünfte; Adam, Barbara/Groves, Chris: Future Matters. Action, Knowledge, Ethics, Leiden 2007. 69 | M. Kaiser: Neue Zukünfte, S. 402ff., elaboriert diesen Punkt in Auseinandersetzung mit Jean Baudrillards Überlegungen zum Jahr 2000. Daneben verweist er noch auf zwei weitere Möglichkeiten, die Zukunft in den Präsentismus der Soziologie hinein zu holen: Zum einen ließe sich Zukunft, nach Heidegger, als Beobachtungsstandpunkt stark machen, von dem aus die Gegenwart, als Antwortversuch auf Zukunftsentwürfe, auf eine Selbstkonzeption im Sinne des »Vorweg-Seins« zu begreifen sei. Zum anderen würde eine historische Ontologie der Zukunft, im Anschluss an Foucault, die letztlich uneinholbar bleibende Einheit Zukunft in ihrem historischen Wandel begreifen. 70 | Allgemeine zeittheoretische Frage zum Verhältnis verschiedener Epochen finden sich beispielsweise bei Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt a.M. 1976; R. Koselleck: Vergangene Zukunft.

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konzipiert; welche Zeiträume werden konzipiert und was in die Vergangenheit, was in Gegenwart oder die Zukunft verwiesen; mit welchen Praktiken werden noch resp. schon Verbindungen in die jeweiligen Zeitschichten ermöglicht? Dabei handelt es sich bei den temporalen Veränderungen keineswegs um vollumfängliche Ablösungen von Praxiskomplexen. Vielmehr werden spezifische Praktiken verändert, während andere gleichbleiben. Planungstechniken als maßgebliche Methoden politischer Zukunftsorientierung etwa verändern sich in den 1970er Jahren, in dem sie komplexer, pluraler und dezentraler werden.71 Nicht die Planung selbst wurde damit abgelöst, sondern die Formen ihrer Durchführung maßgeblich geändert. Außerdem gilt es zu überprüfen, ob sich spezifische (Übergangs-)Phasen finden lassen, für die je unterschiedliche Praktiken inklusive korrespondierender sozialer Gestimmtheiten prägend sind.

4. G egenwartsdiagnosen als Z ukunf tspr ak tiken Was kann eine derartige praxeologische Zukunftsanalyse zum soziologischen Verständnis von Gegenwartsdiagnosen beitragen? Zunächst rückt die Frage in den Fokus, inwiefern es sich bei Gegenwartsdiagnosen überhaupt um zukunftsbezogene Praktiken handelt. Dies ist nicht pauschal zu beantworten, da sie von der jeweiligen Gegenwartsdiagnose abhängt. Auch wenn sicherlich alle gängigen sozialwissenschaftlichen Gegenwartsbeschreibungen »Hinweise auf (gefährdete) Zukünfte enthalten«,72 so ist dieser Temporalmodus innerhalb der jeweiligen Gegenwartsdiagnosen doch unterschiedlich stark präsent. Die spezifischen Momente des Zukünftigen herauszuarbeiten und ihr Verhältnis zur Gegenwart (und Vergangenheit) zu bestimmen, ist Aufgabe eines zukunftspraxeologischen Forschungsprogramms. So kann dann etwa gezeigt werden, dass manche zeitdiagnostische Deutungen ihren Erklärungswert nicht nur aus der adäquaten Beschreibung der Gegenwart ziehen, sondern gerade aus einer zugespitzten Konsequenz dieser Beschreibung. Nicht zufällig hat Ulrich Becks (1986) Ökologieanalyse nicht bloß als Studie von Umweltveränderungen, sondern als Analyse von Risiken, also einer Hereinnahme des Kommenden, Erfolg erlangt. Zugleich operieren einige Gegenwartdiagnosen maßgeblich im Spannungsfeld des Noch-nicht und Schon-jetzt. Gerade die Gesellschaftsbeschreibungen im Kontext der Security and Securitization Studies zeichnen eine Gegenwartsregierung durch die Zukunft nach, beschreiben also die Arten und Weisen, mithilfe derer noch nicht eingetretene Gefahren die gegenwärtige Gesellschaft bereits beeinflussen und eine Regierung durch die Zukunft begünstigen.73 Dabei scheint das konkrete Verhältnis von Gegenwart und Zukunft zunächst auf spezifische Bereiche, ihre jeweiligen Praktiken und Rationalitäten wie beispielsweise das Politische, Technische oder Wirtschaftliche bezogen, von dem aus sie in einer Art Verallgemeinerungsgeste auf die gesamte Gegenwart ausgedehnt werden. Eine solche Diagnose greift dann auch auf andere Temporalmodi über und soll, nicht selten angezeigt durch das Suffix »-ierung«, als Ökonomisierung, Digi71 | Vgl. Laak, Dirk van: Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, S. 305-326. 72 | O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 313. 73 | U. Bröckling: Vorbeugen ist besser.

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talisierung, De-Demokratisierung den gesellschaftlichen Trend, mithin eine Entwicklung in die Zukunft vorgeben. Studien zu Gegenwartsdiagnosen wie auch die Gegenwartsdiagnosen selbst treten häufig als sozialwissenschaftliche Studien in Erscheinung. Sie werden damit als eine besondere soziologische Textgattung oder auch als spezifische epistemische Analytik perspektiviert.74 Rückt man allerdings stärker die praktischen In-Bezugsetzungen zum Kommenden in den Fokus, erweitert sich der Blick um weitere Diagnosen der Zukunft und ihrer dazugehörigen Gegenwart. Denn es finden sich jenseits der (Sozial-)Wissenschaft vielfältige Akteurskonstellationen sowie soziale Felder, in denen Diagnosen der Gegenwart erstellt werden.75 Man denke nur an die Bereiche der Politik, des Journalismus’, der Wirtschaft, der Kunst, in denen maßgeblich Deutungen der Gegenwart produziert werden – nicht zuletzt auch als konstitutives Element zur Selbstvergewisserung und Orientierung weiteren Handelns. Diese Felder sind keineswegs unabhängig von sozialwissenschaftlichen Wissenschaftskontexten, allerdings sind die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse in der konkreten politischen, ökonomischen oder künstlerischen Arbeit in andere Praxiszusammenhänge eingebunden und erhalten damit auch andere Formatierungen. So werden etwa in ökonomischen Strategiemeetings sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über die Gegenwart und ihre probabilistische Entwicklung benutzt, allerdings in Bezug auf zukünftige Unternehmensentscheidungen. Diese Gegenwartsdiagnosen sind damit eben auch Bestandteil professionellen Wissens außerhalb der Soziologie und sollten als solche untersucht werden. Dabei ist der Fokus keineswegs auf klassische Funktionssysteme der modernen Gesellschaft beschränkt, sondern lässt sich deutlich erweitern: Welche Zukunft und welche Gegenwart werden innerhalb sozialer Bewegungen, an Stammtischen, bei Festivals, in Barcamps, in Therapiesitzungen hervorgebracht? Im Gegensatz zu einem Teil der soziologischen Untersuchungen zu Gegenwartsdiagnosen und ihrer Kontrastierung mit Gesellschaftstheorien76 orientiert sich eine derartige Zukunftspraxeologie an den Praxisformen, mithilfe derer sich Personen Aufschluss über ihre Gegenwart und ihre Zukunft geben und nicht zwingend an den gesellschaftlichen Gesamtbezügen. Prinzipiell geraten dann eben auch die ›kleinen Zukünfte‹ und Gegenwarten in den Blick und damit die abwegigen, nicht hegemonialen und soziologisch möglicherweise gar nicht haltbaren Formen und Deutungsangebote, wie sie etwa in Verschwörungstheorien, bei marginalisierten Gruppen oder auch in verschiedenen sozialen Milieus vorkommen. Damit werden andere Zukunftskonstruktionen möglich, die auch jenseits der Risiko- und Kritikaffinität entsprechender Deutungen des Kommenden liegen.77 In diesem Zusammenhang untersucht eine Zukunftspraxeologie die performative Herstellung eben solcher Gegenwartsdiagnosen und ihrer Zukunftsbezüge. Das bedeutet, die diskursiven wie nicht-diskursiven Strategien ihrer Inventierung, 74 | Etwa bei Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I: Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2000. 75 | Schimank, Uwe: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung, in: U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, S. 9-22, hier S. 14. 76 | Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. 77 | U. Schimank: Soziologische Gegenwartsdiagnosen, S. 17ff.

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Implementierung und Popularisierung zu rekonstruieren. Zum einen heißt das, die konkreten Orte und sozialen Bedingungskonstellationen aufzusuchen, in denen eine Diagnose entsteht. Für das Erschaffen sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen etwa sind das dann die jeweiligen Forschungsgruppen,78 Kolloquien oder auch Studios,79 in und an denen entsprechende wissenschaftliche und halbwissenschaftliche Diagnosen hervorgebracht werden. Ein solches Interesse an Produktionszusammenhängen redet keinem geniehaften Entdeckungsgestus das Wort, sondern interessiert sich für die Praktiken dieser zeitdiagnostischen, wissenschaftlichen Tätigkeit; das heißt, es geht um Theoretisieren, empirisches Forschen und damit auch um so wissenschaftsalltägliche Aktivitäten wie beispielsweise Schreiben.80 Jenseits der vereinzelten wissenschaftlichen Diskussionen erfahren in Kommunikationssituationen größerer Öffentlichkeiten Gegenwartsdiagnosen eine weitere Popularität, etwa im Feld der Massenmedien und der damit verbundenen kommunikativen Verfahren öffentlicher Rhetorik.81 Herauszuarbeiten ist dann beispielsweise, mithilfe welcher dieser kommunikativen Praktiken eine spezifische Diagnose präsentiert wird und wie sie sich »im Konzert mit gesellschaftlichen Deutungsangeboten« 82 von anderen Deutungen abgrenzt, indem sie beispielsweise stärker alltägliche Begriffe verwendet, eine metaphernreiche Darstellung nutzt, die detaillierte Diskussion wissenschaftlicher Ergebnisse ausspart oder in den Anhang verschiebt oder Personen direkt anspricht.83 Derartige kommunikative Praktiken legen bestimmte Lesarten von Diagnosen näher als andere und wenden sich als solche an entsprechende Publika. Eine besondere Aufmerksamkeit erhält dabei das prinzipiell »kritische Moment« 84 von Gegenwartsdiagnosen, in dem – ganz im Einklang mit dem oben herausgearbeiteten soziologischen Interesse an einer Zukunft als Risiko – deutlich signalisiert wird, dass es so nicht weitergehen kann und wird.85 Dabei ist es von Interesse, welche Zustandsänderungen eine solche Diagnose in den jeweiligen sozialen Settings der Produktion und Implementierung erfährt – sei dies am Schreibtisch, Besprechungstisch oder Stammtisch. Die diskursive Praxis der Gegenwartsdiagnostik ist aus einer praxeologischen Perspektive maßgeblich mit nicht-diskursiven Praktiken verbunden. Ausgehend von der doppelten Materialität der Praxis sucht eine Zukunftspraxeologie Gegenwartsdiagnosen im dichten Gemenge alltäglicher Materialität von Körpern und Objekten, welche die Diagnosen erst ermöglichen, verhandeln und hervorbringen. 78 | Lange, Stefan: Der anomische Schatten der Moderne – Gesellschaftliche Desintegration im Fokus der Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer, in: U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, S. 109-123. 79 | Farias, Ignacio/Wilkie, Alex (Hg.): Studio Studies. Operations, topologies and displacements, Oxon/New York 2016. 80 | Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2002 (urspr. 1984), S. 175ff.; Engert, Kornelia/Krey, Björn: Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epistemischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten, in: Zeitschrift für Soziologie 42, 2013, S. 366-384. 81 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft. 82 | U. Schimank: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung, S. 17. 83 | So teilweise bei O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 13ff. 84 | U. Schimank: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung, S. 18. 85 | Ebd.

Zukunf tspraktiken. Praxeologische Formanalysen des Kommenden

Beobachtbar werden Diagnosen dann als körperliche und dinghafte Entitäten beispielsweise in den Büros von Trendforschern, in wissenschaftlichen Seminaren, in Parlamentsausschüssen, aber auch an Kneipentischen, in Vereinen oder Ausstellungen. Interessant sind beispielsweise die konkreten Materialien, mit denen auf die Gestaltlosigkeit des Kommenden Bezug genommen wird. Wie übersetzt sich eine Deutung der Gegenwart und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Zukunft in Prototypen, Filme, Karten, Texte, Flipcharts etc.?86 Vergegenwärtigt man sich Gegenwartsdiagnosen etwa in Organisationen, schlagen sich derartige Deutungen nicht selten in internen Memos, damit korrespondierenden Briefings und entsprechenden Visualisierungen und Objekten nieder. Die Zukunft heraufzubeschwören und Diagnosen über die Gegenwart zu vollziehen, ist ein ebenso körperlicher Akt. Dies gilt gleichermaßen für diejenigen Körper, die als zukunftsfähig gelten, da sie etwa als besonders resilient oder anpassungsfähig angesehen werden. Zugleich sind Körper aber auch an der konkreten Aufführung von Gegenwarten und Zukünften beteiligt. Sie sind Mit-Produzentinnen einer Zukunftspraxis, indem sie diese in einer bestimmten Art hervorbringen und performieren. Sie tun dies in einem ganz grundsätzlichen Sinne, in dem jede Zukunftspraxis ihrer körperlichen Aufführung bedarf – das gilt gleichermaßen für das Erarbeiten von wissenschaftlichen Diagnosen wie für das Verfassen von Szenarien oder das Produzieren eines Kunstwerks, welches die Gegenwart sowie Zukunft erfasst. Zugleich wird in gewissen Situationen die Rolle des Körpers bei der Evozierung von Gegenwarten und der Extrapolation in die Zukunft noch einmal besonders deutlich, wenn beispielsweise technische Innovationen im IT-Bereich oder auf Automobilmessen präsentiert werden oder auch bei szenischen Darstellungen etwa im Theater oder auch bei Protestdemonstrationen auf ein ganz spezifisches body work zurückgegriffen wird, in dem hingabevoll mithilfe einer spezifischen Gestik und Mimik dystopische Gegenwarten präsentiert werden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Gegenwartsdiagnosen auch über einen affektiven Gehalt verfügen, welcher einen maßgeblichen Bezugspunkt ihrer Popularisierung darstellt. Diagnosen treten meist als Erzählungen über Transformationsprozesse auf, die dabei nicht nur als »Befreiung« gefasst, sondern zugleich häufig als »Alternativlosigkeiten«87 konzipiert werden und nicht zuletzt wegen der affektiven Gestimmtheit des Sorgenvollen große Aufmerksamkeit erlangen – ein Umstand, der sich entsprechend in Dokumenten, Bildern, körperlichen Performances etc. niederschlägt. Schließlich interessiert das Verhältnis einzelner Diagnosen zueinander sowie die Beziehung der Verfahren des Diagnostischen zu anderen Möglichkeiten sozialer Positionsbestimmung. Parallel zur Pluralisierung der Zukunft kann eine Vervielfältigung der Gegenwartsdiagnosen beobachtet werden.88 Interessiert man sich zukunftspraxeologisch für die Rolle der Diagnosen bei der Beschreibung des Kommenden, gerät das Verhältnis der einzelnen Beschreibungen in den Blick  – wie werden diese integriert, abgelehnt oder gar nicht referenziert in Hinblick auf die Rekonstruktion einer Zukunft. Eine wiederkehrende argumentative Praxis besteht etwa in der attestierten Akzeptanz anderer Gegenwartsdiagnosen bei gleichzeitigem Verschieben des Stellenwertes derer Deutung für die eigene Analyse. 86 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe. 87 | M. Kaiser: Über Folgen, S. 19. 88 | U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I.

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Beispielsweise wird dann an die Betonung sozialräumlicher Entgrenzungstendenzen im Zuge der Globalisierung angeschlossen oder es wird die Ausdehnung ökonomischer Praktiken auf andere Bereiche attestiert, aber es werden andere Konsequenzen daraus gezogen. Die Gesellschaft wird dann nicht als Globalisierungsgesellschaft beschrieben, sondern als Digitalisierungsgesellschaft oder Individualisierungsgesellschaft bzw. wird sie durch eine umfassende Kulturalisierung und nicht durch ihre Ökonomisierung bestimmt. Es bleibt zu überprüfen, wie sich dieses Verhältnis nicht nur bei sozialwissenschaftlichen Texten, sondern auch in Settings alltäglicher Praxis darstellt. In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis zu anderen Zukunftspraktiken zu untersuchen. Inwiefern halten etwa Prognosen, Szenarientechniken, Simulationen, Zukunftswerkstätten und andere Formen prospektiver Selbst- und Fremdthematisierung Einzug bei der Erstellung von Diagnosen, und welcher epistemischer Stellenwert wird ihnen zugesprochen? Wie oben angedeutet, kommt Prognosen oder Szenarien in soziologischen Gegenwartsdiagnosen zum Beispiel ein größerer Stellenwert zu als anderen Zukunftspraktiken.89 Ulrich Becks Risikogesellschaft etwa schließt mit so genannten »Szenarien einer möglichen Zukunft«90 und Daniel Bell beginnt sein Vorwort mit dem Hinweis »THIS is an essay in social forecasting.«91 Eine derartige Fragerichtung zielt auf die systematische Perspektivierung von Diagnosen als einem Verfahren neben anderen, um sich gegenüber dem Kommenden zu positionieren. Damit ›beraubt‹ eine Zukunftspraxeologie Gegenwartsdiagnosen zentraler Aspekte, zielt diese doch eben nur zu einem gewissen Anteil auf das Kommende. Sie ist vor allem als Beschreibung gegenwärtiger Entwicklung konzipiert, die einen Großteil ihrer Bezüge eher in der Vergangenheit findet als in der Zukunft, als einen retrospektiven sozialen Wandel.92 Aber auch die Zukunftspraxeologie ist vornehmlich an der Gegenwart interessiert, nur blickt sie nicht in der Rekonstruktion eines Ist-Zustands auf das Heute, sondern möchte aus der Analyse der (Re-)Konstruktionen eines Morgen das Heute verstehen. Entsprechend lassen sich beide Analyseperspektiven eng miteinander verknüpfen, indem sie nämlich beide auf eine (soziologische) Erklärung der Gegenwart in Bezug zu ihren anderen Zeitverhältnissen abzielen.

5. F a zit Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, eine praxeologische Analyseperspektive auf Zukunft zu konturieren. Zukunftspraktiken sind demnach diejenigen routinierten Arten und Weisen, mit denen sich Akteur*innen der Zukunft gegenüber praktisch verhalten. Eine solche Zukunftspraxeologie erweitert die gängige soziologische Perspektive, die in erster Linie durch eine Präokkupation mit risikobehafteter Zukunft von gesellschaftsumfassender Tragweite und einer Fokussierung auf mentale Zukunftsvorstellungen geprägt ist. Als solche positioniert sich eine 89 | Vgl. zum Überblick O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 314ff. 90 | U. Beck: Risikogesellschaft, S. 357. 91 | Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973, S. 3. 92 | O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik.

Zukunf tspraktiken. Praxeologische Formanalysen des Kommenden

Zukunftspraxeologie jenseits der Dichotomie objektivistischer oder subjektivistischer Zeit- und Zukunftskonzeptionen. In ihrer Analyse des Kommenden ist eine Zukunftspraxeologie immer auch eine Analyse von Gegenwarten und damit ein maßgeblicher Bestandteil der Rekonstruktion kultureller Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung, da sich aus den Positionierungen gegenüber dem Kommendem Aussagen über die Jetztzeit ziehen lassen und da die praxeologische Analyseperspektive die kontextgebundenen Hervorbringungen vergangener, gegenwärtiger oder kommender Gegenwarten in den Details körperlich und artefaktgebundener Praxis verortet. Eine Zukunftspraxeologie rückt entsprechend die heterogene, relationale, materiale, affektive und performative Dimension des Kommenden in den Fokus. Eine solche empirische Analyse des Kommenden identifiziert zugleich eine Pluralität gegenwärtiger Zukunft und öffnet sich auch, jenseits gesellschaftsumspannender Deutungskonstellationen, für alltägliche und auch sozial marginalisierte Zukunftskonzeptionen. Der Analysegewinn eines zukunftspraxeologischen Blicks auf Gegenwartsdiagnosen lässt sich demnach in folgenden vier Punkten bündeln: Erstens wird die Diagnose der Gegenwart in Bezug zu anderen Zeithorizonten gesetzt. Sie erscheint damit nicht als eine Entität aus sich heraus, sondern als eine Differenzierungsleistung, als ein Abgrenzen oder Fortschreiben temporaler Ordnungszusammenhänge. Die Gegenwart kann dann beispielsweise als markante Zäsur mit der Vergangenheit oder auch der Zukunft beschrieben werden. Einige Gegenwartsbeschreibungen etwa ziehen gerade aus dem Entwerfen dystopischer oder utopischer Zukünfte und dem damit einhergehenden (De-)Futurisierungspotenzial einen maßgeblichen Anteil ihrer Überzeugungskraft. Zweitens sensibilisiert eine praxeologische Perspektive für die Herstellungsdimension von Gegenwartsdiagnosen. Indem die konkrete Produktion von Diagnosen der Jetztzeit analytisch scharf gestellt wird, eröffnet das den Blick für die gegenwartskonstitutiven Bestandteile wie Körper und Materialitäten. Es ist aus einer praxeologischen Perspektive gerade das Wechselspiel dieser beiden Partizipationsdimensionen, die eine Praxis hervorbringen und sie eben als solche auch performieren. Gegenwartsdiagnosen werden so gleichermaßen deutlich als Ergebnisse aktiver Vollzüge sowie repräsentativer Formen und Formate. Drittens eröffnet die Thematisierung als Zukunftspraktiken die Möglichkeit, alternative Orte und Formen der Gegenwartsdiagnose zu bestimmen. Geraten die praktischen Verfahren in den Blick, Gegenwarten zu diagnostizieren, lässt sich analytisch nach den Orten fahnden, an denen eben solche Diagnoseverfahren ihre Anwendung finden. Dies führt zur Möglichkeit der Pluralisierung von Zukunfts- und Gegenwartsbezügen und nimmt Diagnosen des ›Jetzt‹ in (welt-)gesellschaftsumgreifenden sowie alltäglichen, lokalen Settings in den Blick. Dies bedeutet ebenso die konkurrierenden, sich wiedersprechenden sowie verstärkenden Felder, Praxiskomplexe und Deutungen von Gegenwart in den Blick zu nehmen. Viertens sind Gegenwartsdiagnosen nur ein Verfahren neben anderen, sich der Zukunft gegenüber zu verhalten. Insofern unterscheiden sich Gegenwartsdiagnosen von anderen Formen der Zukunftspraxis. Ein erster Anhaltspunkt der Differenzierung ist vor allem der Gegenwartsbezug als dezidierter Ausgangspunkt der Diagnose. Diese soziotemporale Qualität der gegenwartsbezogenen Form gesellschaftlicher Selbstpositionierung zu bestimmen, gilt es im Vergleich mit anderen Verfahren herauszuarbeiten.

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Der Erklärungsmehrwert einer praxeologischen Perspektive misst sich dabei nicht an der tatsächlichen, und damit erst retrospektiv bestimmbaren Vorhersagekraft der Zukunftsanalysen oder der Treffsicherheit der Gegenwartsdiagnose, sondern an der detaillierten Rekonstruktion der Wege ihrer Hervorbringung und der damit hervorgebrachten gesellschaftlichen Zeitdimension.

II. Sehen und Zu-Sehen-Geben

Gegenwartsdiagnose heißt: etwas als etwas sichtbar machen Wahrnehmung, Visualisierung und Intervention in Gestalten der Moderne* Thomas Etzemüller

I. Gegenwartsdiagnosen zielen immer auf eine imaginierte Zukunft, und sie setzen sich von einer spezifisch konstruierten Vergangenheit ab. Diese Form der Temporalisierung macht das erste konstitutive Moment aus. Ein zweites ist die Technik der Visualisierung – in Bildern und Narrativen –, durch die etwas als etwas sichtbar gemacht wird. Durch beides wird eine Rahmung hergestellt, die Komplexität und Unübersichtlichkeit in der Gegenwart zu sortieren hilft und Interventionen in die Zukunft hinein ermöglicht und zugleich präfiguriert. Gegenwartsdiagnosen schneiden die Welt zu, indem sie Alternativen abschneiden und diese Rahmung als zwingend erscheinen lassen. Sie beschreiben nicht die Realität, sondern konstruieren Problemlagen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft soziale Bedrohungs-, Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen entwirft und verhandelt. Gegenwartsdiagnosen sind ein Steuerungsinstrument, dessen Hochzeit wir in der »Moderne« finden,1 eine Epoche, die sich von vorhergehenden Epochen unterschied, indem sie die Entität »Gesellschaft« als Bedrohung, Möglichkeitsraum und Interventionsfeld einführte, und die von der Prophetie auf Diagnose und Prognose umstellte. Die Auseinandersetzung mit der Moderne fiel im 19. und 20. Jahrhundert höchst unterschiedlich aus, sie reichte von lebensreformerischen bis zu totalitären Entwürfen, und metaphorisch wird man die Moderne als ein großes Labor beschreiben dürfen, in dem höchst unterschiedliche politische, soziale, technologische und ästhetische Experimente durchgeführt wurden, um sich in der Moderne gegen die Moderne zu behaupten. Diese Moderne sollte deshalb nicht als linearer Prozess einer Fort* | Dieser Aufsatz baut auf einem unveröffentlichten Arbeitspapier zur Gestalt, das ich 2013 für das »Wissenschaftliche Zentrum Genealogie der Gegenwart« an der Universität Oldenburg entworfen habe und hier weiterentwickele. 1 | Vgl. dazu Knöbl, Wolfgang: Beobachtungen zum Begriff der Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37, 2012, S. 63-77; Dipper, Christof: Moderne, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.01.2018 (URL: http://docupedia. de/zg/Dipper_moderne_v2_de2018 [12.6.2018]).

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schrittsgeschichte (»Modernisierung«) verstanden werden, sondern als Aufeinandertreffen differenter Wahrnehmungsmuster, Ordnungsvorstellungen, regionaler Unterschiede, autonomer Teilsysteme und kontingenter Ereignisse.2 Und in diesem komplexen Verhältnis versuchten Gegenwartsdiagnosen Klarheit zu schaffen. II. Für die Analyse von Gegenwartsdiagnosen mache ich, angelehnt v.a. an Niklas Luhmanns Systemtheorie, zwei theoretische Vorannahmen.3 Zum einen finden Diagnosen ausschließlich in der und für die Gegenwart statt. Die temporale Einbettung in Vergangenheit und Zukunft ist ein autopoietisches Konstrukt, nämlich die Unterscheidung der Gegenwart als das Andere. Von der Vergangenheit gehen insoweit Impulse aus, als materielle Überreste (Dinge, Erzählungen, Mythen, Bilder usw.) überliefert sind. Doch auch diese Überreste können nicht determinieren, welche Geschichte sich ein System mit ihrer Hilfe konstruiert. Sie müssen als relevant für die Gegenwart eingestuft werden. Trotzdem werden gegenwärtige Probleme nicht von der Vergangenheit her gedacht, sondern Vergangenheit wird von diesen Problemen her entworfen – auch wenn die Narrative genau umgekehrt lauten. Und die Zukunft ist nur vermeintlich offen. Könnte sie überhaupt offen sein? Sie existiert ja noch nicht. Tatsächlich wird ihre mögliche Entwicklung in wenigen und von der Gegenwart her gedachten Alternativen prognostiziert und so Zukunft als Beobachtungspunkt der Gegenwart fiktiv konstruiert. Wir simulieren einen Blick zurück auf die Wege, die wir könnten gegangen sein werden (eine Variante des Futur III4); diese Alternativen werden gewertet und präfigurieren damit mögliche Interventionen in der Gegenwart, um bestimmte Wege in die Zukunft zu verbauen bzw. zu forcieren. Indem diese Interventionen eine gegenwärtig erwünschte, gute Zukunft retten sollen, verspricht man sich eine künftige (!) Heilung von diagnostizierten gegenwärtigen Fehlentwicklungen und Missständen. Indem die Gegenwart sich im simulierten Umweg durch eine imaginierte Zukunft samt einer mal kritischen, mal nostalgisierenden Absprungbewegung von der Vergangenheit spiegelt, gewinnen Gegenwartsdiagnosen eine regelrechte Gestaltungskraft. Zum anderen, so behaupte ich, macht es wenig Sinn, reale Probleme einer Zeit identifizieren zu wollen, denn eine Entwicklung oder ein Ereignis (»Realität«) und ihre Problematisierung sind nicht notwendig gekoppelt. Entwicklungen und Ereignisse können für die einen ein Problem konstituieren, andere bleiben unbeeindruckt (z.B. die angebliche demografische Katastrophe). Oder sie sollten in den Augen der einen problematisiert werden, andere ignorieren sie jedoch (z.B. der Klimawandel). Deshalb sollte besser beobachtet werden, was eine Gesellschaft (oder 2 | Vgl. mit weiterer Literatur: Etzemüller, Thomas: Wie Hase und Igel. Social engineering und Kontingenz in der ambivalenten Moderne, in: Becker, Frank/Scheller, Benjamin/Schneider, Ute (Hg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a.M./New York 2016, S. 139-160. 3 | Vgl. für meine Zusammenfassung radikalkonstruktivistischer Ansätze Etzemüller, Thomas: »Ich sehe das, was Du nicht siehst«. Zu den theoretischen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Arbeit, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Ansätze der Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68. 4 | Vgl. Neue Zeitform Futur III eingeführt, um Gespräche über Flughafen BER zu ermöglichen, in: Der Postillon, 15.8.2012 (URL: www.der-postillon.com/2012/08/neue-zeitformfutur-iii-eingefuhrt-um.html [8.10.2016]).

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Gruppe) als Problem entwirft und mit einer bestimmten Dringlichkeitsstufe versieht. Diese Problemdefinitionen können aus der Perspektive von Beobachtern bis ins Absurde gehen – etwa wenn das Wachstum kleiner skandinavischer Provinzstädte im Narrativ einer destruktiven Urbanisierung beschrieben wird, als handele es sich um die Slums von London –, entscheidend ist jedoch, was eine Zeit als Problem ernst nimmt und welche materiellen Folgen das zeitigt. Insoweit modellieren Gegenwartsdiagnosen Realität stets im Horizont gegenwärtiger Wertvorstellungen und Wissensordnungen und er- und verschließen dadurch Räume des Denk- und Sag- und Praktizierbaren. Und diesen Prozess sollten Historiker analysieren, um zu erkennen, wie Probleme und Lösungen in Diskursen und Praktiken hergestellt werden, ob sie nun etwas mit der Realität zu tun haben oder nicht. III. Konstitutiv für Gegenwartsdiagnosen sind Visualisierungsprozesse, weil sie in der Lage sind, Interventionsbereiche überhaupt erst sichtbar und zugleich komplexe, abstrakte Zusammenhänge fassbar zu machen. Als je komplexer in der Moderne eine Gesellschaft und ihre Probleme empfunden wurden, desto genauer mussten alle Verhältnisse mit Hilfe technischer Instrumente durchleuchtet und durch die Visualisierung in Photographien, Statistiken, Graphiken etc. zugänglich gemacht werden, um mögliche Verwerfungen sichtbar zu machen. Berühmt wurden im 19. Jahrhundert Fotografien, die Bewegungen sichtbar machten, die für das menschliche Auge zu schnell waren, die Fotoserien von Eadweard Muybridge, der durch eine Fotoserie erstmals vor Augen führte, dass ein galoppierendes Pferd zeitweise alle vier Beine in der Luft hielt, oder Fotografien von Geschossen, die einen Apfel durchschlugen. Eine Stärke von Bildern ist die Rahmung ( framing). Wie bei einem Gemälde werden Formate geschaffen, um Beobachtungen abzugrenzen, zuzuschneiden und anzuordnen. Dadurch wird in den Blick gerückt, in Zusammenhang gebracht und zugleich ausgeblendet, also Komplexität auf wenige Variablen, Begriffe, Fragen usw. reduziert. Verwerfungen treten hervor und werden bearbeitbar. Grundsätzlich sollte man einen weiten Bildbegriff zu Grunde legen.5 Über Bilder im herkömmlichen Verständnis hinaus (Fotografien, Gemälde, Grafiken usw.) meine ich damit materielle Gegenstände (Gebäude, Landschaftsausschnitte usw.), die zum Bild und als Bild wahrgenommen werden, sowie narrative Bilder, die sprachlich evoziert werden. Bildgebende Verfahren sind also technische Prozesse wie die Fotografie oder Infografiken, darüber hinaus sprachliche Techniken wie Metaphern oder paradigmatische Erzählungen. In keinem dieser Fälle – nicht einmal in der Fotografie – wird abgebildet, wie die Realität beschaffen ist, sondern es wird jene Parallelwelt hergestellt, mit deren Hilfe eine Gesellschaft operiert. Dieser Wahrnehmungsausschnitt markiert Interventionsbereiche und gewinnt zugleich Schlagkraft als Bild. Rahmungen sind nicht nur Instrument und Repräsentation der Parallelwelt eines Systems, sie können eine eigenständige Kraft gewinnen, indem sie – manchmal schockartig – einen Zustand enthüllen, mit dem niemand gerechnet hat, also beispielsweise die »Erwärmung der Ozeane, Abholzung der Regenwälder und Verschmutzung der Meere anschaulich bunt vor Augen führen. Nicht zuletzt ist es die Persuasivität solcher visueller Abbreviaturen komplexer 5 | Vgl. auch Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – Das [sic] Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte – Theorien – Analysemethoden, Berlin/New York 2004.

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Datenzusammenhänge, welche die aufmerksamkeitspolitische Stärke der Naturwissenschaften ausmacht.«6 Eines der berühmtesten Bilder in diesem Sinne dürfte das Foto des blauen »Planeten Erde« sein (»Blue Marble«), das von einer der Apollomissionen stammt und überhaupt erst das Bewusstsein evoziert hat, wie fragil und isoliert unser Lebensraum mitten im All ist.7 Doch auch diejenigen Bilder, die auf unemphatische Weise sichtbar machen, entwickeln eine oft kaum hinterfragbare Wirkung, indem sie Evidenz erzeugen. In manchen Fällen kann ein Bild eine unmittelbare Handlungsaufforderung implizieren, beispielsweise das Sprach-Bild des »Terroristen«, mit dessen Hilfe sich Grundrechte leichter außer Kraft setzen lassen. In anderen Fällen wie der Wissenschaft, werden sie in ein Design systematischer Fragen überführt, etwa die Vorstellung sozio-biologisch minderwertiger Rassen und Sozialschichten. Bilder kann man in diesen Fällen in gewisser Weise als Akteure begreifen, denn einmal erzeugt, fangen sie an, Anschlussoperationen zu strukturieren. Sie profitieren von der verführerischen Evidenz des unmittelbaren Augenscheins, besonders wenn sie die Form einer »Gestalt« annehmen. Das kann die in unzähligen Varianten reproduzierte Fotografie eines unheilbaren Irren sein, die – im Kontext der Eugenik – eine biologische Bedrohung für den Volkskörper regelrecht vermenschlichte. Diagnose und Intervention werden im Bild durch Evidenz gekoppelt. Man sollte deshalb technokratische oder gesellschaftspolitische Entwürfe, Diagnosen etc. nicht bloß referierend rekonstruieren, sondern auf ihre sprachlich-visuelle Bildhaftigkeit hin untersuchen, um die impliziten, wirkmächtigen Mechanismen der Evidenzproduktion zu entschlüsseln, die Komplexität erfolgreich auf wenige Alternativen zuschneiden oder gar Alternativlosigkeit suggerieren. Zumindest Bildern im klassischen Sinne wird oft ein unmittelbarer Abbildcharakter zugeschrieben; Kurvendiagramme oder Fotografien scheinen demnach eine unzweideutig zu interpretierende Realität darzustellen, etwa die berüchtigte abstürzende demografische Kurve.8 Tatsächlich jedoch sind diese Bilder stets Ergebnis einer Übersetzungsarbeit, um die opake Realität transparent zu machen – so wie Marssonden auch nur Daten senden, die erst auf der Erde in farbige Fotografien verrechnet werden. Bilder sind artifizielle Modelle; statt darzustellen sind sie erzeugt.9 Selbst abbildende Fotografien transferieren dreidimensionale Welt auf zweidimen6 | Frank, Gustav: Textparadigma kontra visueller Imperativ: 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31, 2006, H. 2, S. 26-89, hier S. 28. 7 | Vgl. für diesen Zusammenhang zwischen Bildern und einer radikal neuen Selbstdeutung moderner Gesellschaften Cosgrove, Denis: Contested Global Visions: One-World, Whole-Earth, and the Apollo Space Photographs, in: Annals of the Association of American Geographers 84, 1994, S. 270-294; Kuchenbuch, David: »Eine Welt«. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 38, 2012, S. 158-184. 8 | Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 83-109; Ders.: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Bielefeld 2015, S. 41-53. 9 | Vgl. dazu u.a. Heintz, Bettina/Huber, Jörg: Der verführerische Blick. Formen und Folgen wissenschaftlicher Visualisierungsstrategien, in: Dies. (Hg.): Mit dem Auge denken. Strate-

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sionales Papier, wobei die Negative durch Entwicklung und Vergrößerung zusätzlich interpretiert werden (Kontrast, Graustufen bzw. Farbabgleich, Bildausschnitt usw.), bis schließlich die fertigen Abzüge durch den Kontext, in dem sie präsentiert werden, erneut übersetzt, d.h. mit einem Sinn, der außerhalb ihrer selbst liegt, aufgeladen werden – etwa die sprachliche Bezeichnung des Apollo-Bildes als »Blue Marble«, die aus der Erde eine (kostbare) Murmel macht, die in den Weiten des Alls so leicht verloren gehen kann wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer. Dieser gestaltenden Kraft wegen ist die Bedeutung von Visualisierungsprozessen nicht zu unterschätzen. Die Moderne wurde in Bildern wahrgenommen, und Bilder der Welt waren die Grundlage für die Gestaltung der Welt. IV. Gegen solche konstruktivistischen Ansätze hat Horst Bredekamp in seiner Theorie des Bildakts einen Eigenwillen des geformten Stoffes postuliert. Bilder verdankten ihre Entstehung menschlichen Akteuren, doch sie könnten nicht mehr in deren Verfügungsgewalt zurückgeführt werden. Im Artefakt ruhe eine Latenz, die »auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Aktionsform« umspringen kann. Bilder seien keine Dulder, sondern könnten Ziele erzeugen und Handlungen antreiben, also der Wirklichkeit postulativ gegenübertreten und über die Freiheit der Betrachter entscheiden.10 Bredekamp versucht den Bildakt aus der Sprechakttheorie herzuleiten;11 das Bild steht dabei nicht an der Stelle des Wortes, sondern tritt an die des Sprechenden. Bilder werden verlebendigt, indem sie in die Körper von Menschen einwandern;12 ein Ansatz der für meine Argumentation zentral ist. Allerdings überzeugen mich die Begründungen Bredekamps nicht.13 Eigentümlicherweise schließt er nämlich die Sprache aus seinem Bildbegriff (der nicht weiter erläutert wird) aus; Sprache dient ihm allein der Reflexion über Bilder. Die Eigenmacht von Bildern kann er dabei nicht belegen, sondern muss immer wieder auf Texte menschlicher Akteure zurückgreifen, die Wirkung zuschreiben. Platons Höhlengleichnis beispielsweise handelt als Erzählung von einem Bild – die Menschen nehmen Schatten an der Wand eher für die Realität als diese selbst. Im Jahre 1604 ist das in einem Kupferstich visualisiert worden, doch dessen Wirkmacht analysiert Bredekamp nicht, es dient ihm (wie eine Reihe weiterer Abbildungen) bloß als Illustration.14 Auch setzt er umstandslos den Agens von Bildern mit Handlungen an Bildern in eins (etwa ihre Translozierung oder Vernichtung als Mittel in Machtkämpfen); er schreibt über Bilder, spricht faktisch aber über Menschen. Auf Bilder dagegen, die ganz unbestritten weite Teile der westlichen Gesellschaften oder gar der Welt geprägt haben – »9/11«, »Abu Greib« usw. – geht er merkwürdigerweise kaum ein.15 Letztlich beantwortet er die Frage nicht, ob der Eigenwille gien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/Wien/New York 2001, S. 9-40. 10 | Bredekamp, Horst: Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung 2015, Berlin 2015, S. 10, 29, 31 (dort das Zitat), 198, 319. 11 | Vgl. ebd., S. 57-59. 12 | Vgl. ebd., S. 60, 197, 174. 13 | Vgl. aus anderer Perspektive die langatmige Kritik von Wiesing, Lambert: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013, S. 66-105. 14 | Vgl. H. Bredekamp: Der Bildakt, S. 44f. 15 | Vgl. z.B. ebd., S. 220, 224-227, 238, 248f.

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von Bildern universal sein, also alle Betrachter ansprechen muss. Wenn ja: Ist das belegbar? Wenn nicht: Was begrenzt die Kraft; ist sie vorhanden, wirkt aber trotzdem nicht – weil das Bild seine Wirkung selbst begrenzt oder ein Betrachter das tut? Genau hier jedoch könnte sich der Widerspruch zwischen Eigenwillen und Autopoiesis aufheben lassen, dann nämlich, wenn man die Macht von Bildern konsequent in die autopoietischen Systeme hineinverlegte. Diese Perspektive imprägniert tatsächlich untergründig den gesamten, konstruktivistisch lesbaren Text Bredekamps. Man würde dann nicht einen wirkmächtigen Eigenwillen von Bildern entschlüsseln wollen, der kaum belegbar ist, sondern Akteure beobachten, die sich von Bildern treiben lassen. Damit wäre eine von Bredekamp postulierte Wirkung der Bilder immerhin indirekt belegt und, gegen Bredekamp, aus den Bildern zurückverlegt – aber nicht in das kartesische Subjekt (dagegen wendet er sich16), sondern in autopoietische Systeme in einem weiten Sinne. Das wäre auch die Erklärung, warum Bilder eben keine universale Wirkung entfalten. Die Statue des Bamberger Reiters hatte in einer Phase der deutschen Geschichte eine national mobilisierende Wirkung ausüben können, heute lässt sie die Menschen in dieser Beziehung vermutlich kalt und wird allein als großes Zeugnis der Kunstgeschichte rezipiert.17 Als Problem bleibt freilich die Tatsache, dass die These einer Eigenwirkung von Bildern damit auch nicht widerlegt ist. Gibt es eine genuine (ästhetische) Kraft in Bildern, die Menschen anrührt, selbst wenn sie sich zu sperren suchen? Liegt es ausschließlich in Individuen begründet, wenn sie sich von Bildern anrühren lassen? Oder müssen wir in der Mitte suchen, in kulturellen Prägungen, die zwischen Bildern und Individuen vermitteln? Mein Vorschlag hier ist eher ein Ausweg, diese Frage zu umgehen. V. In der Bildwissenschaft wird die grundlegende Unterscheidung zwischen picture und image 18 bzw. Medium und Bild19 oder Bildträger und Phantom gemacht, und sie gilt m.E. für narrative Bilder auch.20 Beide Seiten stehen in einer komplexen Beziehung zueinander sowie zum Abgebildeten bzw. dem Beobachter. »Das Bild« (picture/image) bildet nicht eine »Realität« ab, die dann dem Betrachter vor Augen geführt wird, sondern ein image ist ohne eine wie auch immer geartete materielle Grundlage, picture, Schrift oder Sprache, nicht denkbar.21 Das Medium kann dem image zwar eine spezifische Bedeutung verleihen (eine Fotografie beispielsweise den Nimbus der »Objektivität«), aber es determiniert nicht die Wahrnehmung. Vielmehr wird das image im Betrachter hergestellt. Es ist allerdings mehr als das Produkt der individuellen Wahrnehmung, sondern Resultat einer persönlichen und kollektiven Symbolisierung. Sehen lernen bedeutet, den eigenen Blick durch 16 | Ebd., S. 10. 17 | Vgl. Ullrich, Wolfgang: Der Bamberger Reiter und Uta von Naumburg, in: François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 2 Bde., München 2002, Bd. 1, S. 322-334. 18 | Mitchell, W. J. T.: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 285. 19 | Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 42011, S. 13-15. 20 | Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt a.M./New York 2008 (urspr. 1997), S. VII. 21 | H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 22.

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Diskurse und Denkstile formatieren zu lassen, d.h. zugleich zu erkennen lernen und zu erkennen verlernen.22 Lambert Wiesing spricht, analog zu Foucaults Diskursbegriff, vom »Stil«. Mit van Goghs Bildern im Kopf sehe man die Provence anders.23 Ein Beobachter »wird Qualitäten der Landschaft erblicken, die sich ihm nur dadurch erschließen, daß er sie als Bild (›wie gemalt‹) sieht. In diesem Sinne sind auch objektive Wahrnehmungen mit Bildern besetzt und durchsetzt«.24 Stilarten formen immaterielle Bildlichkeiten der Wahrnehmung aus,25 und das unterscheidet sich in verschiedenen Kulturen. Je nach Technik der Darstellung muss man zudem spezifische Techniken der Wahrnehmung erlernen, wie beispielsweise die Geschichte des frühen Stummfilms zeigt.26 Gleichzeitig wird von Hans Belting ein spezifischer Körperbezug postuliert, den ich zum einen weiter unten aufgreifen werde, und der zum anderen meine autopoietische Interpretation des Bildakts stützt. Die Semiotik, so Hans Belting, habe den Körper als mediales Subjekt ausgeschlossen, indem sie auf die kognitive statt die sinnliche und körperbezogene Wahrnehmung gesetzt habe. Bilder seien dadurch zu ikonischen Zeichen reduziert worden: eine unnötige, funktionalistische Einschränkung des Bildbegriffs.27 Zwischen den Körpern des Bildes (picture) und des Menschen finde aber eine Metamorphose statt: Das Bild (image) werde entkörpert und im Betrachter neuverkörpert. Es findet also eine Übertragung des image vom artifiziellen Bildmedium auf ein natürliches Medium, den Körper, statt.28 Die oben erwähnte persönliche Veranlagung und kollektive Prägungen, individuell Imaginäres und kollektiv Imaginäres, werden in Körpern verbunden und produzieren dort Wahrnehmung von Bildern.29 Zusammengefasst:30

real »imaginär«

Bildkörper (Medium/picture) || Menschkörper imagea (Metamorphose) imageb

Es werden derart sowohl die Zeichenhaftigkeit von Bildern (und damit Überschneidungen zur Semiotik) als auch deren kommunikative Funktionen betont: »Kein Gegenstand ist von sich aus ein Bild, vielmehr wird er erst dann zum Bild, wenn 22 | T. Etzemüller: »Ich sehe das, was Du nicht siehst«, S. 40. 23 | Ludwik Fleck hätte hinzugefügt: Und man könnte sie nicht mehr sehen wie zuvor, selbst wenn man wollte; vgl. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 21993 (urspr. 1935). 24 | Ferdinand Fellmann, zit.n. L. Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 153f. 25 | Ebd., S. 154. 26 | Vgl. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 50. 27 | Ebd., S. 14. 28 | Ebd., S. 21, 57. 29 | Ebd., S. 59. An anderer Stelle (S. 13 bzw. 60) behauptet er aber, dass Medien (!) sich in die körperliche Wahrnehmung einschrieben und sie veränderten, bzw. er erwähnt, dass Jesuiten Eingeborenen Bilder nicht nur vor Augen stellten, sondern sie körperlich einzuprägen versuchten – der Bildproduktion im Rezipienten kann also offenbar nachgeholfen werden. 30 | Ebd., S. 30, folgend.

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wir ihn in einer bestimmten Weise verwenden, d.h. nach bestimmten Regeln betrachten oder interpretieren.«31 Zugleich gibt es eine Eigenleistung von Bildern. Sie, so Gustav Frank, »kommunizieren manches nicht nur angemessener, effektiver, ökonomischer, schöner – sie übermitteln es auch ausschließlich; ihre Leistung dabei kann nicht nur nicht von anderen Zeichensystemen erbracht werden, sie vermag auch nicht in diese übersetzt zu werden, sondern sie ist genuin visuell und pictoral.«32 Das beides zusammengenommen hieße: Ein System bestimmt einerseits, was es als Bild ansieht. Das Bild kann dann andererseits – aus sich heraus oder zugeschrieben? – einen Bedeutungsüberschuss produzieren, durch welchen Impuls sich das System unter Druck gesetzt sieht, weil es seine Wahrnehmung erweitert bzw. anders zurichtet. Es lässt sich von Bildern das vermeintliche Abbild einer – im Extremfall gar nicht existenten – Realität vorführen, das unschlagbare Evidenz gewinnen kann: wie die Blue Marble eben.33 VI. Eine spezifische Form der Rahmung ist die Gestalt. Heinz Dieter Kittsteiner hat angemerkt, dass in der »heroischen Moderne« im 20. Jahrhundert die eigene Existenz und die jeweiligen Gegner zu Gestalten verdichtet wurden, und er erwähnt die Selbstmodellierung der deutschen Nation im Bamberger Reiter bzw. der Uta von Naumburg.34 Er ist allerdings nicht weiter darauf eingegangen, wie diese Verdichtung vor sich gegangen ist, oder welche Aufgaben die Gestalten für die Bewältigung der Moderne gespielt haben. Wolfgang Ullrich, auf den sich Kittsteiner berief, hat den beiden mittelalterlichen Figuren einen Aufsatz gewidmet und deutlich gemacht, dass die Statuen nur in einer bestimmten historischen Situation und dank einer geglückten Medialisierung zu Gestalten aufsteigen konnten, nämlich als Synthese einer großartigen mittelalterlichen Vergangenheit und nationalsozialistischen Gegenwart.35 Auch bei ihm jedoch werden wir nicht fündig, was die Frage einer Operationalisierung des Gestaltbegriffes betrifft. Ludwik Fleck hat in einer wissenschaftssoziologischen Studie beschrieben, wie Naturwissenschaftler in langen Prozessen lernen, die »charakteristische Gestalt« von Bakterien etc. zu sehen. In diesen Prozessen verlernen sie beim Blick durch das Mikroskop zugleich, das ursprüngliche Chaos zu sehen, in dem der angehende Mediziner zunächst keinerlei Lagerung, Grenzen usw. erkennen konnte. »Dieses Bild erscheint zuerst als Ergebnis einer Art Gedankenexperiment: aus [sic] dem Vorrat traditioneller Bilder paßt man bestimmte Bilder und deren Kombinationen an, verwirft darauf einen Teil, stilisiert andere um, macht gewissermaßen einen Kampf mit den sich abwechselnd aufdrängenden Bildern durch – bis man schließlich eine neue Bereitschaft erzeugt, d.h. die Bereitschaft, eine neue, spezifische Ge31 | Vgl. Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 22006, S. 81, 86. 32 | G. Frank: Textparadigma kontra visueller Imperativ, S. 78. Ähnlich L. Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 24, 84. 33 | Ich bin mir bewusst, dass damit die in den beiden Zitaten angedeutete Symmetrie zwischen Bild und System zugunsten des Systems verschoben ist. 34 | Kittsteiner, Heinz Dieter: Die Stufen der Moderne, in: Ders.: Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2005, S. 25-57, hier S. 50. 35 | W. Ullrich: Der Bamberger Reiter und Uta von Naumburg; vgl. auch Ders.: Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone, Berlin 22009.

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stalt zu sehen.« Das geschieht in drei Etappen. Ein »schwaches Widerstandsaviso« hemmt weitere »Denkoszillationen«, im »stilisierenden Kreisen« innerhalb eines »Denkkollektivs« verfestigt sich die Gestalt, bis sie schließlich zu einem »Gegenstand« geworden ist, »demgegenüber sich die Mitglieder des Kollektivs wie gegenüber einer außerhalb existierenden, von ihnen unabhängigen Tatsache verhalten müssen.«36 Mit Flecks Hilfe lässt sich folgern, dass Gestalten nichts objektiv Gegebenes sind, sondern nur zu sehen sind, und dass dieses Sehen in sozialen und kognitiven Prozessen erlernt werden muss: »›Sehen‹ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört.«37 Das ist erst einmal eine Analogie, weil Fleck naturwissenschaftliche Prozesse beschreibt, also standardisierte Verfahren, an deren Ende eine Entität steht, die zwar unscharf ist, da jeder Wissenschaftler die charakteristische Gestalt anders sieht, die aber hinreichend stabil ist, um sich in zahllosen standardisierten Experimentalsituationen zu bewähren. Die Frage ist, ob imaginierten Gestalten, um die es hier gehen soll, dieselbe Qualität eignet. Aber sicher kann man die Genese von Gestalten (in unserem Sinne) entlang von Flecks Dreiphasenmodell beschreiben, wenn man als Denkkollektiv die Gesellschaft nimmt, und als Labor die mediale Zirkulation. Zwischen dem Individuum und dem Objekt steht für Fleck immer das Kollektiv, das sehen lässt:38 »Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs Gestalten, deren Sinn und Bereich zulässiger Transpositionen das Kollektiv geschaffen hat […], und wir erblinden gegenüber überflüssigen Zusätzen«39 – ohne Kollektiv nur unstrukturiertes Schauen, kein klares Sehen. Der Gestaltbegriff ist besonders in der Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts prominent gewesen. Dort ging es vor allem um die Frage des Erkennens: Wie erkennt man etwas (diverse Töne, Striche) als eine Ganzheit (eine Melodie, ein Muster)? Diese Ganzheit, so wurde postuliert, ist mehr als die Summe ihrer Teile, sie ist etwas Neues, fundamental anderes als ihre Teile und gewinnt bis zu einem gewissen Grade Selbständigkeit. Sie existiert weder in der Realität und wird von dort über objektive Sinneseindrücke ins Bewusstsein überführt, noch wird sie allein im Bewusstsein, auf der Basis von Sinneseindrücken, durch kognitive Schemata bzw. logische Regeln konstruiert. Gestalten entstehen vielmehr in dauernd sich verändernden dynamischen Kontexten und Situationen, deren Teil das wahrnehmende Selbst selbst ist. Wahrnehmungsprozesse entscheiden fallweise, was als Teil und Ganzes, als Figur und Hintergrund beobachtet wird. Gestalten sind etwas, durch das Welt im Bewusstsein auftritt; weder Welt noch Bewusstsein beherrschen sie.40 Dabei ist Gestalten, so Max Wertheimer, die Tendenz eigen, »in besonders 36 | Fleck, Ludwik: Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen, in: Ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983 (urspr. 1935), S. 59-83, hier S. 75f. 37 | Ebd., S. 82. 38 | Fleck, Ludwik: Schauen, sehen, wissen, in: Ders.: Erfahrung und Tatsache, S. 147-178, hier S. 168. 39 | Ebd., S. 157. 40 | Vgl. Ehrenfels, Christian von: Ueber »Gestaltqualitäten«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, 1890, S. 249-292; Koffka, Kurt: Zur Grundlegung der Wahrnehmungspsychologie. Eine Auseinandersetzung mit V. Benussi, in: Zeitschrift für Psycho-

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einfache prägnante Strukturen überzugehen, die gegenüber ›chaotisch-unregelmäßigen‹ Gebilden durch folgende Merkmale gekennzeichnet sind: Regelmäßigkeit, Knappheit, Einfachheit, Symmetrie, Ausgeglichenheit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit, – [sic] Prägnanz.«41 Hierin liegt ihr Mehrwert. Folgen wir Annette Simonis, so bediente die »deutsche Denkfigur« der Gestalt um und nach 1900 eine Neigung zur Vermenschlichung von Objekten und zu einem ganzheitlich-organologischen Denken. Gegen ein mechanistisches Weltbild und einen wachsenden Trend zur Spezialisierung bot die Idee der Gestalt die Suggestion einer Wahrnehmungstotalität, deren Merkmal in ihrer ganzheitlichen Qualität bestand, einem ganzheitlichen Harmonieversprechen. Das gab ihr einen utopischen Gestus, der sie besonders in der Metaphysik beliebt machte. Denn ihre Geschlossenheit in sich selbst, der durchgängige Zusammenhang jedes Teils mit dem Ganzen, jeder Einzelheit mit allen anderen Einzelheiten, dieses Gesetz der inneren Form beschwor eine metalogische Weltbetrachtung. Eine Gestalt entzog sich emphatisch der Kommunikation, sie bedurfte keiner Versprachlichung mehr und bewegte sich an die Grenze des Wahrnehmbaren und gerade noch Mitteilbaren.42 Der Trick ist also, eine zeitgebundene Erkenntnistheorie zu dehistorisieren und zu dekontexualisieren, aus seiner Zeit und Bestimmung herauszuheben und zu verallgemeinern. Wenn wir die Gestalt zwischen Realität und Bewusstsein oszillieren lassen, finden wir gewisse materielle Grundlagen wie beispielsweise die Statue des Bamberger Reiters als picture. In einem langen, kollektiven Prozess der Bildproduktion und Kommunikation entsteht auf dieser Basis das image einer Gestalt, die etwas verkörpert. Diese Gestalt löst sich von der Statue, sie erscheint wie ein Hologramm im Raum, sichtbar und körperlich, wenn auch virtuell. Das entspricht Böhms Vorstellung, dass das image vom picture in den menschlichen Körper hinein wechselt, d.h. eine Gestalt gewinnt Evidenz, weil sie in einer Form daherkommt, die Rezipienten unmittelbar einsichtig ist: als Körper.43 Dadurch eignet ihr eine affizierende Kraft, sie ist mehr als ein bloßes Symbol oder Zeichen.44

logie 73, 1915, S. 11-90; Scheerer, Martin: »Die Lehre von der Gestalt«. Ihre Methode und ihr psychologischer Gegenstand, Berlin/Leipzig 1931; Ash, Mitchell G.: Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge/New York/ Melbourne 1995; Buchwald, Dagmar: Art. »Gestalt«, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/Weimar 20002005, Bd. 2, S. 820-862; Smith, Barry (Hg.): Foundations of Gestalt Theory, München/Wien 1988. 41 | M. Scheerer: »Die Lehre von der Gestalt«, S. 72f. 42 | Simonis, Annette: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln/Weimar/Wien 2001. Ähnlich: Harrington, Anne: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren. Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek b. Hamburg 2002. 43 | Dafür spricht auch der begriffsgeschichtliche Aufriss in D. Buchwald: Art. »Gestalt«. 44 | Es ist zu diskutieren, ob die Gestalt primär von der Rezipientenseite her zu denken ist – dann muss Affizierung nachgewiesen werden – oder von der Interventionsseite her – dann wäre zu fragen, welche Thematisierungen sich eignen, in die Form einer Gestalt transformiert zu werden.

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Die Verleiblichung der Gestalt finden wir beispielsweise in Ernst Jüngers Vorstellung des Arbeiters. Jünger gab der erkenntnistheoretischen Seite der Gestalttheorie eine dezisionistische Wendung. Die Gestalt des Arbeiters ist bei Jünger zutiefst mythisiert, sie hat nichts mit realen Arbeitern zu tun, sondern ist eine literarische, rein sprachliche Konstruktion, die der Auseinandersetzung mit der Moderne diente. In der Charakterisierung dieser Gestalt verdichtet sich die Kritik an der industriekapitalistischen Moderne, nämlich an einer materialistisch-funktionalistischen Disposition, die fragmentiere, statt ganzheitlich zu denken (und dieser Kritik verdankte sich, wie erwähnt, auch die Gestalttheorie). Für Jünger entwickelten Gestalten eine spezifische, geradezu bannende Macht: »Echte Gestalten werden daran erkannt, daß ihnen die Summe aller Kräfte gewidmet, die höchste Verehrung zugewandt, der äußerste Haß entgegengebracht werden kann. Da sie das Ganze in sich bergen, fordern sie das Ganze ein. So kommt es, daß der Mensch mit der Gestalt zugleich seine Bestimmung, sein Schicksal entdeckt, und diese Entdeckung ist es, die ihn des Opfers fähig macht, das im Blutopfer seinen bedeutendsten Ausdruck findet.« 45

Einer Gestalt eignet also etwas zutiefst Existenzielles. Sie verlangt eine Entscheidung bzw. Zuordnung und zieht Grenzen, schärft Gegensätze, polarisiert, politisiert und befeuert den Kampf. Je deutlicher in den Auseinandersetzungen sich eine Gestalt abzeichnet, desto klarer wird, »daß es immer eindeutiger nur eine Richtung gibt, in der überhaupt gewollt werden kann.«46 Nicht Kompromiss, sondern Kampf, der sich allmählich in einer Gestalt synthetisiere, führe zu einem gemeinsamen Ziel. Die »Gestalt fördert ebensosehr die totale Mobilmachung, wie sie alles zerstört, was sich dieser Mobilmachung widersetzt.«47 Eine Gestalt ist deshalb nicht identisch mit einer »Sozialfigur«, etwa dem Professor, dem Arzt oder dem Künstler.48 Letztere sind zwar fiktionale Verdichtungen, doch sie sind aus empirischem Material geformt. Sie können aus einem statistischen Mittel entstehen, als Idealtyp generiert oder eine(r) der ihren wird als Exempel erwählt; sie alle freilich müssen in einer Gesellschaft identifizierbar sein. Gestalten sind imaginiert. Sozialfiguren sind an als real angenommene Personen rückgebunden, die sich durch Aussehen, Auftreten, Gefühle und Handlungen auszeichnen, welche sowohl typisch wie individuell zugleich sind. Ihre Vertreter lassen sich tatsächlich aufsuchen. Gestalten können aus Statuen oder Flüssigkeiten erstehen, aber sie bleiben ein Hologramm. Sie werden nur wie Unseresgleichen. Figuren eignet empirische, Gestalten imaginative Evidenz. Dafür eignet der Gestalt etwas Zwingendes, sie ist gegen empirische Korrekturen immunisiert. Sie kann nicht widerlegt werden, sondern ihre Kraft verblasst.49 Deshalb handeln Sozialfi-

45 | Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, 41941 (urspr. 1932), S. 36. 46 | Ebd., S. 78. 47 | Ebd., S. 150. 48 | Vgl. dazu den Beitrag von Tobias Schlechtriemen in diesem Band; außerdem Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010. 49 | So Lorenz, Konrad: Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis, Darmstadt 1963 (urspr. 1959), der diese Qualität als Gefahr und Stärke begreift.

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guren in der Gesellschaft, Gestalten lassen eine Gesellschaft handeln. Gemeinsam haben sie, dass sie der Deutung der Gesellschaft dienen.50 Gestalten machen sichtbar, sie interpretieren und sie enthalten eine Anweisung, wie zu intervenieren ist. Sie sind das image einer Problemlage und imaginieren zugleich deren Lösung. Sie bilden einen Ist-Zustand (samt dessen Vergangenheit) ab, weisen aber auf die Zukunft. Nach rückwärts werden komplexe Zusammenhänge emblematisch-visuell verdichtet, nach vorne Handlungsanweisungen entworfen. Sie können allerdings auch Dinge, die dargestellt werden könnten, also Alternativen, unsichtbar werden lassen. Und sie können das thematisieren, was nicht da ist – und zwar im Narrativ eines noch nicht da: Verdichtung und Handlungsanweisung entwerfen Gestalten stets als Gegengestalten, gegen etwas zu Überwindendes, indem sie sich in Figur und Gegenfigur aufspalten, im Bevölkerungsdiskurs etwa in den biologisch und sozial degenerierten »Geistesschwachen« und den »gesunden« (»nordischen«) Körper. Gestalten sind also als Katalysator zu begreifen. Sie setzen in Bewegung. Deshalb hat eine Gestalt den Charakter einer agency und ist mehr als ein bloßes Bild. Als Akteur (auch wenn ihr die Handlungskraft nur zugeschrieben wird) ist es Aufgabe der Gestalt, das Sein in ein Sollen umzuwandeln. VII. Wie erkennt man nun Gestalten? Zuerst einmal sollte man davon ausgehen, dass es sich bei der Gestalt um einen Beobachtungsbegriff handelt. Zeitgenossen mögen Gestalten gesehen haben, aber sie werden sie vermutlich kaum als Gestalt benannt haben, eher nur als »Der Reiter«. Die Bezeichnung von etwas als Gestalt kann demnach ein nachträglicher konstruierender Akt sein. Indem wir unterschiedliche Quellen analytisch verdichten – Texte, Bilder (und Klänge?) –, beobachten wir, wie sich seinerzeit Gestalten verdichteten, wie sie vergingen und welche Reichweite ihnen eignete. Gestalten entstehen in Medienverbünden, in Verweisungszusammenhängen und Echoeffekten von Bildern, Texten, Diskursen und Rezeptionsprozessen. Durch Verdichtung, Wiederholung, Innovation, Mimesis und Emersion wird etwas gerahmt und konturiert, der Ausschnitt beginnt für sich zu stehen und wird zur Gestalt, also von ihrer ursprünglichen Medialität allmählich abgehoben (dekontextualisiert). Gleichzeitig muss er aber als Gestalt rekontextualisiert, d.h. nunmehr als Gestalt in mediale u.a. Kontexte erneut eingebettet werden. Schließlich muss die Gestalt seriell auftreten, durch Wiederholung immer weiter eingeschliffen werden. Medien, Techniken der Reproduktion und Rezeption arbeiten gemeinsam eine Gestalt heraus, aber nur (?) die Rezeption lässt sie wieder vergehen.51 Methodisch bedeutet das, unzählige Elemente collagierter Medien daraufhin zu untersuchen, ob sie Familienähnlichkeiten aufweisen, ob sie eine Homologie aufweisen, die sie zu einer Form (Gestalt) machen, die über weite Distanzen hinweg stabil ist. Räumlich, zeitlich und intermedial übergreifend muss belegt werden, dass dieser Form in der kollektiven Wahrnehmung tatsächlich die Qualität 50 | Ein Grenzfall mag die »schwäbische Hausfrau« sein, die seit einiger Zeit durch politische Reden streift und sich angeblich durch solide finanzielle Haushaltsführung auszeichnet. Schwäbische Hausfrauen gibt es in der Realität so gut wie nordfriesische oder westfälische, und sie mögen sich in der Art des Wirtschaftens durchaus unterscheiden – und gleichzeitig bleibt sie eine sprachliche Metapher, die einen Körper nur evoziert. 51 | Vgl. W. Ullrich: Uta von Naumburg.

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einer Gestalt zugeschrieben wurde (und nicht die eines Symbols etc.); außerdem muss das nach rückwärts verdichtende und nach vorne handlungsleitende Potential belegt sein; es muss beschrieben werden können, wie die agency der Gestalt rahmend eingriff, d.h. ihre visibilisierende bzw. invisibilisierende Kraft ausspielte, die dann die Praktiken realer Akteure prägte oder strukturierte. Diese Gestalten können wie folgt aussehen: Der Publizist Ludvig Nordström hatte 1938 den Zustand Schwedens erkundet und besonders auf dem Lande beklagenswerte Lebensumstände festgestellt. Die zentrale Botschaft seines einflussreichen Buches Schmutz-Schweden lautete, dass noch der schlechte, ungesunde Wohnraum im Land dominiere, der moderne, hygienische ihn künftig verdrängen müsse. Nordström hatte auf seiner Reise Ärzte und Pfarrer nicht allein befragt, sondern er verdichtete sie zu zwei Gestalten, die seine Botschaft kongenial verkörperten. Den Typus des Bezirksarztes zeichneten Energie, eine klare Sprache, präzise Bewegungen, ein stets prüfender Blick und fortschrittliche Ideen aus. Die Figur des Pfarrers dagegen war von einer anderen Welt. Er beschäftigte sich mit überholten theologischen Lehrstreitigkeiten und war eine Stütze des Adels, in der modernen Gesellschaft aber isoliert. Und so sei nicht mehr der Pfarrhof das normsetzende Vorbild für die Menschen, sondern die Wohnung des Bezirksarztes. Dort fand Nordström eine regelrechte Kommandozentrale des Humanen vor, in der der Arzt unaufhörlich telefonierte und Fragen beantwortete, während ruhige und ernste Menschen sich im Wartezimmer sammelten und weißgekleidete Krankenschwestern mit Berichten kamen und mit Anweisungen gingen. Er sei der geborene Führer, der nur noch Sachfragen gelten lasse, der Pfarrer dagegen sabotiere jeden Fortschritt.52 Das ist die rein narrative Konstruktion von Gestalten, die diese gleichwohl plastisch vor Augen treten ließ. In den Eugenic Family Studies, die im Grunde bis heute ein metaphorisch einflussreiches Eigenleben führen, finden wir dagegen eine spezifische Form der Mediencollage. Zwischen 1877 und 1926 erschienen in den USA mehrere Studien, die am Beispiel ausgewählter Familien den Einfluss von Umweltund Erbfaktoren auf das soziale Verhalten untersuchten. Die Studien selbst sind in aufwendiger Feldarbeit entstanden; durch Vorträge, Aufsätze, Zeitungsartikel und Wochenmagazine fanden sie ihren Weg nach Europa, reduziert auf kurze, einprägsame Schauergeschichten: Zwei kriminelle Eltern bekommen Kinder, die selbst auf die schiefe Bahn geraten, zahlreiche Nachkommen zeugen, die sich wiederum durch Nachkommen potenzieren, die meisten von ihnen Verbrecher, Alkoholiker, Almosenempfänger oder mit allerlei Geisteskrankheiten und moralischen Defekten geschlagen. Besonders die Juke Family und die Kallikak Family waren zu Signifikanten für Degeneration erhärtet worden, und zwar einmal durch die Autoren der Studien, die durch kunstvolle narrative Techniken die Familiengeschichten in eine symbolische Welt transformiert hatten. Analogien aus der Insekten- und Tierwelt durchziehen ihre Texte, sexuell negativ konnotierte Begriffe beschreiben die einzelnen Familienmitglieder, ihre Lebenswelt wird in dunkle Wälder verlegt, sie werden mit infantilisierenden, abwertenden Namen belegt. Zum anderen durch die Rezeption erhielten die Familiengeschichten endgültig ihre metaphorische Qualität, sie mutierten durch unzählige, verkürzende Zitationen zur Metapher für den »kranken« Teil der Gesellschaft, zur Metapher für die bedrohliche Qualität 52 | Ludvig Nordström, Lort-Sverige, Sundsvall 1984 (urspr. 1938).

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von Bevölkerung.53 Zugleich finden wir eine reichhaltige Flora von Abbildungen – Fotografien, Stammbäume, Tabellen, Grafiken –, die in unterschiedlichen Medien und Kontexten alle den Gegensatz von »Gesundheit« und »Degeneration« thematisierten. Wer von den Kallikaks sprach, brachte den Diskurs um die vermeintlich sozio-biologische Zersetzung des Volkes auf den Punkt; die rahmende Macht der Kallikaks wurde durch diesen Diskurs untermauert (Abb. 1).54 Abbildung 1: Die Abbildung visualisiert in Manier der KallikakGeschichten die Gestalt des »degenerierten« Menschen, ein Produkt der Moderne, das sich angeblich massenhaft reproduziert.

Solche Abbildungen mussten mit diesen Texten nichts zu tun haben, sie gingen aber eine Allianz mit ihnen ein. Der Kampf von Kaffee und Milch hingegen war in hohem Maße visuell angelegt. Als einer der bösartigsten Feinde des Körpers galt lange Zeit der Kaffee. Zuerst erschienen im 19. Jahrhundert kleinere Schriften über 53 | Vgl. Rafter, Nicole Hahn (Hg.): White Trash. The Eugenic Familiy Studies 1877-1919, Boston 1988. 54 | Vgl. T. Etzemüller: Ein ewigwährender Untergang; Ders., Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen.

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die angeblich entsetzlichen Folgen des maßlosen Kaffeegenusses. Ganze Landstriche seien diesem Getränk verfallen, das Gesundheit, Psyche und Sozialverhalten zerstöre. Selbst Säuglingen werde Kaffee eingeflößt. Aus einer monotonen Aneinanderreihung apokalyptischer Klagen erstand der schwarze Kaffee als eine exemplarische Gestalt der Moderne, keine reine Flüssigkeit, sondern die Verkörperung des degenerierten modernen Menschen, dem jede körperliche Selbstdisziplin fehlt. Die Milchpropaganda hat nach dem Ersten Weltkrieg die Gegenfigur aufgebaut, die (mittlerweile TB-freie) weiße, gesunde Milch. In Skandinavien und Deutschland wurden Vereinigungen gegründet, die den Absatz von Milchprodukten propagierten, als Teil einer »modernen«, »hygienischen« Lebensführung. Sie organisierten Milchbars und griffen in die Schulspeisung ein. Auch die Milch verwandelte sich von einer Flüssigkeit in eine deutlich sichtbare Gestalt, und zwar in Abbildungen, die gesunde Arbeiter oder blonde Mädchen zeigen, die dank Milch zu den »A-Menschen« gehören, die lange Reihen milchtrinkender Schulkinder zeigen, oder – in einem Wettbewerbsbeitrag – ein kränkliches, gebeugtes Kaffeekind und einen gesunden, aufrechten Milchbuben (Abb. 2, 3).55 Abbildung 2: Entwurf für das Titelbild einer Broschüre der schwedischen »Milchpropaganda«. »Der Milchjunge ist gesund und kräftig« – »Der Kaffeejunge ist kränklich und schwach«. Milch und Kaffee verkörpern zwei paradigmatische Getränke der Moderne und zwei konträre Typen von Menschen.

55 | Ausführlicher: Etzemüller, Thomas: Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010, S. 95-99, 390-395.

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Abbildung 3: »Käse in jeden Brotbeutel«: Avantgardeästhetik, Klassenfrage und Gesundheit sind auf diesem Plakat vereint. In Serie marschieren gesunde Arbeiter dynamisch und kraftvoll zur Arbeit, in Form einer seriellen Gestalt der Moderne.

Solche Gestalten entstanden in Texten oder Text-Bild-Collagen, eine serielle Wiederholung – innerhalb eines Bildes oder von Bildern –, oder aber durch ein Netzwerk unverbundener Text- und Bildpartikel, die gemeinsam eine Gestalt evozierten. Oft erblickten Gestalten das Licht der Welt, die Macher waren, der patriarchalische Werksdirektor, der Ingenieur, der Flieger oder der Architekt, die durch nüchternes und unbestechliches Expertentum ein Land voranbrachten. Sie wurden von blassen, negativen Gegengestalten begleitetet, etwa dem Pfarrer oder den eugenisch degenerierten Geistesschwachen und Sozialschmarotzern, aber auch von positiven Nebenfiguren: verlässlichen Amtmännern oder unbekümmerten, sportlichen Freizeitmenschen. All diese Gestalten waren fiktiv, und um ihre Gestaltqualitäten abschätzen zu können, muss an Hand eines breiten, transnationalen samples von Texten und visuellen Quellen geprüft werden, inwieweit sie typisiert waren, und welche Rolle sie in der Thematisierung gesellschaftlicher Konfliktlagen spielten. Geistesschwache, Piloten, Architekten, Ingenieure, Ärzte oder das factory girl56 be56 | Siehe hierzu den Beitrag von Timo Luks in diesem Band.

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völkerten das ganze Spektrum wissenschaftlicher Publikationen, von Novellen und Romanen sowie Filmen, Fotografien und Kunstwerken. Die Figuren waren fiktiv, wurden jedoch regelrecht zum Leben erweckt, weil sie Menschen nachempfunden waren und zugleich mit der medialen Inszenierung realer Helden der Moderne verschmolzen: Le Corbusier, Charles Lindbergh, Margaret Bourke-White usw.  – wenn nicht diese wiederum (teilweise) nach den fiktiven Figuren als Gestalten imaginiert wurden. Personalisierte Fiktionen, die Alltagserfahrung der Evidenz individueller Persönlichkeiten sowie die reale Arbeit prominenter und medial vermarkteter Experten verweisen in einer Gestalt wechselseitig aufeinander und sorgen dafür, dass bestimmte Figurationen als Gestalten realen Einfluss in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausüben können. VIII. Es stellt sich jedoch die Frage, ob über solche Verkörperungen hinaus, wie ich sie oben theoretisch entworfen habe, die ihre Evidenz durch die Homologie zum eigenen menschlichen Körper gewinnen, auch Ausstellungen oder Bauwerke Gestaltqualität gewinnen können. Die Ausstellung Family of Man im Jahre 1955 entwarf das Bild einer globalen menschlichen Gemeinschaft, die aus Familien bestand, deren Mitglieder weltweit durch Trauer und Freude, Arbeit und Freizeit, Geburt und Tod usw. geprägt waren (Abb. 4).57 Das ist ein zutiefst ideologisches Bild, das sich aus der Zeit heraus erklären lässt. Es sollte, indem es ein humanistisches Menschenbild entwarf, zeigen, dass alle Menschen gleich sind, um eine bessere Welt zu schaffen. Menschlichkeit sollte an die Stelle von Gewalt treten. Roland Barthes hat diese Ausstellung in seine Mythen des Alltags aufgenommen und als »Adamismus« kritisiert: »Hier zielt alles, Bildinhalt und Bildwirkung sowie die sie rechtfertigende Erklärung, darauf ab, das determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben. Wir werden an der Oberfläche einer Identität festgehalten und durch Sentimentalität gehindert, in den späteren Bereich der menschlichen Verhaltensweisen einzudringen, wo die historische Entfremdung jene ›Unterschiede‹ schafft, die wir schlicht und einfach ›Ungerechtigkeiten‹ nennen. […] Ich befürchte deshalb, daß die Rechtfertigung dieses ganzen Adamismus darauf hinausläuft, für die Unveränderbarkeit der Welt die Bürgschaft einer ›Weisheit‹ und einer ›Lyrik‹ zu liefern, durch die die Gebärden des Menschen nur verewigt werden, um sie leichter zu entschärfen.« 58

Sind diese zweifellos treffende Kritik und die Tatsache, dass die Ausstellung bis heute gezeigt wird, ein Beleg für agency? Denn wie auf dem Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan bilden die in der Ausstellung präsentierten Menschen einen facettenreichen Körper – nicht den des Herrschers jedoch, sondern den einer harmonischen Weltgemeinschaft. Oder findet die Wirkung doch nur auf derselben Ebene statt wie ein eminent einflussreicher Text – z.B. Barthes’ Mythen –, ist also kein Akteur, sondern eine wirkmächtige diskursive Praxis?

57 | The Family of Man. Created by Edward Steichen. Prologue by Carl Sandburg, New York 2008. 58 | Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 17, 19.

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Abbildung 4: Die Selbstverwaltung kleiner sozialer Gruppen wird hier visuell zu einer anthropologischen, globalen Grundtatsache erhoben. Es entsteht die kollektive Gestalt eines libertären Kommunalismus, wobei jede Form der Ungleichheit unsichtbar gemacht wird. Auch das ist eine Stärke von Gestalten.

Ähnliche Beispiele sind die Fotografien Erna Lendvai-Dirksens, die im Autobahnbau eine (nationalsozialistische) Volksgemeinschaft beschwor, oder ihr deutsches Volksgesicht: angeblich typische Vertreter der deutschen Gaue, deren Gesichter

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durch die Landschaft, in der sie lebten, geschmiedet wurden, und die in ihrer Vielfalt ein Ganzes bildeten (implizit alles »Gemeinschaftsfremde« ausgrenzend). Unterscheiden sie sich durch diesen organizistischen Holismus von Physiognomie, Volk, Natur und Herkunft tatsächlich von Sozialfiguren wie August Sanders idealtypischen Portraits von Bauern, Bäckern und Künstlern? Oder nehmen wir das Gemälde American Gothic von Grant Wood (1930), eine (umstrittene) Ikone des amerikanischen mittleren Westens, das in unterschiedliche Kontexte transferiert wurde (z.B. in Gordon Parks’ Foto einer erschöpften Putzfrau).59 Diese Figuren sind zweifellos in die jeweils aktuellen Debatten um den Zustand der Gesellschaft eingegangen, aber sind sie Gestalten? Und wie verhält es sich mit Bauwerken? Der Schwede Karl-Erik Forsslund hatte 1914 eine Anleitung zum Heimatschutz publiziert, in der er den Baum als Sinnbild der Natur durch den Strommasten als Sinnbild der Moderne abgelöst sah. Mitten in einem tosenden Fluss steht unerschütterlich ein Strommast, am Ufer ein alter Baum, der sich über seinen neuen Kameraden verwundert und eine ungewohnte Musik hört: Sprengungen, Hammerschläge, Bohrmaschinen und das Rasseln der Kräne. Er erinnert sich an früher und sieht, wie einer der Flussarme in einem Kanal durch das entstehende Wasserkraftwerk hindurchgezwungen wird. Dann tritt der Autor auf: »Die beiden Kameraden oben in Porjus [Nordschweden], der Strommast und der Baum – sie schienen mir wie zwei Persönlichkeiten, als ich da stand und auf sie blickte. Die eine, Menschenwerk, aufrecht und hoch, aber kahl und steif. Die andere, Sohn der Wildnis – unnütz, heißt es, steht ja zumindest hier ohne sichtbaren Sinn, doch großartig schön, voller Gesang und alter Weisheit, für den, der hören will und kann. Zäh und stark, trotzdem verurteilt, an welchem Tag auch immer zu fallen. Sie wurden mir zwei gute Botschafter aus je ihrer Welt, Sinnbilder der zwei streitbaren Mächte, die in unserer Zeit heftiger als vielleicht je zuvor aneinander geraten. Sie können kurz und knapp Alt und Neu genannt werden.« 60

Solche Personifizierungen, und die Staudämme und Turbinenhallen, die damals die »weiße Kohle« der klinisch reinen, effizienten, leisen Wasserkraft repräsentierten – sind das Gestalten (Abb. 5)? Wie sieht es mit Brasilia oder dem Bonner Bundeskanzleramt aus, die als Habitat das Sozialverhalten der Menschen umgestalten bzw. als Schaltzentrale die gesamte Gesellschaft steuern sollten, die beide also darauf abzielten, wie Akteure in das Leben von Menschen einzugreifen? Bereits in der Frühen Neuzeit hatten der Französische und der Englische Garten Vorstellungen von der Ordnung der Welt visualisiert; von den Gartenstädten des 19. Jahrhunderts bis zum funktionalistischen Zeilenhausbau der Zwischenkriegszeit wurden Siedlungen und sogar Städte gezielt als Bild gestaltet. Planer waren von klaren Strukturen und kontrollierten Räumen beseelt, Stadt und Stadtplan sollten soziale

59 | Vgl. zu Lendvai-Dirksen: Blask, Falk/Friedrich, Thomas (Hg.): Menschenbild und Volksgesicht. Positionen zur Portraitfotografie im Nationalsozialismus, Münster u.a. 2005; zum American Gothic: Biel, Steven: American Gothic. A Life of America’s Most Famous Painting, New York/London 2005. 60 | Forsslund, Karl-Erik: Hembygdsvård I. Naturskydd och nationalparker, Stockholm 1914, S. 6f. (Übersetzung von mir).

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Abbildung 5: Diese Abbildung der power station des Chickamauga Dam von 1942 überhöht visuell die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert oft gefeierte klinisch reine Turbinenanlage als Sinnbild einer technisch perfekten Moderne. Sie verzwergt den Menschen, der sie über Schaltanlagen zwar mühelos im Griff behält, sie trotzdem jedoch als mächtigen Akteur betrachten muss.

Ordnung stiften und zugleich visuell repräsentieren. Dupliziert wurde diese Sehnsucht – und das war eine Innovation des 20. Jahrhunderts – in der fotografischen Überhöhung, ein zugleich gebautes und abgelichtetes Gegenbild zur Uneindeutigkeit der Welt. In der Fotografie oder im direkten Anblick eines funktionalistischen Baus wurden Vergangenheit und Zukunft abgebildet: Man sah, was im Verschwinden begriffen war – nämlich heruntergekommene Mietskasernen der Industrie-

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städte – und was sein sollte, eine rationale, hygienische und helle Zukunft. Der umgebaute Raum wurde als Propagandabild seiner eigenen Fortschrittlichkeit vermarktet.61 Die Bilder etwa der Staudämme der Tennessee Valley Authority, Parkways und Autobahnen oder eben der funktionalistische Zeilenhausbau, Brasilia und die klinisch reine Schaltzentrale visualisierten konkrete Erfolge und utopische Zielvorgaben, als Abbild und Anweisung zugleich. Zumindest in Romanen der klassischen Moderne wie »Berlin Alexanderplatz« oder »Manhattan Transfer« trat den Menschen die Stadt als Akteur gegenüber, und in Brasilia konvergierten eine neusachliche Magazinfotografie und der funktionalistische Skulpturalismus der Stadt, es verschmolzen – ausweislich ihrer fotografischen Überhöhung – Raum und Bewohner zu einem Akteur der Moderne, der die »brasilianité« (die angeblich irrationalen Lebensformen des traditionalen Brasilien) überwinden sollte, eine materiell-visuelle Symbiose, die dem politischen Programm Schlagkraft durch die Evidenz des Augenscheins verlieh.62 Abbildung 6: Die fallende Kurve taucht als grafisches Element seit 100 Jahren transnational in immer derselben Form im Bevölkerungsdiskurs auf. Rechts wird diese Gestaltqualität durch Verkörperung dramatisiert und unterstrichen.

Schließlich Grafiken – ist die abstürzende demografische Kurve, wiederholt in unzähligen Varianten, eine Gestalt des 20. Jahrhunderts? Visuelle Qualitäten hat sie zweifellos, ein Akteur ist sie ebenfalls, da sie das Sprechen über Demografie bis heute massiv formatiert (Abb. 6). In begleitenden Bildern kann sie außerdem eine 61 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Hjorthagen 1937. Eine Photographie als Metapher auf die Moderne lesen, in: Budde, Gunilla/Freist, Dagmar/Reeken, Dietmar von (Hg.): Geschichts-Quellen. Brückenschläge zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik. Festschrift für Hilke Günther-Arndt, Berlin 2008, S. 45-55. 62 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Dinge als Bilder ihrer selbst. Das Beispiel Basilias – materialisierter Raum und visualisierte Praxisanweisung, in: Visual History 2016 (URL: https://www. visual-history.de/2016/04/18/dinge-als-bilder-ihrer-selbst-das-beispiel-brasilia-materia​ lisierter-raum-und-visualisierte-praxisanweisung/[12.6.2018]); dort auch zwei beispielhafte Abbildungen. Die Brasilia zu Piktogrammen verdichtende Mythisierung findet sich besonders prägnant in den Bildbänden von Lucien Clergue und René Burri: Rüegg, Arthur (Hg.): René Burri. Brasilia, Zürich 2011; Turck, Eva-Monika: Lucien Clergue. Brasília, Ostfildern 2013.

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Art Körperlichkeit annehmen, in Parallelfiguren, etwa der kinderlosen Frau (nicht: dem kinderlosen Mann), der dysfunktionalen, überkinderten Hartz-IV-Familie oder den Afrikanern, die wie eine Biomasse in den sich angeblich entleerenden Raum Europas quellen. Doch kann oder sollte der Begriff der Gestalt tatsächlich in einem weiten Sinne verwendet werden? Müssen sie Körperlichkeit im menschlichen Sinne annehmen? Und wie genau wirken sie? IX. Immer wieder, so lautet mein Fazit, wurden Gestalten evoziert, die die Moderne personifizierten, diese zu einem Gegenüber, zu einem Gegner oder Bundsverwandten, sie auf jeden Fall greif bar machten. Teils machten diese Gestalten Konfliktlinien sichtbar, teils dienten sie als Einsatz in der Auseinandersetzung um die Moderne, teils beschworen sie menschliche Gemeinschaften, teils waren sie Akteur in der Auseinandersetzung, indem sie das Sozialverhalten der Menschen umgestalten sollten. Die Gestalt ist wie die Metapher eine Übersetzung. Erstere funktioniert sprachlich(-visuell), letztere visuell/sprachlich. Ausgangspunkt ist die Situation, sich in einer Gegenwart zurechtfinden und Zukunft antizipieren zu müssen. Gestalten machen die Komplexität der gegenwärtigen Welt verfügbar und reduzieren sie, indem sie Latentes in einer spezifischen Form sichtbar machen. Man muss sich ein Bild machen, um gestalten zu können; Gestalt und Gestaltung gehen in eins. Eine Gesellschaft (als autopoietisches System) beginnt imaginierte und materielle Dinge zirkulieren zu lassen, die in der medialen Verdichtung allmählich zu etwas quasi Lebendigem mutieren. Dieser entstehenden Gestalt eignet eine zunehmend höhere metaphorische Qualität, sie steht für etwas. Dank ihrer Anmutungskraft, ihrer spezifisch affektiven Energie, Sinnlichkeit, Lebenswärme, ihrem Appell an Alltagserfahrungen, tritt sie als Unseresgleichen gegenüber, zu dem man sich verhalten muss (oder dem man sich verweigert), oder das man gleich einverleibt. Eine Gestalt schränkt die Offenheit von Wahrnehmungen und Reaktionen ein und präformiert oder formatiert sie; sie ist Deutung der Gegenwart, die Anweisungen zur Intervention in die Zukunft hinein verkörpert. Natürlich fällt die Strahlkraft von Gestalten unterschiedlich aus, je Gesellschaft, Zeit oder der jeweiligen Gruppen, die eine Gestalt wahrnehmen (»Jeanne d’Arc«) oder nur ein (beliebiges) Individuum (Jeanne) sehen. Gestalten können global wirken oder einzelne Aspekte betreffen. Sie bieten einen Spielraum. Sie sind metaphorisch nicht mit dem exakt geschnittenen Werkstück zu erfassen, sondern mit der Normalverteilungskurve. Einer notwendigen Kohärenz und regelhaften Verbindlichkeit korrespondiert eine zulässige Varianz. Beide werden tariert durch Familienähnlichkeiten, die in einer vergleichenden Wahrnehmung, durch Assoziationen, Plausibilität usw. entstehen. Wenn man diese kulturelle Tiefengrammatik auslotet, wird man die politische Macht, die konkreten Effekte von lebendigen Bildern in den Blick bekommen, die erheblich dazu beigetragen haben, die Moderne so zu gestalten, wie sie gestaltet wurde.

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren? Intervenierende Soziographie als Gegenwartsdiagnose, oder: Die Herausforderung der factory girls Timo Luks »Ein Bild rückständiger traditionalistischer Form der Arbeit bieten heute besonders oft die Arbeiterinnen, besonders die unverheirateten. Insbesondere ihr absoluter Mangel an Fähigkeit und Willigkeit, überkommene und einmal erlernte Arten des Arbeitens zugunsten anderer, praktischerer, aufzugeben, sich neuen Arbeitsformen anzupassen, zu lernen und den Verstand zu konzentrieren oder nur überhaupt zu brauchen, ist eine fast allgemeine Klage von Arbeitgebern, die Mädchen, zumal deutsche Mädchen, beschäftigen. Auseinandersetzungen über die Möglichkeit, sich die Arbeit leichter, vor allem erträglicher, zu gestalten, pflegen bei ihnen auf völliges Unverständnis zu stoßen, Erhöhung der Akkordsätze prallt wirkungslos an der Mauer der Gewöhnung ab.« Max Weber, 19041 »Some people say little girls should be seen and not heard, but I say OH BONDAGE UP YOURS! 1-2-3-4!« X-Ray Spex, 19772

Der folgende Aufsatz widmet sich einem zwischen etwa 1880 und 1930 offenkundig drängenden gegenwartsdiagnostischen Problem: der Fabrikarbeit junger, unverheirateter Frauen. Als factory girls werden dabei jene »Mädchen« (Max Weber) angesprochen, die im Alter von vierzehn Jahren bis Mitte zwanzig in einem industriellen Beschäftigungsverhältnis standen. »Mädchen« beziehungsweise girl war die typische Adressierung dieser Gruppe, die freilich vereinzelt aufgebrochen werden 1 | Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 2010, S. 65-276, hier S. 85. 2 | X-Ray Spex, Oh Bondage Up Yours!, Virgin Records, 1977.

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konnte.3 Es war diese Gruppe, die die Aufmerksamkeit von Sozialreformerinnen wie Minna Wettstein-Adelt erregte, die nach dreieinhalbmonatigen verdeckten Ermittlungen 1893 berichtete: Die Arbeiterinnen in den Fabriken seien dort entweder seit Verlassen der Schule beschäftigt oder es handele sich um entlassene Dienstmädchen. Wettstein-Adelt unterschied scharf zwischen beiden Gruppen. Erstere umfasse »die tüchtigen, ordentlichen Mädchen«, letztere diejenigen, die »meist durch unsittlichen Lebenswandel, Faulheit oder andere schlechte Eigenschaften zur Fabrikarbeit gelangt [waren], die ihnen, wenn auch ein elenderes, so doch ein freieres Leben gestattete: sie lieferten das Heer der verkommenen, rohen Arbeiter­ innen.«4 Wettstein-Adelts Bezug auf die Dienstmädchen macht deutlich, dass es sich bei der Figur der jungen, unverheirateten Fabrikarbeiterin um eine mögliche Form weiblicher Subjektivierung handelte, die in Relation zu alternativen Formen und Figuren funktionierte und Stabilität erlangte. Gemeinsam sind den Figuren des Dienst- und Fabrikmädchens die Zusammenführung sexual- und verhaltensmoralischer Zuschreibungen mit dem Problem weiblicher Beschäftigung und Beschäftigungsverhältnisse, die Identifizierung von Unabhängigkeit (Korrelat und Synonym des Nichtverheiratetseins und der Verfügung über ein eigenes Einkommen) als Unruheherd innerhalb der zeitgenössischen Ordnung der Geschlechter sowie ihre Deutung als Symptom und Indikator, Ursache wie Folge gesellschaftlicher Verunsicherung insgesamt. Auch wenn die Figur des Dienstmädchens im vorliegenden Aufsatz nicht im Detail diskutiert werden kann,5 so muss sie doch zumindest als in der Problematisierung des Factory Girl implizit oder explizit präsente Figur mitgedacht werden – als zeitgenössische Markierung einer alternativen oder komplementären Verknüpfung von Arbeit, Geschlecht und gesellschaftlicher Ordnung, in der individuelle Emanzipationshoffnungen (»ein freieres Leben«) nicht als gesellschaftlicher Fortschritt begrüßt, sondern als sozialmoralische Gefahr gefasst wurden. Als factory girls zur Herausforderung wurden, waren sie keine marginale und auch keine neue Erscheinung mehr. Wer Zeitung oder Berichte von Sozialreformern und Sozialreformerinnen las oder vielleicht an einer Fabrikbesichtigung teilnahm, wusste von ihrer Existenz im Plural (als Ansammlung zahlreicher junger, unverheirateter, in einer Fabrik arbeitender Frauen). Innerhalb einer bestimmten diskursiven Formation wurden diese factory girls schrittweise zum Problem, ver3 | Bildliche Inszenierungen wiesen bereits seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert eine Spannung auf, trat in der Adressierung fabrikarbeitender Frauen doch rasch ›die Mitarbeiterin‹ neben ›das Mädchen‹ (vgl. Uhl, Karsten: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 29-33). 4 | Wettstein-Adelt, Minna: 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, Berlin 1893, S. 18. 5 | Vgl. Steedman, Carolyn: Labours Lost. Domestic Service and the Making of Modern England, Cambridge/London 2009; sowie Eßlinger, Eva: Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur, München 2013. Dienstmädchen werden von Eßlinger als »Grenzfigur des Familiendiskurses« diskutiert, die – etwa in ihrer literarischen Verarbeitung als Romanfigur des »verführten Dienstmädchens« – auf eine konstitutive Spannung zwischen Unentbehrlichkeit auf der einen und (erzwungener oder freiwilliger) »erotischer Versorgung der alten und jungen Familienmänner« und der davon ausgehenden »Bedrohung der Moral und Familienordnung« auf der anderen Seite verweist (ebd., S. 19).

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dichtet im Kollektivsingular des Factory Girl. Während die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, so Joan W. Scott, zwar nach wie vor pragmatisch zu lösende Probleme, etwa die Ausgestaltung der Löhne oder der Lohnkonkurrenz mit Männern, aufwarf, galten die femmes isolées in sehr viel grundsätzlicher Weise als pathologische Erscheinung: als Verkörperung einer Welt turbulenter Sexualität, subversiver Unabhängigkeit und gefährlichen Ungehorsams. Was seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts problematisiert wurde, war eine neue Form der Vermischung der Geschlechter jenseits der hergebrachten, hierarchischen Beziehungen in Ehe und Familie.6 Entlang der Frage arbeitender junger Frauen – konturiert als Frage nach den Auswirkungen eines engen Kontakts der girls mit erwachsenen Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch nach den Auswirkungen eines durch eigenen Lohn ermöglichten unabhängigen Lebensstils auf familiäre Verpflichtungen – ließen sich um die Jahrhundertwende nahezu alle Probleme sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandels verhandeln.7 Eine zentrale Indikatorfunktion des Factory Girl bestand darin, die Schnittstelle von industrieller Arbeits- und Geschlechterordnung als jenen gesellschaftlichen Ort zu identifizieren, an dem es um das Ganze der sozialen Ordnung ging. Der diagnostische Gegenstandsbereich konstituierte sich hier über eine spezifische Verknüpfung von Alter, Geschlecht, Familienstand, Einkommen und Klasse als Ankerpunkte einer Identifizierung und sozialen bzw. sozialräumlichen Verortung sowie der beunruhigenden Möglichkeit individuell wie auch kollektiv gelebter Selbständigkeit. Factory girls waren und wurden Gegenstand einer mehrstufigen Problematisierung, die schließlich das Factory Girl hervorbrachte. Das Factory Girl, so die These, war Effekt einer spezifischen Form von Gegenwartsdiagnose, die sich als intervenierende Soziographie beschreiben lässt. Mit dieser Begriffsbildung ist die Behauptung verbunden, dass bestimmte Textgattungen und Wissensformen, die – etwa in der Soziologiegeschichte – bisher in der Regel getrennt behandelt werden (Sozialreportage, Sozialenquete, social survey usw.) eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, die es rechtfertigt, sie als eigenständiges Genre und relativ kohärente Form der Gegenwartsdiagnose anzusprechen. Im Folgenden werden zunächst die Spezifika intervenierender Soziographie umrissen (1.) und im Anschluss die verschiedenen Problematisierungsschritte dargestellt: zunächst die Positionen und Positionierungen, von denen aus gesprochen und beobachtet wurde (2.); dann die Konturierung des Factory Girl als Effekt einer mehrfachen Separierung (fabrikarbeitender Frauen von fabrikarbeitenden Männern, verheirateter von unverheirateten Arbeiterinnen, Fabrikarbeiterinnen von Frauen des Bürgertums), die jenen diskursiven Raum öffnete, in dem das Erscheinen des Factory Girl möglich wurde (3.). Es geht im Folgenden also weniger um die öffentliche Verhandlung sozialer Probleme mittels Rückgriff auf das Medium des Factory Girl, sondern um die diskursive Erzeugung dieser Sozialfigur als Verdichtung gegenwartsdiagnostischer Probleme. 6 | Vgl. Scott, Joan W.: »L’ouvriere! Mot impie, sordid …«. Women Workers in the Discourse of Political Economy, 1840-1860, in: Dies.: Gender and the Politics of History, New York 1999, S. 139-163. 7 | Vgl. Todd, Selina: Young Women, Work, and Family in England 1918-1950, Oxford 2005, S. 46-48.

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1. W as ist » intervenierende S oziogr aphie «? Der gegenwartsdiagnostische Problematisierungsmodus, den ich intervenierende Soziographie nennen möchte, verweist auf die von Michel Foucault rekonstruierte »Vorstellung von einem inneren Krieg, der die Gesellschaft gegen die in ihrem Körper entstehenden und von ihrem Körper ausgehenden Gefahren verteidigen soll«.8 Seit dem 18. Jahrhundert, so Foucault, betrat die Gesellschaft als neues Subjekt der Geschichte und zugleich als neuer Objektbereich für das (historische) Wissen die Bühne; und damit zeichnete sich »die düstere Geschichte der Bündnisse, der Gruppenrivalitäten, der versteckten oder verratenen Interessen [ab]; die Geschichte der Rechtsverdrehungen und Vermögensverschiebungen; eine Geschichte von Ehrlichkeit und Verrat; von Defiziten, Erpressungen, Schulden, Übervorteilungen, aber auch des Vergessens, des Unbewußten usw.« 9

Die Konturierung von Gesellschaft als Raum von Bedrohungen, Konflikten und Kollisionen evozierte, in den Worten Jacques Donzelots, ein »Spektrum von Prozeduren, die den Mitgliedern einer Gesellschaft einen relativen Schutz gegen ökonomische Fluktuationen bieten, die ihre Beziehungen flexibel und ihre Motivationen überzeugend genug halten, um ein Zerfallen der Gesellschaft aus Interessens- oder Glaubensverschiedenheiten zu verhüten.«10 Es ist also, in scheinbar paradoxer Weise, gerade die Konturierung von Bedrohungen der Gesellschaft, die als Motor der Herstellung von Zusammenhalt wirkt. Donzelot bezeichnet dieses Spektrum von Prozeduren als das Soziale. Das Bemühen, die Gesellschaft vor dem Zerfallen zu schützen, erforderte nicht zuletzt die Identifizierung derjenigen sozialen Gruppen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen Haltungen und Verhaltensweisen begünstigten, die sie zu einer Herausforderung werden ließen. Diese Funktion, Herausforderungen zu identifizieren, übernahmen, unter anderem, verschiedene Formen der Gegenwartsdiagnose, zu denen auch die intervenierende Soziographie gehört. Intervenierende Soziographie ist eine Technik der Problematisierung, d.h. sie lässt sich – im Anschluss an Michel Foucault – als Teil einer »Gesamtheit der diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken« analysieren, die »etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten« lässt und es »als Objekt für das Denken (sei es in der Form der moralischen Reflexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse usw.)« konstituiert.11 Texte, die sich unter dem Etikett inter8 | Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76, Frankfurt a.M. 1999, S. 250. 9 | Ebd., S. 158f. 10 | Donzelot, Jacques: Die Ordnung der Familie, Frankfurt a.M. 1979, S. 15. 11 | Foucault, Michel: Die Sorge um die Wahrheit (Gespräch mit Francois Ewald), in: Ders.: Dits et écrits, 4 Bde., Frankfurt a.M. 2001-2005, Bd. 4, S. 823-836, hier S. 826. Eine Problematisierung, so Foucault (Foucault, Michel: Polemik, Politik und Problematisierungen [Gespräch mit Paul Rabinow], in: ebd., S. 724-734, hier S. 727), gehört zum Gebiet »der Ausarbeitung eines Bereichs von Tatsachen, Praktiken und Denkweisen, die der Politik Probleme zu stellen scheinen«. Zum Konzept der Problematisierung vgl. auch Bohlender, Matthias: Michel Foucault – Für eine Geschichte und Kritik der politischen Vernunft, in: Bluhm, Harald (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden

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venierender Soziographie verhandeln lassen, arbeiten Lösungsversuche aus, um den durch sie selbst aufgeworfenen Problemen zu begegnen. Intervenierende Soziographie erfindet Leute. Sie entwirft klassifikatorische Kategorien, die dann wiederum übernommen werden und den Akteuren als Mittel dienen, sich und andere zu sortieren. Einmal ›erfunden‹, so Ian Hacking, verfügt die jeweilige Kategorie über ein Eigenleben. Sie wird gelebt, angeeignet und – individuell und kollektiv – ausgestaltet. Die ›erfundenen Leute‹ sind daher Effekt einer doppelten Bewegung: einerseits einer Etikettierung durch Experten, andererseits des in die Etikettierungspraxis eingehenden Verhaltens derjenigen, die etikettiert werden.12 Diese Spannung wird in der Sozialfigur des Factory Girl greif bar – Sozialfigur hier verstanden als »konzentrierte Zusammenstellung gegenwartsrelevanter Charakteristika« (Tobias Schlechtriemen); als Beschreibungsform, in der Erkenntnisse über das Soziale in verdichteter Form eingefasst werden, die jedoch nicht in einem referentiellen Bezug zur ›sozialen Wirklichkeit‹ aufgehen. Dabei ist bedeutsam, dass hier einmal eine empirische Bezeichnung für eine bestimmte soziale Gruppe gemeint sein konnte ( factory girls als Sammelbezeichnung), dann aber auch die mit einem Eigennamen verbundene Markierung einer individuellen Stimme eines der factory girls, und schließlich eine »fiktionale Verdichtung« (Thomas Etzemüller), die in dem Maße, wie ihre gesellschaftliche Identifizierbarkeit schwindet, zur Gestalt gerinnen kann.13 Intervenierende Soziographie kann, was ihre Darstellungsweisen angeht, ganz unterschiedlich daherkommen; nicht zuletzt aufgrund der langen und vielschichtigen Tradition des ›Schreibens über gesellschaftliche Belange‹ seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, in der sich philosophisches, literarisches und (rudimentär akademisch institutionalisiertes) soziologisches oder volkskundliches Schreiben regelmäßig überlagerten. In dieser Tradition des 19. Jahrhunderts stellten ›Schilderung‹ und ›Dichtung‹ keinen Widerspruch dar, solange sich beide in den Dienst einer spezifischen Faktenorientierung stellten.14 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden soziographische Erhebungen systematisch als Rohmaterial sozialreformerischer und sozialpolitischer Interventionen konzipiert. Die damit verbundene sozialwissenschaftlich-empirische Form der Darstellung und Evidenz2006, S. 89-106; Castel, Robert: »Problematization« as a Mode of Reading History, in: Goldstein, Jan (Hg.): Foucault and the Writing of History, Oxford/Cambridge, MA 1994, S. 237252. 12 | Vgl. Hacking, Ian: Making Up People, in: Ders.: Historical Ontology, Cambridge/London 2002, S. 99-114. 13 | Vgl. dazu die Beiträge von Tobias Schlechtriemen und Thomas Etzemüller in diesem Band. Mit Blick auf die von Schlechtriemen diskutierten Sozialfiguren drängt sich darüber hinaus die Frage nach den mitunter sehr verschiedenen Konstruktionsprinzipien auf. Während das Factory Girl sich aus heterogenen Quellen speiste und als zusammengesetzte Figur begegnet, scheint es sich bei Siegfried Kracauers »Angestelltem«, David Riesmans »außengeleitetem Charakter« und Richard Sennetts »flexiblem Menschen« partiell um Effekte eines aufmerksamkeitsökonomischen »Branding« zu handeln, das Sozialfiguren auch den Charakter soziologisch-publizistischer »Trademarks« verleiht. 14 | Dazu im Detail: Eiden-Offe, Patrick: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin 2017, S. 150-204. Eine Variante rudimentär akademisch institutionalisierten volkskundlichen Schreibens diskutiert Gunilla Budde im vorliegenden Band.

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erzeugung musste sich im späten 19. Jahrhundert freilich gegen konkurrierende Strategien durchsetzen, die nicht auf ›Faktenberichte‹, sondern auf emotionale Überwältigung setzten, um soziale Probleme sichtbar zu machen. Seth Koven hat auf die prekären Grenzen innerhalb dieses Diskurses hingewiesen: »If the experience of finding the same story in a novel and a philanthropic report made each narrative seem more authentic and true, it must also have destabilized expectations about the relationship of fact and fiction. This confusion was part of a much broader problem confronting readers in an age when many novelists, not just writers of evangelical tracts, drew on reports produced by social investigators whose authors, for their part, often deployed novelistic conventions in presenting their own ›facts‹.«15

Freilich, vor dem Hintergrund einer signifikanten Verwissenschaftlichung des Sozialen seit den 1880er Jahren,16 nahmen Soziographien, die sich auf das Modell der Sozialenquete oder des social survey bezogen, eine privilegierte Position ein (ohne dass Sozialreportagen, seien sie nun journalistisch oder literarisch, kategorisch ausgeschlossen worden wären).17

2. P ositionen und P ositionierungen Die Akteurinnen und Akteure, deren soziographische Interventionen zur Problematisierung des Factory Girl führten, gehörten mehrheitlich dem sozialreformerisch gesinnten Bürgertum an. Entsprechend schrieb sich von Anfang an ein sozialer und sozialmoralischer Bias ein. Autorinnen wie Beatrice Potter, Clementina Black oder Minna Wettstein-Adelt rahmten das Problem des Factory Girl als Herausforderung für Sozialreformen, die vor allem durch engagierte Frauen des Bürgertums voranzubringen waren. Dadurch sollte die Besserung der Lage des Factory Girl nicht zuletzt zu einem Anliegen der (bürgerlichen) Frauenbewegung werden, der Potter, Black und Wettstein-Adelt in unterschiedlicher Weise verbunden waren. Der andere zentrale Strang der Problematisierung des Factory Girl führt zu Akteuren wie Edward Cadbury und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die als Unternehmer und Unternehmensangestellte persönliche Verantwortung und Expertise für die factory girls reklamierten und die Lösung des Problems in einer 15 | Koven, Seth: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton/Oxford 2004, S. 97f. 16 | Vgl. Raphael, Lutz: Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880-1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Brückweh, Kerstin (Hg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880-1980, Basingstoke u.a. 2012, S. 41-58. 17 | Vgl. Bonß, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a.M. 1982; Bulmer, Martin: The Uses of Social Research. Social Investigation and Public Policy Making, London 1982; Ders./Bales, Kevin/ Sklar, Kathryn Kish (Hg.): The Social Survey in Historical Perspective, Cambridge u.a. 1991; Englander, David/O’Day, Rosemary (Hg.): Retrieved Riches. Social Investigation in Britain, 1840-1914, Aldershot 1995; Oberschall, Anthony (Hg.): The Establishment of Empirical Sociology, New York 1972.

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren?

sozialwissenschaftlich informierten betrieblichen Sozialpolitik sahen. Beide Stränge, sowie die damit verbundenen Positionen und Positionierungen – bürgerlich sozialreformerisch, bürgerlich frauenbewegt, bürgerlich unternehmerisch – wurden zeitgenössisch durch Arbeiterinnen wie Ada Nield herausgefordert, deren Interventionen als Versuch der Selbstermächtigung gelesen werden können. Dieses Tableau, das im Folgenden konkretisiert werden soll, zeigt freilich auch eine Einschränkung des vorliegenden Aufsatzes an: Trotz der gelegentlichen Bezüge auf deutsche Quellen wird aus Gründen der Kohärenz und notwendigen Begrenzung wesentlich eine britische Geschichte erzählt. Fragen, die einen systematischen Vergleich unter Einbeziehung der jeweiligen industrie-, geschlechter- und wissenschaftsgeschichtlichen sowie sozialpolitischen Kontexte erfordern – etwa die Frage danach, warum das Thema der jungen, unverheirateten, fabrikarbeitenden Frauen in Deutschland und Britannien gleichermaßen und in sehr ähnlicher Weise auf der Tagesordnung stand, das Factory Girl als prägnanter Topos im britischen Fall aber sehr viel prominenter wurde als das eher ungebräuchliche ›Fabrikmädchen‹ – werden daher nur indirekt berührt. Die Konturierung des Factory Girl nahm ihren publikumswirksamen Ausgang nicht in einem großangelegten survey oder einer soziologischen Studie, sondern in Berichten von Sozialreformerinnen, die sich als (Fabrik-)Arbeiterin vornehmlich in der Textilbranche versuchten.18 Derartige teilnehmende Beobachtungen waren Ende des 19. Jahrhunderts in Mode. Ihnen gemeinsam war eine Modellierung als ›Expeditionen in ein fremdes Land‹ oder ›Fahrten ins Dunkle‹. Unabhängig von den jeweils konkret verfolgten religions-, sozial- oder frauenpolitischen Zielen durchzieht die Berichte ein permanentes Erstaunen über die Fremdheit der Welt der Fabriken sowie eine stete Reflexion darüber, was mit einem selbst geschah, während man dieser Fremdheit ausgesetzt war.19 Beatrice Potter suchte und fand 1888 eine Anstellung als Näherin im Londoner East End, um auf diese Weise die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen am eigenen Leib kennenzulernen. In ihrem als stilisiertes Tagebuch veröffentlichten Bericht nahm sie eine radikal ›subjektive‹ Perspektive ein. Sie schilderte die Sorgen, aufgrund ihrer vielleicht unpassenden Kleidung oder unzulänglichen Fertigkeiten ›enttarnt‹ zu werden oder gar nicht erst eine Anstellung zu finden. Als letzteres doch gelang, nutze sie ihren Zugang, um die Verhältnisse in den Nähereien zu schildern. Ihr Bericht ist über weite 18 | Das reflektiert den Umstand, dass die Textilindustrie der dominante industrielle Beschäftigungssektor von Frauen war (vgl. Canning, Kathleen: Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany 1850-1914, Ithaca 1996; Pietsch, Eva: Gewerkschaft, Betrieb und Milieu in der Bekleidungsindustrie. Europäische Einwanderer in Baltimore 18701930, Essen 2004). »Die Textilarbeiterin«, so Marlene Ellerkamp, »verkörpert in gewisser Weise das weibliche proletarische Schicksal am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den in der Konfektion, in der Heimarbeit oder den als Dienstmädchen arbeitenden Frauen ist sie ein Symbol für die in hohem Maße mechanisierte, dequalifizierte Fabrikarbeit« (Ellerkamp, Marlene: Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, Göttingen 1991, S. 13). 19 | Analytisch und konzeptionell nach wie vor anregend: Lüdtke, Alf: »Fahrt ins Dunkle?« Erfahrung des Fremden und historische Rekonstruktion, in: Ders.: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015 (urspr. 1985), S. 27-42.

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Strecken das fast romantische Dokument ihres Eintauchens in eine andere Welt und ihres sozialen wie emotionalen Verschmelzens mit den jungen Näherinnen um sie herum.20 Beatrice Potters Wunsch, den girls nah zu sein und die gleichen Erfahrungen zu machen, führte dazu, dass sie bereits bei der Arbeitssuche in ihre Rolle eintauchte. Sie schilderte ihre zunehmende Verzweiflung beim Herumstreifen mit offenem Ausgang, den sie als wichtigen Teil der Erfahrung der girls setzte, die für sie eben nicht erst mit der Arbeit in der Werkstatt begann. Demgegenüber zielte Minna Wettstein-Adelts verdeckte Ermittlung in verschiedenen Chemnitzer Textilfabriken Anfang der 1890er Jahre explizit darauf, einen Beitrag zur Frauenfrage zu leisten. An die Stelle einer Verschmelzungssehnsucht trat bei ihr der politische Dialog mit ihren Mitstreiterinnen und den bürgermännlichen Gegnern der Frauenbewegung. Diese alternative Positionierung zeigt sich bereits auf dem Weg in die Fabrik. Wettstein-Adelt vertraute sich dem »Besitzer eines großen Strumpf- und Trikotagengeschäfts« an, den sie als »Kundin kennen und schätzen gelernt hatte«. Schließlich wusste sie, dass »dieser Herr mit den größten Chemnitzer Fabriken in Geschäftsverbindung« stand und ihr »infolge dessen wohl ein Unterkommen vermitteln würde«. Die Empfehlung dieses Herrn erwies sich tatsächlich als »Sesam, öffne Dich«, das »Eintritt in die meisten Chemnitzer Fabriken verschaffte«, so dass sie »nur zu wählen brauchte«.21 Wer auf diese Weise zur ›Fabrikarbeiterin‹ wurde und das als Initiationsmoment schilderte, markierte einen Abstand zu den ›eigentlichen‹ Fabrikarbeiterinnen – und war darauf bedacht, diesen Abstand zu wahren. Wichtiger als die Potter’sche Sehnsucht des Eintauchens ist hier die Versicherung des Wiederauftauchens aus der Welt der Näherinnen, Spinnerinnen, Putzmacherinnen usw. Minna Wettstein-Adelt war sich anscheinend bewusst, dass eine derartige Position prekär war und der Beglaubigung bedurfte: »Ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß ich jede Minute des Tages zur Arbeit verwandte, daß ich meine Gedanken beständig konzentrierte, um möglichst viel zu erfahren. Ich bin Abend für Abend, Sonntag um Sonntag mit meinen Arbeits-Genossinnen zusammen gewesen, ich habe mit ihnen fast alle Vergnügungs- und Tanzlokale besucht. […] Ich allein kann es beurteilen, was ich in jenen Verhältnissen, die mir bis dahin gänzlich fremd gewesen, gelitten, wie bitter schwer es mir oft wurde, den traurigen Vergnügungen nachzugehen. Ich allein weiß, wie manche Nacht ich vor Erschöpfung, vor übergroßer Ermüdung nicht schlafen konnte, wie ich bei der schweren körperlichen Maschinenarbeit oft glaubte zusammenzubrechen. Nur die aufopfernde, treue Pflege meines Mannes, der mir als Beschützer stets in angemessener Entfernung folgte, nur sein aufmunternder Zuspruch, sein Ansporn, schützten mich oft vor der Rückkehr; ihm verdanke ich es, daß ich das Unternehmen bis ans Ende ausführte.« 22 20 | Vgl. Potter, Beatrice: Pages From a Work-Girl’s Diary, in: The Nineteenth Century 24, 1888, S. 301-314. Zum Gefühl einer »weird romance«, das bürgerliche Sozialforscherinnen und Sozialreformerinnen gegenüber den »East End factory girls« entwickelten, vgl. S. Koven: Slumming, S. 183-227. 21 | M. Wettstein-Adelt: 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, S. 2. 22 | Ebd., S. 2f. Die Selbstbeobachtungen bürgerlicher Sozialreformerinnen und Sozialreformer, die sich im verdeckten Einsatz in einer Fabrik befanden, umfassen oft ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für die körperlichen Anstrengungen der Arbeit – für Ermüdung, Schwä-

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Hier zeigt sich sofort eine Verschiebung: Das, was die anstrengende Arbeit Wettstein-Adelts ausmachte, war nicht identisch mit der anstrengenden Arbeit der Fabrikmädchen, die den Besuch von Vergnügungs- und Tanzlokalen sicher nicht als Bestandteil derselben beschrieben hätten. Wettstein-Adelts Arbeit ist die der teilnehmenden Beobachterin. Unterstrichen wird das Beharren auf dem Nicht-Identisch-Sein mit den Fabrikmädchen auch durch den Verweis auf den in angemessener Entfernung folgenden Ehemann als Beschützer, vor allem aber im Fluchtpunkt ihrer Ausführungen insgesamt, präsentierte Wettstein-Adelt ihren bürgerlichen Geschlechtsgenossinnen doch, natürlich, nicht die Fabrikarbeit als Beschäftigungsperspektive, sondern imaginierte eine Stellung in der Fabrik, die sich von ihrer für dreieinhalb Monate eingenommenen Position ebenso unterschied wie von derjenigen der Fabrikarbeiterinnen. »Mädchen mit guter Bildung, aus guter Familie und mit disciplinarischem Ordnungssinn«, so schrieb sie, sollten sich um eine »passende Ausbildung« bemühen, »die sie befähigt, die Stellung einer Fabrikdirectrice oder Inspektorin anzunehmen«, statt in »einer Menge strickender und häkelnder Mädchen, elend verkümmernder Gesellschafterinnen und Erzieherinnen« unterzugehen.23 Im Unterschied zu den als Fabrikarbeiterin verkleideten Sozialreformerinnen markiert eine Reihe von Briefen an den Herausgeber des Crewe Chronicle im Jahr 1894 die Selbstermächtigung eines factory girl – und damit eine zweite wirkmächtige Positionierung. Die junge und unverheiratete Ada Nield, die zu diesem Zeitpunkt seit einigen Jahren als Schneiderin in einer Textilfabrik in Crewe arbeitete, bemühte sich in diesen Briefen darum, die Leserinnen und Leser der Zeitung mit Lage, Situation und Nöten von factory girls vertraut zu machen. Nields Identität als Verfasserin blieb über Monate vorborgen. Die Briefe erschienen dennoch nicht anonym. Auch wenn sie nicht mit Eigennamen unterzeichnet waren, so trugen sie doch eine Signatur: Als Verfasserin zeichnete – in Großbuchstaben – »A CREWE FACTORY GIRL«. Eine Stimme von vielen beanspruchte nun, für uns selbst zu sprechen. Die selbstbewusste und mutige Signatur war eine Anmaßung in dem Sinn, den Judith Butler unlängst benannt hat: »Wenn man frei von dem Recht Gebrauch macht, zu sein, wer man schon ist, und eine soziale Kategorie zur Beschreibung dieser Daseinsweise beansprucht, dann macht man de facto die Freiheit zum Bestandteil ebenjener Sozialkategorie und verändert diskursiv die jeweilige Ontologie.« 24

Was Ada Nield zu sagen hatte, hing von ihrer Identität als eines der factory girls ab. So sah sie sich zwischenzeitlich genötigt, auf eine Zuschrift – unterzeichnet mit che, Schmerzen, Krankheit usw. –, aber auch für die erforderlichen körperlichen Fertigkeiten. Die Erfahrung einer alternativen Körperlichkeit scheint ein wesentliches Element der Fremdheitserfahrung gewesen zu sein (vgl. A. Lüdtke: »Fahrt ins Dunkle?«, S. 31f.). Als weiteres zeitgenössisches, diesmal französisches Beispiel ist hier an Simone Weil zu denken: Weil, Simone: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt a.M. 1978 (urspr. 1951). 23 | M. Wettstein-Adelt: 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, S. 23. 24 | Butler, Judith: Geschlechterpolitik und das Recht zu erscheinen, in: Dies.: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 37-89, hier S. 83.

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»Another Factory Girl« – zu reagieren, in der über ihre Identität spekuliert wurde. Nield verwahrte sich darin zunächst gegen eine Anrede, die von ihrer Selbstpositionierung abwich: »May I first, sir, inform my fellow-worker that though I claim to be a lady, yet I am also a factory girl, and am not ashamed of that fact, the latter being (as must be well known to ›Another Factory Girl‹) the name by which I am invariably known to the Chronicle. I should be glad, if she should ever have occasion to refer to me again, if she would do so by that name.«25 Zudem zweifelte Ada Nield an, dass es sich bei der Zuschrift tatsächlich um das Schreiben einer anderen Fabrikarbeiterin handelte, entsprächen doch einige ihrer Behauptungen, vor allem hinsichtlich der Arbeitsabläufe, nicht den Gegebenheiten in einer Textilfabrik. Als Nields Identität als Verfasserin der Briefe im Verlauf des Augusts 1894 gelüftet und sie daraufhin entlassen wurde, änderte sich ihre Position. Sie zog – mit Bedauern, aber ohne Zögern – die Konsequenzen und machte sich zur Sympathisantin und Unterstützerin: »In conclusion, sir, if you will allow me, I should like to inform my late fellow-workers that through no fault of mine I am no longer one of them, yet in sympathy – warmest, deepest sympathy – and recollections of sufferings borne side by side with them – I am still with them, and shall always be with them. Anything which I may be able to do at any time in any way towards the effort to improve the conditions of their life, I shall do most gladly. And I would beg them also to be resolute in doing their part by uniting themselves, which is the only way to accomplish anything substantial. Thanking you for space, I am, sir, yours sincerely, (An Ex) Crewe Factory Girl.« 26

Solange sie ein factory girl war und als solches für die factory girls sprach, nahm Ada Nield eine Position ein, die einerseits in einer Spannung zu Sozialreformerinnen und Sozialreformern und andererseits zur interessierten Öffentlichkeit stand. Lange habe sie gehofft, ein einflussreicher Mann oder eine einflussreiche Frau würde sich der Sache der factory girls annehmen und ein Heilmittel für all die Übel bieten, unter denen die jungen, unverheirateten Fabrikarbeiterinnen litten. Während aber in den Zeitungen täglich über Verbesserungen der Arbeitsbedingungen von Männern diskutiert werde, sei von ihrer Klasse – dem unterbezahlten und überarbeiteten ›Factory Girl‹ (von Nield rasch mit Versalien und Anführungszeichen zum Typus verdichtet) – nur selten und vage die Rede. So sei sie zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sich die Situation nicht ändern werde, solange factory girls selbst schwiegen.27 Als Konsequenz ihrer auf Aufklärung und Information zielenden Wortmeldungen lud Ada Nield zu einem imaginären Rundgang durch die Fabrik ein. Sie versprach Einblicke, die jenen Besucherinnen und Besuchern verwehrt blieben, die sich vom Management führen – und allzu oft: täuschen – ließen:

25 | Life in a Crewe Factory, 14 July 1894, in: Nield Chew, Doris (Hg.): Ada Nield Chew. The Life and Writings of a Working Woman, London 1982, S. 108. 26 | Life in a Crewe Factory: A Storm, 25 August 1894, in: D. Nield Chew (Hg.): Ada Nield Chew, S. 130f. 27 | Vgl. A Living Wage for Factory Girls at Crewe, 5 May 1894, in: D. Nield Chew (Hg.): Ada Nield Chew, S. 75.

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren? »It has on several occasions been the privilege (?) of the writer to see visitors of high degree conducted by the manager through the ranks of the workers in the factory of which she writes, all admiring evidently the apparent comfort and happiness of these factory girls. The writer has wondered on such occasions if the visitors’ opinions would have differed had they known the internal working of this phase of life on which they were looking as it is known to those who live the life. […] These visitors look only on the outside of things, from the employers’ point of view. A band of happy girls, apparently working in greatest ease, whose comfort is the careful consideration of their employer. Now these visitors are only those of the employers, and are only a privileged few. The factory doors are closed on the general public, who know nothing of what takes place therein. But I, the factory girl, throw wide these doors. I invite the public, one and all, to come with me as my visitors. I will give them not the superficial view which the manager’s visitors get, but a thorough good look into everything, from the factory girl’s point of view.« 28

Neben der verdeckt als Fabrikarbeiterin tätigen, investigativen Sozialreformerin und der Selbstermächtigung tatsächlicher factory girls zeichnete sich um die Jahrhundertwende eine dritte Positionierung ab, idealtypisch greif bar in Edward Cadburys Studien zu Fragen der Fabrikorganisation, betrieblichen Sozialpolitik oder Unternehmensführung. Cadbury arbeitete seit 1893 in verschiedenen Abteilungen des Familienunternehmens Cadbury Cocoa Works, bevor er 1899 Managing Director wurde. In dieser Funktion war er unter anderem für das Women’s Department zuständig.29 In einer gemeinsam mit M. Cécile Matheson und George Shann verfassten Studie zur Frauenarbeit (1907) zielte Cadbury auf eine Überführung betriebspraktischer Fragen der Beschäftigung von Frauen in den Kontext einer zunehmend versozialwissenschaftlichten Sozialreform. Entsprechend markierten Cadbury, Matheson und Shann ihre Position und reklamierten eine je spezifische Expertise, nicht zuletzt für das Problem der factory girls. »The writers have taken every precaution to make the results offered accurate, and above all impartial, and are not concerned to support any particular theory. The training and outlook of the three investigators told for an impartial treatment. One writer has been for several years in the position of a managing director of a firm employing between two and three thousand girls, this position giving him exceptional opportunities of becoming intimately associated with every phase of their work, and of experimenting with some of the practical problems which are discussed in the following pages. He has also become acquainted with the workers’ point of view by being directly associated with several movements for the social betterment of working men. Another writer worked as a factory hand from ten years of age until he went to Glasgow University for six years’ training, at the end of which time he graduated with First Class Honours in Economic science. This writer was also warden of Glasgow Uni28 | Life in a Crewe Factory, 9 June 1894, in: D. Nield Chew (Hg.): Ada Nield Chew, S. 81f. 29 | Für eine Skizze der Unternehmensgeschichte, der durch die religiösen und ethischen Vorstellungen der Quäker beeinflussten Unternehmenskultur sowie Cadburys Rolle als Pionier einer betrieblichen Sozialpolitik, die sozialreformerische und sozialwissenschaftliche Zugänge verband und darauf zielte, ältere paternalistische Konzeptionen zu überwinden, vgl. Luks, Timo: Social Engineering, the Factory and Urban Environment: Cadbury and Opel (1878-1960), in: Zimmermann, Clemens (Hg.): Industrial Cities. History and Future, Frankfurt a.M./New York 2013, S. 263-282.

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Timo Luks versity Settlement and has a long experience in practical social work amongst working men and women. The third writer has been intimately associated with Girls’ Clubs, has acted as a school manager in London, and has conducted for the Board of Education inquiries into the provision of technical education for girls home and abroad.« 30

Wo Beatrice Potter und Minna Wettstein-Adelt ihre subjektiven Eindrücke schilderten und Ada Nield in einer Geste der Selbstermächtigung das Wort ergriff, waren Cadbury, Matheson und Shann darum bemüht, factory girls mittels Befragungen sprechen zu machen. Ihre Studie, so behaupteten sie, sei die erste, die sich in großem Umfang auf Informationen der Arbeiterinnen selbst stütze. Leicht sei es freilich nicht gewesen, die gewünschten Auskünfte zu erhalten, hegten die girls doch gewisse Aversionen gegenüber einer Offenlegung ihrer Privatangelegenheiten (oft wüssten zum Beispiel nicht einmal die Mütter, wie viel ihre Töchter verdienten) und hätten die Befürchtung, durch zu große Offenheit Schwierigkeiten mit ihrem Arbeitgeber zu bekommen. Zudem kursierte ein gewisser Argwohn gegenüber den Motiven der Fragesteller. All das habe man überwinden können.31 Cadbury, Matheson und Shann positionierten sich so als vertrauensvolle und vertrauenswürdige Dialogpartner, die die Fabrikarbeiterinnen in begrenztem Maß als ›Expertinnen des Alltags‹ und Quelle ›authentischer‹ Informationen anerkannten, die dann in eine valide soziographische Lagebeschreibung übersetzt und zur Begründung sozialreformerischer Interventionen verwendet werden konnten. Sie bekräftigten damit, was sich bereits in den auf den ersten Blick anders gelagerten Positionierungen von Beatrice Potter, Minna Wettstein-Adelt oder Ada Nield gezeigt hat: die Privilegierung von Insiderwissen und Binnenperspektive. Involviertsein, wie auch immer sich das konkret ausgestaltete, beglaubigte in allen Fällen die präsentierten Erkenntnisse und abgeleiteten Forderungen. Damit ging spiegelbildlich eine mal explizite, mal implizite Abwertung oder zumindest Infragestellung des Blicks von außen einher.32

30 | Cadbury, Edward/Matheson, M. Cécile/Shann, George: Women’s Work and Wages. A Phase of Life in an Industrial City, London 1907, S. 13f. 31 | Vgl. ebd., S. 14f. 32 | Sozialwissenschaftler, die sich in den Folgejahren industriebetrieblichen Arbeitsverhältnissen näherten, mussten mit dieser Hypothek umgehen – und den Eindruck vermeiden, sie seien auch bloß vom Management an der Nase herumgeführte, über die faktischen Realitäten hinweggetäuschte ›Besucher‹. Sozialforscher reflektierten daher früh die Widerstände, die sich dem Blick von außen entgegenstellten; vgl. Luks, Timo: Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 239-263; Ders.: Die »psychognostische Schwierigkeit der Beobachtung«. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering in Deutschland und Großbritannien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 87-107.

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren?

3. V on (un -) sichtbaren factory girls zum problematischen F actory G irl Ankerpunkt der Transformation der Fabrikarbeit junger, unverheirateter Frauen in ein spezifisches Problem waren die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Die Gefahren, die beschworen wurden und denen zu begegnen man versprach, resultierten daraus, dass die sorgfältig austarierte Trennung der Sphären von Mann und Frau (aber auch von Alt und Jung) durchkreuzt wurde. Das Problem bestand in einer durch bestimmte Arbeitsbedingungen begünstigten Vermischung; die Lösung in einer Separierung der Frauen von den Männern und der älteren, verheirateten Frauen von den jungen, unverheirateten. Als Effekt dieser Separierung gewann die Figur des Factory Girl spezifische Konturen, die sich wesentlich über ihre Positionierung gegenüber anderen Sozialfiguren herstellten und stabilisierten. Zunächst eine Lagebeschreibung. Als Beatrice Potter sich als Näherin ausgab, beschrieb sie die besondere soziale Atmosphäre in den Werkstätten des Londoner East End, deren knisternde Spannung geradezu Resultat der Anwesenheit von Männern, älteren und jungen Frauen an einem Ort zu sein scheint: »The two pressers have worked up their spirits, and a lively exchange of chaff and bad language is thrown from the two lads at the pressing (immediately behind us) to the girls round our table. Offers of kisses, sharp despatches to the devil and his abode, a constant and meaningless use of the inevitable adjective, form the staple of the conversation between the pressers and the younger hands; while the elder women whisper scandal and news in each other’s ears. From the further end of the room catches of music-hall songs break into the monotonous whirr of the sewing-machine. The somewhat crude and unrhythmical chorus – Why should not the girls have freedom now and then? And if a girl likes a man, why should she not propose? Why should little girls always be led by the nose? seems the favourite refrain, and, judging from the gusto with which it is repeated, expresses the dominant sentiment of the work-girls.« 33

Die gleichzeitige Anwesenheit von Männern und Frauen an einem Ort sowie die sich daran knüpfenden Formen des sozialen Umgangs waren augenfällig. Stets und ständig wurden ihre potentiell erheblichen Auswirkungen diskutiert. Das war wohl auch deshalb so, weil eine vergleichbare sozial-räumliche Geschlechterordnung andernorts entweder nicht vorkam oder massiv umkämpft war. Minna Wettstein-Adelts Rahmung des Themas aus der Perspektive der bürgerlichen Frauenbewegung zeigt das eindrücklich: »Unsere Gegner befürchten die schrecklichsten Zustände, wenn Männer und Frauen in gemeinsamen Hörsälen studieren; sie glauben, oder, was mir richtiger scheint, sie wollen glauben, daß dann jedes Schamgefühl im Mädchen ersterbe, ersterben müsse, trotz der hohen Bildung, die es erhalten, und die immer ein Schutzmantel gegen Immoralität ist, ich möchte sagen: Bildung, tiefes, reiches Wissen bedingt Sittlichkeit! Warum aber fürchtet das Heer der 33 | B. Potter: Pages From a Work-Girl’s Diary, S. 305.

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Timo Luks Gegner nicht das ewige Zusammentreffen und Zusammenleben jener Kreise, wo die Bildung ein unbekannter Begriff und der Mensch eher zum Laster geneigt ist, denn bei sittlich gebildeten Menschen? Hier wird das Zusammentreffen der beiden Geschlechter verhängnisvoll, weil sie hier keine gemeinsamen höheren Interessen haben, weil sie hier nichts zusammenführt, denn Sinnlichkeit!« 34

Dabei waren es noch nicht einmal zwingend die Fabriken, die als schlimmste Brutstätte der fragwürdigen Geschlechtermischung gelten mussten. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts wurde das Problem oft als Problem der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den textilindustriellen Sweatshops und der Heimarbeit angesprochen, während die Fabrik als mögliche Lösung erschien, schließlich war es dort leichter, eine Trennung durchzusetzen.35 Clementina Black etwa lobte 1904, dass in den bestgeführten Fabriken im Londoner East End Männer und Frauen in verschiedenen Räumen arbeiteten, Frauen sich andernorts aber immer noch in gemischtgeschlechtlichen Arbeitsräumen anstößigen Unterhaltungen ausgesetzt sähen.36 Auch Cadbury, Matheson und Shann informierten darüber, dass es in verschiedenen Branchen immer wieder zur Vermischung sowohl von verheirateten und Singlefrauen als auch von Männern und Frauen komme, ja, einige Arbeitgeber sich noch nicht einmal die Mühe machten, herauszufinden, ob eine Arbeiterin verheiratet war oder nicht. Die ›besseren Mädchen‹ protestierten regelmäßig gegen diesen Umstand – und auch die meisten Sozialarbeiter erkannten die darin liegende ernste moralische Gefahr.37 Edward Cadbury schrieb 1912 in einem Schlüsselkapitel seiner Abhandlung Experiments in Industrial Organisation: »Another question that needs consideration is the employment of men and women side by side in the workroom, under circumstances that tend to deteriorate them both. Without wishing to over-emphasize this matter, it must be admitted that the relation of workers of different sexes and ages in a factory affords a very serious problem. When the youth of both sexes are indiscriminately mixed in factories under unsatisfactory conditions, there may be grave moral danger. If there is no worse result, their conversation is in danger of having a demoralizing effect upon both sexes. A similar difficulty is recognized in the mixing of married men and women with single girls and young people, and this is one of the objections which some employers have to married women working in factories. The matter, however, can be largely met by careful organization. So far, in nearly the whole of the departments of the [Cadbury Cocoa] Works this difficulty has been overcome. There are separate entrances for men and women, and by careful planning of passage ways they do not use the same passages to and from dining-rooms, dressing rooms etc.« 38 34 | M. Wettstein-Adelt: 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, S. 65. 35 | Vgl. E. Pietsch: Gewerkschaft, Betrieb und Milieu, S. 61-110. 36 | Vgl. Black, Clementina: London’s Tailoresses, in: Economic Journal 14, 1904, S. 555567, hier S. 562, 565f. 37 | Vgl. E. Cadbury/M. Matheson/G. Shann: Women’s Work and Wages, S. 194f., 211. 38 | Cadbury, Edward: Experiments in Industrial Organisation, London u.a. 1912, S. 253f. Cadburys Lavieren – der Umstand, dass er sich fast dafür entschuldigt, das Thema anzusprechen – erinnert an das Vorgehen evangelikaler Sozialforscher, die im England der 1850er und 1860er Jahre dem Great Social Evil jener Tage auf die Spur zu kommen suchten. Ihr Studium der Prostitution, darauf hat Judith Walkowitz hingewiesen, war mehr als der philanthropische

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren?

Bei Cadbury fungiert die räumliche und soziale Separierung der Geschlechter als entscheidendes Strukturprinzip (sowohl des Buchs als auch der Organisation des von ihm geleiteten und im Buch vorgestellten Werks). Diese Strategie diente der Verhinderung von Begegnungen, die vor allem über eine bestimmte räumliche Ordnung (nicht primär durch die Gestaltung zeitlicher Abläufe) erreicht werden sollte: getrennte Räume, separate Wege und – wo nötig – Tunnel.39 Dieses Programm wurde auch organisatorisch abgebildet: Jedes mit bestimmten Fragen betrieblicher Sozialpolitik befasste Komitee setzte sich zusammen aus einem Men’s Sub-Committee und einem Girls’ Sub-Committee, deren Aufgaben und Pflichten oft parallel konstruiert waren, etwa im Umgang mit Verbesserungsvorschlägen. Daneben wurden, das als weiteres Beispiel, gleich zwei Bibliotheken als geschlechtlich separierte (Sozial-)Räume eingerichtet, die dann freilich wiederum mittels eines Systems institutioneller Leihe der ›männlichen‹ Bestände durch die Girl’s Library (»other than fiction«!) verzahnt wurden.40 Das Problem der Fabrikarbeit junger, unverheirateter Frauen wurde im Anschluss an die grundlegende Verhandlung der Vermischung und Separierung von Männern und Frauen in einem zweiten Schritt mittels Bezugnahme auf die Fabrikarbeit verheirateter Frauen konturiert. Aus der Perspektive der factory girls stellte sich das als Problem unfairer Konkurrenz dar. Die Unfairness führte Ada Nield auf die jeweiligen Lebenssituationen und Pflichten verheirateter und unverheirateter Frauen zurück. »Now I think it unjust that women have husbands working should be allowed to come, and in a manner take their means of subsistence from girls who are dependent for a livelihood on their earnings. Without going into the obvious neglect of these wives and mothers of other duties Versuch, ›gefallene Mädchen‹ zu retten: »[I]t was a personal exposure to a sexual temptation, a test of their own moral fiber« (Walkowitz, Judith: Prostitution and Victorian Society. Women, Class and the State, Cambridge u.a. 1980, S. 33). Es muss offenbleiben, welchen Versuchungen und Gefahren sich der Managing Director eines religiös und ethisch tief im Quäkertum verankerten Unternehmens ausgesetzt sehen mochte, wenn er Erkundungstouren in das eigene Werk unternahm; und ob die Praxis des slumming auch dann wirkmächtig wurde, wenn sich jemand nicht in die Elendsviertel des Londoner East End begab, sondern in eine wohlgeordnete und als factory in the garden gerühmte Schokoladenfabrik nahe Birmingham. Seth Koven (S. Koven: Slumming, S. 3f., 8f.) beschreibt diese Praxis als »interplay of sexual and social politics« und bewusste Überschreitung von sexuellen, räumlichen, Klassen- und Geschlechtergrenzen. Dabei zeigt sich aber auch die Tendenz, bestimmte Verhaltensweisen – Koven verweist auf die zeitgenössische Problematisierung von obdachlosen Männern, die in Arbeitshäusern untergebracht waren; mit Blick auf unverheiratete, junge Frauen in Fabriken lässt sich aber Vergleichbares beobachten – nicht als Ausdruck der sexuellen Identität der jeweiligen Personen, sondern als Folge von Armut und Elend sowie des durch bestimmte Lebensumstände hervorgebrachten ökonomischen und moralischen Status zu präsentieren (vgl. ebd., S. 71). 39 | Für das Beispiel der Freilufterholungsanlagen: Chance, Helena: The Angel in the Garden Suburb. Arcadian Allegory in the »Girls Ground« at the Cadbury Factory, Bournville, England, 1880-1930, in: Studies in the History of Gardens & Designed Landscapes 27, 2007, S. 197217. 40 | Vgl. E. Cadbury, Experiments in Industrial Organisation, S. 213f., 240.

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Timo Luks and solemn responsibilities – and how much might be said on the evils arising from that not only to themselves and families, but in an indirect manner to the community at large! – which in this case might be considered somewhat personal, it is manifestly unfair that married women in receipt of a husband’s wages, for no valid reason, should be allowed to come and in some cases actually take precedence of girls who in many cases exceed them in ability and capability. […] I do not say ›Make a clean sweep of them!‹ – though I confess to a leaning that way – even if we had power, because conscience tells me that we in turn should be a little unfair. But I do say this, and will maintain it in face of any opposition – Place them side by side with these girls in fair, open, above-board competition; give them an equal chance with these girls and no more.« 41

Ada Nields Hinweise auf Differenzen in der Arbeitsleistung als Ausgangspunkt für Animositäten zwischen verheirateten und unverheirateten, jungen und älteren Arbeiterinnen waren fester Bestandteil des Diskurses. Nield artikulierte das Spannungsverhältnis darüber hinaus entlang klassischer Topoi. Ging es um verheiratete Frauen, war stets Thema, welche Auswirkungen ihre Arbeit auf Ehe, Familie und Haushalt hatte. Cadbury, Matheson und Shann etwa rückten, unterstützt durch eine tabellarisch auf bereitete statistische Erhebung, eine Korrelation der Beschäftigung verheirateter Frauen mit dem Verhalten ihrer Ehemänner in den Blick.42 Im Gegensatz zu Nield, die einen konsequenten Ausschluss verheirateter Frauen dann doch als eine zu große Ungerechtigkeit empfand, praktizierten die Cadbury Cocoa Works freilich genau das: Sie stellten keine verheirateten Frauen ein und entließen ihre Arbeiterinnen, wenn diese heirateten.43 Der dritte Schritt, der zur Etablierung von factory girls als separater ›Klasse‹ beitrug, bestand in der Abgrenzung von und der Gegenüberstellung mit Frauen des Bürgertums. Dieser Aspekt der Problematisierung wurde wortmächtig vor allem von investigativen Sozialreformerinnen betont, die in der Regel dem Bürgertum entstammten und sich erfahrungshungrig unter die jungen Fabrikarbeiterinnen mischten. Hier griffen Exotisierung und Romantisierung ineinander. Beatrice Potter bewunderte die Fähigkeit der Fabrikmädchen, sich nicht von monotoner Arbeit und schlechter Ernährung unterkriegen zu lassen. »With warm hearts, with overflowing good nature, with intellects keenly alive to the varied sights of East London, these genuine daughters of the people brim over with the frank enjoyment of low life. During the day their fingers and eyes are full occupied; in the evenings, on holidays, in the slack season, their thoughts rush out and gather in the multitudinous excitements of the East End streets; while their feelings unburden themselves in the pleasure of promiscuous love-making. You cannot accuse them of immorality, for they have no consciousness of sin. The veneer of morality, the hidden but secretly self-conscious vice of 41 | Life in a Crewe Factory, 14 July 1894, in: D. Nield Chew (Hg.): Ada Nield Chew, S. 101. 42 | Vgl. E. Cadbury/M. Matheson/G. Shann: Women’s Work and Wages, S. 216-223. 43 | Man mag es als zynisch erachten, dass dieses Vorgehen, in dessen Folge Frauen durchschnittlich eine kürzere Verweildauer im Unternehmen hatten, dann als Begründung für die Einrichtung eines separaten Women’s Savings and Pension Fund herangezogen wurde, der eben nicht wie sein Gegenstück für männliche Beschäftigte eine Altersversorgung, sondern – an Stelle der bis dato üblichen Hochzeitsgaben des Unternehmens – die Haushaltsgründung unterstützen sollte (vgl. E. Cadbury: Experiments in Industrial Organisation, S. 177-185).

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren? that little set that styles itself ›London society‹ (in the city of millions!) are unknown to them. They live in the Garden of Eden of uncivilized life; as yet they have not tasted the forbidden fruit of the Tree of the Knowledge of Good and Evil, and the heaven and hell of an awakened conscience are alike undreamt of. There is only one Fall possible to them – drink, leading slowly but inevitably to the drunkard’s death.« 44

Potters sehnsuchtsvolle Liebeserklärung an die paradiesische Unschuld mag wenig nach jener »Verhaltenslehre des kühlen Kopfes« klingen, die um die Jahrhundertwende zu einer systematischen Verschmelzung von Sozialreform und Sozialwissenschaft führte,45 sie zeigt aber dennoch, wie die bürgerlichen ›Fahrten ins Dunkle‹ und das damit verbundene ›Leuteerfinden‹ stets auch auf die Vermessung bestimmter sozialer, politischer und moralischer Werte und Lebensweisen unter fabrikgesellschaftlich-großstädtischen Bedingungen zielten. Und dazu bot es sich an, die junge, unverheiratete Fabrikarbeiterin mit jener ›Klasse‹ zu kontrastieren, der man selbst angehörte: »Das vielgeschmähte Fabrikmädchen ist in mancher Beziehung, verglichen mit den Töchtern des Mittelstandes, zu beneiden, denn es erfreut sich eines Gutes, das jene nicht besitzt: der Freiheit. Die Mädchen, die sich ihr Brod [sic] seit dem 14. Jahre selbst verdienen, sind wenig von den Eltern abhängig, sie zahlen ihr regelmäßiges Kostgeld, das für die Eltern meist mit kleinem Gewinn verbunden ist, und leben im übrigen unbekümmert um diese. […] Ich habe auch nie gefunden, daß die Mädchen durch diese Selbständigkeit Schaden an Körper und Seele genommen hätten, wenigstens nicht mehr, als es auch unter Egide [sic] der Eltern geschehen wäre. Ich fand, daß dadurch die Energie und das ganze Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit die sich selbst erhält, gehoben wird, daß die Mädchen weniger unselbständig und weniger blasiert sind, als die bei der Mutter sitzenden ›besseren‹ Mädchen, deren ›Erlöser‹ stündlich erwartet wird. Gott sei Dank, daß man unter jenen Arbeiterinnen nicht auch noch ein Heer von Dornröschen findet, die von Rosenduft und Morgentau zu leben glauben, deren einzige Arbeit spinnenwebenartige Stickereien sind, und die da von dem Bedauernswerten, der sie in Hymens Tempel entführt, erwarten, daß er ihren Fuß auf Blumen setze und sie über alle irdischen Dinge hinwegtrage auf seinen starken ›Ritterarmen‹.« 46

Die nach den factory girls greifenden ›Ritterarme‹ waren natürlich nicht diejenigen bürgerlicher Ehemänner, sondern diejenigen sich sorgender Sozialreformer, die in ihrem Unternehmen »Girls’ Clubs« einrichteten (in denen die girls sich dann vielleicht doch »spinnenwebenartigen Stickereien« widmen konnten?), um positiv auf das Sozialleben der jungen, unverheirateten Fabrikarbeiterinnen einzuwirken. »They need, above all, wise and sympathetic friends to guide their misdirected energies and to give them wholesome amusement. There may be many failures, many deceptions, many disappointments of every kind, but such girls, in spite of all drawbacks, are very loveable.« 47

44 | B. Potter: Pages From a Work-Girl’s Diary, S. 311. 45 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne, S. 11-39. 46 | M. Wettstein-Adelt: 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, S. 48f. 47 | E. Cadbury/M. Matheson/G. Shann: Women’s Work and Wages, S. 240f.

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In gewisser Weise waren factory girls – diese liebenswerten Geschöpfe – vor sich selbst und vor allem vor einem bestimmten Gebrauch ihrer Freiheit zu schützen. Ihre liebenswerten Eigenschaften waren zu kultivieren und ihre Wildheit und Unabhängigkeit zu zügeln und zu kanalisieren. Andernfalls drohe die Entstehung einer »vagrant class in industry«: »Both inside and outside the factory the lives of working girls are too often barren of all that gives wholesome relaxation and brightness. It is this want of change and recreation that makes them wild and restless inclined to seek undesirable amusements. The restlessness often finds a vent in frequent change of work, particularly during the first three years of working life. In the first flush of freedom the girls are very independent, and as soon as they feel out of sorts, or quarrel with neighbours or master, or as soon as work runs short, they try a new place. They soon get tired of low wages, and many who star at a real trade give it up and drift into the ranks of unskilled workers. Sometimes they candidly acknowledge that they like a change. With many this restlessness soon gives way to an acceptance of things as they are, a girl learns to dread being out of work, and settles down for several years at her job. […] Restlessness, improvidence, and craving for excitement are well-recognized social evils, but it should be remembered that they are rarely prominent among those for whom a real home life is possible. There are many social remedies, all valuable in their way, but the chief hope of the future seems to lie in fostering the home spirit in the individual, and in making the possession of a home in which men and women can take pride a possibility to all.« 48

Das Heim oder die Heimat, von dem oder der in dieser Passage die Rede ist, war der Fluchtpunkt vieler Gegenwartsdiagnosen, die sich mit der Ausgestaltung industrieller Lebens- und Arbeitsbedingungen beschäftigen. Als Heim oder Heimat konnte freilich auch der Werkraum selbst gedacht werden. Betriebliche Sozialreformerinnen und Sozialreformer erhoben dann die Forderung, in der Fabrik selbst Lebensraum zu schaffen – und diese Forderung konnte umso größere Überzeugungskraft entfalten, je eindeutiger es um fabrikarbeitende Frauen und Mädchen ging.49

4. R esümee Die Problematisierung von factory girls und damit: die Konturierung der Sozialfigur des Factory Girl beförderte zwischen 1880 und 1930 eine Absetzbewegung von einem öffentlichen Bild junger, unverheirateter, fabrikarbeitender Frauen, das sich mit Moralismus und Stereotypen zufrieden gab. Verweise auf Vorurteile, Unkenntnis, Desinteresse und Indifferenz in Teilen der Öffentlichkeit dienten als Rechtfertigung einer nun auf verschiedenen Wegen unternommenen Vermessung der Lebens- und Arbeitsbedingungen fabrikarbeitender Mädchen. Während Minna 48 | Ebd., S. 245-247. Der häufige Wechsel der Arbeitsstellen galt generell als hervorstechendes Merkmal des Lebensstils von factory girls, zumal der häufige Stellenwechsel nicht, wie bei jungen Männern, als Ausdruck von »self-improvement and endeavour«, sondern als »drifting« interpretiert wurde (vgl. S. Todd: Young Women, Work, and Family in England 19181950, S. 114-124). 49 | Im Detail: K. Uhl: Humane Rationalisierung?, S. 95-161; aber auch: T. Luks: Der Betrieb als Ort der Moderne, S. 106-133.

Das Unsichtbare sichtbar machen – das Sichtbare problematisieren?

Wettstein-Adelt bei ihrer Reise durch die dunkle Welt der Fabriken im Einklang mit gängigen Bildern nahezu überall, wie eingangs zitiert, unsittlichen Lebenswandel, Faulheit oder andere schlechte Eigenschaften hinter der Fabrikarbeit lauern sah und sich erschüttert zeigte über das Heer der verkommenen, rohen Arbeiterinnen, attackierte Ada Nield, als ›Stimme aus dem Feld‹, die hier ein letztes Mal gehört werden soll, den voreingenommenen Blick vieler Beobachterinnen und Beobachter: »Now we factory girls are aware of the public opinion of us. That we are regarded as quite the lowest class of female workers. As a noisy, cheeky, idle, ignorant, shallow class of girls. […] It is in fact, then, that I have myself, on more than one occasion, heard my class spoken of, and by those whose opinions I have valued, in such terms of contemptuous scorn, of such sneering sarcasm – milder language will not express my meaning – that the blood in my veins has boiled with indignation. I resolved, whenever opportunity served, or to make such opportunity for myself when possible, that I would vindicate, with all the energy and power of conviction which intimate knowledge of the subject, and experience of the kind I have just quoted may be calculated to give me, the social position and general character of the class to which I am not ashamed to belong.« 50

Intervenierende Soziographie, das zeigen Stimmen wie diejenige von Ada Nield, aber auch von Minna-Wettstein-Adelt, Beatrice Potter oder Edward Cadbury, war eine Form der Gegenwartsdiagnose, die die Beschreibung und Vermessung der sozialen Lage einer bestimmten Gruppe mit einer Reformperspektive verband. Es war eine Form der Gegenwartsdiagnose, in der eigene Anschauung und Erfahrung – intimate knowledge – das Gesagte und Geforderte beglaubigten oder sich demonstrativ einer uninformierten oder fehlgeleiteten public opinion entgegenstellten. Intervenierende Soziographie half denjenigen, die beim Besuch einer Fabrik lediglich eine Ansammlung junger, unverheirateter Frauen sahen oder sich ohne gründliche Kenntnis stets nur über eine noisy, cheeky, idle, ignorant, shallow class of girls ausließen, irgendwann das Factory Girl zu sehen. Der – in anachronistischer Begriffsverwendung – intersektionelle Charakter dieser Sozialfigur machte das Factory Girl zu einem in spezifischer Weise modernen bzw. auf moderne Gesellschaften zugeschnittenen diagnostischen Instrument, denn es lenkte die Aufmerksamkeit auf die Überlagerung verschiedener Kategorien sozialer Klassifizierung und Zugehörigkeit (Alter, Geschlecht, Klasse) wie auch die Schnittstellen gesellschaftlicher Teilbereiche (Ehe, Familie, Arbeit, Freizeit). Das machte die damit verbundenen Gegenwartsdiagnosen flexibler und anpassungsfähiger an sozialen Wandel, mit wachsender Zahl der zu berücksichtigenden Variablen aber auch schwieriger.

50 | Life in a Crewe Factory, 9 June 1894, in: D. Nield Chew (Hg.): Ada Nield Chew, S. 83f.

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Sozialfiguren in soziologischen Gegenwartsdiagnosen* Tobias Schlechtriemen Soziologische Gegenwartsdiagnosen spielen im 20. und 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle im Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung.1 Sie erreichen oftmals hohe Auflagen, wirken weit über den akademischen Diskurs hinaus in eine breite Öffentlichkeit und liefern prägnante Formeln für die »geistige Situation der Zeit«.2 Mit Schlagworten wie »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck), »Netzwerkgesellschaft« (Manuel Castells) oder jüngst »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey) hat die Soziologie immer wieder einprägsame Signaturen für ihre jeweilige Gegenwart geliefert, die sich in den öffentlichen Diskussionen als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen etabliert haben. Die Titel dieser Gegenwartsdiagnosen variieren verschiedene Bindestrichgesellschaften. Daneben treten titelgebend emblematische Gestalten auf wie The Organization Man (William H. Whyte), Das erschöpfte Selbst (Alain Ehrenberg) und Der flexible Mensch (Richard Sennett). Auch in Kollektivsubjekten wie Die Angestellten (Siegfried Kracauer) und Die skeptische Generation (Helmut Schelsky) werden die * | Der Artikel ist im Rahmen des von Ulrich Bröckling geleiteten Teilprojekts »Soziologische Zeitdiagnosen zwischen Postheroismus und neuen Figuren des Außerordentlichen« im Sonderforschungsbereich »Helden – Heroisierungen – Heroismen« an der Universität Freiburg entstanden. Ulrich Bröckling, Sebastian Moser, sowie den Herausgebern, insbesondere Thomas Etzemüller, danke ich für hilfreiche Anregungen und Kommentare. 1 | Zur Bezeichnung ›Zeit-‹, ›Gegenwarts-‹ oder auch ›Gesellschaftsdiagnose‹ vgl. Bogner, Alexander: Gesellschaftsdiagnosen. Ein Überblick, Weinheim/Basel 2012, S. 7f. Bogner nennt ältere, vor allem philosophische Deutungen ›Zeitdiagnosen‹, wohingegen die jüngeren Varianten soziologischer Provenienz von ihm als ›Gesellschaftsdiagnosen‹ bezeichnet werden. Zur Orientierung, um welche Texte es im Folgenden gehen soll, dient eine erste Eingrenzung: Einbezogen in die Analyse werden von Soziologinnen und Soziologen verfasste Gegenwartsdiagnosen, ergänzt um Arbeiten von Vertretern anderer Disziplinen. Auswahlkriterien sind, dass es sich erstens um soziologisch argumentierende Texte handelt, welche zweitens die gesellschaftlichen Erfahrungen ihrer Zeit reflektierend zu einer pointierten Gesamtschau zusammenführen, die jeweilige Gegenwartsgesellschaft dabei drittens programmatisch oder problematisierend anhand eines prägenden Merkmals charakterisieren, das sie viertens in zeittypischen Sozialfiguren bündeln. 2 | Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig 1931.

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wesentlichen Charakteristika ihrer Zeit figurativ verdichtet. Während Label wie Risiko- oder Netzwerkgesellschaft meist lediglich Parerga der entsprechenden Bücher sind und sich nicht selten der verlegerischen Suche nach einem verkaufsförderlichen Titel verdanken,3 finden sich die Sozialfiguren auch an prominenter Stelle innerhalb der gegenwartsdiagnostischen Arbeiten und präformieren deren Argumentationsgang. Sie bilden – das ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags – eine eigenständige soziologische Beschreibungsform. Porträts von Sozialfiguren sind ein gängiges Darstellungsmittel, um gesellschaftliche Zeiterfahrungen typologisch zu verdichten.4 Obwohl in vielen gegenwartsdiagnostischen Arbeiten solche Sozialfiguren auftauchen, ist ihre Bedeutung für die Beschreibung sozialer Wirklichkeit bislang kaum thematisiert worden. Auch in den einschlägigen Studien über soziologische Gegenwartsdiagnosen fehlt eine Diskussion ihres analytischen und narrativen Potenzials.5 Die folgenden Überlegungen versuchen diese Leerstelle zu schließen. Sie fragen: Wann treten welche Sozialfiguren in den Gegenwartsdiagnosen auf? Welchen epistemischen Status, welche analytische Aufschließungskraft besitzen sie? Der Zugang zielt zum einen auf eine Analyse soziologischer Gegenwartsdiagnosen als Genre mit spezifischen Eigenschaften und Merkmalen im Sinne einer »reflexiven

3 | Castells hatte zunächst einen anderen Titel vorgesehen – Network Society zu verwenden, ist ein Vorschlag seines Verlegers gewesen; vgl. Castells Eröffnungsrede des Second International Seminar On Network Theory: Network Multidimensionality in the Digital Age, 19./20.2.2010 an der University of Southern California, Annenberg School for Communication & Journalism, Los Angeles. An der Suche nach einem Titel für Schelskys Skeptische Generation war ebenfalls sein Verleger, Peter Diederichs, beteiligt. Allerdings bereitete Schelsky die Verselbstständigung des Titels, den er als »vorläufig« und »etwas literarisch« bezeichnete, Unbehagen; zit.n. Kersting, Franz-Werner: Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50, 2002, S. 465-495, hier S. 482. 4 | Für die jüngste Zeit vgl. Horn, Eva/Kaufmann, Stefan/Bröckling, Ulrich: Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002; Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 2006; Moebius, Stephan/Schroer, Markus: Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010; Moser, Sebastian J.: Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur, Hamburg 2014; Frei, Alban/Mangold, Hannes (Hg.): Das Personal der Postmoderne. Inventur einer Epoche, Bielefeld 2015; sowie die Sozialfigur des »Factory Girl« im Beitrag von Timo Luks in diesem Band. 5 | Vgl. Lichtblau, Klaus: Soziologie und Zeitdiagnose oder: Die Moderne im Selbstbezug, in: Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 15-47; Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, in: Berliner Journal für Soziologie 3, 1996, S. 377-390; Schimank, Uwe: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung, in: Ders./Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2007, S. 9-22; Osrecki, Fran: Die Dia-­ gnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2009; A. Bogner: Gesellschaftsdiagnosen; Dimbath, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik. Generation – Gesellschaft – Prozess, Paderborn 2016.

Sozialfiguren in soziologischen Gegenwar tsdiagnosen

Wendung«6 beziehungsweise einer »Soziologie der Soziologie«.7 Zum anderen soll die Untersuchung der Sozialfiguren und ihrer Funktionsweisen dazu dienen, die Möglichkeiten und Grenzen einer figurativen Soziologie als eines dritten Weges zwischen soziologischer Theoriebildung und empirischer Sozialforschung auszuloten. Dazu werden zunächst diejenigen Konzepte und Methoden angeführt, die zur Untersuchung von Sozialfiguren und ihrer Funktionsweise geeignet erscheinen. In einem zweiten Schritt werden anhand von drei Beispielen – Siegfried Kracauers »Angestellten«, David Riesmans »außen-geleitete[m] Charakter« 8 und Richard Sennetts »flexiblem Menschen« – zentrale Kennzeichen von Sozialfiguren aufgezeigt und abschließend diskutiert, inwieweit und in welcher Hinsicht diese einen eigenen soziologischen Zugang zur sozialen Wirklichkeit eröffnen.

1. W as sind S ozialfiguren und wie l assen sie sich untersuchen ? Soziologische Gegenwartsdiagnosen plausibilisieren ihre Befunde häufig im Rekurs auf Sozialfiguren, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit in verdichteter und anschaulicher Form präsentieren.9 Anhand einer realen oder fiktiven Person, die einen Typus verkörpert, werden prägende gesellschaftliche Erfahrungen artikuliert und problematisiert.10 Sozialfiguren repräsentieren auf exemplarische Weise das, was vielen Menschen einer bestimmten Zeit und Gesellschaft ›unter den Nägeln brennt‹, worin sie sich wiedererkennen. Folglich lässt sich an ihnen ablesen, welche Subjektmodelle vorherrschen und wie sich das Verhältnis der oder des Einzelnen zur Gesellschaft gestaltet. Da es sich um emblematische Identifikations- und Problematisierungsfiguren handelt, artikulieren Sozialfiguren zum einen die Werte und Handlungsorientierungen, zum anderen die Bewährungsfelder einer Gesellschaft, in denen sich Einzelne beweisen müssen, um soziale Anerkennung zu erfahren und ein erfolgreiches Leben zu führen, oder sie stehen um6 | W. Reese-Schäfer: Zeitdiagnose, S. 378. 7 | Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung: Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt a.M. 2004, S. 12. 8 | Riesman, David: The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, New Haven, CT 1950. Zitiert wird im Folgenden die deutsche Ausgabe: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Hamburg 1967, S. 36. 9 | Zu den Sozialfiguren als soziologischem Zugang zu und Darstellungsform von sozialer Wirklichkeit vgl. ausführlich Moser, Sebastian J./Schlechtriemen, Tobias: Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose, In: Zeitschrift für Soziologie 47, 2018, S. 169-180. 10 | Zwischen Sozialfiguren und den Gestalten, die Thomas Etzemüller in seinem Beitrag in diesem Band untersucht, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Ein Unterschied besteht darin, dass mit Sozialfiguren in erster Linie menschliche Einzelfiguren gemeint sind, die in biografische Narrative eingebunden werden und in deren Charakterzügen sich grundlegende gesellschaftliche Erfahrungen spiegeln. Dadurch sind Sozialfiguren anders an die gesellschaftliche Wirklichkeit rückgebunden als Gestalten, wie Etzemüller sie fasst, die nicht so auftreten müssen, als seien sie empirisch direkt aus der Wirklichkeit abgeleitet. Sozialfiguren basieren auf Menschen, Gestalten können auch aus Statuen oder Flüssigkeiten erstehen.

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gekehrt für besonders problematische Seiten zeitgenössischer Vergesellschaftung und ihrer Subjektivierungsangebote. In beiden Varianten eröffnen sie aufschlussreiche soziologische Einsichten. Dabei fassen Sozialfiguren gesellschaftliche Wirklichkeit gestalthaft und stellen insofern eine figurative Form des Wissens dar. In anschaulicher Weise werden prägende Charakterzüge einer menschlichen Figur beschrieben, mitunter außerdem ihr Geschlecht, ihr Alter und ihr sozialer Status, ihre Erfahrungen, ihr Habitus und ihre Verhaltensweisen. Die charakterisierenden Beschreibungen sind in der Regel narrativ eingebunden, wobei die Sozialfigur den Fokus der Erzählung bildet. Eine Vorgeschichte kulminiert in den Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft, die die Sozialfigur entweder meistert oder erleidet – jedenfalls als Protagonistin in das Geschehen eingebunden ist. Zur genaueren Untersuchung der Funktionsweise von Sozialfiguren liegen deshalb Anleihen bei den Literaturund Bildwissenschaften nahe, die es erlauben, die Figuren für sich in den Blick zu nehmen und die zugleich Werkzeuge bereitstellen, um ihre narrative Struktur und Einbindung zu analysieren. Soziologische Beschreibungen sind nie Eins-zu-eins-Reproduktionen der sozialen Wirklichkeit, sondern zeigen (und erschaffen) diese immer in einer bestimmten Weise oder Hinsicht, wie Barbara Czarniawska im Anschluss an Hayden White festhält: »all descriptions of historical objects (and social objects are historical) are necessarily figurative«.11 Das Spezifische an den Sozialfiguren ist nun, dass sie einerseits auf soziale Wirklichkeit rückbezogen sind, andererseits als Figuren eine Eigenständigkeit besitzen, die sich nicht in der Referenz auf die Gesellschaft erschöpft. Es besteht eine Differenz zwischen dem Gezeigten (Referenz auf einen gesellschaftlichen Aspekt) und dem Sich-Zeigen der Figur.12 Dadurch eröffnet sich ein eigener figurativer Spielraum. Die Figur vermag über ihre Anschaulichkeit Evidenz zu erzeugen, wobei ihre Überzeugungskraft nicht nur über den Wirklichkeitsbezug zustande kommt. Die persuasive Wirkung liegt ebenso in ihrer ästhetisch-medialen Ausgestaltung begründet. Im Fall der soziologischen Gegenwartsdiagnosen skizziert der Text mit sprachlichen Mitteln eine Figur und generiert auf diese Weise Anschaulichkeit. Ist die Figur erst einmal vor-Augen-gestellt,13 gilt das Gesehene als ›bezeugt‹.14 Zur Eigenlogik des Figurativen gehört zudem, dass die Sozialfiguren interfigurative Bezüge aufweisen, über die sie in nachbarschaftlichen sowie oppositionellen Relationen zu anderen Sozialfiguren stehen. Das gilt sowohl für figurative Konstellationen mit zeitgenössischen Sozialfiguren, als auch für Bezüge zu historischen Vorläufer-Figuren. Die Rezeption der Sozialfiguren entspinnt sich als ein Zusammenspiel, einerseits aus Anspielungen auf bereits etablierte Figurationen, die als kategoriale 11 | Czarniawska, Barbara: Narratives in Social Science Research, London 2004, S. 118 (Hervorh. im Orig.). 12 | Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Ders. u.a. (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15-43, hier S. 34. 13 | Vgl. zur rhetorischen Figur des ›Vor-Augen-Stellens‹ oder der evidentia Campe, Rüdiger: Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant, in: Peters, Sybille/Schäfer, Martin Jörg (Hg.): Intellektuelle Anschauung, Bielefeld 2006, S. 25-43. 14 | G. Boehm: Augenmaß, S. 15f.

Sozialfiguren in soziologischen Gegenwar tsdiagnosen

Schubladen fungieren, in welche die konkret beschriebene Sozialfigur eingeordnet wird. Andererseits bewirken noch nicht artikulierte Erfahrungen, die in der Beschreibung der Sozialfigur neu gefasst werden, dass bestehende Vorstellungen in Frage gestellt und verändert werden.15 Damit handelt es sich bei der Figuration um einen unabgeschlossenen und unabschließbaren Prozess, der keine endgültig festgelegten Sozialfiguren hervorbringt.16 Es bleibt die Frage, unter welchen historisch-sozialen Bedingungen sich eine Sozialfigur als gesellschaftliche Selbstbeschreibung etablieren kann. Welche spezifischen Möglichkeiten bieten Sozialfiguren, Wissen über die soziale Wirklichkeit darzustellen? Was ist ihre spezifische ästhetisch-mediale Ausgestaltung? Worin besteht ihr semantischer Überschuss? Was sind ihre figurativen Bezüge und auf welche etablierten Figurationen wird zurückgegriffen? Sozialfiguren erlauben es, gesellschaftliche Entwicklungen anhand einer menschlichen Figur zu beschreiben, die etwas tut und/oder der etwas widerfährt.17 Dadurch verstärken sie die narrativen Aspekte der Gegenwartsdiagnosen, denn Erzählungen formen aus unverbundenen Ereignissen eine narrative Einheit mit einer temporalen Ordnung und einem handelnden Individuum im Zentrum.18 Gegenwartsdiagnosen folgen einer spezifischen Zeitstruktur: Sie fokussieren eine sich in der Gegenwart zuspitzende Dynamik, die die Vergangenheit als bloßes Vorspiel bzw. als negative Abgrenzungsfolie zur Gegenwart einbezieht.19 Gemeinsam mit der diagnostischen Konzentration auf ein Charakteristikum der Gegenwartsgesellschaft bildet diese Temporalität den narrativen Rahmen, in den die Sozialfigur eingebunden ist. Was von den Zeitgenossen als problematisch empfunden wird, lässt sich exemplarisch an der Sozialfigur, ihrer Biographie oder ihrem Verhalten ablesen – sie stellt in gewisser Weise die Avantgarde des diagnostizierten Problems dar. Die narrativen Elemente der soziologischen Darstellungen folgen einer eigenen Logik. Jerome Bruner unterscheidet die logisch-wissenschaftliche von der narrativen Denkweise. Beide seien nicht aufeinander reduzierbar, wiesen eigene Operationsformen auf und müssten entsprechend auch anhand unterschiedlicher Kriterien beurteilt werden:

15 | Zu den Dynamiken der »Kategorisierung« aus Sicht etablierter Vorstellungen und »Entkategorisierung« durch die davon abweichende, konkrete Darstellung im Text vgl. Jappe, Lilith/Krämer, Olaf/Lampart, Fabian: Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen, in: Dies. (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin/ Boston 2012, S. 1-35, hier S. 6. 16 | Vgl. Boehm, Gottfried: Die ikonische Figuration, in: Ders. u.a. (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 33-52. 17 | Fotis Jannidis unterscheidet zwischen dem seelischen Inneren – hier können etwa mentale Zustände oder Intentionen beschrieben werden – und dem körperlich-sichtbaren Äußeren einer Figur, das diese in der äußerlichen Erzählwelt verortet (Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/New York 2004, S. 192-194). Vgl. auch L. Jappe/O. Krämer/F. Lampart: Einleitung, S. 29-32. 18 | B. Czarniawska: Narratives in Social Science Research, S. 5-8. 19 | Vgl. Osrecki, Fran: Constructing Epochs: The Argumentative Structures of Sociological Epochalisms, in: Cultural Sociology 9, 2015, S. 131-146, hier S. 138.

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Tobias Schlechtriemen »One mode, the paradigmatic or logico-scientific one, attempts to fulfil the ideal of a formal, mathematical system of description and explanation. It employs categorization or conceptualization and the operations by which categories are established, instantiated, idealized, and related one to the other to form a system.« 20

Demgegenüber zeichnet sich die narrative Denkweise durch »human or human-like intention and action and the vicissitudes and consequences that mark their course«21 aus. Erstere ist durch Definitionen, logische Schlussfolgerungen und das Prinzip des clare et dictincte gekennzeichnet; daran geknüpft sind die Urteilskriterien korrekter Kausalitäten und schlüssiger Argumentationsgänge. Für Narrative gelten andere Kriterien, weil sie gelebte Erfahrungen in einer anschaulichen und plausiblen Erzählung darstellen sollen: »[A] precise description of a certain human behavior, illustrated both by examples and anecdotes, constitutes an act of autonomous understanding that is not only an essential addition to any attempts at conceptual definition, but may also stand in its stead.«22 Leserin und Autorin können verschiedene ›Verträge‹ darüber abschließen, wie ein Text zu lesen ist. Bei fiktiven Texten lautet die implizite Abmachung ›Lass dich unterhalten!‹, während wissenschaftliche Darstellungen dazu aufrufen, ›Prüfe sorgfältig die Sachlage bzw. die Argumentation!‹. Bei den Darstellungen von Sozialfiguren handelt es sich um »a hybrid of fictional and referential contracts«.23 Aus narratologischer Perspektive ergeben sich folgende Analysefragen:24 Welche Akteure – Sozialfiguren, aber auch ›die Gesellschaft‹, ›die technische Entwicklung‹ etc. – treten in den Narrationen auf? Wie gestaltet sich das zeitliche und räumliche Setting der Erzählung? Welche Handlungen und Veränderungen werden mit welcher Zielausrichtung geschildert? Wie wird auf narrative Weise Plausibilität erzeugt?

2. D rei F allstudien Im Folgenden werden drei Sozialfiguren aus drei soziologischen Gegenwartsdia­ gnosen unterschiedlicher Abschnitte des 20. Jahrhunderts genauer untersucht. Die drei Beispiele liegen zeitlich weit auseinander und weisen auch in ihrer Ausgestaltung deutliche Unterschiede auf: Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten, die zunächst als Artikelserie in der Frankfurter Zeitung und dann 1930 als Buch erschien, David Riesmans Bestseller The Lonely Crowd – in der deutschen Übersetzung Die einsame Masse – von 1950 mit der Sozialfigur des außen-geleiteten Charakters und Richard Sennetts The Corrosion of Character, in dem er Ende der 1990er-Jahre den flexiblen Menschen charakterisierte. Es wird danach gefragt, wie diese Sozialfiguren dargestellt werden, was ihre Eigenschaften sind und auf welche Weise sie die Bühne soziologischer Gegenwartsdiagnosen bespielen. 20 | Bruner, Jerome: Actual Minds, Possible Worlds, Cambridge, MA 1986, S. 12. 21 | Ebd., S. 13. 22 | Carnevali, Barbara: Literary Mimesis and Moral Knowledge. The Tradition of ›Ethopoeia‹, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 2, 2010, S. 291-322, hier S. 291. 23 | B. Czarniawska: Narratives in Social Science Research, S. 120. 24 | Vgl. ebd., S. 102-105.

Sozialfiguren in soziologischen Gegenwar tsdiagnosen

2.1 Siegfried Kracauers Angestellte Kracauer eröffnet seine Angestellten-Studie mit folgender Szene: »›Das steht doch schon alles in den Romanen‹, erwiderte eine Privatangestellte, als ich sie bat, mir aus ihrem Büroleben zu erzählen. Ich lernte sie sonntags während der Bahnfahrt nach einem Berliner Vorort kennen. Sie kam von einem Hochzeitsgelage, das einen vollen Tag gedauert hatte, und war, wie sie selbst gestand, ein wenig beduddelt. Unaufgefordert plauderte sie ihren Chef aus, einen Seifenfabrikanten, bei dem sie bereits drei Jahre als Privatsekretärin arbeite. Er sei Junggeselle und bewundere ihre schönen Augen. ›Ihre Augen sind wirklich wunderschön‹, sagte ich.« 25

Die Sozialfigur tritt hier in Gestalt einer konkreten Person auf. Die Anfangsszene, in der sie vorgestellt wird, verweist direkt auf einige Eigenschaften der Angestellten, die im weiteren Verlaufe des Buches genauer herausgearbeitet werden. Außerdem wird hier gleich zu Beginn Kracauer selbst in seiner Rolle als Soziologe (und flirtender Reporter) gezeigt, der denjenigen, deren Situation er untersuchen möchte, persönlich begegnet. Indem er die Angestellte anspricht, wird er Teil der Situation. Kracauer zitiert ihre und seine direkte Rede, bestätigt die Worte des Vorgesetzten und Liebhabers – ›Ihre Augen sind wirklich wunderschön‹ – und baut damit endgültig die objektivierende Distanz ab. Gleichzeitig zeigt er sich als derjenige, der befragt und beobachtet, authentifiziert das Beschriebene dadurch und legt offen, wie seine Erkenntnisse zustande gekommen sind, oder regt zumindest an, darüber nachzudenken. Das Setting der Angestellten ist die Großstadt Berlin und darin der Großbetrieb bzw. dessen Büro. Für Kracauer ist Berlin die Angestelltenstadt schlechthin. »Nur in Berlin […] ist die Wirklichkeit der Angestellten zu erfassen.«26 Vor allem dort, aber auch in anderen Großstädten, formiert sich Ende der 1920er Jahre eine Schicht von Angestellten, die »mehr und mehr ein einheitliches Gepräge annimmt«.27 Damit wird deutlich, wann und wo die Sozialfigur der Angestellten auftritt sowie dass es sich um eine Kollektivfigur handelt, denn von den Angestellten ist meist im Plural die Rede. Das Verhältnis der vorgestellten jungen Frau zu ihrem Chef deutet die Doppelbödigkeit an, die nach Kracauer die Angestelltenwelt insgesamt durchzieht. Sie ist einerseits seine Sekretärin und hat andererseits mit ihm eine Affäre, was ihre Zukunftspläne mit ihrem Verlobten aber nicht in Frage stellt. Auch die öffentliche Wahrnehmung der Angestellten stellt einen Schein dar. Der Arbeitsalltag ist durch die Rationalisierungsprozesse in den Großbetrieben bestimmt. Monotone Arbeitsschritte, wie das Lochen von Karten,28 sind in einen minutiös geplanten, mechanisierten und an vielen Stellen auf »Maschinenarbeit«29 umgestellten Ablauf eingebunden. Obwohl es um Routinearbeit in anonymen Organisationsstruk25 | Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, in: Ders.: Werke, 9 Bde., Frankfurt a.M. 2004-2012, Bd. 1, S. 211-320, hier S. 217. 26 | Ebd., S. 222. 27 | Ebd., S. 265. 28 | Vgl. ebd., S. 232. 29 | Ebd., S. 233.

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turen geht und für die Angestellten selbst keine Aufstiegschancen bestehen, wird der Anschein erhalten, es handele sich um ›etwas Besseres‹ und nur diejenigen mit »Berechtigungsnachweise[n]«,30 mit höheren Abschlüssen, würden eingestellt. Gleichzeitig spielt das äußere Erscheinungsbild eine wichtige Rolle. Den Abend und die Freizeit wiederum prägen »Betäubungs- und Ablenkungsmittel aller Art«.31 Wie in der Eingangsszene bereits erwähnt, wird viel getanzt, man lenkt sich mit Filmen, Magazinen oder in den »Pläsierkasernen«32 ab. Kracauer sieht zwischen der Alltagswelt und den Zerstreuungen in der Freizeit einen engen Zusammenhang: »Je mehr die Monotonie den Werktag beherrscht, desto mehr muß der Feierabend aus seiner Nähe entfernen; vorausgesetzt, daß die Aufmerksamkeit von den Hintergründen des Produktionsprozesses abgelenkt werden soll. Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint.« 33

Kracauer lässt die Anfangsszene weitgehend unkommentiert und bemerkt nur: »Es steht nicht alles in den Romanen, wie die Privatangestellte meint.«34 Er zoomt nach dieser Nahaufnahme zu Beginn weit aus der konkreten Situationsbeschreibung heraus:35 »Gerade über sie und ihresgleichen sind Auskünfte kaum zu erlangen. Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern.«36 Aus der Weitwinkelperspektive sind es ›Hunderttausende‹, die man mit Kracauer in den Straßen Berlins sieht; ebenso distanziert sich die Beobachterperspektive und betrachtet die Angestellten nun als Fremde, sowie deren »Exotik des Alltags«.37 Kracauers Darstellungsweise ist durch diese kontrastierenden Zusammenstellungen geprägt, die in ihrer Gesamtheit eine lebhafte Collage ergeben. Distanzierung, wechselnde Perspektiven und reflektierende Passagen wirken dem Bild der Angestellten entgegen, das in den Magazinen, im Kino usf. beschworen wird.38 Kracauer grenzt sich zudem von journalistischen Reportagen ab, die, so sein Vorwurf, das Beobachtete bloß reproduzieren. »[D]as Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat.« Für ihn ist die Wirklichkeit demgegenüber eine »Konstruktion« und steckt »einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres

30 | Ebd., S. 223. 31 | Ebd., S. 246. 32 | Ebd., S. 292. 33 | Ebd., S. 293. 34 | Ebd., S. 217. 35 | Zum ›Hinein‹- und ›Herauszoomen‹ in Bezug auf soziologische Darstellungen vgl. B. Czarniawska: Narratives in Social Science Research, S. 119f. 36 | S. Kracauer: Die Angestellten, S. 217f. 37 | Ebd., S. 218. 38 | Vgl. ebd., S. 265, 295.

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Gehalts zusammengestiftet wird«39. Das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Schilderungen verleiht der Sozialfigur ihre Kontur.

2.2 David Riesmans außen-geleiteter Charakter Im Gegensatz zu Kracauers anekdotischem Einstieg führt Riesman den außen-geleiteten Charakter zunächst im Rahmen einer Heuristik des »sozialen Charakters« ein. Unter »Charakter« versteht Riesman die »mehr oder weniger sozial und historisch bedingte Struktur der individuellen Triebe und Befriedigungen; die Verfassung, in der der Mensch der Welt und seinen Mitmenschen gegenübertritt«.40 Davon grenzt er den sozialen Charakter als denjenigen Teil des Charakters ab, »wie er bestimmten Gruppen gemeinsam ist und der […] das Produkt der Erfahrungen dieser Gruppen darstellt«.41 Entsprechend bildet jede Gesellschaft ihren sozialen Charaktertyp aus. Riesman ist sich allerdings bewusst, dass es sich dabei um »Konstruktionen [handelt], die in Wirklichkeit nicht existieren und die auf einer für diese Untersuchung getroffenen Auswahl historischer Probleme basieren«.42 Die Charaktertypen erlauben einen bestimmten Blick auf die soziale Wirklichkeit, der von der soziologischen Fragestellung abhängig ist und nur eine von vielen möglichen Sichtweisen darstellt.43 In seinem historischen Durchgang durch die dominierenden »charakterologischen und gesellschaftlichen ›Idealtypen‹«,44 vornehmlich in den USA, identifiziert Riesman einen neuen sozialen Charaktertyp: »Der von mir als außen-geleitet bezeichnete Charaktertyp tritt erst seit kurzem in dem gehobenen Mittelstand unserer Städte in Erscheinung, wobei er in den Großstädten deutlicher als in den Kleinstädten zu bemerken ist […] – personifiziert durch den Bürokraten, den kaufmännischen Angestellten usw.« 45

Materiell gut abgesichert, verunsichert den außen-geleiteten Charakter der Umgang mit anderen Menschen. Seine Außen-Lenkung besteht darin, dass er der Anerkennung durch Andere bedarf. Er zeichnet sich durch eine »außergewöhnliche Empfangs- und Folgebereitschaft [aus], die er für die Handlungen und Wünsche 39 | Alle Zitate ebd., S. 222. 40 | D. Riesman: Die einsame Masse, S. 20f. An einzelnen Stellen wird auf die englische Formulierung verwiesen, um auf entsprechende Bedeutungsdifferenzen zu verweisen. Dass diese Gegenwartsdiagnose – wie auch Sennetts Text weiter unten – ebenso auf Deutsch ›funktionieren‹ und rezipiert worden sind, erlaubt die Arbeit mit der Übersetzung. 41 | Ebd., S. 21. 42 | Ebd., S. 47. 43 | Riesmans soziale Charaktertypen haben einige Gemeinsamkeiten mit den Sozialfiguren – vor allem, dass sie aus der Erfahrung abgeleitet und auf die Gesellschaft bezogen sind und es sich um eine Zusammenstellung typischer Eigenschaften handelt. Riesman bezieht sich mit seiner Heuristik wiederum auf Webers Idealtypen (ebd., S. 255). Eine wesentliche Differenz zwischen den sozialen Charaktertypen und den Sozialfiguren besteht darin, dass Riesman die Figurativität seiner Charaktertypen nicht beachtet. 44 | Ebd., S. 25. 45 | Ebd., S. 35f.

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der anderen auf bringt«,46 er ist ein ›Radartyp‹. Da er sich wie ein Radargerät fortwährend nach seinen Zeitgenossen ausrichtet, ändern sich immer wieder seine Ziele; Oberflächlichkeit und Flexibilität gehen miteinander einher. Nachdem der außen-geleitete Charakter als Teil von Riesmans Heuristik eingeführt ist, tritt er im Buch an vielen Stellen als Satzsubjekt auf und erhält spezifische Eigenschaften.47 Er funktioniert folglich nicht mehr nur als ein Element der Definition, sondern gewinnt eine Selbständigkeit als Sozialfigur.48 Dass Riesman den außen-geleiteten Charakter (auch) als Figur beschreibt, unterstreichen die vielen literarischen und filmischen Darstellungen, die Zeitschriften, Ratgeber und Comics, die er anführt. Beispielsweise verweist er anhand von Lionel Trillings Kurzgeschichte The Other Margaret 49 oder der Dorothea aus Helen Howes We Happy Few50 darauf, wie sich die prägenden Charaktereigenschaften herausbilden und in der Interaktion auswirken. Das Kinderbuch Tootle zeigt, wie die gleichnamige junge Lokomotive lernt, auf den Schienen zu bleiben,51 und anhand der Szenerie eines missglückten Kindergeburtstags in dem Film The Curse of the Cat People52 stellt Riesman die veränderte Eltern-Kind-Beziehung dar.53 Sowohl die Angestellten als Berufsgruppe als auch das Setting der Großstadt und die prägende Charaktereigenschaft der Oberflächlichkeit weisen Ähnlichkeiten zu Kracauers Beschreibung der Angestellten auf – auch wenn Riesman sich nicht explizit auf Kracauer bezieht.

2.3 Richard Sennetts flexibler Mensch Erstaunliche Parallelen bestehen zwischen Kracauers erstem Auftritt seiner Sozialfigur und der Anfangsszene von Sennetts flexiblem Menschen.54 Sennett beginnt seine Studie ebenfalls mit einer eindrucksvollen Szene, in der er seinen Protagonis-

46 | Ebd., S. 38. 47 | Weitere Facetten der Sozialfigur stellen die »Gleichgültigen« (ebd., S. 177), die »Moralisten« (ebd., S. 183), die »Freizeitberater« (ebd., S. 313) oder »die Figur des Informationssammlers (inside-dopester)« (ebd., S. 193) dar. 48 | Im Englischen bezeichnet character nicht nur Persönlichkeitsmerkmale, sondern ebenso den Schauspieler – auch von daher gibt es eine Nähe zur Figur. Eine historische Genealogie dessen, wie moralisches Verhalten (ethos, mores aber auch character) auf anschauliche Weise dargestellt wurde – etwa in der rhetorischen Figur der ethopoeia – rekonstruiert B. Carnevali: Literary Mimesis. 49 | Vgl. D. Riesman: Die einsame Masse, S. 64. 50 | Vgl. ebd., S. 167-169. 51 | Vgl. ebd., S. 116-118. 52 | Vgl. ebd., S. 66f. 53 | Es gibt zudem immer wieder Passagen, in denen sich Riesman auf empirische Studien bezieht. Etwa seine Untersuchung zum Geschmack bezüglich Schlagermusik unter Jugendlichen; vgl. ebd., S. 90. 54 | Die Grundzüge dieser Sozialfigur beschreibt treffend – auch über Sennett hinausgehend – Opitz, Sven: Der flexible Mensch, in: S. Moebius/M. Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten, S. 132-147.

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ten Rico vorstellt, der die Figur des flexiblen Menschen exemplarisch verkörpert.55 Wie Kracauer schließt sich auch Sennett in die Erzählung mit ein, allerdings begegnet er seinem Protagonisten im Flugzeug und nicht im Zug: »Vor kurzem traf ich jemanden auf dem Flughafen, den ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte. Ich hatte den Vater von Rico (wie ich ihn im folgenden nennen werde) vor einem Vierteljahrhundert für mein Buch über amerikanische Arbeiter, The Hidden Injuries of Class, interviewt. Enrico arbeitete damals als Hausmeister und setzte große Hoffnungen in seinen Sohn, einen aufgeweckten, sportlichen Jungen, der gerade in die Pubertät kam. […] In der Flughafenlounge sah Rico aus, als habe er die Träume seines Vaters verwirklicht.« 56

Dieser Einstieg eignet sich, um die Leserinnen und Leser in seinen Bann zu ziehen. Zudem wird der Text durch die Zeitangabe »vor kurzem« beim Lesen immer wieder aktualisiert – für Gegenwartsdiagnosen, die schnell veralten, eine durchaus wichtige Markierung. Mit dem Einschub, »wie ich ihn im folgenden nennen werde«, suggeriert Sennett, dass es sich hier um eine reale, von ihm selbst interviewte Person handelt, deren Identität aber anonym bleiben soll. Das ist bemerkenswert, weil Sennett sich des Konstruktionscharakters seiner hier erstmals vorgestellten Sozialfigur durchaus bewusst ist – worauf später zurückzukommen sein wird. Sennett porträtiert im gesamten ersten Kapitel Rico und kontrastiert ihn mit seinem Vater Enrico. Dieser habe sein Leben lang ein und denselben Beruf ausgeübt, einen Arbeits- und Wohnort und einen festen Freundeskreis gehabt, sich sukzessive Geld für ein eigenes Haus in der Vorstadt erarbeitet und sich seiner eigenen Aussage nach ganz für das Wohl seiner Familie eingesetzt. Langfristige Ziele, Arbeitsroutinen und dauerhafte Verbindungen kennzeichnen das Leben des Vaters. Ricos Karriere hingegen beginnt als technischer Berater in einer High-TechFirma im Silicon Valley. Von dort wechselt er zu einem Unternehmen in Chicago, wohin er und seine Frau umziehen. Der nächste Umzug erfolgt, weil seine Frau eine Arbeitsstelle in einer anderen Stadt annimmt. Dort wiederum fällt Ricos Anstellung einer Umstrukturierung zum Opfer und sie wechseln erneut den Wohnort. Rico verteidigt die Flexibilität und das Risiko als unternehmerische Notwendigkeiten und begreift sie beruflich als Herausforderungen, die es ›sportlich‹ zu nehmen gelte. Sorgen macht ihm jedoch, dass die allzeitige Flexibilität und Kurzlebigkeit sich negativ auf seinen Charakter auswirken und er seinen Kindern kein Vorbild sein könne:

55 | Der flexible Mensch ist die vom englischen Original abweichende deutsche Übersetzung des Titels The Corrosion of Character; vgl. Sennett, Richard: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York/London 1999. Zitiert wird im Folgenden aus der deutschen Übersetzung: Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. Im englischen Text finden sich Bezeichnungen wie »character« (S. 10), »flexible individual« (S. 59), »driven man« (S. 105), »modern self« (S. 133) oder »fragmented selves« (S. 143), die jeweils im Sinne einer Sozialfigur gebraucht werden. Alle englischsprachigen Angaben sind aus R. Sennett: The Corrosion of Character. 56 | R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 15.

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Tobias Schlechtriemen »Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt. Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte einer flexiblen Gesellschaft: bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer. Während des Fluges brach es plötzlich aus Rico heraus: ›Du kannst dir nicht vorstellen, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinen Kindern etwas über Verpflichtungen erzähle. Es ist für sie eine abstrakte Tugend, sie sehen sie nirgendwo.‹« 57

Die letzten Sätze sind wiederum direkte Rede, und auch die Schilderung der Emotionen verstärkt die Lebhaftigkeit der Szene. Neben Rico als Verkörperung des flexiblen Menschen treten in Sennetts Buch noch weitere Figuren auf (wie die griechischen Bäcker in Boston [Kap. 4] oder die Barbesitzerin Rose [Kap. 5]), die jeweils einen Aspekt des flexibilisierten und fragmentierten Lebens unter den Bedingungen des ›neuen Kapitalismus‹ veranschaulichen. Aber sie bleiben Randfiguren, Sennett kommt immer wieder auf Rico zurück. Dadurch, dass die Sozialfigur am Anfang einmal eingeführt worden ist, steht sie der Leserin oder dem Leser vor Augen, Sennett kann sich jederzeit auf sie beziehen und schafft auf diese Weise Kohärenz.

3. D ie M erkmale von S ozialfiguren 3.1 Figurative Charakterisierungen und biografische Narrative Nachdem die drei Sozialfiguren – die Angestellten, der außen-geleitete Charakter und der flexible Mensch – jeweils kurz vorgestellt wurden, werden davon ausgehend die gemeinsamen Merkmale, die Sozialfiguren kennzeichnen, herausarbeitet. Festzuhalten ist zunächst, dass es sich um menschliche Figuren handelt, die ein bestimmtes Geschlecht und Alter aufweisen. Außerdem lassen sich Einzel- von Kollektivfiguren unterscheiden. Kracauers Angestellte etwa treten meist im Kollektiv auf und werden überwiegend weiblich dargestellt, wie die »lochenden Mädchen«.58 Sie werden aber auch exemplarisch als Einzelne porträtiert, etwa wenn er von der »Telephonistin oder Stenotypistin«59 schreibt. Sennetts flexibler Mensch ist dagegen männlichen Geschlechts.60 Während Kracauers und Sennetts Sozialfiguren am ehesten Menschen mittleren Alters beschreiben, bezieht Riesman »das außen-geleitete Kind«61 mit ein. Auch die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft wird über die Sozialfigur thematisiert. So beschreibt Riesman, wie mit dem Aufkommen des außen-geleiteten Charakters die Forderung nach »Unterwerfung des einzelnen unter die Gruppe«62 einhergeht. Darüber hinaus werden die Sozialfiguren durch bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen charakterisiert: die 57 | Ebd., S. 29. 58 | S. Kracauer: Die Angestellten, S. 232. 59 | Ebd., S. 225. 60 | Zur Geschlechterdifferenz und deren Rolle in der Figurenkonstellation vgl. unten. 61 | D. Riesman: Die einsame Masse, S. 82f. Denn Riesman geht es ja gerade um die Herausbildung des sozialen Charakters in der Kindheit. 62 | Ebd., S. 95.

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Angestellten durch ihren Ehrgeiz und ihre Vergnügungssucht, Rico durch seine Zerrissenheit zwischen den Anforderungen der Arbeitswelt und dem, was er sich für seine Familie wünscht.63 Die Beschreibungen situieren ihre Figuren in der Regel in einem spezifischen Soziotop – die Großstadt Berlin mit ihren Pläsierkasernen bei Kracauer; das Silicon Valley bei Sennett. Weil es sich bei den Sozialfiguren um menschliche Figuren handelt, können außerdem biografische Geschichten über sie erzählt werden. Zu den charakterisierenden Beschreibungen der Figur und ihres Umfeldes kommt ein biografisches Narrativ hinzu, das beispielsweise bei Sennett die Geschichte des Verhältnisses von Vater und Sohn sowie wiederum die Beziehung des Sohnes zu seinen Kindern erzählt. Dabei steht die Sozialfigur im Zentrum der Handlung. Sie ist mit den Herausforderungen der Gegenwart konfrontiert und die Erzählung schildert, wie sie sich dabei schlägt. Gegebenenfalls wird eine Kontrastfigur aufgerufen, was im Kontext der Gegenwartsdiagnosen meist Figuren der Vergangenheit bzw. der vorausgehenden Epoche sind. Deren Verhaltensweisen verdeutlichen kontrastierend, wodurch sich die eigentliche Hauptfigur auszeichnet. Riesman geht in diesem Sinne länger auf den »innen-geleiteten Menschen« ein.64 Sowohl die Charakterisierungen als auch die biografischen Erzählungen ermöglichen es, dass man sich beim Lesen mit den Sozialfiguren identifiziert oder zumindest angesprochen fühlt. Demnach stellen Sozialfiguren menschliche Figuren dar, mit Geschlecht und Alter, Einzel- oder Kollektivfiguren, Charakterisierungen und biografischen Narrativen.

3.2 Die Bündelung gesellschaftlicher Erfahrungen Bei den Sozialfiguren handelt es sich weder um konkrete Individuen noch um fiktionale Gestalten,65 sondern um figurative Darstellungen, in denen grundlegende gesellschaftliche Erfahrungen der betreffenden Zeit verdichtet sind. Weil der von ihnen verkörperte Habitus, die Verhaltensweisen und sozialen Positionen die gesellschaftlichen Erfahrungen prägnant zum Ausdruck bringen, besitzen die Sozialfiguren Realitätsgehalt und einen direkten Bezug zu ihrer Gegenwartsgesellschaft. Gleichzeitig haben sie fiktiven Charakter, weil in ihnen gesellschaftliche Erfahrungen verdichtet sind. Die Bündelung kann sich zwar auf historische Personen richten und diese durch entsprechende narrative und mediale Darstellungen zu Sozialfiguren machen. Aber hinter einer Sozialfigur steht kein reales Individuum, sondern sie verweist auf die gesellschaftlichen Fragestellungen, die sich anhand dieser Figur artikulieren.66 Suggeriert Sennett anfangs, es handle sich bei Rico um 63 | Zur Charakterisierung von Figuren aus literaturwissenschaftlicher Sicht vgl. F. Jannidis: Figur und Person, S. 207-221. 64 | D. Riesman: Die einsame Masse, S. 120-136. 65 | Im Sinne von Jens Eders Einteilung handelt es sich bei den Sozialfiguren um Symptome – weil sie auf eine gesellschaftliche Realität verweisen – und Artefakte – weil ihr Kon­ struktionscharakter mitkommuniziert wird; vgl. dazu Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, S. 123-128. 66 | Vgl. Langenohl, Andreas: Öffentliche Reaktionen auf das Schweizer Referendum über Minarettbau und auf »Deutschland schafft sich ab«, in: Gießener Universitätsblätter 44, 2011, S. 83-94, hier S. 87.

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eine (umbenannte) Person, die er interviewt habe, hält er an anderer Stelle dennoch fest, er habe »die Identität der Personen stärker verschleiert als bei direkten Interviews üblich, so daß es zu Veränderungen von Zeit und Ort, mitunter der Bündelung mehrerer Stimmen zu einer oder der Aufspaltung einer in viele Stimmen kommt«.67 Weil sie das Ergebnis einer solchen Bündelung oder konzentrierten Zusammenstellung gegenwartsrelevanter Charakteristika sind, bewegen sich Sozialfiguren in einem Zwischenstatus zwischen Realität und Fiktion.

3.3 Interfigurative Bezüge Die Sozialfiguren besitzen eigene, interfigurative Bezüge zu anderen Gestalten – ähnlich wie Begriffe ein Verweisungssystem bilden –, nur sind es hier keine logischen, sondern eben figurative Bezüge. Als Beispiel dazu kann die figurative Konstellation um Sennetts Sozialfigur des flexiblen Menschen skizziert werden. Um Rico vorzustellen, kontrastiert Sennett ihn im ersten Kapitel mit seinem Vater, den er als Vertreter der älteren Generation zeichnet. In der Fluchtlinie von Rico, der exemplarisch die alltäglichen Auswirkungen der neuen Arbeitswelt verkörpert, liegt das Idealbild des flexiblen Menschen, der Homo Davosiensis – wie Sennett ihn nennt: Dieser »verkörpert sich am medienwirksamsten in Bill Gates, dem allgegenwärtigen Chef von Microsoft. […] Für die meisten Führungskräfte ist er ein Held, und das nicht nur, weil er eine gewaltige Firma aus dem Nichts geschaffen hat. Er ist das Musterbeispiel eines flexiblen Wirtschaftsbosses«.68 Der zeitgenössische Heros weist wiederum Bezüge zu Schumpeters Figur des »Unternehmers« als »kreativer Zerstörer« auf, die Sennett mehrfach aufruft.69 Den Wirtschaftshelden steht ein Antiheld gegenüber, der bzw. die – es handelt sich hier nicht zufällig um eine Frau – »für ihn [Rico] in der Figur der von Sozialhilfe lebenden alleinerziehenden Mutter verkörpert [wird], die ihre Unterstützung für Alkohol und Drogen ausgibt«.70 Heroisierung und Abwertung spielen hier mit der geschlechtlichen Markierung zusammen. Der flexible Mensch erhält seine Konturen durch die figurativen Bezüge auf eine Alltagsfigur (Rico), der ein männliches Idealbild (Homo Davosiensis/Bill Gates) und ein weibliches Negativbild (verantwortungslose Mutter) gegenübergestellt werden. Zudem wird über den Vater ein Generationenunterschied markiert, und es werden über Vergangenheitsbezüge wie den Unternehmer figurative Vorlagen aufgegriffen und aktualisiert. Daraus ergibt sich eine Figurenkonstellation, die nicht direkt Sennetts Sicht wiedergibt, aber doch die Wertungen derjenigen, die er hier beschreibt. Riesman wiederum verweist darauf, dass ihn

67 | R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 12f. 68 | Ebd., S. 77f. 69 | Vgl. ebd., S. 36f., S. 38 und S. 53. Zum Unternehmer vgl. Schumpeter, Joseph A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Berlin 1964. 70 | Ebd., S. 32.

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Erich Fromms sozialcharakterologische Darstellungen zu seiner Sozialfigur inspiriert haben71 und expliziert, welche Nähe er zu anderen Figuren sieht.72

3.4 Der Gesellschaftsbezug von Sozialfiguren Man könnte die anschaulichen Schilderungen als Anekdoten für sich stehen lassen. Aber die Autoren beanspruchen, dass die Sozialfiguren nicht bloß Einzelfälle darstellen, sondern auf eine ihnen eigene Weise etwas artikulieren, was für viele Menschen der Gegenwartsgesellschaft relevant ist.73 Kracauer geht davon aus, dass sich die Zahl der Angestellten vervielfacht habe,74 und sieht im Großbetrieb der Angestellten »das Modell der Zukunft«.75 Für Sennett ist Rico »ein Jedermann unserer Zeit«:76 »Ich habe diese Begegnung so ausführlich geschildert, weil Ricos Erfahrungen mit der Zeit, dem Ort und der Arbeit nicht einzigartig sind, ebensowenig wie seine emotionale Reaktion darauf.« 77 Eine weitere Form der Generalisierung und Verallgemeinerung der Darstellung ist Sennetts Formulierung von »Enricos Generation«.78 Auch hier ist die spezifische Sozialfigur der Ausgangspunkt, um auf gesellschaftlich Relevantes zu verweisen. Ob es explizit ausgeführt wird oder nicht, Sozialfiguren führen immer den Anspruch mit sich, dass sie mit ihren Eigenschaften auf grundlegende, gesellschaftlich relevante Erfahrungen der Gegenwart verweisen. Mit seinem flexiblen Menschen will Sennett nicht bloß aktuelle Entwicklungen in der Arbeitswelt darstellen; Flexibilisierung, Fragmentierung usf. sind vielmehr Prozesse, die alle gesellschaftlichen Bereiche bestimmen.79 Ge71 | »Angeregt und entwickelt wurde dieses Bild des außen-geleiteten Menschen durch ERICH FROMMS Beschreibung der ›Marktorientierung‹ in ›Man for Himself‹« (D. Riesman: Die einsame Masse, S. 38). 72 | »[E]s ist FROMMS ›Markt-Charakter‹, MILLS’ ›Ermittler‹ (fixer), ARNOLD GREENS ›Jugendlicher des Mittelstandes‹« (ebd., S. 35f.). Kracauer bezieht sich in seiner Studie neben den Angestellten auch auf die Figur des ›Unternehmers‹ (S. Kracauer: Die Angestellten, S. 231ff., 303f.), sowie des ›Arbeiters‹ (ebd., S. 282). 73 | Sozialfiguren sind eine Form, in der das an sich ungreifbare ›Soziale‹ oder ›die Gesellschaft‹ greifbar, vorstellbar und damit auch behandelbar gemacht wird. Somit sind Sozialfiguren auch »Figuren des Sozialen« (vgl. Falkenhayner, Nicole: Making the British Muslim. Representations of the Rushdie Affair and Figures of the War-On-Terror Decade, Houndmills 2014, S. 9) oder Bilder des Sozialen (Schlechtriemen, Tobias: Bilder des Sozialen. Das Netzwerk in der soziologischen Theorie, Paderborn 2014). Aber die Figuration setzt hier nicht direkt die Gesellschaft als Ganze ins Bild, sondern stellt eine konkrete Einzelfigur dar – deren Charakteristika aber zugleich für die ganze Gesellschaft relevant sind. 74 | Vgl. S. Kracauer: Die Angestellten, S. 218. 75 | Ebd., S. 213. 76 | R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 38. 77 | Ebd., S. 37. 78 | Ebd., S. 53. Zum Konzept der ›Generation‹ in Gegenwartsdiagnosen vgl. O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 163-190. Dimbath schreibt hier auch von »Generationsgestalten« (ebd., S. 165). 79 | Stephan Moebius und Markus Schroer (S. Moebius/M. Schroer: Einleitung, in: Dies. [Hg.]: Diven, Hacker, Spekulanten, S. 7-11, hier S. 8) schreiben dazu: »Die Sozialfiguren dagegen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die verschiedenen Sphären übergreifen. Für

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rade im Kontext von Gegenwartsdiagnosen werden auf figurative Weise eine Eigenschaft oder wenige Charakteristika geschildert, die als prägend für die gesamte Gesellschaft angenommen werden – alle anderen Aspekte werden ausgeblendet. Hier treffen sich die Konzentrations- und Verdichtungsbewegung der Figuration mit der Eigenschaft von Gegenwartsdiagnosen, die Gegenwartsgesellschaft anhand eines oder weniger Merkmale zu charakterisieren. Die Rede von einem ›Selbst‹ – das erschöpft ist oder unternehmerisch agiert – oder einem ›Menschen‹ wie dem flexiblen bzw. außen-geleiteten, sind ebenfalls Generalisierungen, in gewisser Weise Anthropologisierungen, die vor allem auf der Ebene von Buchtiteln vorgenommen werden. In diesem Sinne schreibt Riesman: »So stellt meine Untersuchung des außen-geleiteten Charakters eine Analyse sowohl des Amerikaners als auch des heutigen Menschen überhaupt dar.«80

3.5 Erfahrungsnahe und ästhetische Beschreibungen Sozialfiguren bündeln gesellschaftliche Erfahrungen. Dabei zeichnet sie gegenüber abstrakten Begriffen und Statistiken der quantitativen Sozialforschung aus, dass sie erfahrungsnah sind, ästhetische und somatische Aspekte usf. mit einbeziehen. So beschreibt Kracauer einen »Angestelltentypus«, zu dem eben eine bestimmte »Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien« 81 gehören und dessen Alltag geprägt sei durch »Federn; Kohinoor-Bleistifte; Hämorrhoiden; Haarausfall; Betten; Kreppsohlen; weiße Zähne; Verjüngungsmittel; Verkauf von Kaffee in Bekanntenkreisen; Sprechmaschinen; Schreibkrampf; Zittern, besonders in Gegenwart anderer; Qualitätspianos gegen wöchentliche Abzahlung usw.« 82 Somit kommen konkrete Dinge, Umstände und Verhaltensweisen ins Spiel, die eine ästhetische Erfahrungsdimension darstellen. Auch die Beschreibungen von Riesmans außen-geleitetem Charakter beziehen viele lebensweltliche, emotionale und ästhetische Aspekte mit ein. Triebe und Befriedigungen, aber auch Essensgewohnheiten und Sexualität 83 oder Geschmack machen den Charaktertyp im Kern aus.84

3.6 Die Nähe zu massenmedialen und literarischen Darstellungen Obwohl Kracauer sich von Reportagen85 sowie »illustrierten Zeitungen« 86 abgrenzt und Sennett betont, dass es einen Unterschied zwischen seinen Beobachtungen und literarischen Bearbeitungen gebe, weil deren Erzählungen zu ›abgerundet‹

sie ist typisch, dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihre Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbständigen: Beraten, managen, spekulieren – das sind Tätigkeiten, die zu Praktiken geworden sind, die ihr angestammtes Feld längst verlassen haben, um durch die gesamte Gesellschaft zu vagabundieren.« 80 | Ebd., S. 36. 81 | S. Kracauer: Die Angestellten, S. 230. 82 | Ebd., S. 288. 83 | Vgl. D. Riesman: Die einsame Masse, S. 154-161. 84 | Vgl. ebd., S. 86-91. 85 | Vgl. S. Kracauer: Die Angestellten, S. 222. 86 | Vgl. ebd., S. 295.

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und zu ›kohärent‹ seien, um das heutige Leben wiederzugeben,87 ist die Nähe beider sowohl zu massenmedialen als auch literarischen Darstellungen deutlich. Diese Nähe ergibt sich zum einen durch das Genre der Gegenwartsdiagnosen, zum anderen über die Anschaulichkeit der Sozialfiguren. Als anschauliche Figuren sind sie – im Gegensatz zu fachspezifischen Begrifflichkeiten – einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.88 Außerdem besitzen sie eine besondere Erfahrungsnähe, erlauben es, sich mit ihnen zu identifizieren und wirken oftmals appellativ, weil sie ein Verhalten darstellen, das beansprucht, vorbildlich zu sein.89 Das führt dazu, dass Sozialfiguren affizieren und man ihnen gegenüber kaum gleichgültig bleiben kann. Sowohl in der Anschaulichkeit als auch in ihrer Eigenschaft als Figuren liegt ihre Nähe zu literarischen Beschreibungen.90 Es verwundert daher nicht, dass Kracauer bei der Beschreibung des Großbetriebs auf Kafka zurückgreift: »Wird sonst nach der Wirklichkeit gedichtet, so geht hier die Dichtung der Wirklichkeit voran. In den Werken Franz Kafkas ist der verworrene menschliche Großbetrieb […] ein für allemal dargestellt.«91 Wie gezeigt, bezieht sich insbesondere Riesman in seinen Darstellungen immer wieder auf literarische Beispiele sowie Figuren aus Filmen.

3.7 Epistemische und soziale Funktionsweisen Wie gestaltet sich der Auftritt der Sozialfiguren im Kontext wissenschaftlicher Darstellungen und welche Funktionen üben sie auf diese Weise aus? In einer Passage entwickelt Sennett begrifflich die einzelnen Elemente des modernen Machtsystems.92 In diesem Sinne hätte er sein Buch auch im logico-scientific modus schreiben und entsprechende Überlegungen zu Konzepten wie ›Flexibilisierung‹, ›Fragmentierung‹ und ›Re-engineering‹ anstellen können. An anderer Stelle erklärt Sennett die Haltung gegenüber älteren Menschen damit, dass immer weniger Menschen zwischen 55 und 64 Jahren erwerbstätig seien.93 Sein Argument belegt er mit statistischen Daten. Beide, theoretische wie statistische Argumentation, sind im Zusammenhang soziologischer Darstellungen bestens etabliert. Von solchen abstra87 | Vgl. R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 12f. Das hindert Sennett jedoch nicht daran, sich selbst immer wieder auf literarische Beschreibungen als Belege zu beziehen, etwa auf Stendhal und Balzac; vgl. ebd., S. 104. 88 | Zur massenmedialen Zirkulation von Sozialfiguren vgl. N. Falkenhayner: Making the British Muslim. 89 | Zur Tradition moralisch vorbildlicher Darstellungen in Theater und Literatur vgl. B. Carnevali: Literary Mimesis. In Sozialfiguren wird nicht nur moralisch anzustrebendes Verhalten dargestellt, sondern weitergehend das, was in einer historisch-sozialen Konstellation als prägend erlebt wird. 90 | Umgekehrt lässt sich die Nähe auch aus einer Auffassung der Bedeutung von Literatur ableiten, die mit Georg Lukács gesagt, eine »dichterische Gestalt« dann als »bedeutungsvoll und typisch« erachtet, »wenn es dem Künstler gelingt, die vielfältigen Verbindungen zwischen den individuellen Zügen seiner Helden und den objektiven allgemeinen Problemen der Epoche aufzudecken« (zit.n. L. Jappe/O. Krämer/F. Lampart: Einleitung, S. 3). 91 | S. Kracauer: Die Angestellten, S. 240. 92 | Vgl. R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 58f. 93 | Vgl. ebd., S. 123.

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hierenden Argumentationsweisen unterscheidet sich die anschauliche Schilderung der Sozialfiguren Rico und Enrico, die ebenfalls in Sennetts Text auftaucht und die vielleicht wichtigste Darstellungsform des Buches bildet. Hier überzeugt nicht die konzeptionelle Auslegung oder der numerische Beleg. Plausibilität generieren die Sozialfiguren vielmehr über ihre Alltagsnähe. Zu ihrer Erzeugung von Evidenz gehört, dass Sennett sich jederzeit auf die von ihm geschilderten Sozialfiguren beziehen kann. In der bereits zitierten Passage bespricht er die »Zeitdimension des neuen Kapitalismus« und schildert unmittelbar im Anschluss im Sinne einer Erläuterung, wie Rico ihm während des Fluges sehr emotional erzählt habe, welche Auswirkungen diese Arbeitsformen auf ihn und seine Familie hätten. In einem Abschnitt, in dem Sennett die Bedeutung von Routinen diskutiert, schreibt er: »Wir haben gesehen, wie Enrico aus seiner besessenen Aufmerksamkeit für die routinegeprägte Zeiteinteilung einen sinnvollen Erzählrahmen für sein Leben schuf.«94 Sennett muss den Zusammenhang nicht noch einmal ausführen, sondern kann darauf setzen, dass den Leserinnen und Lesern Ricos Vater und dessen Arbeitsleben in der dargestellten Weise präsent ist. An anderer Stelle bespricht er die Auswirkungen der Fragmentierung und bezieht sich dabei nochmals auf Rico: »Wie wir gesehen haben, litt Rico emotional unter der gesellschaftlichen Entwurzelung, die seinen Erfolg begleitete.«95 In der Weise, wie Sennett die Rückbezüge hier gestaltet, macht es den Anschein, als habe man selbst Ricos Leben beobachtet – »Wir haben gesehen« und »Wie wir gesehen haben« – und diese gemeinsamen Beobachtungen könnten nun als Beweis, als Argumentationsgrundlage, dienen. Im Argumentationszusammenhang ersetzen diese Rückgriffe auf die vor-Augen-gestellten Figuren weitere explizite, kausale Begründungen, bezeugen das Gesagte und erzeugen auf ihre eigene Weise Plausibilität. Um genauer zu klären, welche Funktionen Sozialfiguren über den wissenschaftlichen Kontext hinaus ausüben, können die von den Gegenwartsdiagnostikern formulierten Geltungsansprüche den Ausgangspunkt bilden. Kracauer versteht seine Studie als »Diagnose«,96 die zwar keine konkreten Therapievorschläge machen will, aber durch die Erfassung der Situation der Angestellten bereits etwas verändert: »Denn ist die gemeinte Situation von Grund auf erkannt, so muß auf Grund des neuen Bewußtseins von ihr gehandelt werden«97 – und man könnte ergänzen: anders gehandelt werden. Die sozialfigurativen Beschreibungen ermöglichen eine gesellschaftliche Selbsterkenntnis, die das Handeln der Menschen ändert. Auch Sennett will seine Zeitgenossen von dem Mangel befreien, dass sie ihr Leben nicht mehr erzählen können.98 Durch seine Darstellungen gibt er diesen Menschen die Möglichkeit einer figurativen Selbstbeschreibung, bietet ihnen eine Erzählung an, die ihre fragmentierten Erfahrungen narrativ in einen größeren Zusammenhang stellt.99 Riesman würde für seine Charaktertypen wahrscheinlich 94 | Ebd., S. 54. 95 | Ebd., S. 79. 96 | S. Kracauer: Die Angestellten, S. 213. 97 | Ebd. 98 | R. Sennett: Der flexible Mensch, S. 36. 99 | Über Schelskys skeptische Generation schreibt Charlotte Lütkens, dass diese Darstellung für die Beschriebenen »rollenbildend« gewirkt habe (zit.n. F.-W. Kersting: Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957, S. 478).

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dieselbe Funktion in Anspruch nehmen, die er Romanfiguren zuspricht: dass sie es dem Leser ermöglichen, sich in ihrer Welt zu orientieren.100 Sozialfiguren pointieren prägende gesellschaftliche Erfahrungen und regen die Selbstverständigung der Gesellschaft über ihre zentralen Werte, Verhaltensweisen, Handlungsoptionen etc. an – gerade weil es sich um menschliche Figuren handelt, mit denen man sich identifizieren kann.101 Indem sie die komplexe soziale Wirklichkeit auf einige wenige charakteristische Merkmale reduzieren, machen sie gesellschaftliche Fragen verhandelbar.102 Da sie dies auf anschauliche Weise tun, bleibt eine Nähe zur Lebenswelt bestehen und die soziologischen Beschreibungen weisen nicht den hohen Abstraktionsgrad auf wie etwa Gesellschaftstheorien. Darin liegen zugleich ihre epistemischen Nachteile begründet: Sozialfiguren besitzen nicht die weitreichende Geltung von Begriffen. Außerdem lassen sie sich nicht in allgemeingültigen logischen Urteilen fassen, die wiederum Vergleiche und Anschlüsse an andere Begriffssysteme erlauben. Nicht zuletzt sind Sozialfiguren nicht widerlegbar – sie entziehen sich mit ihrer Funktionsweise weitgehend den Kriterien rationaler Beurteilung. Schließlich bleibt es nicht bei den (relativ) neutralen Darstellungen wie sie qualitative Forschungen bei gleichzeitiger Nähe zu ihrem Gegenstand aufweisen.103 Als ikonische Subjektivierungsformen zirkulieren Sozialfiguren jenseits fachwissenschaftlicher Debatten im öffentlichen Bewusstsein. In diesem Sinne fungieren Sozialfiguren als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, helfen eigene Erfahrungen zu deuten und dienen als Handlungsorientierung im Alltag.

4. D ie A nalyse von S ozialfiguren – eine P rogr ammatik Sozialfiguren bilden, wie an den drei Beispielen gezeigt, ein tragendes Element soziologischer Gegenwartsdiagnosen, welches es in einer Beobachtung zweiter Ordnung genauso zu untersuchen gilt, wie andere wesentliche Merkmale gegenwartsdiagnostischer Darstellungen. Dass dies bislang kaum geschehen ist, liegt wohl daran, dass Sozialfiguren den in der Soziologie immer noch weit verbreiteten Objektivitätsanspruch unterlaufen. Ihm zufolge darf die rhetorische Darstellung keinen Einfluss auf die Analyse der ›sozialen Realität‹ haben. Weder die etablierten Validitätskriterien soziologischer Theoriebildung noch die der empirischen Sozialforschung erlauben es, die Funktionsweise figurativer Darstellungen adäquat zu fassen und zu beurteilen. Die hier angestellten Ausführungen fungieren entsprechend als eine erste Annäherung an diese eigenständige, zugleich aber im Selbstverständnis der Disziplin nicht verankerte soziologische Herangehensweise. 100 | D. Riesman: Die einsame Masse, S. 106. 101 | Vgl. S. Moebius/M. Schroer: Einleitung, S. 8f. 102 | Sozialfiguren sind zwar das Ergebnis einer figurativen Verdichtung gesellschaftsrelevanter Erfahrungen und gehen insofern aus diesen hervor; ist die Figuration aber einmal erfolgt, kann die Sozialfigur selbst wiederum einen Ausgangspunkt für ihr entsprechende Erfahrungen bilden – jedenfalls eigene Erfahrungen in einer spezifischen Weise neu rahmen. 103 | Auch in der empirischen Sozialforschung wird mit Figuren gearbeitet, etwa der »Modalpersönlichkeit«; ebenso lässt sich die Typenbildung, auf die qualitative Forschung häufig hinausläuft, als figurative Soziologie begreifen.

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Was verspricht die Untersuchung von Sozialfiguren? An Sozialfiguren lassen sich wesentliche Aspekte der Gegenwartsgesellschaft ablesen: wie sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestaltet, ob starke oder schwache Subjektpositionen dominieren,104 wie sich die Geschlechterrollen ausdifferenzieren, welche Werte, Verhaltensweisen, Bewährungsfelder, Gefühle sowie ästhetische Aspekte im Fokus stehen und zur betreffenden Zeit diskutiert werden. Ein historischer Vergleich der Sozialfiguren und ihrer Eigenschaften eröffnet somit vielschichtige Einsichten im Feld der Gegenwartsdiagnostik. Einblicke in die Funktionsweise von Sozialfiguren, ihre Zugänglichkeit und Alltagsnähe sowie die Identifikationsangebote, die sie bereitstellen, helfen zu erklären, wie soziologische Gegenwartsdiagnosen anschlussfähig an massenmediale Diskurse werden. Auch die für Gegenwartsdiagnosen typische Stellung zwischen fachwissenschaftlicher Darstellung und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung kann über die Sozialfiguren genauer analysiert werden. Nicht zuletzt kommt Sozialfiguren ein epistemischer Wert zu, weil sie auf ihre eigene Weise Evidenz über ihre Anschaulichkeit generieren, und interfigurative Bezüge ausbilden, die über die Sozialfigur – und eben nicht rein begrifflich oder empirisch – gestiftet werden. Wie Gegenwartsdiagnosen allgemein können sie »Vorreiterfunktion für andere Studien«105 haben sowie neue Erkenntnisse und anregende Stichworte106 produzieren – gerade dadurch, dass sie zum einen bevorzugt neue, zum anderen aber auch ein besonders breites Spektrum lebensweltlicher Aspekte artikulieren und in einen Zusammenhang stellen. Sozialfiguren sind hier zunächst als ein Bestandteil soziologischer Gegenwartsdiagnosen im Sinne einer Soziologie der Soziologie analysiert worden. Dabei hat sich gezeigt, dass diese figurativen soziologischen Beschreibungen nicht nur als soziologische Instrumente fungieren, sondern selbst eine Ausdrucksgestalt ihrer Zeit darstellen. Als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen bilden sie – obwohl sie selbst am Prozess des Diagnostizierens ihrer jeweiligen Gegenwart beteiligt sind – einen Gegenstand, der sich gewinnbringend im zeitdiagnostischen Vergleich analysieren lässt. Für die Praxis soziologischen Diagnostizierens sind Sozialfiguren in zweifacher Hinsicht interessant: Wie funktioniert Diagnostik über Sozialfiguren und welche Aussagen über den Charakter einer Epoche lassen sich über die vergleichende Analyse von Sozialfiguren gewinnen? Diagnostik gestaltet sich in unserem Zusammenhang einerseits als soziologische Figuration, andererseits als Auseinandersetzung mit historischen gesellschaftlichen Figurationen. Entsprechend können Sozialfiguren als Instrument sowie als Gegenstand in die soziologische Arbeit einbezogen werden und bilden noch dazu eine Form von Soziologie, die in hohem Maße gesellschaftlich anschlussfähig ist.

104 | Vgl. S. Moebius/M. Schroer: Einleitung, S. 9. 105 | W. Reese-Schäfer: Zeitdiagnose, S. 381. 106 | Vgl. ebd., S. 377-386.

Das diagnostische Imaginäre des Sports* Thomas Alkemeyer In einer kulturwissenschaftlichen Perspektive lässt sich der Sport als eine symbolische Form begreifen, in der sich »Gesellschaft« darstellt, ihren Erfahrungshorizont stabilisiert und elaboriert, aber auch reflektiert und problematisiert. Sport wird dann als ein Medium gesellschaftlicher Selbstthematisierung neben und in Verbindung mit anderen Medien wie der Literatur, der Malerei, dem Tanz oder dem Theater betrachtet. In dieser Betrachtungsweise sind die in diesen und anderen Medien vermittelten Darstellungen keine bloße Widerspiegelung einer vorgelagerten Realität, sondern werden als ein eigener, generativer Modus der Herstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit angesehen: Sie inszenieren und (re-)kreieren die soziale Welt. In kulturwissenschaftlich orientierten Diskursen der Sportsoziologie und der Sportphilosophie ist Sport in diesem Sinne bereits mehrfach als ein Medium der Repräsentation, der Darstellung oder der Aufführung von Gesellschaft in den Blick genommen worden.1 Das Interesse gilt in diesen Diskursen nicht nur den Merkmalen, Prinzipien und Veränderungen des Sports oder den Veränderungen im Feld des Sports, sondern auch der Frage, was diese Merkmale, Prinzipien und Veränderungen über die Gesellschaft und deren Transformation aussagen, was sie im Modus des Zeigens fokussieren und als relevant markieren:2 Wie durch ein

* | Dieser Beitrag baut u.a. auf meinen Aufsatz »Die Wiederbegründung der Olympischen Spiele als Fest einer Bürgerreligion« (in: Gebauer, Gunter [Hg.]: Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 65-100) auf, stellt die dortigen Überlegungen jedoch in einen anderen und größeren Zusammenhang und entwickelt sie unter dem diesen Band orientierenden Blickwinkel der Gegenwartsdiagnose weiter. 1 | Vgl. beispielsweise Gebauer, Gunter: Sport – die dargestellte Gesellschaft, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 1, 1998, S. 223-240; Alkemeyer, Thomas: Sport als Mimesis der Gesellschaft, in: Zeitschrift für Semiotik 19, 1997, S. 365395; Ders. u.a. (Hg.): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003. 2 | Vgl. Krähnke, Uwe: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig des Sozialwissenschaftlers, in: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016, S 7-19; Schmidt, Robert/Stock, Wiebke-Marie/Volbers, Jörg (Hg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011.

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Brennglas hindurch gäben die Veränderungen des Sports Veränderungen in den »Tiefenstrukturen« der gesamten Gesellschaft zu erkennen, so lautet eine These.3 Sie besagt nicht, dass die Welten und Praktiken des Sports getreue Abbilder der gesellschaftlichen Realität, ihrer Strukturen und Veränderungen seien, sondern behauptet, dass Gesellschaft im Medium des Sports auf eine spezifische, durch die Eigenlogik des sportlichen Feldes geprägte Weise gestaltet, gedeutet oder auch experimentell erprobt wird, dass also im Sport aus dem vielfältigen »Material«, das die gesellschaftlich-historische Wirklichkeit bereithält, eigene symbolisch-ästhetische Welten erschaffen werden, deren Komposition sich genealogisch, nämlich durch die Rekonstruktion ihrer Herkunft und Entstehung aus heterogenen Elementen, entschlüsseln lässt.4 Ähnlich wie die in anderen Medien hergestellten Eigenwelten wird in dieser Sicht auch den Welten des Sports ein (semantischer, ästhetischer, affektiver) Überschuss über das Bestehende zuerkannt: der Ausdruck von etwas, das in der gesellschaftlichen Realität nur als eine Imagination, Erwartung oder (noch) unsichtbare Potenzialität vorkommt, so dass sich die Welten des Sports der Fantasie, dem Traum und dem Imaginären öffnen können. Auf der Folie dieser Überlegungen lässt sich sodann historisch-empirisch ausloten, inwiefern und wie sich in konkreten Sportpraktiken und Sportinszenierungen Züge des Realen mit imaginären Dimensionen verbinden und wie sich diese aus realen und imaginären Momenten gestalteten Sport-Welten zu ihrem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext verhalten.5 Mit dem Imaginären ist dabei zunächst nicht mehr bezeichnet als das, was in einer (literarischen, bildlichen, architektonischen, sportlichen) Fiktion die Realität überschreitet. Die Fiktion ist, so gesehen, das, was das Reale mit dem Imaginären vermittelt,6 eine Wirklichkeit sui generis, in die sowohl Momente einer bereits instituierten gesellschaftlichen Realität als auch die Produkte einer über diese Realität hinausweisenden gesellschaftlichen Einbildungskraft eingehen. Im Anschluss an diese Tradition kulturwissenschaftlicher Sportforschung werde ich Sport im Folgenden als die Aufführung eines gesellschaftlichen Imaginären in den Blick bringen, das ein diagnostisches Selbstverhältnis impliziert oder, bescheidener, unter bestimmten historischen Umständen implizieren kann. Aus Platzmangel, Gründen der Expertise und um diesen Beitrag nicht inhaltlich zu überfrachten, wird diese Perspektivierung vorwiegend nicht an empirischen Analysen historischer und aktueller Sportpraktiken, sondern am programmatischen 3 | Vgl. u.a. Gebauer, Gunter u.a.: Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld 2004. 4 | Vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Frankfurt a.M. 2002, Bd. 2, S. 166-191. 5 | So scheinen die gestalteten und in diesem Sinne fiktionalen (von fingere: gestalten, formen, darstellen) Welten des Sports im Unterschied etwa zu den intendiert verstörenden, die Risse, Brüche und Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens (auch) durch eine entsprechend brüchige Formensprache begreiflich machenden Fiktionen, die in der Kunst oder in der Literatur möglich sind, Vertrautes – Möglichkeiten »unserer« Art von Körpern, das Streben nach Leistung, Gewinn und Perfektion, Handlungsmuster der Konkurrenz und der Kooperation etc. – eher zu ästhetisieren und zu idealisieren, als grundlegend in Frage zu stellen: Sie reflektieren Gesellschaft eher, als dass sie Reflexionen über Gesellschaft anstoßen. 6 | Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M. 1989; Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1992.

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Entwurf eines sich von anderen geschichtlich-gesellschaftlichen Formen körperlicher Ertüchtigung abgrenzenden, sich explizit als modern verstehenden Sports durch Pierre de Coubertin vorgenommen. Die Genese dieses Sports ist mit dem Namen Coubertins eng verbunden,7 der den meisten als Begründer der modernen Olympischen Spiele bekannt sein dürfte, also jenes großen Sportfestes, in dem das Modell des modernen Sports eine, für ein weltweites Publikum gedachte, spektakuläre Form erhielt. Am Beispiel des Sport-Entwurfs Coubertins soll plausibilisiert werden, dass die Praktiken und Aufführungen des Sports nicht nur eine Darstellungs- oder Indikatorfunktion für gesellschaftliche (Struktur-)Veränderungen haben, sondern vor allem auch als Medien einer gesellschaftlichen Selbstdiagnostik wirken können, d.h. als Darstellungen, in denen sich Gesellschaft auf eine Weise problematisiert, die den Druck zu einem intervenierenden Handeln erzeugt, das die diagnostizierten Problemlagen bewältigen, eine Krise überwinden und Verbesserungspotenziale entfalten soll.8 Die Argumentation erfolgt in fünf Schritten: In einem ersten Schritt wird das bereits angedeutete Verständnis des Sports als einer spezifischen kulturellen Form gesellschaftlicher Selbstthematisierung erläutert (1.). Auf dieser Folie wird dann jenem Imaginären im Sinne überwiegend unbewusster Weltbilder, Hintergrundvorstellungen und Vorannahmen nachgegangen, die sich in der Entstehungsphase des modernen Sports in Coubertins Entwurf artikulierten (2.), um anschließend das Gegenwartsdiagnostische dieser Artikulationen zu bestimmen (3.). Um über die Ebene diskursiver Artikulationen hinaus zumindest anzudeuten, warum und wie ein solches gegenwartsdiagnostisches Imaginäres vermittelt über die Aufführungen des Sports eine besondere Eindringlichkeit und Evidenz erlangen kann, wird sodann in einem als Exkurs angelegten Unterkapitel auf die spezifische Wirkkraft jener Medien reflektiert, in denen sich gesellschaftlicher Sinn im Sport primär verdichtet und vermittelt, nämlich Körper und Bewegungen (4.). Ein Ausblick auf die gegenwartsdiagnostische Bedeutung und Inanspruchnahme des heutigen Sports schließt den Beitrag ab (5.).

1. S port als kulturelle F orm gesellschaf tlicher  S elbst thematisierung Die sportsoziologische und sportphilosophische Debatte über das Verhältnis von »Sport« und »Gesellschaft« bewegt sich zwischen den Polen der These, Sport liefere ein Abbild der sozialen Wirklichkeit, und der Annahme, er zeige ein Gegenbild zu dieser. Einen dritten, mittleren Weg eröffnet das Mimesis-Theorem: Sport ist unter diesem theoretischen Blickwinkel eine mimetische Version der sozialen Welt »draußen«. Dabei wird unter Mimesis mehr und anderes verstanden als das naturgetreue Abbilden einer vorgängigen Wirklichkeit. Mimesis impliziert vielmehr ein Um- oder Neubilden des Nachgebildeten. Gleichzeitig betont das Konzept, das solches Um- und Neubilden nicht nur in Wort und Schrift, sondern auch und gera7 | Vgl. so auch Bourdieu, Pierre: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Hortleder, Gerd/Gebauer, Gunter (Hg.): Sport – Eros – Tod, Frankfurt a.M. 1986, S. 91-112. 8 | Siehe die Einleitung zu diesem Band.

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de in den flüchtigen Medien der Körperlichkeit erfolgt – in Bewegungen, Gesten, Haltungen.9 Zudem lässt sich mit diesem Konzept berücksichtigen, dass es sich bei jener bereits instituierten Wirklichkeit, die da mimetisch-verändernd nachgebildet wird, um eine selbst immer schon symbolisch gedeutete und von imaginären Momenten durchwirkte Wirklichkeit handelt. Entscheidend ist, dass Mimesis die nachgebildete Wirklichkeit unter den Bedingungen jenes Feldes und jenes Mediums, in denen die Nachbildung sich vollzieht, re-arrangiert, ihr etwas Neues hinzufügt, sie anders sehen und erfahren lässt und das Gegebene so in Richtung auf den imaginären Entwurf10 einer anderen Wirklichkeit überschreitet. Durch die Brille des Mimesis-Konzepts werden die Praktiken und Figurationen des modernen Wettkampfsports so nicht nur als dynamische Verkörperungen eines idealen Selbst-Bildes der modernen, bürgerlichen Gesellschaft erkennbar, sondern auch als eine performative Kultur, in der Erinnerungen, Träume und Wunschbilder von Gesellschaft oder auch davon, was ein Individuum oder Subjekt ist oder sein möge, vergegenwärtigt und erprobt werden können. Allerdings ist die mimetische Bezugnahme auf andere, wirkliche oder vorgestellte, Welten nur eine Dimension, in der die Körper- und Bewegungsfigurationen des Sports ihre Bedeutung erlangen. Denn stets sind daran, zweitens, auch weitere, symbolische bzw. diskursive Praktiken beteiligt: Die Figurationen des sportlichen Geschehens sind eingebunden in ein intertextuelles und intermediales Netz aus Medieninszenierungen und alltäglichen Erzählungen, aus Texten, Bildern und Tönen, in denen Mythen erzeugt, Erinnerungen aufgerufen und Assoziationsräume eröffnet werden,11 etwa die in der Tour de France aufgeführte Idee, »dass der Mensch sich voll und ganz durch seine Handlung definiert[e]«,12 oder das Versprechen, dass der eigene Körper der »Schlüssel zu allen Glücksgütern« sei.13 Die vielbeschworene integrative Kraft des Sports (die allerdings immer auch ihre sozialstrukturellen und habituellen Grenzen hat) beruht, so gesehen, auch darauf, dass sich die Verkörperungen und Bilder, die der Sport vollzieht und liefert, als Projektionsfläche für vielfältige Bedeutungen und Erwartungen eignen.14 Sie 9 | Vgl. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998. 10 | Unter »Entwurf« wird hier im Anschluss an C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 132-135, im Unterschied zum Plan ein schöpferisches »Element der Praxis und überhaupt aller Aktivität« (ebd., S. 132) verstanden, das sich nicht auf ein erschöpfendes Wissen stützt, sondern offen ist für überraschende Wendungen. Ein Entwurf ist stets vorläufig, er öffnet die gegebene gesellschaftliche und symbolische Ordnung für mögliche Alternativen; vgl. auch Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus: Das Imaginäre der Praxis. Einsatzstellen für eine kritische Praxistheorie am Beispiel von Gegenwartsdiagnosen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44, 2019 (i. E.). 11 | Vgl. u.a. Boschert, Bernhard/Gebauer, Gunter (Hg.): Texte und Spiele. Sprachspiele des Sports, St. Augustin 1996. 12 | Barthes, Roland: Was ist Sport?, Berlin 2005, S. 35. 13 | Gebauer, Gunter: Die Masken und das Glück, in: Ders. (Hg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport, Berlin 1988, S. 125-143, hier S. 140. 14 | In eine ähnliche Richtung weist das sportsemiotische Argument, Sport sei zwar eine symbolische Praxis mit Darstellungsfunktion, seine Bewegungen und Gesten bildeten jedoch keine eigene Sprache, so dass Sport nur in sprachlichen und medialen Verweisungszusam-

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sind zugleich materielle und symbolische Gebilde, die eine Vielzahl unterschiedlicher, mitunter auch gegensätzlicher (nationaler, regionaler, [sub-]kultureller) Interpretationen zulassen: Alle beziehen sich auf dieselben Phänomene, meinen damit aber nicht unbedingt dasselbe. In diesem Sinne ließen sich die Ereignisse des Sports als besondere intermediale »Praktik/Diskurs-Formationen«15 untersuchen, in denen das beobachtbare verkörperte Geschehen in verschiedenen Zeiträumen für verschiedene soziale Gruppen auf eine je eigene Weise bedeutsam wird. Zudem – die dritte Ebene – wird die Zuschreibung von Bedeutung auf die Praktiken des Sports, ihre Herstellung als bedeutsame soziale Vollzüge, durch die Handlungs- und »teleoaffektiven«,16 nämlich Motive und Affekte orientierenden, Strukturen der sportlichen Praktiken selbst präfiguriert, etwa durch die Handlungsmuster des Wettkampfes und der Kooperation oder das Motiv der Überbietung, die es beispielsweise erlauben, sportliche Wettkämpfe (massenmedial) wahlweise als Duelle zwischen Giganten, Modelle eines fairen Wettstreits unter Gleichen oder die Verwirklichung der Utopie grenzenlosen Fortschritts zu inszenieren. Das heißt, um bei einem Publikum Anklang zu finden und es zu affizieren, müssen die (symbolischen, diskursiven, massenmedialen) Deutungen des Sportgeschehens sowohl an dessen »objektive« Strukturen anschließen als auch in bereits geschichtlich-gesellschaftlich gegebene Sinngebungsformen und Bedeutungsnetze sich einschreiben, in denen eine Gesellschaft ihrem Imaginären Ausdruck verschafft, sich auslegt und strukturiert, was für wahrscheinlich, möglich oder authentisch gehalten werden kann.

2. D as historische I maginäre des S ports in seiner E ntstehungszeit : V erfallsszenarien und  G esundungsversprechen Historisch verweist die Erfindung, Popularisierung und schließlich globale Verbreitung des modernen Sports auf eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft als in vielfältiger Hinsicht krisenhaft. Mit »moderner Sport« ist in diesem Zusammenhang das historisch neuartige Modell einer auf Konkurrenz, den Vergleich quantifizier- und somit messbarer Leistungen, Individualisierung, Rationalisierung und Überbietung angelegten Körperpraktik gemeint, das sich im 19. Jahrhundert in Europa zunächst in Abgrenzung von älteren Bewegungs- und Spielkulturen wie der schwedischen Funktionsgymnastik, dem deutschen Turnen und der englischen Spielbewegung etablierte, um diese früheren kulturellen Formen menhänge Bedeutung erlangen könne (vgl. Gebauer, Gunter: Sports [Sports], in: Posner, Roland/Robering, Klaus/Sebeok, Thomas A. [Hg.]: Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur/A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture, 4 Bde., Berlin/New York 2004, Bd. 4, S. 3381-3390). 15 | Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188-209, hier S. 201. 16 | Schatzki, Theodore W.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002, S. 135.

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der Körperertüchtigung und des »Körperspiels« allmählich in sich aufzunehmen, nach seinem Muster umzugestalten und auf diese Weise weltweit hegemonial zu werden.17 Sprachlich fand dieses Hegemonialwerden seinen Ausdruck darin, dass »Sport« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem Sammelbegriff für alle möglichen Arten von »Leibesübungen« avancierte und schließlich ahistorisch sogar vollkommen andere historische Formen der Bewegungs- und Wettkampfkultur wie die Agone der griechischen Antike einschloss. Seinen festlichen und bis heute – aller Beschädigungen zum Trotz – weltweit wohl populärsten Ausdruck fand dieses Modell in den modernen Olympischen Spielen, die 1896 erstmals in Athen ausgetragen wurden. Coubertins, selbst gesellschaftlich vermitteltes und diskursiv gerahmtes, Sprechen über den Sport eignet sich deshalb besonders gut dazu, jenes geschichtlich-gesellschaftliche Imaginäre aufzuschließen, in dessen Horizont der moderne Sport sich ausformte, um umgekehrt seinerseits zu dessen Ausformung und Perpetuierung beizutragen. Der vielstimmige historische Resonanzboden für Coubertins Auslegungen des Sports waren gesellschaftliche Verfallserfahrungen und Niedergangsszenarien im Fin de Siècle, die sich explizit etwa auch in der zeitgenössischen Soziologie Auguste Comtes und Emile Durkheims artikulierten. So sah Coubertin nicht nur sein Heimatland Frankreich, sondern letztlich die gesamte moderne Zivilisation in einem gewaltigen Strudel sozialer, moralischer, politischer und biologischer Erschütterungen und Fehlentwicklungen untergehen: a) In der sozial-moralischen Dimension beklagte Coubertin – in Resonanz mit der zeitgenössischen soziologischen Gegenwartsdiagnostik – eine fortschreitende Desintegration, Orientierungslosigkeit und Anomie der bzw. in der modernen Gesellschaft: ihren Zerfall in disparate Berufsgruppen und soziale Klassen; den Verlust sicherer Grundlagen des Handelns und Entscheidens, so dass niemand mehr wisse, woran er sich halten könne und solle, und folglich vor der Herausforderung stünde, sich selbst zu helfen – freigesetzt aus traditionalen Bindungen, ohne eindeutige Normvorgaben und die Gewissheit, was die Zukunft bringen werde. Als eine untergründige Triebkraft dieser krisenhaften Entwicklung identifizierte Coubertin vor allem die »Beschleunigung« des modernen gesellschaftlichen Lebens, die dazu führe, dass schon morgen keine Gültigkeit mehr besitze, was heute noch gelte.18 b) In politischer Hinsicht deutete Coubertin insbesondere die zahlreichen Revolutionen und Regierungswechsel, welche die Geschichte Frankreichs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kennzeichneten, als sicht- und fühlbare Symptome einer grundlegenden Instabilität und Unordnung des Staatswesens. Diese Instabilität fand ihren Ausdruck aus Sicht Coubertins beispielsweise darin, dass auf »Geldstücken« in rascher Folge die »Bildnisse« der jeweils politisch Herrschenden aus17 | Gegen die These von Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert, München 2012, S. 10-12, Sport sei eine anthropologische Konstante, die in verschiedenen Zeiten und Kulturen nur eine unterschiedliche Ausprägung erfahre, wird Sport hier also im Einklang mit zahlreichen, von Behringer kritisierten, (sport-) soziologischen und (sport-)historischen Studien weiterhin als ein aus bestimmten Institutionen, Diskursen und Praktiken gebildetes »Dispositiv« (Foucault) der modernen Gesellschaft begriffen. 18 | Für Belege s. T. Alkemeyer: Die Wiederbegründung der Olympischen Spiele.

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gewechselt werden mussten: »Betonte dies nicht ganz besonders unsere ständige Zerrüttung und lächerliche Unsicherheit?«19 c) Schließlich interpretierte Coubertin diese klassischen Motive kulturkritischer Krisendiagnostik im Horizont eines medizinisch-biologischen Deutungsrahmens, der gerade in Frankreich und in Deutschland die Wahrnehmung der Gesellschaft und ihrer Veränderungen tief prägte. Im Zusammenhang dieser Biologisierung des Sozialen erhielten als relevant selektierte und markierte gesellschaftliche Phänomene die Bedeutung und das Gewicht von Krankheitssymptomen – ich komme darauf zurück. Coubertins Entwurf eines zeitgemäßen, nämlich der Probleme und Herausforderungen der gesellschaftlichen Gegenwart adäquaten Modells Olympischer Spiele hatte im Kontext dieser biologisch-medizinisch eingefärbten Gegenwartsdiagnostik eine doppelte Funktion: Zum einen sollten die Olympischen Spiele ein populäres Werbemittel für das bio-politische Konzept einer revitalisierenden, zu neuer Kraft und Stärke (zurück-)führenden Sportpädagogik des Alltags sein (i). Zum anderen verstand Coubertin die Olympischen Spiele selbst als ein besonderes sozialpädagogisches und sozialpolitisches Instrument, das der krisengeschüttelten modernen Gesellschaft erneut Orientierung, Halt und Gewissheit vermitteln sollte (ii). Ad i) Eine genealogische Rekonstruktion des modernen Olympismus ergibt eine Vielzahl heterogener Herkünfte und Einflüsse, aus denen sich Coubertins Entwurf eklektizistisch speiste: das klassizistische Imaginäre einer natürlichen, gesunden und edlen Antike; Richard Wagners Bayreuth; die großen Weltausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in denen sich der moderne, zunehmend technisierte Industrialismus selbst feierte, um nur einige zu nennen. Unmittelbare Inspiratoren waren vor allem die Weltausstellungen: In kunstvoll gestalteten Schauräumen und Erlebniswelten wurden hier Produkte zeitgenössisch avancierter Ingenieurs- und Maschinenbaukunst – Glühbirnen, Telefone, Fahrstühle, Maschinengewehre, Rotationspressen, Mähmaschinen u.v.m. – auf altarähnlichen Podesten ausgestellt. Maschinen erhielten so klangvoll-pathetische Namen wie »Die Unbesiegbare«, »Die Wunderbare« oder »Die Favoritin«, wurden mit aus der Geschichte geborgtem Dekor verziert, kunstvoll ausgeleuchtet und derart zu quasi-religiösen Kultobjekten erhöht, denen sich »das feierlich gestimmte Publikum [näherte], als gelte es, einem sakralen Ritus beizuwohnen«.20 Coubertin ersetzte die in den Weltausstellungen zelebrierten »Wunderwerke« moderner Technik letztlich durch die Körper der – dem olympischen Anspruch nach – weltbesten Athleten: Seine Olympischen Spiele sollten eine vom profanen Alltagsleben sich abhebende, geheiligte Bühne bilden, auf der sich die Konkurrenzkämpfe des Marktes in der idealisierten Form eines fairen, meritokratischen und somit gerechten Wettkampfes verkörpern und sich eine internationale »mitreißende Elite der Energie«21 als Vorbild für ein zukünftiges Menschengeschlecht präsentieren konnte. Im Zielein19 | Coubertin, Pierre de: 21 Jahre Sportkampagne (1887-1908), Ratingen/Kastellaun/ Düsseldorf 1974, S. 11. 20 | Schön, Wolf: Der Triumph des Industriezeitalters, in: Schultz, Uwe (Hg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 328-340, hier S. 335. 21 | Coubertin, Pierre de: Der Olympische Gedanke. Reden und Aufsätze, Schorndorf 1966, S. 137 (Äußerung von 1929).

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lauf und bei der Siegerehrung wird die meritokratische Ordnung des sportlichen Wettkampfes unmittelbar sinnfällig: Ein jeder nimmt hier sichtbar den Platz ein, den er sich aufgrund seiner im Wettkampf mit den anderen erbrachten Eigenleistung erarbeitet hat. Anders als auf dem kapitalistischen Markt scheint diese antagonistische Leistung im Sport zugleich abgekoppelt von profanem Gewinnstreben um ihrer selbst willen erbracht zu werden: Sie erlangt den kunstreligiösen Status einer »l’art pour l’art des Leibes«.22 Ad ii) Als ein dem profanen, von kommerziellen Interessen beherrschten Marktgeschehen künstlich enthobener und in diesem Sinne heiliger Bezirk sollten die Olympischen Spiele gleichzeitig ein sozialer Raum sein, in dem die verloren geglaubten affektiv-emotionalen Bindekräfte des Religiösen nicht nur beschworen, sondern auch tatsächlich wiedererweckt werden könnten, um die zerspaltene moderne Gesellschaft zumindest vorübergehend zu einer erfahrbaren, alle Spaltungen, Gräben und Konflikte überwindendenden Gemeinschaft zusammenzuführen: Das olympische Stadion als Ort einer emotionalen und spirituellen Einmütigkeit von Gesellschaftsmitgliedern, die sich unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihren Berufen, ihrem Alter, eventuell auch ihrem Geschlecht, zeitweilig zu einer Communitas zusammenfinden, indem sie sich in einem gemeinsamen geschichtlich-gesellschaftlichen Imaginären wiedererkennen, das in den sportlichen Wettkämpfen sinnlich fassbare Gestalt gewinnt – in den Handlungsmustern der Kooperation und der Konkurrenz, in der meritokratischen Ordnung von Siegern und Verlierern, in Körpern, die – statt schicksalhaft gegeben zu sein – durch eigene Anstrengung, durch Üben und Trainieren, vermeintlich grenzenlos sich verbessern lassen, in Akteuren, die ihre Identität und ihren Subjektstatus als ein einzigartiges Individuum in der Konkurrenz mit anderen erlangen. Sowohl in ihrer alltäglichen als auch in ihrer überhöhten olympischen Form realisieren die verkörperten Vollzüge des Sports in den Deutungen Coubertins den Vorgriff auf eine bessere, eine gesündere, gerechtere, den Egoismus der Gegenwart hinter sich lassende, mithin re-integrierte und erneut von Gemeinschaftssinn getragene Zukunft, eine Zukunft, die sich ihrerseits aus dem Imaginären einer idealisierten antiken Vergangenheit speist. In ihrer Gegenweltlichkeit ist diese im Sport vorweggenommene Zukunft kein von der Gegenwart abgelöstes Hirngespinst, sie ist kein Produkt einer überhitzen Einbildungskraft, sondern eine Idealisierung von Strukturen, Ideen und Leitbildern, die in der – stets symbolisch vermittelten – Realität der modernen Gesellschaft angelegt sind:23 Aufgeführt und verkörpert werden uneingelöste Versprechen sowie (politische, moralische, technologische) Ideale der modernen, bürgerlichen Gesellschaft, die im Fin de Siècle in eine normative Krise geraten war. Aus der Sicht kulturkritischer Kreise gerade aus Frankreich und Deutschland, deren Vielstimmigkeit, Stimmungen und Einstellungen Coubertin aufsammelte, artikulierte und verdichtete, hatte diese Gesellschaft 22 | P. Bourdieu: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, S. 95. 23 | In Übereinstimmung mit Émile Durkheim erkannte auch Coubertin, dass nur solche religiösen Ideen wirkmächtig werden können, die in Ritualen und Symbolen greifbar werden und an die Lebenswirklichkeit und Alltagserfahrungen anknüpft (vgl. ausführlich Alkemeyer, Thomas: Körper, Kult und Politik. Von der »Muskelreligion« Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 163-173).

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iher eigenen Ziele und Ansprüche grundlegend verfehlt. Die Aufführungen des olympischen Sports lassen sich unter diesem Blickwinkel als ein Medium sowohl der Selbstverständigung der modernen Gesellschaft über ihre eigenen Ansprüche, über ihr eigenes (politisches, moralisches, technologisches) Imaginäres, als auch der performativen Erneuerung und Wiedereinsetzung ihrer maßgebenden Leitwerte begreifen. Sie sind Mittler einer praktischen internen Gesellschaftskritik,24 die der als mangelhaft identifizierten gesellschaftlichen Gegenwart mit der mimetischen Inszenierung einer Eigenwelt begegnet, indem sie Ideale und Normen, die in jener als nicht (mehr) eingelöstes Versprechen bereits enthalten sind, als Vorgriff auf eine (wieder) bessere Zukunft sinnfällig verwirklicht: In den Eigenwelten des modernen olympischen Sports schienen diese Ideale und Normen im Kontrast zur »fehlentwickelten« Welt »draußen« realisiert und bestätigt zu werden.

3. D as G egenwartsdiagnostische der S portdiskurse  C oubertins Was nun rechtfertigt es, eine derartige interne praktische Gesellschaftskritik als eine Gegenwartsdiagnose zu bezeichnen? Im Sinne der Einleitung zu diesem Band begreifen wir als Gegenwartsdiagnosen solche Deutungen des Sozialen, die aus der Identifikation gegenwärtig sich zeigender »Fehlentwicklungen« und »Entwicklungspotenziale« den Druck oder Zwang zu einem intervenierenden Handeln ableiten, das die identifizierten »Abweichungen« von einer unterstellten Normalität durch geeignete Maßnahmen korrigiert bzw. entfaltet und nutzt. Wie gesehen, ist der moderne Sport aus einem vielstimmigen Resonanzraum historischer Krisendiagnosen hervorgegangen und gleichzeitig ein ästhetisch-symbolisches Medium der Artikulation und Verbreitung dieser Diagnosen. Seine bildhaften Figurationen bewegter Körper bilden keine eigene Sprache, sondern sind Projektionsfläche für mannigfaltige Bedeutungen, die ihnen im Wechselspiel mit anderen symbolischen Darstellungen, Praktiken und Diskursen zugeschrieben werden. In den so entstehenden Bedeutungsnetzen wirken sie als populäre Mittler fiktiver Bilder des Sozialen, von Phantasien, Hoffnungen und Versprechen, die nicht nur etwas abbilden oder ausdrücken, sondern auch selbst an der Verhandlung und Definition dessen, was eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, mitwirken und so strukturierend ins gesellschaftliche Imaginäre eingreifen.25 Wie ich oben bereits angedeutet und an anderer Stelle materialgesättigt ausgeführt habe,26 bildeten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts biologisch-medizinische Modelle und Diskurse kultureller Krisenhaftigkeit einen wirkmächtigen 24 | Nach Jaeggi, Rahel: Kritik der Lebensformen, Berlin 2014, S. 257-276, bezieht interne Kritik ihr Potenzial und ihre Kraft aus der Differenz zwischen einem bereits vorhandenen normativen Selbstverständnis (»Anspruch«) und dessen unzureichender Realisierung (»Wirklichkeit«). 25 | Zu den die Gegenwart und Zukunftserwartungen formatierenden Wirkungen von Fiktionen vgl. auch Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M. 2014. 26 | T. Alkemeyer: Körper, Kult und Politik, S. 57-62. Vgl. auch Nye, Robert A.: Degeneration, Neurasthenia and the Culture of Sport in Belle Epoque France, in: Journal of Contemporary History 17, 1982, S. 51-68.

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Resonanzraum für die Deutung und Wahrnehmung sportlicher Praktiken: Binnen kurzer Zeit verwob sich Auguste Morels 1857 erstveröffentlichte, einflussreiche Abhandlung über die physische, intellektuelle und moralische »Degeneration« der menschlichen Spezies27 mit dem zeitgenössischen Sozialdarwinismus, der Darwins Lehrsatz eines »survival of the fittest« im »struggle for existence« in eine »Biologie des Bürgerlichen«28 übersetzt hatte. Darin spiegelte sich der soziale Konkurrenzkampf um das ökonomische Überleben in der Natur, um das verrückte Spiegelbild sodann wieder rückzuübertragen in die Geschichte – so die kapitalistischen Konkurrenzkämpfe »als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft«29 naturalisierend. Zu dieser ideologischen Gemengelage gehörte ferner die Übertragung der um die Jahrhundertwende wiederentdeckten Vererbungslehre Gregor Mendels auf den Menschen, welche die Obsession einer Akkumulation »schlechter« Gene vor allem in den kinderreichen »unteren« sozialen Klassen beförderte. Insgesamt markierte und motivierte dieses Geflecht biologistischer Diskurse einen »politische[n] Paradigmenwechsel vom Sozialen zum Biologischen hin«:30 Es avancierte zu einem politischen Deutungsmuster mit Weltbildfunktion. Im Wirkungsbereich dieses historischen Imaginären erhielten soziale Prozesse und Phänomene, die – wie die Industrialisierung, kapitalistische Ausbeutung, katastrophale Wohnverhältnisse in den städtischen Ballungsräumen, hohe Selbstmordrate, Neurasthenie, Alkoholismus u.v.m. – bereits in der zeitgenössischen Soziologie, etwa von Marx, Comte oder Durkheim, als wesentliche Erscheinungen eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandels identifiziert worden waren, das Gewicht von Degenerationssymptomen: Sie wurden als Zeichen und Folge einer umfassenden Degeneration der »natürlichen« menschlichen Anlagen interpretiert.31 Bedingungen und Ursachen als gesellschaftlich relevant identifizierter Probleme wurden so in die Natur des Menschen bzw. bestimmter Menschengruppen verlagert. 27 | Morel, Auguste: Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces varitétés maladives, Paris 1857. 28 | Haug, Wolfgang Fritz: Das historische Syphilis-Paradigma und die Gefahr eines analogen AIDS-Paradigmas der Moral – Vorschläge zur sozial-moralischen AIDS-Folgenabschätzung, in: Deutscher Bundestag: Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung. AIDS: Fakten und Konsequenzen. Endbericht der Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages »Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung«, Bonn 1990, S. 7889, hier S. 84. 29 | Friedrich Engels an Pjotr Lawrowitsch Lawrow, 12.-17.11.1875, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 34, Berlin 1966, S. 169-172, hier S. 170; vgl. auch Haug, Wolfgang Fritz: Entfremdete Handlungsfähigkeit. Fitneß und Selbstpsychiatrisierung im Spannungsverhältnis von Produktions- und Lebensweise, in: Ders./Pfefferer-Wolf, Hans (Hg.): Fremde Nähe. Festschrift für Erich Wulff, Hamburg, S. 127-145, hier S. 129; Etzemüller, Thomas: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Bielefeld 2015. 30 | Reichel, Edward: Nationalismus-Hedonismus-Faschismus. Der Mythos Jugend in der französischen Politik und Literatur von 1890-1945, in: Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter/ Trommler, Frank (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit.« Der Mythos Jugend, Frankfurt a.M. 1985, S. 150-173, hier S. 152. 31 | Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 17f.

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Zeitgenössische Diskurse über den Sport, darunter prominent die Texte Coubertins, spielten explizit wie implizit auf der Klaviatur dieses biologistisch-medizinischen Imaginären der modernen Gesellschaft. So zählte Coubertin unter anderem den Alkoholismus, die Tuberkulose, eine zu Passivität verurteilende »gekünstelte Mentalität« und »krankhafte« Grübelei, Resignation und Verweichlichung von Körper und »Charakter«, Neurasthenie und Nervosität, die »Überschwemmung« einer kleinen »Elite« durch die »Flut« der proletarischen »Massen« oder auch das »Frauenrechtlertum«, das wie eine Naturkatastrophe die »natürliche« Ordnung der Gesellschaft bedrohe, zu den »Pathologien« der Moderne.32 Solche Pathologisierung der gesellschaftlichen Gegenwart, die Deutung der gesellschaftlichen Krise als eine Erkrankung des »Körpers« der modernen Gesellschaft, motivierte umgekehrt die sozialtechnologische Fantasie und Denkmöglichkeit, »heilend« in den Gang der Dinge eingreifen und ein Programm zur Therapie der Gesellschaft entwerfen zu können: Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA ersonnenen und teilweise umgesetzten Pläne einer »negativen« (z.B. Aussonderung der »Kranken« und »Schwachen« aus dem biologischen Reproduktionsprozess durch Zwangssterilisationen u.ä.) und »positiven«, systematisch auf die Kräftigung der menschlichen »Natur« gerichteten Eugenik waren konkrete Ausdrucks- und Vollzugsformen eben dieses Imaginären: Wenn Gesellschaft erkranken kann, dann kann sie durch quasi-medizinische Eingriffe, durch Prävention und der Rehabilitation, auch geschützt oder erneut in einen Zustand der Gesundheit überführt werden. Coubertin schrieb den Sport und dessen Pädagogik in dieses Imaginäre ein: Er rückte den Sport ausdrücklich nicht nur in die Nähe zur Ethik, sondern auch zur Medizin und zur Eugenik und sah in ihm sowohl ein sozial-moralisches Instrument sittlicher Erneuerung als auch ein bio-politisches Instrument der Gesundung des »Körpers der Gesellschaft«: Eine neue sportliche Pädagogik sollte nicht nur zu einer Wiedererstarkung der französischen Nation nach ihrer militärischen Niederlage gegen Deutschland im Krieg von 1870/71 beitragen, sondern auch der ermüdeten und ermatteten modernen Zivilisation insgesamt neues Leben einhauchen und die erlahmten sozialen Bindekräfte revitalisieren. Allerdings konnte sich diese Pädagogik seiner Ansicht nach nicht mehr auf ältere Modelle der Körperpädagogik wie die schwedische Funktionsgymnastik oder das deutsche Turnen stützen. Denn deren Kollektivismus – das kollektive Üben im vorgegebenen Takt – sei angesichts der Allgegenwart sozialer Konkurrenzen in der modernen Gesellschaft gänzlich unzeitgemäß: er hemme die dringenden benötigten individuellen Energien anstatt sie methodisch freizusetzen. Dazu sei nur ein modernes Übungs- und Trainingssystem in der Lage, das die sozialen Konkurrenzen in den direkten körperlichen Auseinandersetzungen des sportlichen Wettkampfes nachahmt: Nur Wettkampfpraktiken – wie man sie vorbildlich an den britischen Public Schools betriebe33 – seien im Stande, wettbewerbstaugliche »Männer« zu formen und dazu zu befähigen, sich in den sozialen Konkurrenzen des modernen Alltags zu behaupten und Führungspositionen in einer der Idee nach meritokratisch verfassten Gesellschaftsordnung zu besetzen. Im Horizont des skizzierten, sozialdarwinistisch imprägnierten biologistischen Imaginären widerspricht ein solcher Individualismus 32 | Vgl. die Belege in T. Alkemeyer: Körper, Kult und Politik, S. 61f. 33 | Vgl. T. Alkemeyer: Körper, Kult und Politik, S. 68-85.

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des starken, im Wettkampf mit gleichwertigen anderen sich zeigenden männlichen Subjekts dem Holismus rückwärtsgewandter Ganzheits- und Gemeinschaftskonzepte nicht. Vielmehr wurden individuelle Energien im Horizont dieses Weltbildes in die organologische Fiktion eines überindividuellen Gesellschaftskörpers integriert. Nur die (nationale) Gemeinschaft könne aufstreben, schrieb Coubertin im Geiste dieses Weltbildes, die »aus guten Tieren zusammengesetzt sei«:34 Die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des kollektiven Körpers der Gesellschaft wird nach den Kräften seiner einzelnen Organe bemessen. Und die – nationalstaatlich konzipierte – Gesellschaft wird als ein verkörpertes Kollektivsubjekt adressiert, das sich in der globalen Konkurrenz um Marktanteile, Einflusssphären und Kolonien genauso zu behaupten habe wie die als Marktsubjekte der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung adressierten männlichen Individuen in ihren national, regional und lokal begrenzten sozialen Konkurrenzen. Kurz: Der hier in Umrissen skizzierte geschichtlich-gesellschaftliche Resonanzraum biologistisch-medizinischer Vorstellungen, Bilder und Diskurse und das in diesem Raum vollzogene Spiel mit Allusionen auf die Nähe des Sports zu Ethik, Medizin und Eugenik bewirkten eine historische Diagnostifizierung der Praktiken des Sports: Sport repräsentierte darin das gesunde, heile und heilige (von heil zu heilig ist es nur ein kleiner Schritt) Gegenbild zu einer als erkrankt, beschädigt und unheilig ausgewiesenen, modernen Gegenwart. Er vergegenwärtigte das – eine angeblich intakte Vergangenheit wiederherstellende – zukünftige Imaginäre moralischer und physischer Gesundung und hintergründig als eine »absent-present«35 zugleich auch das Imaginäre einer verfallenen Gegenwart, die Attraktion ebenso wie die Repulsion. Es ist wie bei einem Vexierbild, das eine versteckte Botschaft enthält, die nur diejenigen entdecken können, die von ihr wissen,36 bzw. besser, die in ihrer Sozialisation einen »sozialen Sinn«37 für den Subtext und Unterton der manifesten Erscheinungen entwickelt haben: eine sozialisierte Aufmerksamkeit und Sensibilität, die in den Bildern einer vergegenwärtigten besseren Zukunft immer auch das abwesend anwesende Schreckbild einer von Krise und Verfall gekennzeichneten Gegenwart entdeckt. Sportstätten, allen voran das Olympiastadion, avancierten in diesem Kontext zu Orten »einer Gegenwart gewordenen Zukunft,

34 | Coubertin, Pierre de: Textes Choisis, 3 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1986, Bd. 1, S. 390 (Äußerung von 1909). Deckungsgleich hieß es bereits bei dem Evolutionstheoretiker Herbert Spencer: »To be a nation of good animals is the first condition to national property« (zit.n. Haley, Bruce: The Healthy Body and Victorian Culture, Cambridge/London 1978, S. 22). 35 | Vgl. Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid/Beck, Stefan: Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, S. 42. Die Autorinnen beziehen sich mit diesem Begriff auf Studien von John Law und Annemarie Mol. 36 | »Das Versteckte in einem Vexierbild sei deutlich und unsichtbar. Deutlich für den der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war, unsichtbar für den, der gar nicht weiß, dass es etwas zu suchen gibt«, schrieb Franz Kafka in einem Tagebucheintrag von 1911 (zit.n. Blum, Kerstin F. M.: Im Anfang war das Wort. Tom Philipps’ illustrativ-poetische Dante Rezeption. Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 17, Bamberg 2016, S. 323). 37 | Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987.

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aufgeladen mit überschwänglichen Erwartungen«, die auf Niedergangs- und Verfallsängsten beruhten.38

4. D ie M edialität des S ports . E in E xkurs über die möglichen W irkungen verkörperter A ufführungen Bis hierhin standen die geschichtlich-gesellschaftlichen Bedeutungsnetze im Zentrum, in die ein prominenter Protagonist und Propagandist des modernen Sports, Pierre de Coubertin, die Praktiken des Sports einschrieb. In diesem Abschnitt soll nun zumindest kursorisch auf die Wirkungen eingegangen werden, die sich einstellen können, wenn Bedeutungen in jenen Medien der Körperlichkeit vermittelt werden, in denen sich die sportliche Praxis wesentlich vollzieht – in Bewegungen und Gesten.39 Medientheoretisch betrachtet sind Medien keine neutralen Boten oder Speicher für von ihnen unabhängige Sinngehalte, sondern an der Reglementierung und Bestimmung dessen, was ausgedrückt wird, beteiligt: Bedeutung ist an die Beschaffenheit des Mediums gebunden, in dem sie artikuliert und verbreitet wird. Kein Sein existiert danach unabhängig von seinem spezifischen Erscheinen, vom Medium seiner Realisation, von seinem materiellen sinnlichen Ausdruck. Somit ist auch der Wirklichkeitsstatus, den eine Idee oder Vorstellung für sich beanspruchen kann, konstitutiv durch die sinnlich-materiellen Eigenschaften des Mediums bedingt, in dem sie ausgedrückt wird und allererst eine greif bare Gestalt erlangt.40 Bedeutungen, die – wie im Sport – lebendig verkörpert werden, können eine besondere Präsenz gewinnen,41 eine mitreißende affektive Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Und zwar deshalb, weil Verkörperungen nicht nur die Aktiven, sondern auch das Publikum unmittelbar berühren und direkt »angehen« können, indem sie die Erfahrungen und das körperliche (Selbst-)Erleben ohne »Umweg« über das reflektierende Bewusstsein ins Spiel bringen. Zwar wird, beispielsweise von Integrationsbeauftragten, Sportfunktionären und Sportwissenschaftlerinnen, gern behauptet, die in Sport, Tanz, Spiel oder Sport primär körperlich vollzogene Kommunikation sei nicht nur leicht verständlich und damit »niedrigschwellig«,

38 | Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 9-14, hier S. 13. 39 | Für eine umfassendere Reflexion auf diese Frage vgl. u.a. Gugutzer, Robert: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012; Alkemeyer, Thomas: Verkörperte Soziologie – Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis, in: Soziologische Revue 38, 2015, S. 470-502. 40 | Vgl. u.a. Mcluhan, Marshall: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf/Wien 1968; Seel, Martin: Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien, in: Merkur 47, 1993, H. 534, S. 770-783. 41 | Vgl. z.B. Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, Berlin 2012. Allerdings muss man Präsenz nicht unbedingt gegen Mimesis ausspielen, wie Gumbrecht es tut, sondern kann sich auch dafür interessieren, wie »Bedeutung im Vollzug« hergestellt wird (vgl. Schürmann, Volker: Bedeutung im Vollzug. Zum spezifischen Gewicht der Praxisphilosophie, in: Sport und Gesellschaft 11, 2014, S. 212-231).

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sondern auch eine universale, alle Menschen integrierende »Sprache«.42 In einer (körper-)soziologisch reflektierten Perspektive stellt sich die Unmittelbarkeit einer Kommunikation »von Körper zu Körper« jedoch nicht als ein natürlicher, sondern als ein sozialer, geschichtlich-gesellschaftlich vermittelter Sachverhalt dar.43 Man »versteht« nur solche Verkörperungen und wird nur von solchen Verkörperungen »angesteckt«, für die man sozialisationsbedingt disponiert ist, für die man im Laufe des Lebens eine Empfänglichkeit und einen sozialen Sinn entwickelt hat. Andernfalls lassen sie einen »kalt« und das unmittelbare Verstehen und Mitgehen – die Resonanz – bleiben aus.44 Diese geschichtlich-gesellschaftliche Vermitteltheit der Unmittelbarkeit des Berührens und Verstehens mit dem Körper entzieht sich allerdings dem Bewusstsein der Menschen; sie wirkt in ihrem Rücken. Auch deshalb haben Praktiken, die, wie diejenigen des Sports, vorwiegend ohne Worte in den Medien der Körperlichkeit vollzogen werden, eine heimliche Tendenz zur Naturalisierung dessen, was sie bedeuten. Zumindest gilt dies dann, wenn im menschlichen Körper – wie es in der neuzeitlich-modernen Gesellschaft Tradition hat – die Naturseite des Menschen im Kontrast zu seiner kulturellen, geistigen Existenz gesehen wird: Am Körper sich zeigende und als relevant markierte Differenzen (zwischen Männern und Frauen, Normalen und Anormalen, Einheimischen und Zugewanderten, Gesunden und Kranken usw.) werden dann spontan als Ausdruck natürlich-biologischer Unterschiede wahrgenommen – und damit ihrer geschichtlichen-gesellschaftlichen Kontingenz entkleidet.45 An diese, hier nur angerissenen, Überlegungen zu den möglichen Wirkungen von Bedeutungen, die in den Medien der Körperlichkeit vollzogen und vermittelt werden, lässt sich in Bezug auf die im vorliegenden Beitrag entfaltete Thematik nun die folgende Mutmaßung anschließen: Nehmen wir einmal an, die von Coubertin hergestellten semantischen Verbindungen zwischen den Praktiken des modernen Sports und den zeitgenössischen biologisch-medizinischen Deutungen einer Krise der Moderne gehörten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum kollektiven Imaginären relevanter Bevölkerungskreise in Europa.46 Dies hieße, dass sonst allenfalls diffuse Erfahrungen, Besorgnisse und Ängste sowie komplementäre Utopien, Gesundungshoffnungen und Heilsversprechen in den Körpern und Körper-Praktiken der Athleten nicht nur eine greif bare Gestalt erlangen, sondern 42 | »Sport spricht alle Sprachen«, lautet entsprechend ein im deutschsprachigen Raum notorisches Motto. 43 | Helmuth Plessner spricht so von »vermittelter Unmittelbarkeit« (Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt a.M. 1975 [urspr. 1929], S. 321f.). 44 | Vgl. Alkemeyer, Thomas: Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel, in: Gugutzer, Robert (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 265-296. 45 | Vgl. z.B. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005. 46 | Für diese Annahme spricht einiges, wie etwa auch die Darlegungen Philipp Sarasins über die Instituierung des Athleten als Idealsubjekt der Leistungsfähigkeit, Produktivität, Hygiene und Gesundung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland zeigen (vgl. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914, Frankfurt a.M. 2001, S. 324-336).

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auch eine eigene Prägnanz und Dramatik entfalten konnten, sofern jene Verkörperungen die Wahrnehmung abstrakter gesellschaftlicher Prozesse mit dem konkreten Erleben des eigenen Körpers verschalteten, auf diese Weise beispielsweise individuelle Ängste vor Erkrankung mobilisierten und folglich Handlungsdruck erzeugten. Die bildhaften Verkörperungen des Sports wären dann ihrerseits als wirkende Kräfte in einem diskursiv formatierten bio-politischen Imaginären zu betrachten, in dessen Horizont Gesellschaft als ein kollektiver Körper wahrgenommen wurde, der erkranken und mithin durch das Ergreifen adäquater Maßnahmen auch wieder gesunden könne: Sie wären eine Popularisierungsform neben anderen (Literatur, Fotografie usw.), in der bio-politische Schemata der Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit geprägt und verbreitet wurden. Und sie präsentierten die bereits im Hier und Heute real-imaginär vorweggenommene Gesundung als Antwort auf eine unterstellte Erkrankung der Gesellschaft.

5. U nd heute ? Eine Praxis ist nicht ausschließlich aus dem heraus verständlich und erklärbar, was einem teilnehmenden Beobachter in der konkreten Situation ihres Vollzugs empirisch zugänglich ist.47 So erlangen auch die verkörperten Praktiken und Aufführungen des Sports ihre konkrete Bedeutung erst in intertextuellen und intermedialen Verweisungszusammenhängen. Insofern ist ein ethnografisches oder praxeografisches Erforschen situierter Praktiken darauf angewiesen, sich stets auch den Bedeutungsnetzen zuzuwenden, in die diese Praktiken eingewoben werden und in denen ein unscharfes kollektives Imaginäres eine mehr oder minder deutliche Gestalt annimmt. Zur Analyse solcher Sinnstiftung in transsituativen Verweisungszusammenhängen eignen sich unter anderem Verfahren der Semiotik und der Diskursanalyse. Dabei bleiben die diskursive und die performative Ebene der Praxis einander nicht äußerlich, sondern verschränken sich so miteinander, dass die diskursiv vermittelten Bedeutungen unmittelbar in der Praxis sich vollziehen, also für konkrete historische Personengruppen in vermittelter Unmittelbarkeit in der Praxis gegeben sind. Vermittelt über bedeutungsstiftende Verweisungszusammenhänge sind in die Aufführungen des modernen Sports von Beginn an Zukunftsentwürfe eingelassen, die ihrerseits historischen Veränderungen unterliegen: die Vision einer besseren, gesünderen und gerechteren Zukunft; die Utopie fortschreitender Überbietung und Leistungssteigerung; das Bild eines Körpers, der sich disziplinieren, gestalten und grenzenlos verbessern lässt usw. An der Materialisierung und Realisierung dieses Bildes wird im Spitzensport bis heute in sportwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und Trainingsstätten auf der Grundlage (natur-)wissenschaftlicher Forschung mit den Mitteln immer neuer Technologien der Leistungsdiagnostik, der Bewegungsanalyse und der Trainingsgestaltung gearbeitet. Insofern lassen sich die Räume des Spitzensports durchaus als Laboratorien zukunftsversessener Anthropotechniken begreifen,48 in denen »durch Berechnung 47 | Vgl. auch J. Niewöhner/E. Sørensen/S. Beck: Science and Technology Studies, S. 41. 48 | Vgl. u.a. Bockrath, Franz (Hg.): Anthropotechniken im Sport. Lebenssteigerung durch Selbstoptimierung? Bielefeld 2011; Alkemeyer, Thomas: Sport als Experimentierfeld der

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und rationales Handeln«49 eine leistungsoptimierte Welt angestrebt wird. Seit langem hat das gesellschaftliche Imaginäre der technologischen Beherrschung, Gestaltung und Optimierung menschlicher Kräfte zudem den sogenannten Breiten-, Gesundheits- und Fitnesssport erreicht. Es realisiert sich überall dort, wo Sport instrumentell genutzt wird, um die Gesundheit zu bewahren oder wiederherzustellen, als defizitär adressierte und wahrgenommene körperliche Phänomene zu korrigieren, sich zu schützen und resilient zu machen oder sich einen Wunschkörper zu schaffen. Dabei haben sich die strukturellen und ideellen Formungsangebote, -aufforderungen und -zwänge, die Individuen im Medium vielfältiger Körpertechniken reflexiver Selbstzuwendung (Fitnesssport, kosmetisches oder chirurgisches Körperstyling, Diät u.v.m.) beantworten, seit dem 19. Jahrhundert deutlich gewandelt. Unter der Definitions- und Deutungsmacht einer wirkmächtigen neo-liberalen oder, wohl treffender, neo-sozialen Utopie50 scheint die Gefährdung der Gesellschaft vor allem aus einer Aggregation individueller Verantwortungslosigkeit gegenüber »der Gesellschaft« zu resultieren – durch falschen Konsum, schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und ähnliche mehr. Jeder/jede Einzelne wird in die Verantwortung genommen. Nur wer sich und seinem Leben im physischen »Material der eigenen Existenz«51 eine im Rahmen dieser Utopie akzeptable Form gibt, zeigt sich als ein vernünftiges, verantwortungsbewusstes, anerkennungswürdiges Subjekt. Die entscheidenden politischen Steuerungsformeln und Anrufungen des aktivierenden Sozialstaats der Gegenwart sind Überzeugung, Freiheit und Selbstbestimmung; sie sollen das Regiment einer staatlichen Verordnung »von oben« so weit wie möglich ersetzen. Die empirische Befähigung dazu, in einer gesellschaftlich akzeptablen Weise über die Instrumentalität und Expressivität des eigenen Körpers zu verfügen, avanciert zu einer entscheidenden Bedingung der Anerkennung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im Ergebnis verschränken sich ko-produktiv das normative Gesellschaftsideal der Wohlfahrt einer »gesellschaftlichen Gemeinschaft«, die institutionellen Umsetzungen dieses Ideals in sozialpolitischen Interventionen und Maßnahmen sowie die geschichtlich-gesellschaftlich bedingten Wünsche der Individuen nach Anerkennung, Teil-

Moderne, in: Böschen, Stefan/Groß, Matthias/Krohn, Wolfgang (Hg.): Experimentelle Gesellschaft. Das Experiment als wissensgesellschaftliches Dispositiv, Berlin 2017, S. 239253. 49 | Beckert, Jens: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018, S. 45. Beckert bezieht sich dabei auf Pierre Bourdieus Überlegungen zur kapitalistischen Zukunft als dem »imaginären Fluchtpunkt« rationalen Handelns (Bourdieu, Pierre: Die zwei Gesichter der Arbeit: Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000, S. 31-34). 50 | Lessenich, Stephan: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008. 51 | Müller, Michael R./Soeffner, Hans-Georg/Sonnenmoser, Anne: Körper, Gesellschaft, Person. Zur Einleitung, in: Dies. (Hg.): Körper Haben. Die symbolische Formung der Person, Weilerswist 2011, S. 7-19, hier S. 12.

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habe und Unverwechselbarkeit,52 die sich in »reflexiven Körpertechniken«53 artikulieren und realisieren. Dies hat höchst reale Konsequenzen auf die Gliederung der Gesellschaft. Denn je mehr Menschen ihre Befähigung zur Selbstgestaltung am eigenen Körper performieren, desto mehr fallen auf der anderen Seite die Abweichenden aus dem Rahmen und laufen Gefahr, als für das Gemeinwohl gefährliche Subjekte abgestempelt zu werden:54 Den positiven Verkörperungen eines Imaginären der Fitness, Dynamik und Mobilität stehen die abgewerteten »Gegenkörper« der Unproduktivität, Trägheit und Immobilität gegenüber. Diese Gegenüberstellung hat nicht nur eine sozialdistinktive und »klassistische«, gegen die »unteren« sozialen Klassen gerichtete, sondern auch eine temporale Dimension: Ersteren gehört die Zukunft, letztere verweisen als »Abgehängte« auf die Vergangenheit eines anachronistischen »Versorgungsstaats«. Vielleicht am Eindringlichsten wird das Imaginäre einer technologischen Beherrschung, Gestaltung und Optimierung des Menschen derzeit im »Behindertensport«, in den Paralympics und im »Cybersport« verkörpert, in deren Praktiken die Grenzen zwischen Mensch und Technik, zwischen Natur und Kultur gänzlich verschwimmen. Mit dem Einsatz immer neuer (Sport-)Technologien wird gerade in diesen Bereichen zunehmend unklar, was der menschliche Körper ist, was als natürlich und künstlich, als normal oder abweichend zu gelten hat, und wem oder was eine Leistung noch zugeschrieben werden kann: Bildeten schon die Orte des olympischen Wettkampfsports von Beginn an immer auch Experimentierfelder physio- und psychotechnischer Leistungsoptimierung, so lassen sich die heutigen Paralympics und der Cybathlon55 in besonderem Maße als anthropotechnische Versuchsanordnungen beschreiben, die zentrale Fragen zu den historisch wandelbaren Konstellationen von menschlichen Körpern, technischen Artefakten und Technologien, zur Natur des Menschen, zur Bedingtheit menschlicher Handlungs-

52 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 53 | Crossley, Nick: Mapping Reflexive Body Techniques: On Body Modification and Maintenance, in: Body & Society 11, 2005, S. 1-35. 54 | Vgl. S. Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen, S. 123f. 55 | Cybathlon ist eine von der ETH Zürich in zeitlicher Nähe zu den Paralympischen Spielen von 2016 organisierte Veranstaltung, auf der körperlich eingeschränkte Athleten – im Duktus der Veranstalter »Piloten« – in sechs Disziplinen bzw. Parcours »neueste technische Assistenzsysteme« steuerten (vgl. die instruktive Studie von Kappeler, Felix: Cybathletische Körper und Performanzen. Eine repräsentationskritische und ethnografische Lektüre des Cybathlon 2016, Masterarbeit, Universität Oldenburg, 2017). Statt Nationalkadern traten Teams aus 25 Ländern an, die entlang der jeweiligen Assistenzsysteme und ihrer Erfinderinnen – Wissenschaftler und Technikentwicklerinnen – gebildet wurden: Vollständig gelähmte Personen nutzten Brain-Computer-Interface-Systeme, um in einem eigens entwickelten Spiel virtuelle Avatare zu steuern; an den Beinen gelähmte Athletinnen traten mit durch Elektrostimulation bewegten cycling devices gegeneinander an; in unterschiedlichen Parcours sollten mittels unterschiedlich gesteuerter Arm- oder Beinprothesen, Exoskelette oder motorgetriebener Rollstühle verschiedene Aufgaben schnellstmöglich absolviert werden (ebd., S. 7) usw.

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befähigung durch Technik und damit zur Souveränität menschlicher Subjekte thematisieren und aufwerfen.56 Allerdings ist das klassisch-moderne Imaginäre einer technologischen Machund Verbesserbarkeit des menschlichen Körpers wie der Gesellschaft spätestens seit den 1970er Jahren seinerseits in eine Krise geraten. Es erscheint seither als zumindest ambivalent. So hat die gegenwartsdiagnostische Einsicht in die selbstzerstörerischen Folgen einer politisch-ökonomischen Logik des Wachstums, der Überbietung und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen von Mensch und Welt zu einer umfassenden Selbstproblematisierung des modernen Fortschrittsdenkens in diesen Gesellschaften geführt.57 Sie artikuliert sich unter anderem in theoretischen und praktischen Kritiken am Leistungssport, in der Ablehnung der Durchführung sportlicher Großereignisse durch regionale Bevölkerungsmehrheiten oder auch in alternativen Sportmodellen beispielsweise des Natur- und Straßensports von Kletterern, Wanderern, Mountainbikern oder Skateboardern: In überaus widersprüchlicher Weise, z.B. mit technologischen Mitteln in »unberührte« Natur vordringend, werden in diesen alternativen Sportmodellen die Rückgewinnung resonanter, nicht-entfremdeter Mensch-Natur-Verhältnisse58 oder eines durch funktionale Differenzierung, Kommodifizierung und Motorisierung »entfremdeten« städtischen Raumes angestrebt. In diesen Zusammenhang gehören schließlich auch die »retrotopischen«59 Räume eines neuen »Körperhandwerks«, in denen mit sandgefüllten Gießkannen, Autoreifen, Medizinbällen, Seilzügen, hölzernen Klettervorrichtungen und Ähnlichem anti-technologische Bilder der Körperformung vollzogen und aufgeführt werden.60 Im Zusammenhang dieser seiner theoretischen und praktischen Kritik ist der technologische Spitzensport nun seinerseits zu einem gegenwartsdiagnostisch relevanten Symptom geworden, an dem für Modernisierungskritiker die selbstzerstörerischen Tendenzen der modernen, industriekapitalistischen Zivilisation besonders greif bar werden: Er ist in dieser Perspektive nicht länger die utopische Gegenwelt einer theoretischen und praktischen Modernekritik, sondern ganz im Gegenteil ein Ab- oder sogar Vor-Bild der modernen Welt, an dem nun exemplarisch deren Krisenhaftigkeit, Fehlentwicklungen und zerstörerischen Zukunftsentwürfe diagnostiziert werden. Spitzensport wird in dieser Modernekritik mithin auf eine Weise diagnostifiziert, die einen Druck zum Ausstieg aus der Konkurrenz- und Steigerungslogik der Moderne auf baut bzw. auf bauen soll: Die Bilder leistungssportgerecht »zugerichteter«, geschundener, dopingverseuchter Körper von – insbesondere kindlichen oder jugendlichen – Spitzensportlerinnen machen in dieser kritischen Sicht die Selbstzerstörung der modernen technologischen Gesellschaft ebenso evident und erfahrbar wie etwa Illustrationen jener gewaltigen 56 | Vgl. auch Dederich, Markus/Meuser, Svenja: Anthropotechnik und Behinderung, in: F. Bockrath (Hg.): Anthropotechniken im Sport, S. 127-150. 57 | Vgl. z.B. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986. 58 | Vgl. auch Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 421-434. 59 | Bauman, Zygmunt: Retrotopia, Berlin 2017. 60 | Vgl. Alkemeyer, Thomas: Gestalte deinen Körper ehrlich, in: TAZ, 28./29.12.2013, S. 49.

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Eingriffe in die Natur, welche die Durchführung sportlicher Großereignisse erfordern: Wurden im Medium der Verkörperungen des Sports in der Vergangenheit gesellschaftliche Verbesserungshoffnungen mit dem individuellen Körpererleben verschränkt, so werden in diesen kritischen Perspektiven heutzutage im Medium von Hochleistungssportkörpern Bedrohungs- und Zerstörungsszenarien kommuniziert. Die Wahrnehmung und Beurteilung des Leistungssports changiert nun zwischen diesen beiden Polen. In beiden Fällen aber sind die (Körper-)Bilder, die er produziert, ebenso populäre wie suggestive Medien des Vorstellungsvermögens: Sie tragen dazu bei, entweder Utopien des Fortschritts oder aber den Alptraum des Niedergangs der modernen Zivilisation im alltäglichen Imaginären zu verwurzeln.

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Diagnostische Atlanten Fotografie als Medium der Geschlechterkritik in künstlerischpolitischen Fotoprojekten um 1970* Anja Zimmermann

1977 erschien im Berliner Courage Verlag das Buch Frauen und Wissenschaft. Es versammelte Referate, die auf der Berliner Sommeruniversität für Frauen im Juli des vorangegangenen Jahres gehalten worden waren.1 Der selbst formulierte Anspruch war hoch. Es ging um die Wissenschaft und die Frauen und die Forderung danach, »mehr als nur ein Objekt und Subjekt der Wissenschaft« zu sein, denn das Projekt war verbunden mit dem Bekenntnis: »wir wollen [die Wissenschaft] und die Gesellschaft verändern. Radikal«.2 Zum Blick auf die Zukunft gehörte diagnosetypisch auch eine Bestandsaufnahme dessen, was die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft aus Sicht des Feminismus ausmachte und die Auskunft darüber, worauf die in Aussicht gestellte radikale Änderung der Verhältnisse hinauslaufen sollte. Wie sollte die radikal veränderte Wissenschaft und Gesellschaft aussehen? Um diese Frage wenn nicht zu beantworten, so doch zumindest ins Bewusstsein zu heben und diskussionsfähig werden zu lassen, wurden Bilder gebraucht: Visualisierungen, bevorzugt in Form von Schwarz-Weiß Fotografien, die als Garant einer distanzierten und »authentischen« Mitteilung gelten konnten.3 Im Buch zur Berliner Frauensommeruni wurden gleich an den Anfang zwei jeweils halbseitig gegenübergestellte Fotografien platziert, die einen Einblick in Stimmung und Ablauf jener vier Sommertage gaben, aber zugleich auch im vorgenannten Sinn als programmatisch verstanden werden müssen (Abb. 1).

* | Die hier vorgestellten Überlegungen sind Teil einer größeren Forschungsarbeit im Rahmen des Verbundprojektes der Universitäten Oldenburg und Braunschweig »Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen: Kritik, Transformation und ›dissidente Partizipation‹ an (akademischer) Wissensproduktion«, das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert wird. 1 | Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin 1977. 2 | Ebd., S. 18. 3 | Vgl. Wagner, Monika/Lethen, Helmut (Hg.): Schwarz-Weiß als Evidenz. »With black and white you can keep more of a distance«, Frankfurt a.M. 2015.

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Abbildung 1: Intellektuelle und reproduktive Arbeit werden neu austariert: Männer hüten Kinder und Frauen machen Wissenschaft.

Auch ohne erklärende Bildunterschrift wird klar, dass hier intellektuelle und reproduktive Arbeit auf neue Weise zueinander ins Verhältnis gesetzt sind. Die obere Abbildung zeigt einen überfüllten Hörsaal, die untere mutmaßlich die von den Organisatorinnen der Sommeruni eingerichtete und von einem Mann betreute Kinderkrippe. Das war ein eindeutiges Statement: Nicht nur, dass hier »Frauenarbeit«4 entgegen der herkömmlichen Vorstellung keine Hausarbeit ist und »Männerarbeit« als Beschäftigung mit Kindern zu-sehen-gegeben wird, sondern auch, 4 | Bock, Gisela: Frauenbewegung und Frauenuniversität. Zur politischen Bedeutung der »Sommeruniversität für Frauen«, in: Frauen und Wissenschaft 1977, S. 15-22, hier S. 17.

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dass Wissenschaft als Praxis ins Bild kommt. So war es ein Ziel feministischer Wissenschaftskritik, »die unerkannten Selbstverständlichkeiten der verbindenden Wahrheit Wissenschaft bloßzulegen«, wie es Barbara Schaeffer-Hegel und Barbara Watson-Franke in den von ihnen herausgegebenen Grundlagentexte zur feministischen Wissenschaftskritik einige Jahre später formulierten.5 Die Fiktion einer körperlosen, »rein« geistigen Sphäre der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung gehörte auch aus Sicht der Initiatorinnen der Sommeruniversität zu diesen unerkannten Selbstverständlichkeiten, die es aufzudecken galt. Über Visualisierungen sollte das geschlechtsspezifische setting der gesamten Universität ins Blickfeld geraten. Die »Trennung von Arbeit und Privatbereich« wurde dabei ebenso problematisiert wie die »Anonymität der Universität«, die »spezifische Leistungs- und Konkurrenzsituation«, aber auch der »Primat der Theorie« und die »mangelnde Praxisbezogenheit«. Alle genannten Stichworte sollten Beleg dafür sein, dass die »Sitten, das ganze Leben an der Universität […] männlich« seien.6 Die beiden Fotografien von Hörsaal und ad hoc-Kindergarten sind also visuelle Argumente, die denen im Text formulierten ebenbürtig sind. Sie sind nicht als Illustrationen misszuverstehen, durch die ergänzend etwas zum Text hinzugefügt wird, sondern als eigenständige Erkenntnisorte.7 Festgehalten ist ein scheinbar zufällig gewählter Moment. Kritische Wissenschaft im Sinne der Frauensommeruniversität entsteht, so lassen sich die Fotografien lesen, in überfüllten, leicht chaotischen Hörsälen, in denen keine einzelne Rednerin auszumachen ist, der alle zuhören, sondern durch Plenumsdebatten und Beiträge aus dem Publikum, wie die stehende Rückenfigur links der Mitte bezeugt. Die Beengtheit der Hörsaalsituation belegt dabei nicht nur das große Interesse an feministischen Themen in der Wissenschaft, sondern fungiert als visuelles Gegenbild zur im Text beklagten »Anonymität« und der »spezifische[n] Konkurrenz- und Leistungssituation«. Wenn also im Text steht, dass »Professorinnen und Assistentinnen«, die sich dem feministischen Projekt verschrieben haben, durch die Initiative der Sommeruniversität, nicht mehr »als Einzelkämpferinnen […] sich durchsetzen müssen«, sondern »organisiert als Gruppe« ihre feministischen Interessen in der Wissenschaft vertreten,8 dann produzieren die Fotografien hierzu ihre eigene, verwandte Erzählung. Das Bild inszeniert »die Gruppe«, nicht eine Einzelne, und macht deutlich, was passiert, wenn der oben beklagte Einzelkämpferinnenstatus verlassen wird: Hörsäle füllen sich mit Frauen. Die Universität ist nicht mehr »männlich«.

5 | Schaeffer-Hegel, Barbara/Watson-Franke, Barbara: Männer Mythos Wissenschaft. Zur Psychologie und Philosophie patriarchalen Denkens, in: Dies. (Hg.): Männer Mythos Wissenschaft. Grundlagentexte zur feministischen Wissenschaftskritik, Pfaffenweiler 1989, S. 1-16, hier S. 9. 6 | Schmidt-Harzbach, Ingrid: Kampf ums Frauenstudium. Studentinnen und Dozentinnen an deutschen Hochschulen, in: Frauen und Wissenschaft 1977, S. 33-73, hier S. 56. 7 | Vgl. Boehm, Gottfried: Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis, in: Heintz, Bettina/Huber, Jörg (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, New York 2001, S. 43-54. 8 | Tröger, Annemarie: Einleitende Bemerkungen, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft, S. 13f., hier S. 13.

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Zugespitzt lässt sich formulieren, dass die Argumentation des Buches nicht ohne die gezielt eingesetzten Visualisierungen funktionieren kann. Erst sie sorgen für visuelle Evidenz.9 Aber diagnostizieren sie auch? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, vorweg einige grundsätzlichere Fragen zu klären u.a. was das historische Verhältnis zwischen dem Visuellen und dem Diagnostischen betrifft, um in einem zweiten Schritt darzulegen, auf welche Weise im Kontext der Neuen Frauenbewegung über Visualisierungen Gegenwartsdiagnostik betrieben wurde und dabei zu fragen, wie sich auch hier der Diagnosebegriff zur politischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Praxis des Feminismus verhält. Vorweggenommen sei an dieser Stelle folgende Überlegung: Die an den Schnittstellen politischer und ästhetischer Gegenwartsdiagnostik angesiedelten Fotoprojekte, die im Folgenden vorgestellt werden, sind, vor allem wo es sich um dezidiert künstlerische Projekte handelt, weniger explizite denn implizite Diagnosen. Wie im Einzelnen noch gezeigt wird, folgen sie einem diagnostischen Narrativ, d.h. sie zielen auf die Sichtbarmachung einer als problematisch erkannten Gegenwart und sind einem diagnostischen Impetus verpflichtet, der sich mittels spezifischer Bild-Text-Konstellationen wirksam mittzuteilen vermag. Zugleich unterscheiden sie sich von anderen gesellschaftlichen Diagnosefeldern, in denen sowohl die Diagnosestellung wie die Therapie – verstanden als eine Handlungsanweisung für eine ebenso klar bestimmte Zukunft – sich eindeutiger als solche zu erkennen geben. Denn als künstlerische Projekte sind die hier vorgestellten Arbeiten »radikal ambivalent«:10 Teil ihrer spezifischen ästhetischen Mitteilungsform ist die Mehrdeutigkeit.

1. Ä sthe tische D iagnostik ? Für die ästhetische Moderne lassen sich eine ganze Reihe von Belegen anführen, die Medizin und Kunst als eine gegenseitige Verweispraxis miteinander verbinden und damit auch das Diagnostische für ästhetische Zwecke in Dienst nehmen. Eines der bekannteren Beispiele ist Émile Zolas 1879 erschienener Experimentalroman, den er in direkter, paraphrasierender Auseinandersetzung mit einer medizinischen Schrift verfasst hatte.11 Unter Verweis auf die von seinem Landsmann Claude Bernard 1865 veröffentlichte Schrift Einführung in das Studium der experimentellen Medizin postulierte Zola die grundsätzliche poetologische Gültigkeit medizinischer (Diagnose-)Verfahren.12 Auch wenn Zola bei seiner Orientierung an den Naturwissenschaften vor allem auf den dort entwickelten und praktizierten Experimentbegriff abzielte, beinhaltete sein ästhetisches Verfahren gleichwohl aus der Medizin übernommene Aspekte eines diagnostischen Blicks. Die von ihm stark gemachten Begriffe »l’observation et analyse« entstammten einer ästheti9 | Vgl. hierzu Schwarte, Ludger: Pikturale Evidenz. Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn 2015; M. Wagner/H. Lethen: Schwarz-Weiß als Evidenz; Becker, Sabine (Hg.): Visuelle Evidenz. Fotografie im Reflex von Literatur und Film, Berlin 2011. 10 | Mader, Rachel (Hg.): Radikal Ambivalent. Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich/Berlin 2014. 11 | Vgl. auch den Beitrag von Walter Reese-Schäfer in diesem Band. 12 | Zola, Émile: Le Roman Expérimental, in: Les Oeuvres Completes, Paris o.J. (1928) (urspr. 1879), S. 11.

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schen Auslegung ihres ursprünglichen Gebrauchs im medizinischen Diskurs.13 Weitere Belege eines an den Naturwissenschaften orientierten, aber eindeutig diagnostisch angelegten Entwurfs künstlerischer Tätigkeit sind im positivistisch gestimmten 19. Jahrhundert noch viele zu finden. Für den Juristen und Philosophen Konrad Fiedler, der in den Jahren nach 1878 eine Reihe theoretischer Schriften zu Kunst und Kunsttheorie veröffentlichte, stand es beispielsweise völlig außer Zweifel, dass der Künstler, dem Wissenschaftler vergleichbar, in »alle noch so verborgenen Schlupfwinkel des Lebens« vorstoßen müsse.14 Sein Ziel sei es, zu zeigen, wie die Welt »nun eigentlich […] aussieht«.15 Die Kunst reklamierte damit am Beginn der Moderne eine Fähigkeit, die sie bis heute in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung beibehielt: den Anspruch auf Analyse und Diagnose des Gegenwärtigen. Mit Auffassungen, wie sie Fiedler und andere vertraten, war zudem die Möglichkeit verbunden, solche Themen und Motive für die Kunst zu erschließen, die gesellschaftliche Zu- und insbesondere auch Missstände in den Fokus rückten. Der Kunst wurde dabei, als sie sich erst einmal von den traditionellen akademischen Beschränkungen befreit hatte, als besonders befähigt angesehen, solche gesellschaftlichen Probleme und Missstände zur Anschauung zu bringen. Zu zeigen, wie die Welt »nun eigentlich aussieht«, konnte durchaus auch als Voraussetzung für eine mögliche außer-künstlerische Intervention der »nicht mehr schönen Künste« verstanden werden.16 Für die Kunst nach 1945 erweist sich jedoch ein anderer Aspekt dieser bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Zuschreibung diagnostischen Potentials an die Kunst, die zunehmend die enge Kopplung an konkrete naturwissenschaftliche und medizinische Entwürfe verliert, als wesentlich bedeutsamer: die Erprobung und Verfeinerung bestimmter Formate, Techniken, Modi und Materialien des Diagnostischen, z.B. der Fotografie.17 Die ihr zugeschriebene Objektivität erweist sich als elementarer Bestandteil vieler Versuche, mit Hilfe des Visuellen einen diagnostischen Blick auf die Welt zu werfen, ohne dass, wie etwa bei Zola, noch eine direkte Analogie zur Medizin gesucht werden muss. Das bedeutet, es geht zunehmend um die den erwähnten Medien und Formaten ein- und zugeschriebene Fähigkeit zur vorgeblich objektiven Bestandsaufnahme, die Voraussetzung für die Einbindung in ein diagnostisches Narrativ ist, nicht unbedingt mehr um eine explizite 13 | Vgl. hierzu ausführlich Zimmermann, Anja: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2009; sowie Dies.: »Dieses ganze unendliche Weltwissen«. Differenzen und Konvergenzen künstlerischer und wissenschaftlicher Verfahrensweisen am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Welsh, Caroline/Willer, Stefan (Hg.): Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 225-243. 14 | Fiedler, Konrad: Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit, in: Ders.: Schriften zur Kunst, München 1991 (urspr. 1881), S. 81-110. 15 | Ebd., S. 99. 16 | Jauß, Hans Robert (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968. 17 | Vgl. Zimmermann, Anja: »Treue Schilderung« und »wahres Bild«: Künstler und Wissenschaftler als Bildproduzenten am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Wöhrer, Renate (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin 2015, S. 297-314.

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Beschreibung des eigenen künstlerischen Tuns als explizit »diagnostisch«. Unter diesem Aspekt ist auch die Verwendung von Fotografien in einer Publikation wie Frauen und Wissenschaft zu verstehen, zumal diese, wie oben bereits angedeutet, keine illustrierenden Beigaben zum wissenschaftlichen Text sind, sondern eigene, medial konditionierte Bedeutungsebenen mit einbringen, die nicht undifferenziert dem Textlichen zugeschlagen werden sollten. Frauen und Wissenschaft ist deshalb kein Einzelfall. In jener Zeit erschienen im Umfeld von Neuer Frauenbewegung und akademischem Feminismus eine ganze Reihe von Publikationen, in denen Abbildungen eingefügt wurden, die, wie ich im Folgenden zeigen möchte, als visuelle Diagnosen funktionieren konnten.

2. Te x te und B ilder in P ublik ationen der N euen F r auenbe wegung als intermediale ›G egenwartsdiagnosen ‹ Das Konzept des (Gesellschafts- oder Gegenwarts-)Diagnostischen wird zwar gelegentlich bemüht, wenn es um feministische Projekte seit den späten 1960er Jahren geht, aber stellt bei ihren Protagonistinnen selten eine zentrale Referenz dar.18 Diese Projekte sind im Rahmen eines Buches zu Gegenwartsdiagnosen aber dennoch untersuchungswürdig, wenn man davon ausgeht, dass sich ein diagnostizierender Impetus nicht nur semantisch niederschlägt. Auch wenn in den fraglichen Bild- und Buchprojekten der Neuen Frauenbewegung also gar nicht direkt davon gesprochen wurde, dass etwas diagnostiziert wird, so wird es dennoch getan – so lautet die These. Ein Buch wie der 1972 im Frankfurter Verlag Roter Stern unter dem Titel Frauen gemeinsam sind stark! publizierte Sammelband mit Texten der US-amerikanischen Frauenbewegung musste nicht als eine Diagnose betitelt werden, um als eine solche wirken zu können oder als solche verstanden zu werden.19 Visualisierungen trugen maßgeblich hierzu bei. Zwei Fotografien am Ende des Buches machten einprägsam sowohl die Diagnose patriarchaler Gegenwart als auch eine feministische Zukunft sichtbar (Abb. 2). Die linke Abbildung zeigt laut Abbildungsverzeichnis eine »Frauendemonstration« 18 | Eine Recherche hierzu ergab nur einige wenige Fundstellen, in denen der Begriff im entsprechenden Zusammenhang auftritt. So spricht beispielsweise Max Preglau in dem Band Soziologische Theorie unter dem Eintrag »Feministische Soziologie« von »Feministischer Gegenwartsdiagnose« (Preglau, Max: Feministische Soziologie: Regina Becker-Schmidt, in: Morel, Julius u.a.: Soziologische Theorie. Abriss der Ansätze ihrer Hauptvertreter, Berlin 92015, S. 331-352, hier S. 339, 342. Insgesamt scheint die Kennzeichnung als »Gegenwartsdiagnose« eher aus beschreibender und analysierender, d.h. historischer Perspektive verwendet zu werden. Die eigene politische oder wissenschaftliche Praxis im Kontext von Frauenbewegung, Feminismus oder akademischer Geschlechterforschung wird – soweit ich sehe – kaum explizit als »diagnostisch« ausgewiesen. 19 | Herausgegeben wurde es vom »Arbeitskollektiv der Sozialistischen Frauen Frankfurts«, entstanden als »Weiberrat«; vgl. Paulus, Julia: Rede von Helke Sander (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen) auf der 23. Delegiertenkonferenz des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes« (SDS), Frankfurt a.M. (URL: www.1000dokumente.de/index.html?c=hinwei​ se_de&l=de [10.1.2017]).

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ohne nähere Orts- oder Zeitangabe. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich eine Werbeanzeige der Kosmetikfirma Revlon aus der New York Times vom 4. Juli 1976. Während das Werbebild eine Einzelne präsentiert, gibt die linke Fotografie eine demonstrierende Front untergehakter Frauen zu sehen. Diese in der fröhlich wirkenden Menge personifizierte »Schwesternschaft« (sisterhood is powerful lautete der Slogan), die als programmatische Metapher der Frauenbewegung erst in den späten 1980er Jahren an Überzeugungskraft einzubüßen begann, war in den 1970er Jahren noch in der vielfach variierten Aufforderung »Wir müssen uns zusammentun!«20 selbstverständlich. Sie bildete eine der Grundvoraussetzungen der Abbildung 2: Feministische Zukunft als gemeinschaftliche politische Aktion und patriarchale Gegenwart in Form idealisierter Weiblichkeitsbilder werden kontrastierend gegenübergestellt.

Neuen Frauenbewegung, die in den von ihnen entwickelten Praxen wie etwa den Consciousness Raising Groups auf die Herstellung einer solchen Gemeinschaft unter Frauen abzielte.21 In den beiden gegenübergestellten Fotografien wurde damit in zwei Schlagbildern22 verdichtet und evident gemacht, was aus feministischer Sicht die Probleme der Gegenwart waren. Bilder zeigten, »daß die Frauenunterdrückung sich in allen gesellschaftlichen Bereichen niederschlägt«, wie die Herausgeberinnen im Vorwort konstatierten.23 Authentische weibliche »kollektive Aktionen« vs. durch 20 | Flugblatt zur Aktion 218 von 1971: »Wir Frauen für Frauen […] Wir müssen uns zusammentun! Unser Protestgeschrei muß lauter sein als die Kirchenglocken!«, in: Lenz, Ilse (Hg.): Die Neue Frauenbewegung. Abschied vom kleinen Unterschied: Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2010, S. 83. 21 | Art. »Consciousness Raising« in: Pilcher, Jane/Whelehan, Imelda: 50 Key Concepts in Gender Studies, London 2005, S. 17-19. 22 | Zum Begriff des Schlagbildes vgl. Diers, Michael: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1997. 23 | Becker, Barbara u.a. (Hg.): Women’s Liberation – Frauen gemeinsam sind stark!, Frankfurt a.M. 1977, S. 7-36, hier S. 25.

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die Massenmedien korrumpierte Weiblichkeit wurden in Bildform gegeneinander in Stellung gebracht. Diese Konfrontation gelang aber nur dadurch, dass die ohne begleitende Interpretation veröffentlichten Fotografien sich gegenseitig in einem visuellen Argumentationsmodell von Bild und Gegenbild kommentierten.

3. The S um and S ubstance of F emale E xperience : D as P rivate wird politisch Eine zentrale Erkenntnis und Forderung der Neuen Frauenbewegung war in dem Schlagwort »Das Private ist politisch« gebündelt.24 Vermittelt wurde diese Sicht auf alltägliche Diskriminierungserfahrungen, die allzu lange als individuelle Erlebnisse und Hindernisse von einzelnen Frauen abgetan worden waren, allerdings nicht nur in Texten, Erfahrungsberichten und Analysen, sondern maßgeblich über Visualisierungen. Eine Reihe von künstlerischen Projekten fokussierte daher auf den Frauenalltag, das sogenannte Private, und förderte dabei neue Erkenntnisse zutage, indem sie darauf abzielten, zuvor Ungesehenes sichtbar zu machen. Eines dieser Projekte war eine im Stil eines bebilderten Tagebuchs angefertigte Arbeit der US-amerikanischen Künstlerin Abigail Heyman, die 1974 unter dem Titel Growing Up Female veröffentlicht wurde.25 Das Buch versammelt überwiegend doppel- oder halbseitige Fotografien »[of] poor and middle-class and wealthy women, White and Black and Indian women, professional and literate and uneducated women«, kombiniert mit kurzen, tagebuchartigen Einträgen.26 Die unbetitelten und undatierten Fotografien lassen sich lose verschiedenen Themenbereichen zuordnen wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern, Kinder, Arbeitswelt etc. Zu sehen sind z.B. eine Krankenhausgeburt, bei der der Vater des Kindes anwesend ist, alltägliche Situationen zwischen Eltern und ihren Kindern, Portraits von Frauen als Konsumentinnen und Verkäuferinnen oder Szenen, die intime Situationen häuslichen Miteinanders zeigen. Eine Reihe von Fotografien findet sich mehrfach im Buch, es werden bewusst Wiederholungen und Neugruppierungen vorgenommen. Eine dieser Bildreihen, die in der Folge verschiedene Szenen mit Eltern und Kindern zum Thema haben, zeigt eine Abtreibung (Abb. 3). Aufgenommen ist sie aus der Perspektive der auf dem gynäkologischen Stuhl liegenden Frau, die aus leichter Untersicht auf den Arzt blickt, der vertieft in seine Arbeit zwischen den Beinen der Liegenden mit verschiedenen Gerätschaften hantiert. Über beide Seiten und somit als eine Art Überschrift der Fotografie steht der Satz »Nothing ever made me feel more like a sex object than going through an abortion alone«.27

24 | Vgl. Adorf, Sigrid/John, Jennifer (Hg.): Das Private bleibt politisch. Symptomatische Subjektentwürfe der Gegenwart, in: FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 49, 2010. 25 | Heyman, Abigail: Growing Up Female. A Personal Photo-Journal, New York u.a. 1974. 26 | Ebd., o. S. 27 | Ebd., o. S.

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Abbildung 3: »Nothing ever made me feel more like a sex object than going through an abortion alone«. Die Betrachter(innen)positionen ist deckungsgleich mit der auf dem gynäkologischen Stuhl Liegenden. Der Kampf gegen die Abtreibungsgesetzgebung verbindet sich hier visuell mit der Forderung nach Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und die persönliche Erfahrung.

Der Kampf gegen den § 218, eines der frühen zentralen Themen der Frauenbewegung, konzentrierte sich bekanntlich nicht nur auf juristische Aspekte, sondern ging einher mit dem Anspruch auf »eine eigene Definitionsmacht über Sexualität, Körper und über Schwangerschaft/Mutterschaft/Elternschaft«, der zu einer »Revolution des Wissens und der Normen über ›das andere Geschlecht‹« führte.28 Dies war jedoch nur möglich, weil die Verknüpfung so unterschiedlicher Lebensbereiche wie Politik, Sexualität, Partnerschaft, Berufstätigkeit etc. im Mittelpunkt stand. Die im Tagebucheintrag notierte Erfahrung der Einsamkeit während der Abtreibung war aus feministischer Sicht nicht von den anderen, spezifisch weiblichen, Erfahrungsfeldern zu trennen. Sie hing zusammen mit Arbeit, Partnerschaft oder Kindererziehung. Diese Kritik des weiblichen Körpers als von der patriarchalen Gesellschaft usurpiertem und kolonisierten Ort treibt bei Heyman als implizite Bedeutung der Bilder an deren Rändern und Zwischenräumen. Diagnostische Effekte und Lesarten können die Fotografien in erster Linie durch ihre spezifischen Rahmungen evozieren. Das bedeutet nicht, dass ein diagnostisch wirkendes Narrativ den Bildern »beigegeben« oder »hinzufügt« worden wäre. Im Gegenteil. Die Visualisierungen sind konstitutiver Bestandteil eines bestimmten Blicks auf Gesellschaft, der durch eine Vielzahl von intermedialen Verknüpfungen (z.B. zwischen Bild und Text), von interpiktoralen Kontextualisierungen (z.B. durch das Nebeneinanderstellen einzelner Fotografien auf einer Doppelseite), durch Serialisierungen (z.B. die leicht variierte Aufeinanderfolge einer Serie von Einzelbildern), aber auch durch innerbildliche Strategien (z.B. die Beschränkung auf Schwarz-Weiß, Motivwahl, Bildausschnitt, 28 | Lenz, Ilse: Raus aus dem kleinen Unterschied? Sexuelle und körperliche Selbstbestimmung und Gesundheit, in: Dies. (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 97-144, hier. S. 97.

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Beleuchtung etc.) konstruiert wird. Diese Konstruktion ist darüber hinaus auf eine/n Rezipient/in angewiesen, der oder die den diagnostischen Impetus aufnimmt, ihm inhaltlich zustimmt oder ihn womöglich auch ablehnt, und all dies geschieht obendrein in einem nochmals erweiterten Rahmen, der all jene zeitgenössischen Gebrauchsweisen von Bildern umfasst, die ähnlich oder vergleichbar wirken.29 Durch diese Liste wird schon deutlich, dass eine vollständige Berücksichtigung aller genannten Gebiete nicht zu leisten ist. Allerdings scheint es doch notwendig, aus ihnen zumindest stichpunktartig einzelne Aspekte heranzuziehen. Die feministische Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen fokussierte, wie oben erwähnt, auf den weiblichen Körper und zeigte diesen als Produkt patriarchaler »Zwangsverhältnisse«. Die weiblichen Körperpraxen des Kinderkriegens, der Sexualität, der Haus- und Erwerbsarbeit etc. bilden bei Heyman den Referenzrahmen der Bilderzählungen. Die Fotografie einer lächelnden Braut kurz nach ihrer kirchlichen Trauung entfaltet als Einzelbild völlig andere Lesarten als durch ihre Positionierung in einer fortlaufenden Reihe anderer Fotografien (Abb. 4). Dabei wird noch einmal deutlich, dass die Fotografie hier mit einer Reihe von anderen Bildern und Texten interagiert und dadurch neue Bedeutungen generiert. Was wie die Dokumentation eines glücklichen Augenblicks wirkt, lässt sich in der bei Heyman vorgeschlagenen Lektüre als durchaus problematischer Lebensmoment deuten. In dem unmittelbar vor der Fotografie eingefügten, längeren Tagebucheintrag wird die Problematik von weiblichen Biografien geschildert, die darauf hinausliefen, dass Frauen mit der Eheschließung essenzielle Teile ihrer Persönlichkeit aufgeben, »their work, or their friends, or their interests«.30 Abbildung 4: Im Zusammenhang mit Fotografien, die eine Abtreibung zeigen, wird aus der herkömmlich anmutenden Hochzeitsszenerie ein problematischer Moment des »growing up female«.

29 | Zu denken wäre an die jeder Betrachterin und jedem Betrachter jeweils individuell bekannten Visualisierungen, die sich inhaltlich oder formal mit den bei Heymann gezeigten Repräsentationen in Beziehung setzen lassen. Zu Bildzusammenstellungen vgl. Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013. 30 | A. Heymann: Growing Up Female, o. S.

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4. K örperdiagnosen : M arianne W e x ’ B ildatl as zur »K örperspr ache als F olge patriarchalischer M acht verhältnisse « Die Verwendung der Alltagsfotografie, mit der Heyman das Growing up female auf die Symptome einer patriarchalen Gesellschaftsordnung hin abtastete, war Teil einer Diagnose des Patriarchats. Es ging um visuelle Evidenz der einerseits theoretisch erarbeiteten Gesellschaftskritik und andererseits der mit politischer Relevanz versehenen Alltagserfahrungen, die in anderen Projekten – fast wie einem medizinischen Atlas – auch als Symptome der Einschreibung des Patriarchats in die Körper von Männern und Frauen gedeutet werden konnten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür und für den Versuch, das sog. Alltägliche als Beleg für eine ausnahmslos alle Frauen betreffende problematische Verfasstheit der Gegenwart zu deuten, ist der Bildatlas ›Weibliche‹ und ›männliche‹ Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse der Künstlerin und Fotografin Marianne Wex, der 1979 in erster Auflage erschien (Abb. 5).31 Abbildung 5: Cover des Buches von Marianne Wex: »Männliche« und »weibliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse (1980).

In über 2000 Fotografien, die Wex aus Zeitschriften, Kunstbüchern, aber vor allem in Form von Straßenfotografien selbst produziert hatte, entwarf die Künstlerin einen Bildatlas, der sichtbar machen sollte, wie sich die patriarchalen Machtmechanismen buchstäblich in die Körper einfräsen. Jede scheinbar zufällige Haltung der 31 | Wex, Marianne: »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, Hamburg 21980 (urspr. 1979).

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Beine, der Hände oder des Kopfes, die Art und Weise wie sich Frauen und Männer in ihrem Alltag bewegen, ist hier dechiffrierbar als Ausdruck der Machtverhältnisse im Patriarchat. Immer lässt sich zeigen, dass die sog. männliche Körperhaltung diejenige ist, die mehr Raum einnimmt und sich im Gegensatz zu den Frauen im öffentlichen Raum besonders »breit macht«. Für Wex ist die »Art, in der wir unsere Körper bewegen, wie wir sitzen, stehen, gehen und so weiter [ein] Erkennungszeichen dafür, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt, und drückt sich ganz allgemein darin aus, daß sich Männer […] einen größeren Bewegungsraum – das ist auch im übertragenen Sinne zu verstehen, zugestehen als Frauen.« 32

Die Fotografien, die in vergleichenden Reihen und Serien neben- und übereinander abgebildet sind, sollten verdeutlichen, inwiefern »die Körpersprache zur Kennzeichnung und Konditionierung zum ›schwachen‹ sowie zur Kennzeichnung und Konditionierung zum ›starken‹ Geschlecht und damit der Festigung der Rangordnung Mann/Frau dient« (Abb. 6).33 Abbildung 6: Die Fotografien sollten auf einen Blick deutlich machen, wie sich das Patriarchat in die alltäglichen Körperpraxen einschreibt und wie dies dazu führt, dass männliche Körper im Allgemeinen mehr Raum einnehmen als weibliche. Die individuellen Körperhaltungen wurden als Symptom der patriarchalen Verfasstheit der Gesellschaft gedeutet.

Das Querformat des Buches ermöglichte auf zwei Seiten Reihen von insgesamt bis zu zwölf Einzelbildern, die fast durchgängig in zwei Registern übereinandergestellt sind. Fotografien von sogenannten männlichen Haltungen sind stets in der 32 | Ebd., S. 6. 33 | Ebd. Das Buch besteht zudem aus einem historischen Teil, in dem Skulpturen des 11. bis 13. Jahrhunderts analysiert werden.

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oberen Reihe, Fotografien von sogenannten weiblichen Haltungen in der unteren – eine Aufteilung, die Wex »entsprechend dem Spiegel patriarchalischer Machtverhältnisse« so wählte.34 Alle Fotografien sind im selben Format abgebildet. Auch der Bildausschnitt ist bei allen identisch; der abgebildete Körper ist stets in Ganzansicht und bildfüllend wiedergegeben. Dies impliziert eine direkte Vergleichbarkeit der einzelnen Abbildungen, die noch dadurch verstärkt wird, dass Fotografien auch seitenverkehrt abgebildet werden, um beispielsweise eine Reihe mit einer ausnahmslos nach rechts geneigten Kopfhaltung präsentieren zu können. Die visuelle Normierung der Körper, die durch diesen konsequenten Bildausschnitt erreicht wird, verdoppelt so die zentrale Idee von der Normierung aller Körper im Patriarchat, die dem Projekt zugrunde liegt. Abbildung 7: Ein visuelles Experiment zur Verdeutlichung der Rigidität der von Wex identifizierten männlichen und weiblichen Körpersprache im Alltag. Indem die weiblichen Personen »männlich« dasitzen und die männlichen »weiblich«, wird die Wirkmächtigkeit der Posen für die Herstellung von Geschlecht belegt.

Nacheinander werden in betont nüchterner, »objektiver«, Anmutung einzelne Körperhaltungen mit Bildbelegen versehen: »Sitzende, Bein- und Fußhaltungen«, »Sitzende, Arm- und Handhaltungen«, »Gehende, Arm- und Hand-, Bein- und Fußhaltungen« usf. Dieser Wissenschaftlichkeit konnotierende Präsentationsstil wird ergänzt durch einen »Versuch mit verschiedenen Frauen und Männern« sowie zwei vierzehnjährigen Mädchen, die jeweils sowohl männliche wie auch weibliche Posen einnehmen sollten (Abb. 7).35 Das Ergebnis dieser Re-Inszenierung der auf den Seiten zuvor hundertfach vorgeführten geschlechtsspezifischen Körperhaltungen ist in der Tat bestechend. Während die »männlichen« Körperhaltungen bei den weiblichen Personen zwar ungewöhnlich wirken, fallen die »weiblichen« Körperhaltungen bei den Männern offensichtlich vollständig aus dem Rahmen »normalen« Verhaltens. 34 | Ebd., S. 5. 35 | Ebd., S. 174.

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Abbildung 8: Eine visuelle Selbstdiagnose. Private Fotografien der Künstlerin werden als Beleg für die Wirkung des Patriarchats auf den Körper und seine Haltungen gelesen.

Das Buch endet mit einer Selbst-Diagnose (Abb. 8). Wex untersucht dort ihre »eigene Körpersprache« in Form von fünf Portraitaufnahmen und sechs Ganzkörperdarstellungen, die sie im Alter zwischen fünf und vierzig Jahren zeigen.36 In einem begleitenden Text deutet sie sie als Beleg dafür, wie »sich auch meine Körpersprache in der für Frauen so typischen Weise allmählich so herausgebildet hatte«.37 Der diagnostische Blick auf den eigenen Körper, der Haltungen, Posen und Gesten als Symptome patriarchaler Unterdrückung zu lesen gelernt hat, schreibt sich dann allerdings auf gleichsam doppelte Weise spiegelverkehrt ins Subjekt ein: »Je detaillierter mir die Formen der geschlechtsspezifischen Unterschiede der Körperhaltungen bewußt wurden, um so unsicherer wurde ich in meinem eigenen Verhalten. Zeitweise wußte ich kaum noch, wie ich mich bewegen sollte.«38 Dies ist nicht nur der Effekt, der womöglich eintritt, wenn man damit beginnt, alltägliche, größtenteils unbewusst ablaufende Vorgänge distanzierend an sich selbst zu beobachten und zu werten, sondern eine Deutung des eigenen Körpers als Zeichen für etwas Anderes. Die Selbstbeobachtung, die das Zu-sehen-geben der Ausschnitte aus den privaten Fotografien in Gang gesetzt hat, führt zu einem Sichtbarwerden des bislang im Status des Unsichtbaren Gehaltenen. Das Projekt ist damit im größeren Kontext eines feministischen Bemühens der Sichtbarmachung »der für das Konstituierte konstitutiven Verhältnisse« zu sehen.39 Auch Wex’ Atlas schließt sich eng an die im Kontext der Neuen Frauenbewegung entwickelte Praxis der Selbsterfahrung an, die in den 1970er und 1980er Jahren als Schlagwort kursierte. Selbsterfahrung war der »Anwärmer, der Cock-

36 | Ebd., S. 359. 37 | Ebd. 38 | Ebd. 39 | Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectional Invisibility«. Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung, in: Dies.: Im Widerstreit. Feministische Theorien in Bewegung, Wiesbaden 2013, S. 461-482, hier. S. 478.

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tail, der die Zunge löst«, der aber, auch das sollte erwähnt werden, schon damals äußerst kritisch gesehen wurde.40 Unbehagen wurde formuliert gegenüber dem Abbildung 9: Die Künstlerin konfrontiert sich mit einer Fotografie aus der Vergangenheit und schreibt dazu »Ich mit mir 21- und 41-jährig. Mit kaum einem Bild von mir fühlte ich mich so fremd und so weit von mir entfernt«.

»mittlere[n] Maß«, das sich in den auf Gleichheit und Hierarchiefreiheit gründenden Zusammenschlüssen angeblich breit zu machen drohte.41 Bei der Suche nach einem Selbst, das sich in den ausgetauschten Erfahrungen manifestieren sollte, könnte es nämlich auch sein, so warnte die Schriftstellerin Ursula Krechel 1980 »daß wir, wenn wir immer tiefer in unserem Selbst graben, nichts finden, nur Trümmer, Gerümpel, in tausenden [sic] von Jahren der Männerherrschaft in uns abgestellt, oder eine gähnende Leere«.42 Es scheint ein vergleichbares Gefühl gewesen zu sein, das auch Wex beim Anblick ihrer selbst neben einer Fotografie ihrer selbst als 21-Jährige beschlich (Abb. 9): »mit kaum einem Bild von mir fühlte ich mich so fremd und so weit von mir entfernt«.43 Die visuell gestützte Selbsterfah40 | Vgl. Krechel, Ursula: Selbsterfahrung und Fremdbestimmung: Bericht aus der Neuen Frauenbewegung, Darmstadt 1975, S. 157. 41 | Ebd., S. 158. 42 | Ebd., S. 159-160. 43 | M. Wex: »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, S. 342.

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rung wird notwendige Voraussetzung zur Aufdeckung patriarchaler Spuren in den Körpern. Die Arbeiten, die Teil des Atlas’ sind, dokumentieren einen »Versuch, den wir mit Fotografien aus unserer Geschichte durchführten« um »uns selbst sozusagen in unser altes Leben hineinstellen zu können.«44 Dazu wurden aus privaten Fotografien Dias hergestellt, die an eine Leinwand projiziert wurden. Die ausgewählten Bildbeispiele zeigen Wex bei diesen Versuchen. Einmal »mit mir selbst als 5-jährige«, das andere Mal »zwischen meinen Eltern«, sowie mit der oben erwähnten Fotografie, die sie als 21-Jährige zeigt. Sich buchstäblich in die fotografische Repräsentation des eigenen Körpers hineinzustellen, bedeutete auch, den eigenen Körper metaphorisch als Projektionsfläche sichtbar zu machen. Erst die Konfrontation des einen (des »vergangenen«) Körpers mit dem anderen (dem »gegenwärtigen«) vermochte Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen, die ohne Visualisierungen nicht möglich gewesen wären. Für Wex konnte der von ihr zusammengestellte Bildatlas die Betrachterinnen dazu bringen, sich der »subtilen Verschleierungstechniken« des Patriarchats »immer bewußter« zu werden. Der Atlas war damit eine Seh-Anleitung, die die Repräsentationen des Körpers in Beziehung setzen wollte mit den Haltungen und Bewegungen des eigenen Körpers. Die Arbeit an den Repräsentationen zielte ausdrücklich auf eine Wirkung auf die Körper derjenigen, die sich mit Wex’ Bildatlas beschäftigen. In diesem Sinn war er auch eine Anleitung, den eigenen Körper nicht als natürlich, sondern als historisch und immer schon abhängig von Repräsentationen zu verstehen. Ohne dass die Bezeichnung Atlas für das von Wex ausgewählte Format von ihr explizit gebraucht wird, stellt dieser doch den Referenzpunkt für ihr Buch »Weibliche« und »männliche« Körpersprache dar. So ist z.B. im lang etablierten Format diagnostischer Atlanten in der Medizin bereits ein Sehen eingeübt, das dasjenige am Körper visualisiert, was als Grundlage für das zu Diagnostizierende zu-sehen-gegeben wird.45 Die Reihung, Gegenüberstellung und Verknüpfung der einzelnen Visualisierungen war und ist im medizinischen diagnostischen Atlas zudem von vornherein eine Anleitung zum Sehen jenseits des Buches. Er ist eine Schule des Sehens für den Arzt, der, wie es z.B. der Autor des 1912 in Jena erschienenen Vergleichend-Diagnostischen Atlas der Hautkrankheiten und Syphilide des Wiener Arztes Salomon Ehrmann ausdrückte, »kein systematisches Lehrbuch« braucht, sondern für den die Bilder so gruppiert werden, »wie es zur Diagnosenstellung nötig ist«;46 der Atlas sollte auf diese Weise der Bildung eines »geschulte[n] Auges« dienen.47 Diese Erkenntniskraft des Visuellen, die im Format des Atlas und damit in der beziehungsreichen Nebeneinanderstellung und Konfrontation verschiedener Fotografien entfaltet wird, ist eine Technik, wie sie beispielsweise in Aby Warburgs berühmtem Bilderatlas Mnemosyne in den 1920er Jahren in einem ganz anderen Zusammenhang überaus folgenreich ausgearbeitet wurde.48 Ohne hier näher auf 44 | Ebd. 45 | Z. B. in Werken wie Klostermann, G. F. u.a.: Der diagnostische Blick. Atlas zur Differentialdiagnose innerer Krankheiten, Stuttgart 1964. 46 | Ehrmann, Salomon: Vergleichend-diagnostischer Atlas der Hautkrankheiten und der Syphilide: einschliessend die der Haut angrenzenden Schleimhäute, Jena 1912, S. VII. 47 | Ebd., S. VI. 48 | Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000; Forschungsgruppe Mnemosyne und 8. Salon (Hg.): Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas, Karlsruhe 2016.

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Warburgs unvollendet gebliebenes Projekt eingehen zu können, das dem Nachleben der Antike gewidmet war und den dabei über Detailformen aktualisierten »Pathosformeln«, ist doch festzuhalten, dass die von Warburg entwickelte Strategie, unterschiedliche Visualisierungen in ein beziehungsreiches Geflecht zu setzen, auch für Wex’ Bildatlas gilt. In einer 2012 im Badischen Kunstverein in Karlsruhe gezeigten Ausstellung wurden die von Wex archivierten Fotografien auf großen Schautafeln im Museumsraum gezeigt.49 Auch Wex’ Bilderatlas macht (Bilder von) Körperhaltungen zu Pathosformeln, wie sie Warburg durch seine mobilen Bildtafeln sichtbar machen wollte (Abb. 10).50 Abbildung 10: Die Technik der visuellen Argumentation durch Kombination fotografischer Bilder verbindet Wex’ Projekt mit Aby Warburgs berühmtem Bilderatlas Mnemosyne aus den späten 1920er Jahren.

Die Anordnung der Bildserien beruhte dabei auf der Überzeugung, dass die alltäglichen Körperhaltungen, das erschöpfte Sitzen an der Bushaltestelle, das ungeduldige Warten an der Ampel, das entspannte Lagern im Park keineswegs die zufälligen, individuellen und arbiträren oder natürlichen Bewegungen der Körper sind, sondern vielmehr, so ließe sich in Anlehnung an Warburg formulieren, Pathosfor-

49 | Die Tafeln wurden erstmals 1977 als Teil der Berliner Ausstellung Künstlerinnen International 1877-1977 in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst gezeigt. 50 | Zum Atlas vgl. Didi-Huberman, Georges: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft, Paderborn 2016.

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meln der Geschlechterdifferenz. Als »psychische Gebärde«51 anderer Art verweisen sie auf eine historisch begründete Lektüre des Alltagskörpers, dessen Haltungen als Symptom gelesen werden. Nicht zufälligerweise verband Wex dabei die Fotografien zeitgenössischer Alltagsszenen mit jenen von Skulpturen. Die eigenen Körperbewegungen sind damit in einen Kontext gesetzt, der die symptomatische Bildlektüre zwischen Repräsentation und Wirklichkeit hin und her gleiten lässt. Ebenso wie die Körper der PassantInnen in der Stadt der 1970er Jahre als Symptom des als Problem diagnostizierten Patriarchats gelesen werden, so lässt sich z.B. eine lange Bildreihe mit Madonnenfiguren zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert bei Wex in Verbindung mit der »planmäßigen Verfolgung und Vernichtung von Frauen, meist als sogenannte Hexen«, bringen.52

5. Z ur M y thologie der zivilisatorischen P rozesse : P osen , H altungen , R e -I nszenierungen Mit dem Titel Zur Mythologie der zivilisatorischen Prozesse belegte die österreichische Künstlerin Valie Export eine 1972 entstandene Mappe mit Fotografien verschiedener eigener Werke. Als »Bildkonserve«53 waren dort ältere Arbeiten der feministischen Künstlerin versammelt und mit einem Begleitwort des Wiener Aktionisten Gunther Brus versehen. In der Mappe befanden sich Fotografien der Aktionen Cutting, Body Sign Action, Eros/ion und Kontext-Variationen, alles Aktionen, in denen die Künstlerin auf spektakuläre Weise ihren eigenen Körper manipuliert und auch verletzt hatte.54 Body Sign Action (Abb. 11) dokumentiert die Farbtätowierung eines Strumpfbandes auf Exports Oberschenkel; in einem begleitenden Text erklärte Export: »Die Tätowierung des Körpers demonstriert den Zusammenhang zwischen Ritual und Zivilisation. In der Tätowierung erscheint das Strumpfband als Zeichen einer vergangenen Versklavung, Kleidung als Verdrängung der Sexualität, das Strumpfband als Attribut einer von uns nicht selbstbestimmten Weiblichkeit«. 55

Auch bei Export erscheint der Körper also als »Produkt sozialer Einschreibungen«.56 Dies bedeutet bei Export, ähnlich wie in den Arbeiten von Wex oder Heyman, eine dichte Auseinandersetzung mit der »Geschichte der Bilder« und den »weiblichen Leitbildern, die von den Männern geformt wurden.«57 51 | Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt a.M. 2010, S. 310. 52 | M. Wex: »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, S. 273. 53 | Lamb-Faffelberger, Margarete/Hilmes, Carola (Hg.): Staging EXPORT: VALIE zu Ehren, New York u.a. 2010, S. 84. 54 | Export, Valie: Split: Reality, Wien/New York 21997, S. 89. 55 | Ebd., S. 72. 56 | Mueller, Roswitha: Körper-Text/uren, in: Export, Valie: Mediale Anagramme, Berlin 2003, S. 43-52, hier S. 47. 57 | V. Export: Split: Reality, S. 130.

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Abbildung 11: Kulturelle und soziale Einschreibungen machen den Zugang zu einem »authentischen« weiblichen Körper unmöglich (Valie Export: Body Sign Action, Performance, 1970).

In mehreren Fotoarbeiten re-inszenierte Export hierfür Posen aus Kunstwerken der Renaissance, z.B. Michelangelos römischer Pietà (1498-1499) (Abb. 12). Ähnlich wie in Wex’ Diaprojektionen eigener Fotografien (Abb. 9), vor die sich die Künstlerin positionierte oder den von ihr angeleiteten Posen (Abb. 8) ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Körperhaltungen, schrieb sich Export mit ihrem Körper in die Posen, Gesten und Haltungen der historischen Repräsentationen ein. Und mehr noch schrieben sich die historischen Posen, die als Teil einer »Geschichte der Unterdrückung«58 gelesen werden, auch in den Körper der Künstlerin ein. Die collageartig übereinandergeschichteten Fotografien – die des Kunstwerks, der Künstlerin und schließlich einer Waschmaschine aus einem Werbekatalog – brachten »weibliche« Alltagsrealität und vermeintlich davon abgehobene »hohe« Kultur miteinander in Verbindung. In beiden, so die Botschaft, sind die vielfältigen Spuren des Patriarchats zu entdecken. Die Mythologie zivilisatorischer Prozesse verwies in diesem Zusammenhang also auf die Überzeugung, dass die vermeintlich aufgeklärte Gegenwart das mythische Denken keineswegs hinter sich gelassen hat,59 dass es vielmehr galt, die verdeckte, unausgesprochene »Beschädigung der weiblichen Integrität« bis in die »Körpersprache von Frauen« hinein sichtbar werden zu lassen.60 58 | Ebd. 59 | Für die feministische Wissenschaftskritik spielte der Mythosbegriff vor allem seit den 1980er Jahren ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wissenschaft wurde als »eine der Manifestationen des patriarchalen Unbewußten und seiner Metaphysik« ausgewiesen: B. Schaeffer-Hegel/B. Watson-Franke: Männer Mythos Wissenschaft, S. 1. 60 | Valie Export, zit.n. Christina von Braun: Warum etwas zeigen, das man sehen kann?, in: Export, Valie: Split: Reality, S. 6-14, hier S. 7.

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Abbildung 12: Eine kritische Aneignung visuell etablierter Weiblichkeitsposen wurde von Künstlerinnen wie Valie Export unter Rekurs auf Kunstwerke der Vergangenheit forciert (Valie Export: Geburtsmadonna, Fotoobjekt, 1976).

Die Verbindung von Körper und Stadtraum, die Wex in ihrem Bilderatlas als diagnostisches setting arrangierte, war auch bei Export ein über mehrere Jahre hinweg verfolgtes Arbeitsprogramm. In den ab den frühen 1970er Jahren produzierten Körperkonfigurationen inszenierte sich die Künstlerin in verschiedenen städtischen Architekturszenarien (Abb. 13). Abbildung 13: Verbindung von Körper und Stadtraum (Valie Export: Einkreisung, 1976, Körperkonfiguration, s/w-Fotografie).

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Export unterwirft sich der Architektur, schmiegt sich an Ecken, spannt den Körper zwischen Wände, streckt ihn, am Boden liegend, um die Kurve eines Bordsteins. Die eingenommenen Haltungen und Positionen, in denen sie hierfür verharren muss, muten unbequem, manchmal schmerzhaft an. Stein, Beton, Stahl scheint der Körper nichts entgegensetzen zu können. Im Gegenteil. Diese harten Materialien der städtischen Umwelt formen ihn auf eine Weise, die der Idee einer Gestaltung der Architektur durch »den Menschen« widerspricht und ihn umgekehrt selbst zu einem durch die Architektur Geformten macht. Die implizite Gewaltförmigkeit dieses Prozesses korrespondiert mit Exports Absicht »den gefrorenen Körpercode aus der gefrorenen Geschichte der Kultur, die eine Geschichte des Schweigens über den Körper ist« zu »erzwingen«.61 Dieses »Erzwingen« beschrieb Export zugleich auch ein als »Demaskieren«.62 Die künstlerische Strategie, durch die demaskiert werden sollte, war – nur scheinbar paradox – in vielen Fällen die Maskerade. Exports Bildreihen, in denen sie sich in die Posen »von Frauen, wie sie auf Tafelbildern, die von Männern gemalt sind«63 setzt, aber auch das von Wex angeleiteten Posing (Abb. 8) ist in diesem Sinn eine demaskierende Maskerade. Die Überzeugung, dass jede Form(ierung) des Körpers als Maskerade verstanden werden muss und es jenseits der von Export erwähnten »kulturellen Körperkodes« keine »natürlichen« gibt, schälte sich hier als eine Erkenntnis heraus, auf der wenige Jahre später ganze Forschungsprogramme eines dekonstruktiv ausgerichteten Feminismus nach Judith Butler auf bauen konnten. Darüber hinaus beeindruckt aber auch die schiere Menge an künstlerischen Arbeiten, die ab 1970 der paradoxen Dopplung von Maskerade und Demaskierung im weiteren Bezugsfeld einer diagnostisch konturierten Auseinandersetzung mit Gegenwart nachgingen. 1979 fand bspw. in der Londoner Hayward Gallery die Ausstellung Three Perspectives of Photography statt, in deren Rahmen die englische Fotografin Jo Spence ihr Fotoprojekt Beyond the Family Album präsentierte.64 In Form einer visuellen Autobiografie versammelte die Arbeit mittels großer Bildtafeln private Fotografien der Künstlerin, die sie ausführlich kommentierte und mit aktuellen Fotografien konfrontierte, in denen sie die »fertilization between class and sexuality« dekonstruktiv bearbeitete.65 Am Beginn des Albums posiert Spence in Babypose, und diese absurd-ironische Eröffnung setzte den Modus für das Folgende, in dem sukzessive den als rigide und einengend empfundenen Fotografien eines »normalen« weiblichen Lebens eine Reihe von fotografischen Bildexperimenten entgegensetzt wird, die die dort ständig wiederholten »kulturellen Körperkodes« (Export) dekonstruktiv auflösen sollten (Abb. 14).

61 | Export, Valie: Corpus More Geometrico, in: Dies.: Mediale Anagramme, Berlin 2003, S. 105. 62 | Ebd. 63 | C. von Braun: Warum etwas zeigen, das man sehen kann?, S. 7. 64 | Spence, Jo: Putting Myself in the Picture: A Political, Personal and Photographic Autobiography, Seattle 1988, S. 82-100. 65 | Ebd., S. 82.

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Abbildung 14: Infragestellung fotografischer Konventionen der Darstellung des Körpers zur Konstruktion des (Auto-) Biografischen (Jo Spence: Beyond the Family Album, 1979 [Detail]).

Aus der Rückschau des einige Jahre später begonnenen Projekts Photo Therapy, das Spence gemeinsam mit der Fotografin Rosy Martin entwickelte, ist Beyond the Family Album die notwendigerweise vor die Therapie gesetzte Diagnose. Der implizit gedachten (oder vielleicht auch gar nicht gedachten, sondern vor allem gemachten) bildgestützten Kritik des Patriarchats folgte also mitunter auch ganz explizit eine Therapie. Das, was durch, in und mit Fotografien in Gang gesetzt werden sollte, beschrieben Spence und Martin als »a way of examining one’s social and psychic construction, both emotionally and theoretically«.66 In den seriell angelegten Arbeiten werden vergangene Posen durchgespielt, verändert und wie unter der Lupe zur genauen Betrachtung freigegeben (Abb. 15).

66 | J. Spence: Putting Myself in the Picture, S. 175.

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Abbildung 15: Die »Foto-Therapie« setzt eine ebenso fotografiegestützte Diagnose voraus, die über eine dekonstruktive Relektüre eigener Familienfotografien in Gang gesetzt werden soll (Jo Spence: Photo-Therapy: New portraits for old, 1984 onwards).

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in Form von Familienschnappschüssen wird Ausgangspunkt einer visuellen Dekonstruktion, die auf das Selbst der Therapierten zielt. Viele Künstlerinnen waren davon überzeugt, dass für Frauen in dieser Auseinandersetzung mit Selbst und Repräsentation besonders viel auf dem Spiel steht, denn »[f]or women, the question of looking and taking pictures is determined by the dominant culture«.67 Der eigene Körper, den Heyman, Wex und Export gleichermaßen, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln, durch Bildserien problematisierten, wurde auch bei Spence und Martin zu einem, der den Körper als Zeichen für etwas anderes lesen konnte (etwa als Symptom einer patriarchalen Ordnung).

67 | Ebd., S. 174. Für die Geschlechterforschung in der Kunstgeschichte waren Fragen in diese Richtung äußerst produktiv und führten zu einer ganzen Reihe an Arbeiten, die nachweisen konnten, dass in der Kunst des 20. Jahrhunderts die »Frau als Bild« (so der Titel einer Publikation von Silvia Eiblmayr) bestimmend war. Der weibliche Körper bildete nicht nur eines der bevorzugten Motive etwa der modernen Aktmalerei, sondern war überdies auch in den ästhetischen Avantgarden zentrale Projektionsfläche der dort vorangetriebenen Zerstörung traditioneller mimetischer Bildauffassungen; vgl. Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993.

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Abbildung 16: Die fotografische Selbstinszenierung in verschiedenen Posen macht die Konstruiertheit weiblicher Identitäten sichtbar (Martha Wilson: A Portfolio of Models, 6 s/w-Fotografien, 1974 [Detail]).

Martha Wilson, Feministin und politische Performance-Künstlerin,68 spielte dies 1974 in einer Foto-Serie mit dem Titel A Portfolio of Models durch (Abb. 16). Begleitet von kurzen Texten inszenierte Wilson sich selbst in insgesamt sechs stereotypen Posen, die die Modelle auffächern »[which] society holds out for me«: »The Goddess«, »The Housewife«, »The Working Girl«, »The Professional«, »The Earth Mother«, »The Lesbian«.69 Dreh- und Angelpunkt der weiblichen Identitätsmodelle ist »Die Göttin«, dargestellt im ersten der sechs s/w-Fotografien. Dort sehen wir Wilson vor durchgängig schwarzem Hintergrund, in glamouröser Pose, unbewegt in die Kamera schauend. Das ironische Portfolio an weiblichen Identitäten, die hier maßgeblich über Bildinszenierung, Kleidung und Pose zu sehen gegeben werden, enttarnt die Differenzierung gesellschaftlicher Verortungen und Subjektpositionen als sozial und medial vorgegeben und macht damit die individuellen Entscheidungen der Kleidung, der Haltung etc. zu etwas potentiell diagnostisch Lesbarem.

6. D iagnose G eschlecht ? E inige offene F r agen Die Bild-Text-Diagnosen, die am Anfang dieses Textes standen, hatten eine klare Agenda. Sowohl der Sammelband, der die erste Berliner Frauensommeruniversität 1977 dokumentierte, als auch die im selben Jahr erschiene Textsammlung mit Beiträgen aus der US-amerikanischen Frauenbewegung, die für das deutsche Publikum unter dem Slogan »Frauen gemeinsam sind stark!« veröffentlicht wurden, arrangierten Worte und Bilder so, dass die Diagnosen stets innewohnende Zeit68 | So die treffende Charakterisierung der Künstlerin durch Hanne Beate Ueland, in: Schor, Gabriele (Hg.): Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er-Jahre aus der Sammlung Verbund, Wien/München 2015, S. 251. 69 | G. Schor (Hg.): Feministische Avantgarde, S. 252-255.

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ordnung, die in der Gegenwart zugleich mehrere Zukünfte imaginiert,70 durchaus vor den Augen der Leserinnen und Leser aufscheinen konnte. Die Gegenwart, das war das Leben unter dem Patriarchat. Für die Wissenschaftlerinnen, die sich in Berlin versammelt hatten, hatte eine feministische Prüfung der bestehenden Wissenschaftspraxis und -theorie zu Tage gefördert, dass Frauen »weder Objekt noch Subjekt der Wissenschaft« sein konnten.71 Die Zukunft dagegen war eine »Wissenschaft, die Frauenmacht und die Suche nach unserer Identität zum Maßstab macht«.72 Sie war, das sagten die s/w-Fotografien, mit denen das Buch illustriert wurde, bereits dabei, anzubrechen: Kinder wurden von Männern betreut. Frauen diskutierten und machten Wissenschaft. Noch deutlicher wurden problematische Gegenwart und anbrechende »gute« Zukunft im abschließenden Bildtableau des von Barbara Becker und anderen herausgegebenen Bandes Frauen gemeinsam sind stark! miteinander konfrontiert, in dem die vereinzelte Werbefigur, die für die Beschränkungen von Weiblichkeit im Patriarchat stand, einer freudig sich nach vorne bewegenden Gruppe demonstrierender Frauen gegenübergestellt wurde. Letztere konnte als Chiffre einer Zukunft gelesen werden, die mit »dem neuen Auf bruch der Frauen ab 1965« 73 bereits Gegenwart geworden zu sein schien. Dass diese Zukunft allerdings allenfalls in sehr beschränkter Hinsicht angebrochen war und dass angesichts der tatsächlichen Verhältnisse um 1970 eher von einem »Zwiespalt der Zukünfte« 74 gesprochen werden müsste, das wird aus heutiger Sicht deutlich. Auch bei einem Projekt wie Marianne Wex’ aus tausenden Fotografien zusammengestellten Bildatlas zur Körpersprache im gegenwärtigen Patriarchat, bildete »die« Zukunft zwar den klar vernehmbaren Rhythmus, der die visuelle Erzählung über Körper und Identität in der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung strukturierte; aber sie, die Zukunft, taucht gegenüber der Fülle an Fotografien, die eine hochproblematische Gegenwart zeigen, nur zurückhaltend auf: in den wenigen Fotografien, die die Autorin selbst, teils in direkter Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern aus Kindheit und Jugend, nach Überwindung der rigiden Körpercodes zeigt. Insgesamt sind die ästhetisch ausgelegten diagnostischen Blicke, die die Frauenbewegung auf die Gegenwart warf, womöglich nicht so eindeutig auf einen klar konturierten Gegensatz von »guter Zukunft« vs. »zukünftiger Katastrophe« ausgerichtet, wie dies andere, sich selbst offensiver als diagnostisch ausweisende Gesellschaftsanalysen waren. Überdies begriff sich z.B. ein Projekt wie die Frauensommeruniversität notwendigerweise als etwas, das nicht nur diagnostizierte (»die alte Ordinarienuniversität war offen frauenfeindlich, die neue, ›reformierte‹ Universität 70 | Vgl. die Einleitung zu diesem Band. 71 | Bock, Gisela: Frauenbewegung und Frauenuniversität. Zur politischen Bedeutung der »Sommeruniversität für Frauen«, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft, S. 15-22, hier S. 15. 72 | Ebd., S. 18. 73 | Lenz, Ilse: Anfänge: Versuch, die richtigen Fragen zu finden, in: Dies.: (Hg.): Die Neue Frauenbewegung, S. 45-50, hier S. 46. Der Begriff des Aufbruchs, der im Kontext der Neuen Frauenbewegung sehr oft Verwendung fand und findet, signalisiert eine stark von Zukunftsentwürfen beeinflusste Gegenwartspraxis. 74 | Diese Formulierung stammt von Radkau, Joachim: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland 1945 bis heute, München 2017, S. 63.

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ist es auch«), sondern vor allem in der Gegenwart handelte (»wir haben […] zu dieser Sommeruniversität aufgerufen, um einen Gegendruck […] zu schaffen«).75 Das heißt, Maßnahmen, die das Ende des als problematisch Erkannten vorantreiben sollten, wurden nicht nur formuliert und gefordert, sondern zugleich auch schon in die Tat umgesetzt. Dies ging Hand in Hand mit einer Reihe von diagnostisch ausgerichteten Techniken und Medien der Selbstbeobachtung und -modellierung. Gesten, die Haltung von Körpern im öffentlichen Raum (Wex), Alltags- und Festpraktiken wie Kinderbetreuung, Hochzeit oder Geburt (Heyman), Werbung (Becker) und der Alltag akademischer Wissensproduktion (Frauen und Wissenschaft) wurden zu Zeichen für etwas Anderes. All diese Dinge wurden zu Objekten einer visuellen Lektüre, die in ihnen ebenjenes ›Andere‹ sichtbar werden lassen konnte: das Problem »der Unterdrückung der Frauen in unserer Gesellschaft«.76 Ohne Bilder wäre eine solche Lektüre nicht möglich gewesen. Vielmehr waren diese Teil einer intermedialen, netzwerkartigen Konstellation, in der die Problematisierung der gegenwärtigen Zustände erst sichtbar gemacht werden konnte. Dieses Sichtbarmachen funktionierte produktiv, nicht reproduktiv, d.h. das, was die Bilder in einer spezifischen Konstellation zeigen konnten, wurde durch die Visualisierung zugleich hergestellt. Die künstlerischen Projekte, die im näheren oder auch weiteren Umfeld der Neuen Frauenbewegung entstanden, bewegten sich in vielerlei Hinsicht in ebenjenen Konstellationen. Für sie gilt jedoch, dass das Verhältnis von Repräsentation und Konstruktion von Wirklichkeit explizit zum Thema wurde. Die Haltungen und Posen der Körper sind bei Export, Wilson und Spence als immer schon als medial vermittelt thematisiert. Eine »Befreiung« hiervon ist ausdrücklich nicht Thema. Ja, sie erscheint im Sinne der Arbeiten zweifelhaft bis unmöglich. Angesichts des bisher Ausgeführten drängt sich die Frage auf, ob in einigen oder allen der beschriebenen künstlerischen Positionen nicht auch etwas am Werk ist, das als geradezu anti-diagnostischer Impuls beschrieben werden muss. Die Arbeiten bewegten sich dann – gerade in ihrem Bruch mit einem streng diagnostischen Narrativ – zwar immer noch im Horizont des Gegenwartsdiagnostischen, unterliefen es jedoch an entscheidenden Schaltstellen auch wieder. Anders formuliert: die Kunst näherte sich zwar einem diagnostischen Narrativ, richtete sich aber nicht so vollständig und bruchlos darin ein, wie dies vielleicht in anderen gesellschaftlichen Bereichen der Fall war. Wenn Heyman im Vorwort ihres Photo Journal schreibt, »I photographed the problems and strenghts of women. Some have suggested that I photograph the solutions. I don’t know the solutions«, dann kündigte sie eine ganz entscheidende Komponente diagnostischer Erzählungen auf. Sie verweigerte die Lösung, das heißt verweigerte die Imagination einer eindeutigen Zukunft. Für den Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman ist bezeichnenderweise gerade der Atlas eine Form der Wissensproduktion und -präsentation, die dem klar Gegliederten des Diagnostischen widerspricht. Es sind potentiell offene und unendliche Bildreihen, die der Atlas zusammenstellt. Durch diese »Überfülle […] dekonstruiert« der Atlas »die Ideale der Einheitlichkeit, der Spezifität, der Reinheit, der vollständigen Erkenntnis«, und damit ist er laut Didi-Huberman ein »Werk75 | Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft, S. 13. 76 | Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, Gruppe Westberlin: Selbstverständnis des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen (1968), in: Lenz, Ilse (Hg.): Die Neue Frauenbewegung, S. 63-64, hier S. 63.

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zeug nicht zur logischen Ausschöpfung gegebener Möglichkeiten, sondern zur unerschöpflichen Offenheit für noch nicht gegebene Möglichkeiten«.77 Die hier vorgestellten Künstlerinnen arbeiteten damit auf paradoxe Weise zugleich in eine anti-diagnostische Richtung. Endgültige Lösungen waren keine in Sicht. Im Mittelpunkt stand, eher a-diagnostisch, nicht die Suche nach endgültigen Antworten, sondern der »Versuch, die richtigen Fragen zu finden«, wie es Helke Sander in einem handgetippten Flugblatt 1968 formuliert hatte.78 Allerdings kamen die Künstlerinnen trotz der Offenheit und anti-axiomalen Verfasstheit ihrer Arbeiten, wie die Analyse gezeigt hat, nicht ohne Diagnosen aus. Der diagnostisch geprägte Blick, der viele der Arbeiten implizit strukturierte, nahm diagnostische Erzählweisen und ihre medialen Vermittlungen auf – erzählte sie aber nicht immer eindeutig zu Ende.79 Diagnosen der Gegenwart, so lässt sich schlussfolgern, müssen sich nicht explizit als solche zu erkennen geben und ausweisen, um, auch wenn sie Lösungen und Therapien verweigern, dennoch wirkmächtige implizite Handlungsanweisungen liefern zu können.

77 | G. Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft, S. 13. 78 | Sander, Helke: 1. Versuch. Die richtigen Fragen zu finden, in: I. Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung, S. 53-57. 79 | Diese losen Enden haben in jüngster Zeit andere DiagnostikerInnen in bestürzender Art wiederaufgenommen und legen dramatisch klingende Gegendiagnosen vor. Sie sehen z.B. aus dezidiert anti-feministischer Perspektive einen »Masterplan für die geschlechtslose Gesellschaft« am Werk und im »Genderismus« ein »Programm mit totalitärem Anspruch« (Günther, Christian/Reichel, Werner [Hg]: Genderismus[s]. Der Masterplan für die geschlechtslose Gesellschaft, Wien 2015), das »hartnäckig jeglichen Unterschied zwischen Mann und Frau wegdiskutieren« wolle (so in dem eine breite kritische Reaktion hervorrufenden Artikel: Weber, Christian: Krampfzone, in: Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2016, S. 37). Ein lohnendes, aber hier leider nicht weiter zu verfolgendes Thema, an dem deutlich wird, dass die Autorität der Diagnosenstellung, das Recht, etwas als Problem zu diagnostizieren und insbesondere die selbst zugeschriebene Fähigkeit, geeignete Therapieschritte einzuleiten, Zukünfte in Hinblick auf gegenwärtige Machtkonstellationen entwirft. Einen Überblick über die ultrarechten Spektrum angesiedelte Szene bietet u.a. die von der Heinrich Böll-Stiftung herausgegebene Handreichung von Frey, Regina u.a.: Gender, Wissenschaftlichkeit und Ideologie. Argumente im Streit um Geschlechterverhältnisse, Berlin 2014.

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III. Soziologische Gegenwartsdiagnostik

Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsdiagnosen und Zeitdiagnosen Über einige Gattungen der soziologischen Theoriebildung* Hubert Knoblauch

1. E inleitung Im Rahmen eines umfangreichen Buches habe ich unlängst selbst eine Gesellschaftsdiagnose verfasst, die ich mit dem Titel der »Kommunikationsgesellschaft« überschrieben habe. In diesem Band geht es jedoch nicht um die Vorstellung dieser oder anderer Diagnosen. Vielmehr soll es darum gehen, solche Diagnosen selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Gerade in der Soziologie kennen wir schon eine Reihe Analysen von »Zeit-, Gegenwarts- oder Gesellschaftsdiagnosen«. Es handelt sich dabei um mehr oder weniger wissenssoziologische Untersuchungen, die »Diagnosen« als kulturelle, diskursive oder kommunikative Phänomene betrachten. Auf diese Analysen möchte ich zurückgreifen. Auch wenn ich mich entschieden der Wissenssoziologie verschrieben habe, möchte ich hier jedoch keine weitere »Metaanalyse« hinzufügen, denn bei der Diagnose handelt es sich nicht nur um eine sozial- und kulturwissenschaftliche Gattung, die wir distanziert beschreiben können. Gerade weil wir selbst es sind, die solche Diagnosen verfassen, müssen wir auch reflektieren, ob und wie diese Gattung wieder ins eigene wissenschaftliche Handeln einfließen kann (und das gilt auch für diejenigen, die diese Gattung rezipieren). Die Reflexion des eigenen wissenschaftlichen Vorgehens soll nicht nur, wie dies in der Wissenschaftsforschung, neuerdings auch der sozialwissenschaftlichen,1 angewendet wird, die »Praktiken« und »kommunikativen Gattungen« offenlegen, mit denen diese Wissenschaft erzeugt, präsentiert und repräsentiert wird. Sie soll auch die Möglichkeit eröffnen, die Wirkungen des eigenen wissenschaftlichen Handelns einordnen zu helfen. Gerade weil die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung die ehemals geisteswissenschaftliche * | Für wichtige Hinweise danke ich Joshua Schröder und René Tuma. 1 | Keller, Reiner/Poferl, Angelika: Soziologische Wissenskulturen zwischen individualisierter Inspiration und prozeduraler Legitimation. Zur Entwicklung qualitativer und interpretativer Sozialforschung in der deutschen und französischen Soziologie seit den 1960er Jahren, in: Forum Qualitative Sozialforschung 17, 2016, Nr. 1, Art. 14 (URL: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0114-fqs1601145 [31.5.2017]).

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Wissenschaftstheorie weitgehend dekonstruiert hat (sieht man von recht wenig an die Wissenschaftspraxis zurückgebundenen sprachanalytischen Ansätzen ab), soll es darum gehen, durch die Analyse der eigenen Vorgehensweise eine Orientierung für das eigene wissenschaftliche Handeln zu geben. Wie erstellen wir Diagnosen, welche Formen zeichnen sie aus, und was tun wir eigentlich, wenn wir eine »Diagnose« erstellen? Diese Anwendung wissenschaftssoziologischer Forschung auf das eigene Handeln möchte ich als reflexive Methodologie bezeichnen.2 Ich rede hier ausdrücklich von Handeln, denn bei aller distanzierten Betrachtung von vermeintlich subjektfreien »Diskursen« (Foucault),3 »Praktiken« (Schatzki) oder »Kommunikationen« (Luhmann) sollten gerade die Forschenden nicht übersehen, in welchem Maße sie selbst handelnd daran beteiligt sind, diese als Phänomene zu erzeugen. Wissenschaft ist auch da, wo sie als »Praxis« beobachtet wird, immer auch ein Handeln, das wir selbst ausführen, und da dieses Handeln kommunikativ ist, lässt es sich auch in seiner Sinnproduktion beobachten. Ich möchte an dieser Stelle nicht erläutern, was wir unter kommunikativem Handeln verstehen wollen und wie wir es auf Wissenschaft beziehen.4 Vielmehr möchte ich hier eine solche Reflexion der wissenschaftlichen Form in Bezug auf die damit verbundenen Handlungen darstellen. Zwar muss ich einräumen, dass ich keine systematische Analyse der Diskursform »Diagnose« durchgeführt habe. Ich kann jedoch auf eine Reihe von anderen durchgeführten Analysen schon bestehender Diagnosen zurückgreifen. Denn Diagnosen sind (ähnlich wie »Epochen« in der Geschichtswissenschaft) mittlerweile selbst Gegenstand wissenschaftlicher Reflexionen, die häufig auch dem Zugang folgen, den ich selbst vertrete, nämlich den der Wissenssoziologie. Dabei wurden bereits die typischen Züge dieser Diskursform oder Gattung herausgestellt. Zwar sind diese Analysen hilfreich, doch lassen sie indessen eine Reihe von Fragen offen: So wurde insbesondere die Rezeptionssituation von Diagnosen nach wie vor kaum untersucht, eine soziolinguistische Stilanalyse fehlt ebenso wie ein internationaler Vergleich, und die Handlungsperspektive, die in der Literaturwissenschaft als Produktionsästhetik bezeichnet wird, bleibt bei vielen dieser Analysen aus den genannten theoretischen Gründen systematisch ausgeblendet, weil zumeist subjektfreie Perspektiven gewählt werden. Wie erwähnt, kann ich keine eigene empirische Studie dazu vorweisen, was eine Diagnose ausmacht. Vielmehr möchte ich einige begriffliche Überlegungen vorstellen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem eigenen Umgang mit dem Konzept der Diagnosen zurückgehen. Diese beruhen einerseits auf einer Vorlesung, die sich systematisch mit Diagnosen und ihrem Verhältnis zur soziologischen Theorie

2 | Knoblauch, Hubert: Soziologie als reflexive Wissenschaft. Relativismus, Sozialkonstruktivismus und die Triangulation, in: Brosziewski, Achim/Maeder, Christoph/Nentwich, Julia (Hg.): Vom Sinn der Soziologie, Wiesbaden 2015; Ders.: Topik und Soziologie, in: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 651-668. 3 | Autor/innen, die lediglich als Beispiele für die entsprechenden Theorierichtungen genannt sind, werden nicht ausführlich zitiert. 4 | Das habe ich in meinem Buch versucht (vgl. Knoblauch, Hubert: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2017); für eine erste wissenschaftstheoretische Begründung vgl. H. Knoblauch: Soziologie als reflexive Wissenschaft.

Gesellschaf tstheorien, Gesellschaf tsdiagnosen und Zeitdiagnosen

beschäftigt. Während diese Vorlesung noch nicht schriftlich veröffentlicht wurde,5 habe ich selbst eine Gesellschaftsdiagnose verfasst, der ich den Titel »Kommunikationsgesellschaft« verliehen habe. Diese Diagnose ist mit einer methodologischen Überlegung zur soziologischen Gegenwartsdiagnose verbunden, die ich andernorts schon begonnen habe, und die ich hier fortführen möchte.6 Im Anschluss an Osrecki, dessen Analyse von Diagnosen ich unten, mit Einbezug einiger weiterer Analysen, kurz skizzieren werde (2.), möchte ich die Zeit- oder Gegenwartsdiagnose im Rahmen einer Bandbreite unterschiedlicher kommunikativer Gattungen der soziologischen Theorie betrachten. Zunächst muss sie von der »soziologischen Theorie« und von der »Sozialtheorie« unterschieden werden, ohne die sie jedoch nicht als soziologische Diagnose wahrgenommen werden könnte (3.). Die Gesellschaftsdiagnose ist dagegen eng verbunden mit dem, was als Gesellschaftstheorie bezeichnet wird (4.). Diese Verbindung erlaubt es uns, sie wiederum von der Gegenwarts- und Zeitdiagnose (5.) zu unterscheiden, die sich nicht nur hinsichtlich ihres Codes, sondern auch ihres Publikums und ihres Stils von ihr abgrenzt. Der Beitrag beschränkt sich weitgehend auf die Betrachtung der soziologischen Diskurse über Diagnosen und blendet historische, philosophische oder andere geisteswissenschaftliche Debatten aus. Deren Unterschiede, aber auch deren Zusammenspiel stellte zweifellos eine wichtige Herausforderung dar, derer sich dieser Beitrag nicht annehmen kann.7 Die vorgeschlagenen Unterscheidungen sind jedoch nur auf die ausdifferenzierten Gattungen der gegenwärtigen Wissenschaftskommunikation anzuwenden. Die Gegenwartsdiagnose wird erst als eigene Gattung erkennbar, wo sie sich von der soziologischen Theorie sowie von der stärker philosophischen Sozialtheorie unterscheidet. Diese Unterscheidung setzt Institutionalisierungsprozesse voraus, die sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts abgespielt haben. Sicherlich lassen sich Formen des Diagnostischen oder der soziologischen Theorie historisch früher finden, doch ist eine solche Archäologie nicht Ziel dieses Beitrags, setzt aber diese Unterscheidungen voraus. Wenn ich hier von Gattungen spreche, sollte genauer gesagt werden, dass wir uns hier auf längere Textsorten beziehen, vor allem Bücher, gegebenenfalls auch Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die kleineren Formen, wie etwa einzelne Abschnitte in Artikeln von Max Weber, Georg Simmel oder Emile Durkheim oder Artikel in gegenwärtigen intellektuellen Publikumszeitschriften, Blog-Einträge und andere Internetformate müssten weitaus differenzierter betrachtet werden. 5 | Ein Dutzend Videovorlesungen finden sich auf der Seite des Soziologiemagazins bzw. auf Youtube (URL: www.soziologiemagazin.de/). 6 | H. Koblauch: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Ursprünglich hatte ich geplant, eine »Autoreflexion« dieser Diagnose vorzustellen, die sich an Bourdieus (Bourdieu, Pierre: Science de la science et réflexivité, Paris 2001) »Auto-socioanalyse« orientiert. Eine solche, allerdings eher an Schütz/Luckmanns Handlungstheorie (Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt II, Frankfurt a.M. 1984) orientierte Analyse der Strategien und Vorgehensweise habe ich zu diesem Zweck auch unternommen, habe aber aus Gründen der Diskretion beschlossen, sie nicht aufzunehmen; dagegen habe ich mich bemüht, die Ergebnisse in diese Analyse eingehen zu lassen. 7 | Die Verbindung von projektiven soziologischen Diagnosen mit der rekonstruktiven Einordnung derselben Abläufe durch die Geschichtswissenschaft in actu stellt in meinen Augen ein wichtiges Desideratum dar.

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Zum methodologischen Status der folgenden Ausführungen muss ohnehin betont werden, dass es sich um heuristische Unterscheidungen handelt, die durch empirische Untersuchungen mindestens verfeinert und qualifiziert, wenn nicht auch revidiert werden müssen. Es handelt sich hier allerdings um eine Unterscheidung, die sich analytisch entschieden (und entschiedener als Osrecki) an dem Konzept der kommunikativen Gattungen orientiert, weil sie sich nicht nur auf die Topik der Diagnosen beschränkt, sondern auch deren institutionelle Einbettung und Rezeption beachtet. Deswegen soll hier nicht allein von der Gattung der Gegenwartsdiagnose gesprochen werden. Zeitdiagnosen, die sich anderen Disziplinen verdanken, sind nicht Teil dieser Betrachtung. Aus soziologischer Perspektive muss sie als Teil einer Gattungsfamilie8 angesehen werden, deren Elemente hier, wie erwähnt, lediglich heuristisch bestimmt werden können.

2. S oziologische D iagnosen Dass »Soziologische Gegenwartsdiagnosen« seit den 1980er Jahren eine große Konjunktur haben, machen verschiedene Kompilationen deutlich.9 Sie behandeln im Deutschen etwa die Risikogesellschaft nach Ulrich Beck, die Multioptionsgesellschaft nach Peter Gross oder die Erlebnisgesellschaft nach Gerhard Schulze oder etwa international die nachindustrielle Gesellschaft nach Daniel Bell, die postmoderne Gesellschaft nach Francois Lyotard, die spätmoderne Gesellschaft nach Anthony Giddens oder die asymmetrische Gesellschaft nach James Coleman. All diese Gesellschaftsdiagnosen sind in der Soziologie verankert, doch finden sich auch in der populären Literatur (wie in Alvin Tofflers »Megatrends«), in der Geschichtswissenschaft10 und natürlich der (Geschichts-)Philosophie (etwa Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«) ebenso breit entwickelte Diagnosen, die unterschiedliche Titel tragen: Zeit-, Gegenwarts-, oder Gesellschaftsdiagnosen. Die unterschiedliche Benennung bot offensichtlich bislang wenig Anlass zur Reflexion. Dennoch hat die Soziologie erfreulicherweise schon eine Reihe von Analysen solcher soziologischer Diagnosen – wie wir sie vorläufig nennen wollen – vorgenommen. So erkannte schon Schimank die »Konturen des Genres« darin, dass diese Diagnosen die gesamte Gesellschaft adressieren (darin sehr ähnlich den von Kneer/Nassehi/Schroer zusammengestellten »Bindestrich-Gesellschaften«11). Als »Lesarten des Heute und Morgen«, zeichnen sie sich außerdem durch einen »spekulativen Überhang«12 aus. In einer Zusammenfassung verschiedener Konzepte (Brosziewski, Eberle, Maeder, Prisching, Reese-Schäfer, Schimank) fasst Gross Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen als auf die Gesamt-, wenn nicht Weltgesellschaft 8 | Vgl. Knoblauch, Hubert: Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte, Berlin/New York 1995, S. 162ff. 9 | Kneer, Georg/Nassehi, Armin/Schroer, Markus (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997; Schimank, Uwe/Volkmann, Ute: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, Opladen 2000. 10 | Doering-Manteuffel, Anselm: Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55, 2007, S. 559-581. 11 | Vgl. G. Kneer/A. Nassehi/M. Schroer (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. 12 | U. Schimank/U. Volkmann: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, S. 15ff.

Gesellschaf tstheorien, Gesellschaf tsdiagnosen und Zeitdiagnosen

bezogene Analysen, »die sich mit der modernen Gesellschaft und ihrer Differenz zur Vormoderne befassen und die prägende Struktur ihrer Dynamik und die Befindlichkeit der Menschen in ihr zu deuten versuchen«.13 Um ihren Kern zu formulieren, bezieht sich Gross auf Hegel und bezeichnet die Gegenwartsdiagnose als »Zeit in Gedanken verfasst«.14 Wie Prisching in seiner Analyse zahlreicher Diagnosen zeigt, spielt die Zeit nicht nur als bloße Verortung, sondern auch für die Bewertung eine tragende Rolle: Mit dem Blick auf eine gute Vergangenheit kündigen sie entweder Abstieg, Verfall und Dekadenz an, erwarten aus einer negativ gedeuteten Gegenwart optimistisch Aufstieg, Fortschritt und Wohlstand, bleiben resignierend (»Stagnation, Stillstand«) oder zuversichtlich (»Reife«) in der Gegenwart.15 Eine wissenssoziologische, sehr gründliche Analyse der Zeitdiagnosen wird von Osrecki vorgelegt.16 Mit Bezug auf eine größere Zahl sehr unterschiedlicher, vorwiegend, aber nicht ausschließlich soziologischer Diagnosen, die von Riesmans »Lonely Crowd« über Becks Risikogesellschaft bis zu Sennetts »Corrosion of Character« reichen, untersucht er die »Zeitdiagnose« als eine besondere »kommunikative Gattung«. Er stützt sich dabei auf das von Luckmann entwickelte Konzept der »kommunikativen Gattungen«, das er jedoch stark funktionalistisch interpretiert. Inhaltlich zeichnen sich diese Zeitdiagnosen in seinen Augen durch besondere Topoi aus, die er nach den Sinndimensionen Luhmanns unterscheidet.17 In der »Sachdimension« zeichnen sich die von ihm untersuchten Zeitdiagnosen dadurch aus, dass die neue Gesellschaft als Negation der alten dargestellt wird, dass ein »neuer Mensch« in Erscheinung trete, dass neue Technologien neue Kulturen erzeugten oder das ein neues Regime eintrete. In der »Zeitdimension« wird die Diagnose durch einen retrospektiven Realismus erzeugt, der die Analysen der bisherigen Gesellschaft als Realität deute. Er ist verbunden mit einem »social forecasting«, also der Hervorhebung des inzipienten Status der Beobachtungen, oder einem Ausblick auf die Folgen für die Lebensführung. Häufig wird Gegenwart als eine krisenhafte Epoche gedeutet. Schließlich zeichnen sich die Zeitdiagnosen in der »Sozialdimension« durch eine Unterscheidung zwischen denen aus, die sie beobachten können, und jenen, die sie nicht beobachten könnten. Sie blieben für viele latent, weil sie nicht über die angemessenen Begriffe zu ihrer Erfassung verfügten oder weil das Neue zu alltäglich geworden sei.

13 | Gross, Peter: Pop-Soziologie? Zeitdiagnostik in der Multioptionsgesellschaft, in: Prisching, Manfred (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesellschaft, Wien 2003, S. 33-64, hier S. 36. 14 | Ebd., S. 40. 15 | Prisching, Manfred: Interpretative Zugänge von Zeitdiagnosen, in: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg.): Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, Wiesbaden 2005. 16 | Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. 17 | Leider übersieht er die gattungstheoretischen Ausarbeitungen des Toposbegriffes (Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert: »Forms are the Food of Faith«: Gattungen als Muster kommunikativen Handelns, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 4, 1994, S. 693-723.) wie auch die damit verbundenen Entwicklungen eines soziologischen Konzeptes der Rhetorik (H. Knoblauch: Topik und Soziologie).

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Die Topoi charakterisieren die Gattung der Zeitdiagnose nach »innen«, doch sie lässt sich auch nach »außen« unterscheiden. Um die Besonderheit dieser Außenstruktur herauszustellen, bietet sich als Kontrastfolie das Genre der »Gesellschaftstheorie« an, wie es etwa von Habermas und Luhmann gepflegt wird. In der Gesellschaftstheorie geht es zeitlich nicht um kurzfristige Änderungen in der Gegenwart, sondern um längerfristige Bewegungen allgemeinerer Merkmale. Als Genre ist die Gesellschaftstheorie erst etwa seit Parsons in der Soziologie (auch als soziologische Theorie) bekannt. Die Gesellschaftstheorie unterscheidet sich von der Zeitdiagnose auch durch einen deutlich höheren Abstraktionsgrad und damit ihre geringere allgemeine Verständlichkeit. So weist Osrecki darauf hin, »dass die Soziologie mit dem Strukturfunktionalismus und elaborierten Methoden der empirischen Sozialforschung eine theoretische Abstraktheit und eine verklausulierte Ausdrucksform angenommen hat, die einem nichtwissenschaftlichen Publikum kaum noch verständlich ist.«18

Weist dies auf ihre akademischen Bezüge hin, so richtet sich die Zeitdiagnose an ein außerhalb des Akademischen liegendes Publikum. Es wird von den Massenmedien selegiert, sodass die entsprechenden Autor/innen damit auch zu »Medien­ intellektuellen« werden, die jedoch entsprechend weniger den akademischen Relevanzkriterien folgen. Zumindest die Selektion der erfolgreichen Diagnosen ist gebunden an ihren Nachrichtenwert für eine interessierte Öffentlichkeit. Es ist deswegen ein Genre der »öffentlichen Deliberation«, das sich entweder als Krisendebatte oder als Schwellendebatte ausprägt. Krisendebatten »bündeln üblicherweise eine Reihe problematischer oder bedrohlicher sozialer und kultureller Entwicklungen, suggerieren eine Verbindung zwischen ihnen, benennen womöglich irgendwelche gemeinsamen strukturellen Ursachen und sagen oft voraus, dass die Dinge sich verschlechtern werden, ehe sich eine Chance der Verbesserung auftun mag.«19

Schwellendebatten dagegen »befassen sich mit der Frage, ob wir uns gerade mitten in oder kurz nach oder vor irgendeiner fundamentalen, epochalen gesellschaftlichen Transformation befinden, ob eine neue historische Phase oder ein neuer Gesellschaftstyp im Entstehen begriffen ist.«20 Osreckis Analyse bietet zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Bestimmung dieser Gattung, doch gerade aus gattungsanalytischer Sicht wirft sie die Frage auf, ob Topoi als Bestimmungselemente einer kommunikativen Gattung ausreichen. Topoi sind sicherlich ein relevantes Merkmal kommunikativer Gattungen, allerdings muss gerade bei massenmedial gedruckten schriftlichen Gattungen ein Blick auf das geworfen werden, was als Außenstruktur kommunikativer Gattungen bezeichnet wird. Osrecki unterscheidet bereits selbst das, was wir als unterschiedliche sprachliche Codes bezeichnen können.21 Codes werden hier nicht im systemtheoretischen Sinne als Kommunikation leitende Unterscheidungen betrachtet, sondern 18 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 291. 19 | Peters, Burkhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 167f. 20 | Ebd., S. 168. 21 | S. Günthner/H. Knoblauch: »Forms are the Food of Faith«.

Gesellschaf tstheorien, Gesellschaf tsdiagnosen und Zeitdiagnosen

im soziolinguistischen Sinne als besondere lexikalische, semantische Repertoires. Osrecki trennt dabei Diagnosen von »soziologischen Theorien«, welche sich durch ein »rein akademisches Analyseschema«22 auszeichnen. Der Begriff »soziologische Theorie« spielt nicht nur auf die theoretische und häufig auch sehr abstrakte Begrifflichkeit hin, für die ja die soziologische Theorie durchaus berüchtigt ist, er weist auch auf die besondere Art der Öffentlichkeit hin, in der diese Kommunikation entfaltet, produziert und rezipiert wird. Da die soziologische Theorie zuweilen auch in Buchform erscheint und damit auf dem öffentlichen Buchmarkt zugänglich ist, kann es durchaus möglich sein, dass sie auch außerhalb der akademischen Öffentlichkeiten (der Universitäten, Forschungseinrichtungen und akademischen Tagungsstätten) thematisiert wird. Sofern sich Diagnosen gegenüber sozialtheoretischen Begriffen durch ihren idiosynkratrischen Sprachgebrauch auszeichnen, ist anzunehmen, dass sie auch andere Öffentlichkeiten adressieren. In der Tat sind Diagnosen für ihre Popularität bekannt: sie wenden sich an eine breitere und zuweilen außerakademische Öffentlichkeit. Diese Orientierung drückt sich auch in ihrem Code aus, der entsprechend weniger fachsprachlich ist und daher auch deutlichere Züge des feuilletonistischen intellektuellen Diskurses trägt. Bedenkt man die Codes wie auch die Kommunikationsräume, in denen Diagnosen kursieren, erscheint deswegen eine differenzierte Unterscheidung angebracht.

3. S oziologische Theorie und S ozialtheorie Weil Osrecki feststellt, dass die »soziologische Theorie« eine Art Negativfolie der Zeitdiagnose darstellt, scheint es sinnvoll, genauer zu klären, was wir darunter zu verstehen haben. Soziologische Theorie bezeichnet ja nicht nur eine kommunikative Gattung, die sich auf dem Buchmarkt soziologischer Lehrbücher international findet; sie bezeichnet auch eine recht gängige Denomination soziologischer Lehrstühle, die sich mehr oder weniger ausschließlich mit »soziologischer Theorie« beschäftigen. Die Gattung selbst dürfte exemplarisch von Talcott Parsons begründet worden sein, der mit seiner »Structure of Social Action« das Vorbild für die zumeist theorievergleichende Darstellung der Lehrgebäude etablierter Soziologen (und seltener: Soziologinnen) schuf, die er bekanntlich in sein eigenes (zunächst handlungstheoretisches) Modell münden ließ.23 Andere bekannte Beispiele aus der deutschen Literatur sind etwa Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« oder Luhmanns »Soziale Systeme«.24 Der Begriff der soziologischen Theorie wird in der jüngeren Zeit häufig mit dem der »Sozialtheorie« verbunden.25 Auch dies geht sehr stark auf die angelsächsische Debatte zurück. So bezeichnet Giddens seine soziologische Theorie der

22 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 74. 23 | Parsons, Talcott: The Structure of Social Action, New York 1937. 24 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981; Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. 25 | Endreß, Martin: Formation und Transformation sozialer Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur phänomenologisch begründeten Soziologie und Sozialtheorie. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, Univ. Tübingen, 2002.

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»Strukturation«26 als Sozialtheorie, und der amerikanische Soziologie Coleman bevorzugt es ebenso, von »Social Theory« zu sprechen. Diese Verschiebung von der ›soziologischen Theorie‹ zur ›Sozialtheorie‹ hat auch einen institutionellen Aspekt, auf den Giddens hinweist, wenn er bemerkt: »Den Hintergrund für dieses Buch bildet eine Reihe von bedeutsamen Entwicklungen, die sich in den letzten fünfzehn Jahren in den Sozialwissenschaften abgespielt haben. In wesentlichen Punkten haben sie sich um die Sozialtheorie [›social theory‹] zentriert und wirken sich auf die am meisten geschmähte und provokativste Disziplin aus: die Soziologie.« 27

Steht die Ausbildung der »soziologischen Theorie« in einem engen Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Soziologie und darin eben auch der »reinen Theorie«, so findet die später zunehmende Präferenz der »Sozialtheorie« vor der »soziologischen Theorie« ihren institutionellen Grund in der zunehmenden Differenzierung der Sozialwissenschaften und der Tendenz zur Dezentrierung der Soziologie. Diese Dezentrierung der Soziologie wird bei Giddens und Coleman deutlich, die mit ihrer Weigerung, das »Soziologische« ihrer Theorie zu betonen, dem damaligen politischen Trend folgen: den politischen Abwertungen der Soziologie durch die amerikanische Regierung unter Reagan und vor allem durch die Premierministerin Thatcher, für die es bekanntlich »no such thing as society« gab. Neben dieser zunächst im angelsächsischen Sprachraum ablaufenden Dezentrierung (die durch schiere sprachliche Übersetzungen auch ins deutsche und französische Wissenschaftssystem und -selbstverständnis eingesickert ist) spielt aber auch die Abkopplung einer ganzen Reihe von sozialwissenschaftlichen Disziplinen von der Soziologie und ihre Verselbständigung eine Rolle. Sieht man von klassischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie der sozialwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Ethnologie ab, so erheben auch die sich von der Publizistik emanzipierende Kommunikationswissenschaft, die immer häufiger sozialwissenschaftlich argumentierende Medienwissenschaft, sowie die durch die STS soziologisierte Wissenschaftstheorie und -forschung immer häufiger allgemeine theoretische Ansprüche. Diese Ansprüche beschränken sich nicht auf die Sozialwissenschaften; vielmehr führt die Entgrenzung zu den »Kulturwissenschaften« dazu, dass auch in den einstigen Geisteswissenschaften zunehmend Ansprüche auf »Sozialtheorien« gestellt werden. Das Interesse an »Sozialtheorie« findet sich auch in verschiedenen transdisziplinären Zusammenhängen, wie in der Geschlechterforschung, den Regionalwissenschaften oder der Nachhaltigkeitsforschung. Die damit verbundene Ausbreitung der Relevanz von Sozialtheorie hat keineswegs zu einer Schärfung dessen beigetragen, was man unter dem Sozialen versteht, das diese Theorien behandeln. Aufgrund dieser Unschärfe werden selbst auf der Ebene einführender Lehrbücher mit dem Begriff »social theory« auch Theorien verhandelt, die das Soziale gar nicht explizit thematisieren, sondern als Kulturtheo-

26 | Giddens, Anthony: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984 (urspr. 1981). 27 | Giddens, Anthony: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London 1979, S. xiii.

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rien bezeichnet werden müssen.28 Dies führt dazu, dass der Begriff der Sozialtheorie damit den Anspruch auf eine Geltung sowohl in den Sozial- und der Kulturwissenschaften erhebt und zum Grundbegriff der »Humanities« wird. Die Kritik an einem vermeintlich »fundamentalistischen« Anspruch der Theorie und die enorme Ausweitung neuer empirischer Methodologien hat auch zu einer Vermischung zwischen Theorie und Empirie, einer »theoretischen Empirie«29 und einer empirischen (bzw. empirisch begründeten) Theorie geführt, die diese Unschärfe noch vergrößert hat.30 Blickt man auch über die häufig methodologisch und theoretisch wenig informierten Begriffsverwendungen von »Sozialtheorie« hinweg, kann man deren Konjunktur aber eben mit der Ausweitung dessen, was einst sozialphilosophische und soziologische Theoriebildung war, auf die (eben nicht besonders gut miteinander koordinierten) Diskurse der sich ausdifferenzierenden Sozialwissenschaften erklären. Auch wenn das damit verbundene Anliegen selten von den betroffenen Autor/innen ausgedrückt wird, so kann man in der Ausbildung eines interdisziplinären »sozialtheoretischen Diskurses« und entsprechender Gattungen eine Antwort auf ein durchaus relevantes soziales und kommunikatives Problem sehen: Der Verständigung über den Gegenstand der verschiedenen Sozialwissenschaften (die allerdings außerordentlich wenig Schnittstellen findet).31 Gerade wegen der genannten Unschärfen erscheint es uns wichtig, mit dem Begriff der Sozialtheorie eine Gattungsunterscheidung hervorzuheben, die zwei Aspekte der ursprünglichen »soziologischen Theorie« voneinander trennt. Denn die Sozialtheorie bezeichnet dort, wo das Konzept der soziologischen Theorie bekannt ist, ein besonderes, eben von der soziologischen Theorie unterschiedenes Analyseschema: Es geht um »eine der allgemeinen Soziologie ihrerseits noch vorgeordnete Reflexionsebene, der es – mit dem Ziel der Konturierung einer soziologischen Perspektive – um die prinzipielle Klärung des Phänomenzugangs, der leitenden Vorstellung der Grundprozesse sozialer Wirklichkeit und der grundbegrifflichen Weichenstellungen«32 zu tun ist. Das Begriffsschema der Sozialtheorie lässt sich auch in Textform durchaus gut beobachten, zieht man die verschiedenen Textbücher zu den »Grundbegriffen der Soziologie« heran. Es geht hier um solche Kategorien wie »soziales Handeln«, »Intersubjektivität« oder »Kommunikation«, die zwar auch in soziologischen Lexika enthalten sind, durch den Verweis auf die »Grundbegrifflichkeit« aber darauf hinweisen, dass sie eben eine »tiefere« oder auch »fundamen-

28 | Elliot, Anthony: Comtemporary Social Theory. An Introduction, London/New York 2009. 29 | Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008. 30 | Es ist durchaus möglich, empirische Daten zu betrachten und diese theoretischen Konzepten zuzuordnen; diese Verfahrensweise wird vom »postqualitativen Theorismus« als abduktive Exploration des Datenmaterials eingesetzt, der vor allem Konzepte der poststrukturalistischen Theorierichtungen auf die Daten anwendet; vgl. Keller, Reiner: Zukünfte der qualitativen Sozialforschung, in: Forum Qualitative Sozialforschung 15, 2014, Nr. 1, Art. 16 (URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1401165 [31.5.2017]). Die zunehmende Ausbreitung des Begriffes »Theorizing« macht ebenso darauf aufmerksam. 31 | Weil auch die »Kulturtheorien« diese Rolle über die Grenze der Sozial- und Kulturwissenschaften hinwegspielen, ist eine Debatte über ihr Verhältnis überfällig. 32 | M. Endreß: Formation und Transformation sozialer Wirklichkeit, S. 48.

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talere« Ebene bezeichnen als andere Kategorien der Soziologie.33 Der grundlegende Charakter dieser Begrifflichkeit hängt einmal damit zusammen, dass sie einen breiten Überschneidungsbereich mit der Philosophie und der Sozialphilosophie aufweist. Zwar muss man bemerken, dass insbesondere die gegenwärtige Sozialphilosophie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erstaunlich wenig Bezug auf die aktuelle Sozialtheorie und noch weniger auf ihre empirischen Anwendungen nimmt,34 doch verweist wenigstens die Sozialtheorie ihrerseits üblicherweise auf ihre »philosophischen« Wurzeln – von der Kantischen Theorie bei Durkheim, Weber und Bourdieu über die Phänomenologie bei Berger und Luckmann bis zu den logischen Theorien von Spencer Brown bei Luhmann. Der Eindruck einer philosophischen Fundierung, der etwa in der phänomenologisch orientierten Soziologie ausdrücklich formuliert und reflektiert wird, unterstreicht das Selbstverständnis eines historischen »Abstammungszusammenhanges« der Soziologie von der Philosophie und weist auf ein hierarchisches Verständnis der sozialwissenschaftlichen Wissensordnung hin, die der philosophia perennis einen basalen Status verleiht. Die Sozialtheorie adressiert das, was wir mit unseren wissenschaftlichen Begriffen beschreiben, analysieren und erklären wollen. Die Sozialtheorie erklärt allerdings nicht das Spezifische des jeweiligen Sozialen, also die besonderen historischen Ausprägungen bestimmter Gesellschaften und ihrer Teile. Sie zielt auf Bestimmungen des Gegenstands in einer Allgemeinheit, der von verschiedenen Disziplinen (Soziologie, Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft sowie Medien- und Literaturwissenschaft) auf ihre je eigene Weise spezifiziert wird. Mit den Grundbegriffen verfügt sie, jedenfalls sofern sie institutionell oder zumindest von legitimierten Verlagen anerkannt ist – nicht nur über einen eigenen Code: Weil diese »Grundbegriffe« in kanonischen Lehrtexten versammelt, in Einführungsveranstaltungen gelehrt und geprüft werden, sind diese Codes sogar institutionell konventionalisiert. Das weist auch darauf hin, dass diese Sozialtheorie eine eigene, weitgehend akademisch institutionalisierte Öffentlichkeit kennt, die sich stark innerhalb von Hochschulen und Forschungseinrichtungen bewegt. Auch wenn dem sozialtheoretischen Diskurs regelmäßig eine sprachliche Hermetik vorgeworfen wird (also eben ein eigener fachsprachlicher Code), sind diese Grenzen keineswegs scharf gezogen: Wie etwa Berger und Luckmanns »Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit«35 zeigt, finden diese fachsprachlichen Diskurse eine interdisziplinäre Aufnahme in weit entfernten Disziplinen, wie etwa in den Natur- und Ingenieurswissenschaften;36 theoretische Traktate etwa von Habermas werden auch bis weit in die »gebildete« Öffentlichkeit hinein gelesen,37 und die transdisziplinäre 33 | Dieser »Fundamentalismus« wird zwar heute angegriffen, doch verwenden die Kritiker selbst Begriffe mit einem entsprechend allgemeinen Anspruch, wie schon Foucault etwa mit dem Begriff »Episteme«. 34 | Bedorf, Thomas: Andere: Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld 2011. 35 | Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1970. 36 | Knoblauch, Hubert/Wilke, René: The Common Denominator. The Reception and Impact of Berger and Luckmann’s The Social Construction of Reality, in: Human Studies 39, 2016, S. 51-69. 37 | Müller-Doohm, Stefan: Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014.

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Verbreitung von Luhmanns durchaus abstrakten Texten reicht bis in künstlerische, kreative und subkulturelle Milieus.

4. G esellschaf tstheorie und G esellschaf tsdiagnose Die Ausbildung einer inter- und transdisziplinären sozialtheoretischen Öffentlichkeit führt zu einer gewissen Abgrenzung von dem, was – eben neben der Grundbegrifflichkeit – genauso lange ein Thema der soziologischen Theorie war und natürlich immer noch ist: Es sind die spezifischen Fragen nach der Eigenart der »Gesellschaft«. Blickt man auf die Geschichte der soziologischen Theorie, sollte man genauer sagen, dass es dabei großteils um die Frage nach der modernen Gesellschaft ging. Die Merkmale dieser modernen Gesellschaft sind sehr unterschiedlich: sie reichen von der Betonung der Rolle der (positiven) Wissenschaften bei Comte über die industrielle Arbeitsteilung zwischen Arbeitern und Kapitalisten bei Marx, der funktionalen (»organischen«) Differenzierung bei Durkheim oder der besonderen Rationalisierung bei Weber bis zur Formalisierung sozialer Beziehungen bei Simmel. Zur Bestimmung der modernen Gesellschaften suchten die Klassiker auch den äußeren Vergleich: In der deutschen historistischen Tradition bestand er eher in der diachronen Abgrenzung gegen historisch frühere Formen (Simmel, Weber – dessen globale Vergleiche ebenso auf historischen Daten beruhten) oder, in der stärker ethnologischen französischen Tradition der synchrone Vergleich mit gegenwärtigen »anderen« Gesellschaften, wie bei Durkheim, Mauss und Levi-Strauss. Die scharfe Kritik am darin implizierten Historismus (der sozialen Phänomenen eine notwendige Resilienz zuschreibt) und dem Evolutionismus (der eine innere Gesetzmäßigkeit der differenzierenden Entwicklung unterstellt) wurde insbesondere durch die Modernisierungsthese noch verstärkt. Sie unterstellt eine allgemeine Tendenz aller Gesellschaften in die Richtung, die westliche Gesellschaften auszeichnen. Im Zuge der Globalisierungsdebatte wurde dann der problematische Ethnozentrismus dieser modernisierungstheoretischen Vorstellungen angegriffen. Zwar gehen etwa neoinstitutionalistische Globalisierungstheorien davon aus, dass das westliche Modell (des Staates, der Bildung, der Wissenschaft etc.) sozusagen in die anderen Gesellschaften hineinkopiert (und dadurch durchaus auch adaptiert und »glokalisiert«) werden könne; dagegen betont Eisenstadt die Möglichkeit verschiedener Modernisierungspfade, wie sie auch durch den Erfolg und die Eigenheit der japanischen und der chinesischen Moderne bestätigt wurde. Weil die postkoloniale Kritik die massiven Einflüsse nichtwestlicher Kulturen auf die westliche Modernisierung unterstreicht, wurde der soziologischen Betrachtungsweise insgesamt der Vorwurf des »methodologischen Nationalismus« gemacht.38 Damit ist die Frage nach der Grenze des Gesellschaftsbegriffes selbst in Frage gestellt worden: können wir im Zuge der Globalisierung von einer begrenzten Einheit ausgehen, die als Gesellschaft bezeichnet werden kann? Machen Gesellschaften Halt an ihren nationalen Grenzen? Weil und sofern die moderne Gesellschaft als kulturelle Entwicklung verstanden wurde, stellte sich

38 | Beck, Ulrich/Grande, Edgar: Jenseits des methodologischen Nationalismus, in: Soziale Welt 61, 2010, S. 187-216.

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zudem die Frage nach den zeitlichen Grenzen der westlichen Moderne:39 Handelt es sich dabei überhaupt um eine ausgrenzbare Epoche, und beschränkt sich diese Epochalisierung nicht ohnehin auf die westlichen Gesellschaften, die mit der Globalisierung schlussendlich in die Postmoderne überführt werden? Dass die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen den Gesellschaftsbegriff jedoch nicht ersetzt, hat schon Luhmann früh mit seinem häufig als »Diagnose« missverstandenen gesellschaftstheoretischen Konzept der Weltgesellschaft deutlich gemacht: Die funktionalen Kommunikationssysteme tendieren von sich aus über die nationalen Grenzen hinaus (und das gilt nicht nur für sie, stellen doch auch Grenzen Formen der Kommunikation dar).40 Gesellschaften müssen also keineswegs durch ihre Grenzen bestimmt werden, sondern durch ihre konstitutiven Elemente. (Hierin liegt auch der Vorteil gegenüber dem Begriff der Kultur, der sich in einer unübersichtlichen Vieldeutigkeit nicht nur wissenschaftlicher Definitionen verliert.) Es ist beachtenswert, dass sich die Bestimmung dieser Elemente zwar auf die Grundbegriffe bezieht, ihrerseits aber entschieden empirische Züge ausweist. Exemplarisch kann man das an Webers Klassifikationen sehen, der grundbegrifflich von »Sinn«, »Handeln« (das in reiner Form empirisch vermutlich nie auftritt) und sozialem Handeln redet, dann aber sehr spezifische gesellschaftliche Einheiten nennt, wie etwa Verbände, Betriebe oder ethnische Gruppen.41 Der Begriff der »Gesellschaft« bezieht sich folglich auf empirische und entsprechend vielfältige Ausprägungen, Formen und Strukturen des Sozialen. Diese Einheiten können abgeschlossen sein, wie etwa Vereine, sie können aber auch komplexe Verbindungen aufweisen, wie etwa Verwandtschaftssysteme oder Netzwerke. Entsprechend kann nun auch die Gesellschaftstheorie als »Theorie einer konkreten historischen Großformation«42 verstanden werden. Wir sollten ergänzen, dass sich die Gesellschaftstheorie auf sehr unterschiedliche »Größenordnungen« bezieht, die von der globalen Weltgesellschaft jenseits des »methodologischen Nationalismus« bis hin zu dauerhaft zusammen lebenden Menschenhorden von 40 bis 50 Personen reichen können,43 wobei die Größe dieser Formation typischerweise von »mikro-« über »meso-« bis zu »makrosozialen« Einheiten reichen kann.44 Während Sozialtheorie das Soziale begrifflich auf eine allgemeine, abstrakte und empirisch unspezifische Weise bezeichnet und gegen die Gegenstände anderer Wissenschaften abgrenzt (etwa der Gegenstände des Psychischen oder des Physischen), dienen die Kategorien der Gesellschaftstheorie also dazu, empirische Formationen des Sozialen zu bestimmen sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften beobachten zu können. Dabei handelt es sich übrigens keineswegs nur um empirische Einheiten, die die Gesellschaft 39 | Etwa bei Bauman, Zygmunt: Globalization. The Human Consequences, New York 1998. 40 | Löw, Martina/Weidenhaus, Gunter: Borders that Relate. Conceptualising boundaries in relational space, in: Current Sociology 65, 2017, S. 553-570. 41 | Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968. 42 | Lindemann, Gesa: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009, S. 33. 43 | Turnbull, Colin M.: The Forest People, New York 1961. 44 | Dem Vorschlag von Joas und Knöbl (Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2004) folgend, erscheint es deswegen gerade für die Soziologie sinnvoll, Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie zu unterscheiden. Allerdings ist ihre Auffassung der »Gesellschaftstheorie« als eine »linke Theorie« zu einseitig.

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(etwa durch das Rechtssystem, die Ökonomie oder die Politik) selbst benennt und legitimiert, wie »Personen«, »Familien« oder Körperschaften, sondern auch um analytische Einheiten, die aus der Sozialtheorie abgeleitet werden (wie »Kommunikationsgemeinschaften« oder »Milieus«). Teile der Gesellschaftstheorie bestehen deswegen aus »middle range theories«, bei denen die Forschenden ihre Aufmerksamkeit auf besondere Aspekte der Gesellschaft lenken, wie etwa die Rolle des Wissens oder der Interaktion. Dazu gehören aber auch besondere Bereiche, Felder oder Systeme, die den Handelnden oder den Forschenden als mehr oder weniger deutlich abgegrenzt erscheinen, wie etwa Klans, Altersklassen, Kasten, Klassen oder Organisationen. Auf diese Weise kann man die soziologischen Analysen der modernen Gesellschaft, wenn sie beispielsweise die Ausbildung rationaler Herrschaftsorganisationen oder die Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung behandeln, als Gesellschaftstheorie verstehen. Auch die Herstellung, Ausbreitung und Adaption künstlerischer oder industrieller Praktiken, die Struktur und Vermittlung von Wissen oder die Ordnung sozialer Räume (die etwa die Frage einschließt, ob und wie die (räumlichen) Grenzen von Gesellschaften ausfallen) sind Beispiele solcher empirisch zu bestimmender Gesellschaften. Angesichts der Vielfalt sozialtheoretisch begründeter analytischer Perspektiven sind die Unterschiede in der Auffassung gesellschaftlicher Strukturen durchaus verständlich. Ob wir soziale Unterschiede durch Klassen oder Individuen erklären, hängt von der Perspektive ab, hier etwa von einer marxistischen oder einer (neo-) liberalen handlungstheoretischen. Allerdings sind die Perspektiven keineswegs beliebig: So müssen sich die sozialtheoretischen Begriffe durch ihre analytische Konsistenz, ihre theoretische Kohärenz (die, wie im Falle der Dialektik oder der Systemtheorie, keineswegs der binären Wahrheitslogik folgen muss) und schließlich ihrer Anschließbarkeit an empirische Forschung bewähren.45 Das bedeutet nicht nur, dass sie sich in Methoden übersetzen lassen (also als Theorien auch empirische Forschung »leiten« können oder sich »operationalisieren lassen«); darin impliziert ist, dass sie eine wie immer geartete Verbindung zur Theorie empirischer Gesellschaften (und damit auch zur empirischen Sozialforschung) herstellen müssen.46 Die soziologische Gesellschaftstheorie ist von Anfang an mit der Theorie der modernen Gesellschaft verbunden (und zwar auch in asiatischen, südamerikanischen oder afrikanischen Soziologiediskursen, wenngleich diese entschieden häufiger postkolonial orientiert sind) und steht daher grundsätzlich in einer zeitlichen 45 | Sofern die soziologischen Theorien sich auch in einem kritischen Interdiskurs befinden (der zum Teil historisch, zum Teil theorievergleichend, zum Teil sogar empirisch geführt wird), scheint mir die Bezeichnung multiparadigmatisch irreführend, zumal die verschiedenen Theoriesprachen offenbar eine Verständigung zwischen ihnen ermöglichen. Zudem beziehen sie sich auf ähnliche oder zumindest komplementäre Probleme. 46 | Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft ist die Soziologie auf jeder Stufe immer auch mit der Perspektive der Akteure konfrontiert, über die sie forscht. Diese Perspektive kann durch »objektivistische« Annahmen übergangen werden, durch hermeneutische Ansätze aber wird sie auf eine Weise aufgenommen, die einen systematischen Unterschied zur Geschichtswissenschaft erzeugt; lediglich mit Blick auf die Zeitgeschichte ergeben sich hier interessante Überschneidungen, die, soweit ich sehe, methodologisch bislang noch wenig genutzt wurden.

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Vergleichsperspektive: Die soziologischen Analysen der modernen Gesellschaft bieten eine (allerdings auch hier: durchaus in sehr verschiedenen Versionen formulierte) Matrix für die Frage nach den Veränderungen der Gesellschaft. Aus diesem Grund nehmen Theorien der gegenwärtigen Gesellschaft immer auch Züge von Gesellschaftsdiagnosen an. Bleibt die Gesellschaftstheorie allgemein vergleichend, so blickt die Gesellschaftsdiagnose auf die sehr konkreten Phänomene der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Sie versucht, die Besonderheiten des jeweils aktuellen Zustandes oder Prozesses herauszustellen, die die Gesellschaft gegenüber früheren Gesellschaften oder, falls und so weit die Unterscheidung noch möglich ist und trägt, gegenüber anderen (etwa nationalen) Gesellschaften abgrenzt. Dabei muss es sich keineswegs um kategorische Differenzen handeln, es kann auch um bloße Zu- oder Abnahmen gehen (wie etwa bei Bells Diagnose der Postindustrialisierung, die mit der graduellen Abnahme der Industriearbeiterschaft und der Zunahmen wissenschaftlich gebildeter Arbeitskräfte argumentierte). Die Gesellschaftsdiagnose kann natürlich auch den Mangel an Veränderung beobachten, der sich etwa in der Resilienz wirtschaftlicher Strukturen, in der Pfadabhängigkeit von vermeintlichen »Innovationen« oder der Konstanz von Habitusformationen ausdrücken kann. Zwar ist die Bewertung der »Veränderungen« bzw. des sozialen Wandels stark von der theoretischen Perspektive abhängig (so kann etwa die fortschreitende institutionelle Spezialisierung in der medizinischen Betreuung als Bestätigung für die Konstanz des Differenzierungsmodells angesehen werden), doch erscheint die zeitliche Perspektive des Wandels als eine so bedeutende Dimension, dass die Gesellschaftstheorie, zumindest in dieser zeitlich vergleichenden Hinsicht, immer auch Gesellschaftsdiagnose ist.

5. G esellschaf tsdiagnose und G egenwarts - oder  Z eitdiagnose Vor dem Hintergrund dieser Überschneidungen der Gesellschaftstheorie mit der Gesellschaftsdiagnose gibt es gute Gründe, zwischen mindestens zwei Arten von Diagnosen zu unterscheiden, nämlich zwischen der Gesellschafts- und der Zeitdiagnose. Denn auch wenn Gesellschaftstheorien immer eine zeitliche Dimension haben, so richtet sich die Analyse wesentlich auf die gegenwärtige Gesellschaft und nicht zuerst und nicht vor allem in die Zukunft. Die gegenwärtige Gesellschaft wird vor dem Hintergrund von Theorien und empirischen Daten lediglich »gemessen«, »beobachtet« und »interpretiert«. Gesellschaftstheorien beziehen sich notgedrungen auf die Gesellschaft im Imperfekt: eine Gesellschaft, wie sie zur Zeit der Erhebung oder der Analyse vorlag. (Dies kann sich auch auf die zu diesem vergangenen Zeitpunkt vorherrschenden Zukunftsvorstellungen beziehen.) Diagnosen beziehen sich hingegen immer auf die gerade (ab-)laufenden Prozesse, sozusagen den Übergang vom Perfekt in das Gerundium. Gerade weil es Diagnosen nicht nur um einzelne empirische Tendenzen geht, sondern um umfassendere Phänomene, ist es verständlich, dass sie sich in ihrer Generalisierung, Allgemeinheit oder auch Modellhaftigkeit an ihren Vorlagen orientieren (»Moderne«, »Industriegesellschaft«, »moderne Kleinfamilie«). Dabei kann man beim Vergleich ihrer Inhalte auf Ähnlichkeiten und fließende Übergänge achten, doch erscheint es für

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eine Diagnose durchaus auch statthaft, pointiert nur die Aspekte zu fokussieren, die am erkennbarsten einer Veränderung unterliegen. Im Unterschied zur Zeitdiagnose bleibt nun, erstens, das besondere Kennzeichen der Gesellschaftsdiagnose, dass sie sich nicht auf die Zukunft richtet, sondern systematisch und empirisch der Gegenwart verhaftet bleibt. Sie eruiert zwar Tendenzen, doch handelt es sich dabei um solche, die sich aus dem zeitlichen Vergleich gegenwärtiger zu vergangenen Prozessen und entsprechenden Daten ergeben. Das gilt zwar auch für Zeitdiagnosen, doch zeichnen sich diese durch eine eher schlichte Orientierung am empirischen Stand der Forschung aus. Im Unterschied dazu ist Gesellschaftsdiagnose, zweitens, durch ihre konsequente Anbindung an die empirische Forschung charakterisiert: Sie geht empirischen Hinweisen auf die diagnostizierten Veränderungen nach und verbindet diese Hinweise, Belege und Evidenzen, sofern sie nicht ausreichend bisherigen Verallgemeinerungen, Modellen und Theorien widersprechen oder entsprechen, mit geeigneten Hypothesen. Hypothesen sollten hier nicht nur als Teile von deduktiven Theoriebildungsmodellen verstanden werden, sondern auch im Sinne induktiver oder abduktiver Verfahren, wie etwa in der empirisch begründeten Theorie üblich sind.47 Der entscheidende Unterschied zu Zeitdiagnosen besteht darin, dass es dabei nicht nur um Deutungsmöglichkeiten oder Lesarten geht, die diskursiv ausgehandelt werden, sondern um Hypothesen, für die empirisch (d.h. an Daten festgemachte) und methodologisch (d.h. als Verfahren beschreibbare) angebbare (graduelle, bedingte oder anders begrenzte) Hinweise existieren, wann sie als begründet und wann als unbegründet angesehen werden können. Die Gesellschaftsdiagnose ist daher nicht nur ein empirisches Forschungsprogramm, sondern behandelt auch methodologische Fragen. Dieser empirische Charakter sorgt dafür, dass Gesellschaftsdiagnosen im Prinzip nicht einfach beliebige »Deutungsangebote« sind, wie es die postmoderne Wissenschaftstheorie etwa Baumans behauptet.48 Ein dritter Unterschied zu Zeitdiagnosen besteht in der Eigenheit von Gesellschaftsdiagnosen, einen systematischen Bezug auf Gesellschaftstheorien herzustellen. Auch wenn man eine Pluralität solcher Theorien einräumen muss, so bietet der spezifische Bezug auf Gesellschaftsmodelle, -theorien und -teiltheorien zweifelsfrei eine begrifflich-theoretische Vergleichsmöglichkeit. Wie etwa die Debatten um die einst vergessene Geschichte der Globalisierung in der Neuzeit, die übersehene religiöse Geschichte der vermeintlich »säkularisierten Moderne« oder um die anderen Modernen zeigen, erlaubt diese begriffliche Konsistenz, dass die Vergleichsgröße selbst zum Gegenstand der fachlichen Diskussion werden kann. Diese relationale Eigenschaft der Wissensproduktion erschwert das Geschäft der

47 | Przyborski, Anne/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 2008. 48 | Dass Gesellschaftsdiagnosen einer doppelten Hermeneutik unterworfen werden, wenn sie in den außerwissenschaftlichen Diskurs eingespeist werden, ist ein Schicksal, das sie nicht nur mit den Zeitdiagnosen, sondern mit allen Formen der »öffentlichen Wissenschaft« teilen und das ihren empirischen Charakter nicht einschränken muss, wenn sie sich in ihrer empirischen und systematischen Ausrichtung nicht von den Publizitäts- und Aufmerksamkeitskriterien und den Begrifflichkeiten des intellektuellen Diskurses ablenken lässt, die für sich natürlich einen eigenen Wert besitzen.

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Wissenschaft zwar grundsätzlich, doch sollte sie nicht als vollständige Relativierung missverstanden werden.49 Auch die Zeitdiagnose beruht auf Evidenzen, Hinweisen und Belegen, doch werden diese zum einen nicht methodisch und methodologisch reflektiert; zum anderen sind auch die Bezüge auf theoretische Modelle in der Regel nicht an der systematischen Gesellschaftstheorie orientiert, sondern an intellektuellen Diskursen in der Öffentlichkeit. Schon weil sie sich in der Regel auf selektive Datenbildung, »Eindrücke« und Plausibilisierung berufen, zeichnen sich Zeitdiagnosen, viertens, durch eine methodologisch nicht reflektierte Überzeichnung aus. Ihre Betonung besonderer Aspekte dient nicht einer fokussierten Hypothesenbildung, sondern der Skizzierung eines Gesamtmodells. Zeitdiagnosen weisen deswegen gewissermaßen einen karikativen Charakter auf: Ähnlich einer Karikatur überzeichnen sie bestimmte Aspekte und heben sie hyperbolisch hervor. Das besondere Merkmal der Zeitdiagnose besteht, fünftens, darin, dass sie diesen karikativen Zug in die Zukunft entwirft und damit auch einen Handlungsrahmen bereitstellt. Aus dem überzogenen Merkmal wird eine prognostizierte zukünftige Gesellschaft. Diese Karikatur der Zukunft erklärt den typischen »utopischen« oder »dystopischen« Charakter der Zeitdiagnosen. Aus ihrem in dieser Form beanspruchten Zukunftsbezug aber leitet sich sogleich auch ihr Handlungscharakter ab, sind doch Handlungen (jedenfalls in westlichen Gesellschaften) durch ihren Zukunftsbezug charakterisiert.50 Die Handlungsorientierung dürfte zumeist außerwissenschaftlich-angewandt sein, während Gesellschaftsdiagnosen einen innerwissenschaftlichen forscherischen Handlungsappell beinhalten. Vor dem Hintergrund dieser Handlungsorientierung verleiht die entweder utopische oder dystopische Tendenz der Überzeichnung der Zeitdiagnose schließlich einen entsprechend positiv oder negativ besetzten moralischen Charakter: Was vorhergesehen wird, ist entweder besonders anstrebenswert (»Wissensgesellschaft«) oder ablehnenswert (»Kontrollgesellschaft«). Die karikativen Züge, die Entkoppelung von der empirischen Methodologie und von der systematischen wissenschaftlichen Theorienbildung sind vermutlich mit dem höheren Grad an Popularität von Zeitdiagnosen verknüpft. Diese Popularität verdankt sich der so erzeugten höheren Verständlichkeit. Schon die Entkoppelung von der Theorie erlaubt eine Änderung des Stils und des sprachlichen Codes. Diese Änderung muss keineswegs kategorisch sein, denn Zeitdiagnosen bewegen sich üblicherweise nicht in einem von der Wissenschaft abgetrennten Diskurs. Die Annahme, dass Wissenschaft und Öffentlichkeit kategorisch getrennt oder durch »Wissenstransfer« verbunden seien, unterstellt dass beide grundsätzlich und substantiell getrennt sind – eine Unterstellung, die ebenso ernsthaft geprüft werden sollte wie die schon von der frühen STS kritisierte Unterscheidung zwischen wis49 | Es steht außer Frage, dass auch relativ simple und keineswegs nur wissenschaftliche formulierte Deutungsmuster (Fortschritt, Aufstieg, Abstieg) in die Diagnosen eingehen können (M. Prisching: Interpretative Zugänge von Zeitdiagnosen), die jedoch von einer wissenssoziologisch informierten Methodologie reflektiert werden sollten (H. Knoblauch: Soziologie als reflexive Wissenschaft). 50 | Schütz, Alfred: Teiresias oder unser Wissen von zukünftigen Ereignissen (1959), in: Endreß, Martin/Srubar, Ilja (Hg.): Alfred Schütz Werkausgabe Band V.1: Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 349-371.

Gesellschaf tstheorien, Gesellschaf tsdiagnosen und Zeitdiagnosen

senschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Wissen und zwischen Wissensund Wissenschaftssoziologie.51 Insbesondere der Intellektuellendiskurs nimmt Konzepte aus der Wissenschaft auf, wie dies ja auch gerade in der Zeitdiagnose auch andersherum erfolgt. Es geht bei dieser Durchdringung indes nicht nur um starre Konzepte, sondern auch um andere Formen, die gerne als feuilletonistisch bezeichnet werden. Dazu gehören etwa für ein »breiteres« Publikum geschriebene Bücher, aber auch Interviews im Rundfunk und Zeitungsartikel, die sich aber zugleich hinsichtlich ihres Codes deutlich vom akademischen Diskurs unterscheiden, zwischenzeitlich natürlich auch Blogs, Facebook-Einträge und Tweets. Dass der akademische Diskurs selbst schon populäre Formen adaptiert hat, wie etwa den Science Slam, verkompliziert dieses Verhältnis zusätzlich. Für die Zeitdiagnose aber erscheint doch wesentlich, dass ihre differente Form auf eine differente, eben auch nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit zielt (die jedoch auch wieder von anderen Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen aufgenommen werden – was wiederum in der eigenen Disziplin mindestens Anerkennung bringt). Diese Öffentlichkeit ist digital wenig, aber auch auf dem Buchmarkt relativ unklar geordnet (in Gestalt besonderer Reihen – etwa bei Suhrkamp, bei Campus oder auch Springer). Sie zeigt sich deutlicher auf dem deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, etwa in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der ZEIT. Zeitdiagnosen finden damit eine eigene Öffentlichkeit, die allerdings keineswegs scharf abgegrenzt ist – weder in Richtung der Wissenschaft, die in diesen Medien verhandelt wird, noch in Richtung auf andere Publika, die von ihnen ebenso bedient werden. Auch wenn diese zur Wissenschaft vermittelnde Öffentlichkeit empirisch leider noch immer nicht ausreichend untersucht wurde,52 so ist doch deutlich, dass sie sich vom gesellschaftstheoretischen und noch mehr vom empirisch-methodologischen Diskurs unterscheidet. Dieser Unterschied ist auch entscheidend für die Verschiedenheit der Anerkennung. Wenn Gross bemerkt, dass »eine Steigerung der außerprofessionellen Bedeutung häufig mit einem Schwinden der innerprofessionellen«53 einhergeht, dann muss es sich keineswegs um ein geschlossenes Feld handeln.54 Es ist, wie im Falle von Ulrich Beck, durchaus auch möglich, außerwissenschaftlich sehr breit rezipiert zu werden und, etwa in Gestalt eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Sonderforschungsbereiches oder einer Gastprofessur an der London School of Economics, innerwissenschaftliche Anerkennung zu erhalten. Bezeichnenderweise bedarf dies nicht einfacher »Übersetzungen«, sondern differenter Konzepte, wie etwa im Falle von Becks Schriften, die »Risikogesellschaft« im einen, die »reflexive Moderne«55 im anderen Fall. 51 | Vgl. dazu Knoblauch, Hubert u.a.: Präsentionales Wissen. Die kommunikative Konstruktion von Evidenz am Beispiel der Computational Neuroscience, in: Kramer, Olaf (Hg.): Rhetorics of Evidence (i. E.). 52 | Weingart, Peter: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit, Weilerswist 2005. 53 | P. Gross: Pop-Soziologie?, S. 38. 54 | Nicht nur deswegen erscheint die Annahme Osreckis (F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 322), »dass die Unterscheidung zwischen Zeitdiagnose und Gesellschaftstheorie in der Soziologie selbst nicht auffällt«, keineswegs plausibel. 55 | Die allerdings immer auch mit dem Problem umgehen musste, dass sie auch starke zeitdiagnostische Elemente enthielt.

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Huber t Knoblauch

Zeitdiagnosen sollten nicht systematisch mit dem gleichgesetzt werden, was Burawoyals »public sociology«56 bezeichnet. Er unterscheidet diese ja von der angewandten Auftragsforschung, der professionellen Soziologie und der kritischen Soziologie als ›Soziologie in der Öffentlichkeit‹.57 Zeitdiagnosen können durchaus auf kritische, angewandte oder professionelle Soziologie und Wissenschaft zurückgreifen, doch ist ihre konstitutive Besonderheit, dass eben der Bezug auf die Wissenschaft weder empirisch noch theoretisch systematisch geschieht. Durch diese Abgrenzungen soll keineswegs der Wert von Zeitdiagnosen in Frage gestellt werden. Denn der öffentliche Diskurs hat seine eigenen Anforderungen (wie Aufmerksamkeit und soziale wie politische Relevanzen), sodass die Zeitdiagnose eine Form ist, in der wissenschaftlich diskutierte Themen in die Öffentlichkeit geraten können. Indem sie in einen anderen Diskurszusammenhang gestellt werden, ändern sich diese Themen nicht nur inhaltlich, sondern bekommen mit ihrer neuen diskursiven Verortung eine besondere gesellschaftlich-politische Dynamik: Sie zeigt sich etwa an der Bedeutung moralischer Dystopien in einem konservativen, öffentlichen Kontext im Unterschied zu derjenigen progressiver Utopien in einem linksliberalen »fortschrittlichen« Kontext.

56 | Burawoy, Michael: Public Sciology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit, Weinheim/Basel 2015. 57 | Der Beitrag zur öffentlichen Debattenkultur sollte unterschieden werden von den vielfältigen Beiträgen der Soziologie zu Wirtschaft, Kultur oder Sport.

Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnosen Verhältnisbestimmungen und Themenpanorama* Uwe Schimank/Ute Volkmann

E inleitung Soziologische Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnosen stehen ersichtlich in enger Beziehung zueinander. Aber wie sieht das Verhältnis beider genau aus – oder auch: wie sollte es aus Sicht des Faches aussehen? Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnosen beobachten denselben Gegenstand: die Gesellschaft als Ganze.1 Gegenwartsdiagnosen interessieren sich für deren je aktuelle Gestalt, während die Gesellschaftstheorie einen zeitlich weitergespannten Blick hat, der aber eben auch und zumeist sogar prominent ebenfalls auf die Gegenwart gerichtet ist. Gesellschaftstheoretiker blicken jedoch zumeist abfällig auf Gegenwartsdiagnosen herab. Dabei ist der Vorwurf weniger, dass Letztere »unseriös« seien, da ihre Kernaussagen nicht oder unzureichend auf gesicherten empirischen Befunden basierten. Das müssen sich Gegenwartsdiagnosen in sehr viel stärkerem Maße von Seiten empirischer Sozialforscher, die über die jeweils angesprochenen Phänomene arbeiten, anhören. Aus Sicht der Theoretiker wiegt viel schwerer, dass Gegenwartsdiagnosen oftmals keine systematische und in sich stringente theoretische Grundlage haben; und wo dies doch der Fall ist, werde diese Grundlage in der vorgelegten Diagnose hoffnungslos spekulativ bis hin zu alarmistischen Wertungen überzogen. Gemeinsam ist diesen Kritiken, dass sie nicht in Rechnung stellen, dass Gegenwartsdiagnosen – wollen sie wirklich »public sociology« sein2 – nicht nur an das fachinterne Publikum, sondern primär an Nicht-Fach-

* | Für hilfreiche Hinweise danken wir den Herausgebern sowie den Teilnehmerinnen eines Autoren-Workshops. 1 | Nicht weiter eingehen können wir hier auf die Frage, unter welchen Umständen beide Arten der Beobachtung auch performativ werden können, also das Beobachtete dadurch mit erzeugen oder steigern, dass dessen Darstellung breitenwirksam rezipiert wird. Vielleicht haben ja David Riesman und seine Mitarbeiter, um nur dieses berühmte Beispiel zu nennen, die »lonely crowd« 1950 sozusagen im Alleingang herbeigeredet; Riesman, David: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven, CT 1950 (vgl. dazu auch den Beitrag von Tobias Schlechtriemen in diesem Band). 2 | Das gilt, wie sich noch zeigen wird, nicht für alle gegenwartsdiagnostischen Reflexionen.

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leute in Gestalt einer gesellschaftspolitisch interessierten Öffentlichkeit3 adressiert sind und damit einer hybriden Kommunikationslogik folgen müssen.4 Umgekehrt gilt Gesellschaftstheorie den Gegenwartsdiagnostikern als viel zu abstrakt. Sie sei nur etwas für einen kleinen Zirkel fachinterner Spezialisten, die mehr an Problemen der Theoriekonstruktion als an gesellschaftlichen Problemen interessiert seien. Nicht nur das Abstraktionsniveau, auch die damit einhergehende mangelnde Aktualitätsbezogenheit lassen Gesellschaftstheorie aus dieser Blickrichtung schnell als unverständliches, irrelevantes und aus beiden Gründen langweiliges Glasperlenspiel erscheinen. Trotz solcher harscher gegenseitiger Kritiken stehen Gegenwartsdiagnosen und Gesellschaftstheorie in einer wechselseitigen Nutzenverschränkung zueinander.5 Sie kommen bei genauerem Hinsehen nicht nur ohne einander nicht aus, sondern profitieren nicht unerheblich voneinander. Im vorliegenden Beitrag fragen wir schwerpunktmäßig danach, welchen Nutzen gesellschaftstheoretische Modelle für Gegenwartsdiagnosen haben; an verschiedenen Stellen wird aber auch der umgekehrte Nutzen der Gegenwartsdiagnosen für die Weiterentwicklung soziologischer Gesellschaftstheorie deutlich werden. In einem ersten Schritt verorten wir Gegenwartsdiagnosen zwischen gesellschaftstheoretischen Modellen auf der einen und zeitgeschichtlicher Forschung auf der anderen Seite. Als Zweites betrachten wir die Art der Kopplung von Gegenwartsdiagnosen an Gesellschaftstheorie. Drittens nutzen wir die grundlegenden gesellschaftstheoretischen Perspektiven, um zum einen aktuelle Gegenwartsdiagnosen darin zu verorten und zum anderen ergänzend dazu das gegenwartsdiagnostische Potential dieser Perspektiven zu erkunden. Als Demonstrationsfälle ziehen wir überwiegend Gegenwartsdiagnosen der 1980er und 1990er Jahre heran6 – nicht nur, weil sie inzwischen in ihrer Rezeption besser einschätzbar sind, sondern vor allem, weil sie in unmittelbarerer Zeitzeugenschaft zu dem gesamtgesellschaftlichen Umbruch geschrieben wurden, der sich seit Mitte der 1970er Jahre in den entwickelten westlichen Ländern vollzieht und den wir im Themenpanorama abbilden wollen. Zwar ließ die zeitliche Nähe manches noch nicht so genau erkennen, was sich seitdem geklärt hat; dafür vermitteln diese Diagnosen aber eine Authentizität des frühen Dabeigewesen-Seins. Ergänzend greifen wir aber auch, wo es sich anbietet, frühere oder aktuellere Gegenwartsdiagnosen auf.

3 | Hinzu kommen auch noch Wissenschaftler anderer Disziplinen. 4 | Volkmann, Ute: Soziologische Zeitdiagnostik. Eine wissenssoziologische Ortsbestimmung, in: Soziologie 44, 2015, S. 139-152. 5 | Volkmann, Ute: Gegenwartsdiagnose: Öffentlich und/oder Soziologie?, in: Aulenbacher, Brigitte u.a. (Hg.): Öffentliche Soziologie. Wissenschaft im Dialog mit der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2017, S. 119-130. 6 | Schimank, Uwe/Volkmann, Ute: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000.

Gesellschaf tstheorie und Gegenwar tsdiagnosen

1. Z wischen gesellschaf tstheore tischen M odellen und  Z eitgeschichte Gegenwartsdiagnosen stehen nicht nur in einem zu klärenden Verhältnis zu allgemeinen gesellschaftstheoretischen Modellen wie funktionaler Differenzierung oder Kapitalismus, sondern auch zu den empirischen Befunden und Narrativen der zeitgeschichtlichen Forschung. Ohne Letztere hier umfassend charakterisieren zu können, ziehen wir sie heran, um das der Gesellschaftstheorie gegenüberliegende Ende des Spektrums, in dem sich Gegenwartsdiagnosen positionieren, markieren zu können. Auch in der Zeitgeschichte gibt es immer wieder Versuche, die zurückliegenden Jahrzehnte – meist beginnt der betrachtete Zeitraum mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – bis hin zur Gegenwart und ihren Zukunftsaussichten auf manchmal sogar sehr steile Thesen zu bringen. Ein stark auf Deutschland bezogenes Beispiel wäre etwa die von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael unter dem Titel »Nach dem Boom« vorgelegte Studie,7 in der die Kette ökonomischer Umbrüche seit dem Ende des »golden age« 8 Mitte der 1970er Jahre als zentrale Prägung der heutigen und zukünftigen gesamtgesellschaftlichen Lage eingestuft wird. Niall Ferguson u.a. akzentuieren demgegenüber als weltweit wirkende Prägekraft »the shock of the global«,9 also die in den 1970er Jahren energischer einsetzende Globalisierung. Solchen zuspitzenden – und deswegen unter Zeithistorikern sehr kontrovers diskutierten – Porträts der Gegenwart stehen eher faktenreich sammelnde Darstellungen gegenüber, wie sie für die deutsche Geschichte bis 1989 etwa Hans-Ulrich Wehler10 oder aktueller Andreas Rödder11 offerieren. Wehlers Sortierschema ist locker an Max Webers soziologischen Bezugsrahmen angelehnt, während Rödder völlig eklektizistisch und ohne ordnende Systematik aufgreift, was in öffentlichen Diskussionen als wichtig erachtet worden ist. Große Linien stellen beide nicht zur Diskussion, sondern liefern vielmehr zahlreiche Befunde, die gerade umgekehrt in ihrer Differenziertheit von anderen behauptete große Linien in Zweifel ziehen. Diese vier Studien müssen hier genügen, um die Bandbreite des zeithistorischen Duktus anzudeuten. Wie profilieren sich nun Gegenwartsdiagnosen zwischen einer so auftretenden Zeitgeschichte auf der einen, abstrakten gesellschaftstheoretischen Perspektiven auf der anderen Seite? In der Zeitdimension teilen Gegenwartsdiagnosen mit Zeitgeschichte das Interesse am Hier-und-Jetzt. Für beide ist der Aktualitätsbezug konstitutiv, einschließlich des oft als Bruch dargestellten Hervorgehens des Jetzigen und Morgigen aus der jüngeren Vergangenheit. So stellt etwa Gerhard Schulze die »Erlebnisgesell7 | Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 8 | Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995 (urspr. 1994). 9 | Ferguson, Niall u.a. (Hg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge, MA 2010. 10 | Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987-2008 (hier der fünfte Band: Bundesrepublik und DDR 1949-1990). 11 | Rödder, Andreas: 21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015.

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schaft« der 1980er Jahre den Nachkriegsjahrzehnten gegenüber,12 und Ulrich Beck kontrastiert die hereingebrochene »zweite Moderne« mit der »ersten«, die sogar bis ins 19. Jahrhundert zurückgeführt wird.13 Gegenwartsdiagnosen verlängern die identifizierten Strukturdynamiken des Heute vielleicht etwas mutiger in die Zukunft als Zeithistoriker. Im Unterschied zu beiden ist Gesellschaftstheorie hingegen viel allgemeiner mindestens auf die Moderne, letztlich aber auf Gesellschaftlichkeit und ihre Ordnungsmuster und Strukturdynamiken schlechthin ausgerichtet.14 In der Sachdimension abstrahieren Gegenwartsdiagnosen, ebenso wie Gesellschaftstheorie, die empirische Wirklichkeit zu Idealtypen, während Zeitgeschichte allenfalls Realtypen, oftmals aber historische Unikate wie z.B. »die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1990« mit explizitem Generalisierungsverbot vorlegt. Soweit zeitgeschichtliche Darstellungen es bei Ereignischronologien und einer Vielfalt von synchronen Geschehnissen ohne durchgearbeitete Wirkungszusammenhänge belässt, wird eine übergreifende Gestalt des Geschilderten nicht sichtbar, und es werden allenfalls ad-hoc-Erklärungen einzelner Ereignisse angeboten. Die Idealtypen der Gegenwartsdiagnosen wie etwa »Risikogesellschaft«15 oder »asymmetrische Gesellschaft«16 – von Hartmann Tyrell und Martin Petzke treffend als »Bindestrichgesellschaften«17 bezeichnet – sind zeitlich und räumlich begrenzter als die allgemeineren gesellschaftstheoretischen Modelle. Das zeigt sich auch an der Pluralität simultaner Gegenwartsdiagnosen: Man kann das Heute und Morgen derselben Gesellschaft sowohl als »Risiko-« als auch als »asymmetrische Gesellschaft« stilisieren. Während der Ehrgeiz zeithistorischer Forschung durchaus darin liegt, eine möglichst verlässliche empirische Basis des Gesagten zu erarbeiten, verwenden Gegenwartsdiagnosen empirische Daten oftmals eher illustrierend. Studien wie die von Ronald Inglehart18 über den postmaterialistischen Wertewandel, die von systematischer und großflächiger Empirie getragen werden, sind die Ausnahme von der Regel. Als allgemeines Beschreibungs- und Erklärungsmodell gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken entwickelt sich die Gesellschaftstheorie zwar durchaus unter Kenntnisnahme von Empirie; aber wie eng oder locker dieser Bezug ist, kann sehr stark variieren. Gegenwartsdiagnosen als Form soziologischen Wissens lassen sich somit als eigenständiger Analysetypus zwischen Zeitgeschichte und Gesellschaftstheorie 12 | Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992. 13 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 14 | Schimank, Uwe: Gesellschaft, Bielefeld 2013, hier S. 17f. 15 | U. Beck: Risikogesellschaft. 16 | Coleman, James S.: The Asymmetric Society, Syracuse/New York 1982. 17 | Tyrell, Hartmann/Petzke, Martin: Anmerkungen zur »Organisationsgesellschaft«, in: Große Kracht, Hermann-Josef/Spieß, Christian (Hg.): Christentum und Solidarität – Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn 2008, S. 435-464. 18 | Inglehart, Ronald: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; Ders.: Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M 1998.

Gesellschaf tstheorie und Gegenwar tsdiagnosen

verorten. In der Sachdimension sind sie hinsichtlich Typenbildung näher an theoretischer Abstraktion und damit an Gesellschaftstheorie als an Zeitgeschichte; im Empiriebezug hingegen stehen sie in der Mitte zwischen beiden. In der Zeitdimension hingegen sind Gegenwartsdiagnosen hinsichtlich des Aktualitätsbezugs näher an Zeitgeschichte, bezogen auf das Interesse an auch in die Zukunft extrapolierbaren gesellschaftlichen Strukturdynamiken näher an Gesellschaftstheorie.19

2. E nge und lose K opplung an gesellschaf tstheore tische  M odelle Nach dieser ersten Verortung wenden wir uns im Weiteren nun etwas genauer dem Verhältnis von Gegenwartsdiagnosen zu allgemeinen gesellschaftstheoretischen Perspektiven und Modellen zu. Wir stellen zunächst die Frage, wie eng oder lose gekoppelt an gesellschaftstheoretische Modelle die gegenwartsdiagnostischen Idealtypen konstruiert sind. Hier findet sich ein breites Spektrum zwischen sehr enger und sehr loser Kopplung – wobei »eng« nicht mit expliziter Anknüpfung und »lose« entsprechend mit nur implizitem Bezug verwechselt werden darf. Eine enge Kopplung kann auch ganz implizit bleiben, so dass sie nur einem genauer hinschauenden Kennerblick auffällt. Ein exemplarischer Fall einer engen Kopplung von Gegenwartsdiagnose und Gesellschaftstheorie ist Andreas Reckwitz Analyse des »spätmodernen« Kults der Kreativität.20 Diese Diagnose leitet sich stringent aus Reckwitz kultursoziologischer Rekonstruktion einer historischen Abfolge von Subjektformationen als Kulturen der Lebensführung her – mit dem »ästhetisch-ökonomischen Doppelsubjekt« als zeitgenössischer Hybridform.21 Ein anderes Beispiel enger Kopplung bietet Talcott Parsons’ Analyse moderner Gesellschaften, die in eine Diagnose der Gegenwart – Anfang der 1970er Jahre – und Zukunftsperspektiven der Vereinigten Staaten als Speerspitze gesellschaftlicher Evolution mündet.22 Parsons’ Analyse ist durch das seine Sozial- und Gesellschaftstheorie tragende AGIL-Schema strukturiert, aus dem er dann u.a. auch als Bestandteil des unaufhaltsamen evolutionären Trends der »inclusion« die kommende »full citizenship for the Negro American« prognostiziert.23 Schon deutlich schwächer als theoretischer Schlüssel zum Verständnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Geschehnisse, eher nur noch 19 | Auch für die Sozialdimension, die wir hier nicht weiter betrachten, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigen: Gemeinsam ist Gegenwartsdiagnosen und Zeitgeschichte der über das Fachpublikum hinausgehende Adressatenkreis, was beide – wie bereits angesprochen – deutlich von der Gesellschaftstheorie unterscheidet. Dabei argumentieren Gegenwartsdiagnosen, teilweise auch zeithistorische Studien, explizit bewertend. Sie beziehen Position im aktuellen gesellschaftlichen Geschehen und mahnen Kurskorrekturen an. 20 | Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a.M. 2012. 21 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 22 | Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften, München 1971. 23 | Parsons, Talcott: Full Citizenship for the Negro American?, in: Ders.: Sociological Theory and Modern Society, New York 1967 (urspr. 1966), S. 422-465.

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als Sortierschema für die behandelten Phänomene, dient das AGIL-Schema dann in Richard Münchs Diagnose der »Kommunikationsgesellschaft«.24 Schließlich ist auch Jürgen Habermas’ Diagnose einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch die abstrakten »Systeme« Wirtschaft und Politik eng an seinen allgemeinen gesellschaftstheoretischen Entwurf gekoppelt.25 Enge Kopplungen gehen zumeist darauf zurück, dass ein primär gesellschaftstheoretisches Interesse in gegenwartsdiagnostische Überlegungen mündet. Im Extremfall kann sich dies auf eine bloß implizite Gegenwartsdiagnose in dem Sinne beschränken, dass gegenwartsdiagnostische Inhalte ohne den entsprechenden Duktus vorgelegt werden, was sie für Nicht-Fachleute oft ausgesprochen schwer verdaulich oder gar unauffindbar macht – siehe z.B. die Beiträge von Niklas Luhmann zu Exklusionsdynamiken.26 Solche Gegenwartsdiagnosen sind sozusagen »Abfallprodukte« von Gesellschaftstheorie ohne »public sociology«-Mission des Theoretikers, was man auch etwa für Reckwitz oder Parsons sagen kann. Habermas hingegen oder Pierre Bourdieu verkörpern Gesellschaftstheoretiker, die sich öffentlich einmischen wollen. Die Erfordernisse eines solchen öffentlichen Wirkens können darauf hinauslaufen, dass die gesellschaftstheoretische Grundlage der Diagnose dann weitgehend oder vollständig implizit bleibt. Viele Gegenwartsdiagnostiker haben jedoch gar keine eigenen gesellschaftstheoretischen Ambitionen, sondern nutzen bestimmte Gesellschaftstheorien als vorhandene Werkzeuge, wobei das mehr oder weniger explizit geschehen kann. Das gilt beispielsweise für Wilhelm Heitmeyer oder Ulrich Beck. Im Gebrauch können die Werkzeuge dann auch weiterentwickelt werden, was aber ebenfalls nur »Abfallprodukt« – nun in der umgekehrten Richtung – des eigentlichen Ansinnens ist. Als exemplarische Verdeutlichung einer sehr losen Kopplung von Gegenwartsdiagnose an Gesellschaftstheorie kann Schulzes Konzept der »Erlebnisgesellschaft« dienen.27 Die herausgearbeiteten »alltagsästhetischen Schemata«, die bei einer zunehmenden ich-zentrierten Erlebnisorientierung der Gesellschaftsmitglieder zu den tragenden Pfeilern gesellschaftlicher Milieus werden, entstammen einer selbst konstruierten kultursoziologischen ad-hoc-Typologie, die dann ebenfalls ad-hoc unter Verweis auf Wohlstandswachstum, Bildungsexpansion und Aufstiegsmobilität der Nachkriegszeit historisch eingeordnet wird. Ähnlich locker hatten bereits David Riesman und Mitarbeiter28 ihre in der 1950er Jahren vorgelegte Diagnose der »lonely crowd« als eine Drei-Stadien-Abfolge vorherrschender Sozialcharaktere (traditional, innengeleitet, außengeleitet) auf die demographische Dynamik seit dem frühen 19. Jahrhundert zurückgeführt, also gesellschaftstheoretisch eine ad-hoc-Ein-Faktor-Erklärung angeboten, die sogleich als schwächstes Stück der Diagnose sehr viel Kritik auf sich zog. 24 | Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1991; Ders.: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. 25 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981. 26 | Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1994, S. 234-267; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 618-634. 27 | G. Schulze: Die Erlebnis-Gesellschaft. 28 | D. Riesman: The Lonely Crowd.

Gesellschaf tstheorie und Gegenwar tsdiagnosen

Eine eher enge oder eine eher lose Kopplung von Gegenwartsdiagnose und Gesellschaftstheorie haben beide sowohl Vor- als auch Nachteile. Wichtigster Vorteil einer engen Kopplung ist, dass Gegenwartsdiagnosen dadurch einer strengeren theoretischen Kontrolle unterliegen. Die Kompatibilität der Diagnose mit der betreffenden Gesellschaftstheorie ist dann sozusagen Pflicht. Keine Aussage Ersterer darf Letzterer widersprechen. Angesichts der schon angesprochenen Tatsache, dass viele Gegenwartsdiagnosen keine starke empirische Absicherung haben, sondern diesbezüglich eher spekulativ ausfallen, kann diese theoretische Einpassung zum wichtigsten Konstruktionskriterium einer eng gekoppelten Diagnose werden. Kompatibilität ist dabei aber nur das Minimum; oft geht enge Kopplung darüber hinaus in Richtung einer heuristischen Inspiration von Gegenwartsdiagnosen durch gesellschaftstheoretische Perspektiven, was bis zu einer für Parsons angedeuteten Ableitung der Diagnose aus allgemeinen gesellschaftstheoretischen Modellen gehen kann. Für diese Vorteile können zwei Arten von Nachteilen der Preis sein. Zum einen kann eine enge Anbindung an Gesellschaftstheorie die Sensibilität von Gegenwartsdiagnosen für solche empirischen Phänomene, die jenseits des jeweiligen gesellschaftstheoretischen Scheinwerfers angesiedelt, aber sehr wohl diagnostisch relevant sind, schwächen; und zum anderen kann die Kompatibilitätspflicht der Gegenwartsdiagnose deren theoretische Innovativität – die sich natürlich gerade auch aus empirischen Überraschungen, so sie denn zugelassen sind, speisen kann – limitieren. Die Vor- und Nachteile einer losen Kopplung von Gegenwartsdiagnose und Gesellschaftstheorie sind spiegelbildlich zu denen einer engen Kopplung und lassen sich daher schnell aufführen. Größter Vorteil einer losen Kopplung ist die größere Aufgeschlossenheit für alle Arten von empirischen Eindrücken. Die dann aus dieser Empirie heraus zu konstruierende Theorie der Diagnose – in Gestalt ihres Idealtypus – kann dann sowohl spekulativ zugespitzter ausfallen als bei einer Diagnose, die durch eine bestimmte gesellschaftstheoretische Perspektive kontrolliert wird, als auch empirienäher. Letzteres ginge dann in Richtung eines zeithistorischen Realtyps. Die Kehrseite dieser Vorteile besteht darin, in gesellschaftstheoretisch nicht angebundene, vielleicht überhaupt nicht mehr anschlussfähige solipsistische Betrachtungen abzugleiten.29

29 | Erwähnt sei noch, dass manche Gegenwartsdiagnosen den Sonderfall einer engeren Kopplung an allgemeine Sozialtheorie, nicht an Gesellschaftstheorie darstellen. So leitet James Coleman (J. Coleman: The Asymmetric Society) aus einer methodologisch-individualistischen Handlungstheorie ab, dass irgendwann »korporative Akteure« aufkommen, unaufhaltsam immer mehr werden und dann die individuellen Akteure immer stärker dominieren. Er diagnostiziert dergestalt eine neue aufgekommene Art sozialer Ungleichheit, nämlich die Organisationsgesellschaft als »asymmetric society«, und richtet dies gegen gängige Ungleichheitstheorien, ohne sich weiter mit diesen – die für ihn ja irrelevant werden – auseinanderzusetzen. Arnold Gehlens Diagnose einer hemmungslos subjektivistischen, Institutionen zersetzenden »Spätkultur« wird ähnlich im Kurzschluss von einer anthropologisch begründeten allgemeinen Institutionentheorie auf aktuelle Krisentendenzen gewonnen (vgl. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a.M. 1956).

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3. D as gegenwartsdiagnostische Themenpanor ama – gesellschaf tstheore tisch sortiert Wir legen nun ein Inventar soziologischer Gesellschaftstheorie zugrunde, das aus dreieinhalb großen Theorie-Familien besteht: der kulturtheoretischen, der ungleichheitstheoretischen und der differenzierungstheoretischen, einschließlich kapitalismustheoretischen, Betrachtung von moderner Gesellschaft.30 Wenn man – was hier nicht weiter erläutert werden kann31 – Gesellschaftlichkeit analytisch als Verfügbarkeit von Leistungen, die menschliche Lebensführung in ihren vielfältigen Facetten ermöglichen, fasst, kommt in differenzierungs- und kapitalismustheoretischer Perspektive die Produktion, in ungleichheitstheoretischer Perspektive die Allokation und in kulturtheoretischer Perspektive die Legitimation der Leistungen in den Blick. Will man nicht nur jeweilige Spezialaspekte von Produktion, Allokation oder Legitimation in den Blick nehmen, sondern gesellschaftliche Phänomene, die zwei oder alle drei Momente beinhalten, oder ein Bild von Gesellschaftlichkeit als Ganzes zeichnen, müssen die dreieinhalb Perspektiven in einem integrativen Modell zusammengeführt werden, das man dann für spezifische gesellschaftstheoretische Analysen vollständig oder in einem passenden Ausschnitt heranzieht. Wir stellen nun die Frage: Wie lassen sich Gegenwartsdiagnosen diesen gesellschaftstheoretischen Perspektiven zuordnen? Die eng gekoppelten explizieren dies oft schon selbst; für die lose gekoppelten muss es expliziert werden. Man erkennt zunächst, dass eine Reihe von Gegenwartsdiagnosen vorrangig einer der genannten Perspektiven angehören: • So legt Luhmann nicht nur in der bereits erwähnten Analyse von Exklusionsdynamiken, sondern auch in thematisch anders angelegten gegenwartsdiagnostischen Studien zu Dynamiken von Wohlfahrtsstaatlichkeit 32 oder ökologischer Desintegration33 eine differenzierungstheoretische Perspektive zugrunde. Gleiches gilt etwa auch für Helmut Willkes Diagnose zu den Schwierigkeiten und verbleibenden Möglichkeiten politischer Gesellschaftssteuerung34 oder für Armin Nassehis Analysen des politischen Populismus.35 • Eine kapitalismustheoretische Perspektive in einer mehr oder weniger strikt an Ideen von Karl Marx und späteren Weiterentwicklungen des Marxismus angelehnten Variante nutzen etwa Immanuel Wallerstein mit seiner »Weltsys30 | U. Schimank: Gesellschaft. 31 | Schimank, Uwe: Grundriss einer integrativen Theorie der modernen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 4, 2015, S. 236-268; Ders.: Replik, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 5, 2016, S. 66-89. 32 | Luhmann, Niklas: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981. 33 | Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986. 34 | Willke, Helmut: Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Steuerungstheorie, Königstein 1983; Ders.: Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. 35 | Nassehi, Armin: Die Wiedergewinnung des Politischen. Eine Auseinandersetzung mit Wahlverweigerung und kompromisslosem Protest, St. Augustin 2016.

Gesellschaf tstheorie und Gegenwar tsdiagnosen

tem«-Konzeptualisierung globaler kapitalistischer Dynamiken,36 Klaus Dörres an Rosa Luxemburg anschließendes Theorem der fortschreitenden kapitalistischen »Landnahme«37 oder Stephan Lessenichs Diagnose der »Externalisierungsgesellschaft«.38 • Eine ungleichheitstheoretische Perspektive wird z.B. von Ralf Dahrendorf herangezogen, um neue Konfliktlinien nach dem Ende des »sozialdemokratischen Konsensus« herauszuarbeiten.39 Auch Diagnosen eines Schrumpfens und einer um sich greifenden Verunsicherung der Mittelschichten in entwickelten westlichen Gesellschaften, etwa von Jacob Hacker für die Vereinigten Staaten40 oder von Steffen Mau,41 argumentieren primär ungleichheitstheoretisch. • Schließlich bedient sich eine größere Zahl von Gegenwartsdiagnosen vorrangig einer kulturtheoretischen Perspektive, wobei diese sehr unterschiedlich angelegt sein kann. Um neben dem bereits angesprochenen Reckwitz noch zwei weitere Beispiele zu nennen: Samuel Huntington stellt auf einen globalen »clash of civilizations« als prägende gesellschaftliche Dynamik ab;42 und Hartmut Rosa erblickt in einer unaufhörlichen Beschleunigung allen gesellschaftlichen Geschehens das sich heutzutage immer krisenhafter zuspitzende Signum der Moderne.43 Es finden sich weiterhin aber auch solche Gegenwartsdiagnosen, die zwei oder mehr der genannten gesellschaftstheoretischen Perspektiven so miteinander kombinieren, dass – selbst wenn eine Perspektive dominant ist – die anderen unverzichtbare Beimischungen der Analyse darstellen. Auch hierfür seien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Beispiele genannt:

36 | Wallerstein, Immanuel: Absturz oder Sinkflug des Adlers? Der Niedergang der amerikanischen Macht, Hamburg 2003; Ders.: Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte, in: Ders.u.a. (Hg.): Stirbt der Kapitalismus?, Frankfurt a.M. 2014, S. 17-47. 37 | Dörre, Klaus: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus, in: Ders./Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009, S. 21-86; Ders.: Landnahme und die Grenzen kapitalistischer Dynamik, in: Berliner Debatte Initial 22, 2011, H. 4, S. 56-72; Ders.: Landnahme, das Wachstumsdilemma und die »Achsen der Ungleichheit«, in: Berliner Journal für Soziologie 22, 2012, S. 101-128. 38 | Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016. 39 | Dahrendorf, Ralf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992. 40 | Hacker, Jacob S.: The Great Risk Shift: The Aussault on American Jobs, Families, Health Care and Retirement – And How You Can Fight Back, Oxford 2006. 41 | Mau, Steffen: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Frankfurt a.M. 2012. 42 | Huntington, Samuel P.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. 43 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.

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• Eine Kombination von kapitalismus- und ungleichheitstheoretischer Perspektive nutzt die Diagnose einer Erosion der »Lohnarbeitsgesellschaft« durch Robert Castel.44 Ähnlich angelegt macht eine Forschergruppe um Heitmeyer die aus der Globalisierung und »Liberalisierung« der kapitalistischen Wirtschaft herrührende Verunsicherung bestimmter unterer sozialer Lagen als Quelle »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« aus.45 • Heinz Bude führt geänderte kulturelle Muster der Lebensführung verschiedener sozialer Milieus46 – von den »Überflüssigen« ganz unten bis zu den »bildungspanischen« und in diffuser Angst lebenden Mittelschichten – auf sich zuspitzende Ungleichheitsdynamiken zurück.47 • Inglehart verbindet die kapitalismus- und die kulturtheoretische Perspektive.48 Er leitet den Ende der 1960er Jahre einsetzenden »postmaterialistischen« Wertewandel daraus ab, dass ein zunehmender Anteil der Gesellschaftsmitglieder eine ihnen als verlässlich erscheinende Einkommenssicherheit genießen, wofür vor allem wirtschaftliche Wachstumsdynamiken gesorgt haben – wobei diese Dynamiken seit den 1970er Jahren weit weniger verlässlich als zuvor gewesen sind, ohne dass ein flächendeckender Rückfall in »materialistische« Wertorientierungen eingetreten ist. • Die kapitalismus-, die ungleichheits- und die kulturtheoretische Perspektive werden, unterschiedlich kombiniert, von Richard Sennetts Diagnose des »flexiblen Menschen« im heutigen Kapitalismus49 ebenso wie von Anthony Giddens’ Betrachtungen zu den »consequences of modernity« herangezogen.50 • Beck nutzt differenzierungs-, ungleichheits- und kulturtheoretische Denkfiguren, um sein facettenreiches Bild der »reflexiven Moderne« zu zeichnen51 – wobei freilich auffällt, dass er diese drei gesellschaftstheoretischen Perspektiven kaum verknüpft, sondern je nach Thematik mal die eine und mal die andere, meist auch eher implizit, aufgreift, so dass sie weitgehend beziehungslos nebeneinander stehen.

44 | Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 1995. 45 | Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997; Ders. (Hg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997. 46 | Bude, Heinz: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, München 2011; Ders.: Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014. 47 | Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006. 48 | R. Inglehart: The Silent Revolution; Ders.: Modernisierung und Postmodernisierung. 49 | Sennett, Richard: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York 1998. 50 | Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity, Oxford 1994 (urspr. 1990). 51 | U. Beck: Risikogesellschaft; Ders.: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt a.M. 1988; Ders.: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a.M. 1993; Ders.: World Risk Society as Cosmopolitan Society?, in: Theory, Culture & Society 13, 1996, S. 1-32.

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• In Bourdieus Analysen des »Neoliberalismus«52 und des »Elends der Welt«53 finden sich Elemente aus allen dreieinhalb Perspektiven. Auch der Kapitalismus kommt also, verglichen mit Beck, deutlich zur Sprache.54 Im Weiteren gehen wir nun die vier gesellschaftstheoretischen Perspektiven als kombinatorisch aufeinander auf bauende durch und sortieren die verschiedenen Gegenwartsdiagnosen mit ihren jeweiligen Thematiken in die Perspektiven ein, so dass sich insgesamt ein durch diese analytisch geordnetes Panorama der Gegenwartsdiagnosen seit dem gesellschaftlichen Umbruch Mitte der 1970er Jahre ergibt – anders als die bloßen Aneinanderreihungen wie in den Überblicken von Armin Pongs55 oder Schimank/Volkmann,56 und auch über die Sortierung nach größeren gesellschaftstheoretischen Themenkomplexen bei Volkmann/Schimank hinausgehend.57 Zwar ist hier nicht möglich, auch nur die zentralen analytischen Deutungslinien der einzelnen Diagnosen herauszuarbeiten oder gar zu beurteilen; aber zumindest der Stellenwert der einzelnen Diagnose in einem Gesamtbild der heutigen gesellschaftlichen Lage und die Verbindungen mit anderen Diagnosen sollen angedeutet werden, so dass man weiß, welche Diagnose bzw. Verbindung von Diagnosen man näher anschauen könnte, wenn man über bestimmte Themen genauer nachdenken möchte. Dabei werden zwei gesellschaftstheoretische Referenzen hervorgehoben: zum einen die Bedeutung der diagnostizierten gesellschaftlichen Dynamiken für je individuelle Lebenschancen und die so geprägte Lebensführung, zum anderen die Bedeutung der Dynamiken für gesellschaftliche Ordnung mit Blick auf Sozialund Systemintegration sowie ökologische Integration. Jede der dreieinhalb Perspektiven hat zu beiden Referenzen etwas zu sagen. Doch bei den zuzuordnenden Gegenwartsdiagnosen sind faktische Schwerpunktsetzungen erkennbar: Differenzierungs- und kapitalismustheoretisch ansetzende Diagnosen widmen sich eher der Ordnungsproblematik, kultur- und ungleichheitstheoretische eher der Lebensführungsproblematik.

52 | Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen, Frankfurt a.M. 1996; Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neo-liberale Invasion, Konstanz 1998; Ders.: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung, Konstanz 2001. 53 | Bourdieu, Pierre u.a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997 (urspr. 1993). 54 | Wenngleich eine in seinem Forschungsprogramm angelegte Zweiteilung noch nicht wirklich überwunden wird: die Kombination von ungleichheits- und kulturtheoretischer Perspektive in den Analysen zu Habitus und Lebensführung auf der einen, von differenzierungs- und kapitalismustheoretischer Perspektive in den Betrachtungen sozialer »Felder« wie Kunst, Journalismus oder Wissenschaft. 55 | Pongs, Armin: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, 2 Bde., München 1999/2000. 56 | U. Schimank/U. Volkmann: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. 57 | Volkmann, Ute/Schimank, Uwe (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen 2002.

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3.1 Funktionale Differenzierung Die Moderne und speziell die Gegenwartsgesellschaften als funktional differenziert zu betrachten, also als ein Ensemble gesellschaftlicher Sphären, in denen je eigene Leitwerte Leistungsproduktionen im spannungsreichen Wechselspiel von beanspruchter Selbstreferentialität der Leistungsproduzenten auf der einen mit den ihnen zugemuteten Fremdreferentialitäten auf der anderen Seite anleiten, läuft zeitdiagnostisch zunächst einmal auf eine Entdramatisierung gesellschaftlicher Systemintegration hinaus. Es gibt in diesem Arrangement keine große gesellschaftliche Bruchlinie, sondern die Integration – der von den Leistungsproduzenten widerwillig hingenommenen – Arbeitsteilung zwischen den Sphären wird in zahlreichen begrenzten Spannungs- und Konfliktfeldern an den Schnittstellen von Politik und Bildung, Kunst und Religion, Wissenschaft und Wirtschaft etc. kleingearbeitet; und eine kumulative Verkettung solcher desintegrativer Spannungen erscheint aufgrund ihrer Heterogenität eher unwahrscheinlich. Wo z.B. wissenschaftliche und wirtschaftliche Akteure kein beiderseits zufriedenstellendes Leistungspaket, etwa was Technologietransfer anbetrifft, untereinander aushandeln können, springen staatliche Akteure zur Seite, um gezielt ausgleichend zu wirken;58 und wo sich die sphärenspezifischen Leistungsproduzenten und ihre Leistungsabnehmer aufgrund fehlender Stoppregeln der binären Codes in »Anspruchsinflationen« hineinsteigern könnten, wird dem durch »weniger Geld«59 von Seiten der viele dieser Leistungsproduktionen maßgeblich finanzierenden Politik Einhalt geboten. Das alles gibt aufgrund seiner, gesamtgesellschaftlich betrachtet, Kleinteiligkeit für Gegenwartsdiagnosen, die sich ja um Probleme des großen Ganzen kümmern, nichts her. Bis zu diesem Punkt vermittelt die differenzierungstheoretische Perspektive, anders gesagt, einen unbesorgten Blick auf die gesellschaftliche Zukunft. Doch bei dieser, gegenwartsdiagnostisch natürlich ebenfalls wichtigen, Fehlanzeige ist es nicht geblieben. Differenzierungstheoretisch sind vielmehr seit den 1970er Jahren drei Arten von jeweils gewichtigen gesellschaftlichen Integrationsproblemen zeitdiagnostisch ausgemacht worden. Das erste sind aus funktionaler Differenzierung mit hervorgehende Probleme ökologischer Desintegration, die bereits mit Bezug auf Luhmann angesprochen wurden, aber etwa auch in Becks Diagnose der »Risikogesellschaft« auf die »organisierte Unverantwortlichkeit«60 funktionaler Differenzierung zurückgeführt werden – wobei Letzterer einen genaueren Blick auf die zugrundeliegenden Akteurskonstellationen innerhalb der beteiligten gesellschaftlichen Sphären sowie auf das intersphärische Ineinandergreifen insbesondere wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Dynamiken wirft. Zweitens ist von Luhmann, wie schon erwähnt, die Exklusion größerer Bevölkerungsgruppen aus der Teilhabe an den teilsystemischen Leistungsproduktionen 58 | Schimank, Uwe: Funktionale Differenzierung und Systemintegration der modernen Gesellschaft, in: Friedrich, Jürgen/Jagodzinski, Wolfgang (Hg.): Soziale Integration. Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999, S. 47-65. 59 | Luhmann, Niklas: Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Herder-Dorneich, Philipp/Schuller, Alexander (Hg.): Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt?, Stuttgart 1983, S. 28-49, hier S. 39. 60 | U. Beck: Gegengifte.

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als sozialintegratives Problem vor allem im globalen Süden, aber auch in deindustrialisierten Regionen des entwickelten Westens differenzierungstheoretisch thematisiert worden. Die ungleichheitstheoretische Perspektive greift dieselben Sachverhalte als Extremformen sozialer Ungleichheit auf. Drittens schließlich kann man in differenzierungstheoretischer Perspektive in systemintegrativer Hinsicht, auch wenn keine durchschlagende Desintegration zu befürchten ist, die umgekehrte Problematik einer gesellschaftlichen Überintegration nicht ausschließen – im Extremfall als »feindliche Übernahme« des Rests der Gesellschaft durch ein Teilsystem.61 Bei Luhmann wird dies zeitdiagnostisch als Politisierungstendenz, der Einhalt geboten werden sollte, gesehen: wie schon erwähnt als Überdehnung des »Wohlfahrtsstaats«, der dann an seine Steuerungsund Finanzierungsgrenzen stößt. Die Finanzierungsgrenzen verweisen freilich viel stärker auf eine andere Richtung »feindlicher Übernahme«: nämlich auf einen von der Wirtschaft ausgehenden Ökonomisierungsdruck auf nicht-ökonomische gesellschaftliche Sphären, der durch die Politik als deren wichtiger Geldgeber lediglich weitergereicht wird. Dieser Zusammenhang wird von Luhmann kaum erwähnt und kann durch eine Verbindung von Differenzierungs- mit Kapitalismustheorie – siehe Bourdieu – besser in den Blick gerückt werden. Diese drei Integrationsprobleme sind Sollbruchstellen funktionaler Differenzierung, also aus diesem Ordnungsmuster der Moderne ableitbar. Aber wann und warum sie sich problematisch zuspitzen und damit zeitdiagnostisch relevant werden, kann theoretisch kaum begründet werden. Luhmanns Argumentation etwa zur Indifferenz teilsystemischer Codes gegenüber ökologischer Nachhaltigkeit hätte auch schon vor hundert Jahren so vorgetragen werden können, ohne die heutige Resonanz zu finden. Allenfalls wird hierzu ein vages und allein wenig überzeugendes Argument der unaufhaltsamen Problemkumulation, die heute nun das Fass zum Überlaufen bringe, suggeriert. Das bleibt zu unspezifisch für eine Gegenwartsdiagnose.

3.2 Kapitalismus Die marxistische Kapitalismustheorie hat eine lange zeitdiagnostische Tradition. Sie wurde seit Marx beständig entsprechend der Stadien der kapitalistischen Gesellschaft am Puls der Zeit fortgeschrieben; man kann geradezu von Zeitdiagnose als Schrittmacher des gesellschaftstheoretischen Modells sprechen: von Vorhersagen eines Endes des Kapitalismus durch Überproduktions- und Unterkonsumptionskrisen über die Grenzen der imperialistischen »Landnahme« zur erwarteten Selbsttransformation des »organisierten Kapitalismus« in den Sozialismus bis hin zum derzeitigen »Postfordismus« und »Neoliberalismus«. In ihrer marxistischen Variante hat sich diese gesellschaftstheoretische Perspektive stets als Anleitung kritischen politischen Handelns im Hier-und-Jetzt verstanden – als »public sociology«, lange bevor es diesen Begriff gab – und musste daher zeitdiagnostisch up to date sein. 61 | Schimank, Uwe: »Feindliche Übernahmen«: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft, in: Ders.: Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung. Beiträge zur akteurzentrierten Differenzierungstheorie 2, Wiesbaden 2006, S. 71-83.

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Als – wie hier vorgeschlagen – Teilperspektive einer differenzierungstheoretischen Perspektive verweist Kapitalismus darauf, dass funktionale Differenzierung neben den anderen gesellschaftlichen Sphären die Wirtschaft als eine Sphäre hervorgebracht hat, die unter Funktionalitätsgesichtspunkten zwar einerseits eine enorme Leistungsfähigkeit aufweist, deren Dynamiken aber andererseits, wie im marxistischen Verständnis akzentuiert, immer wieder sowohl zu eigener Krisenhaftigkeit als auch zur Subordination aller anderen gesellschaftlichen Sphären unter ökonomische Belange führen. Dass die Moderne in diesem Sinne kapitalistisch ist, wurde im »golden age« vergessen, weil die Wirtschaft ausnahmsweise für 25 Jahre gesellschaftlich keine Schwierigkeiten bereitete, sondern im Gegenteil Triebkraft des Fortschritts auch in anderen Sphären war: Kontinuierliches starkes Wirtschaftswachstum mit Vollbeschäftigung und Steigerung des Lebensstandards – siehe Becks »Fahrstuhl-Effekt«62 – bescherte dem Wohlfahrtsstaat üppige Steuereinnahmen, die für die Leistungsproduktionen von Bildung, Gesundheit, Kunst, Familien, Sport und Sozialpolitik ausgegeben werden konnten. Das war gepaart mit der etwa von Jürgen Habermas artikulierten Überzeugung, eventuell auftretende Wirtschaftskrisen keynesianisch im Griff zu haben.63 Dieser »kurze Traum immerwährender Prosperität«64 war ab Mitte der 1970er Jahre vorbei. Stattdessen war man wieder mit der hässlichen Seite des Kapitalismus konfrontiert, die in verschiedenen Gegenwartsdiagnosen ihren Ausdruck gefunden hat: • Wie u.a. Wolfgang Streeck registriert, gab es seitdem eine deutliche Kräfteverschiebung zwischen Kapital und Arbeit zugunsten Ersterem.65 Hier bieten die Globalisierung und technologischer Wandel der Kapitalseite neue exit-Optionen: Sie kann auch ohne die Arbeitnehmer der entwickelten westlichen Gesellschaften produzieren und Gewinne machen. Zugleich hatte die Drohkulisse der sozialistischen Alternative, die in der Nachkriegszeit zunächst beeindruckte, längst an Attraktivität für die Arbeitnehmer verloren. Das seitdem eingetretene Resultat ist eine Rück-Umverteilung von Einkommen und Vermögen zugunsten der Reichen, mal mehr und mal weniger sozialstaatlich abgefedert. • Der »Finanzmarkt-Kapitalismus«66 kam hinzu: eine mit dem Ende von Bretton Woods eintretende Verselbständigung von Finanzmarktspekulationen gegenüber der »Realökonomie«, mit hohen kurzfristigen Renditeforderungen der »shareholder«;67 entsprechend haben sich Turbulenzen und Krisen des globa-

62 | U. Beck: Risikogesellschaft, S. 122. 63 | Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 73-87. 64 | Lutz, Burkart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1984. 65 | Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2013. 66 | Windolf, Paul (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Sonderheft 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2005. 67 | Ebd.

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len Finanzmarkts, mit Rückwirkungen auf die »Realökonomie«, als »manias, panics, and crashes«68 ausgebreitet. • Insgesamt hat eine neuerliche, vor allem innere »Landnahme«69 der kapitalistischen Wirtschaft stattgefunden. Letztere beruht auf vielfältigen nicht-kapitalistischen gesellschaftlichen Voraussetzungen, beseitigt aber diese Voraussetzungen immer mehr durch einen Ökonomisierungsdruck auf andere gesellschaftliche Sphären, der vor allem auch über die Politik in Gestalt des Steuerstaats vermittelt wird. Kosteneinsparungen oder Gewinndruck führen zu einer Erosion funktionaler Differenzierung.70 • Das Ideengebäude des »Neoliberalismus« ist als neue kulturelle Ausformulierung der kapitalistischen Fortschrittsidee aufgekommen, geprägt von »market fundamentalism«.71 Marktkonkurrenz wird als allem Anderen überlegener Mechanismus der Herbeiführung effizienter und effektiver Leistungsproduktionen, egal um welche Art von Leistungen es geht, hochgehalten. • Völlig totgeschwiegen wird, dass all das nur als »Externalisierungsgesellschaft« 72 funktioniert, die Probleme ökologischer und sozialer Desintegration aus den reichen Weltregionen in die armen verschiebt – was inzwischen beginnt, an seine Grenzen zu stoßen.73 Wallerstein prognostiziert aus all dem ein »Ende des Kapitalismus« 74 – was nach bisherigen Erfahrungen mit solchen Prognosen abzuwarten bleibt. Das systemintegrative Spannungsverhältnis von Kapitalismus und funktionaler Differenzierung ist jedoch klar markiert. Die kapitalismustheoretische Perspektive ist weiterhin stärker mit anderen gesellschaftstheoretischen Perspektiven verknüpft als die Perspektive funktionaler Differenzierung. Dabei gibt es aber auch teilweise immer noch die Neigung, sich andere Perspektiven unterzuordnen, etwa kulturelle Ideen als bloßen »Überbau« der ökonomischen »Basis« anzusehen.

3.3 Kultur der Moderne Mit Einbezug der kulturtheoretischen Perspektive verschiebt sich die gesellschaftstheoretische Referenz deutlich in Richtung Lebensführung. Die umfassendste Diagnose hierzu legt, wie schon erwähnt, Reckwitz vor, der den Umbruch Mitte der 1970er Jahre als Übergang vom »Angestelltensubjekt« zum »ästhetisch-ökonomi-

68 | Kindleberger, Charles/Aliber, Robert: Manias, Panics, and Crashes. A History of Financial Crises, Hoboken, NJ 2005. 69 | K. Dörre: Landnahme, das Wachstumsdilemma und die »Achsen der Ungleichheit«. 70 | P. Bourdieu: Gegenfeuer; Ders.: Gegenfeuer 2; Schimank, Uwe/Volkmann, Ute: Das Regime der Konkurrenz. Gesellschaftliche Ökonomisierungsdynamiken heute, Weinheim 2017. 71 | Block, Fred/Somers, Margaret: The Power of Market Fundamentalism. Karl Polanyi’s Critique, Cambridge, MA 2014. 72 | S. Lessenich: Neben uns die Sintflut. 73 | Siehe aber auch bereits U. Beck: World Risk Society as Cosmopolitan Society?, zur »Weltrisikogesellschaft«. 74 | I. Wallerstein: Die strukturelle Krise oder Warum der Kapitalismus sich nicht mehr rentieren könnte.

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schem Doppelsubjekt« in der »Ästhetisierungsgesellschaft« nachzeichnet.75 Hierbei verbindet er das das »neoliberale« »unternehmerische Selbst«,76 wie es von Michel Foucault inspirierte Diagnosen zeichnen, mit der aus den Gegenkulturen der 1960er Jahre hervorgegangenen kreativ-expressiven, auf »Selbstverwirklichung« und »Postmaterialismus« ausgerichteten Subjektform, deren Ambivalenz auch Luc Boltanski und Eve Chiapello betonen.77 Die kapitalismus- und ungleichheitstheoretischen Hintergründe dieses Hybrids wurden schon früh von Daniel Bell78 und werden seitdem von Sennett 79 sowie von Cornelia Koppetsch80 beleuchtet. Derselbe Umschwung der evaluativen und normativen kulturellen Orientierungen der Lebensführung wird von Amitai Etzioni daraufhin näher betrachtet, wie ein ursprüngliches »good opening« der Gegenkulturen, also das Auf brechen des erstarrten Konformismus der »Außengeleiteten«, in ein »bad opening« entgleist, das im »neoliberalen« Egoismus kulminiert.81 Etzioni sieht ein – auch für die gesellschaftliche Sozialintegration wichtiges – »kommunitaristisches« »good closing« als erforderlich an.82 Peter Berger u.a.,83 Christopher Lasch,84 Schulze,85 Peter Gross86 und Rosa87 nehmen weitere Aspekte dieses »bad opening« als ungezügelte und die Lebensführung immer mehr belastende Steigerungsdynamiken aufs Korn – Gross spricht von einer regelrechten »Ich-Jagd«.88 George Ritzer ergänzt das Bild durch den Hinweis darauf, dass parallel ein »bad closing« durch immer weiter fortschreitende Rationalisierung stattfindet 89 – insbesondere durch, ähnlich wie Coleman es deutet,90 die Übermächtigkeit großer Organisationen gegenüber Individuen. Alain Touraine stellt dieser Diagnose der Hilflosigkeit von

75 | A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. 76 | Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt a.M. 2007. 77 | Boltanski, Luc/Chiapello, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 (urspr. 1999). 78 | Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt a.M. 1979 (urspr. 1976). 79 | R. Sennett: The Corrosion of Character. 80 | Koppetsch, Cornelia: Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt a.M. 2013. 81 | Etzioni, Amitai: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Frankfurt a.M. 1993; Ders.: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Frankfurt a.M. 1997. 82 | Zu »opening« und »closing« siehe Klapp, Orrin E.: Opening and Closing. Strategies of Information Adaptation in Society, Cambridge, MA 1978. 83 | Berger, Peter u.a.: The Homeless Mind, Harmondsworth 1973. 84 | Lasch, Christopher: The Culture of Narcissism, New York 1979. 85 | G. Schulze: Die Erlebnis-Gesellschaft. 86 | Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1994. 87 | H. Rosa: Beschleunigung. 88 | Gross, Peter: Ich-Jagd, Frankfurt a.M. 1999. 89 | Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995 (urspr. 1993). 90 | J. S. Coleman: The Asymmetric Society.

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Individuen in der Organisationsgesellschaft aber auch Beobachtungen einer Selbstermächtigung der »Akteure« gegen die abstrakten »Systeme« entgegen.91 Soweit zum facettenreichen Bild der Lebensführung, wie sie sich in kulturtheoretisch ausgerichteten Gegenwartsdiagnosen darstellt! Lebensführung ist eingebettet in eine um die Idee des gestalteten Fortschritts zentrierte Kultur der Moderne, die ebenfalls in verschiedenen Hinsichten Probleme gesellschaftlicher Ordnung hervorruft. Die als sphärenspezifische Umsetzungen der Fortschrittsidee sich vollziehenden Steigerungsdynamiken92 führen zu »Anspruchsinflationen« gegenüber den funktional spezialisierten Leistungsproduktionen, was ab einem bestimmten Punkt systemintegrativ aus dem Ruder laufen könnte – wobei freilich, wie angeführt, politisch auferlegter Ökonomisierungsdruck dem, in dieser Hinsicht funktional, Einhalt gebieten könnte. Als kulturelle Gegenentwürfe werden neue Leitideen der freiwilligen Beschränkung und »Entschleunigung«, bezüglich kapitalistischer Steigerungsdynamiken etwa als Idee einer »Postwachstumsgesellschaft«,93 postuliert – wobei ähnlich wie beim »Kommunitarismus« fraglich bleibt, wie realistisch es ist, mit solchen anti-hegemonialen Ideen die in funktionaler Differenzierung und Kapitalismus strukturell eingebauten Steigerungsdynamiken in ihrer kulturellen Hegemonie ernsthaft herausfordern zu können. In noch drei weiteren Hinsichten werden kulturell getriebene Gefährdungen gesellschaftlicher Ordnung diagnostiziert. Erstens betont Bruno Latour als eine zentrale Ursache ökologischer Desintegration die in der kulturellen Idee einer klaren Trennbarkeit von Sozialwelt auf der einen, Sachwelt in Gestalt von Natur und Technik auf der anderen Seite angelegte Selbsttäuschung der Moderne, die nicht registriert und daher nicht zu kontrollieren vermag, dass sie längst immer mehr »Hybride« hervorbringt.94 Dazu gehören der menschengemachte Klimawandel als markanteste Ausprägung des »Anthropozän« ebenso wie jede Art von gentechnisch veränderten Organismen. Beide Arten von »Hybriden« wirken nicht von außen und als zweitrangige Wirkfaktoren auf gesellschaftliches Geschehen ein, sondern sind ein nicht mehr wegdenkbarer äußerst wirkmächtiger innerer Bestandteil des Gesellschaftlichen geworden. Von anderen »Hybriden« können systemintegrative Gefährdungen ausgehen – etwa von sich zunehmend verselbständigender Computer-Software wie z.B. auf dem Finanzmarkt operierenden Algo-Tradern, die gesellschaftlich weitreichende wirtschaftliche Turbulenzen auslösen können. Zweitens trägt die Fortschrittsidee nach wie vor generell sowie in ihren spezifischen Ausformulierungen eine klar westliche Handschrift und konfligiert vielfach mit bislang sub-hegemonialen nicht-westlichen Lesarten. Ob sich dies, wie Huntington95 und Benjamin Barber96 zuspitzen, zu einem letztlich religiös grundierten globalen »clash of civilizations« verdichtet, wobei insbesondere der west91 | Touraine, Alain: Le retour de l’acteur, Paris 1984; Ders.: Critique of Modernity, Oxford, MA 1995 (urspr. 1992). 92 | P. Gross: Die Multioptionsgesellschaft; H. Rosa: Beschleunigung. 93 | K. Dörre/S. Lessenich/H. Rosa: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. 94 | Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995 (urspr. 1991). 95 | S. P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. 96 | Barber, Benjamin: Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism Are Re-shaping the World, New York 1995.

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lichen Fortschrittsidee diametral entgegengesetzte extreme Lesarten des Islam immer mehr terroristische und militärische Angriffe auf den Westen antreiben, ist eine nach wie vor sehr umstrittene These. Dass kulturelle Globalisierung Konflikte über Lesarten von Fortschritt, die es auch innerhalb der westlichen Tradition immer gegeben hat, vervielfältigt und steigert, was in sozialintegrativer Hinsicht immer wieder Probleme aufwerfen kann, ist allerdings unstrittig. Drittens schließlich vollzieht sich seit langem – mit Friedrich Nietzsche als einem prominenten Wegbereiter – eine unaufhaltsame und umfassende Relativierung und Auflösung aller kulturellen Gewissheiten der Moderne, was in den 1970er Jahren dann als »Postmoderne« apostrophiert wurde.97 Obwohl diese Dynamik in der westlichen Kultur der Moderne angelegt ist, wurde sie zusätzlich dadurch befeuert, dass auch aus nicht-westlichen kulturellen Traditionen heraus anti-hegemoniale, etwa »postkoloniale«, Grundsatzkritiken an ihr artikuliert wurden. Für die Lebensführung hat dieser Relativismus zumindest in einigen Milieus zum »bad opening« beigetragen. Die kulturtheoretische Perspektive stellt sich somit in ihrem gegenwartsdiagnostischen Potential insgesamt facettenreich dar, mit vielfältigen Bezügen zu anderen Perspektiven. Bei den Steigerungsdynamiken ebenso wie bei den drei weiteren ordnungsgefährdenden Dynamiken stellt sich allerdings dieselbe Frage wie bei funktionaler Differenzierung: Spezifischere Triebkräfte werden kaum genannt, man muss sich die Dynamiken also als schrittweise Kumulationen vorstellen – während vor allem Reckwitz sehr detailliert rekonstruiert, welche kulturellen Ideen und Trägergruppen unter welchen gesellschaftlichen Kontextbedingungen, was etwa Kommunikationstechnologien anbelangt, wie zusammenwirken, damit aus dem »Angestelltensubjekt« das »ästhetisch-ökonomische Doppelsubjekt« hervorgeht.

3.4 Ungleichheit Auch in der ungleichheitstheoretischen Perspektive, die soziale Lagen als relativ besser- oder schlechtergestellt in den Blick nimmt, wird die Aufmerksamkeit zunächst auf Lebenschancen – der Schritt zu Lebensführung wäre wichtig, bleibt aber oft implizit – gerichtet, um dann von dort her vor allem sozialintegrative Probleme zu beleuchten. Wie auch die Kapitalismustheorie, und häufig mit ihr verknüpft, verfügt die Ungleichheitstheorie, anders als die Differenzierungstheorie, über kein weiter ausgearbeitetes zeitlich übergreifendes gesellschaftstheoretisches Modell, sondern arbeitet mit zeitdiagnostischen Fortschreibungen. Meist wird dabei ein mehr oder weniger entfalteter konflikttheoretischer Bezugsrahmen zugrunde gelegt.98 Im »golden age« schwächten sich ökonomische Ungleichheiten, vor allem aufgrund des »Fahrstuhl-Effekts«, in ihrer Lebensbedeutsamkeit ab, und die Chancen für Bildungsaufsteiger nahmen vorübergehend zu. Auch die 1970er und teilweise noch die 1980er Jahre waren noch Zeiten einer relativen Latenz ökonomischer Un97 | Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris 1979; Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. 98 | Barlösius, Eva: Kämpfe um soziale Ungleichheiten. Machttheoretische Perspektiven, Wiesbaden 2004.

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gleichheiten. Das führte zum einen dazu, dass sie vorübergehend als Thema von Gegenwartsdiagnosen ziemlich in den Hintergrund rückten. Zum anderen wurde so die politische Bühne frei für andere, oft kulturell gerahmte Ungleichheiten der Identität, die dann auch gegenwartsdiagnostisch vermerkt wurden. Es ging um die gesellschaftliche Nicht-Anerkennung aufgrund von Geschlecht, sozialem Milieu, sexueller Orientierung, Behinderung, Ethnie oder »race«, Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit und weiterer Arten von »Nicht-Normalität« im Sinne einer »spoiled identity«.99 »Neue Soziale Bewegungen«, am größten und durchsetzungsfähigsten die Frauenbewegung, verfochten »politics of identity« für eine Nicht-Diskriminierung – auch hinsichtlich ökonomischer Chancen – ihrer teils auferlegten, teils selbst gewählten Lebensführung.100 Sie erreichten einiges, aber noch lange nicht alles, was ihnen wichtig war, so dass sie ihren Platz auf der Bühne nicht räumen wollten, als die ökonomisch Schlechtergestellten dorthin zurückkehrten. Dies waren und sind zum einen untere soziale Schichten, die durch eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses – sichere unbefristete oder sogar unkündbare Vollzeiterwerbstätigkeit auf einem Lohnniveau, das als Alleinverdiener eine Familie ernährt – prekarisiert worden sind oder in ständiger Prekaritätsangst leben müssen.101 Im Extremfall rutschen sie in den exkludierten Status des »Überflüssigen«102 ab. Zum anderen haben dann auch vielfach Angehörige der Mittelschichten registriert, dass ihre tatsächliche oder subjektiv wahrgenommene bzw. antizipierte Lage durch zunehmende Unsicherheiten und sich verringernde Chancen sozialen Aufstiegs bestimmt ist.103 Hinter beiden Entwicklungen in Richtung einer »Abstiegsgesellschaft«104 oder »Gesellschaft der Angst«105 stehen vor allem die geschilderten kapitalistischen Dynamiken. Verschiedene Diagnosen widmen sich den Reaktionsmustern auf diese Ungleichheitsdynamiken. Hierzu werden in den unteren Schichten teilweise Fatalismus sowie in den Mittelschichten »Statuspanik«106 ausgemacht. In beiden Lagen treten oft intensivierte Anstrengungen hinzu, um in der verschärften Arbeitsmarkt- und Karrierekonkurrenz noch mithalten zu können, sowie politische For99 | Goffman, Erving: Stigma, Harmondsworth 1974 (urspr. 1963). 100 | Melucci, Alberto: The New Social Movements: A Theoretical Approach, in: Social Science Information 19, 1980, S. 199-226; Rucht, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankreich a.M. 1997; Castells, Manuel: The Power of Identity, London 2004 (urspr. 1997). 101 | R. Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt; P. Bourdieu u.a.: Das Elend der Welt; R. Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. 102 | H. Bude/A. Willisch: Das Problem der Exklusion. 103 | J. S. Hacker: The Great Risk Shift; Hacker, Jacob S./Pierson, Paul: Winner-Take-All Politics. How Washington Made the Rich Richer – and Turned Its Back on the Middle Class, New York 2011; S. Mau: Lebenschancen; Mau, Steffen: Inequality, Marketization and the Majority Class. Why Did the European Middle Class Accept Neo-Liberalism?, Houndsmill 2015; Schimank, Uwe/Mau, Steffen/Groh-Samberg, Olaf: Statusarbeit unter Druck? Zur Lebensführung in Mittelschichten, Weinheim 2014. 104 | Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016. 105 | H. Bude: Gesellschaft der Angst. 106 | Ebd., S. 60-83.

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derungen, die auf die eine oder andere Art von sozialer Schließung hinauslaufen, um auf diese Weise einen Teil der Konkurrenz ausschließen zu können. Die so sich vollziehende Rückkehr ökonomischer Ungleichheiten auf die politische Bühne wird gegenwartsdiagnostisch dann auch noch in Konkurrenz um knappe politische Aufmerksamkeit mit gegenüber diesen Anliegen gleichgültigen Gruppierungen gesehen, die ihre Identitätspolitik – nicht selten von Nichtbetroffenen als nachrangige Minderheitsanliegen eingestuft – mit inzwischen gefestigtem politischen Einfluss betreiben. Da soziale Schließungen oftmals kulturell legitimiert werden, indem ein »Wir« gegen »Andere« positioniert wird, denen aufgrund von Ethnie, Religionszugehörigkeit oder Migrationsstatus ökonomische Chancen – einschließlich sozialstaatlicher Leistungen – vorenthalten werden sollen, werden die Ungleichheitskämpfe auf allen Seiten kulturell gerahmt, auch wenn es bei Identitätspolitik meist auch um ökonomische Chancen geht. Als immer wieder hochexplosiver derzeitiger Zwischenstand dieser schwierigen Gemengelage wird ein auftrumpfender und in nennenswerte Teile der Mittelschichten hineinragender politisch rechter »Populismus«107 mit einem von »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« geprägten harten Kern ausgemacht. Als dessen Feindbild gelten mittlerweile neben den wie auch immer umschriebenen »Fremden«108 und den meist linken Betreibern von Identitätspolitik auch das politische und journalistische »Establishment«, gegenüber dem keinerlei Gesprächsbereitschaft mehr besteht, weil ihm – nicht ganz zu Unrecht – Gesprächsverweigerung durch moralische Abwertung der »Rassisten«, »Sexisten« etc. attestiert wird. Sozialintegrativ könnte das durchaus in einer Richtung eskalieren, die der »two nations«-Spaltung der britischen Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts nahekommt. Damit werden die heutigen Ungleichheitsverhältnisse als teils kapitalistisch, teils kulturell bedingt diagnostiziert. Sie werden in der Tat sowohl mit ökonomischen Forderungen als auch mit kulturellen Lesarten der »richtigen« Lebensführung vertreten – und zwar in Gestalt von Ansprüchen, die an die Leistungsproduktionen der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären gerichtet werden. Alle dreieinhalb gesellschaftstheoretischen Perspektiven kommen an diesem Punkt also zusammen.

4. S chluss Wenn auch unsere Sortierung der Gegenwartsdiagnosen der letzten Jahrzehnte jede nur sehr kurz ansprechen konnte: Wichtiger ist uns hier der Gesamteindruck, dass die Diagnosen in der Summe recht gut über das gesamte Themenspektrum, das die gesellschaftstheoretischen Perspektiven entfalten, verteilt sind. Es gibt weder große weiße Flecken noch so starke Ballungen, dass von ermüdenden Wiederholungen immer Desselben ausgegangen werden muss. Diese Verteilung lässt 107 | Hochschild, Arlie: Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right, New York 2016; Inglehart, Ronald/Norris, Pippa: Trump, Brexit, and the Rise of Populism: Economic Have-Nots and Cultural Backlash, Cambridge, MA 2016; Neckel, Sighard: Aus Scham wird Rache. Der Populismus erobert das Terrain der Linken, in: Süddeutsche Zeitung, 22.11.2016. 108 | Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005 (urspr. 1991).

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Komplementaritäten erwarten – jedenfalls solange keine starken Inkompatibilitäten bis hin zu völlig konträren Diagnosen vorliegen. Zwar stilisieren sich viele Diagnosen selbst als »einzig wahre« Sicht der Dinge. Wenn man sie allesamt Revue passieren lässt, wird jedoch schnell klar, dass jede Partialgesichtspunkte verabsolutiert und die Diagnosen in dieser Arbeitsteiligkeit aufeinander angewiesen sind. Gerade weil jede ihren Aspekt besonders scharf in den Blick nimmt, übersieht sie ganz vieles Anderes. Inkompatibilität könnte weiterhin, eine Abstraktionsstufe höher, auch daher rühren, dass die Diagnosen aus verschiedenen gesellschaftstheoretischen Perspektiven heraus entwickelt worden sind. Doch auch die Unverträglichkeiten etwa zwischen einer kapitalismus- und einer kulturtheoretischen oder einer differenzierungs- und einer ungleichheitstheoretischen Perspektive sind weitaus geringer, als aus Gründen der Markenbildung immer wieder behauptet wird109 – wie man schnell feststellt, wenn man sich daran macht, ein integratives, die Perspektiven systematisch und keineswegs bloß eklektizistisch zusammenführendes Modell zu konzipieren.110 Es ist ja diesbezüglich bezeichnend, dass die wenigsten Gegenwartsdiagnosen einer und nur einer der Perspektiven zuzuordnen sind; meist liegt eine mehr oder weniger elaborierte Perspektivenkombination vor. Vor diesem Hintergrund sollte man die Gegenwartsdiagnosen wohl am besten so betrachten, dass sie insgesamt eine beeindruckend vielfältige und ideenreiche Kollektion von Hypothesen mittlerer Reichweite zur Dynamik zeitgenössischer Gesellschaften anbieten und dabei zumeist nicht bloß von einer der gesellschaftstheoretischen Perspektiven inspiriert sind. Solche Hypothesen müssen empirisch prüf bar gemacht werden, wo sie es nicht ohnehin schon sind; und darüber kommen die Gegenwartsdiagnosen dann mit vielen der speziellen Soziologien ebenso wie mit Politik- oder Wirtschaftswissenschaft sowie mit der Zeitgeschichte in Kontakt. Selbst wenn sich eine Diagnose dann letzten Endes als empirisch falsch erweist, hat sie zumeist eine wichtige aufmerksamkeitslenkende Funktion gehabt, Forschungsanstrengungen gebündelt und so kumulativen Erkenntnisfortschritt befördert.

109 | Schimank, Uwe: Markenbildung und Markenbindung auf dem Theorie-Markt – Eine Notiz zur Soziologie der Soziologie, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1, 2012, S. 10-16. 110 | U. Schimank: Grundriss einer integrativen Theorie der modernen Gesellschaft.

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1. Theorie und D iagnose der G esellschaf t Was kennzeichnet die wissenschaftliche Tätigkeit, die wir als Soziologie bezeichnen? Für den US-amerikanischen Soziologen Randall Collins handelt es sich bei ihr im Kern um eine bestimmte Form des Schauens. »The activity is this: It is looking at the world around us, the immediate world you and I live in, through the sociological eye.«1 Die Stärke von Collins’ zunächst tautologisch anmutendem Argument besteht darin, den soziologischen Blick weniger inhaltlich als formal zu bestimmen: Immer dann, wenn wir die Welt, in der Du und ich gemeinsam leben, so betrachten, dass sie uns als fremd erscheint, können wir auf eine soziologische Einsicht hoffen. Konkret heißt dies: »Walking down the street, or out for a run, you can scan the class and ethnic pattern of the neighborhood, look for lines of age segregation, or for little pockets of solidarity. Waiting for a medical appointment, you can read the professions and the bureaucracy instead of old copies of National Geographic. Caught in a traffic jam, you can study the correlation of car models with bumper stickers or with the types of music blaring from radios.«

Die Aufgabe, vor der jede soziologische Forschung steht, lautet dann: »Make it observationally strange, as if you’d never seen it before.«2 Der für den soziologischen Erkenntnisgewinn zu entrichtende Preis besteht danach in der Irritation, die aus dem Fremdwerden des Vertrauten resultiert. Auch wenn der »soziologische Blick«, wie jeder weiß, der durch diese Erfahrung gegangen ist, während der akademischen Sozialisation in einem langwierigen Prozess mühsam erlernt werden muss, komme es, so Collins, ab einem bestimmten Punkt zu einem vergleichsweise plötzlichen Wahrnehmungswandel: »We all went through a gestalt switch in our way of looking at the world, sometime early in our careers, that was the key moment in our initiation into sociology.«3 Collins bleibt 1 | Collins, Randall: The Sociological Eye and Its Blinders, in: Contemporary Sociology 27, 1998, S. 2-7, hier S. 2. 2 | Beide Zitate ebd., S. 3. 3 | Ebd.

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hierbei aber nicht stehen. Ähnlich wie schon der Chicagoer Soziologe Everett C. Hughes, der das Bild vom sociological eye geprägt hat,4 geht auch er davon aus, dass die Soziologie eine charakteristische Doppelstruktur besitzt: Neben dem Distanz erzeugenden soziologischen Blick bilde der soziale Aktivismus die zweite Grundorientierung des Fachs. Die Soziologie möchte nicht nur den uns vertrauten Alltag in ungewohnter Weise betrachten, sondern mit ihren Erkenntnissen auch dazu beitragen, »to change society, help people, fight injustice, and elevate the oppressed«.5 Trotz ihrer zunächst gegenläufigen Ausrichtung blieben beide Perspektiven aufeinander angewiesen: Der soziale Aktivismus benötige den kühlen soziologischen Blick, möchte er vom aufgeheizten politischen Protest auf der Straße unterscheidbar bleiben. Umgekehrt erlange die Soziologie ihre gesellschaftliche Relevanz erst durch einen zumindest mittelbaren Handlungsbezug. Ungeachtet der bisweilen im Fach zu beobachtenden Lähmung, die sich aus dieser doppelten Orientierung ergibt, fällt das Resümee des Konflikt- und Emotionssoziologen positiv aus: »Sociology is fortunate that it has so much built-in energy, so much intellectual commitment – even if those commitments sometimes are at cross-purposes.«6 Die von Collins beschriebene Doppelstruktur ist jedoch keine Besonderheit der Soziologie, sie lässt sich auch bei anderen Wissenschaftsdisziplinen erkennen. Schon Norbert Elias bemerkte in den 1950er Jahren, dass letztlich alle Wissenschaften, die den Menschen und seine Kultur untersuchen, durch einen nicht aufzulösenden Konflikt zwischen Engagement und Distanzierung geprägt seien.7 Noch allgemeiner setzen Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann an: Für sie oszilliert wissenschaftliche Forschung als solche zwischen einem autonomen und einem heteronomen Pol bzw. einem Funktions- und einem Leistungsbezug.8 Verlange die von der Institution Wissenschaft angestrebte Autonomie von den Forscherinnen und Forschern, sich zunächst nur an den Erfordernissen des Erkenntnisgewinns zu orientieren, sollen Nützlichkeitserwägungen die gesellschaftliche Relevanz der Forschung gewährleisten.9 Demnach versuchen sich die von der Wissenschaft eröffneten Perspektiven von außerwissenschaftlichen Betrachtungsweisen der Welt abzuheben, ohne deswegen aber jedweden Handlungsbezug zu verlieren.

4 | Vgl. Hughes, Everett C.: The Dual Mandate of Social Science: Remarks on the Academic Division of Labor (1959), in: Ders.: The Sociological Eye: Selected Papers, Chicago/New York 1971, S. 443-454. 5 | R. Collins: The Sociological Eye and Its Blinders, S. 4. 6 | Ebd., S. 6. 7 | Vgl. dazu den erstmals 1956 auf Englisch erschienenen Titelaufsatz in Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, Frankfurt a.M. 1983, sowie Die Fischer im Mahlstrom im selben Band. 8 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998; Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. 9 | So fasst Kaldewey, David: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz, Bielefeld 2013, die jüngere Theoriedebatte zum Thema mitsamt ihrer philosophisch-theologischen Vorgeschichte – Theorie vs. Praxis, vita contemplativa vs. vita activa, scientia speculativa vs. scientia practica – zusammen.

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Auf Ebene der soziologischen Gesellschaftsbeschreibung zeigt sich diese doppelte Orientierung an der Differenz von Theorie und Diagnose der Gesellschaft.10 Während Gesellschafts- oder Zeitdiagnosen politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu beeinflussen suchen, indem sie Aussagen und Sätze produzieren, die für die öffentliche Kommunikation anschlussfähig sind,11 arbeitet die Gesellschaftstheorie an der für die Soziologie konstitutiven Perspektivendifferenz und entwickelt zu diesem Zweck eine facheigene Terminologie. Auch wenn Gesellschaftstheorien zeitdiagnostische Implikationen haben und Zeitdiagnosen gesellschaftstheoretischer Fundierung bedürfen, ist die Gattungsdifferenz zwischen ihnen heutzutage deutlich ausgeprägt.12 Dies war nicht schon immer so. Nach Einschätzung von André Kieserling ist »die relativ bruchlose Einheit von Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose, die wir an den Klassikern schätzen«, erst »mit dem Übergang zur Nachkriegszeit« zerfallen.13 Im Folgenden richtet sich der Blick auf die Zeit vor der Trennung dieser beiden Genres soziologischer Text- und Wissensproduktion, um nach der Form ihrer Einheit zu fragen. Genauer interessiert hier die frühe Phase der im Entstehen begriffenen »Wissenschaft von der Gesellschaft«, wie sie in den Jahren zwischen 1820 und 1860 in Großbritannien, Frankreich und Deutschland diskutiert wurde. Anhand zentraler Diskursfragmente aus dieser Zeit wird erörtert, inwiefern die soziologische Gesellschaftstheorie als eine quasi-medizinische Zeitdiagnose entstanden ist. Der soziologische Blick – so die These – verdankt sich in einem bestimmten, genauer zu erläuternden Sinn einer Übertragung des ärztlichen Blicks auf das alltägliche Zusammenleben der Menschen. Der ärztliche Blick, dessen Metamorphosen Michel Foucault für das nachrevolutionäre Frankreich mit Mitteln der Diskursarchäologie rekonstruiert hat,14 zielt zentral darauf, die angenommene Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe zu überbrücken: Beobachtbare Symptome werden auf das ihnen zugrunde liegende, sich unmittelbarer Sichtbarkeit aber entziehende Krankheitsgeschehen zurückgeführt. Die diagnostische Frage danach, wie man die Krankheitszeichen richtig zu lesen habe, war bereits Gegenstand der medizinischen Semiotik der Antike.15 10 | Zum Genre soziologischer Zeitdiagnostik siehe unter anderem Lichtblau, Klaus: Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug, in: Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 15-47; Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000; Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. 11 | Zu diesem Anliegen vgl. etwa Burawoy, Michael: For Public Sociology, in: American Sociological Review 70, 2005, S. 4-28. 12 | Siehe dazu nochmals die in Anm. 10 angeführte Literatur. 13 | Kieserling, André: Die Selbstbeschreibung der Soziologie, in: Ders.: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt a.M. 2004, S. 16-45, hier S. 41. 14 | Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1976. 15 | Neben der Diagnose umfasst die maßgeblich von Galen geprägte medizinische Semiotik auch noch die Anamnese und die Prognose; vgl. dazu Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000, S. 2.

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In der modernen Gesellschaft beansprucht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die wissenschaftlich ausgebildete Ärzteschaft das Monopol auf eine kompetente Diagnose, Therapie und Prognose.16 Eine ähnliche Beobachtungsposition nahm der sich im 19. Jahrhundert langsam formierende soziologische Diskurs ein, der bekanntlich angetreten war, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Vor allem mit Blick auf die um sich greifende Massenarmut wurde dem »sozialen Organismus« eine tiefgreifende Ordnungskrise attestiert: Bereits in naher Zukunft werde sich entscheiden, ob der krankhafte Zersetzungsprozess bis zum vollständigen Ordnungszerfall fortdauere oder aber eine Genesung einsetze. Auch wenn man den Pauperismus und die mit ihm verbundenen Probleme häufig als Krankheitssymptome deutete, gingen die Meinungen bezüglich der genauen Erklärung und Behandlung der gesellschaftlichen Misere auseinander. Innerhalb eines gemeinsamen Problemhorizonts wurden unterschiedliche Gesellschaftstheorien und Handlungsprogramme entwickelt. Die sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuende Organismusmetapher17 spielte eine tragende Rolle für die Herausbildung des soziologischen Diskursfelds in den Jahren zwischen 1820 und 1860.18 Die Funktion dieses Sprachbilds bestand aber nicht allein darin, die gleichermaßen komplizierten wie weitläufigen Prozesse gesellschaftlicher Arbeitsteilung und nationalstaatlicher Schließung zu veranschaulichen.19 Auch wäre es zu kurz gegriffen, die Beschreibung des Sozialen mithilfe biologischer Kategorien ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Naturalisierung politischer Verhältnisse zu betrachten.20 Der im Entstehen befindlichen Soziologie ermöglichte die Organismusmetapher überdies, einen Verfremdungseffekt zu erzielen und hierbei zugleich Handlungsrelevanz geltend zu machen: Wo sich der naiven Anschauung voneinander separierte Individuen und Gruppen zeigten, erkannte der soziologische Blick die Zellen und Organe eines großen Kollektivkörpers, der mit dem Untergang der altständischen Ordnung gefährlich erkrankt sei, sodass nun Eingriffe nottäten, um Schlimmeres zu verhindern. Mithilfe der Metapher vom sozialen Organismus konnte das menschliche Zusammenleben auf eine Weise beschrieben werden, die sowohl vergleichsweise

16 | Für den deutschen Fall vgl. ausführlich Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußen, Göttingen 1985. Psychische Erkrankungen werden aber nicht nur von Ärzten, sondern ebenfalls von klinischen Psychologen diagnostiziert. 17 | Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Dohrn-van Rossum, Gerhard: Art. »Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 4, S. 519-622, hier S. 579-622. 18 | Die entsprechende Wissenschaftsdisziplin gewann aber erst deutlich später im frühen 20. Jahrhundert an Kontur. 19 | Für weitere Funktionen der Organismusmetapher siehe Schlechtriemen, Tobias: Bilder des Sozialen. Das Netzwerk in der soziologischen Theorie, München 2014, S. 98f. 20 | Zur Naturalisierung sozialer Verhältnisse und der damit einhergehenden Reflexion des Politischen in biologischen Kategorien vgl. Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, insb. S. 179-205.

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ungewohnt als auch bedeutsam für politische Gestaltungsprozesse war.21 Die Kartierung des sich langsam herausbildenden, noch schwach integrierten Diskursfelds der frühen Soziologie unter dem Gesichtspunkt der sozialen Pathologie ist Gegenstand der folgenden Ausführungen.22

2. E nt wicklung am S cheide weg – S oziologie als  K risenwissenschaf t Im frühen 19. Jahrhundert drohte der bürgerliche Traum der Aufklärungsepoche zu zerplatzen. Die Auflösung der ständischen Ordnung, die Lockerung religiösen Zwangs, die Beförderung technologischer Innovationen, die Enthemmung ökonomischer Interessen und die Ausweitung staatlicher Herrschaft – alles Entwicklungen, die im Übergang zur Moderne an Durchschlagskraft gewannen – führten nicht zur ersehnten Einrichtung der Welt nach Maßgabe der Vernunft. Die um sich greifende Massenarmut verdeutlichte, dass die moderne Gesellschaft keineswegs geradlinig zum Guten fortschritt. Ihre geschichtliche Bewegung schien vielmehr durch eine Reihe gegenläufiger Momente und Tendenzen gekennzeichnet zu sein. Alexis de Tocqueville suchte in zwei Aufsätzen aus Mitte der 1830er Jahre nach einer Antwort auf die Frage, warum es in den reichsten Ländern die meisten Armen gebe.23 Den Hauptgrund für den grassierenden Pauperismus sah der studierte Jurist in der industriellen Produktionsweise, die Reichtum für Wenige und Armut für Viele bedeute: »Die Industrieklasse, die für die Annehmlichkeiten der Mehrheit arbeitet, ist selbst von Notlagen bedroht, die nahezu unbekannt wären, wenn es diese Klasse gar nicht gäbe.«24 Denn der Arbeiter gründe seine Existenz auf der Herstellung von Waren, die für den Verkauf auf Märkten bestimmt seien, ohne im Falle ausbleibender Nachfrage selbst einen sinnvollen Gebrauch von diesen Gütern machen zu können.25 Dennoch erachtete Tocqueville mit Blick auf die englischen Verhältnisse eine zeitlich unbegrenzte Armenhilfe für kontraproduktiv, 21 | Die Organismusmetapher ist freilich deutlich älter als die Soziologie. Bereits bei den antiken Philosophen und nochmals verstärkt in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit finden sich Vorstellungen vom Staat als einem großen Kollektivkörper; vgl. dazu Lüdemann, Susanne: Art. »Körper, Organismus«, in: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 168-182. Interessant ist jedoch, dass es im 19. Jahrhundert zu einer Generalisierung dieses Bildes kam bzw. sich dessen Bezugsordnung verschob: Nicht allein der Staat, auch die ihn umfassende, das heißt als Teilordnung mit einschließende, Gesellschaft wurde nunmehr als ein sozialer Organismus imaginiert. 22 | Ich greife hierbei auf Argumente und Textstellen aus meinem Buch Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie, Weilerswist 2017, Kap. 4, zurück. 23 | Vgl. Tocqueville, Alexis de: Das Elend der Armut. Über den Pauperismus, Berlin 2007 (urspr. 1835/1838). 24 | Ebd., S. 18. 25 | Vgl. für dieses Argument auch Mohl, Robert: Ueber die Nachtheile, welche sowohl den Arbeitern selbst, als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesammten bürgerlichen Gesellschaft von dem fabrikmäßigen Betriebe der Industrie zugehen, und über die Nothwendigkeit gründlicher Vorbeugungsmittel, in: Archiv der politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft 2, 1835, S. 141-203.

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weil sie die Untätigkeit der Leistungsempfänger befördere; in diesem Punkt ähnelte seine Position der 1786 von Joseph Townsend veröffentlichten Kritik, die zentrale Denkfiguren des evolutionistischen Bevölkerungsdiskurses aus dem 19. Jahrhundert vorwegnahm.26 Möchte man die Massenarmut, »diese schreckliche und riesige Wunde, die in einem vor Kraft und Gesundheit nur so strotzenden Körper klafft«,27 nachhaltig bekämpfen, müsse der Arbeiter in seiner individuellen Vermögensbildung durch staatliche Förderprogramme unterstützt werden. Auch wenn es den genauen Weg erst noch auszukundschaften galt, stand das zu erreichende Ziel deutlich vor Augen: Wohlstandsvermehrung ohne Massenverelendung. Bereits die frühmittelalterliche Amtssprache kannte die Sozialfigur des »Paupers«. Im Gegensatz zum »Potens« war dieser schutzbedürftig, da er kein Amt bekleidete, keine Herrschaft ausübte und kein Lehensgut besaß.28 Der »Pauperismus« ist jedoch erst im Übergang zur Moderne entstanden. Im Zuge der Auseinandersetzung um die Reform der Elisabethanischen Armengesetzgebung in England, die 1834 in das Poor Law Amendment Act mündete,29 entstand gegen 1815 das Abstraktum pauperism, das schon bald in mehrere europäische Sprachen entlehnt wurde. Gemeinsam mit dem »Proletariat« betrat der Ausdruck während der 1830er Jahre die politische Bühne in Deutschland und verdrängte den bereits seit dem Hochmittelalter zumeist pejorativ verwendeten Begriff des »Pöbels«.30 Die Problematisierung der Gegenwart verlangte nach einer Sprache, die sich auf der Höhe der Zeit befand. Die massenhafte Armut, die sich zusammen mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausbreitete, war kein Relikt vergangener Zeiten. Als Resultat eines tiefgreifenden Wandels der Gesellschaftsstruktur gehörte sie vielmehr zum gegenwärtigen Übergang, dessen zukünftiger Ausgang noch weitestgehend offen war. Die verstärkte Herauslösung des ökonomischen Handelns aus lokalen Zusammenhängen und traditionalen Bindungen, um auf der Grundlage maschineller Warenproduktion anonyme Märkte zu bedienen, erzeugte bei gleichzeitigem Wachstum der Bevölkerung soziale Randlagen, die für die Betroffenen ein Leben in Not und Elend bedeuteten.31 Bevor sich der Industriekapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, entstanden mit dem Agrar- und Handels26 | Vgl. Townsend, Joseph: Über die Armengesetze. Streitschrift eines Menschenfreundes, Berlin 2011. 27 | Vgl. A. Tocqueville: Das Elend der Armut, S. 33. 28 | Vgl. Bosl, Karl: Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum »Pauperismus« des Hochmittelalters, in: Ders.: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/Wien 1964, S. 106-134. 29 | Vgl. Mandler, Peter: The Making of the New Poor Law Redivivus, in: Past & Present 117, 1987, S. 131-157. 30 | Vgl. Conze, Werner: Art. »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 27-68; Sokoll, Thomas: Art. »Pauperismus«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart/Weimar 2005-2012, Bd. 9, S. 946-949. 31 | Vgl. Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978, insb. S. 57-181; Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008, S. 141-235.

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kapitalismus bereits um 1800 ökonomische Strukturzusammenhänge, die aus den überkommenen Formen des Wirtschaftens hinausführten, ohne aber schon die Subsistenz der arbeitenden Klasse gewährleisten zu können.32 Zwar wurden mit der 1834 erfolgten Gründung des Deutschen Zollvereins die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen nachhaltig gestärkt – eine Stabilisierung der ökonomischen Gesamtlage war auf diesem Weg jedoch nicht zu erreichen.33 Der Pauperismus bildete ein Skandalon. Als gesellschaftliches Massenphänomen ließ er sich nur schlecht auf individuelle Fehlentscheidungen oder Schicksalsschläge zurückführen.34 Mit einem zeittypischen Sprachbild veranschaulichte August Freiherr von Haxthausen, der federführend an der Wiedergründung des Malteserordens in Deutschland beteiligt war, 1847 die gesellschaftliche Schieflage wie folgt: »Pauperismus und Proletariat sind die eiternden Geschwüre, die der Organismus der modernen Staaten geboren hat.«35 Ähnlich beschrieb Friedrich Wilhelm von Reden, Wegbereiter der modernen Finanzstatistik, die Massenverderbnis, wie sie ein dauerhafter Erwerbsmangel nach sich ziehe, als einen »gefährlichen Krankheitszustand«, dessen Therapie wirksamer »Heilmittel« bedürfe.36 Und auch der katholische Honorarprofessor für Philosophie mit abgeschlossenem Medizinstudium aus München, Franz von Baader, sah im Pauperismus eine »Krankheit« des »socialen Lebens« sich manifestieren. Um die »Evolution der Societät« voranzutreiben, müsse der Staat möglichst bald Arbeiterassoziationen und Assekuranzanstalten einrichten, ansonsten drohe eine Revolution, wie sie liberale Kräfte anstrebten.37 Auch wenn man sich weitestgehend einig war, dass der »soziale Organismus« der Gesellschaft so wie der natürliche Organismus der Menschen, die ihn trugen, erkranken konnte, war die Frage, auf welchem Weg die anbrechende Moderne die massenhafte Armut, von der sie heimgesucht wurde, bewältigen konnte, umstritten. Vier Grundpositionen lassen sich hierbei unterscheiden: Staatsinterventionismus: Im Jahr 1820 legte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts dar, inwiefern sich das gegenwärtige Zeitalter in einem kritischen Zustand der Entzweiung befände: Die bürgerliche 32 | Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 19872008, Bd. 2, S. 7-296; Pankoke, Eckart: Die Arbeitsfrage. Arbeitsmoral, Beschäftigungskrisen und Wohlfahrtspolitik im Industriezeitalter, Frankfurt a.M. 1990, S. 56-100. 33 | Vgl. Kiesewetter, Hubert: Industrielle Revolution in Deutschland 1815-1914, Frankfurt a.M. 1989, S. 25-63. 34 | Vgl. etwa den Art. »Pauperismus«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Leipzig 1846, S. 15f. 35 | Haxthausen, August Freiherr von: Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands, zit.n. W. Conze: Art. »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, S. 42. 36 | Reden, Friedrich Wilhelm von: Erwerbsmangel, Massen-Verarmung, Massen-Verderbniß; deren Ursachen und Heilmittel, in: Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik 1, 1847, S. 118-135, hier S. 120. 37 | Vgl. Baader, Franz von: Ueber das dermalige Missverhältniss der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Societät, München 1835; Ders.: Ueber den Evolutionismus und Revolutionismus oder über die positive und negative Evolution des Lebens überhaupt, und des socialen Lebens insbesondere, o. O. 1834.

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Gesellschaft reiße den Einzelnen aus der familiären Bande heraus und mache ihn zum anonymen Glied einer arbeitsteiligen Kette ökonomischer Bedürfnisbefriedigung.38 Im Idealfall kämen die besonderen Interessen der Tauschpartner zur Deckung, sodass ein allgemeiner Zusammenhang entstehe, der aus sich heraus Stabilität erlange. Indem die Beteiligten einander als bloße Mittel der eigenen Zweckerfüllung betrachteten, dienten sie, ohne dies subjektiv beabsichtigen zu müssen, einem höheren Zweck: der Verwirklichung bürgerlicher Freiheit. Hegel, der die politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit aufmerksam verfolgte, um der Wirklichkeit ihre strukturgebenden Begriffe abzulauschen,39 zweifelte jedoch keinen Augenblick an der Notwendigkeit bewusster Eingriffe. Der brüchige Gleichgewichtszustand im »System der Bedürfnisse« müsse durch präventive und korrektive Maßnahmen gestützt werden. Ohne gerichtliche Pflege der Gesetze, ohne polizeiliche Regulation des Marktes, ohne genossenschaftliche Absicherung der Arbeiterschaft bringe sich die bürgerliche Gesellschaft in eine gefährliche Schieflage, aus der sie dann nur schwer wieder herausfinde.40 Vor allem erzeuge sie eine massenhafte Verelendung, die bei den Betroffenen die Ausbildung gemeinwohlabträglicher Gesinnungen begünstige. Sobald die große Masse der Armen aufgrund ihrer aussichtslosen Lage die Verkehrsregeln der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr anerkenne, entstehe der »Pöbel«, von dem eine desintegrierende Kraft für den sittlichen Gesamtzusammenhang ausgehe.41 Noch stärker als Hegel, wenn auch in Nähe zu diesem, betonte Lorenz von Stein die Regulationsbedürftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft durch staatliche Organe. Der Staatswissenschaftler und Nationalökonom betrachtete in den 1840/50er Jahren die sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen, die in Frankreich und England gefährlich an Stärke gewännen, als Symptom einer schwerwiegenden Funktionsstörung des sozialen Lebens.42 Die Ursache der gesellschaftlichen Fehlsteuerung erkannte Stein im ökonomischen Verteilungsmechanismus: Ein auf Privateigentum, Lohnarbeit und Gütermärkten beruhendes System der Bedürfnisbefriedigung müsse nahezu zwangsläufig eine sich über Generationen hinweg fortpflanzende Ungleichheitsordnung hervorbringen. Das Proletariat habe sich verständlicherweise »eigene Organe und eigene Führer«43 gegeben, um durch eine radikale Reorganisation der Gesellschaft dem zugewiesenen Schicksal zu entrinnen. Für Stein war es nun Aufgabe einer zu gründenden »Wissenschaft der Gesellschaft«,44 die gegenwärtigen Probleme auf den Begriff zu bringen, um dem 38 | Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Gesammelte Werke, 22 Bde., Hamburg 2009, Bd. 14.1 (urspr. 1820), S. 162. 39 | Vgl. Ritter, Joachim: Hegel und die französische Revolution, Frankfurt a.M. 1965; BuckMorss, Susan: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin 2011. 40 | Vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 175-200. 41 | Vgl. ebd., S. 194. Für einen Kommentar siehe Ruda, Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Konstanz 2011. 42 | So die zentrale These in Stein, Lorenz von: Proletariat und Gesellschaft, München 1971 (urspr. 1848). 43 | Ebd., S. 15. 44 | Vgl. programmatisch dazu Stein, Lorenz von: System der Staatswissenschaft, 2 Bde., Stuttgart/Augsburg 1852-1856, Bd. 2.1: Der Begriff von der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen, S. 1-74.

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Staat neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und die Zukunft bewusst gestalten zu können. Von der Überlegung ausgehend, dass durch kollektive Prozesse der Arbeitsteilung und Ideenentwicklung ein sozialer Organismus hervorgebracht werde, den »ein eigentümliches Leben«45 kennzeichne, betrachtete Stein den Staat als das gesellschaftliche Zentralorgan. Dessen Hauptfunktion bestehe darin, das soziale Leben mit seinen vielfältigen Einzelvorgängen zum Wohlergehen des Ganzen zu synthetisieren.46 Durch behutsame Eingriffe in das volkswirtschaftliche Geschehen solle der Staat einen sozialen Ausgleich schaffen und so den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit vermitteln.47 Marktliberalismus: Ungefähr zeitgleich zu Stein warnte in England Herbert Spencer vor einer übermäßigen Staatstätigkeit. Seine Überlegungen zum Thema, die sich am Armutsproblem verdichteten, waren in eine allgemeine Theorie fortschreitender Entwicklung und Differenzierung eingebettet. Den Ausgangspunkt bildete die Unterscheidung von drei aufeinander auf bauenden Typen von Evolutionsprozessen: anorganische, organische und überorganische. Die im Entstehen befindliche »Science of Sociology« habe sich mit der überorganischen Evolution in den menschlichen Gesellschaften zu befassen.48 Mit zunehmender Komplexität eines sozialen Organismus bildeten sich, so die Grundidee, Stück für Stück drei Teilsysteme heraus: das »sustaining system« (Produktion), das »distributing system« (Zirkulation) und das »regulating system« (Staat).49 Auch wenn hochentwickelte Gesellschaften auf politische Steuerung angewiesen seien, bestimmte Spencer ihre Funktion als eine rein negative: Der Staat habe lediglich die individuelle Freiheit zu schützen.50 Es war somit nur konsequent, dass Spencer eine Kritik an der verbreiteten Metapher der »Staatsmaschine« formulierte: Soziale Ordnung verdanke sich keiner artifiziellen Konstruktion, die auf bewusstem Willen und planvollem Handeln beruhe. Vielmehr emergiere sie, wie das Beispiel der ökonomischen Arbeitsteilung zeige, in einem naturwüchsigen Prozess der Selbstorganisation.51 Eine Nichtbeachtung dieses Grundsatzes führe, wie Spencer 1851 in Social Statics darlegte, in der Regel zur Schädigung des sozialen Organismus. Das gegenwärtige System der Armenunterstützung in England belege dies eindrücklich. Um die aktuelle Übergangsphase mit ihren vielfältigen Herausforderungen erfolgreich zu meistern, müsse auf die Selbstregulation des Gesellschaftssystems vertraut werden. »It is much better«, veranschaulichte Spencer sein Argument, »that the 45 | L. von Stein: Proletariat und Gesellschaft, S. 29. 46 | Vgl. L. von Stein: System der Staatswissenschaft, Bd. 1: System der Statistik, der Populationistik und der Volkswirtschaftslehre, S. 1-26. 47 | Vgl. Blasius, Dirk: Lorenz von Steins Sozialstaat im Kontext der »Zeitgeschichte« des 19. Jahrhunderts, in: Koslowski, Stefan (Hg.): Lorenz von Stein und der Sozialstaat, Baden-Baden 2014, S. 30-41. 48 | Vgl. Spencer, Herbert: The Study of Sociology, London 1907 (urspr. 1873), S. 48-70. 49 | Vgl. Spencer, Herbert: A System of Synthetic Philosophy, 10 Bde., London 1900-1906 (urspr. 1874-1877), Bd. 6: The Principles of Sociology 1, S. 486-575. 50 | Vgl. Spencer, Herbert: Social Statics, London 1902 (urspr. 1851), S. 107-133. 51 | Vgl. Spencer, Herbert: The Social Organism, in: The Westminster Review 17, 1860, S. 90-121. Zur Metapher der Staatsmaschine siehe Stollberg-Rilinger, Barbara: Der Staat als Maschine: zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986.

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ruminant animal, when deprived by age of the vigour which made its existence a pleasure, should be killed by some beast of prey, than that it should linger out a life made painful by infirmities, and eventually die of starvation.« Ähnlich gelte für die menschliche Gesellschaft, dass der Tod des schwachen Exemplars das Leben der Gattung stärke. In einer an Thomas Malthus52 erinnernden Textpassage hieß es weiter: »Nevertheless, when regarded not separately but in connexion with the interests of universal humanity, these harsh fatalities are seen to be full of beneficence – the same beneficence which brings to early graves the children of diseased parents, and singles out the intemperate and the debilitated as the victims of an epidemic.«

Die vom politischen System verordnete Kur störe die Selbstheilungskräfte des sozialen Organismus, der die krankhaften Elemente ausscheiden müsse, um zu gesunden: »Similarly, we must call those spurious philanthropists who, to prevent present misery, would entail greater misery on future generations. […] Blind to the fact that under the natural order of things society is constantly excreting its unhealthy, imbecile, slow, vacillating, faithless members, these unthinking, though well-meaning, men advocate an interference which not only stops the purifying process, but even increases the vitiation[.]« 53

Demnach habe man den Tod des schwachen Individuums in Kauf zu nehmen, um das Leben des sozialen Organismus zu schützen. Ordnung und Fortschritt: Dass sich die gesellschaftliche Entwicklung gegenwärtig an einem Scheideweg befinde, war auch tragendes Motiv im Denken Auguste Comtes. Der mathematisch-naturwissenschaftlich ausgebildete Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der 1817 in Paris die Nachfolge von Augustin Thierry als Privatsekretär Claude-Henri de Saint-Simons antrat, hat in der von ihm entwickelten »sozialen Physik« nach den universellen Gesetzmäßigkeiten gefragt, die im historischen Entwicklungsgang des menschlichen Geistes am Werke seien.54 Im Unterschied zur Sozialphysik Adolphe Quételets, die mithilfe numerischer Daten und statistischer Verfahren die soziale Mechanik vermessen wollte,55 wies Comte 52 | Vgl. Malthus, Thomas Robert: An Essay on the Principle of Population, in: The Works of Thomas Robert Malthus, 8 Bde., London 1986 (urspr. 1798), Bd. 1, insb. S. 29-39. 53 | Alle Zitate in H. Spencer: Social Statics, S. 146-148. 54 | Auf systematische Weise hat Comte die soziale Physik, die er verschiedentlich auch als »Soziologie« bezeichnete, in den letzten drei Büchern des insgesamt sechsbändigen Cours de philosophie positive (1830-1842) sowie im vierbändigen Système de politique positive (1851-1854) entwickelt. 55 | Nach Quételet, Adolphe: Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, 2 Bde., Jena 1914/1921 (urspr. 1835), unterliegen nicht nur materielle, sondern auch soziale Körper bestimmten Kräften, die mithilfe numerischer Daten erschlossen werden können. Auch wenn der Einzelne unter dem Eindruck stehe, sein eigenes Verhalten autonom zu steuern, zeige die statistische Untersuchung das tatsächliche Ausmaß, in dem individuelle Handlungsentscheidungen durch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse determiniert seien. Über den Selbstmord konnte Quételet daher schreiben: »Ein be-

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die mathematische Methode in den Sozialwissenschaften entschieden zurück, um stattdessen qualitative Entwicklungsgesetzmäßigkeiten zu postulieren.56 Mit dem Drei-Stadien-Gesetz glaubte er, das »Grundgesetz der sozialen Evolution«57 gefunden zu haben. Danach durchlaufe der menschliche Geist in seinem Bestreben, die ihm erscheinende Welt zu ordnen, drei Phasen: vom Kindesalter der Theologie mit dem Glauben an übernatürliche Mächte über das Jugendalter der Metaphysik mit der Idee von abstrakten Wesenheiten bis hin zum Erwachsenenalter des Positivismus, in dem sich der Geist auf die Durchdringung wahrnehmbarer Phänomene begrenze.58 Das enzyklopädische Gesetz, das eine systematische Rangfolge der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen postulierte, komplettierte das Bild.59 Der menschliche Geist habe nunmehr das notwendige Entwicklungsniveau erreicht, um sich mit der positiven Soziologie, welche die Gesamtentwicklung rekapituliere, den krönenden Schlussstein zu geben.60 Gegenwärtig befände sich die Gesellschaft jedoch noch in einer schwierigen Übergangsphase. Vor ihrer endgültigen Genesung habe sie eine letzte große Krisis zu überstehen.61 Eine zu einseitige Spezialisierung gesellschaftlicher Organe habe in Verbindung mit einem zu schnell erfolgten Strukturwandel zu einer anormalen, krankhaften Auflösung der »sozialen Solidarität« geführt. Nur eine wahrhaft positive Politik, die im Namen von Ordnung (Statik) und Fortschritt (Dynamik) die verschiedenen Teilbereiche miteinander koordiniere und weiterentwickle, könne der »Zersplitterung« der gesellschaftlichen Einheit, die aus der »Trennung der sozialen Funktionen« resultiert sei, entgegenarbeiten und so den verlorengegangenen »Normalzustand des sozialen Organismus« auf höherer Stufe wiederherstellen.62 Nicht Rückgängigmachung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, sondern bessere stimmter Zustand der Gesellschaft muß zur Folge haben, daß eine bestimmte Anzahl von Individuen ihrem eigenen Leben ein Ende bereiten« (S. 158). Ohnehin sei der Gesetzesbrecher nur das »ausführende Werkzeug« (S. 107) eines gesellschaftlichen Spiels von Kräften. 56 | Vgl. Comte, Auguste: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973 (urspr. 1822), S. 132-138; Ders.: Soziologie, I. Bd.: Der dogmatische Teil der Sozialphilosophie, Jena 1907 (urspr. 1839), S. 374ff. 57 | Ebd., S. 14. 58 | Vgl. ausführlich dazu Comte, Auguste: Soziologie, II. Bd.: Historischer Teil der Sozialphilosophie. Theologische und metaphysische Periode, Jena 1907 (urspr. 1841); Ders.: Soziologie, III. Bd.: Abschluss der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen, Jena 1911 (urspr. 1842). 59 | Vgl. A. Comte: Soziologie, I. Bd., S. 343-391. Für eine spätere, leicht modifizierte Darstellung siehe Ders.: System der positiven Politik, 4 Bde., Wien 2004-2012 (urspr. 1853), Bd. 3, S. 67-118. 60 | Vgl. A. Comte: Soziologie, I. Bd., S. 164-209, 343-391. 61 | So bereits Comte in seinem Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. Für eine wissenssoziologische Rekonstruktion der Comte’schen Krisendiagnose siehe Repplinger, Roger: Auguste Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise, Frankfurt a.M. 1999. 62 | Alle Zitate in A. Comte: Soziologie, I. Bd., S. 254, 441, 439, 10. Zum Normalitätsproblem bei Comte siehe auch Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, München 1974, S. 25-38; Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997, S. 206-220.

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Abstimmung der verschiedenen Organe bei gleichzeitigem, wenn auch behutsamem, Fortschreiten der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft war die von Comte empfohlene Therapie. Staatliche Ordnungspolitik wurde mit der Förderung technisch-wissenschaftlicher Innovation und damit einhergehender Spezialisierung zu verklammern versucht. Nicht nur in Frankreich fand Comtes Universaltheorie begeisterte Anhänger: Seit 1889 ziert sein positivistischer Wahlspruch die brasilianische Nationalflagge: Ordem e Progresso.63 Reorganisation der Gesellschaft: Die Beförderung des gesellschaftlichen Fortschritts war bereits zentrales Anliegen der frühsozialistischen Autoren der 1820/30er Jahre. Jedoch argumentierten sie, dass zur Überwindung der gegenwärtigen Ordnungskrise eine radikale Neuorganisation der Gesellschaft vonnöten sei. Der dem französischen Hochadel entstammende Saint-Simon betrachtete das zunehmende Missverhältnis zwischen Arm und Reich als untrügliches Zeichen dafür, dass der »gesellschaftliche Organismus« schwer erkrankt sei.64 Den restaurativen Tendenzen entgegen müsse auf eine zügige Umstellung der »Gesellschaftsorganisation« hingearbeitet werden; Fortschritt sei das einzig wirksame Heilmittel.65 Für Saint-Simon hieß dies, dass sich die produzierenden Klassen in Form lokaler und freier Assoziationen selbst zu organisieren haben, um so ihre Ausbeutung durch die »parasitären Klassen«66 zu beenden. Die zur Selbstverwaltung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten seien in der Praxis zu erwerben und erproben, aber auch durch Bildung und Aufklärung an andere weiterzugeben. Nach Saint-Simons Tod im Jahr 1825 wurde die von ihm entwickelte Gesellschaftslehre durch den Kreis seiner Schüler nun endgültig in den Status einer religiösen Doktrin erhoben.67 Vor allem in Paris und Lyon bildeten sich um 1830 frühsozialistische Gemeinden, die politische Zeremonien abhielten und ökonomische Unterstützung anboten.68 Auch wenn Charles Fourier die saint-simonistische Doktrin aus verschiedenen Gründen kritisierte,69 formulierte der französische Frühso63 | Vgl. Lepenies, Wolf: Auguste Comte. Die Macht der Zeichen, München 2010, S. 14f. 64 | Vgl. etwa Saint-Simon, Claude-Henri de: Die Industrie oder politische, moralische und philosophische Betrachtungen im Interesse aller mit nützlichen und unabhängigen Arbeiten befaßten Menschen, in: Ders.: Ausgewählte Schriften, Berlin 1977 (urspr. 1817/18), S. 195256. 65 | Vgl. dazu und im Folgenden Saint-Simon, Claude-Henri de: Der Organisator, in: Ders.: Ausgewählte Schriften (urspr. 1819/20), S. 268-294; Ders.: Über die Gesellschaftsorganisation. Fragmente eines unveröffentlichten Werkes, in: Ders.: Ausgewählte Schriften (urspr. 1825), S. 381-399. 66 | Saint-Simon, Claude-Henri de: Über die Bourbonen und die Stuarts, in: Ders.: Ausgewählte Schriften (urspr. 1822), S. 330-343, hier S. 336. 67 | Zur religiösen Selbstinszenierung vgl. aber schon Saint-Simon, Claude-Henri de: Neues Christentum, in: Ders.: Ausgewählte Schriften (urspr. 1825), S. 400-455. Für die spätere saint-simonistische-Doktrin siehe Bazard, Saint-Amand/Enfantin, Barthélemy Prosper (Hg.): Die Lehre Saint-Simons, Neuwied 1962 (urspr. 1829/30). 68 | Vgl. dazu u.a. Rancière, Jacques: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums, Wien/Berlin 2013, S. 159-286. 69 | Vgl. Fourier, Charles: Briefwechsel Fouriers mit der Saint-Simonistischen Gesellschaft vom 21./22. Mai 1829, in: Ders.: Ökonomisch-philosophische Schriften. Eine Textauswahl, Berlin 1980, S. 41-54.

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zialist ebenfalls eine Theorie der freien Assoziation. Dem herrschenden Chaos, das wie ein »Krebsschaden« 70 das soziale Ganze befallen habe, könne die Neugliederung der Gesellschaft in kleine und weitestgehend autarke Produktionssegmente, innerhalb derer jedoch ein ausgeklügeltes System der Arbeitsteilung und Disziplin die Subsistenz gewährleisten solle, ein dauerhaftes Ende bereiten. Indem man die künstlichen Ordnungsformen der Zivilisation abbaue, werde sich ein harmonisches Miteinander der von Natur aus komplementären Leidenschaften und Bedürfnisse einstellen.71 Auch der walisische Textilunternehmer Robert Owen empfahl, durch Gründung von Genossenschaftsdörfern mit rund 1000 Einwohnern die Gesellschaft »von unten« zu reorganisieren und so den »in den zivilisierten Teilen der Welt« um sich greifenden »distress« zu kurieren.72 Die lokalen Zusammenschlüsse sollten die vitalen Zentren der insgesamt dezentral organisierten Gesellschaft bilden. In der planvollen, rationalen Anleitung und Reflexion dieses Prozesses sah Owen die Aufgabe einer zu gründenden »Science of Society«.73 Mit anderer Stoßrichtung widmete sich auch der aus dem Kreis der Junghegelianer hervorgegangene Karl Marx diesem Thema. Gegen Hegel und dessen spekulativen Idealismus betonte er, dass nicht abstrakte Begriffe, die eine körperlose Vernunft im Zuge ihrer stufenweisen Selbstentfaltung setze, den Gang der Geschichte bestimmten. Vielmehr seien es konkrete Individuen, die unter historisch gewachsenen Bedingungen die für ihren Lebensvollzug benötigten Gegenstände produzierten und hierdurch die Entwicklung des gesellschaftshistorischen Prozesses bestimmten.74 Hiermit war eine politische Zeitdiagnose verknüpft: Das gegenwärtige Zeitalter der industriellen Massenproduktion steuere auf seinen revolutionären Umschlagspunkt zu. Die moderne Arbeiterschaft verarme in dem Maße, wie sie den gesellschaftlichen Reichtum vergrößere. Um den Produktivkräften die ihnen angemessene Eigentumsform zu geben, müsse die bürgerliche Ordnung überwunden werden. Obwohl die Bourgeoisie mit dem Proletariat ihren eigenen »Totengräber« geschaffen habe, drohe die Arbeiterschaft jedoch vor der Vollendung ihrer historischen Mission im Elend unterzugehen: »Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der

70 | Fourier, Charles: Widerlegung der Owenisten, in: Ders.: Ökonomisch-philosophische Schriften. Eine Textauswahl, Berlin 1980 (urspr. 1829), S. 70-77, hier S. 75. 71 | Vgl. umfassend dazu Fourier, Charles: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie, Berlin 2012. 72 | Vgl. Owen, Robert: An Explanation of the Cause of the Distress which Pervades the Civilized Parts of the World, London 1823; Ders.: Two Discourses on a New System of Society, London 1825. 73 | Owen, Robert: Outline of the Rational System of Society, Founded on Demonstrable Facts Developing the Constitution and Laws of Human Nature, in: The Crisis 10, 1832, S. 3740, hier S. 38. 74 | Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 2, Berlin 22009 (urspr. 1843/44), S. 3-138, 170-183; Ders.: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 11, Berlin 1985 (urspr. 1852), S. 96-189, hier S. 96f.

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Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.« 75 Mit der schrittweisen Pauperisierung und Verlumpung des Proletariats stehe aber das politische Projekt einer nachbürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiel. Die beißende Armut, wie sie im »Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee« 76 tagtäglich erfahren werde, korrumpiere die revolutionäre Gesinnung: »Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.« 77

Im dialektischen Schema stufenweiser Entwicklung bildete das Armutsproblem somit eine gefährliche Störgröße: Das »Verfaulen« eines Teils der alten, überkommenen Ordnung drohe den gesellschaftlichen Fortschritt zu lähmen.

3. E ine erweiterte K risendiagnose – S oziologie als  S ozialhygiene Einige Zeitdiagnosen gingen über eine alleinige Betrachtung der Krankheiten des gesellschaftlichen Organismus hinaus. Wie das Armutsproblem verdeutliche, könnten aus den Krankheiten des sozialen Lebens ebenfalls Krankheiten des organischen Lebens entspringen. Weil die Gesellschaft krank sei, erkrankten die Menschen, die sie bildeten. Zwar waren bereits seit dem späten 18. Jahrhundert die krank machenden Wirkungen dauerhafter Armut immer wieder Thema medizinischer und politischer Debatten,78 dennoch wurde erst im Pauperismusdiskurs der 1840/50er Jahre ein systematischer Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand des sozialen und natürlichen Lebens hergestellt. Ein diskursives Ereignis ragte in besonderem Maße heraus: der im Sommer 1842 veröffentlichte Bericht über die gesundheitliche Lage der arbeitenden Bevölkerung in Großbritannien.79 Der von Edwin Chadwick für die Armengesetzkommission erstellte Sanitätsreport präsentierte umfassendes Datenmaterial, das einen Kausalzusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Klassenlage und dem individuellen 75 | Beide Zitate in Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin 1977 (urspr. 1848), S. 459-493, hier S. 473f. 76 | Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 5.1, Berlin 1983 (urspr. 1867), S. 519. 77 | K. Marx/F. Engels: Manifest der kommunistischen Partei, S. 472. 78 | Der von Ärzten und Verwaltungsfachleuten getragene Diskurs der Medizinalpolizei war hierbei von zentraler Bedeutung; vgl. dazu Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem. 1770-1880, Göttingen 1984, S. 84-150. 79 | Vgl. Chadwick, Edwin: Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain, London 1842. Über Entstehungshintergrund und Wirkungsgeschichte des Reports informiert ausführlich Hamlin, Christopher: Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick, Britain, 1800-1854, Cambridge, MA 1998. Vgl. dazu auch die Studie von Bohlender, Matthias: Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus, Weilerswist 2007, S. 286-327.

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Gesundheitszustand aufzeigen sollte. Von Interesse waren die sozialen Bedingungen, unter denen Krankheit entstand. Das Hauptaugenmerk lag hierbei auf dem urbanen Raum, in dem sich die Probleme zuspitzten. Die von Behörden, Spitälern, Kollegien und Einzelpersonen mitgeteilten Informationen über Erkrankungshäufigkeit, Bevölkerungsbewegung, Reichtumsverteilung, Hygienebedingungen, Wohnverhältnisse, Ernährungsweisen und Alltagspraktiken wurden zu einem vielschichtigen Bild der gesundheitlichen Situation der arbeitenden Klasse in England, Wales und Schottland zusammengestellt. Ähnlich wie James Phillips Kay, der bereits 1832 einen Bericht über den Gesundheitszustand der im baumwollverarbeitenden Gewerbe tätigen Arbeiterschaft Manchesters angefertigt hatte,80 betonte Chadwick den großen Einfluss milieuspezifischer Gewohnheiten auf Lebenserwartung und Wohlbefinden. Im deutlichen Unterschied zu Kay jedoch, der dem Zeitgeist entsprechend meinte, dass die irischen Einwanderer mit ihrem »contagious example of ignorance and a barbarous disregard of forethought and economy« die unter der armen Bevölkerung ohnehin verbreitete Tendenz zu »apathy concerning present exigencies, and the neglect of a provision for the contingencies of the future« verstärkten, sodass in einem sozialen Ansteckungsprozess »the whole body of society« zerstört zu werden drohe,81 suchte Chadwick die Vorurteile gegenüber den häufig in Armut lebenden Iren zu entkräften.82 An der allgemeinen Krisendiagnose hielt er aber fest: Um der Misere zu entkommen, seien Korrektur- und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen; im Einzelnen habe man die Städte zu assanieren, die Individualhygiene anzuheben, die Moral zu fördern, die Armut zu bekämpfen und die Verwaltung zu modernisieren. Die von der Regierung einzuleitenden Reformen sollten die Weichen für eine bessere Zukunft stellen. Auch Friedrich Engels, der im November 1842 als junger Mann nach Manchester reiste, um seine kaufmännische Ausbildung in der väterlichen Baumwollspinnerei abzuschließen, beschäftigte sich mit dem gesundheitlichen Elend der englischen Arbeiterklasse. Während seines Aufenthalts, der sich bis zum August 1844 erstreckte, verfasste er mehrere Artikel zum Thema, die in einer Mischung aus empirischer Beschreibung und theoretischer Reflexion sozialistische Ideen unter das Volk zu bringen suchten.83 Am Beispiel des als am fortschrittlichsten erachteten Landes in Europa sollte die krisenhafte Dynamik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verdeutlicht werden. Auf der Grundlage von eigenen Beobachtungen, amtlichen Dokumenten, offiziellen Berichten und journalistischen Artikeln stellte Engels nach seiner Rückkehr eine umfassende Studie über Die Lage der arbeitenden Klasse in England zusammen. Mit der für notwendig erachteten Deutlichkeit machte das 1845 erschienene Buch auf die menschenunwürdi-

80 | Vgl. Kay, James Phillips: Moral and Physical Condition of the Working Classes Employed in the Cotton Manufacture in Manchester, London 1832. 81 | Alle Zitate in ebd., S. 7, 29, 38. 82 | Vgl. E. Chadwick: Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain, S. 132f. 83 | Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1981 (urspr. 1842-1844), S. 456-479, 525-592.

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gen Lebensbedingungen des englischen Proletariats aufmerksam.84 Hatte Charles Dickens einige Jahre zuvor, 1838, mit der Figur des Oliver Twist die aussichtslose Situation des vollkommen mittellosen Paupers, der aufgrund seiner sozialen Notlage ein Leben am Rande des körperlichen und psychischen Ruins führen musste, auf literarischem Weg zur Sprache gebracht,85 verhalf Engels der bedrückenden Lage der arbeitenden Klasse, die beständig in das Lumpenproletariat herabzusinken drohte, nunmehr zu einer politischen Artikulation. In beiden Fällen wurde das massenhafte Leiden an der Gesellschaft skandalisiert. Es war vor allem eine These, die Engels’ gesamten Text wie ein roter Faden durchzog: Kapitalisierung und Industrialisierung führten zu Ausbeutung und Armut, Ausbeutung und Armut führten zu Krankheit und Verrohung. Durchaus in Übereinstimmung mit den bürgerlichen Autoren zum Thema, auf die sich die Untersuchung ausführlich stützte, wurde ein Kausalzusammenhang zwischen gesellschaftlicher Lage und Gesundheitszustand für die unteren Schichten nachzuweisen versucht. Die »Krankheit des sozialen Körpers«, die sich unaufhaltsam ihrer »letzten Krisis« nähere, erzeuge »Krankheiten in Masse«. Oder anschaulicher formuliert: »Weiber zum Gebären unfähig gemacht, Kinder verkrüppelt, Männer geschwächt, Glieder zerquetscht, ganze Generationen verdorben, mit Schwäche und Siechtum infiziert, bloß um der Bourgeoisie die Beutel zu füllen!«86 Eine unheilvolle Rolle spielten hierbei auch die in England lebenden Iren. Trotz des intimen Verhältnisses, das Engels mit den aus Irland übergesiedelten Schwestern Mary und Lizzie Burns pflegte, waren für ihn die irischen Einwanderer geradezu die Verkörperung einer unzivilisierten, ja, animalischen Lebensform.87 »Der« Ire besitze weder Bildung noch Sitten, weder Möbel noch Schuhe könne er sein Eigen nennen. Er hause mit den Schweinen und vertrinke alles Geld, das sein notdürftig mit Lumpen bedeckter Körper nicht unbedingt zum Überleben benötigte. Aufgrund der unter kapitalistischen Bedingungen allgemein gewordenen Konkurrenz drohe sich die ungesunde Lebensweise der Iren, die »fast ohne alle Zivilisation aufgewachsen, an Entbehrungen aller Art von Jugend auf gewöhnt, roh, trunksüchtig, unbekümmert um die Zukunft«88 seien, jedoch auf das englische Proletariat zu übertragen.89 Der Arbeitsmarkt, auf dem Engländer und Iren gemeinsam um knappe Stellen konkurrierten, wurde so zum Medium eines sozialen Ansteckungsgeschehens, das im Begriff war, den gesamten Gesellschaftskörper zu schädigen – und mit ihm die natürlichen Körper der Menschen, die ihn bildeten. 84 | Vgl. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 2, Berlin 1962 (urspr. 1845) S. 225-506. 85 | Vgl. Dickens, Charles: Oliver Twist, oder: Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus, Stuttgart 2011 (urspr. 1838). 86 | Alle Zitate in F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 349, 351, 304, 388. 87 | Vgl. Mettele, Gisela: Mary und Lizzie Burns. Die Lebensgefährtinnen von Friedrich Engels, in: Marx-Engels Jahrbuch, 2011, S. 130-149; Roth, Regina: Engels’ Irlandbild in seiner Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2011, S. 113129. 88 | F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 320. 89 | Vgl. ebd., S. 323.

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Engels zog aus all dem einen bemerkenswerten Schluss: Da die Herrschenden um das Elend der Beherrschten wüssten, wie nicht zuletzt die amtlichen Berichte der vergangenen Jahre belegten, ohne jedoch ernsthafte Anstrengungen zur Beseitigung der sozialen Misere zu unternehmen, handle es sich nicht mehr um Totschlag, sondern um Mord. »Wenn aber die Gesellschaft«, schlussfolgerte Engels, »Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen […] – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist.« 90

Die in dieser Textpassage sichtbar werdenden Schwierigkeiten der Verantwortungsattribution – alle und niemand – hielten Engels nicht davon ab, einen Täter hinter der Tat, die keine war, zu vermuten: die herrschende Klasse.91 Die Bourgeoisie schaue tatenlos dabei zu, wie das von ihr unterstützte Gesellschaftssystem den sozialen Körper krank mache, wodurch wiederum dem Leben der Proletarier ein vorzeitiges Ende bereitet werde. Zeitgleich vermehrten sich die medizinischen Stimmen im Diskurs. Die These, dass sich aus einer ungünstigen Einrichtung des sozialen Lebens mit statistischer Regelmäßigkeit eine Schädigung des natürlichen Lebens ergebe, erfuhr um die Jahrhundertmitte eine breiter werdende Unterstützung vonseiten der akademischen Ärzteschaft.92 In Deutschland war es die Medizinalreformbewegung der 1840er Jahre, die neben der Artikulation berufsständischer Interessen mit großem Nachdruck das liberale Modell gesundheitlicher Eigenverantwortung kritisierte, indem sie auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit aufmerksam machte und hierbei für ein sozialwissenschaftlich erweitertes Verständnis medizinischer Diagnostik plädierte.93 Der in Berlin tätige Armenarzt und Medizinalstatistiker Salomon Neumann, der zusammen mit Rudolf Virchow die Märzrevolution unterstützte, verwies 1847 auf den »innigen Zusammenhang, welcher zwischen der Gesundheit der Gesellschaft und der Gesundheit der einzelnen Mitglieder« bestehe. Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft sei die Medizin »in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft«. Die Gestaltung der überindividuellen Bedingungen der Individualgesundheit falle in den Aufgabenbereich des Staates. Er habe die Pflicht, »nicht blos die natürlichen Gefahren, sondern eben so sehr diejenigen, welche aus dem Gesellschaftsleben der Menschen für Leben und Gesundheit entstehen, zu bekämpfen und wo möglich zu vernichten«. Mit dem politischen Grundsatz war eine medizinische Zeitdiagnose verknüpft: Wie nicht zuletzt der Pauperismus belege, 90 | Ebd., S. 324f. 91 | Siehe dazu ebd., S. 324, die um Klärung bemühte Fußnote. 92 | Vgl. Flügel, Axel: Public Health und Geschichte. Historischer Kontext, politische und soziale Implikationen der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert, Weinheim/ Basel 2012, S. 81-111. 93 | Vgl. Möller, Caren: Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2005, S. 297-334.

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sei der gegenwärtige Gesellschaftszustand »auf eine unnatürliche Weise alterirt«, woraus die »Unnatur unseres Gesundheitszustandes« entspringe.94 Das Ziel müsse es daher sein, die Gesellschaft in einer Weise zu organisieren, dass sie der natürlichen Organisation des Menschen gerecht werde. Die Verbesserung der ärztlichen Grundversorgung, die Bekämpfung des ökonomischen Armutsproblems und die Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus galten als die maßgeblichen Wege, auf denen sich das verlorengegangene Gleichgewicht wiederherstellen ließ. Die Krise der gesellschaftlichen Ordnung und die Krise der öffentlichen Gesundheit waren für Neumann zwei Seiten einer Medaille. Auch Virchow betonte die medizinische Dimension der Sozialen Frage. Die im Verlauf des Winters 1847/48 ausgebrochene Typhus-Epidemie in Oberschlesien habe gezeigt, dass sich gesellschaftliche Missstände in Verbindung mit ungünstigen Witterungsbedingungen negativ auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung auswirkten. Die Schlussfolgerung des jungen Privatdozenten und Prosektors aus Berlin, der vor Ort Gelegenheit hatte, die Seuche zu studieren, lautete: Allein durch die Förderung von Bildung, Demokratie und Wohlstand könne in Zukunft ein ähnlicher Krankheitsausbruch verhindert werden.95 In der zusammen mit dem Psychiater Rudolf Leubuscher herausgegebenen Wochenschrift Medicinische Reform (1848/49) arbeitete Virchow seine Vorstellung einer sozialen Medizin weiter aus. Gleich zu Beginn machte er im Auftaktaufsatz der Zeitschrift deutlich: »Die Aerzte sind die natürlichen Anwälte der Armen und die sociale Frage fällt zu einem erheblichen Theil in ihre Jurisdiction.«96 Auch wenn sich Gesundheit und Krankheit stets im biologischen Lebensvollzug des Einzelorganismus manifestierten, gebe es doch »gewisse Verhältnisse des Lebens, welche ganze Völker oder grössere Bruchtheile von Völkern gemeinschaftlich treffen«, sodass »wir von der Gesundheit und Krankheit des Volkes, wenn auch in abstracter, so doch nicht idealer Art sprechen können«.97 Auch Virchow nahm die Politik in die Pflicht, die abnormen Lebensbedingungen in der Gesellschaft zu beseitigen. Epidemien kämen insofern »grossen Warnungstafeln« gleich, »an denen der Staatsmann von grossem Styl lesen kann, dass in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist«.98 Gesellschaftliche Ordnung und öffentliche Gesundheit seien nicht voneinander zu trennen, da sie sich wechselseitig bedingten. Den biopolitischen Grundgedanken Neumanns führte Virchow denn auch konsequent zu Ende: »die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen.«99

94 | Alle Zitate in Neumann, Salomon: Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassung, Berlin 1847, S. 64-67. 95 | Vgl. Virchow, Rudolf: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, Berlin 1848, S. 162-182. 96 | Virchow, Rudolf: Was die »medicinische Reform« will, in: Die medicinische Reform 1, 1848, S. 1f., hier S. 2. 97 | Die Volkskrankheiten, in: Die medicinische Reform 51, 1849, S. 269f., hier S. 269. 98 | Virchow, Rudolf: Die öffentliche Gesundheitspflege, in: Die medicinische Reform 8, 1848, S. 45-47, hier S. 45. 99 | Virchow, Rudolf: Der Armenarzt, in: Die medicinische Reform 18, 1848, S. 125-127, hier S. 125.

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Medizinisches und politisches Handeln besaßen demnach einen gemeinsamen Konvergenzpunkt: Herstellung und Wahrung der allgemeinen Gesundheit. *** Die voranstehende Analyse hat einige der zentralen Aussagen des frühen soziologischen Diskurses, der in den Jahren zwischen 1820 und 1860 die Schwelle der Positivität überschritt, herausgearbeitet und das Feld ihrer Streuung durchschritten. Die zu jener Zeit erstmals stattgefundene Formation des soziologischen Blicks ließ sich so quellennah nachvollziehen.100 Hierbei wurde dreierlei deutlich: Erstens zeigte sich, wie eng anspruchsvolle Theoriebildung und praxisrelevante Zeitdiagnostik zusammenhingen. Die sozialen Probleme jener Zeit gaben Anlass zu theoretischer Reflexion, die sich wiederum durch ihren Problembezug gesellschaftlich legitimierte. Auch wurde, zweitens, sichtbar, dass das Bild vom sozialen Organismus einen Vorstellungsraum öffnete, in dem nicht nur verschiedenartige, sondern noch gegenläufige Argumentationen ihren Platz fanden. Insofern die unterschiedlichen Positionen ein gemeinsames Denkbild teilten, blieben sie aufeinander bezogen. Drittens konnte die Analyse aufzeigen, wie das Motiv der sozialen Pathologie bereits etablierte Wissensbestände zu mobilisieren und neue Erfahrungen einzuordnen vermochte. So bildete sich Stück für Stück ein Diskursfeld heraus, das in dieser frühen Phase aber noch vergleichsweise schwach integriert war. Zusammen erhärten diese Befunde die eingangs vorgestellte These, dass sich die Entstehung des soziologischen Blicks als eine Übertragung des ärztlichen Blicks auf zwischenmenschliche Beziehungen deuten lässt.

100 | Zu dieser Methodik vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981.

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1. E inleitung In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Diese Frage wird in der gegenwärtigen Soziologie nicht nur inhaltlich äußerst divers behandelt – dies geschieht auch unter Zuhilfenahme strukturell sehr unterschiedlicher Analysemodelle. In makrosoziologischen Modellen der empirischen Sozialforschung werden z.B. markante Veränderungen hochaggregierter statistischer Verteilungen als Kennzeichen gesamtgesellschaftlichen Wandels gedeutet. Man spricht (bzw. sprach) dann von einer »Zwei-Drittel-Gesellschaft« oder der »prekarisierten Gesellschaft«.1 Auf der anderen Seite existieren zahlreiche abstrakte Gesellschaftstheorien, die nicht primär unter Zuhilfenahme empirischer Daten, sondern auf der Basis theoretischer Großentwürfe makrosoziale Veränderungsdynamiken zu beschreiben versuchen. Klassische Beispiele für soziologische Gesellschaftstheorien sind der Strukturfunktionalismus, die Bourdieu’sche Praxis- und Feldtheorie, Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, der Poststrukturalismus oder die Luhmann’sche Systemtheorie. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kristallisiert sich nun immer deutlicher ein drittes Genre soziologischer Makromodelle heraus: die soziologische Zeitdiagnostik. Unter Begriffen wie »Netzwerkgesellschaft«, »Risikogesellschaft«, »beschleunigte Gesellschaft« oder »Wissensgesellschaft« werden hierbei epochale Transformationen der Gegenwartsgesellschaft konstatiert. Der Status solcher Beschreibungen ist in der Soziologie höchst umstritten. Einerseits werden Zeitdiagnosen als übergeneralisiert, begrifflich inkonsistent und effekthascherisch abgelehnt, andererseits wird die durch sie generierte öffentliche Aufmerksamkeit für soziologische Analysen gelobt. Verkompliziert wird die Debatte um Zeitdiagnostik dadurch, dass nicht nur der Status dieses Genres umstritten ist, sondern auch sei1 | Ähnliche Formulierungen finden sich auch außerhalb der empirischen Sozialforschung, bspw. wenn Organisationssoziologen von der »Organisationsgesellschaft« sprechen, Migrationsforscher von der »Migrationsgesellschaft« oder Wissenschafts- und Technikforscher von der »digitalisierten Gesellschaft«. Damit sind in aller Regel keine theoretisch elaborierten Konzepte gemeint; es handelt sich dabei lediglich um Behauptungen eines gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszuwachses des eigenen Forschungsobjekts.

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ne genauen Umrisse. Was macht dieses Genre im Detail aus, wie unterscheidet man es von anderen Formen soziologischen Argumentierens und wie kann man es einer soziologischen Analyse zuführen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich im Folgenden zunächst die neuere Debatte über die Soziologie soziologischen Wissens umreißen und zeigen, dass soziologische Zeitdiagnosen in diesem Rahmen aus fachhistorischen Gründen bislang nur schwer thematisiert werden konnten. Daran anschließend werde ich auf die Diskussion um soziologische Zeitdiagnostik in der deutschsprachigen Soziologie eingehen. Dabei soll gezeigt werden, dass sich besagtes Genre unter anderem durch die argumentative Konstruktion stiller Revolutionen auszeichnet: die (paradoxe) Beschreibung eines gegenwärtig sich vollziehenden, epochalen sozialen Wandels, der aber bis auf weiteres latent bleibe. Danach soll am Beispiel einiger bekannter soziologischer Zeitdiagnosen diese Art der Argumentation im Detail nachgezeichnet werden. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Legitimität zeitdiagnostischen Argumentierens in der Soziologie und möglichen Anschlüssen zur Thematisierung von Zeitdiagnosen im Rahmen der Wissenschafts- und Technikforschung.

2. D ie S oziologie soziologischen W issens Interessiert man sich aus soziologischer Sicht für die Struktur und Alleinstellungsmerkmale von Zeitdiagnostik, wäre eine mögliche Auskunftsadresse die Wissenschafts- und Technikforschung als Subdisziplin, die sich mit der sozialen Einbettung von Wissenschaften auseinandersetzt. Doch in diesem Feld interessiert man sich allenfalls am Rande für Sozialwissenschaften. Das Interesse galt hier bislang vorrangig Naturwissenschaften, insbesondere Mikropraktiken in der Herstellung naturwissenschaftlicher Objektivität (»Laborstudien«) und diversen Formen der Legitimation naturwissenschaftlicher Erkenntnis.2 Mittlerweile existieren jedoch einige Versuche, die Konzepte der Wissenschafts- und Technikforschung auch auf die Analyse sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion auszuweiten. Deutlich wird dies insbesondere in den Ansätzen social knowledge in the making 3 und social life of methods.4 Zum einen werden hierbei, in Übertragung des Erkenntnisinteresses der sozialwissenschaftlichen Laborstudien, mit meist ethnographischen Herangehensweisen die Alltagspraktiken von SozialwissenschaftlerInnen unter die Lupe genommen: Recherche-, Schreib-, Begutachtungs-, und Präsentationstechniken.5 2 | Bloor, David: Knowledge and social imagery, London 1976; Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008; Ders./ Woolgar, Steve: Laboratory life, Beverly Hills 1979; Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1984. 3 | Camic, Charles/Gross, Neil/Lamont, Michele (Hg.): Social knowledge in the making, Chicago 2011; Camic, Charles/Gross, Neil: The new sociology of ideas, in: Blau, Judith R. (Hg.): The Blackwell companion to sociology, Oxford 2004, S. 236-249. 4 | Savage, Mike: The »social life of methods«: A critical introduction, in: Theory, Culture & Society 30, 2013, S. 3-21. 5 | Gross, Neil/Fleming, Crystal: Academic conferences and the making of philosophical knowledge, in: C. Camic/N. Gross/M. Lamont (Hg.): Social knowledge in the making, S. 151-

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Zum anderen widmet man sich aus dieser Perspektive meist denjenigen sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen, Methoden und Theorien, die direkte außerakademische Anwendungsbezüge, insbesondere für politische und wirtschaftliche Problemlagen, generieren. Ganz im Sinne der Wissenschafts- und Technikforschung wird auf dieser Grundlage z.B. gefragt, wie ökonomische Modelle oder Methoden der empirischen Sozialforschung wissenschaftliche Objektivität insinuieren und dadurch im außerwissenschaftlichen Kontext glaubwürdig und praktisch wirksam werden.6 Aus dieser Perspektive, die ihren Blick an der modernen Wissenschaftssoziologie geschult hat, sind Zeitdiagnosen kein sonderlich spannendes Thema. Weder gelten sie als objektiv sich präsentierendes Wissen über die Gesellschaft, noch sind sie für politische oder ökonomische Entscheidungsträger von direktem Gebrauchswert.7 In einer Subdisziplin, die gerade erst die Sozialwissenschaften für sich entdeckt, gibt es wenig Interesse für ein Genre, bei welchem unklar ist, ob es überhaupt zur akademischen Soziologie gehört oder doch eher als sozialwissenschaftlich inspirierter Feuilleton einzustufen ist. Dass Zeitdiagnosen dennoch auch für die Wissenschafts- und Technikforschung von Interesse sein können, werde ich am Schluss des Beitrags thematisieren. Interessant sind Zeitdiagnosen für eine soziologische Analyse jedenfalls dann, wenn man sie nicht primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Objektivitätsansprüche oder ihrer strategischen Bedeutung für professionelle Leistungsrollenträger untersucht, sondern in ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse zu kreieren und zu beeinflussen. Zeitdiagnosen erreichen wie kaum ein anderes Genre der Soziologie ein Laienpublikum interessierter Leser. Ute Volkmann8 spricht in diesem Zusammenhang etwa von Zeitdiagnosen als einem hybriden Genre, angesiedelt zwischen akademischem Diskurs und öffentlich-massenmedialer Debatte. Sobald man Zeitdiagnosen unter diesem Gesichtspunkt problematisiert, öffnet sich der Blick für eine Frage, die auch für die Wissenschaftssoziologie der Sozialwissenschaften von Bedeutung ist: Durch welche narrativen Mikropraktiken überzeugen Zeitdiagnosen ein Laienpublikum von gegenwärtigen epochalen Brüchen? Wie plausibilisieren sie ihre Thesen?

179; Lamont, Michele/Huutoniemi, Katri: Comparing customary rules of fairness: Evaluative practices in various types of peer review panels, in: C. Camic/N. Gross/M. Lament (Hg.): Social knowledge in the making, S. 209-232. 6 | Jasanoff, Sheila: The practices of objectivity in regulatory science, in: C. Camic/N. Gross/M. Lamont (Hg.): Social knowledge in the making, S. 307-338; Knorr-Cetina, Karin: Financial analysis: Epistemic profile of an evaluative science, in: ebd., S. 405-442. 7 | Wenn dies geschieht, dann in der Form des offiziellen Gebrauchs von Schlagworten, die mit den soziologischen Originalkonzepten nur noch wenig gemein haben. Ein Beispiel wäre die Rede von der »Wissensgesellschaft«, die im Kontext politischer Kommunikation v.a. Herausforderungen im Umgang mit Deindustrialisierung meint. Siehe z.B. Kübler, Hans-Dieter: Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005. 8 | Volkmann, Ute: Soziologische Zeitdiagnostik: Eine wissenssoziologische Ortsbestimmung, in: Soziologie 44, 2015, S. 139-152.

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3. Z eitdiagnosen und E pochenbrüche Es gibt in der Soziologie unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang mit Zeitdiagnosen. Der vielleicht häufigste besteht in der pragmatischen Übernahme solcher Globalformeln für die Analyse der Struktur gegenwärtiger Gesellschaften. Dies geschieht meist in Kombination mit sehr methoden- oder datenlastigen Untersuchungen, denen durch den Bezug zu solchen Makroperspektiven ein theoretischer Überbau gegeben werden soll.9 Hier werden zeitdiagnostische Hypothesen also als theoretischer Rahmen eingeführt und in der Regel nicht weiter problematisiert. Man könnte hier auch von Zeitdiagnosen als Theorieersatz für empirische Forschung sprechen.10 Zweitens finden sich, wie bereits angedeutet, zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit einzelnen Zeitdiagnosen. Dabei handelt es sich meist um Aufarbeitungen und Rezensionen, die sich in ihrem skeptischen Tonfall zum Teil sehr ähneln. Zeitdiagnosen wird darin die Überdramatisierung sozialen Wandels, Alarmismus, fehlende Datengrundlage, schneller konzeptioneller Bedeutungsverlust, theoretische Inkonsistenz und bisweilen auch politische Einseitigkeit vorgehalten. Es gibt zahlreiche Beispiele für diese Art der akademischen Distanzierung von Zeitdiagnostik.11 Zeitdiagnosen werden hierbei im Grunde nicht als eigenständiges Genre behandelt, sondern gewissermaßen als handwerklich unsaubere und überpointierte soziologische Forschung. Eine dritte Perspektive findet man in der lehrbuchartigen Zusammenschau unterschiedlicher historischer und aktueller soziologischer Beschreibungen der Gegenwartsgesellschaft.12 In diesen Darstellungen werden Zeitdiagnosen, anders als in rein pragmatischen oder kritischen Auseinandersetzungen, durchaus 9 | Inglis, David: What is worth defending sociology today? Presentism, historical vision and the uses of sociology, in: Cultural Sociology 8, 2014, S. 99-118, hier S. 104. 10 | Osrecki, Fran: Die Geschichte der Gegenwartsdiagnostik in der deutschsprachigen Soziologie, in: Ploder, Andrea/Moebius, Stephan (Hg.): Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde., Wiesbaden 2017/2018, Bd. 1, S. 453-475. 11 | Alexander, Jeffrey/Smith, Philip: Social science and salvation: Risk society as mythological discourse, in: Zeitschrift für Soziologie 25, 1996, S. 251-262; Brock, Ditmar: Die Risikogesellschaft und das Risiko soziologischer Zuspitzung, in: Zeitschrift für Soziologie 20, 1991, S. 12-24; Joas, Hans: Das Risiko der Gegenwartsdiagnose, in: Soziologische Revue 11, 1988, S. 1-6; Lepsius, M. Rainer/Friedrichs, Jürgen/Mayer, Karl Ulrich (Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Opladen 1998; Lucke, Doris: Wirklichkeitskonstruktion als Ware: »Der Wertewandel« in der westlichen Welt, in: Internationale Politik und Gesellschaft 4, 2000, S. 389-398; Schwinn, Thomas: Gibt es eine »Zweite Moderne«? Über den Umgang mit soziologischen Diagnosen, in: Soziale Welt 50, 1999, S. 423-432. 12 | Bogner, Alexander: Der diskrete Charme der Gesellschaftsdiagnostik, in: Ders.: Gesellschaftsdiagnosen: Ein Überblick, Basel 2012, S. 7-22; Dimbath, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik, Paderborn 2016; Kneer, Georg/Nassehi, Armin/Schroer, Markus (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe: Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997; Pongs, Armin: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, München 2000; Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I: Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000; Dies. (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II: Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen 2002.

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als soziologische Ausdrucksform sui generis behandelt. Solche Darstellungen beabsichtigen aber vor allem eine lexikalische Aufarbeitung verschiedener Ansätze und zeichnen sich dementsprechend durch einen sehr inklusiven Blick auf Zeitdiagnosen aus. Unter die Rubrik Zeit- oder Gegenwartsdiagnose fallen dann alle soziologisch belastbaren Makroanalysen der Gegenwartsgesellschaft. Dies ist eine mögliche und legitime Herangehensweise, doch die breite Konzeption lässt bisweilen die Frage offen, ob makrosoziologische Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft immer auch zeitdiagnostisch sind bzw. wo die Grenzen der Gattung Zeitdiagnose genau verlaufen. Genau diese Fragen stehen seit kurzem im Fokus diverser Ansätze, die sich für die Geschichte, die narrativen Mikrostrukturen und die Funktionen von Zeitdiagnosen als eigenständigem Genre der Soziologie interessieren. Diese Debatte hatte einige Vorläufer in den 1990er und frühen 2000er Jahren, wobei es sich um vereinzelte und eher kursorische Beschreibungen des Genres handelte.13 In diesem Rahmen wurden Zeitdiagnosen als Genre beschrieben, das sich durch eine Vielzahl spezifischer Merkmale auszeichne. So seien Zeitdiagnosen Theorien, die vor allem die Besonderheiten der Gegenwart beleuchteten; es handele sich um Ansätze, die die Dynamiken eines Teils der Gesellschaft als Keimzelle gesamtgesellschaftlicher Strukturveränderungen beschreiben; Zeitdiagnosen seien gekennzeichnet durch ihre Tendenz, sozialen Wandel in Termini der radikalen Diskontinuität zu fassen; deutlicher als in anderen Bereichen der Soziologie finde man in Zeitdiagnosen eine Bereitschaft für dramatische Negativprognosen und einen essayistischen Schreibstil.14 Die Liste ließe sich verlängern. Ich habe an anderen Stellen eine Synthese und Neubewertung dieser Debatte vorgeschlagen.15 Denn so plausibel und zutreffend die Darstellungen einzelner 13 | Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung: Beiträge zu einer Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt a.M. 2004, S. 37-42; Lichtblau, Klaus: Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug, in: Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie: Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 15-47; Lohmann, Georg: Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen, in: Fink-Eitel, Hinrich/Lohmann, Georg (Hg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 1994, S. 266-292; Nassehi, Armin: Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose: Soziologie als gesellschaftliche Selbstbeschreibung, in: Bohn, Cornelia/Willems, Herbert (Hg.): Sinngeneratoren: Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive, Konstanz 2001; Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2007; Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, in: Berliner Journal für Soziologie 6, 1996, S. 377-390; Schimank, Uwe: Gesellschaftliche Integrationsprobleme im Spiegel soziologischer Gegenwartsdiagnosen, in: Berliner Journal für Soziologie 10, 2000, S. 449-469. 14 | Zu stilistischen Eigenschaften und narrativen Strukturen von Zeitdiagnosen siehe aktuell auch Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016. 15 | Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft: Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011; Ders.: Diagnosing the present: Towards a sociology of medialized social science, in: Rödder, Simone/Franzen, Martina/Weingart, Peter (Hg.): The sciences’ media connection: Public communication and its repercussions, Dordrecht 2012, S. 307-332; Ders.: Constructing epochs: The argumentative structures of sociological epochalisms, in: Cultural Sociology 9, 2015, S. 131-146; F. Osrecki: Die Geschichte der Gegenwartsdiagnostik in der deutschsprachigen Soziologie.

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Merkmale von Zeitdiagnosen auch sein mögen – sie stehen stets vor dem Problem, dass damit keine hinreichende Definition und Eingrenzung von Zeitdiagnosen gelingt. Dies deshalb, weil viele Merkmale, die in dieser Debatte als »typisch zeitdiagnostisch« beschrieben werden, auch zum Standardrepertoire der Soziologie im Übrigen gehören. Besonders deutlich wird dies gerade bei dem vermeintlich charakteristischen Alleinstellungsmerkmal zeitdiagnostischer Beschreibungen: der Analyse gesamtgesellschaftlicher Gegenwarten. Hierfür interessieren sich offenkundig nicht nur Zeitdiagnosen, sondern auch Gesellschaftstheorien und bis zu einem gewissen Grade auch die empirische Makrosoziologie. Soweit sich die Soziologie als Wissenschaft von der modernen Gesellschaft versteht, kann sie nur schwer einem gegenwartsorientierten Bias entkommen und sei es nur, indem die Gegenwart als strukturell andersartig im Vergleich zu früheren Epochen verstanden wird.16 Und so gibt es keine soziologische Theorie, die nicht in irgendeiner Weise über den »letzten Stand« oder die »aktuellste Version« der Gesellschaft Auskunft gibt.17 Was Zeitdiagnosen auszeichnet, ist also nicht, dass sie sich über die Gegenwartsgesellschaft äußern, sondern wie sie das tun. Eine relativ sparsame Definition von Zeitdiagnosen ist, dass es sich hierbei um Beschreibungen sozialen Wandels handelt, in denen für die Gegenwart Epochenbrüche konstatiert werden.18 Dies markiert eine sehr spezifische Perspektive auf sozialen Wandel, die man in dieser Form in den heute gängigen Gesellschaftstheorien gerade nicht findet. Luhmann, Habermas, Bourdieu oder Foucault haben zwar alle auch Begriffe für die Besonderheit moderner Gesellschaftsstrukturen. Diese werden jedoch als Weiterführung (teilweise auch Radikalisierung) eines einmal beschrittenen Transformationspfads gesehen, z.B. in der Trennung von Lebenswelt und System bei Habermas oder in der fortschreitenden funktionalen Differenzierung bei Luhmann.19 Zeitdiagnosen, und darauf haben mehrere der oben angeführten AutorInnen hingewiesen, präferieren demgegenüber, erstens, Gesellschaftsbeschreibungen in der Sprache der Diskontinuitäten: früher Industriegesellschaft, heute Wissensgesellschaft; früher Klassengesellschaft, heute Risikogesellschaft; früher analoge Gesellschaft, heute digitale Gesellschaft. Dass sozialer Wandel nicht immer inkrementell, sondern oft disruptiv verläuft, wird in der Soziologie kaum bestritten und dies betonen auch Autoren, die ansonsten streng evolutionär argumentieren.20 16 | D. Inglis: What is worth defending sociology today?; Savage, Mike: Against epochalism: An analysis of conceptions of change in British sociology, in: Cultural Sociology 3, 2009, S. 217-238. 17 | Das Interesse der Soziologie an der Gegenwart ist kein Alleinstellungsmerkmal dieser Disziplin, sondern Ausdruck eines neuzeitlichen Zeitverständnisses, das die Gegenwart als bedeutenden Umschlagpunkt von einer nicht wiederholbaren Vergangenheit hin zu einer ungewissen Zukunft begreift. Siehe dazu z.B. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979; F. Osrecki: Constructing epochs; Luhmann, Niklas: The future cannot begin: Temporal structures in modern society, in: Social Research 43, 1976, S. 130-152. 18 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 121. 19 | F. Osrecki: Constructing epochs, S. 136-138. 20 | Luhmann, Niklas: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985, S. 11-33.

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Zeitdiagnosen radikalisieren diese Perspektive jedoch und fassen gesellschaftliche Diskontinuitäten als wechselseitige Exklusivität: Die »neue« Gesellschaft wird tendenziell so beschrieben, als ersetze sie alte soziale Strukturen durch neue. Das ist deshalb ein ganz spezieller Zugriff auf sozialen Wandel, weil man makrogesellschaftliche Transformationen nicht notgedrungen als Austausch, sondern auch z.B. als Struktur- oder Funktionswandel »alter« Strukturen verstehen kann. So spricht Habermas in Bezug auf die Moderne bezeichnenderweise nicht von einem Verschwinden der Öffentlichkeit, sondern von ihrem Strukturwandel21 und Luhmann diagnostiziert auch für die funktional differenzierte Gesellschaft ein, wiewohl strukturell und in seinen Funktionen transformiertes, Weiterbestehen stratifikatorischer22 und segmentärer23 Differenzierungsmodi. Die in der Soziologie durchaus übliche Beschreibung von makrogesellschaftlichen Diskontinuitäten manifestiert sich in Zeitdiagnosen also in der Betonung markanter Zäsuren. Zweitens werden solche Zäsuren in Zeitdiagnosen als gerade eben stattfindend gefasst. Dies ist, wie oben angedeutet, nicht zwingend in der Beschreibung sozialen Wandels, und auch wenn Gesellschaftstheorien der Moderne in irgendeiner Form ihre besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, so verpflichtet sie das nicht dazu, gerade die Gegenwart als eine solche historische Zäsur zu verstehen. Es sei daran erinnert, dass klassische gesellschaftstheoretische Konzepte wie »funktionale Differenzierung« (Luhmann), »Kolonialisierung der Lebenswelt« (Habermas), »Neo-liberale Gouvernementalität« (Foucault) oder »relative Autonomie sozialer Felder« (Bourdieu) Prozesse beschreiben, die sich seit mehreren Jahrhunderten abzeichnen und sich gerade nicht erst in der Gegenwart, quasi explosionsartig, entfalten. Drittens schließlich werden gegenwärtige Zäsuren in Zeitdiagnosen auf der sozialen Makroebene verortet. Beschrieben wird also der Beginn einer neuen Epoche, deren Prägekraft sich über weite Teile der Gesellschaft erstreckt. Abstrakte Prinzipien zu beschrieben, die auf eine Vielzahl sozialer Phänomene anwendbar sind, ist selbstredend auch das »Kerngeschäft« soziologischer Gesellschaftstheorien. Die Betonung exklusiver Diskontinuitäten und die Gegenwartszentrierung zwingt Zeitdiagnosen jedoch zu Vergleichen unter Radikalitätsgesichtspunkten: Der derzeit stattfindende Übergang von z.B. Klassengesellschaft zu Risikogesellschaft sei  – um z.B. mit Ulrich Beck zu argumentieren – genauso weitreichend wie der Übergang vom Feudalismus zur Klassengesellschaft.24 Während sowohl Gesellschaftstheorien als auch Zeitdiagnosen Begriffe für soziale Transformationen historischer Größenordnung haben, argumentieren Zeitdiagnosen, dass die Gegenwart selbst eine solche Transformation darstellt. Dies ist, wie anhand der heute gängigen Gesellschaftstheorien leicht gezeigt werden kann, keine zwingende Annahme in der Beschreibung sozialen Wandels. Diese Charakterisierung dient als analytisches Unterscheidungskriterium zwischen Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien als Genres, die sich im konkreten 21 | Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. 22 | Luhmann, Niklas: Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Ders. (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119-162. 23 | Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 220-227. 24 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 265.

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Vollzug kombinieren lassen und oft kombiniert werden. Es gibt zwar klare Fälle von sowohl »hauptamtlich« tätigen Zeitdiagnostikern als auch rein gesellschaftstheoretisch arbeitenden SoziologInnen. Recht häufig ist jedoch eine Parallelführung bei gleichzeitiger publikationstechnischer Trennung von zeitdiagnostischen und gesellschaftstheoretischen Beschreibungen im Gesamtwerk einzelner Autoren. Habermas und Bourdieu betrieben beides – Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose – achteten aber auf die Abgrenzung zwischen den Genres.25 Auch an eng verwobenen Kombinationen zwischen Zeitdiagnosen und anderen Genres der Soziologie mangelt es nicht. Diese finden sich z.B. im Rahmen der Kritischen Theorie Frankfurter Prägung26 und bisweilen wird auch Luhmanns Essaysammlung Beobachtungen der Moderne 27 als zumindest latent zeitdiagnostisch betrachtet. Es gibt somit Zeitdiagnosen, die sich in der Tradition einer Gesellschaftstheorie sehen28 bzw. solchen, die sich stark auf empirisch gewonnene Daten beziehen.29 Bei der Formulierung von Trennungslinien zwischen soziologischen Genres sollte schließlich beachtet werden, dass diese ein Ausdruck der Binnendifferenzierung des Faches und also historisch variabel sind. Insbesondere in der »klassischen« Phase der akademischen Soziologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren besagte Genregrenzen noch nicht institutionalisiert und auch kaum formulierbar.30 Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekamen sie deutlichere Konturen und konstituierten sich um getrennte Rezipientenkreise. Dieses relativ komplexe Verhältnis unterschiedlicher soziologischer Genres sollte aber nicht als Relativierung der oben vorgeschlagenen Abgrenzungsmerkmale von Zeitdiagnosen verstanden werden. Vielmehr deutet es darauf hin, dass die Spezifika von Zeitdiagnosen auf der Ebene zeitdiagnostischer Argumentation zu 25 | Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997; Habermas, Jürgen: Zeitdiagnosen: Zwölf Essays 19802001, Frankfurt a.M. 2003. 26 | Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max/Kogon, Eugen: Die verwaltete Welt oder: Die Krisis des Individuums, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, 19 Bde., Frankfurt a.M. 1988-1996, Bd. 13, S. 121-142. 27 | Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992. 28 | Für eine in diesem Sinne systemtheoretisch »inspirierte« Zeitdiagnose siehe z.B. Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Für aktuelle Zeitdiagnosen im Umfeld der kritischen Theorien siehe z.B. Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie, Kapitalismus, Kritik: Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009; Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016; Rosa, Hartmut: Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. 29 | Bell, Daniel: The coming of post-industrial society: A venture in social forecasting, New York 1973. 30 | Die historische Ausdifferenzierung von Zeitdiagnostik habe ich an anderen Stellen ausführlich nachgezeichnet, z.B. F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 289-336; Ders.: Constructing epochs, S. 135-137. Siehe zu dieser Frage auch Kruse, Volker: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt a.M. 1994; Ders.: Geschichts- und Sozialphilosophie oder Wirklichkeitswissenschaft? Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Königs und Max Webers, Frankfurt a.M. 1999.

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suchen sind und nicht auf der Ebene einzelner Publikationen oder gar ganzer paradigmatischer Strömungen. Ein einzelnes soziologisches Werk kann somit mehr oder weniger von zeitdiagnostischen Argumenten durchzogen sein, ohne dass deswegen die Grenzen des Genres unklar würden. Wie aber geht die argumentative Konstruktion oder Plausibilisierung gegenwärtiger Epochenbrüche konkret vonstatten? Wie muss sozialer Wandel beschrieben werden, damit er als eben stattfindende Diskontinuität historischen Ausmaßes erscheint?

4. J e t z t, gross und unsichtbar : D ie B eschreibung stiller  R e volutionen Die Beschreibung gegenwärtig sich vollziehender Epochenschwellen steht vor dem Problem, dass Zeitenwenden der Definition nach sehr selten und sehr weitreichend sind. Sie müssten sich also, soweit sie »gerade eben« passieren, auch ungeschulten Beobachtern unmittelbar manifestieren. Eine soziologische Beschreibung manifester Epochenschwellen käme jedoch einer Nacherzählung des Offensichtlichen gleich und wäre als solche obsolet. Daher müssen Zeitdiagnosen Epochenschwellen stets im Modus des Versteckten präsentieren. Sie beschreiben Epochenbrüche, die bislang (noch) nicht erkannt wurden. Dies zwingt zu einer im Grunde paradoxen Hypothese: Eine Epochenschwelle sei gegenwärtig und allumfassend und dennoch unsichtbar. Es finden sich in den meisten mir bekannten Zeitdiagnosen Erklärungen, die versuchen, diese Paradoxie aufzulösen. Mit anderen Worten benötigen und produzieren Zeitdiagnosen in der Regel theorieimmanente Erklärungen für die Latenz des sozialen Wandels, den sie beschreiben. In der Soziologie gibt es eine lange Tradition in der Beschreibung latenter sozialer Strukturen. Gemeint ist damit meist, dass manche sozialen Phänomene in uneingestandener oder in einer den handelnden Akteuren unbewussten Weise Effekte zeitigen, beispielsweise für die Stabilisierung von Erwartungen, für den Zusammenhalt einer Gruppe, für die Austragung von Konflikten oder für die Arbeitsmotivation in formalen Organisationen. Oft spricht man in dem Zusammenhang von latenten Funktionen sozialer Strukturen.31 Zeitdiagnosen bedienen sich der Allgegenwärtigkeit von Latenzannahmen in der Soziologie, und zwar dadurch, dass hier die gesamte Makrostruktur der gegenwärtigen Gesellschaft in ihren eigenen Latenzbereich geschoben wird. Dieser konzeptionelle Zugriff ist in der Soziologie im Grunde schon seit Marx und Engels32 gängig, die bekanntlich argumentierten, dass der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, obwohl die gesamte Gesellschaft durchziehend, bis auf weiteres durch Ideologien latent gehalten werde könne. In Zeitdiagnosen wird dieses Argument generalisiert und verzeitlicht: Die gegenwärtige Gesellschaft könne aus angebbaren Gründen noch gar nicht wissen, dass sie sich in einem Epochenbruch befindet.

31 | Gouldner, Alvin W.: Cosmopolitans and locals: Toward an analysis of latent social roles, in: Administrative Science Quarterly 2, 1957, S. 281-306; Merton, Robert K.: Social structure and anomie, in: American Sociological Review 3, 1938, S. 672-682. 32 | Marx, Karl/Engels; Friedrich: Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1958 (urspr. 1845/46), S. 9-53.

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Es gibt in Zeitdiagnosen, grob gesagt, zwei Varianten von Erklärungen für diese Latenz gegenwärtigen sozialen Wandels. Die erste erklärt die Unsichtbarkeit der gegenwärtigen Epochenschwelle durch den Begriffskonservativismus derjenigen Beobachter, die eigentlich für die Beschreibung sozialen Wandels zuständig wären. Soziologen, Ökonomen, Historiker, Philosophen etc. operierten mit veralteten Begriffen und seien daher nicht imstande, das Neue an der neuen Gesellschaft zu erkennen. Ein klassisches Beispiel für diese Argumentation findet sich in Ulrich Becks Risikogesellschaft.33 Ohne hier auf die Details seiner Zeitdiagnose eingehen zu können, hält Beck zunächst fest, dass der von ihm beschriebene Epochenbruch zwar weitreichend und gegenwärtig sei, dies bislang aber noch nicht von relevanten Gesellschaftsbeobachtern gesehen werde. Die sozialstaatlich pazifizierte Industriegesellschaft verabschiede sich »auf leisen Sohlen der Normalität […] von der Bühne der Weltgeschichte«.34 Der Übergang von der »alten Industriegesellschaft« hin zur neuen Risikogesellschaft sei eine »Revolution im Gewande der Normalität«.35 Der Epochenbruch werde also vorerst noch nicht bemerkt und der Grund sei, wie angedeutet, das Beharrungsvermögen veralteter Konzepte zur Beschreibung der Gesellschaftsstruktur: Klasse, Schicht, Fortschritt, Naturbeherrschung, Großgruppenpolitik, autonome Wissenschaft, Kernfamilie. All dies sind aus Becks Perspektive »Zombie-Kategorien«: Konzepte, die eigentlich schon unangemessen sind, aber künstlich am Leben gehalten werden. Dieses Denken in alten Kategorien beschleunige sozialen Wandel: Die »Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich«,36 bis auch die borniertesten Soziologen und Soziologinnen keine andere Wahl hätten, als in Termini der Theorie der Risikogesellschaft zu denken. Dies bildet gewissermaßen den konzeptionellen Kern der Beck’schen Latenzhypothese: Die neue Gesellschaft brauche neue Begriffe und also eine neue Soziologie (sprich: die Theorie der Risikogesellschaft), um sich selbst zu verstehen. Dabei kann sich die Soziologie, Beck zufolge, an zwei Beispielen orientieren. Zum einen an der Soziologie in der »alten Industriegesellschaft«, denn bis vor Kurzem seien Begriffe wie Familie, Schicht, Klasse, Differenzierung und Fortschritt tatsächlich noch die angemessenen Begriffe für die Beschreibung der Struktur moderner Gesellschaften gewesen.37 Zum anderen kann sich Beck vorstellen, dass es jetzt schon innerhalb der Gesellschaft Teile gebe, die eine der neuen Epoche angemessene Gesellschaftsbeschreibung produzierten und eine privilegierte Sicht auf diese neue Gesellschaft hätten: die neuen sozialen Bewegungen. Die Latenz sozialen Wandels unangemessenen Beobachtungskategorien zuzuschreiben ist ein argumentatives Mittel, das sich auch in anderen Zeitdiagnosen findet. So meint Daniel Bell in seiner Diagnose zur Entstehung einer »post-industriellen Gesellschaft«: »Unhappy is a society that has run out of words to describe what is going on«.38 Auch Bell ist der Meinung, dass die moderne Gesellschaft (noch) keine strukturadäquate Begrifflichkeit für ihre eigene Gegenwart gefunden 33 | Beck, Ulrich: Die Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 34 | Ebd., S. 15. 35 | Ebd., S. 305. 36 | Ebd., S. 34. 37 | Ebd., S. 132-137. 38 | D. Bell: The coming of post-industrial society, S. 294.

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habe. Politische Philosophie und Ökonomie suchten noch immer nach allgemeinen Wohlfahrtsmodellen, die in einer interessensmäßig zersplitterten Welt keine reale Grundlage hätten;39 die Betriebswirtschaftslehre gehe noch immer vom kreativen Einzelunternehmer aus, obwohl die moderne Ökonomie von riesigen und gerade nicht von den eigentlichen Eigentümern geführten Korporationen beherrscht sei;40 hierarchische Organisationsmodelle warenproduzierender Industrien passten immer schlechter zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft;41 im politischen System der USA werde weiterhin an einem völlig überkommenen Föderalismus festgehalten.42 Und auch Bell kann sich vorstellen, dass es in früheren Zeiten, und de facto bis vor Kurzem, noch eine der Sozialstruktur angemessene Selbstbeschreibung der Gesellschaft gab. Die bürgerliche Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sei noch ein integriertes Ganzes gewesen, in der die offizielle Kultur, die idealtypische Charakterstruktur und die (Wirtschafts-)Struktur aufeinander abgestimmt und durch das im Weber’schen Sinne protestantische Berufsethos zusammengehalten worden seien. Heute jedoch verliere die Gesellschaft die Fähigkeit, sich angemessen zu beschreiben, weil diejenigen, deren Aufgabe eigentlich die Gesellschaftsbeschreibung sei (siehe Beck), die Gesellschaft gar nicht mehr analysieren wollten. Stattdessen gefielen sich intellektuelle Eliten in der generellen Ablehnung von Gesellschaftsstrukturen als solchen. Wissensbasierte Technokratie als Basisstruktur der Gesellschaft habe keinen ideologischen und sie verteidigenden Überbau mehr und ihre Kritiker begnügten sich mit einem »radikalen Autismus«.43 Die moderne post-industrielle Gesellschaft habe, anders als ihre kapitalistische Vorgängerin, niemanden (außer vielleicht Bell selbst), der sie verteidigen oder angemessen beschreiben könne. Die offizielle Kultur der intellektuellen und akademischen Eliten sei eine Kultur der Gesellschaftskritik geworden, die aber (weil sie vor allem marxistisch und psychoanalytisch angehaucht sei) keine angemessene Kritik der modernen Gesellschaft sein könne, sondern allenfalls eine Kritik »von vorgestern« darstelle. Dies ist auch der Kern von Bells Nachfolgewerk The Cultural Contraditions of Capitalism.44 Die Latenz sozialen Wandels ist bei Bell gewissermaßen absolut. Während sich Beck vorstellen kann, dass durch die Lektüre seiner Zeitdiagnose die Soziologie ihre Begriffe »auf den neuesten Stand« bringen und neue soziale Bewegungen ihre Intuitionen in einer akademischen Sprache ausdrücken könnten, so sieht Bell die Latenz sozialen Wandels als unausweichliches Strukturmoment dieser neuen Gesellschaft. Die Wissensbasierung der post-industriellen Gesellschaft erfordere eine umfassende Bildungsexpansion, diese wiederum ermögliche die Festanstellung von Intellektuellen an Universitäten, was dazu führe, dass diese neue Elite vielmehr an anti-institutioneller Kritik als an detaillierter Analyse und praxisnahen Reformen interessiert sei.

39 | Ebd., S. 303. 40 | Ebd., S. 293. 41 | Ebd., S. 324. 42 | Ebd., S. 320. 43 | Ebd., S. 477. 44 | Bell, Daniel: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1976.

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Man kann also, und dies bildet die zweite in diesem Kontext übliche Argumentationstaktik, die Latenz sozialen Wandels nicht nur veralteten (oder sonstwie inadäquaten) Beobachtungsmodi zuschreiben, sondern den neuen Strukturen selbst. Die vielleicht kreativste Umsetzung dieses narrativen Musters findet sich in David Riesmans seinerzeit extrem erfolgreichen Zeitdiagnose The Lonely Crowd.45 Riesmans Zeitdiagnose ist, in aller Kürze, eine Charakterstudie des modernen Amerika. Grundaussage dabei ist, dass die modernen Amerikaner immer mehr einen »fremdgeleiteten Charakter« entwickeln würden. Anders als im Falle ihrer protestantischen Vorfahren sei ihr Handeln nicht mehr an einem auf Fleiß, Aufstiegsstreben, Konsum und Konkurrenz geeichten »moralischen Kompass« orientiert. Stattdessen orientierten sich die großstädtischen, gut ausgebildeten Angehörigen der oberen Mittelschichten immer mehr an der Meinung der Anderen. Der fremdgeleitete Charakter der modernen Gesellschaft bringe eine kooperative und auf Konsens getrimmte Kultur der Peers hervor. Der moderne Amerikaner wolle, anders als seine vom individualistischen Tatendrang getriebenen Vorfahren, bloß nicht auffallen, wolle bloß nichts Besonderes sein, wolle bloß nicht gegen den Strom schwimmen, bloß niemanden verärgern. Riesman beschreibt in seiner Zeitdiagnose in beeindruckendem Detail, welche Auswirkungen dies auf Lebensläufe, Kindererziehung, Essensgewohnheiten, politische Einstellungen, die moderne Betriebsführung sowie Kunst- und Medienkonsum habe. Auch in Riesmans Zeitdiagnose findet sich eine Theorie, die erklären soll, warum dieser vermeintliche Wandel der Charaktertypen bislang nicht aufgefallen und latent geblieben sei, obwohl dieser doch sehr alltagsnahe Phänomene betreffe. So meint Riesman an mehreren Stellen, dass die Amerikaner, und gerade die jungen, gut ausgebildeten und großstädtischen, ihre eigene Gesellschaft gar nicht als »fremdgeleitet« wahrnehmen, sondern weiterhin als erfolgs-, konkurrenz-, konsum- und aufstiegsorientiert.46 Dabei, so Riesman, agierten diese Menschen gar nicht in diesem Sinne – sie selbst seien fremdgeleitet, wähnten sich aber in einer »innergeleiteten« Gesellschaft. Auch bei Riesman sind es die Zerrbilder der Intellektuellen, Werbemacher und kritischen akademischen Soziologen, die dieses gegenwartsinadäquate Bild zeichneten. Aber warum glauben so viele Amerikaner diesen Zerrbildern? Riesmans Antwort ist ein längeres Zitat wert: »It is the other-directedness of Americans that has prevented their realizing this; between advertisers on the one hand and the novelists and intellectuals on the other, they have assumed that other Americans were materialistic, while not giving sufficient credence to their own feelings. Indeed, the paradoxical situation in a stratum which is other-directed is that people constantly make grave misjudgments as to what others, at least those with whom they are not in peer-group contact, but often also those with whom they spend much time, feel and think«. 47

Die Amerikaner hielten die Gesellschaft noch immer für »innengeleitet«, gerade weil sie schon »fremdgeleitet« seien. Fremdgeleitete Menschen hörten ja nicht auf 45 | Riesman, David: The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, Garden City, NY 1953. 46 | Ebd., S. 260-267. 47 | Ebd., S. 265.

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ihren »inneren Kompass«, sondern glaubten, was andere ihnen sagen und in dem Fall sagen ihnen andere, dass die Gesellschaft noch immer von Raffgier, Konkurrenz, ostentativen Konsum und Karrierismus geprägt sei. Die Werbung glorifiziere Konsum, obwohl dies den übersättigten Menschen nicht wichtig sei; die Massenmedien berichteten in einem moralisierenden Ton über Politik, obwohl dem modernen Amerikaner real empfundene Empörung fremd sei; Wirtschaftsbetriebe priesen den in ihnen möglichen sozialen Aufstieg und die durch sie geförderte Konkurrenz, obwohl die modernen Amerikaner den Wettbewerb scheuten. All dies führe, so Riesman, zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Wirtschaftsbetriebe zögen aufstiegsorientierte Menschen an, die Politik die moralisch Empörten. Die fremdgeleiteten Menschen blieben diesen Bereichen fern und blickten aus ihren Vorstadthäuschen und ihren Dienstleistungs- und Verwaltungsjobs verängstigt auf eine Gesellschaft, die ihnen zwangsweise wie ein Haifischbecken vorkommen müsse, obwohl sie dies zu einem erheblichen Teil gar nicht mehr sei. Das argumentative Muster, wonach sozialer Wandel für seine eigene Latenz sorge, erfreut sich auch in Zeitdiagnosen neueren Datums großer Beliebtheit. So findet sich in Hartmut Rosas Beschleunigung48 eine längere Passage über die Gründe von Entschleunigungstendenzen in einer an sich beschleunigten Gesellschaft. Die Slow Food Bewegung, Meditationskurse, Verkehrsstaus, die trägen Mühlen von Bürokratie und Politik oder sozialwissenschaftliche Theorien, die die Gegenwart gerade als Epoche des (z.B. politischen) Stillstandes beschreiben: All das könnte man prima facie als Gegenargumente zu seiner Theorie verstehen. Allerdings, so Rosa, seien all diese Phänomene gerade als Effekte gesellschaftlicher Beschleunigung zu verstehen. »Entschleunigungsideologien« seien offenkundig eine Antwort auf Beschleunigungstendenzen; »Entschleunigungsinseln« (z.B. Wellnesshotels) nur zeitweilige Ruhepole, die eine umso effizientere Ausbreitung sozialer Beschleunigung ermöglichten; lange Wartezeiten lediglich eine unbeabsichtigte Nebenfolge unkoordinierter Beschleunigung. Gegentendenzen werden, soweit überhaupt thematisiert, als »entweder residual oder reaktiv«49 beschrieben: Soziale Beschleunigung sorge durch nachträgliche Reparaturstrategien (vorerst noch) für ihre eigene Latenz. Viele andere Beispiele für die zeitdiagnostische Konstruktion der Latenz sozialen Wandels ließen sich anführen.50 Wichtig hier ist lediglich, dass sie alle sozialen Wandel als »stille Revolution« beschreiben, um bei der Formulierung eines anderen Zeitdiagnostikers, Ronald Inglehart,51 Anleihe zu nehmen. Sie versuchen die Paradoxie aufzulösen, die dadurch entsteht, dass ein epochaler Bruch als gegenwärtig, allumfassend und dennoch unsichtbar aufgefasst wird. Nun ließe sich argumentieren, dass wissenschaftliche Aussagen, dem akademischen Innovationsgebot entsprechend, stets Neuheitsbehauptungen miteinschließen und darum bis zu einem gewissen Grade immer behaupten müssen, dass der jeweils beschriebene Zusammenhang nicht offenkundig und also bislang unterbelichtet geblieben sei. So betrachtet gäbe es, zumindest in der Beschreibung von 48 | H. Rosa: Beschleunigung, S. 138-158. 49 | Ebd., S. 154. 50 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 267-286. 51 | Inglehart, Ronald: The silent revolution: Changing values and politics among Western publics, Princeton 1977.

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latenter Strukturen, keinen substantiellen Unterschied zwischen Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen: Beide müssen darauf beharren, dass die von ihnen problematisierten Zusammenhänge nicht im trivialen Sinne manifest seien. Allerdings unterscheiden sich Neuheitsbehauptungen von Zeitdiagnosen deutlich von ihren gesellschaftstheoretischen Pendants.52 Die Beschreibung von Latenzen sozialen Wandels bezieht sich in Zeitdiagnosen vornehmlich auf sachliche Neuheiten, also auf Prozesse, Strukturen und Phänomene, die es »früher« nicht gegeben habe: neue Charaktertypen, neue Differenzierungsmodi, neue Lebensläufe, neue Generationen, neue Technologien, neue Medien etc. »Alte« soziale Strukturen werden im Vergleich dazu den theoretischen Zeitgenossen überlassen und interessieren allenfalls als Kontrastfolie. Ich habe an anderen Stellen diese Argumentationsform »retrospektiven Realismus«53 genannt. Für die »alte« Gesellschaft seien die »alten« Theorien angemessen gewesen (s.o.), für die neue Gesellschaft und ihre Phänomene brauche man eine neue Soziologie – eben die der vorgeschlagenen Zeitdiagnose. Kontrastiert man diese Perspektive mit Neuheitsbehauptungen in Gesellschaftstheorien fällt auf, dass sachliche Neuheiten hier im Vergleich zu konzeptionellen Neuheiten eine untergeordnete Rolle spielen. Die Habermas’sche Theorie kommunikativen Handelns54 und die darin vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System war natürlich »neu« im Sinne der Neuheit des konzeptionellen Rahmens. Aber damit sollte vor allem bestehendes soziologisches Wissen neu interpretiert, kritisiert und neu gedacht werden. Habermas’ Interesse galt vornehmlich einer Neuinterpretation und auch Korrektur »alten« Wissens (bspw. der soziologischen Theorien von Marx, Weber und Parsons) und nicht primär sachlich neuartigen Phänomenen. Dasselbe ließe sich für Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung55 oder die Bourdieu’sche Praxistheorie56 sagen. Der Beschreibung sachlicher Neuheiten steht aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive freilich nichts im Wege (obwohl sie sehr in den Hintergrund rückt). Zeitdiagnosen hingegen konzentrieren sich ausschließlich darauf. Neue Perspektiven werden hier lediglich auf sachlich Neues bezogen, »altes« Wissen hingegen wird als inhaltlich angemessen beschrieben, solange es sich auf »alte« Gesellschaften bezieht. Man kann diesen Zusammenhang auch so formulieren, dass die Neuheitsbehauptungen in Gesellschaftstheorien derart stark auf innerakademische Debatten bezogen sind, dass ihre Beschreibungen nicht anders können, als latent, im Sinne von außerakademisch unsichtbar, zu sein. Sie benötigen dementsprechend auch keine Hilfstheorien, die erklären, wieso nicht jedermann die Welt bspw. durch die konzeptionelle Brille von System und Lebenswelt betrachtet. Konzeptionelle Neuheiten erkennen nur hochspezialisierte wissenschaftliche Beobachter, und nur für die sind Gesellschaftstheorien auch verfasst. Zeitdiagnosen hingegen können sich diesen Luxus der außerakademischen Bedeutungslosigkeit nicht leisten. In ihrer Grundstruktur beschreiben sie gegenwärtige Epochenbrüche als sachliche Neu52 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 289-316. 53 | Ebd., S. 200-249; F. Osrecki: Constructing epochs, S. 137-141. 54 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981. 55 | Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997. 56 | Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1979.

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heiten, die gerade deswegen auch für Laien sichtbar sein müssten. Genau darum brauchen sie Erklärungen für die Unsichtbarkeit des Neuen.

5. Z ur L egitimität zeitdiagnostischen A rgumentierens Wie eingangs erläutert, haben Zeitdiagnosen in der Soziologie einen zum Teil schweren Stand. Oft wird das Genre mit einem »unwissenschaftlichen«, essayistischen Schreibstil assoziiert, der soziale Neuheiten ins Maßlose übersteigert darstellt. Zeitdiagnosen seien vielleicht nette Polemiken – gut genug für das Feuilleton, aber schlechte Wissenschaft. Auch die Beschreibung »stiller Revolutionen« könnte in diesem Sinne gedeutet werden – als argumentatives Mittel, durch welches an sich unplausible Thesen mittels narrativer Hilfskonstruktionen plausibilisiert werden sollen. Auch die analytische Unterscheidung zwischen Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien könnte als Unterschied zwischen »unseriöser« und »seriöser« Wissenschaft verstanden werden. Dies wäre jedoch eine extrem simplifizierte Interpretation, die auf einer idealisierten Vorstellung davon gründet, was zu »echter« Wissenschaft gehört und was nicht. Mehrere AutorInnen haben darauf hingewiesen, dass Zeitdiagnosen, trotz aller Skepsis, die man dem Genre entgegenbringen kann, bestimmte Funktionen für die Soziologie erfüllen. Drei solcher Funktionen sollen im Folgenden erörtert werden: massenmediale Anschlussfähigkeit, die Simulation von Praxisbezug und die Nivellierung von Paradigmenstreitigkeiten. Die erste Funktion betreffend wurde aus unterschiedlichen Perspektiven mehrfach herausgestellt, dass Zeitdiagnosen, mehr als jedes andere Genre der Soziologie, massenmediale Aufmerksamkeit erzeugen und für die öffentliche Sichtbarkeit des Faches sorgen.57 Durch die Analyse von Argumentationsmustern wie der Beschreibung »stiller Revolutionen« wird auch klar, wieso dies so ist. Die Konzentration auf sachliche Neuheiten erlaubt die Darstellung von sozialem Wandel als Nachricht mit Neuigkeitswert – eine Leistung, die Gesellschaftstheorien aufgrund ihrer Konzentration auf konzeptionelle Innovationen im Binnenkontext des Wissenschaftssystems nicht erbringen können. Zeitdiagnosen präsentieren also sozialen Wandel in für Massenmedien und ihre Publika »verdaulicher« Form. Zudem erlaubt die Beschreibung latenten sozialen Wandels eine gewissermaßen soziologisierte Selbstschau in Form persönlicher Nachforschungen: Bin ich schon fremdgeleitet, ist die Risikogesellschaft schon in unserer Stadt angekommen? Auch hier leisten Zeitdiagnosen einen von keinem anderen Genre der Soziologie erfüllten Beitrag zur Kopplung von akademischem Diskurs und persönlicher Betroffenheit medialer Rezipienten. Die zweite Funktion, die Zeitdiagnosen für die Soziologie erfüllen, besteht in der Simulation eines therapeutischen Praxisbezugs. Der Begriff »Diagnose« suggeriert ja, dass Zeitdiagnosen tendenziell Entwicklungen in den Blick nehmen, die Sorgen bereiten. Manche Autoren attestieren Zeitdiagnosen dementsprechend einen Hang zur Betonung von Negativitäten.58 Dies gilt sicherlich für viele, aber 57 | A. Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung; F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 322-331; U. Volkmann: Soziologische Zeitdiagnostik. 58 | A. Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, S. 39-40.

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nicht für alle Zeitdiagnosen, weshalb z.B. Bernhard Peters59 vorgeschlagen hatte, innerhalb des Genres Zeitdiagnostik zwischen Schwellen- und Krisendebatten zu differenzieren. Gesellschaftliche Epochenschwellen oder -brüche können also durchaus auch als wünschenswerte Entwicklungen gerahmt werden. Unter den hier diskutierten Autoren ist Riesman sicherlich derjenige, der den von ihm anvisierten Entwicklungen die meisten positiven Aspekte abgewinnen konnte – der fremdgeleitete Mensch ist ein Herdentier, aber zumindest kooperativ. Und auch Becks Risikogesellschaft ist in der Frage der Bewertung gegenwärtigen sozialen Wandels ambivalent: Neue Umweltgefahren sind zwar potentiell katastrophal, stoßen aber in der Form dessen, was Beck reflexive Modernisierung nennt, die Entwicklung einer wahrhaftig aufgeklärten Gesellschaft an. Gerade in den letzten Jahrzehnten entstanden zudem zahlreiche Zeitdiagnosen, die technologischen Wandel zum Thema haben und diesen mit teils euphorisch-utopischen Zukunftshoffnungen verbinden. Paradebeispiele hierfür wären Zeitdiagnosen im Umfeld des human enhancement-Diskurses60 oder die gegenwärtige Diskussion um eine digitalisierte Gesellschaft.61 Gleich ob als düstere Krisendebatte oder strahlende Utopie: Zeitdiagnosen deuten stets auch ansatzweise an, wie mit den »neuen« Entwicklungen umgegangen werden soll. Die Vorschläge sind dabei in der Regel wenig konkret und inhaltlich äußerst breit gestreut. Sehr häufig finden sich Appelle, den jeweils anvisierten Zusammenhang (Familienstrukturen, Arbeit, Umwelt, Mediennutzung etc.) »neu zu denken«. So schlug Riesman62 vor, als Heilmittel gegen zu viel Fremdgeleitetheit Kindern bereits in sehr frühen Jahren autonome Konsumentscheidungen anzutrainieren – durch »Modellsupermärkte«, wo in spielerischer Form und ohne Beobachtung durch Peers Kaufentscheidungen getroffen werden sollten. Obwohl solche konkreten Lösungsvorschläge in Zeitdiagnosen eher selten sind, suggerieren auch vage zeitdiagnostische Therapieangebote, dass es sich hier um eine sozial engagierte, praxisnahe, mit »echten Problemen« befasste Art von Forschung handelt. Damit öffnet sich die Tür soziologischer Forschung hin zu z.B. politischen Entscheidungsträgern. Dies ist insbesondere für eine Disziplin wichtig, die über keinen institutionalisierten Praxisbezug, z.B. in der Form anwendungsbezogener Technologien, verfügt. Und auch wenn im politischen Diskurs von Zeitdiagnosen höchstens Schlagworte übrigbleiben und auch wenn von den Therapievorschlägen wenige tatsächlich umgesetzt werden (können): Mit Zeitdiagnosen positioniert sich die Soziologie als Fach, das den »Blick aus dem Elfenbeinturm« wagt – dies auch dann, wenn es sich dabei lediglich um die Simulation eines Praxisbezugs handelt. Die dritte wichtige Funktion, die Zeitdiagnosen erfüllen, ist die Nivellierung oder Entschärfung paradigmatischer Streitigkeiten in der Soziologie. Durch die Konzentration auf sachliche Neuheiten können Zeitdiagnosen, wie angedeutet, die gesellschaftliche Vergangenheit »alten« Theorien überlassen. Oft präferieren Zeitdiagnosen daher einen versöhnlichen Tonfall gegenüber diesen Theorien: Die An59 | B. Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit, S. 166-170. 60 | Dickel, Sascha: Enhancement-Utopien. Soziologische Analysen zur Konstruktion des Neuen Menschen, Baden-Baden 2011. 61 | Dickel, Sascha/Franzen, Martina: Digitale Inklusion: Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems, in: Zeitschrift für Soziologie 44, 2015, S. 330-347. 62 | D. Riesman: The Lonely Crowd, S. 343.

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sätze von Marx, Weber, Luhmann oder Habermas seien in der einen oder anderen Weise angemessene Gesellschaftsbeschreibungen gewesen, doch neue Phänomene zwingen zum Umdenken. Wer so argumentiert, verbeugt sich gewissermaßen vor alternativen Theorieangeboten, solange sie sich auf »alte« Gesellschaften beziehen, und lädt deren Vertreter gleichzeitig dazu ein, in der Beschreibung der Gegenwart der neuen Zeitdiagnose zu folgen. Ulrich Becks viel zitierter »Fahrstuhleffekt« war genau in diesem Sinne ein Angebot an die soziologische Klassentheorie. Der Frontalangriff, den Gesellschaftstheorien oft gegen innerwissenschaftliche Konkurrenten reiten, ist im Vergleich dazu relativ aggressiv – man denke nur an Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, in welcher ja behauptet wird, dass die Theorien von Marx, Weber und Parsons schon zum Zeitpunkt ihrer Formulierung unangemessene Gesellschaftsbeschreibungen gewesen seien. Gerade in einer multiparadigmatischen Disziplin wie der Soziologie erfüllen Zeitdiagnosen somit die sehr wichtige Funktion, Vertreter unterschiedlicher und oft verfeindeter Denkansätze in Dialog zu bringen. Wer also für die akademische Exkommunikation von Zeitdiagnostik eintritt, sollte sich fragen, wodurch all diese Funktionen in äquivalenter Weise erfüllt werden könnten. Generell gilt für alle sozialen Systeme, und so auch für wissenschaftliche Disziplinen, dass es neben ihren »offiziellen« Aufgaben viele andere Funktionen gibt, die sie zum Zwecke ihres Fortbestands erfüllen müssen.63 Die »offizielle« Funktion einer wissenschaftlichen Disziplin ist die Herstellung wahrheitsfähiger Kommunikation. Aber daneben muss sie auch Drittmittel beschaffen, für pädagogisch verständliche Wissensvermittlung sorgen, ihre Interessen als politisch relevant markieren und öffentlich sichtbar sein. Diese Ansprüche geraten oft und fast zwangsweise miteinander in Konflikt. Diesen Konflikt aber dadurch auflösen zu wollen, dass man die »unwissenschaftlichen« Funktionen quasi »auslagert« – im Falle der Kommunikation mit Massenmedien etwa an den Wissenschaftsjournalismus –, ist riskant. Denn dies würde bedeuten, den Außenkontakt der Disziplin akademischen Laien anzuvertrauen und somit die Kontrolle über die mediale Diffusion der eigenen Ansätze zu verlieren. Den Praxisbezug des gesamten Faches nur einer akademischen Subdisziplin, z.B. der empirischen Ungleichheitsforschung, anzuvertrauen würde unweigerlich zu massiven innerwissenschaftlichen Verteilungskämpfen führen. Und die Bearbeitung der soziologischen Multiparadigmatase den Vertretern der jeweiligen Ansätze zu überlassen würde auf noch tiefere paradigmatische Gräben oder sterile Theorievergleichsdebatten hinauslaufen. Sinnvoller scheint es mir zu sein, für eine inklusive Architektur der Soziologie zu plädieren, also für ein Arrangement, in dem für strukturell sehr unterschiedliche Gesellschaftsbeschreibungen Platz sein müsste. In so einem Gefüge können Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien, neben ihren je spezifischen Aufgaben, auch für einander Kontrollfunktionen erfüllen. Zeitdiagnosen können Gesellschaftstheorien dazu ermahnen, sich nicht einer völlig esoterischen intrawissenschaftlichen Exegese hinzugeben, während Gesellschaftstheorien Zeitdiagnosen vor übertriebener, gegenwartsbezogener Hysterie bewahren können. Insofern ha63 | Kieserling, André: Drei Vorbehalte gegen »Funktionssysteme«, in: Zeitschrift für Soziologie 34, 2005, S. 433-436; Ders.: Ungerecht, aber nützlich: Zur Verteilung der wissenschaftlichen Reputation, in: Mau, Steffen/Schöneck, Nadine M. (Hg.): (Un-)Gerechte (Un-) Gleichheiten, Berlin 2015, S. 54-65.

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ben Zeitdiagnosen ihren legitimen Standort in der modernen Soziologie – sowohl in der Außenkommunikation, wie auch in der wissenschaftsinternen Theoriebildung. Zu befürchten ist also kein Überhandnehmen zeitdiagnostischen Argumentierens in der Soziologie, sondern allenfalls die Unfähigkeit soziologischer Beobachter, das Genre in seinen spezifischen Funktionen zu würdigen – und das heißt auch, Zeitdiagnosen nicht mit Gesellschaftstheorien zu verwechseln.

6. A usblick Ich komme zum Abschluss zurück zur Frage, was die Wissenschaftssoziologie von der Analyse zeitdiagnostischer Argumentationsmuster lernen kann. Das derzeit erwachende Interesse an einer Wissenschaftssoziologie der Sozialwissenschaften ist stark geprägt von der Forschungstradition der postmodernen Wissenschafts- und Technikforschung und interessiert sich dementsprechend vor allem für »Mikropraktiken« und »Mikropolitiken« soziologischer Arbeit. Zeitdiagnostisches Argumentieren kann man als eine solche Mikropraktik fassen, allerdings würde man ein viel größeres Thema vergeben, würde man es dabei belassen. Denn gerade an Zeitdiagnosen kann man zeigen, wie soziologische Diskurse durch ihre spezifischen narrativen Strukturen jenseits akademischer Debatten sichtbar und wirksam werden. Dies könnte man zu einem viel breiteren Forschungsfeld ausbauen, das es gerade nicht bei der Deskription von Mikrostrukturen belässt, sondern sich fragt, wie soziologisches Wissen, und zwar gerade in seiner expressiven, öffentlich-intellektuellen, nicht-instrumentellen Form, Effekte außerhalb der akademischen Welt zeitigt. Eine mögliche Fragestellung wäre aus dieser Perspektive, wie soziologische Konzepte in politische Debatten einsickern. So wird die Welle des Populismus, die die westliche Welt seit einigen Jahren erfasst hat, von vielen Kommentatoren darauf zurückgeführt, dass sich der ideologische Überbau progressiver (vulgo: linker) Parteien verändert habe. Von Fragen der sozialen Gerechtigkeit sei die »neue Linke« unter Einfluss neuer sozialwissenschaftlicher Ansätze immer stärker zugunsten von »Identitätsdiskursen« abgerückt.64 Dies wiederum mache linke Parteien für ihre Stammwähler immer unattraktiver und treibe sie in die Arme von Rechtspopulisten. Unabhängig davon, ob diese Diagnose zutrifft, scheint sie einen interessanten Punkt zu treffen. Denn sie zeigt, dass auf den ersten Blick sehr exotische intellektuelle Entwicklungen in den Sozialwissenschaften (die Entstehung von »identity studies«, der Niedergang klassisch reformorientierter Ansätze) sehr praktische Folgen haben können. Wie Paradigmenstreitigkeiten innerhalb von Sozialwissenschaften außerhalb der daran direkt beteiligten Kreise politische Prozesse transformieren können, scheint mir zu den interessantesten Fragen zu gehören, die die derzeitige Wissenschaftssoziologie der Sozialwissenschaften stellen kann und bislang noch nicht stellt.

64 | Lilla, Mark: The end of identity liberalism, in: The New York Times, 20.11.2016, S. SR1; Rorty, Richard: Achieving our country: Leftist thought in twentieth-century America, Cambridge, MA 1999.

IV. Historische Formen des Diagnostischen

Eine Schaubühne des Hier und Jetzt Das Theatrum Europaeum und die Frage nach der Gegenwart Achim Landwehr

1. W elt als B ühne Es braucht nicht viel. Einige Stühle vielleicht, in einem Raum oder im Freien. Bänke tun es auch. Es ließe sich auf dem Boden sitzen. Genau genommen braucht es nicht nur nicht viel – man kommt sogar ohne irgendetwas aus. Es bedarf nur der stillschweigenden Übereinkunft, die schon längst getroffen worden ist, schon weit vor unserer Zeit, vielleicht sogar schon bevor es so etwas wie ›Zeit‹ gab, der Übereinkunft nämlich, sich auf eine dichotomische Grundkonstellation einzulassen. Hier die Aufführenden, dort diejenigen, für die etwas aufgeführt wird, hier die Schauspieler, dort das Publikum, hier die Aktiven, dort die Passiven, hier die oben Stehenden (um besser gesehen werden zu können), dort die unten Sitzenden (um besser sehen zu können). Auf der einen Seite wird etwas erzählt, auf der anderen Seite wird zugehört, auf der einen Seite wird ein Geschehnis nach- oder vorgespielt, auf der anderen Seite versucht man – zumindest für eine gewisse Zeit –, das Spiel für das Wirkliche zu halten. Da sitzt es nun, das Publikum, und kann zusehen, wie das Stück beginnt, ohne dass etwas anfangen würde; wie eine Bühne errichtet wird, ohne dass dafür irgendein Material nötig wäre; wie eine Szene aufgebaut wird, ohne dass dafür ein Requisit herangeschleppt werden müsste. Es werden noch nicht einmal Schauspielerinnen oder Statisten benötigt. Für das Geschehen auf der Bühne genügt es schon, dass eine Stimme spricht, eine körperlose Stimme von irgendwoher, eine Stimme, die nur einige Namen nennt, damit in der Vorstellung des Publikums die Aufführung beginnen kann. Schon das Aussprechen dieser Namen erzeugt Bilder im Kopf, lässt Gesichter zumindest schemenhaft vor dem geistigen Auge erscheinen, weckt Assoziationen und Erinnerungen an vage Gewusstes: William Shakespeare, Molière, Andreas Gryphius, Christopher Marlowe, Jean Racine, Lope de Vega, Ben Jonson, Pierre Corneille, Pedro Calderón, Pieter Corneliszoon Hooft. Autoren, die nicht nur für die Dramenliteratur des 17. Jahrhunderts von Bedeutung sind, sondern die bis in die Gegenwart hinein bestimmen, was auf den Bühnen dieser Welt zur Aufführung kommt. All diese Namen führen für uns ein Stück auf, und zwar ohne, dass sie dafür etwas tun müssten. Sie müssen nicht auftreten, sie müssen sich nicht bewegen,

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sie müssen keinen Text sprechen. Allein schon die Namensnennung genügt, ein Bühnenwerk in Szene zu setzen. Wesentlicher Inhalt dieser Aufführung ist die Aussage, bei der ganzen Welt handele es sich um eine Bühne und wir seien darin nur die Schauspieler. Shakespeare hat diese Einsicht in eine Sentenz verpackt, die es seither zu sprichwortartiger Prominenz gebracht hat. In As you like it (entstanden 1599/1600) spricht Jacques einen Monolog über die sieben Lebensstufen des Menschen,1 der mit den Worten beginnt: »All the world’s a stage/And all the men and women merely players«.2 Aber Shakespeare war wahrlich nicht der einzige, dem ein solches Bild in den Sinn kam. Ähnliche Formulierungen finden sich auch beim Spanier Calderón, beim Franzosen Corneille, beim Niederländer Vondel oder beim Deutschen Gryphius.3 Weshalb könnte für ein Publikum, das sich eine Theateraufführung ansieht, die Deutung überzeugend wirken, diese Bühne sei nicht einfach nur ein pars pro toto für die Welt, sondern sei die Welt schlechthin? Was macht die Metapher vom theatrum mundi immer noch und immer wieder so überzeugend? Für das europäische 17. Jahrhundert scheint das Bild plausibel gewesen zu sein, das eigene Dasein im individuellen wie im kollektiven Maßstab als Theateraufführung zu begreifen. Und selbstredend war Shakespeare auch nicht der erste, der diesen Vergleich verwendet hat. Ähnliche Formulierungen lassen sich, wie für europäische Traditionsbildungen üblich, bis in die Antike zurückverfolgen und haben auch in unserer Gegenwart nichts an Überzeugungskraft eingebüßt. Es mögen verschiedene Aspekte sein, welche die Rede von der Welt als Bühne für ein Publikum überzeugend erscheinen lassen. Darin kann sich der Verdacht artikulieren, es handele sich bei der sichtbaren Oberfläche menschlichen Mitund Gegeneinanders um ein aufgesetztes Spiel, hinter dem das Eigentliche – was auch immer das sein könnte – verborgen bliebe; zugleich erlaubt es aber gerade die Zuschauerperspektive, dieses Versteckspiel zu entlarven, weil die Dynamik des Stückes die tatsächlichen Verhältnisse offenbart, entweder weil eine solche Aufdeckung zur Dramatik der Handlung gehört oder weil spätestens mit dem Fall des Vorhangs der Mummenschanz sein Ende findet. Ebenso kann sich mit der Welt als Bühne die Einsicht verbinden, dass Menschen nur eine Rolle in diesem Leben spielen würden; zugleich wäre die Übernahme einer entsprechenden Rolle die Garantie für eine gewisse gesellschaftliche Stabilität, wenn alle ihren Platz in diesem Spiel kennen. Die Welt als Bühne zu verstehen, eröffnet eine Möglichkeit zur Diagnose der Gegenwart. Damit lässt sich dem Unbehagen ob all der Verwirrungen und Verwicklungen Ausdruck verleihen, wie sie nicht zuletzt in den beliebten Verwechslungskomödien des 17. Jahrhunderts immer wieder zum Vorschein kommen, in denen alles durcheinandergerät, die Geschlechterrollen, die 1 | Vgl. Greyerz, Kaspar von: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. 2 | Shakespeare, William: Wie es euch gefällt. Zweisprachige Ausgabe, München 2 2014, S. 84. 3 | Alewyn, Richard/Sälze, Karl (Hg.): Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg 1959; Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 2 2002, S. 86-131; Christian, Lynda G.: Theatrum Mundi. The history of an idea, New York/London 1987; Quiring, Björn (Hg.): Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, Berlin 2013.

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Herrschaftsverhältnisse und die gesellschaftlichen Hierarchien; zugleich gewährt die Bühnenmetapher die Gewissheit, dass dieses ganze Durcheinander im Verlauf der Handlung wieder ins Lot kommt, das vollständige Durcheinander also letztlich nur dazu dient, die eigentlich herrschende Ordnung zu bestärken. Die Rede von der Welt als Bühne ist schließlich dazu angetan, den Verdacht zu nähren, dass es im Hintergrund jemanden gäbe, der die Fäden zieht und die Geschicke tatsächlich bestimmt; zugleich könnte dieser Verdacht in die Beruhigung umschlagen, dass es sich bei diesem Strippenzieher um das ordnungsgarantierende Prinzip, wenn nicht den Weltenschöpfer und -lenker selbst handelt. Mit anderen Worten: Die Welt als Bühne zu begreifen, kann das womöglich unausweichliche Paradox zum Ausdruck bringen, dass diese Welt völlig ungeordnet und bestens eingerichtet in ein und demselben Moment ist. Indem das Bühnengeschehen dieses Problem in einem ausschnitthaften Raum mit einer konzentrierten Handlung, einem übersichtlichen Personal und vor allem einem eindeutigen Anfang und einem klaren Ende zur Aufführung bringt, kann es wesentliche Weltprobleme in sich fassen. Das Theater wird somit zu einer passenden Verbildlichung des Wechselspiels von Ordnung und Unordnung, Planung und Willkür, Aktivität und Passivität. Die Bühne selbst gibt zwar einen geordneten Rahmen ab, aber was sich innerhalb dieses Rahmens offenbart, ist nicht selten das vollkommene Chaos, bei dem kein Stein der Welt auf dem anderen bleibt.4 Auf den verschiedenen medialen Bühnen, die einer europäischen Kultur gemeinhin zur Verfügung stehen – den hölzernen, den papiernen, den bildlichen –, diese Bühne selbst zur alles erklärenden Instanz zu erheben, mutet wie ein besonders gewitzter Schachzug an. Bei näherem Hinsehen handelt es sich aber nur um ein weiteres Kapitel in der Geschichte von Kollektiven, die sich selbst und ihre Wirklichkeit im Modus der Medien beschreiben, mit denen sie sich selbst und ihre Wirklichkeit beschreiben. Da wird die Welt dann flugs zum Buch,5 zum Netzwerk6 – oder eben zur Bühne. Das europäische 17. Jahrhundert macht großzügigen Gebrauch von der Metapher des Theatrums,7 um seine eigene Situation zu beschreiben – eine Situation, die auch noch fast vier Jahrhunderte später in einer Art und Weise als chaotisch, verwirrend, verunsichernd und existenzbedrohend erscheint, dass die Rede von der ›Krise des 17. Jahrhunderts‹ immer wieder Verwendung findet.8 In diesem 4 | Vgl. Niefanger, Dirk: Barock, Stuttgart 2000, S. 131-133. 5 | Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 5 2000. 6 | Castells, Manuel: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. 7 | Friedrich, Markus: Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der ›Theatrum‹-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel, in: Stammen, Theo/Weber, Wolfgang E. J. (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 205-232; Schock, Flemming/Bauer, Oswald/Koller, Ariane (Hg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentationen von Wissen, Hannover 2008 (URL: www.metaphorik.de/de/ journal/14/metaphorikde-142008.html [28.3.2017]); Roßbach, Nikola/Baum, Constanze (Hg.): Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit, Wolfenbüttel 2013 (URL: http://diglib. hab.de/ebooks/ed000156/id/ebooks_ed000156_article02/start.htm [16.6.2017]). 8 | Hobsbawm, Eric: The general crisis of the European economy in the 17th century, in: Past and Present 5, 1954, S. 33-53; Parker, Geoffrey/Smith, Lesley M. (Hg.): The general crisis of

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Durcheinander von Krieg, neuen Wissenschaften, Hunger, Entdeckungen im Makroskopischen und Mikroskopischen, religiösen Spaltungen und klimatischen Schwankungen stieg das Theatrum zu einem wichtigen Interpretament auf, um die Geschehnisse angemessen deuten zu können. Das Theatrum wurde während des 17. Jahrhunderts zu einem vielfach, wenn nicht sogar universell einsetzbaren Mittel, um zu beschreiben und zu erklären, was sich weder beschreiben noch erklären lässt: die Welt. Am ehesten fällt diese Konjunktur der Theatrum-Metapher in den zahlreichen Buchtiteln auf. Für die Medizin gab es das Theatrum anatomicum (und zwar sowohl als Buchtitel wie auch als konkreten Ort anatomischer Vorführungen),9 für die Naturphilosophie das Theatrum naturae, im Bereich der Technik das Theatrum machinarum, für die Geschichte das Theatrum historicum, für die Kunstgeschichte das Theatrum amplissimum, für die Geographie das Theatrum orbis terrarum, für die Kriegskunst das Theatrum belli – und so weiter.10 Diese umfangreich vorkommende Theatrum-Literatur des langen europäischen 17. Jahrhunderts versuchte Sicherheit zu geben in Zeiten erkenntnistheoretischer (und allgemeiner) Unsicherheit. Die papiernen Theatra waren Inszenierungsvorgänge, die vor allem Übersichtlichkeit (durch die bühnenmäßige Begrenzung) und Überblick (aus der Perspektive des Zuschauers am Bühnengeschehen) anbieten wollten. Genau dadurch sollte Sicherheit über eine ansonsten in vielfacher Hinsicht als unsicher empfundene Welt gewährleistet werden.11

2. G egenwart als Tr agödie Auch wenn die Metaphorisierung von Bühnen und Theatra im europäischen 17. Jahrhundert so eindeutig zu sein scheint, so geschieht doch etwas mit diesem vermeintlich klaren Bild, das sich nicht von selbst versteht. Die Verhältnisse kehren sich auf irritierende Weise um. Es ist nun nicht mehr in jedem Fall das Publikum, das einseitig dem Geschehen auf der Bühne zuschaut. Die Bühne beginnt zurückzuschauen und die etablierte Dichotomie in Frage zu stellen, die Differenz zwischen Zuschauenden und Spielenden aufzulösen. the seventeenth century, London/Henley/Boston 1978; Koenigsberger, Helmut G.: Die Krise des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9, 1982, S. 143-165; Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.): Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 1999; Parker, Geoffrey: Global crisis. War, climate change and catastrophe in the seventeenth century, New Haven/London 2013. 9 | Schwarte, Ludger: Anatomische Theater als Experiment, in: Schramm, Helmar/Schwarte, Ludger/Lazardzig, Jan (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2003, S. 75-102. 10 | Vgl. die Beiträge von Weber, Christian: Theatrum Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum-Metapher im 16. und 17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im Großen Welttheater, S. 333-360, und Gormans, Andreas: Das Medium ist die Botschaft. Theatra als Bühnen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, S. 21-53, in: metaphorik.de 14, 2008 (URL: www.metaphorik.de/de/journal/14/metapho​ rikde-142008.html [28.3.2017]). 11 | A. Gormans: Das Medium ist die Botschaft, S. 32f.

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Man gewinnt aus einschlägigen Texten nicht den Eindruck, dass diese Verkehrung der Verhältnisse zu einer erheblichen Verunsicherung geführt habe. Eher im Gegenteil. Es war eine erhebliche zeitgenössische Verunsicherung, die dazu führte, dass sich die Verhältnisse von Anschauenden und Angeschauten verkehrten. Das Theatrum Europaeum, diese sich über ein Jahrhundert erstreckende Selbstbeobachtung Europas in Papier- und Buchform,12 ist ein Beispiel dafür, dass und auf welche Weise sich die Beziehungen zwischen Bühne und Publikum verwirrten. Denn auch das Publikum des Theatrum Europaeum sah sich zum Gegenstand gemacht. Im Zusammenhang der Beschreibungsmöglichkeiten des 17. Jahrhunderts ist diese Art und Weise, sich selbst zum Gegenstand der historisierenden und theatralen Beschreibung zu machen bzw. solcherart zum Beschreibungsgegenstand gemacht zu werden, alles andere als selbstverständlich. Matthäus Merian (1593-1650), der umtriebige Verleger, bekannte Kupferstecher und Erbauer der Großbühne namens Theatrum Europaeum, hatte ein recht genaues Verständnis vom Theaterbegriff, den er dieser Veröffentlichung zugrunde legte.13 In der Erläuterung, die er dem ersten Band voranstellte, schreibt Merian, dass er seit seinen Jugendtagen das Vorhaben verfolgt habe, »in diesem THEATRO oder SchawPlatz der Geschichten der Welt mich zu üben«.14 Da ihm der Kollektivsingular der ›Geschichte‹,15 also des einen, großen, zusammenhängenden historischen Prozesses noch nicht zur Verfügung steht, sucht Merian eine andere Form, um die Gesamtheit der Geschichten (im Plural) zum Ausdruck bringen zu können. Er findet diesen Rahmen in der Metapher des Theatrums und errichtet damit eine Bühne, bei der wir Mitspieler und Zuschauer zugleich sein können. Schlägt man die großformatigen und dickleibigen Bände des Theatrum Europaeum auf, findet man zwar keine Bühnendialoge, keine Regieanweisungen, auch keinen sich hebenden Papiervorhang. Vielmehr handelt es sich um eine sowohl chronologisch als auch nach Ländern angeordnete historische Darstellung, die ihren theatralen, also anschauungswürdigen Effekt aus zwei anderen Charakteristika ableitet: aus ihrer Aktualität und aus der Bebilderung der Geschehnisse. Das Publikationsprojekt des Theatrum Europaeum war, nach allem was wir im Nachhinein darüber sagen können, in ökonomischer Hinsicht ein sehr erfolgreiches Unterfangen des Frankfurter Verlagshauses. Das lässt sich an verschiedenen Faktoren zumindest indizienhaft aufzeigen. Die Papierbühne, die hier unter der Leitung Merians mit einem Umfang von ca. 30.000 Folioseiten errichtet wurde, erlangte erstens schnell den Rang eines maßgeblichen Referenzwerks, wie eine 12 | Schramm, Helmar: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im Theatrum Europaeum. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert, in: Ders./L. Schwarte/J. Lazardzig (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne, S. 10-34, hier S. 20-24. 13 | Zur Biographie Wüthrich, Lucas Heinrich: Matthaeus Merian d. Ä. Eine Biographie, Hamburg 2007. 14 | Abelin, Johann Philipp: Theatrum Europaeum, Oder Außführliche/und Wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten […], Frankfurt a.M. 1635: »Denen Woledlen/Gestrengen […] Herren Bürgermeistern […]«, o. S. (URL: http://diglib.hab.de/pe​r​ iodica/70-a-hist-2f/start.htm [22.2.2017]). 15 | Koselleck, Reinhart: Geschichte V-VII, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 2, S. 647-717.

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sehr hohe Zitationsdichte in zahlreichen anderen Veröffentlichungen des 17. und 18. Jahrhunderts belegt. Zweitens wurden zumindest diejenigen Bände, die im 17. Jahrhundert erschienen, mehrfach wieder aufgelegt, und das trotz des erheblichen Anschaffungspreises dieses voluminösen und reich bebilderten Werks.16 Und drittens erschien das Theatrum Europaeum immerhin über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert zwischen 1633 und 1738, behandelte dabei in 21 Bänden die historischen Geschehnisse zwischen den Jahren 1618 und 1718.17 Ein ganzes Säkulum, das hier auf die Bühne gehievt wurde, oder besser: das sich selbst auf die Bühne hievte, denn hier wurde nichts anderes getrieben als Zeitgeschichtsschreibung, nichts anderes als der Versuch, mit einem möglichst geringen zeitlichen Abstand die Geschehnisse der allerjüngsten Vergangenheit in Buchform zu fixieren. »Etwas Vergleichbares gab es damals in Deutschland nicht.«18 Um aber an dieser Stelle keinen falschen Eindruck zu erwecken: Mit dem Theatrum Europaeum hat Merian nicht die Gegenwartshistoriographie oder die Zeitgeschichte erfunden. Schon ein kursorischer Blick in die Geschichte der europäischen Geschichtsschreibung lehrt, dass diese Historiographie seit ihren Anfängen gegenwartsorientiert war und sich immer für das spezifische Zustandekommen des eigenen Hier und Jetzt interessiert hat.19 Bereits Herodot, der sogenannte Vater der Geschichtsschreibung, wollte mit seiner zeitlich und räumlich weit ausgreifenden Darstellung vor allem die Frage klären, wie es seinen griechischen Zeitgenossen gelingen konnte, gegen die übermächtigen Perser zu bestehen. Thukydides setzte diese Erzählung mit seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges fort – ein Krieg, an dem er selbst teilgenommen hatte. Die antike Geschichtsschreibung ist angefüllt mit solchen Gegenwartsgeschichten. Das findet seine Fortsetzung auch in der mittelalterlichen Chronistik, die es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht hatte, die Geschehnisse der eigenen Zeit zu dokumentieren. Es kann daher mit Blick auf das Theatrum Europaeum nicht um eine der beliebten Ursprungsgeschichten 16 | Jakob, Hans-Joachim: Notizen zur produktiven Rezeption unhandlicher Folianten. Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch und das Theatrum Europaeum, in: Simpliciana 33, 2011, S. 297-318, hier S. 303-305; Schock, Flemming: Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik. Einführung, in: Roßbach, Nikola u.a. (Hg.): Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik, Wolfenbüttel 2012 (URL: http://diglib.hab.de/ebooks/ed000081/id/ebooks_ed000081_introduction/star t.htm [21.2.2017]); Scholz Williams, Gerhild: Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618-1718), in: Benthien, Claudia/Martus, Steffen (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 343-373, hier S. 343f. 17 | Die Forschungsliteratur zum Theatrum Europaeum ist immer noch überraschend übersichtlich. Einschlägig weiterhin Bingel, Hermann: Das Theatrum Europaeum, ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Schaan 1982 (urspr. 1909). Weiterhin Wüthrich, Lucas Heinrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3: Die großen Buchpublikationen I, Hamburg 1993, S. 113-272 (der vor allem eine Druckgeschichte und eine Auflistung der Kupfertafeln liefert); L. H. Wüthrich: Matthaeus Merian d. Ä., S. 324-336; N. Roßbach u.a. (Hg.): Das Theatrum Europaeum. 18 | L. H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3., S. XVII. 19 | Merian weist in der Widmung zum ersten Band des Theatrum Europaeum gebührend auf diesen Umstand hin: J. P. Abelin: Theatrum Europaeum, o. S. Vgl. hierzu auch Sabrow, Martin: Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012.

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gehen, die sich die Moderne selbst so gerne erzählt, wonach es irgendwo einen eindeutig zu bezeichnenden Punkt gegeben habe, an dem eine Jetztzeit endlich ›die Gegenwart‹ erfand. Die Frage ist viel eher – nicht nur, aber auch mit Blick auf das Theatrum Europaeum –, auf welche Art und Weise sich eine Gegenwart die eigene Gegenwart erzählt und was dabei jeweils unter Gegenwart (oder ihren Synonymen) verstanden wird. Was dürfte einem aufmerksamen Publikum am ehesten aufgefallen sein, wenn es das Theatrum Europaeum zur Hand nahm? Dass es selbst darin vorkam! Üblicherweise war es gewohnt, die mythischen oder antiken Stoffe vorgestellt, die fiktionalen und allegorischen Welten präsentiert oder die nicht gar so unendlichen Weiten der Schöpfungsgeschichte geschildert zu bekommen. Diese Themen wurden nicht nur deswegen bevorzugt, weil sie kanonisiert waren, sondern weil sie im Sinne der historia magitra vitae 20 Ewigkeitswerte repräsentierten. Und doch schlichen sich gerade im 17. Jahrhundert andere Möglichkeiten ein, um Welt zu beschreiben, offenbarten sich sowohl auf den Theatern wie auch in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts anders geartete Wege, Wirklichkeit zu behandeln.21 Andreas Gryphius (1616-1664) war jemand, der diese Möglichkeiten nutzte, wenn er zeithistorische Stoffe auf die Bühne brachte, die bis dahin als wenig theaterreif gegolten hatten.22 In Tragödien wie Catharina von Georgien und Carolus Stuardus lässt sich nicht übersehen, in welchem Maß die Gegenwart zu einem für die Dramenform ernst zu nehmenden Zeitraum wurde. Die Handlungen beider Stücke rekurrierten nicht auf überzeitlich gültige Exempel aus der Antike oder auf biblische Zusammenhänge, sondern waren der Zeitgeschichte von Gryphius entnommen. Das Publikum konnte im Verlauf des 17. Jahrhunderts also dabei zusehen, wie es selbst zum Thema gemacht wurde, wie es neben die mythischen Götter, die antiken Helden, die biblischen Gestalten und die Fürsten aus früheren Jahrhunderten trat, um gleichberechtigt mit ihnen auserkoren zu sein, diese Welt zu entschlüsseln. Beim Betrachten der Foliobände des Theatrum Europaeum konnte die Leserschaft zu der Einsicht gelangen, dass der gesamte Bühnenauf bau, der im Rahmen dieses Werks betrieben wurde, von Anfang an für es selbst gedacht war. Solcherart die Gegenwart zum Gegenstand der Darstellung und der Analyse zu machen, hebt aber auch die vermeintlich sichere Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum auf. Die Verhältnisse werden unklarer, wenn das, was einst Publikum war, zum Personal auf der Bühne wird, und man sich fragen muss, wer denn hier die Zuschauerrolle vertritt. Das ist ein wesentliches Element jeder Gegenwartsanalyse: dass das Publikum gleichzeitig die Rolle der Schauspieler übernimmt, dass Subjekt und Objekt der Betrachtung nicht mehr zu unterscheiden sind. Dass im europäischen 17. Jahrhundert die Bühne üblicherweise wesentlich eindeutiger vom Publikum getrennt war, mithin der Unterschied zwischen be20 | Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 38-66. 21 | Vgl. hierzu auch Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 42, 2017, Sonderheft »Gegenwart im 17. Jahrhundert?«. 22 | Kaminski, Nicola: Andreas Gryphius, Stuttgart 1998, S. 76; Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 378.

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schriebener Zeit und Zeit der Beschreibung eindeutiger ausfiel, kann das Vorgängerprojekt des Theatrum Europaeum verdeutlichen. Eine die Bibel fortsetzende, heilsgeschichtlich und nach Jahren organisierte Aufzeichnung23 – das ist die Historische Chronica, die zwischen 1630 und 1634 im Verlag von Matthäus Merian erschien. Wenn auch unmittelbare Vorläuferin des Theatrum Europaeum, unterschied sie sich in vielem auch grundsätzlich von dem späteren Werk. Auffälligste und bedeutsamste Differenz: Der Historischen Chronica ging es nicht um die Gegenwart. Sie wollte eine Universalgeschichte unter christlichen Vorzeichen sein und unternahm es, den Faden des historischen Berichts an der Stelle wieder aufzunehmen, an der ihn die Apostelgeschichte fallen gelassen hatte. Der historische Bericht der Bibel wird dabei jedoch nicht außen vor gelassen, sondern ebenso zum Gegenstand, denn es geht um die »Beschreibung der führnehmbsten Geschichten so sich von Anfang der Welt biß auff unsere zeitten zugetragen/Nach Außtheylung der vier Monarcheyen und beygefügter Jahrrechnung auffs fleissigst in Ordnung gebracht«.24 Mit dem achten Band, 1634 erschienen, erreichte die Darstellung dann auch die Gegenwart des frühen 17. Jahrhunderts, wenn dort die Jahre 1601 bis 1618 abgehandelt werden.25 Verfasst worden ist die ursprünglich in acht Oktavbändchen erschienene Historische Chronica von Johann Ludwig Gottfried (1584-1633), nach dem sie auch vielfach als Gottfrieds Chronik bezeichnet wird. Er konnte das Werk aber vor seinem Tod nicht mehr abschließen, weshalb Teile des siebten sowie der gesamte achte Band von Johann Philipp Abelin (gestorben 1634) verantwortet wurden, der dann auch die ersten beiden Bände des Theatrum Europaeum zusammentrug. Gottfried und Abelin schrieben innerhalb weniger Jahre ein Werk, das noch lange Standard bleiben sollte und noch bei Johann Wolfgang Goethe bleibenden Eindruck hinterließ.26 Und sie verfassten ein Werk, das nichts weniger versprach, als einen Überblick zu geben vom Tag der Schöpfung bis in ihr eigene Gegenwart. Aber diese Gegenwart war nur der vorläufige Endpunkt eines längst fixierten, weil bereits im Schöpfungsplan festgelegten Ablaufs. Solche Heilsgeschichten waren keine Besonderheit, stellten vielmehr für das Mittelalter und auch noch bis ins 17. Jahrhundert hinein den Normalfall dar. Man kann auch kaum sagen, dass solche Heilsgeschichten durch Darstellungen wie das Theatrum Europaeum abgelöst worden seien. Vielmehr behielten sie noch im europäischen 17., teils auch noch im 18. Jahrhundert ihren Wert. Und dann das Theatrum Europaeum, mit seinem wenn auch nicht tagesaktuellen, dann doch zumindest jahresaktuellen und fast schon journalistischen An23 | Vgl. zu solchen »Geschichtsbibeln« Meierhofer, Christian: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht, Würzburg 2010, S. 90. 24 | Gottfried, Johann Ludwig: Historische Chronica oder Beschreibung der führnembsten Geschichten […], Frankfurt a.M. 1630: Titelblatt (URL: www.mdz-nbn-resolving.de/urn/res​ olver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11211677-8 [3.4.2017]); L. H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3, S. 66. 25 | Ausführlich zu den einzelnen Auflagen der Historischen Chronica L. H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3, S. 61-112. Vgl. auch Ders.: Matthaeus Merian d. Ä., S. 137-143. 26 | L. H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3, S. 111f.; H. Bingel: Das Theatrum Europaeum, S. 11; C. Meierhofer: Alles neu unter der Sonne, S. 97.

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spruch.27 Dem Herausgeber Matthäus Merian stand deutlich vor Augen, dass man eine Gegenwartsgeschichte wie das Theatrum Europaeum gesondert begründen musste, weil sie sich in eben dieser Gegenwart noch nicht von selbst verstand. In der Vorrede zum fünften Band von 1647 führt er das traditionelle, bereits in der antiken Geschichtsschreibung vorzufindende Argument an, wonach man keine Geschichte noch lebender Personen schreiben sollte, weil entsprechende Werke durch die Aktualität ungut beeinflusst werden könnten. Stattdessen solle man sich lieber auf Ereignisse konzentrieren, die schon länger zurücklagen, um der Objektivität Genüge zu tun. Merian mochte (und konnte) dieses Argument aber nicht gelten lassen, und zwar nicht nur, weil es seinem eigenen Publikationsprojekt zuwidergelaufen wäre, sondern weil er auch der Überzeugung war, dass man schon während eines Ereignisses, bspw. während eines Krieges, Schwierigkeiten habe, genau zu bestimmen, was sich eigentlich ereigne, weil so viele, teils sich widersprechende Berichte darüber in Umlauf seien – wie solle diese schwierige Informationslage mit einem größeren zeitlichen Abstand besser werden?28 Das Publikum war offenbar bereit, Merian bei diesem Unterfangen zu folgen, auch wenn es sich mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert sah. Schwierigkeit Nummer eins: Matthäus Merian stand zur angemessenen Umschreibung seines Vorhabens noch nicht einmal das griffige Substantiv ›Gegenwart‹ zur Verfügung, um bezeichnen zu können, was er im Theatrum Europaeum behandelt wissen wollte. ›Gegenwart‹ war immer noch ein Begriff, der vornehmlich auf räumliche Zustände rekurrierte.29 Stattdessen mussten Merian und die Autoren des Theatrum auf umschreibende Formulierungen zurückgreifen wie »zu diesen unsern Zeiten«.30 Aber für das Publikum konnte diese Gegenwart, die sich noch gar nicht richtig benennen ließ, auch schon im 17. Jahrhundert ihre ganze Macht ausspielen, wenn sie sich beispielsweise als schneller erwies als die Gegenwartsmedien selbst. Aktuelle Geschehnisse waren in der Lage, ihre Darstellungen auf der Überholspur hinter sich zu lassen. Wie sehr das Publikum geneigt war, Merian bei seiner Darstellung des Geschehens auf der Weltbühne zu folgen, erweist sich an seinem vorherigen verlegerischen Vorhaben, die Welt in großformatigen, ausgiebig bebilderten und umfangreichen Büchern vorzuführen, mit denen er bereits einiges erreicht hatte. Er hatte nahezu klassisch mit dem Druck einer illustrierten Luther-Bibel begonnen, hatte sich dann mittels Gottfrieds Historischer Chronica durch die Jahrtausende der Schöpfungsgeschichte gearbeitet und war im Anschluss offenbar bereit, im Theatrum Europaeum die ihm gegenwärtige Welt zum Thema zu machen. Nach diesen Reisen durch die Zeit sollten sich Reisen durch den Raum anschließen, vor allem

27 | G. Scholz Williams: Formen der Aufrichtigkeit, S. 343. 28 | Lotichius, Johann Peter: Theatri Europaei Fünffter Theil […], Frankfurt a.M. 1647: »Dem Hoch-Wolgebornen/Herrn Carolo Gustavo Wrangel«, o. S. (URL: http://diglib.hab.de/period​ ica/70-1-hist-2f/start.htm [23.2.2017]). 29 | Landwehr, Achim: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014, S. 171-181. 30 | J. P. Abelin: Theatrum Europaeum, o. S.

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mit seiner voluminösen Topographia Germaniae und auch vorher schon mit der Übernahme der Sammlung von Reiseberichten von Theodor de Bry.31 Matthäus Merian war ein Weltenfänger, ein Papierverwirklicher, der mit seinen druckgraphischen und buchtechnischen Mitteln das Leben der Menschheit sowohl in seinen zeitlichen als auch in seinen räumlichen Facetten zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen versuchte. Aber gerade die zeitliche Dimension zeichnet sich nicht zuletzt durch die Eigenschaft aus, schneller zu sein als die Weltenbeschreibung selbst. Im Fall des Theatrum Europaeum bedeutet dies, dass der zweite Band des Werks vor dem ersten erschien. Ich hatte es bereits erwähnt, die Historische Chronica von Johann Ludwig Gottfried war in der ersten Auflage 1630 erschienen und mit dem achten Band (verfasst von Johann Philipp Abelin) 1634 abgeschlossen worden. Und nun wurde es für das Publikum veröffentlichungstechnisch ein wenig knifflig. Denn der zweite Band des Theatrum Europaeum, veröffentlicht 1633, war in puncto Erscheinungstermin der erste und knüpfte unmittelbar an die Historische Chronica an, wie man bereits dem Titel entnehmen kann. Von Theatrum Europaeum war dort nämlich noch gar nicht die Rede. Vielmehr lautet der Titel des Buchs Historische Chronick Oder Warhaffte Beschreibung aller vornehmen und denckwürdigen Geschichten/so sich hin und wider in der Welt/von Anno Christi 1629. biß auff das Jahr 1633. zugetragen […].32 Auch hier zeichnete Johann Philipp Abelin als Autor verantwortlich. Erst 1635, also zwei Jahre später, erschien dann, ebenfalls von Abelin verfasst, der erste (erscheinungschronologisch aber der zweite) Band des dann auch so genannten Theatrum Europaeum, Oder Außführliche/und Wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten/so sich hin und wider in der Welt/fürnämlich aber in Europa/und Teutschen Landen/so wol im Religion- als Prophan-Wesen/vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr 1629. […] zugetragen haben.33 Im Vorwort kündigte Merian dem Publikum dieses Projekt, das seinen Namen Theatrum Europaeum erst noch erhalten sollte, explizit als Fortsetzung der Historischen Chronica an. Denn weil diese heilsgeschichtlich grundierte Universalhistorie nur bis in das Jahr 1618 reichte, annoncierte er sein neues Vorhaben als zweibändige (noch nicht mehrbändige) Fortführung, die erstens den Zeitraum von 1618 bis 1629 abdecken und zweitens bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 1633 hineinreichen sollte.34 Da wir über keine ausführlichen Hintergrundinformationen zu diesem Publikationsprojekt verfügen, lässt sich nur spekulieren, dass Abelin den Auftrag für die beiden Bände erhielt, die Arbeit an der unmittelbaren Gegenwartsgeschichte des zweiten Bandes aber vorzog und damit schneller fertig wurde. Die Gegenwart drängte sich also derart zur Darstellung auf, dass schon die jüngere Vergangenheit demgegenüber zurückstehen musste. Merian vermerkt dies auch explizit in 31 | L. H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 3; Ders.: Matthaeus Merian d. Ä.; Wüthrich, Lucas Heinrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Bd. 4: Die großen Buchpublikationen II, Hamburg 1996. 32 | Abelin, Johann Philipp: Historische Chronick Oder Warhaffte Beschreibung aller vornehmen und denckwürdigen Geschichten […], Frankfurt a.M. 1633: Titelblatt (URL: http://diglib. hab.de/periodica/70-b-hist-2f/start.htm [10.2.2017]). 33 | J. P. Abelin: Theatrum Europaeum: Titelblatt. 34 | J. P. Abelin: Historische Chronick: »An den Leser«, o. S.

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seinem Vorwort, das er dem zweiten Band des Theatrum Europaeum voranstellte: Weil er die beiden Bände aufgrund des Arbeitsaufwandes nicht gleichzeitig herausbringen konnte, »als habe ich auß sonderbarem Bedencken die Ordnung der Zeit brechen/und dem Leser/ der gemeiniglich newer Dinge begierig/anticipando willfahren wollen/In dem ich den letzten Theil vom Jahr 1629. biß auff unsere Zeit voran lauffen lassen/mit angeheffter gewisser Vertröstung/daß/weil der Theil von Anno 1618. biß 29. allbereit fertig/und nur an dem trucken gemangelt/derselbe keines Wegs dahinden bleiben/sondern gewißlich auffs baldest herauß kommen/und dem günstigen Leser satisfactio thun soll«. 35

Auffallend ist, wie sich gegenüber der Vorgängerpublikation der zeitliche Zuschnitt der Darstellung veränderte. Hatte die Historische Chronica noch mehrere Jahrtausende geschichtlicher Veränderungen zu beschreiben versucht, schnurrte der temporale Rahmen nun auf gerade einmal vier Jahre zusammen. Aber für diese vier Jahre wurden nicht weniger Seiten und Zeichen verwendet als für die mehrtausendjährige Historische Chronica, ganz im Gegenteil. Die Geschichte der eigenen, gegenwärtigen Zeit breitete sich in ungeheurem Maß aus. Und das Verlagshaus Merian behielt diesen Rhythmus auch bei. Umfasste die dargestellte Zeit im Theatrum Europaeum pro Band während des 17. Jahrhunderts üblicherweise vier Jahre, konnte dies in Einzelfällen schon einmal bis zu acht Jahren anwachsen, während die Bände 16 bis 21 aus dem frühen 18. Jahrhundert durchgehend zwei Jahre zum Gegenstand haben. Den ersten sechs Bänden gelingt es dabei sogar, die Darstellung bis unmittelbar an den eigenen Erscheinungstermin heranzuführen, mithin tatsächlich in der eigenen Gegenwart anzulanden, während sich in den folgenden Bänden eine Lücke von jeweils mehreren Jahren zwischen dem spätesten Zeitpunkt der dargestellten Zeit und dem Erscheinungstermin auftut. Matthäus Merian ließ in der Vorrede zum zweiten Band (also dem zuerst erschienenen) keinen Zweifel daran, was er auf die Bühne dieses Theaters bringen wollte. Es waren die »Geschichten unserer Zeit/davon gegenwertig mein Buch außtrücklich handelt«.36 Als hätte Merian beabsichtigt, der nachträglichen historischen Betrachtung die notwendigen Stichworte auf dem Silbertablett zu servieren, schreibt er in aller Deutlichkeit von der Zeitgeschichte und der Gegenwart, denen sein Publikationsprojekt dienen soll (auch wenn das Wort »gegenwertig« räumlich gemeint ist und das aktuell vorliegende Druckwerk bezeichnet). Woher aber rührt diese Aufmerksamkeit für die »Geschichten unserer Zeit«, die für das europäische 17. Jahrhundert wahrlich nicht selbstverständlich ist? Einen Erklärungsvorschlag kann man bei Niklas Luhmann finden. Wenn Zeit, so Luhmann, von einem Gesellschaftssystem stärker in Anspruch genommen wird, um die eigenen Relationierungen zu organisieren, wenn also eine immer stärkere Verlagerung in das Nacheinander stattfindet, dann ist es als Basis für eine solche verstärkte Inanspruchnahme der Zeit notwendig, dass die Gegenwart selbst verzeitlicht wird. Luhmann meint, dass der Punkt, an dem eine solche Verzeitlichung der Gegenwart festgestellt werden könne, historisch zwar schwer zu lokalisieren, 35 | Ebd. 36 | J. P. Abelin: Historische Chronick: Widmung »Dem Wol Edlen/Gestrengen und Vesten Johann Maximilian zum Jungen«, o. S.

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am ehesten aber im 17. Jahrhundert zu finden sei. Als Anstöße hierfür nennt er astronomische Beobachtungen, die den Schluss nahelegten, auch das Universum unterliege Veränderungen, weshalb es nichts gab, das dem Wandel entzogen war. Als weiteres auslösendes Moment nennt Luhmann die zahlreichen Konflikte in Religion und Philosophie (und Politik, müsste man hinzufügen), welche die Vergangenheit als heterogen und unsicher erscheinen ließen. Die Verzeitlichung der Gegenwart wird mithin zu einem diagnostischen Moment. Gegenwart musste sich verselbständigen, sich von dieser mit einem Mal vieldeutigen Vergangenheit lösen, um als Entscheidungsgrundlage dienen zu können: »[E]s geht jetzt darum, daß sich Entscheidendes ändert auf Grund einer Gegenwart, die unfesthaltbar [sic] entschwindet und deshalb ihrerseits keine Garantie für Richtigkeit und Dauer mitgeben kann, sondern andere Dispositionen möglich und nötig macht.«37 Wenn der Dreißigjährige Krieg für sich das zweifelhafte Epitheton in Anspruch nehmen kann, die größte menschengemachte Katastrophe vor dem 20. Jahrhundert gewesen zu sein,38 und wenn die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts beständig davon sprachen, in einer besonders betrübten Zeit zu leben,39 dann mögen hier Gründe zu finden sein, warum sich das Theatrum Europaeum auf die theatrale Form der Beschreibung der eigenen Zeit verlegte. Sicherlich, zu allen Zeiten kann man mehr oder minder apokalyptisch gefärbte Beschreibungen der eigenen Gegenwart finden. Aber mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg und die Kleine Eiszeit darf man sich darüber einig sein, dass es nicht wegzudiskutierende Gründe für eine solche endzeitliche Stimmung gab. In der Vorrede zum dritten Band des Theatrum Europaeum, der die Jahre 1633 bis 1638 und damit eine besonders kriegerische Phase zum Inhalt hatte, heißt es, sei »bekandt und gantz unverneinlich/daß/so jergend zu einer Zeit/so ist es fürwahr besonders zu dieser bösen und betrübten Zeit böß/ beschwer- und gefährlich Historien und vergangene Geschichten zubeschreiben/ und dasselbe umb vieler und bedencklicher Ursachen willen«.40 Folgt man dieser Vorrede, sind also nicht nur die Zeiten schwierig, sondern ebenso die Versuche zu ihrer Beschreibung. Schwierig werden sie gemacht, so wird weiter ausgeführt, durch Parteilichkeit und Stimmungsmache für eine bestimmte Seite. Dabei bleibe die historische Wahrheit auf der Strecke, obwohl man sich doch genau um sie zu bemühen habe.41 Die Autoren des Theatrum Europaeum erheben zwar beständig den Anspruch, die umfängliche Wahrheit über den Dreißigjährigen Krieg zu Papier bringen zu wollen, müssen aber ebenso häufig ihr Scheitern an dieser Mammutaufgabe eingestehen. Auch ihnen bleibt – selbst auf 30.000 Folioseiten – kaum etwas anderes übrig, als von der anwesenden Abwesenheit einer

37 | Luhmann, Niklas: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980-1995, Bd. 1, S. 235-300, hier S. 265. 38 | Vgl. Burkhardt, Johannes: Der Dreißig jährige Krieg, Frankfurt a.M. 1992. 39 | Vgl. Münch, Paul: Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutschland 1600-1700, Stuttgart/ Berlin/Köln 1999. 40 | Oraeus, Heinrich: Theatri Europaei Continuatio III. Das ist: Historischer Chronicken Dritter Theil […], Frankfurt a.M. 1639: »Vorrede/an den unpartheyischen geneigten Leser«, o. S. (URL: http://diglib.hab.de/periodica/70-c-hist-2f/start.htm [6.9.2017]). 41 | Ebd.

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gerade erst jüngst vergangenen Gegenwart zu berichten, die in ihrer Komplexität unfassbar bleibt. Diese katastrophische Selbstwahrnehmung, die mit Blick auf das europäische 17. Jahrhundert kaum als Überempfindlichkeit kleingeredet werden kann, ist im Luhmann’schen Sinn als Grund zu sehen, weshalb gleichsam ewige, überzeitlich gültige Orientierungsmaßstäbe ins Wanken gerieten. Die Beschreibung und Erklärung der Welt ließ sich nur noch mit Mühen transzendieren in ein überweltliches, dem Hier und Jetzt enthobenes Jenseits. An die Stelle des Überzeitlichen tritt die Überhistorisierung. Was geschieht, wird unmittelbar zum Gegenstand der Geschichtsschreibung, weil sich möglicherweise nur noch hier Fixpunkte für die unsicher gewordene Wirklichkeit ausmachen lassen. Deshalb gewinnt die Geschichte der Gegenwart in Form des Theatrum Europaeum eine solche Bedeutung. Das Publikum findet die Aufmerksamkeit für die eigene Gegenwart unter anderem im 17. Band (veröffentlicht im Jahr 1718) thematisiert. Dort wird im Vorbericht eine Lanze für die Aufmerksamkeit für das eigene Hier und Jetzt gebrochen. Insbesondere den Gelehrten wird vorgeworfen, nur das zu achten, was alt sei, während der eigenen Gegenwart zu wenig Beachtung geschenkt würde (und auch eine Kritik der Orientierung am ausländischen [französischen] Kulturvorbild durfte nicht fehlen): »Nicht wenige derer auch gelehrt heissenden Menschen sind so geartet, daß ihnen nur was alt oder außländisch ist gefalle, das gegenwärtige scheint ihnen zu gemein und ihrer Lands-Leute Thun was ungelehrtes, beydes aber keine Sache zu sein, darinnen sich ihre hochgeachtete Sprachen-Wissenschafft beweisen, oder ihre Critique mit Gegeneinanderhaltung derer Redens-Arten, mit Auseckung der alten Siegel und Hand-Zeichen, mit Erklärung verlegener Gebräuche u. d. g. m. viel galant genantes Geschaffte geben kan.« 42

Das ist eben die Situation, in der für das Publikum die Distanz zwischen dem einstigen Geschehen der theatralen Vergangenheit und der Gegenwart der Zuschauerschaft aufgehoben wird, weil die Gegenwart des Publikums zum Gegenstand des Theaters wird. Aber eigentlich stimmt auch das schon wieder nicht. Denn wenn die Gegenwart des Theaters einfach die Gegenwart der Zuschauenden wäre, dann wäre zugleich alles und nichts Bühne bzw. Gegenwart. Nein, durch die Behandlung der Gegenwart des Publikums auf der Bühne erfährt dieses Publikum ja überhaupt erst, was seine Gegenwart ist – und was überhaupt Gegenwart ist. Indem man so tut, als existiere die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer nicht, verschwindet sie nicht. Sie wird sichtbarer. Vor allem wird sichtbar, wie konstitutiv sie ist, um Wirklichkeit und Gegenwart zu erzeugen. Es geht um die Wechselwirkungen zwischen Bühne und Publikum – und es geht um das, was jedes Mal geschieht, wenn die Grenzen zwischen beiden überschritten werden. Nicht, dass diese gegenseitige Konstitution zwischen Bühne und Publikum nicht schon immer stattgefunden hätte. Aber nun, im 17. Jahrhundert, findet sie direkter statt, nicht mehr ausschließlich vermittelt über die Historie, den Mythos, die ewigen Werte. Jetzt findet sie statt über das eigene Hier und Jetzt. 42 | Schneider, Daniel: Theatri Europaei Siebenzehender Theil […], Frankfurt a.M. 1718: »Vorbericht An den geneigten Leser«, o. S. (URL: www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:384uba000252-5 [28.2.2017]).

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Auch auf der Bühne dieser Gegenwart muss einmal der Vorhang fallen. Für das Theatrum Europaeum reichte die Dauer dieser papiernen Aufführung genau bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges und damit bis zum sechsten Band des Publikationsprojekts. Dieser sechste Band wird schon im Titel als Theatri Europaei Sechster und letzter Theil angekündigt.43 Behandelt werden darin die Jahre 1647 bis 1651, und eine Ende findet die Gegenwart vor allem durch den Westfälischen Frieden. Damit hat die Veröffentlichungsreihe ihr Ziel erreicht, die Aufführung ist beendet, die Schauspieler können abtreten. In der Widmung dieses Bandes wird einerseits mit einer geschlossenen Generationenerfahrung argumentiert. Denn diejenigen, die die vergangenen mehr als dreißig Jahre gelebt und auch alle Kriegswirren und politischen Auseinandersetzungen erlebt haben, können von sich sagen, über einen eigenen Erfahrungsschatz zu verfügen. Sie »mögen mit völligem Wahrheits-Grund wohl sagen und von sich rühmen/daß sie auff dem THEATRO oder Schawplatz des Teutschlands in praxi, zumalen als sie viel die Materiam von Krieg unnd Frieden belanget/so viel gelernet und erfahren haben/als hiebevor und für Alters keiner in etlichen seculis thun können.« 44

Als sich der Vorhang für dieses Drama hob und als das Theatrum Europaeum begann, von dieser Aufführung zu berichten, konnte noch niemand ahnen, welche epischen Ausmaße dieses Schauspiel annehmen würde. Doch nun konnte mit dem Jahr 1648 und dem sechsten Band diese Tragödie ihren Abschluss finden. Die Vorrede kann in der Rückschau dieses Drama der Weltgeschichte auch gleich in verschiedene Akte einteilen. Erster Akt: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation steht vor dem Krieg noch in Blüte und Wohlstand. Zweiter Akt: Mit Beginn des Krieges beginnt der Verfall des Reiches. Dritter Akt: Deutschland wirkt erschöpft, ausgemergelt und durch den Krieg verdorben. Vierter Akt: Es besteht kaum noch Hoffnung, dass Deutschland diesen Krieg überleben wird, das Land befindet sich in Agonie. Fünfter Akt: Wie durch ein Wunder beziehungsweise dank göttlicher Gnade werden die deutschen Lande durch den Frieden von Münster und Osnabrück gleichsam wiedergeboren. Sechster und letzter Akt: Der Kreis schließt sich, wir kehren an den Anfang des Dramas zurück und Deutschland wird wieder zu alter Blüte und Stärke finden. Es versteht sich von selbst, dass es kein Zufall ist, wenn diese Einteilung in sechs Akte mit den sechs Bänden des Theatrum Europaeum (zumindest einigermaßen) korrespondiert. Allerdings wird im Vorwort auch darauf hingewiesen, dass dieses Drama einen entscheidenden Unterschied zu ansonsten üblichen Theateraufführungen besitzt: Man musste nämlich das Glück gehabt und eine hinreichende Portion göttlicher Gnade erfahren haben, um tatsächlich alle sechs Akte zu überleben.45 Doch halt: Das Theatrum Europaeum sollte denn doch kein so abruptes Ende finden. Nachdem der Verleger Matthäus Merian 1650 verstorben und der sechste (und vorerst letzte) Band 1652 erschienen war, stellten die Erben des Verlegers elf 43 | Ursprünglich erschienen 1652, hier zitiert nach der zweiten Auflage: Schleder, Johann Georg: Theatri Europaei Sechster und letzter Theil […], Frankfurt a.M. 21663 (URL: http:// resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000195B900000000 [23.2.2017]). 44 | Ebd.: Widmung »Durchläuchtigster/Großmächtiger Fürst«, o. S. 45 | Ebd.

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Jahre später wohl fest, dass es sich bei dieser Form der Zeitgeschichte um ein erfolgreiches Produkt handelte. Sie wollten nach eigener Auskunft das Erbe des Vaters fortführen.46 Und nicht zuletzt hörte ja die Gegenwart auch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht auf, sich zu wandeln und eine andere zu werden, als sie zuvor gewesen war. Das Theatrum Europaeum fand im Jahr 1663 mit einem siebten Band seine Fortsetzung. Und es sollten bis 1738 noch 14 weitere Bände folgen.

3. G egenwart als W ahrheit Wie stellt man für das Publikum die Gegenwart des Geschehens her (und dar)? Im Theatrum Europaeum sollte dies erstens auf dem Weg der Bildlichkeit gelingen. Mit Hilfe des Kupferstichs, für den Merian selbst verantwortlich war, sollten die Dinge so verbürgt werden, wie sie geschehen waren. Solcherart auf die Bildlichkeit als Gegenwartsgarantin zurückzugreifen, um sich der Wirklichkeit des Geschehens in der Welt zu versichern, ist zwar nicht sonderlich innovativ, erhält aber gerade im Merian’schen Fall eine besondere Note. Denn im Theatrum Europaeum haben die Kupferstiche eine konstitutive Funktion, fallen in Quantität und Qualität auch besonders ins Auge, wenn man sie mit anderen zeitgenössischen Darstellungen zu historischen Themen vergleicht, und sind bis heute dasjenige Element, das von dieser Publikation am bekanntesten geblieben ist. Bis zum heutigen Tag erfüllen Merians Kupferstiche den Zweck, der ihnen zugedacht war: Uns auf ästhetisch-handwerklich anspruchsvolle Weise von den Dingen zu unterrichten, die geschehen sind. In vielen Fällen stehen uns bis heute keine anderen Darstellungen zur Verfügung als diejenigen aus dem Theatrum Europaeum. Für die unmittelbare Rezeption im 17. Jahrhundert muss man sich – in einem durchaus doppelten Sinn – vor Augen führen, dass die Darstellungen des Theatrum Europaeum für das Publikum vielfach die einzige Möglichkeit waren, sich von bestimmten Personen oder einem bestimmten Geschehen ›ein Bild zu machen‹. Diese Visualisierung von Aktuellem, das außer den unmittelbar Anwesenden niemand zu Gesicht bekommen hatte, beginnt bei Landkarten und reicht über die zahlreichen Portraits zeithistorischer Personen sowie Stadtansichten bis zu den Bebilderungen aktueller Geschehnisse wie Schlachten, Naturkatastrophen, Kometenerscheinungen oder der Darstellung des Prager Fenstersturzes 1618. Gerade an diesem letzten Beispiel zeigt sich die langfristige Wirksamkeit, die Merians Kupferstiche annehmen konnten, denn bis zum heutigen Tag wird dieses Bild als Illustration immer wieder verwendet.47 Als zweites Mittel, um dem Publikum glaubhaft zu versichern, dass es sich um wahre Geschichten aus der Gegenwart handelt, nutzt das Theatrum Europaeum den 46 | So die Begründung in der Vorrede zum siebten Band aus dem Jahr 1663, hier nach der zweiten Auflage: Schleder, Johann Georg: Irenico-Polemographia, Sive Theatri Europaei Continuati Septennium […], Frankfurt a.M. 21685: »Zueignungs-Schrifft«, o. S. (URL: http:// resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00018B6A00000000 [28.2.2017]). 47 | Der Stich vom Prager Fenstersturz 1618 aus dem Theatrum Europaeum ziert auch den entsprechenden Wikipedia-Eintrag, versehen mit dem zutreffenden Kommentar, dass es sich nicht um eine zeitgenössische Darstellung handele: Art. »Zweiter Prager Fenstersturz«, in: Wikipedia (URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Prager_Fenstersturz [10.4.2017]).

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Abdruck relevanter Dokumente, vor allem obrigkeitlicher Verlautbarungen, die in großer Zahl unmittelbar in den Text eingefügt werden. Mit dem Dokumentarischen treten die verschiedenen (gedruckten) Stimmen der Akteure vermeintlich unmittelbar vor das Publikum. Als dritte Komponente hat auch die Chronologie ihren Anteil daran, die Gegenwärtigkeit des Geschehens zu verbürgen, weil die zeitlich lineare Reihung am ehesten den Eindruck erwecken kann, die Geschehnisse seien so dargestellt worden, wie sie auch geschehen sind. Und als letztes Element lässt sich die (Augen-)Zeugenschaft anführen, die zwar in den Texten eine weniger offensichtliche Rolle spielt, die aber zumindest in den programmatischen Vorreden als Quelle von Informationen beziehungsweise als Korrektiv von bereits gedruckten Bänden angeführt wird. Die besondere Verbindung, die solcherart zwischen Wahrheitsanspruch und Gegenwartsorientierung eingegangen und auf der Bühne des Theatrum Europaeum zur Aufführung gebracht wird, verdient Aufmerksamkeit. Denn mit dem gegenwartsorientierten Ansatz ergibt sich einerseits die gewissermaßen journalistische Problematik, zumindest latent immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, nicht die Wahrheit über die Weltgeschehnisse zu berichten, weil es schließlich noch keine Überlieferungstradition und somit keine hinreichende Historisierung gibt, auf die man sich bei der eigenen Darstellung berufen könnte. Es ist aber nicht nur die Thematisierung der Gegenwart, die sich mit einem besonderen Wahrheitsanspruch verbinden muss, es ist umgekehrt auch eine Problematisierung der Wahrheit, die eine Hinwendung zur Gegenwart notwendig macht. Schließlich stellt sich die Frage, weshalb Merian überhaupt mit dem Theatrum Europaeum die Gegenwartsgeschichte derart in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Er hätte sich ja im Stil der Historischen Chronica durchaus traditionell auf die weit zurückreichenden geschichtlichen Darstellungen verlassen können. Genau hier offenbart sich die andere Seite der besonderen Beziehung zwischen Gegenwart und Wahrheit im Kontext dieses Publikationsvorhabens. Im europäischen 17. Jahrhundert kann man in unterschiedlichen Zusammenhängen beobachten, dass es die bis dahin wahrheitsverbürgende, idealisierte Vergangenheit ist, die ihren Status einbüßt. Insbesondere die Folgen der Reformation machen sich hier bemerkbar. Denn in dem grundlegenden Bereich, in dem es um Fragen des Seelenheils, der Kosmologie, der Organisation des Alltags, mit anderen Worten: um so gut wie alle Facetten des menschlichen Lebens ging, hatte sich nicht nur ein, sondern hatten sich mehrere tiefe Risse in der lateinischen Christenheit aufgetan. Seither war es auf vielfältige Weise höchst umstritten, welche der vielen in Umlauf befindlichen Wahrheiten von sich behaupten konnte, die Wahrheit zu sein. Die zahlreichen alltäglichen, aber auch kriegerischen Konflikte, die sich daraus ergaben, ließen aus der Sicht des 17. Jahrhunderts die jüngere Vergangenheit wenig vorbildlich und vor allem kaum wahrheitsverbürgend erscheinen. Eine Alternative, die in dieser verzwickten Situation aufgegriffen wurde, war die Eroberung der Gegenwart als einem neuen Möglichkeitszeitraum. Wenn die Vergangenheit nicht mehr als vorbildlich gelten konnte und die Zukunft entweder mit Unwägbarkeit behaftet war oder höchstens die Sicherheit des Jüngsten Gerichts bot, dann konnte die Gegenwart als derjenige Zeitraum, in dem sich die Verhältnisse noch beeinflussen ließen, neue Bedeutung gewinnen.48 48 | Hierzu ausführlicher A. Landwehr: Geburt der Gegenwart.

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Wenn Merian mit seinem Theatrum Europaeum den Wahrheitsanspruch so hochhielt, dann nicht nur, weil die Behandlung der Gegenwart in besonderer Weise dieser Wahrheit verpflichtet werden musste, sondern auch, weil die Wahrheit über die Welt in keiner anderen Zeit mehr gefunden werden konnte als in der gegenwärtigen. Die Historia als Lehrmeisterin des Lebens war im Theatrum Europaeum recht kurzsichtig geworden. Sie übersah nur noch einige Jahre. Und die Wahrheit über die Gegenwart konnte sich nicht mehr ohne weiteres auf eine vorbildliche Fernvergangenheit beziehen, konnte sich auch nicht ohne weiteres auf die göttliche Vorsehung verlassen, sondern musste Wahrheit aus sich selbst schöpfen – aus wahren Beschreibungen. Dabei sollten Gegenwart und Wahrheit im Rahmen des Theatrum Europaeum durchaus die Möglichkeit erhalten, sich sukzessive einander anzunähern. Merian baute Möglichkeiten für Rückkopplungsschleifen ein, um dem eigenen Anspruch gerecht werden zu können. So wurde die Leserschaft explizit aufgefordert, sich an den Verleger zu wenden, wenn sich »Mängel und Fehler/so etwa auß Gebrech [Mangel] bessers Berichts in dieses Werck eingeschlichen« haben sollten. Auch falls man »besser Nachrichtung/oder sonst etwas hat/daß entweder in substantia oder Verzierung diesem Buch wol anstehen möchte«,49 sollte man ihn darüber informieren, so dass eine künftige Auflage davon profitieren könne. Merian setzte also auf die Selbsthistorisierung des Lesepublikums, wodurch Gegenwartsgeschichte und Wahrheitsanspruch zur Deckung gebracht werden sollten – ein weiteres Indiz dafür, dass in diesem Gegenwartstheater Bühne und Publikum nicht mehr eindeutig zu unterscheiden sind. Wie ernst es Merian mit der Verknüpfung respektive Annäherung von Gegenwart und Wahrheit tatsächlich war, lässt sich am zweiten Band des Theatrum Europaeum ersehen. Wie die anderen frühen Bände dieses Publikationsprojekts, so erlebte auch dieser mehrere Neuauflagen. Bereits für die zweite Auflage aus dem Jahr 1637 wurden nicht unwesentliche Veränderungen vorgenommen. Nicht nur, dass dieser Band den anderen der Reihe angepasst wurde und ebenfalls den Obertitel Theatrum Europaeum erhielt, auch der inzwischen verstorbene Autor Johann Philipp Abelin hatte sich nach Ansicht des Herausgebers in seiner Darstellung der Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges zu parteiisch auf die Seite der Protestanten geschlagen. Nicht, dass dem gläubigen Protestanten Merian diese Sicht der Geschehnisse grundsätzlich unsympathisch gewesen wäre, aber eine solche propagandistische Tendenz lief dem Anspruch zuwider, den er mit seiner Gegenwartsgeschichte verband. Im Vorwort zur dritten Auflage des zweiten Bandes aus dem Jahr 1646 äußert sich Merian hinsichtlich des Anspruchs, dass die Darstellung auf dem »vesten Grundt der unlaugbaren blossen Warheit« beruhen solle, wie folgt: »[…] hette ich zwar wündschen mögen/daß der nunmehr verstorbene Author, Iohannes-Philippus Abelinus, seliger/dem vorgesetzten Zweck etwas fleissiger nachgangen were/Insonderheit aber auch sich der Partheyligkeit unnd eigenes Urtheils enthalten hette: in Betrachtung solches einem rechtschaffenen Historico nicht anstehet/sondern ihme vielmehr gebühren und obligen will/die Sachen also/wie sie sich begeben unnd zugetragen haben/ ohne einige Privat-Affection/loben oder schelten/zu erzehlen: Dieweil aber/was einmal ge49 | J. P. Abelin: Historische Chronick: »An den Leser«, o. S.

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Achim Landwehr schehen ist/nicht zu ändern gewesen/als habe ich bey der andern [zweiten] und jetziger dritten Edition/diesen und folgende Theyle deß Theatri Europaei, durch Gelehrte verständige Männer revidiren/an vielen Orten/was überflüssig/herauß thun/was ermangelt/und doch Historischer Erzehlung würdig gewesen/hinein rucken/und in Summa umb ein merckliches/ wie der Leser selbst in Acht nehmen wirdt/verbessern lassen.« 50

Die (Darstellung der) Gegenwart konnte mit der Zeit also durchaus besser werden.

4. G egenwart als S ystematik Nach einem Jahrhundert hatte das Publikum dann aber offenbar genug vom Theatrum Europaeum. Der Vorhang fiel 1738 zum letzten Mal und beendete das Stück. Aber nicht nur das Theatrum Europaeum hatte in dieser Zeit Schwierigkeiten, ein Publikum zu finden. Die gesamte Flut der Theatrum-Literatur trocknete an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert allmählich aus. Die Vorrede zum 16. Band, veröffentlicht im Jahr 1708, kann als eine Verteidigungsrede gelesen werden – als Verteidigung gegen Vorwürfe, die möglicherweise gegen das Theatrum Europaeum vorgebracht worden waren. In diesem Vorbericht ist einmal mehr von der Verpflichtung zur Wahrheit und von der Notwendigkeit zur Objektivität die Rede. Des Weiteren verteidigt der Autor Daniel Schneider auch die Weitschweifigkeit der Darstellung, was angesichts der Tatsache nicht verwunderlich ist, dass jedes der drei Jahre, die in diesem Band beschrieben werden (17011703), mit knapp 500 Seiten bedacht wurde.51 Dem Lesepublikum des frühen 18. Jahrhunderts wurde das Theatrum Europaeum also möglicherweise zu ausufernd, und zwar nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondern auch hinsichtlich der nahezu unterschiedslosen Behandlung aller möglichen Ereignisse (wenn auch mit eindeutigen Schwerpunkten auf Politischem und Militärischem). Diese Undifferenziertheit, die lange als ein Verkaufsmerkmal des Theatrum Europaeum gegolten hatte, schien sich nun zu seinem Nachteil auszuwirken. Doch genau diese möglichst vollständige Behandlung des Geschehens auf der Weltbühne wurde eingangs des 16. Bandes nochmals als Charakteristikum des Theatrum Europaeum hervorgehoben: »[N]ebst dem hat man sich auch angelegen seyn lassen, alles so zu machen daß auff diesem Schauplatz, was nur etwa hier und dargegen gespielet worden, zu sehen seyn mögte, weil dieser an dem, der ander an jenem, sein Lust und seinen Nutzen siehet, oder zu sehen meinet, und jeder gerne in dergleichen Buche alles antreffen, es also, als eine kleine Bibliothec, gebrauchen will.« 52

50 | Abelin, Johannes Philipp: Theatri Europaei, Das ist: Historischer Chronick/Oder Warhaffter Beschreibung aller fürnehmen und denckwürdigen Geschichten […] Jetzo revidiert/ […] und zum dritten mal in Truck gegeben, Frankfurt a.M. 1646: »An den Leser«, o. S. 51 | Schneider, Daniel: Theatri Europaei Sechszehender Theil […], Frankfurt a.M. 21717: »Vorbericht An den geneigten Leser«, o. S. (URL: www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:384uba000251-0 [28.2.2017]). 52 | Ebd.

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In Band 17 setzt sich diese defensive Schreibhaltung fort. Auch hier ist das Vorwort geprägt durch die Abwehr imaginierter oder tatsächlich vorgebrachter Vorwürfe. Mit Bezug auf den Allgemeinplatz, dass Irren nun einmal menschlich sei, wird hervorgehoben, dass auch das Theatrum Europaeum nicht fehlerfrei sein könne. Gestehe man der Darstellung auf der einen Seite diesen menschlichen Unsicherheitsfaktor zu, könne man ihr auf der anderen Seite ihren Wert und ihre Nützlichkeit kaum absprechen.53 Dass sich der Geschmack des Publikums hinsichtlich historischer Darstellungen inzwischen geändert hatte, lässt sich nicht nur dem Umstand entnehmen, dass nur noch wenige der im 18. Jahrhundert erschienenen Bände des Theatrum Europaeum eine zweite Auflage erlebten. Auch der Versuch, sich gegen den Vorwurf zu verwahren, beim Theatrum Europaeum handele es sich gar nicht um eine historische Darstellung, weist in diese Richtung. Es ist immer wieder die unterschiedslose, aber bis dahin diese Papierbühne auszeichnende Behandlung zahlreicher, auch inhaltlich völlig verschiedener Themen, die zunehmend auf Vorbehalte stieß. Daher heißt es in der Vorrede zum 17. Band: »Die Ordnung in Beschreibung dieser und jener Geschichte, ist ein Werck das für arbitrair gehalten wird, oder in eines jeden Gutbefinden stehet, und mag denn auch hier wohl heissen: So viel Köpffe, so viel Sinne, dahero es gar ungütig und ziemlich herrisch geurtheilet zu seyn scheinet, da jemand sagen wolte: Die Sachen des Theatri sind in einer mir nicht beliebigen Ordnung geschrieben, deßwegen verdienet es den Titul einer Historie nicht.« 54

Die Produzenten des Theatrum vermochten in ihrer Darstellung sehr wohl eine Ordnung zu sehen (hergestellt durch die Chronologie, die Einteilung nach Ländern, Marginalien und ein Register), aber der Leserschaft war dies nicht mehr ohne weiteres zu vermitteln. Dem Publikum war die Gegenwart wohl zu komplex geworden, um sie auf einer einzigen Bühne zur Darstellung zu bringen. Im frühen 18. Jahrhundert nahm das Interesse an der Publikation merklich ab, weil sie unterschieds- und kritiklos alles zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen schien, was irgendwo geschah. War es während des 17. Jahrhunderts noch eine echte Stärke, die Gegenwart in ihrer ganzen Vielfalt und nicht zuletzt auch in ihrem wilden Durcheinander auf dem Theatrum zur Aufführung zu bringen, suchte man im 18. Jahrhundert offensichtlich andere Ordnungs- und Differenzierungskriterien, die Einsichten auf neue Art ermöglichen sollten.55 Das Verlagshaus Matthäus Merian bewies auch in diesem Fall ein gewisses Gespür für ein angemessenes theatrales Finale. Bereits nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und mit der Veröffentlichung des sechsten Bandes des Theatrum Europaeum wurde ja der Abschluss dieser Veröffentlichungsreihe eingeläutet – nur um mit der Fortsetzung dieses erfolgreichen Vorhabens von diesem Ende gleich wieder Abstand zu nehmen. Als dann mit dem 21. Band im Jahr 1738 tatsächlich das Ende einer unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wohl nicht mehr wirklich erfolgreichen Buchreihe gekommen war, konnte man dies ebenfalls mit einem 53 | Ebd. 54 | Ebd. 55 | H. Bingel: Das Theatrum Europaeum, S. 122f.

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inhaltlich runden Abschluss verbinden: Der Band wurde als Jubiläumsveröffentlichung angekündigt. Schließlich deckte er den Berichtszeitraum von 1716 bis 1718 ab und machte damit die einhundert Jahre voll, die im Theatrum Europaeum ihre historische Darstellung erfahren hatten.56 Die Organisation der Gegenwart, wie sie bisher auf der Bühne der Theatrum-Literatur eine Heimat gefunden hatte, wanderte im Verlauf des 18. Jahrhunderts ab, vor allem in die Enzyklopädien. Waren die Theatra-Titel darum bemüht, nicht nur eine Übersicht über das jeweilige Themengebiet zu geben, sondern diesen Überblick auch als in sich geschlossene und sinnvolle Einheit vorzuführen, als zumindest ausschnitthaften Blick in den unerschöpflichen, aber trotzdem stimmigen Kosmos der göttlichen Schöpfung, so setzten die Enzyklopädien auf einen gänzlich anderen Zugang. Sie organisierten das vorzuführende Wissen nach dem gänzlich sinnfreien, keine selbstverständlichen Zusammenhänge mehr erschließenden und zersplitternden Prinzip der alphabetischen Anordnung. Hier fügte sich die Welt nicht mehr auf der Bühne zu einer Einheit, hier zerfiel sie in ihre Einzelteile, so dass auf den Eintrag zu ›Darmstadt‹ ohne weiteres Erläuterungen zu ›Darmverschluss‹ folgen konnten. Die Vorrede zu Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, dessen erster Band 1732 erschien, weist explizit darauf hin, dass sich dieses Publikationsprojekt, das immerhin das umfangreichste Enzyklopädie-Vorhaben des 18. Jahrhunderts werden sollte, mit seiner alphabetischen Anordnung von der Theatra-Literatur und allen ähnlichen früheren Vorhaben distanzieren wollte. Denn die Theatra-Literatur habe bisher immer nur einen Ausschnitt des verfügbaren Wissensschatzes vorgestellt. Zedlers Universal-Lexicon nahm sich nun aber nichts Geringeres vor, als das gesamte Wissen zu präsentieren.57 Vollständigkeit und lexikalische Systematik traten nun an die Stelle von Überblick und sinnhaftem Zusammenhang. Eine Schwierigkeit, mit der sich die gesamte Theatrum-Literatur dieses Zeitraums zumindest latent konfrontiert sah, war der Bezug zu den tatsächlichen Theaterbühnen. Zwar konnte die Theatrum-Literatur von diesen Orten des Schauspiels einige Attribute übernehmen, vor allem die Übersichtlichkeit, den beobachtenden Blick von außen und die Geschlossenheit der Handlung, jedoch werden unterschwellig auch Bedeutungsgehalte mittransportiert, die dem Anspruch des Theatrum Europaeum kaum zuträglich sein konnten. Wesentlich ist: Die Theaterbühne verfährt im stillschweigenden Einvernehmen aller Beteiligten im Modus des Als-ob.58 Die Fiktion des Bühnengeschehens sollte nicht mit der extra-theatralen Welt verwechselt werden. Darauf macht ja bereits, völlig unabhängig von der Handlung, die unmögliche Beobachtungssituation der Zuschauenden aufmerk56 | Schneider, Daniel/Schweder, Gabriel: Jubilaeum Theatri Europaei, Das ist, Der die Geschichts-Erzehlung von Einhundert Jahren beschliessende Ein und Zwantzigste Theil Desselbigen […], Frankfurt a.M. 1738 (URL: www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:384uba000256-6 [28.2.2017]). 57 | Ludewig, Johann Peter von: Vorrede über das Universal-Lexicon, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […], 64 Bde., Halle/Leipzig 17321754, Bd. 1, o. S., § 2. 58 | Lazarowicz, Klaus: Einleitung, in: Ders./Balme, Christopher (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 19-38, hier S. 24.

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sam, weil der göttliche Blick, den das Theater gewährt, außerhalb der Mauern des Schauspielhauses nicht existiert. Das Theatrum Europaeum wollte nun aber gerade nicht im Modus des Als-ob funktionieren, sondern im Modus des So-ist-es – ohne allerdings auf den göttlichen Blick zu verzichten. Möglicherweise lag in dieser Spannung bereits ein Keim für die Schwierigkeiten, die dann im 18. Jahrhundert zum Verschwinden der Theatrum-Literatur geführt haben. Letztlich versuchte die Theatrum-Literatur also etwas zu gewährleisten, von dem sie eigentlich genau wissen musste, dass es unmöglich zu erreichen, wenn nicht sogar auf nahezu blasphemische Weise hypertroph war: Sie versuchte sich in der quasi-göttlichen Perspektive des vollständigen Überblicks.59 Das wirkte während des 18. Jahrhunderts immer weniger überzeugend. An die Stelle des quasi-göttlichen Überblicks trat die rational-analytische Systematik. Eine neue Gegenwart hatte die alte abgelöst.

59 | A. Gormans: Das Medium ist die Botschaft, S. 35.

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Diagnose: Gefahr! Hydrotechnische Bedrohungsszenarien im 19. Jahrhundert Nicolai Hannig Der Umgang mit Naturgefahren ist ein Paradebeispiel für den Zusammenhang zwischen Gegenwartsdiagnosen und Interventionen. Bereits im 19. Jahrhundert kristallisierte sich eine grundlegende Haltung gegenüber der Natur heraus, die sie als wild, unvollständig und verbesserungswürdig begriff. Politiker, Ingenieure und Wissenschaftler problematisierten die Natur und diagnostizierten vor dem Hintergrund ständig wiederkehrender Überschwemmungen und anderer Naturgefahren, dass moderne Gesellschaften ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und eingreifen müssten. Folge war eine bis dato beispiellose Welle an Landschaftsumgestaltungen, die sich vor allem in Flussbegradigungen niederschlug. Die sogenannte Rheinkorrektion, die 1817 federführend unter Johann Gottfried Tulla begann, zählt sicherlich zu den bekanntesten Beispielen.1 Doch sie war nur ein groß angelegtes Flussbauprojekt unter vielen.2 Es ist im Grunde schwieriger, eine Region zu finden, deren Flusslandschaft Hydrotechniker im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht neu gestalteten als umgekehrt. Zeitgenossen waren sich einig: Je mehr der moderne Mensch die Natur beherrschte, desto größer musste der moralische und zivilisatorische Fortschritt sein. Schließlich gestaltete man doch die eigene Zukunft, beugte Gefahren vor und hatte sogar die Möglichkeit, Prävention mit ökonomischen Weichenstellungen zu verbinden. Denn man sorgte ja nicht nur für mehr Sicherheit, sondern schuf ideale Bedingungen für Industrie, Handel und Tourismus.3 1 | Siehe dazu nun vor allem Bernhard, Christoph: Im Spiegel des Wassers. Eine transnationale Umweltgeschichte des Oberrheins (1800-2000), Köln/Weimar/Wien 2016; sowie Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007, S. 97-146. 2 | Zu Projekten in der Schweiz siehe Salvisberg, Melanie: Der Hochwasserschutz an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855-2010), Basel 2017; Speich, Daniel: Helvetische Meliorationen. Die Neuordnung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse an der Linth (1783-1823), Zürich 2003. 3 | Obertreis, Julia: Von gezähmten Flüssen, grandiosen Staumauern und Neuen Menschen. Wasser und die Transformation von Landschaft und Mensch im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, S. 656-674; König, Wolfgang: Der Ingenieur als Politiker. Otto Intze, Staudammbau und Hochwasserschutz im Einzugsbereich der Oder, in: Technikgeschichte 73, 2006, S. 27-46.

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Viele der damaligen Gegenwartsdiagnostiker mochten die Situation falsch eingeschätzt haben. Zudem waren sie stark interessengeleitet und folgten Logiken, die nur selten rein sachbezogen wirkten, etwa wenn sie ihre Diagnosen in Form von Streitschriften oder Magazinbeiträgen veröffentlichten. Doch heute sind sie für uns von unschätzbarem Wert, da sie Hinweise darauf geben, wie Zeitgenossen ihr Wissen über die Natur sortierten, wie sie es mit sozialen Prozessen verknüpften und die Realität modellierten. Moderne Staaten schützten ihre Untertanen nicht nur vor Gefahren. Sie kalkulierten mit ihnen und sahen in ihnen häufig die Möglichkeit, Interventionen zu rechtfertigen. Auf diese Weise konnten sie sich selbst weiter legitimieren und ihre Untertanen stärker an sich binden.4 Völlig neu war der Kreislauf von Katastrophe – Gegenwartsdiagnose – Eingriff sicherlich nicht. Schon seit der Antike entwickelte der Mensch technische Verfahren, um sich vor der Natur zu schützen. Man durchstach Flüsse, baute Dämme und legte Deiche an.5 Doch seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert änderten sich Umfang und Art. Zwischen 1800 und 1900 veränderte sich das Erscheinungsbild der Landschaft derart stark, dass ein Mensch des 17. Jahrhunderts Mühe gehabt hätte, bestimmte Regionen überhaupt wiederzuerkennen. Der folgende Beitrag widmet sich diesen Landschaftsgestaltungen, indem er die Analyse zeitgenössischer Gegenwartsdiagnosen mit einer Untersuchung der Praxis technischer Interventionen verbindet. Dabei zeigt sich, dass beide Bereiche eng miteinander verknüpft waren. Denn die Diagnosen avisierten bereits die Eingriffe, die man für notwendig hielt, die Probleme zu beheben. Sie sollten Prävention rechtfertigen und Zustimmung erzielen, Förderer gewinnen und Betroffene überzeugen. Damit wurden sie nicht selten zu Erfüllungsgehilfen von Vorsorge. Meist entwarfen Gegenwartsdiagnosen Gefahrenzukünfte, die nur eine äußerst geringe Halbwertszeit hatten. Sie malten eine Zeit stetig zunehmender Gefährdungen aus, in denen Hochwasser und Seuchen ganze Regionen dahinrafften. Je bedrohlicher sie wirkten, desto dringlicher konnten sie etwaige Gegenmaßnahmen erscheinen lassen. Zugleich aber mussten sie glaubwürdig bleiben, weshalb man sie zumeist in wissenschaftliche Gewänder kleidete. Die damit verbundene Zeitordnung wirkte widersprüchlich: Solche Szenarien wurden allein entwickelt, um sie zu verhindern. Sie sollten erst gar keine »Zukunft im Sinne einer neuen Zeit entwerfen«.6 Daher konstruierten sie zumeist auch eine alternative Zeitlinie, eine Vorsorgezukunft, die ein Ideal darstellte und eintrat, so jedenfalls der Plan, sofern der Mensch gemäß den Planungen intervenierte. 4 | Wolf, Burkhardt: Das Gefährliche regieren. Die neuzeitliche Universalisierung von Risiko und Versicherung, in: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hg.): Gefahrensinn, München 2009, S. 23-33. 5 | Rohr, Christian: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007; Schenk, Gerrit Jasper: Vormoderne Sattelzeit? Disastro, Katastrophe, Strafgericht – Worte, Begriffe und Konzepte für rapiden Wandel im langen Mittelalter, in: Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper (Hg.): Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 177-212. 6 | Hölscher, Lucian: Theoretische Grundlagen der historischen Zukunftsforschung, in: Ders. (Hg.): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt a.M./New York 2017, S. 7-37, hier S. 18.

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1. H ydrotechnische D iagnostik Flussregulierungen waren im 19. Jahrhundert große Hoffnungsträger. Sie sollten die Lebensbedingungen ganzer Gesellschaften verbessern, das Leben sicherer machen, landwirtschaftliche Erträge maximieren und den Handel optimieren. Damit verliehen sie einem gesellschaftlichen Wandel auf gigantische Weise Ausdruck, der um 1800 einsetzte. Viele Landesherren hatten erkannt, dass der Schutz vor Naturgefahren eine profitable Investition in die Zukunft sein konnte. Sie versprachen sich von einer erfolgreichen Sicherheitspolitik mehr staatstreue Untertanen und wirtschaftliche Prosperität. Zudem wollten sie ihre politische Entscheidungsgewalt legitimieren, was infolge der territorialen Neuregelungen durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 dringend angezeigt war. Schließlich hatte dieser die Landkarte Mitteleuropas gehörig durcheinandergewirbelt.7 Aber wie kam es eigentlich dazu, dass diese Welle landschaftlicher Neugestaltungen ausgerechnet um 1800 über Deutschland schwappte? Auf wen gingen die Initiativen zurück? Drei Trends lassen sich ausmachen, die um die Jahrhundertwende zusammenfielen. Erstens war da das neue Ideal staatlichen Souveränitätsstrebens, das in Preußen und den Rheinbundstaaten mit unzähligen politischen Reformen und Modernisierungen einherging. Zweitens ist hier auf die gleichzeitige Verwissenschaftlichung und Technisierung zu verweisen, für die der Wasserbau ein wichtiges Zugpferd war. Frankreich, Italien und vor allem die Niederlande waren zweifelsohne die Wiege des europäischen Wasserbaus. Simon Schama beschrieb die Niederlande dementsprechend als »hydrografische Gesellschaft«.8 Doch auch die deutschen Staaten entwickelten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu nicht weniger bedeutsamen Zentren des Wasserbaus. Gleichwohl war die Hydrotechnik um 1800 noch kein festes Berufsfeld mit abgegrenztem Fachgebiet. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieben die Ausbildungswege zum Wasserbauingenieur reichlich verworren und standen noch lange Zeit im Schatten einer traditionellen Wasserbaukunst. Die noch stockende Durchsetzungskraft der Mathematik spielte dabei eine wichtige Rolle. Zwar verbreitete sie sich in den einzelnen Bauverwaltungen recht schnell.9 Doch es dauerte, bis sie sich auch in der Wasserbaupraxis und Messtechnik durchsetzen konnte. Das lag in der Natur der Sache. Denn Pegelhöhen, Abflussmengen und Geschwindigkeiten fließenden Wassers ließen sich nur mühsam kalkulieren, da die Eigenschaften von Flüssen mit ihren variablen Breiten und Tiefen kaum zu simulieren waren.10

7 | Becker, Hans-Jürgen: Umbruch in Mitteleuropa. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, in: Schmid, Peter/Unger, Klemens (Hg.): 1803. Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter, Regensburg 2003, S. 17-34. 8 | Schama, Simon: Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988, S. 59. 9 | Strecke, Reinhart: Prediger, Mathematiker und Architekten. Die Anfänge der preußischen Bauverwaltung und die Verwissenschaftlichung des Bauwesens, in: Ders. (Hg.): Mathematisches Calcul und Sinn für Ästhetik. Die preußische Bauverwaltung 1770-1848, Berlin 2000, S. 25-36. 10 | C. Bernhardt: Im Spiegel des Wassers, S. 89.

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Drittens fallen klimatische Bedingungen ins Auge, die die historische Forschung bislang nur in einigen wenigen Spezialstudien in Rechnung gestellt hat.11 Neuere klimatologische Studien haben die Jahre zwischen 1790 und 1830 als »Dalton Minimum« beschrieben, benannt nach dem englischen Naturforscher John Dalton (1766-1844). Gemeint ist damit eine Phase reduzierter Sonnenaktivität und auffallend niedriger Temperaturen.12 Immer wieder kam es in dieser Zeit zu Kälteperioden und Dürren, die wiederum zu Frost und Eisgängen sowie zu Missernten und schweren Erkrankungen führten.13 Neben den Hungersnöten und Seuchen hatten die agrarisch geprägten Gesellschaften daher auch mit einer Zunahme von Überschwemmungen zu kämpfen, da auf brechende Eismassen die Flüsse aufstauten.14 Hochwassermarken an Elbe, Rhein und Main erreichten teilweise Rekordhöhen. Das Straßen- und Brückennetz in Süddeutschland war zeitweise kaum noch passierbar.15 Diese Bedingungen waren der Nährboden für alarmistische Gegenwartsdiagnosen. Greift der Mensch nicht ein, so schaltet sich dieser Zustand auf Dauer, lautete die weit verbreitete Ansicht. Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts wussten freilich nicht, dass sie in einer besonderen Klimaperiode lebten, die einen Anfang hatte und auch ein Ende haben würde. Gewiss, Wetteraufzeichnungen ließen schon damals Auffälligkeiten erkennen, doch die Zusammenhänge blieben unklar. Dass zum Beispiel die 1783 ausbrechenden Laki-Krater auf Island oder der Ausbruch des Tambora in Indonesien 1816 zu Abkühlungen um bis zu vier Grad

11 | Siehe hierzu Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 5 2010, S. 212-221; Mauelshagen, Franz: Klimageschichte der Neuzeit, Darmstadt 2010, S. 81-84. Unter den älteren, in ihrer Qualität keineswegs nachrangigen Werken sind hervorzuheben: Pfister, Christian: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern 1999, S. 228f.; Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 176-180. 12 | Wagner, Sebastian/Zorita, Eduardo: The influence of volcanic, solar and CO2 forcing on the temperatures in the Dalton Minimum (1790-1830): a model study, in: Climate Dynamics 25, 2005, S. 205-218. 13 | In Japan war zur gleichen Zeit der Vulkan Asama ausgebrochen. 35.000 Menschen starben sofort. Noch verheerender waren allerdings die Langzeitfolgen durch die Klimaveränderung und der damit einhergehenden Hungersnöte, denen Schätzungen zufolge rund 500.000 Menschen zum Opfer fielen: W. Behringer: Kulturgeschichte des Klimas, S. 212. 14 | Siehe hierzu vor allem: Brázdil, Rudolf u.a.: European floods during the winter 1783/1784: scenarios of an extreme event during the »Little Ice Age«, in: Theoretical and Applied Climatology 100, 2010, S. 163-189; Hochadel, Oliver: »In nebula nebulorum«. The Foggy Summer of 1783 and the Introduction of Lightning Rods in the German Empire, in: Heering, Peter/Hochadel, Oliver/Rhees, David (Hg.): Playing with Fire. Histories of the Lightning Rod, Philadelphia 2009, S. 45-70. Vgl. auch Poliwoda, Guido N.: Aus Katastrophen lernen. Sachsen im Kampf gegen die Fluten der Elbe 1784-1845, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 6265. 15 | Als zeitgenössische Schilderung siehe: Nachtrag zur Beschreibung der lezten Ueberschwemmung in Teutschland sowohl, als außer demselben, herausgegeben von dem kurfürstl. privil. Zeitungs- und Adressekomtoir, München 1784.

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Celsius führten, war niemandem bewusst.16 Zwar hatte man durchaus ungewöhnliche Wetterphänomene bestaunt und der starken Aschekonzentration in der Stratosphäre mit »Höhenrauch« sogar einen eigenen Namen gegeben.17 Aber dass die Hochwasser an der Elbe mit isländischen Kratern zusammenhängen konnten, dafür reichte der Kenntnisstand noch nicht aus. Die Diagnostiker waren vielmehr von einer sich stetig verwildernden Natur überzeugt, die es in geordnete Bahnen zu lenken gelte. Ansonsten nähme die Gefahr stetig zu. Schon die Semantik, in der man im 19. Jahrhundert über Flussbegradigungen verhandelte, drückte die hohen Ansprüche sowie die Überzeugung aus, dass menschliche Eingriffe in die Natur absolut notwendig seien. Wasserbauer und genauso Politiker sprachen immer wieder von »Rektifikation« (Richtigstellung), von »Korrektion« (Berichtigung), von »Regulierung« (Ordnung), oder auch von »Melioration« (Verbesserung). Sofort fällt auf, dass jeder dieser Begriffe von einem ursprünglich schlechten, fehlerhaften Naturzustand ausgeht, der einer Bearbeitung bedarf. Erst menschliche Eingriffe, so die zeitgenössische Logik, vermochten die Natur in einen besseren, sichereren und lebenswerteren Zustand zu versetzen. Auch die Rhetoriken, in die Techniker und Politiker ihre Maßnahmen einbetteten, drückten diesen Ausgangpunkt aus: Das freie Spiel der Naturkräfte verwilderte und verwüstete. So war immer wieder von »unordentliche[m] Lauf« der Flüsse die Rede18 oder von einem »nachtheiligen Zustand«.19 Hydrotechniker wollten »erobern« und »verteidigen«, »beruhigen« und »beherrschen«, »ersticken« und »verbannen«.20 Es ging um »Siege über die Naturkräfte«, darum, »die vernunftlosen Mächte der Natur den sittlichen Zwecken der Menschheit dienstbar [zu] unterwerfen«.21 Dies war eine sprachliche Tradition, die unter Technikern zum Teil bis in die Antike zurückreichte. Zugleich war sie aber auch beruflichen Überschneidungen geschuldet, was in manchen Deutungen zur Hybris des Ingenieurwesens schnell in den Hintergrund tritt. Viele von ihnen hatten als Soldaten gedient. Sie waren daher sprachlich vorgeprägt und übertrugen erlernte Rhetoriken später auf ihren Beruf. Generell war die Denkfigur, dass erst menschliche Eingriffe den Naturzustand 16 | Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015. 17 | Art. »Höhenrauch«, in: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, 4 Bde., Leipzig 1838, Bd. 2, Sp. 403. 18 | Riedl, Adrian von: Beantwortung der Preisfrage: Welche sind für Baiern die besten, und wohlfeilen Mittel, das Austreten der Flüsse, und die davon abhängenden Ueberschwemmungen zu hindern?, in: Neue Philosophische Abhandlungen der baierischen Akademie der Wissenschaften 6, 1794, S. 121-188, hier S. 124. 19 | Tulla, Johann Gottfried: Über die Rektifikation des Rheins, von seinem Austritt aus der Schweiz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogtum Hessen, Karlsruhe 1825, S. 9. 20 | Brüggemeier, Franz-Josef: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente. 1750 bis heute, Essen 2014, S. 154f.; Dienel, Hans-Liudger: Herrschaft über die Natur? Naturvorstellungen deutscher Ingenieure im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Schäfer, Lothar/Ströker, Elisabeth (Hg.): Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, 4 Bde., Freiburg/München 1995, Bd. 3, S. 121-149. 21 | Helmholtz, Hermann von: Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, in: Philosophische Vorträge und Aufsätze, Berlin 1971, S. 153-185, Zit. S. 156f.

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vollenden könnten, im frühen 19. Jahrhundert weit verbreitet. Ganz ähnliche Denkweisen lassen sich auch in vielen anderen Gesellschaftsbereichen finden, wo nahezu identische Begriffsverwendungen auftauchten. Anstalten für Arbeitsscheue und Müßiggänger nannte man »Korrektionsorte«.22 Auch Kolonien beschrieben ihre frühen Befürworter so, da sie Gelegenheit zur Bewährung und Resozialisierung böten.23 Hinter allen diesen Begriffen verbarg sich eine Steuerungsabsicht, die am Ende in einen geordneten Zustand münden sollte. Zu den Autoren solcher Gegenwartsdiagnosen zählten in der Regel technisch geschulte Staatsbeamte und Wasserbauingenieure. Für sie waren die Diagnosen oftmals ganz konkret mit ihrer beruflichen Zukunft verbunden. Sie bewarben sich mit ihnen bei Ausschreibungen staatlicher Akademien oder versuchten, große Bauprojekte zu initiieren.24 In den wenigsten Fällen verfassten die auf den Buchdeckeln ausgewiesenen Autoren die Werke allein. Daher müssen wir zumeist von mehreren Autoren ausgehen, die sich die Schreib- und Rechenarbeit aufteilten. Tulla zum Beispiel war sicherlich nicht der alleinige Ideengeber für die Rheinkorrektion. Vieles spricht dafür, dass er seine Pläne zusammen mit französischen Ingenieuren entworfen hat.25 Hinzu kommt, auch bei der Rheinbegradigung, dass Initiativen und erste Anregungen, doch endlich technisch zu intervenieren, häufig aus der Bevölkerung selbst kamen. Diese Dynamik von unten war im 19. Jahrhundert deutlich zu spüren. Unzählige Eingaben von Stadt- und Dorf bewohnern in Flussnähe legen diese Vermutung nahe.26 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Staat immer mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernahm. Auch dafür sind die vielen Petitionen an Behörden ein Beleg. Denn sie waren Ausdruck einer gewissen Erwartungshaltung gegenüber der Regierung, von der man verlangte, dass sie sich um die Sicherheit ihrer Bürger kümmerte. Je weiter man 22 | Helvetia. Denkwürdigkeiten für die XXII Freistaaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 8 Bde., Aarau 1823-1833, Bd. 2, S. 170. 23 | Laak, Dirk van: Kolonien als »Laboratorien der Moderne«?, in: Conrad, Sebastian/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 257-279, hier S. 260f. 24 | Amort, Eusebius: Frage, wo so viele Ausgüssungen der Flüsse in Baiern herrühren? und wie denselben abhelfen?, in: Philosophische Abhandlungen 8, 1773, S. 177-180; Mayr, Clarus: Gedanken, wie dem fast jährlichen, von Austrettung der Flüsse verursachten Schaden nach den Naturgesetzen des Wassers zu steuern sey, in: Philosophische Abhandlungen 8, 1773, S. 353-373; Helfen[z]rieder, Johann: Beantwortung der Preiss-Frage: Welche ist die leichteste und wohlfeilste Art von Wasserbau, wodurch der Einbruch, oder vielmehr der Austritt eines Flusses aus seinen Ufern verhindert wird: und er nach der verlangten Directions-Linie geleitet, oder in derselben erhalten werden kann, in: Philosophische Abhandlungen 9, 1775, S. 437-519; Riedl, Adrian von: Beantwortung der Preisfrage: Welche sind für Baiern die besten, und wohlfeilen Mittel, das Austreten der Flüsse, und die davon abhängenden Ueberschwemmungen zu hindern?, in: Neue Philosophische Abhandlungen der baierischen Akademie der Wissenschaften 6, 1794, S. 121-188; Abhandlung über die Preisfrage: »Welche sind für Bayern die besten und ausführlichsten Mittel, das Austretten der Flüsse, und die davon abhangenden Ueberschwemmungen zu verhindern?«, München 1803. 25 | C. Bernhardt: Im Spiegel des Wassers, S. 85f. 26 | Mit Nachweisen zu den einzelnen Archivfunden: Hannig, Nicolai: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019, S. 157-173.

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jedoch in Planung und Realisierung voranschritt, desto weniger waren Privatleute beteiligt. Die Argumentationen der verschiedenen Abhandlungen waren klar und eingängig. Sie sollten politische Machthaber dazu bringen, ihre Vorhaben zu genehmigen und Gelder fließen zu lassen. Es steckte daher viel Werbung in eigener Sache in diesen Werken. Meist ging es den Autoren darum, die Landschaft möglichst umfassend neu zu gestalten. Lesen wir heute ihre Schriften, so wird schnell deutlich, dass sie ihre Abhandlungen nicht nur als technische Erörterungen verstanden wissen wollten. Vielmehr skizzierten sie gewaltige Vorhaben, die von vornherein Staat und Ingenieurwesen, Sicherheitspolitik und Wasserbau als eine Einheit dachten. Nicht selten versuchten ihre Texte, auch literarischen Ansprüchen gerecht zu werden. Berechnungen und technische Details verschoben sie eher an das Ende ihrer Schriften, während die Einstiege oftmals dramatisch gestaltet waren und Gefahren von spektakulärem Ausmaß ausmalten. Die Denkschriften sollten Politik und Öffentlichkeit beweisen, dass ihre Autoren nicht nur kühle Theoretiker waren, die über das Schicksal vieler Menschen am heimischen Zeichentisch entschieden. Daher zielten sie darauf ab, am besten gleich der ganzen Gesellschaft die Vorteile technischer Sicherheitsstrategien näherzubringen. Hans Conrad Escher, der den Schweizern Bedeutung und Nutzen einer Korrektion der Linth nahezubringen versuchte, publizierte seine Gegenwartsdiagnosen sogar in Blättern für Kinder und Jugendliche.27 Bei den meisten Zeilen handelte es sich allerdings um abgewandelte Textbausteine aus Schriften, die er schon an anderer Stelle veröffentlicht hatte. Doch seine Strategie war klar erkennbar: Er warb für ein generelles Umdenken, das schon im Kindesalter einsetzen sollte. Dafür rührte er kräftig die Werbetrommel und sendete seine Botschaften auf allen Kanälen. Ausgangspunkt war dabei stets eine Gegenwartsdiagnose, die düster und beängstigend daherkam. 1805 schrieb er über die Bewohner der Linthebene: »Ordnung, Arbeitsliebe, Fleiß und Sparsamkeit schützen sie nicht mehr gegen Mangel und Armuth« […]. Auch im Heiligthum ihrer Häuser finden sie bald keine Zuflucht mehr. […] [D]ie Ueberschwemmung fluthet in die Erdgeschosse der Häuser, und ersteigt schon da und dort die ersten Stockwerke. […] Die Bevölkerung ist schon seit langem unter ihrem ehemaligen Verhältnisse; in den schwächlichen, blassen, kraft- und geistlosen Gestalten glaubt man wandelnde Schatten zu sehen, abgehärmt durch das Gefühl ihrer eigenen Abnahme, noch mehr aber durch den Anblick ihrer Kinder, in welchen die überhandnehmende Degradation an Geist und Körper noch sichtbarer ist, so daß man am Ende mit dem Boden zugleich auch das gänzliche Versinken der Menschheit befürchten muß.« 28

Die Ingenieurskunst hatte sich zum Ziel gesetzt, Naturgefahren auf ein Minimum zu reduzieren. Sie wollte Naturgewalten, die zu Katastrophen führen könnten, erst gar nicht entstehen lassen. Für diesen präventiven Zukunftsentwurf brauchte sie eine möglichst gefährliche Gegenwart und Vergangenheit. Aber um welche Gefah27 | Neuntes Neujahrsblatt der Zürcherischen Hülfsgesellschaft. Zum Nutzen und Vergnügen der Vaterstädtischen Jugend, 1809. 28 | Escher, Hans Konrad/Ith, Johann Samuel: Aufruf an die Schweizerische Nation zur Rettung der durch Versumpfungen ins Elend gestürzten Bewohner der Gestade des Wallen-Sees und des untern Linth-Thales, o. O. 1807, S. 5f.

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ren ging es eigentlich? Im Vordergrund standen sicherlich Überschwemmungen. Sie kosteten immer wieder viele Menschenleben, zerstörten Gebäude und vernichteten Ernten. In den Denkschriften las man von Menschen, die in Fluten ertranken, und man las von Krankheiten, wie etwa Malaria oder Typhus. Diese würden sich vor allem in den Regionen frei entfalten, in denen die Gewässer noch nicht »korrektioniert« waren. Wasser »fluthet in die Erdgeschosse der Häuser«, stellte Escher zusammen mit dem Pfarrer und Pädagogen Johann Samuel Ith 1807 in seinem berühmten Aufruf zur Linthkorrektion fest. Es »ersteigt schon da und dort die ersten Stockwerke, da dann im zurückgelassenen Schlamm die Sommerhitze verpestende Dünste entwickelt und eckelhafte Insekten erzeugt«.29 Tulla bediente sich ganz ähnlicher Rhetoriken. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung über die »Rektifikation des Rheins« betonte er, dass tausende Uferbewohner qualvoll umkamen, als sich Anfang des 19. Jahrhunderts Überschwemmungen im nördlichen Europa verbreiteten. Im weiteren Verlauf seiner Schrift griff er die Mortalität immer wieder auf, um am Ende letztlich klarzustellen, dass die Rheinkorrektion in erster Linie als ein Sicherheitsprojekt zu verstehen sei: »Vor allem verdient die persönliche Sicherheit der Rheinufer-Bewohner, ihre Befreyung von der schweren Last der Nothwehren bey stürmischer, nasser und kalter Witterung und die Sicherung ihrer Wohnungen und ihres Viehstandes beherzigt und in die Wagschaale gelegt zu werden«. 30

Das Sicherheitsargument avancierte zum Dreh- und Angelpunkt der Tullaschen Überzeugungsarbeit. In gesteigerter Dramatik entwarf er schließlich eine militärisch durchsetzte Naturapokalyptik: »Ohne die Rektifikation des Rheins«, so Tulla, »werden die Sturmglocken nicht verstummen, das Brechen der Dämme nicht immer gehindert und bald dieser bald jener Ort und seine Gemarkung unter Wasser gesetzt werden; die Sümpfe werden nicht nur nicht verschwinden, sondern sie werden bedeutender werden und Niederungen, welche früher noch benuzt werden konnten, werden später die Zahl der Sümpfe vermehren, weil sich die Quellwasser vermehren und der Abfluß derselben immer mehr gehindert wird«. 31

Solche martialischen Gegenwartsdiagnosen waren häufig im Futur verfasst und sollten die Wahrnehmung von Gefahren orientieren. Daran lässt sich erkennen, wie sie versuchten, Realitäten zu modellieren und technische Interventionen nahezulegen. Die für das 19. Jahrhundert immer wieder als so typisch apostrophierte Offenheit der Zukunft hegten sie ganz entschieden ein, indem sie sie als Bedrohung auswiesen, um Handlungsdruck zu erzeugen. Aber es verbargen sich noch weitere Gefährdungsdimensionen in den hydrotechnischen Gegenwartsdiagnosen, und zwar politisch-militärische: Begradigungen könnten Feinden die Möglichkeit nehmen, Straßen unter Wasser zu setzen, indem sie zum Beispiel den Wasserstand an

29 | Ebd., S. 5. 30 | J. G. Tulla: Über die Rektifikation des Rheins, S. 5, 51. 31 | Ebd., S. 51.

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empfindlichen Stellen absenkten.32 Auch in Grenzfragen waren Korrektionsarbeiten von Belang.33 Vor allem breite Flüsse blicken auf eine lange Tradition als Grenzmarkierer zurück. In ihrer ursprünglichen, oftmals mäandrierenden Erscheinung waren sie allerdings stets unsichere Grenzen, da sie schnell ihren Verlauf ändern oder bei Hochwasser ganze Regionen schlucken konnten. Der Mittelrhein als veränderliche französisch-deutsche Scheide war ein Paradebeispiel für diese Grenzunsicherheiten.34 Folglich waren es genau diese Grenzgefahren, die Tullas Korrektionsplänen auf Seiten des Napoleonischen Frankreich die Tore öffneten, stellten sie doch in Aussicht, Grenzen endgültig zu befestigen.

2. A uf dem B oden der P r a xis In der Konstruktion der Denkschriften waren in den meisten Fällen alle drei Zeitebenen eng miteinander verwoben. So schrieb Tulla zur Begradigung des Oberrheins: »Von der Notwendigkeit der Rektifikation des Rheins wird man vollkommen überzeugt, wenn man einen scharfen Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart und in die Zukunft wirft und wenn man denjenigen Zustand des Rheins und seines Ueberschwemmungs-Gebietes, wie er jetzt ist, so wie denjenigen, welcher, im Falle keine Rektifikation ausgeführt wird, später eintreten muß, mit dem Zustand vergleicht, welcher eine vollkommene Rektifikation, theils gleich, anderntheils in der Zukunft erhalten wird.« 35

Die Wasserbaupraxis entlarvte diese Diagnosen jedoch schnell als Denkschriftlyrik. Denn oftmals vergingen gleich mehrere Jahre, bevor Arbeiter die ersten Spatenstiche der bewilligten Projekte vornahmen. Waren dann einmal alle Gerätschaften aufgestellt und erste Arbeiten durchgeführt, so brauchte es nur ein kleines Hochwasser, und all die Mühen waren buchstäblich fortgespült. Zudem dürfen wir uns die Baurealität nicht so vorstellen, wie sie uns heute zumeist begegnet. Abweichungen von den Plänen waren im Grunde an der Tagesordnung. Immer wieder kam es zu Nachverhandlungen, da sich einzelne Ortschaften über die Baumodalitäten stritten. Die einen fühlten sich benachteiligt, andere sahen sich übergangen. Nicht selten kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Bei den Vorbereitungen zur Rheinbegradigung gab es immer wieder nächtlichen Vandalismus. Uferbewohner zerstörten in der Dunkelheit Messinstrumente und neu gezogene Grenzlinien, um die Arbeit der Ingenieure zu sabotieren. Das verzögerte den Bauvorschritt ungemein und gibt uns heute einen deutlichen Hinweis darauf, dass es stets beides gab, 32 | Schreiben von Johann Gottfried Tulla an Leutnant Georg Heinrich Krieg von Hochfelden, 23.3.1821 (Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, 65/11550). 33 | D. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 119-121. 34 | Sahlins, Peter: Natural Frontiers Revisited: France’s Boundaries since the Seventeenth Century, in: The American Historical Review 95, 1990, S. 1423-1451, hier S. 1442. Politische Konflikte um Grenzgewässer reichen zudem bis in die jüngste Zeitgeschichte, vgl. dazu etwa Eckert, Astrid: Geteilt, aber nicht unverbunden. Grenzgewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62, 2014, S. 69-100. 35 | J. G. Tulla: Ueber die Rektifikation des Rheins, S. 10.

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Vorsorgeprofiteure und Vorsorgeverlierer. Oft genug führten die technischen Interventionen dazu, dass Menschen ihre Häuser aufgeben mussten. Sie litten folglich unter der Präventionspriorität anderer. Vielen war klar, dass ihre Lebensgrundlage auf dem Spiel stand, ob sie nun Fischer oder Goldwäscher waren: Flussabwärts, am Mittel- und Niederrhein würde die Überschwemmungsgefahr immens ansteigen, da sich die Fließgeschwindigkeit des Flusses infolge der vielen Durchstiche erhöhte. Den Zuwachs an Sicherheit der einen bezahlten die anderen mit einem Anstieg des Gefahrenpotentials. Auf diesen Teufelskreis der technischen Intervention hatten schon zeitgenössische Kritiker wie Fritz André aufmerksam gemacht, als er 1828 in einem Pamphlet gegen Tullas Pläne schrieb: »[W]ird aber die Rectification […] bis zu ihrer projectirten Allgemeinheit fortgesetzt, so tritt für Hessen die Nothwendigkeit ein, späterhin den Rhein weiter aufwärts bis Lampertheim auch durchgängig zu rectificiren, um doch wenigstens so viel als möglich, die Gefahren zu vermindern, welche diese totale Rectification des Rheins längs des Badischen Gebietes für die unterhalb liegenden Rheinufer nach sich ziehen muss«. 36

Auch Johann Wolfgang Goethe fing diese Auseinandersetzungen in Faust II ein.37 Im fünften Akt nimmt der Protagonist zusammen mit Mephistopheles einen elementaren Kampf auf, und zwar den gegen die Natur des Wassers. Die Betroffenen des großen Wasserbauprojekts, das Deiche errichten und Land gewinnen soll, erklären allerdings: »Kluger Herren kühne Knechte Gruben Gräben, dämmten ein, Schmälerten des Meeres Rechte, Herrn an seiner Statt zu sein.«

Faust hingegen berauscht sich förmlich am Kampf des Menschen gegen die Naturgewalt: »Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! Es ist die Menge, die mir frönet, Die Erde mit sich selbst versöhnet, Den Wellen ihre Grenze setzt, Das Meer mit strengem Band umzieht.«

36 | André, Fritz: Bemerkungen über die Rectification des Oberrheins: und Schilderung der furchtbaren Folgen, welche dieses Unternehmen für die Bewohner des Mittel- und Unterrheins nach sich ziehen wird, Hanau 1828, S. 15f. 37 | Siehe zum Folgenden vor allem: Böhme, Harmut: Eros und Tod um Wasser – »Bändigen und Entlassen der Elemente«. Das Wasser bei Goethe, in: Ders. (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a.M. 1988, S. 208-233; Rada, Uwe: Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss, München 2013, S. 246-249.

Diagnose: Gefahr!

Der Dichter hatte die Kraft des Wassers selbst erlebt, im Februar 1825, als Sturmfluten die Nordseeküste trafen und verheerende Schäden anrichteten.38 Rund 800 Menschen kamen ums Leben. Schon in den Vorjahren hatten einzelne Studien ergeben, dass die Schutzvorkehrungen an der Elbe mangelhaft waren und, so die Einschätzung der Ingenieure, nicht mehr den aktuellen technischen Standards entsprachen. Doch die Planungsarbeiten für ein neues Bauprogramm dauerten, sodass die sogenannte Februarflut die Region traf, noch bevor überhaupt ein Spatenstich stattgefunden hatte. Erst nach dieser großen Überschwemmung begannen die Deichbauarbeiten, die sich schließlich zu einem umfassenden Projekt zur Landgewinnung ausweiteten. Goethe ließ sich aus erster Hand über die technischen Eingriffe an der Elbe informieren. Er schickte seinen Sekretär nach Stade, der wiederum die verantwortlichen Wasserbauingenieure vor Ort konsultierte. Vereinnahmen ließ sich Goethe allerdings nicht von der hydrotechnischen Euphorie. Das zeigt sich in der Tragödie zweiter Teil deutlich, wenn er seinen Mephistopheles sagen lässt: »Du bist doch nur für uns bemüht Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; Denn du bereitest schon Neptunen, Dem Wasserteufel, großen Schmaus. In jeder Art seid ihr verloren; Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.«

Einigen konnte es allerdings nicht schnell genug gehen. Sie hatten die Werberhetoriken der Hydrotechniker offenbar verinnerlicht und waren fest davon überzeugt, dass sie den Fluten bald den Garaus machten. Andere wiederum trauten den hochtrabenden Plänen zur Landschaftsneugestaltung nicht. Sie waren gegenüber der sich wiederholenden Gegenwartsdiagnostik äußerst kritisch eingestellt. Die Furcht vor Veränderungen, vor allzu tiefen Eingriffen in die Natur war groß. Sie vermischte sich mit der Sorge um neue Grenzziehungen. Viele störten sich zum Beispiel an Gebietsabtretungen, die nicht selten mit Flussbegradigungen einhergingen.39 Andere warnten vor menschlicher Hybris. Sie sei »heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit«, schrieb Friedrich Nietzsche 1887. Botaniker und Zoologen stimmten in diese Technikkritik mit ein. Sie wiesen darauf hin, dass der Korrektionswahn, der vor keinem Fluss mehr haltmache, Habitate schwinden ließ und Brutplätze gefährdete. Die Trockenlegung der Moore bedrohe ganze Spezies und führe dazu, dass mehrere Arten aussterben.40 Hinzu kam, dass die Bauarbeiten meist nur schleppend vorangingen – auch ganz ohne Sabotage. In der Regel fand die Arbeit nämlich in Sümpfen und dich38 | Fischer, Norbert: Der wilde und der gezähmte Fluss. Zur Geschichte der Deiche an der Oste, Stade 2011, S. 151-180; Höch, Otto: Die Sturmflut vom 3./4. Februar 1825 im hamburgischen Staatsgebiet, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 28, 1927, S. 155-224. 39 | C. Bernhardt: Im Spiegel des Wassers, S. 101. 40 | D. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 219. Dort auch das Nietzsche-Zitat.

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ten Wäldern statt, in denen es von Insekten wimmelte. Die Krankheitsraten waren hoch, die händische Arbeit schwer. Die meisten Arbeitsunfälle ereigneten sich im 19. Jahrhundert nicht, wie man vermuten mag, unter Tage, sondern im Wasserund Tief bau. Zwar boomte das Geschäft mit den Flussbegradigungen. Doch unter Zeitgenossen war es äußerst unbeliebt, dort als Arbeiter beschäftigt zu sein. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts übernahmen fast nur noch spezialisierte Großfirmen die Aufträge, denen ortsansässige Kleinbetriebe lediglich zuarbeiteten. Nicht selten heuerten sie billige Arbeitskräfte aus dem Ausland an, mitunter auch Strafgefangene. Sie arbeiteten jeweils 16 Stunden an sechs Tagen, in der Regel unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in hochinfektiösen und keimbelasteten Gebieten. Zudem war es kein Einzelfall, dass sich Begradigungsarbeiten, wie etwa am Inn, über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren hinzogen. Man musste mit Folgeproblemen kämpfen, sah sich neuerlichen Überschwemmungsschäden gegenüber oder musste auf veränderte Fließbedingungen reagieren. Die Korrektion des einen Abschnitts machte die Korrektion eines anderen notwendig. Davon las man in den hydrotechnischen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfen allerdings nichts.41 Zudem verlangten solche Mammutprojekte Verwaltungsreformen in großem Stil. Auch darüber schwiegen sich die Denkschriften zumeist aus. Gleichwohl zeigte sich, dass die gefahrbetonten Gegenwartsdiagnosen ein wichtiger Motor für politische Neuordnungen waren. Ihre Rhetoriken entfalteten vor allem auf Seiten der Regierungen eine starke Wirkung. Hier stießen sie auf offene Ohren. Ob nun in Baden, Bayern, Preußen oder in der Schweiz, überall stellten sich die technischen Verwaltungsapparate neu auf. In Bayern zum Beispiel schuf Montgelas 1805 ein eigenes Zentralbüro für den Straßen- und Wasserbau, das er seinem Finanzdepartement zuordnete und unter die Leitung von Carl Friedrich von Wiebeking stellte.42 Diese Verwaltungsreformen gingen mit einem Boom hydrotechnischer Maßnahmen einher.43 Drei größere Bauprojekte fielen in die Zeit der Reformen: die Trockenlegung des Donaumooses, die Begradigung der Isar unterhalb Münchens sowie die Streckung des Inns zwischen Kufstein und Rosenheim.44 Im vereinigten Großherzogtum Baden entstand zur selben Zeit erstmals eine systematische Wasser- und Straßenbauverwaltung mit regelmäßigen Wasserstandsbeobachtungen. Damit hatte man eine bis dato einzigartig komprimierte Verwaltungseinheit geschaffen, in der letztlich alle technischen Aufgaben des Landes zusammengefasst waren. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Wasserbau krempelte 41 | Aretin, Georg Freyherr von: Zur Geschichte des Innstroms, in: Zeitschrift für Baiern und die angränzenden Länder 2, 1817, S. 49-76; Pechmann, Heinrich von: Ueber den frühern und gegenwärtigen Zustand des Wasser- und Straßenbaues im Königreiche Baiern, München 1822; Nitzsch, Otto von: Sind Flusskorrektionen wirtschaftlich? Studie an Hand der Korrektion des Inn von Kiefersfelden bis Rosenheim (nach Erhebungen des Straßen- und Flußbauamts Rosenheim), in: Deutsche Wasserwirtschaft 31, 1932, H. 4/5, S. 1-17. 42 | 1809 wechselte die gesamte Direktion zum Innenministerium. 43 | Rädlinger, Christine: Geschichte der Isar in München, München 2012. 44 | Brenner, Wilhelm: Die Entwässerung des Donaumooses, in: Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft/Technische Universität München (Hg.): Geschichtliche Entwicklung der Wasserwirtschaft und des Wasserbaus in Bayern. Seminar am 24. April 1986, München 1986, S. 51-67; C. Rädlinger: Geschichte der Isar in München, S. 63-81.

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das Großherzogtum um. An die Stelle von Fronarbeit trat fortan ein Steuerverfahren, das zum Beispiel Flussbaugeld von sämtlichen Gemeinden der Rheinregion und Schwarzwaldflüsse erhob und damit genügend Kapital in die Kassen des neu errichteten Staatsflussbauverbandes spülte.45 Im Zuge von Gebietsreformen und Zusammenschlüssen deutscher Staaten war es zudem vermehrt möglich, ohne Konsultation der unzähligen Gerichtshoheiten der verschiedenen deutschen Territorien hydrotechnische Großprojekte zu verwirklichen. »Rektifizierungen« ließen sich also nicht nur als Präventionsmaßnahme, sondern auch als sicherheitspolitische Identitätsstiftung neu zusammengesetzter Staaten vermarkten. Und das war zwingend erforderlich. Denn der Wasserbau benötigte nicht nur einen gut funktionierenden Beamtenapparat und tatkräftige Arbeiter. Er war genauso darauf angewiesen, dass der eigene Staat außenpolitisch aktiv wurde. Dieser hatte dafür zu sorgen, dass Lieferwege für Baumaterialien frei waren, Vertragsabschlüsse mit angrenzenden Staaten zustande kamen und neu entstehende Grenzen nicht zu Unmut führten.46 Trotz aller Kritik entfaltete der Wasserbau eine kaum hoch genug einzuschätzende Sogwirkung. Das lässt sich schon allein am zeitgenössischen Arbeitsmarkt ablesen. Blickt man Ende des 19. Jahrhunderts in technische Fachzeitschriften, so finden sich um 1900 unzählige Stellenanzeigen für Wasserbauingenieure. Immer wieder gab es neue Posten, in fast allen Regionen. Selbst in den Abschlussprüfungen technischer Akademien zählten Fragen zu Flusskorrekturen mittlerweile zum Inventar.47 Aber nicht nur in Zeitschriften zeigte sich das Gewicht der Hydrotechnik. Man musste nur vor die Tür gehen, zu einer der Wasserstraßen, die sich durch den europäischen Kontinent zogen. Und dann mussten die Älteren nur in ihrer Erinnerung nach Landschaftsbildern suchen, die aus der Zeit vor der Neugestaltung stammten. Innerhalb von rund einhundert Jahren waren aus wild mäandrierenden Flüssen mit unzähligen kleinen Kanälen schnurgerade Fahrrinnen geworden. Noch Ende des 18. Jahrhunderts wuchsen entlang ihrer Ufer lange Auenwälder. Die Norddeutsche Tiefebene war durchzogen von Sümpfen und Marschland. Doch dort, wo sich zuvor noch Lachse, Wölfe, Stechmücken und allerhand Krankheitserreger friedlich vermehrt hatten, wohnten nun Menschen, beackerten Landwirte ihre Flächen und rauchten Industrieanlagen.48 In zahlreiche, zu Neu-Deutsch, NoGo-Areas war menschliches Leben eingekehrt, zum einen weil es jetzt möglich, zum anderen weil es sicherer geworden war, zumindest verhältnismäßig.

45 | Wittmann, Heinrich: Tulla, Honsell, Rehbock. Lebensbilder dreier Wasserbauingenieure am Oberrhein, Berlin 1949, S. 10; C. Bernhardt: Im Spiegel des Wassers, S. 138-145. 46 | Vgl. D. Blackbourn: Die Eroberung der Natur, S. 117f. 47 | Gesucht wurden meist »junge Ingenieure« für »Flusscorrectionen und Verbauungsarbeiten«. Die meisten Anzeigen fanden sich im einschlägigsten Blättern, etwa der Deutschen Bauzeitung oder der Schweizerischen Bauzeitung. 48 | Schwarz, Astrid E.: Wasserwüste – Mikrokosmos – Ökosystem. Eine Geschichte der »Eroberung« des Wasserraumes, Freiburg i.B. 2003.

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3. A usblick Die Anzahl an Überschwemmungen, das zeigten schon zeitgenössische Statistiken deutlich, hatte sich tatsächlich verringert, und mit ihr gingen auch die meisten der nicht weniger verheerenden Folgeprobleme wie etwa die Malaria zurück. In dieser Hinsicht waren die Flussbauer sicherlich erfolgreich. Auch wenn sich gleichzeitig die Anzahl kritischer Stimmen gegenüber der hydrotechnischen Landschaftsumgestaltung vermehrt hatte, so waren daher auch um die Jahrhundertwende die Befürworter hydrotechnischer Interventionen in der Überzahl. Einzelne große Überschwemmungen, die für den Moment sicherlich verheerender ausfielen als noch in den Jahren vor dem Wasserbauboom, schienen eher anzuspornen, das Projekt zu ›vollenden‹, als dass sie anregten umzudenken. Gegner, die behaupteten, dass es die Impfung war, die erst richtig krank machte, waren jedoch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu hören, und sie wurden mit der Zeit lauter.49 Allerdings waren es – und das sahen die Kritiker nur in den seltensten Fällen voraus – nicht unbedingt die Flussbegradigungen, die Überschwemmungen verheerender ausfallen ließen. Vielmehr waren es die mit ihnen einhergehenden topografischen Veränderungen. Die neu gestalteten Landschaften regten nämlich dazu an, urbar gemachte Flächen stärker zu nutzen; eine Verlockung, die aus den vielen Denkschriften mit ihren Gegenwartsdiagnosen deutlich hervorging. Immer wieder schrieben die Autoren von riesigen Moorflächen und unbrauchbaren Auen, die die Natur der menschlichen Nutzung entziehe. Und in der Tat: Die neu geschaffenen, teils schnurgeraden Kanäle stellten viel Raum zur Verfügung. Der Mensch siedelte in der Folge immer dichter an Flüsse, nutzte die Produktivkraft des Wassers noch intensiver, immer mehr Industrie ließ sich an den Ufern nieder. Dadurch konzentrierten sich hohe Sachwerte in unmittelbarer Gewässernähe, die Schadenszahlen bei Überschwemmungen immer größer werden ließen. Man hatte also die vielen kleinen alltäglichen Hochwasser abgestellt. Doch nun reichte ein Hochwasser, um Schäden in einer Höhe anzurichten, die zuvor nicht einmal zehn oder fünfzehn Überschwemmungen in Summe erreicht hatten. In der Fachsprache der Versicherung lautete dieses Problem Risikokumulation. Doch erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich allmählich ein Versicherungsschutz, der solche Hochwasserschäden in größerem Umfang abdeckte.50 Zugleich mischten sich immer mehr wirtschaftliche Ansprüche in die Planungen des Wasserbaus. In vielen Projekten zeigte sich ganz deutlich, dass das Ziel, Flüsse nutzbar zu machen, über dem stand, sie sicherer zu gestalten. Auch militärische und Belange der Raumeroberung gewannen teilweise die Oberhand, letztere vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland der Unmut darüber anstieg, ein Volk ohne Raum zu sein. Schließlich mussten Hydroteken auch verstärkt ästhetische und touristische Gesichtspunkte in ihre Projektentwürfe einbeziehen. Folglich waren sie in ihrer Planung längst nicht mehr so frei wie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ihre Handlungsspielräume verkleinerten sich, da sich immer

49 | K.[öniglich] Oberste Baubehörde im Staatsministerium des Innern: Denkschrift über den gegenwärtigen Stand der Wasserbauten in Bayern, München 1909, S. 5. 50 | Lübken, Uwe: Die Natur der Gefahr. Zur Geschichte der Überschwemmungsversicherung in Deutschland und den USA, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, 2008, S. 4-20.

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mehr Behörden und Interessenverbände fanden, die ihre eigenen Vorstellungen von hydrotechnischer Architektur hatten.51 Dementsprechend können wir den Wasserbau im 19. Jahrhundert auch als ein Vehikel zur Staatswerdung verstehen. Der Wandel von Staats- und Sozialverfassung, Verwaltungs- und Wissenschaftsorganisation war eng verbunden mit der Abwehr von Naturgefahren. Vorsorge und Prävention waren Anlass und Mittel zugleich, ein modernes Risikomanagement zu etablieren, mit dem sich Verwaltungen zentralisieren und Befugnisse ausweiten ließen. Vor allem die Prävention in Form von großen Korrektionsprojekten an Flüssen und Seen weitete die Verfügungsgewalt des Staates aus, indem sie Enteignungen, Umsiedlungen und Novellierungen als unvermeidliche Maßnahmen erscheinen ließ. Zudem galten aufwendige technische Eingriffe in die Natur den Verantwortlichen als Investitionen in das eigene Prestige, das wiederum das Staatsbewusstsein unter der Bevölkerung stärken sollte. Flussbegradigungen waren immer auch Maßnahmen, die dazu dienen sollten, die Akzeptanz des Staates zu erhöhen. Vorsorge und Prävention gegenüber Naturgefahren, die man in Gegenwartsdiagnosen eben nicht nur zufällig als äußeren Feind beschrieb, sollten wir daher auch als Varianten von Herrschaft interpretieren, mit deren Hilfe sich im 19. Jahrhundert die innere Staatsbildung ankurbeln ließ.

51 | Lieske, Heiko: Flood Hazards, Urban Waterfronts, and Cultural Heritage, in: Kabisch, Sigrun u.a. (Hg.): Vulnerability, Risks, and Complexity: Impacts of Global Change on Human Habitats, Göttingen u.a. 2012, S. 89-100, hier S. 92.

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Blick zurück nach vorn Untergangsprognosen der Familie seit dem 19. Jahrhundert Gunilla Budde »… denn keine Gegenwart hat überhaupt irgendeine Gewähr dafür, dass sie nicht von der nächsten Zukunft ausgelacht wird.«1 (W.H. Riehl)

Wer sich seiner Gesellschaft bemächtigen will, kann verschiedene Wege wählen. Wilhelm Heinrich Riehl entschied sich für die eigene Anschauung. 1850, dem Frühling entgegen, wanderte er monatelang durch Deutschland. Als studierter Theologe, Kunsthistoriker und Publizist hatte er sich gerade durchaus mutig gegen die spartanische, doch sichere Existenz eines Landpfarrers entschieden. Nun brach er auf, um Halt zu machen, zu beobachten und zu bewerten. In Dörfern und kleinen Städten sprach er mit Mägden, Händlern und Pfarrern, streifte durch die Gassen, ging auf den Markt und über den Friedhof, feierte und trauerte mit der Gemeinde, hörte und schaute zu, fragte nach, machte sich sein Bild und fällte ein Urteil. Der bereits dreifache Familienvater, der Frau und Kinderschar für einige Wochen den Rücken kehrte, war getrieben von Sorge. Und auf der Suche nach einem Ideal. Die Sorge: Der Zustand der Familie, in Auflösung begriffen, drohte der Gesellschaft der Gegenwart das Fundament zu nehmen. Das Ideal: Mit seinem Ausflug aufs Land wollte er, gleichsam als Gegenmittel, sich einer dort noch »heilen Welt« der intakten Familie vergewissern. Sie sollte als vorbildliches Heilmittel dienen, um der krankenden Familie, der »Keimzelle« der Gesellschaft, wieder aufzuhelfen. Die Ergebnisse seiner Studien führte er 1855 in seinem Buch Die Familie zusammen. Binnen Kurzem avancierte es zu einem der Bestseller des 19. Jahrhunderts. Mit 17 noch folgenden Auflagen fehlte es in keinem bürgerlichen Bücherschrank der zweiten Jahrhunderthälfte.2 Riehl war keineswegs allein auf weiter Flur, auch wenn zu seiner Zeit die Optionen der Ideenverbreitung vergleichsweise begrenzt 1 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Das landschaftliche Auge, in: Ders.: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 57-79, hier S. 75. 2 | Vgl. Nave-Herz, Rosemarie: Wilhelm Heinrich Riehl, in: Dies. (Hg.): Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits, Würzburg 2016, S. 17-36. 1935 erschien im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine »Riehl-Statistik«, die ahnen lässt, wie verbreitet das Werk war. Neben 17 Neuauflagen gab es eine »Schulausgabe« und eine »Volksausgabe«.

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waren. Dass er mit seiner Gesellschaftsvision so Viele erreichte, hatte inhaltliche, aber auch methodische und stilistische Gründe. Was bewog den jungen Familienvater zur Aufgabe einer soliden Existenz, um von seinen Schriften zu leben und durch sie zu wirken? Dass auch damals aktuelle Hamletsche »Time is out of joint«-Gefühl und die gleichzeitige Klage, »that ever I was born to set it right«,3 markierte die gesellschaftliche Gestimmtheit auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt die intensiven Paulskirchendiskussionen sind ein Beleg dafür, wie selbstreflektiv man seine Gegenwart beobachtete. Die Zeit, die aus den Fugen zu geraten schien, war eine vom Geist der Aufklärung inspirierte Zeit der permanenten Selbstbeschau, der reflexiven Autoanalyse und der phantasievollen Zukunftsentwürfe. Und eine erste Hoch-Zeit selbstautorisierter Diagnostiker und Heiler. Dass dabei auch die Familie als nahezu alle Gesellschaftsglieder betreffender Erfahrungs- und Gestaltungsraum ins Visier geriet, erstaunt wenig. Im Folgenden geht es darum, zunächst den historischen Kontext der Riehlschen Familiendiagnose zu beleuchten. Im Fokus steht anschließend sein Werk Die Familie, wenn neben inhaltlichen Schwerpunkten vor allem nach der praktizierten Methodik, der gewählten Darstellungsform und der daraus resultierenden Zukunftsvision gefragt wird. Abschließend richtet sich der Blick ins späte 20. Jahrhundert, als im Nachgang des »Zweiten Dreißigjährigen Kriegs« (Hans-Ulrich Wehler) Unkenrufe des Familienverfalls wieder lauter wurden und konservative Familienentwürfe Konjunktur hatten. Wo zeigten sich in den nun beobachtbaren Krisendiskursen Kontinuitäten, wo Veränderungen?

1. E in J ahrhundert wird beobachte t Als der Volkskundler zu seinen Feldforschungen auf brach, lag die gerade gescheiterte Revolution von 1848 noch in der Luft. Bei dem einen Teil der Bevölkerung hatte die Revolutionserfahrung eher Furcht vor einem gewaltsamen Umsturz als Enthusiasmus geschürt. Bei anderen überwog die tiefe Enttäuschung über die nicht eingelösten Märzforderungen und verfinsterte die Gemüter. Doch die zerstobenen Hoffnungen hatten gleichzeitig sensibilisiert für die Gestaltbarkeit der Zeitläufte und die Fülle der Zukunftsoptionen. Im Schatten des Misserfolgs glomm der politische Funke fort. Ein frustrierter Rückzug aus der Politik in die Schreibstuben war, wie viele Historiker wie Thomas Nipperdey die nachrevolutionäre Zeit lange erklärten, keineswegs die Regel. Schließlich hatten sich große Teile der Bevölkerung inmitten eines politischen Umbruchprozesses erlebt, an dem sie mehr oder minder direkt partizipierten. Auch wer nicht Steine warf, Barrikaden baute und Siehe Stein, Robert: Riehl-Statistik. Zahlen über die Verbreitung von Wilhelm Heinrich Riehls Schriften, in: Börsenblatt Nr. 198, 27.8.1935. 3 | Shakespeare, William: Hamlet. Prince of Denmark, in: The Complete Works of William Shakespeare, Ware 1996, S. 679: »The Time is out of joint. O cursed spite, That ever I was born to set it right!« (Akt 1, Szene 5). Die kompletten Shakespeare-Übersetzungen von August Wilhelm von Schlegel lagen seit den 1820er Jahren vor, wanderten zuhauf in bürgerliche Bücherschränke und Zitate daraus wurde bald Teil der »Geflügelten Worte« (Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks, Berlin 1864 u. ö.).

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Pamphlete formulierte, nahm teil durch Beobachten, Kommunizieren und Werten. Die »tollen Tage« hatten in weiten Kreisen der Gesellschaft das Bewusstsein geschärft, höchstselbst im Brennpunkt des Geschehens zu stehen, verändernd einwirken zu können, ja, so die Steigerung des sich situierenden Bürgertums, sich einmischen zu müssen als erste Bürgerpflicht. »Der Bürger will gestalten und organisieren, er hat einen hohen Begriff von seiner Verantwortung und will […] mithelfen, dem gesellschaftlichen Leben eine Richtung zu geben.«4 Dem gesellschaftlichen Leben eine, seine Richtung zu geben, geben zu können: dies war eine neue, eine beflügelnde Erfahrung. Diese Fundamentalpolitisierung durchzog auch das eine Öffentlichkeit konstituierende und weithin florierende Vereinswesen und gab ihm Aufwind. Vereine wurden zu Orten, in denen nicht weniger als eine neue, vor allem bessere Welt ersonnen wurde. Dabei verstand man es durchaus, sich bei allen restaurativen Einschränkungen Spielräume zu schaffen. Wenn in der Satzung eines von Herder häufig frequentierten Vereins als Hauptziel »auf gut deutsche Art Mittag zu essen« aufgeführt wurde oder sich ein »Disputierverein zur Behandlung schwebender Fragen« regelmäßig traf, eröffnete man sich damit politisch hinterlistige Geselligkeitsforen, die dank der wortspielenden Namen der vom strengen Vereinsrecht vorgeschriebenen polizeilichen Aufsicht entgingen.5 In dieser ebenso redseligen wie schreib- und lesefreudigen Zeit waren es neben den Schriftstellerinnen und Schriftstellern6 nicht zuletzt die Journalisten und Publizisten, die buchstäblich federführend Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsvisionen zu Papier brachten und auf offene Ohren stießen. Auch wenn sie aufgrund ihrer wenig geradlinigen, häufig porösen Berufsbiographien nicht unbedingt den Ruf solider Bürgerlichkeit genossen, beherrschten sie, indem sie für Zeitschriften schrieben oder eigene Bücher verfassten, die zu ihrer Zeit einzigen und einschlägigen Kommunikationsmedien mit schnell wachsendem Verbreitungsgrad. »Bei einer so leselustigen Nation bilden die Schriftsteller eine Art Macht durch ihren Einfluß auf die öffentliche Meinung«, bestätigt dies der liberale Staatsreformer Freiherr von Stein. Und Ernst Moritz Arndt übertrug seinen Schriftstellerkollegen geradezu offiziell das politische Mandat der Volksaufklärung, Identitätsstiftung und -stärkung.7 Gleichzeitig ging es Mitte des 19. Jahrhunderts darum, die mit der Revolution vorerst zerstobene Vision eines geeinten Nationalstaates durch neue Identifikations- und Identitätsangebote wieder zu nähren. Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, die Freunde Clemens von Brentano und Achim von Arnim sind nur die bekanntesten unter ihnen, die bereitwillig mithalfen, Quellen der »deutschen Seele« aufzutun und die Idee der »deutschen Kulturnation« mit Stoff zu füllen, ohne – wahrscheinlich – dabei die Staatsnation vor Augen zu haben. Genau das, wovor Schiller in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung gewarnt 4 | Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1081. 5 | Vgl. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 239. 6 | Thomas Piketty hat vor allem Jane Austen und Honoré de Balzac als gute Analysten ihrer Gesellschaft hervorgehoben. Gleiches gilt auch für Theodor Fontane und Thomas Mann. Siehe Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2015, S. 13f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Reese-Schäfer in diesem Band. 7 | Vgl. R. Safranski: Romantik, S. 185.

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hatte, nämlich mit »Künstlichkeit das Natürliche«, mit »Raffinement das Naive«8 nachzuahmen, taten sie: Brentano und Arnim mischten eigene Gedichte unter ihre Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, und die Gebrüder Grimm haben die Sprache ihrer Märchen weniger dem Volke abgelauscht als in den Mund gelegt. Von der Macht der zeitgenössischen Publizisten, Geschichte, Gegenwart und Zukunft zu erfinden, war auch Riehl erfüllt und sich sicher, mit seinem Akzent auf die Eigenarten der »deutschen Familie« ebenso Gehör zu finden wie seine Mitstreiter. Er meldete sich zu Wort in einer historischen Stunde, als die Abkehr von Schicksal und Zufall gefeiert wurde und die planbare, nach allen Seiten offene Zukunft das Möglichkeitsbewusstsein nahezu unbegrenzt erweiterte. Das war – zumindest in dieser Dimension – neu. Doch zu den Allmachtsphantasien gesellschaftlicher Gestaltbarkeit gesellten sich gleichzeitig Krisendiagnosen und Untergangsprognosen. Reinhart Koselleck hat diese skeptische Begleitmusik der Moderne als »Pathogenese der bürgerlichen Welt« beschrieben und damit ihre ambivalente Signatur prononciert.9 Die Kritik als Errungenschaft der Aufklärung ist, so seine These, die Voraussetzung der Krise, Kritikfähigkeit und Krisenbewusstsein bilden das Fundament moderner Selbstentwürfe und Gesellschaftszuschnitte. Anders als zeitgenössische Geschichtsphilosophen und spätere Gesellschaftswissenschaftler, die die Moderne lange Zeit als teleologisch fortschrittsorientiert positiv verklärten, war vielen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts die Janusköpfigkeit ihrer Zeit und Welt, auf die die Kosellecksche Medizinmetapher verweist, sehr wohl bewusst. Der Krisis-Begriff zur Illustration tiefgreifender Zäsuren bürgerte sich bereits im späten 18. Jahrhundert ein. Auch Riehl machte ihn sich zu eigen. In seiner Trilogie Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik (1851-1855), in der er Land und Leute[n] seinen ersten Band widmete, dann Die Bürgerliche Gesellschaft (Bd. 2) ins Visier nahm, um mit dem dritten Band Die Familie, die »universellste aller Gliederungen der Volkspersönlichkeit«10 zu betrachten und damit den in seinen Augen konsequenten »Schlußstein«11 zu setzen, ging es ihm um das Ausleuchten der Auswirkungen einer rasant fortschreitenden Industrialisierung. Immer Raum und Institution zusammendenkend und auf einander beziehend sind es vor allem die Urbanisierungsprozesse der Industrialisierung, die er als Wurzel allen Übels identifiziert: »[W]ohl aber sind zahllose kleine Städte, blühende Flecken und Dörfer dem Kränkeln, Abmagern und Absterben eben so sicher geweiht, als sich den großen Städten eine immer unförmlichere Corpulenz ansetzen wird. Darin liegt die europäische Krisis.«12 Es ist bezeichnend, dass Riehl hier von einer »europäischen Krisis« schreibt. England und Frankreich erscheinen in seiner Zeitanalyse, mal explizit, mal im Hintergrund, immer als Negativfolien eines auch Deutschland drohenden »Verfalls«.13 Eben diese grenzüberschreitende Perspektive verweist auf eine gewandelte Qualität 8 | Schiller, Friedrich: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in: Die Horen 1795/96. 9 | Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1959. 10 | Ebd., S. VII. 11 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Familie. Vorwort zur ersten Auflage, Stuttgart 101889, S. V. 12 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Land und Leute, Stuttgart 61867, S. 66f. 13 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 81885, S. 269. In der ersten Auflage von 1851 hieß es an gleicher Stelle noch »Entartung« (S. 258).

Blick zurück nach vorn

der zeitgenössischen Gegenwartsdiagnosen: Die durch neue Verkehrsmittel und -wege beförderte Wahrnehmung einer zunehmend zusammenrückenden Welt forcierte einerseits den ständigen Selbst- und Fremdvergleich als Vergewisserung und Verunsicherung zugleich. Andererseits barg die neue Nähe zum Fremden auch die Gefahr der »Ansteckung«, des sich »Inficirens« mit als schädlich erachteten Entwicklungen. Eng verbunden mit dem neuen Nähe-Gefühl identifizierte Koselleck die Übergangserfahrung der Beschleunigung als aufstörende Wahrnehmung der Sattelzeitgenossen.14 Ein anderer Bestsellerautor des 19. Jahrhunderts, August Bebel, brachte dies gleich mit seinen ersten Sätzen auf den Punkt: »Wir leben im Zeitalter einer großen sozialen Umwälzung, die mit jedem Tage weitere Fortschritte macht. Eine stets stärker werdende Bewegung und Unruhe der Geister macht sich in allen Schichten der Gesellschaft bemerkbar und drängt nach tiefgreifenden Umgestaltungen.«15

Die Eisenbahn und ihr schnell erweitertes Streckennetz galten als Segen und Fluch zugleich, die die Landschaft durchfurchenden »Dampfrösser« faszinierten und verschreckten. Reisen wurde ungemein bequemer und ungemein gefährlicher. Veränderungen, so das aufregende Grundgefühl der Zeit, geschehen zügiger als in der Vergangenheit. Und die Zukunft, so empfanden sie es, würde sehr Anderes, bislang nicht Erahntes und dieses Andere sehr viel schneller bringen als bisher. Die Krisis, verstanden als entscheidender Umbruchsmoment, wurde als Dauerphänomen und die Erfahrungsrhythmen als unaufhaltsam akzelerierend internalisiert.

2. »Z auberschloss der Z ukunf t«? R iehls F amilienkonzep t Kein Wunder, dass unter solchen Umständen die Suche nach Halt und Ankerpunkten opportun, ja überlebenswichtig erschien. Konstanten und Kontinuitäten waren gefragt, Optionen der Konstanz, die Familie die Antwort. Als eine Keimzelle des »Organismus Gesellschaft« rückte Wilhelm Heinrich Riehl sie ins Zentrum seiner Betrachtung und schrieb über sie »ein altes Buch in unserer schnell lebenden Zeit«.16 Als »Schwer- und Angelpunkt« des »social-politischen Lebens« sieht er die Familie als stabilisierende Kraft. »Ja mir scheint sogar«, so führt er aus, »in dem Maße, als wir beweglicher wurden in Staat und Gesellschaft, blieben wir um so beharrender in der Familie«.17 In einer Zeit, die in rasantem Tempo die Vergangenheit überrollte, rekurrierte Riehl, die Stimmung Vieler ahnend und nährend, auf konservative Werte und bewährte Traditionen. Ja, so der Tenor, Fortschritt ist gewünscht, doch nur mit Rückzugsorten der Entschleunigung auch aushaltbar. Allein mit Rekurs auf die Geschichte und das in ihr Bewährte wird die Gesellschaft

14 | Imbriano, Gennaro: »Krise« und »Pathogenese« in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 2, 2013, S. 38-48, hier S. 45. 15 | Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus, Frankfurt a.M. 1985 (urspr. 1895), S. 25. 16 | W. H. Riehl: Die Familie, S. X. 17 | Ebd., S. XIII (Vorwort zur neunten Auflage).

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den Herausforderungen der Moderne standhalten und zum neuen »Zauberschloss der Zukunft« avancieren können.18 Verantwortlich »für den Fortbestand wie für die Verjüngung unserer gesammten bürgerlichen Gesellschaft« ist die Familie mit der stabilisierenden und tradierenden Aufgabe der Erziehung der nachwachsenden Generation der Garant einer globalen Zukunft: »Zuerst soll ihnen [den Kindern] das Haus erschlossen werden, nachher die ganze Welt.«19 Wer die Familie erforsche, betrachte damit »die universellste aller Gliederungen der Volkspersönlichkeit […] und der Socialpolitiker wird hier häufig sogar über den Gesichtskreis der Nation hinaus auf die Culturgeschichte der Menschheit blicken müssen.«20 Im Widerspruch zu seinen gleichzeitigen Untergangsprognosen, die auf eine dynamische Entwicklung der Familie verweisen, scheint in solchen Sätzen die Riehlsche Familie als naturalisierte, anthropologische Konstante auf. Dabei war sie zu der Zeit gerade erst als Thema gesellschaftspolitischer Diskurse entdeckt worden, eben weil auch sie sich nicht den gesellschaftlichen Umbruchprozessen entziehen konnte.21 Immerhin war der Begriff Familie zwar vergleichsweise neu, nach Einschätzung der Grimms in ihrem Wörterbuch erst eine Geburt des 18. Jahrhunderts, seitdem aber auf dem Siegeszug durch den deutschen Wortschatz.22 Wie schnell sich der Begriff durchsetzte, zeigen die im Wörterbuch noch folgenden neunzig Komposita, die von »Familienabenteuer« über »Familienglück« bis zum »Familienzwist« reichen. Spätestens mit der Wende zum 19. Jahrhundert war der Begriff »Familie« in der Welt, nun anders definiert als das »Haus«, quantitativ verschlankt, auf die Verwandtschaft fokussiert und pathetisch aufgeladen. »Die Mitglieder derselben Familie«, so formulierte es Freiherr von Knigge, »durch ähnliche Organisation, gleichförmige Erziehung und gemeinschaftliches Interesse harmonisch gestimmt und aneinander geknüpft, fühlen füreinander was sie für Fremde nicht fühlen.«23 Jetzt wurde allenthalben beobachtet, dass mit der Familie etwas geschieht oder nicht geschehen darf, »sie ist hineingenommen in den historischen Prozess, ihr wächst das Element der Entwicklung zu; mit anderen Worten, sie erhält ihre ›Geschichte‹ als Naturwesen, die gegen die Mitte des [19.] Jahrhunderts und seitdem unablässig geschrieben wird.«24

18 | Ebd., S. 98. 19 | Ebd., S. 164. 20 | Ebd., S. VII. 21 | Budde, Gunilla: Kraftentfaltung in der Krise. Familie aus historischer Sicht, in: Forschung & Lehre 12, 2015, S. 988-991; Dies.: Familie im Fokus der Geschichtswissenschaft, in: Wonneberger, Astrid/Stelzig-Willutzki, Sabina/Weidtmann, Katja (Hg.): Familienwissenschaft. Grundlagen und Überblick, Heidelberg 2017, S. 149-175. 22 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., München 1984 [urspr. 1838ff.], Bd. 3, Sp. 1305f. (URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Ver​ netzung&lemid=GF00703#XGF00703 [14.5.2018]). 23 | Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen, Frankfurt a.M. 1788/1977, S. 145. 24 | Schwab, Dieter: Art. »Familie«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 2, S. 253-301.

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Einen wesentlichen Anstoß für dieses unablässige Schreiben über die Familie gab fraglos Riehl mit seinem Bestseller, bestärkt auch durch die Tatsache, dass es gerade zwischen 1780 und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Deutschland von Programmen wimmelte, die, mit Verweis auf den Verlust ihrer erwerbswirtschaftlichen Komponente, die soziale Rolle der Familie zurückzudrängen suchten.25 Progammatisch gegen diese Tendenz, die Familie auf das rein Private zu reduzieren, schlug Riehl gänzlich andere Töne an. Das Gros der Familiensoziologie gesteht ihm gerade deshalb bis heute das Verdienst zu, erstmalig Familie als eigenständige Gruppe untersucht und damit die Familienforschung ins Leben gerufen zu haben. Mehr noch: In Zeiten, in denen neue Wissenschaftsdisziplinen sich durchzusetzen und altehrwürdige zu überholen begannen, ging es ihm darum, Familie als das angesagte und existentielle Thema gesellschaftlicher Diskurse zu etablieren. »Die Lehre von der Familie muß ebensogut wie die Gesellschaftskunde als ein selbständiger Wissenschaftszweig bearbeitet werden, oder unsere ganze Staatswissenschaft steht in der Luft. Mit dem bloßen Familienrecht ist es hier nicht gethan. Die Lehre von der Familie ist eine sociale Disciplin, ein Theil der Volkskunde.« 26

Wie stark seine Ausführungen dann inhaltlich von seinen subjektiven Erfahrungen geprägt sind – im Übrigen ein nahezu durchgängiges Kennzeichen der Familiensoziologie – unterstreicht die Strukturierung und Akzentuierung des Familienbuches. Zwei Beunruhigungen, die eine von innen, die andere von außen, identifiziert er als Störfaktoren im Familiengetriebe. Die ersten hundert Seiten, Mann und Weib betitelt, setzen sich mit dem namentlich im Zuge der 1848er Revolution akut gewordenen Thema der »Frauenemancipation« auseinander. Der Duktus lässt ahnen, wie alarmierend die bewegten Frauen auf viele Zeitgenossen wirkten: »Der Märzsturm dieser weltgeschichtlichen Frühlings-Tag- und Nachtgleiche rüttelte auch an allen Pfosten des deutschen Hauses. Da traten aus diesem sonst so verschwiegenen Hause gelehrte Streiterinnen des Humanismus, die mit Latein und Griechisch um sich schlugen und in den klassischen Staats- und Privatalterthümern besser zu Hause waren als in den ›Alterthümern‹ der strengen deutschen Haussitte. […] Die Geschichte unseres politischen Elendes läuft parallel mit unserer Geschichte der Blaustrümpfe. Wo aber das öffentliche Lebens einen kräftigen neuen Aufschwung nimmt, da sind allezeit die Frauen in den Frieden des Hauses zurückgetreten.« 27

Den Platz der Frauen am häuslichen Herd als naturgegeben zu deklarieren und alle davon abweichenden Ambitionen zu diffamieren, gehörte zur Zeit der Riehl’schen Auslassungen durchaus zum common sense. Mit dem Ergänzungstheorem der Geschlechter, wonach Mann und Frau, Vater und Mutter von Natur aus wesensmäßig als grundverschieden und sich damit ideal ergänzend betrachtet wurden, ließ sich auch die Arbeitsteilung, der Mann als Haupt, die Frau als Seele, in der Familie als 25 | Ebd., S. 271f. 26 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 9. Mit dem Familienrecht rekurrierte er auf die 1131, die Familie betreffenden Paragraphen des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. 27 | Ebd., S. 49, 55f.

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natürlich bestimmt legitimieren. Hier schwamm Riehl mit dem mainstream, nach dem, von ärztlicher Expertise wissenschaftlich verbrämt und mittels Lexikaartikel zum Standard fixiert, der biologische Unterschied der Geschlechter über ihren Platz in der Gesellschaft bestimmen sollte.28 Darin wollte Riehl durchaus keine »Diskriminirung«, sondern eine Aufwertung der Frauen sehen. Indem er sich für die Familie stark machte und sie für die Zukunft stärken wollte, plädierte er für die Anerkennung familialer Leistungen für die Gesellschaft. »Ich bin ein Mitkämpfer für die verrufende ›Emancipation der Frauen‹, indem ich kämpfe für bedeutend erweiterte Geltung und der Berücksichtigung der Familie im modernen Staat. Denn in der Familie stecken die Frauen«. Solange jedoch die Lehre von der Familie »das Aschenbrödel unter den Disciplinen der Volkskunde« bleibe, würde die Bedeutsamkeit der Frauen für das Familienleben nicht im rechten Licht stehen.29 Neben der Erschütterung der Familie aus den eigenen Reihen durch weibliche Ausbruchsversuche sah Riehl vor allem Begleiterscheinungen der frühen Industrialisierung wie das Auseinandertreten von Familien- und Arbeitsleben, die Verstädterung, die Proletarisierung der Lohnarbeiterschaft und staatliche Eingriffsversuche als Ensemble moderner Phänomene, das sowohl die Familie selbst nachhaltig aufstöre als auch ihre Funktion als sozialen Ankerpunkt gefährde. Nicht, wie man hätte erwarten können, das bürgerliche Familienideal der zweigenerationalen Kernfamilie, das Riehl als Ehemann und Familienvater selbst lebte und das klassenübergreifend als vorbildlich galt, sondern ein Zurück zu einem alten, vermeintlich dominanten Familienmuster setzte er als anachronistische Zukunftsvision dagegen. Das »ganze Haus«, verstanden als harmonisches Miteinander zwischen Familienmitgliedern und dem häuslichen Gesinde unter einem Dach, die Loyalität und Verbundenheit füreinander empfinden und einträchtig zusammenleben und arbeiten, verbunden durch gleichen Wertehorizont und gemeinsame Zukunftserwartungen, verknüpft durch die Akzeptanz klarer hierarchischer, geschlechtsspezifischer Rollenverteilungen schwebte ihm vor: »Die moderne Zeit kennt leider fast nur noch die ›Familie‹, nicht mehr das ›Haus‹, den freundlichen, gemüthlichen Begriff des ganzes Hauses, welches nicht bloß die natürlichen Familienglieder, sondern auch alle jene freiwilligen Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt, die man von Alters mit dem Worte ›Ingesinde‹ umfaßte. In dem ›ganzen Hause‹ wird der Segen der Familie auch auf ganze Gruppen sonst familienloser Leute erstreckt, sie werden hineingezogen, wie durch Adoption, in das sittliche Verhältniß der Autorität und Pietät. Das ist für die sociale Festigung eines ganzen Volkes von der tiefsten Bedeutung.« 30

Dies war insofern im doppelten Sinne eine retrofiktionale Utopie, als diese Form familialen Zusammenlebens zwar punktuell in europäischen Gesellschaften auftrat, aber immer im Verein mit einem auch historisch pluralen Spektrum anderer 28 | Siehe hierzu auch den mittlerweile klassischen Aufsatz von Hausen, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393. 29 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 10. 30 | Ebd., S. 156.

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familialer Varianten, ohne eine hegemoniale Strahlkraft in Anspruch nehmen zu können. Durch den sowohl geschlechter-, generations- und klassenübergreifenden Zuschnitt seines Konzepts verkörperte das »ganze Haus« Riehlscher Phantasie, harmonisch vereint durch klare Autoritätsstrukturen und verbunden durch den Wert der »Pietät« im Sinne der respektvollen Anerkennung der Anderen und ihres Andersseins, einen gedeihlichen Gegenentwurf zu besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte, die schon Zeitgenossen als »sociale Frage« und als die Herausforderung ihrer Zeit umtrieb. Als besonders erschreckenden Nebeneffekt dieser Entwicklung sah er, ähnliche wie sein Zeitgenosse Friedrich Engels, der dies zehn Jahre zuvor bereits in England beobachtet hatte, in der erbärmlichen Lebenswirklichkeit großstädtischer Arbeiterfamilien. Ihre wirtschaftliche Notlage zwänge sie, Familienfremde als zahlende Schlafgänger in ihren beengten Wohnstätten zu beherbergen. Frauen und Mütter könnten, da sie ebenfalls einer Arbeit nachgingen, ihrer Erziehungsaufgabe nicht gerecht werden. Auch wenn August Bebel, in seiner vielgelesenen Studie Die Frau und der Sozialismus von 1895 die Situation proletarischer Familien in ähnlich dunklen Farben zeichnete, schlug er eine – nur auf den ersten Blick – sehr andere Lösung vor: Selbst wenn das Buch über weite Strecken als flammendes Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau gelesen werden kann, hielt er darin an der überkommenen familialen Arbeitsteilung grundsätzlich fest. Familienarbeit war für Bebel Frauenarbeit, der Familienraum Frauenraum. So distanzierte er sich mit Nachdruck von den männlichen »Haushältern« mit »vorgebundener Schürze«, wie sie vermeintlich in nordamerikanischen Fabrikstädten, »she towns«, »Frauenstädten«, in denen die Familienmütter das Geld nach Hause brächten, an der Tagesordnung seien.31 Dagegen empfahl Bebel, die »Privatküche«, bei der den Frauen »Gesundheit und gute Laune abhanden« kämen, durch weiblich betriebene Zentralküchen zu ersetzen.32 Auch eine Entlastung von der primären Erziehungsaufgabe der Eltern durch Spielsäle und Kindergärten, Schulspeisung und mehr Lehrkräfte schlug er vor, ohne damit die Bedeutung von Mutter und Vater für die Primärsozialisation zu hinterfragen. Damit lag er gar nicht so weit von Riehl entfernt. Beide proklamierten den Abschied von der zeitgenössisch gefeierten Kernfamilie und den Einbezug von Familienfremden ins Familienleben. Gänzlich einig waren sie sich überdies in der dezidierten Ablehnung staatlicher und bürokratischer Eingriffe in die Privatsphäre. Während Bebel in der klassenlosen Gesellschaft davon ausging, dass »das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse […] auf einem Gebiet nach dem andern überflüssig« wird und dann von selbst »einschläft«,33 verurteilte Riehl aufgrund der moralischen Überlegenheit der Familie jegliches Bestreben staatlicher Steuerung als absurdes Ansinnen. Entsprechend geißelte er die Motive hinter jeglichem staatlichen Engagement als rein utilitaristisch-ökonomistisch und wenig sensibel-wertschätzend gegenüber der Eigen-Art der Familie: »In der Blüthezeit des büreaukratischen Regiments, die zugleich die Blüthezeit der Verleugnung des Hauses gewesen, wurde zuerst durch volkswirthschaftliche Bedenken das Auge 31 | A. Bebel: Die Frau und der Sozialismus, S. 159. 32 | Ebd., S. 510. 33 | Ebd., S. 482

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Gunilla Budde der Staatmänner wieder auf die Familie gelenkt. Ueber den Geldkasten führte der Weg ins Allerheiligste des bürgerlichen Lebens. Das Haus ward wieder ein Stoff für den Verwaltungspolitiker, als man nach dem plötzlich erhobenen Schreckensruf von der drohenden Ueberbevölkerung nachzudenken begann.« 34

Familie auf ihre rein quantitative Reproduktionsfunktion zu reduzieren und dabei ihre ideellen Werte zu marginalisieren, sah Riehl überdies als Lernen vom falschen Vorbild. Internationale Vergleiche zog er immer wieder als negative Kontrastfolie heran. Nordamerika war dabei das übliche Zerrbild, gefolgt von Frankreich und England. Der rein »volkswirthschaftliche« Blickwinkel, den er hier unterstellte, habe sogar dazu geführt, aus ökonomischen Gründen die Familienfeste par excellence wie Weihnachten und Ostern auf einen Tag zu reduzieren.35 Auch hier bliesen Riehl und Bebel ins gleiche Horn. Vor allem in Frankreich mit seinem »berühmt und berüchtigt gewordenen Zweikindersystem« sah Bebel eine fatale Tendenz, dass »ökonomische Zustände« Eheschließungen und Geburten »beherrschen« und den Hang zur »Geldehe« als allgemein europäisches und nordamerikanisches Phänomen und Indiz der Dekadenz der Bourgeoisie.36 Trotz aller politischen Differenzen: Mit Blick auf die Familien teilten der sozialdemokratische und der konservative Gesellschaftsbeobachter die eher liberale Grundhaltung, die Familie als individuelle Schutzzone zu bewahren und staatliche und ökonomische Einflüsse auf die Familiengestaltung abzulehnen. Bei Bebel waren es dagegen weniger die Vorschläge zur Familiengestaltung als vielmehr das Emanzipationsversprechen, das dem Buch so große Resonanz einbrachte. Bei Riehl war es eher umgekehrt. Während vor allem am Jahrhundertende seine Seitenhiebe auf die Frauenbewegung Gegenwind ernteten, fand sein Entwurf der Idealfamilie indessen ganz offensichtlich weithin Gehör und Zustimmung nicht zuletzt bei denen, die sich von ihm so einfühlsam und angemessen beschrieben fühlten. Doch dies war nur ein Aspekt seines Erfolgskonzepts. Sein Buch überzeugte nicht zuletzt auch durch seinen sehr eigenen, hochgradig innovativen methodischen Zugang und ansprechenden Darstellungsstil. Ganz offensichtlich wirkte er bei seiner bildungsbürgerlichen Leserschaft ebenso authentisch wie glaubwürdig. Wissenschaftliche Expertise und Innovation, wenn er etwa für die Komparatistik plädierte und sie immer wieder praktizierte,37 paarte er mit Empirie. Er war damit späteren Zeitgenossen, die hinter die Kulissen schauten, wie Paul Göhre und Oskar Stillich, um Jahrzehnte voraus.38 Nicht als »Schreibtischtäter […] 34 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 241 35 | Ebd., S. 305f. 36 | A. Bebel: Die Frau und der Sozialismus, S. 137f. 37 | So plädierte er für die »Vergleichung mit den Zuständen anderer Landstriche«, W. H. Riehl: Familie, S. 93. 38 | Der Pfarrer und Sozialdemokrat Göhre hatte sich in den 1880er Jahre monatelang inkognito unter die Chemnitzer Fabrikarbeiterschaft gemischt und der Nationalökonom Oskar Stillich um 1900 mit seiner breiten Befragung unter Berliner Dienstmädchen und ihren Herrschaften viel Staub aufgewirbelt. Siehe Göhre, Paul: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie, Grunow/Leipzig 1891; Stillich, Oskar: Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin/Bern 1902. Zu Sozialenqueten siehe auch den Beitrag von Timo Luks in diesem Band.

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und offenbar in der Praxis der Befragung sehr geschickt« erarbeitete er sich seine Fallstudien.39 In seinem Wanderbuch aus dem Jahr 1869 erläutert er selbst diese frühe Form der Oral History: »Wenn ich aber Fragen als eine Hauptkunst bezeichne, so meine ich doch keineswegs, daß man ewig fragen, gleichsam als lebendiges Fragezeichen, durchs Land gehen soll. […] Die Leute ungefragt zur rechten Red‹ und Antwort zu führen, das ist erst die wahre Feinheit«. Dass es hierbei von Vorteil war, zum einen den »Stand« der Befragten zu erkennen und zum anderen entsprechend die Fragetechnik zu variieren, galt ihm als Weg des größten Ertrags. »Was uns der Bauer erzählt, ist nur eine Gabe des Glücks, des Zufalls. […] Aber wie er im Reden sich darstellt, erfindet, urteilt, bis auf den sprachlichen Ausdruck hinab, das enthüllt uns oft die schärfsten, nothwendigsten Charakterzüge des Volkes.« Seinen Gesprächspartner durch eigene Erzählungen zum Selbst-Erzählen zu animieren, erweist sich als erfolgreiche Strategie: »Ich führe ihn namentlich auf die Punkte, von denen ich hören, und nicht auf jene, von welchen er am liebsten sprechen möchte.«40 Hier ging offenbar jemand zu Werke, der einerseits geschult in der bis heute aktuellen Praktik des »offenen Interviews« war. Andererseits verriet er auch die damit verbundenen Tücken des Verfahrens. Er führte, wie er selbst-entlarvend bekannte, seine Gesprächspartner dahin, wo er sie haben wollte, hörte, was er hören wollte, und schnitt sich seine O-Töne passförmig zu seiner Theorie. Doch bei aller Manipulation, die seine Diagnose begleitete: In der Form, wie er Gegenwartsanalysen aus buchstäblich eigener Anschauung generierte, erwies er sich als Pionier. Sein konservativ-liberales Weltbild, das seine Diagnose rahmte und seine Beobachtung kanalisierte, traf kurz nach der gescheiterten Revolution durchaus einen Nerv weiter Kreise der Bevölkerung, die er als Leserinnen und Leser ansprechen und mitziehen wollte. Als Jemand, der in das Innerste der Familie vorgedrungen war, eben weil er sich selbst »ein Bild gemacht« hatte, nahm er für sich eine weit glaubwürdigere Expertise in Anspruch als die Staatsbeamten fern der Wirklichkeit. Der deduktiven Abstraktion der Staats- und Volkswissenschaft seiner Zeit setzte Riehl empirisch gesättigte Anschauung entgegen. Der wenig später zum ordentlichen Professor an der Universität München Berufene, der letztlich dann dort doch selbst Statistik lehren musste, machte sich hier stark für eine qualitativ angereicherte Form der quantitativ orientierten Volkskunde seiner Zeit. Er erkannte, dass die Zeit reif war für eine neue Wissenschaft von der Gesellschaft im Allgemeinen und der Familie im Besonderen, die das Zeug dazu hatte, der Königsdisziplin der Philosophie den Rang abzulaufen. In einer Zeit, die sich selbst davon zu laufen schien, galt es, sich der Gegenwart zu vergewissern – und dies gleichzeitig mit Rückblicken in die Vergangenheit und Ausblicken in die Zukunft.41 39 | R. Nave-Herz: Wilhelm Heinrich Riehl, S. 21 (Auslassung im Orig.). 40 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Wanderbuch, Stuttgart/Berlin 1869, S. 11. 41 | Zumindest mit seiner 10 Jahre vor Riehl veröffentlichten Studie zur Lage der arbeitenden Klassen in England ging Friedrich Engels in die gleiche Richtung. Er sah in den Proletarierfamilien, die er rund um Manchester beobachtete, die Zukunftsvision einer hinsichtlich ihrer industriellen Entwicklung rückständigen Gesellschaft, der er das englische Beispiel als Schreckszenario vor Augen hielt; vgl. Krüsselberg, Hans-Günther: Friedrich Engels: Die Vision von der Gleichheit der Geschlechter in Familie, Wirtschaft und Gesellschaft, in: R. Nave-Herz (Hg.): Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits, S. 59-79. Obwohl er

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Hellsichtig erkannte Riehl dabei einen sich durchsetzenden Trend. Die generelle Verwissenschaftlichung und die disziplinäre Ausdifferenzierung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erkennbar war, war nicht davor gefeit, sich elfenbeinturmartig von der Gesellschaft zu entfernen, in Ansatz und Jargon sich selbst zu genügen, und damit nur noch exklusive Kreise zu erreichen. Dies widersprach der Riehlschen Mission zutiefst. In der Annahme, dass seine potentielle Leserschaft, belesen einerseits, doch anderseits vornehmlich heimisch im literarischen Stil der zeitgenössischen Belletristik, einem wissenschaftlichen Text eher dann rezipierte und akzeptierte, wenn er poetisch verpackt daherkam, versuchte er sich entsprechend anzupassen und als bodenständiger Beobachter ohne jeglichen Wissenschaftsmanierismus aufzutreten. Gerne imitierte er, wie Wolf Lepenies es treffend pointiert hat, den »Taugenichts-Ton«,42 den Eichendorff mit seiner Novelle drei Jahrzehnte zuvor geprägt hatte, mit kaum verhohlenen Seitenhieben auf den aufkommenden Wissenschaftshabitus seiner Zeit: »Denn lieber wollte ich die doch in der Regel ziemlich wohlfeile Gelehrsamkeit von Citaten und anderswo abgeschriebenen statistischen Notizen preisgeben, als die künstlerische Freiheit der Darstellung. Wie ich durch ein lustiges Wanderleben erst ins Bücherschreiben hineingewandert bin, so sollen auch meine Bücher allerwege lustig zu lesen seyn; die Gelehrsamkeit soll darin stecken, ohne sich selbstgefällig zu präsentiren, und wenn der Autor auch mühselig und langsam, prüfend und zaudernd gearbeitet hat, so wünscht er doch, die Leser möchten gar nichts merken von dieser Mühsal, sondern meinen, das Buch sey nur eben so von selber geworden, nur so von ungefähr hingeschrieben, rasch und unverzagt wie auf der Wanderschaft und immer mit gutem Humor, und ohne daß je der Autor vorher den gelehrten Schlafrock angezogen habe.« 43

Dass nicht nur die englische Schriftstellerin George Eliot ebenso das »Tatsachenmaterial« wie die »daraus ableitbare Weltanschauung« in ihrer Rezension in der Westminster Review ausdrücklich lobte, verweist auf einen durchaus internationalen Diskurs, der das gesamte 19. Jahrhundert durchzog. Die Frage, wie das Volk im Allgemeinen und die Unterschichten im Besonderen adäquat darzustellen seien, geriet zum Wettbewerb zwischen Autorinnen und Autoren vom »Bestsellergenre Sozialroman«44 und den aufkommenden Sozialwissenschaften. »Sentimentale Literaten« standen »herzlosen Theoretikern« gegenüber, so dass Publizisten wie Riehl, die »bilderreich und beobachtungsscharf« schrieben, zum Vorbild erkoren wurden.45

immer wieder für die Gleichberechtigung der Geschlechter antrat, hatte er eine strikt arbeitsteilige Vorstellung der Elternschaft, die in der Erwerbstätigkeit der Mütter eine Gefahr für die Familie sah (ebd. S. 68f.). 42 | Lepenies, Wolf: Prolog. Handwerker und Poet dazu: W. H. Riehl, in: Ders.: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/Wien 1985, S. 239-243, hier S. 242. 43 | Riehl, Wilhelm Heinrich: Land und Leute, Vorwort zur zweiten Auflage, Stuttgart 1855. 44 | Zur Hochkonjunktur von »Sozialromanen« siehe Kocka, Jürgen: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015, S. 343-366. 45 | W. Lepenies: Prolog, S. 240.

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Während beide häufig die proletarische Familie ins Zentrum rückten, gab es ein weiteres literarisches Genre, in dem eher die (klein-)bürgerliche Familie als Protagonistin auftrat und das zeitgenössische Familienbild mit entwarf. Bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erschien die Familie auf den Theaterbühnen vornehmlich und vielsagend in einem Gewand: dem bürgerlichen Trauerspiel. Schon in ihren Anfängen wird damit die bürgerliche Familie als ein »beschädigter, transitorischer und exzentrischer Raum« vorgeführt.46 Auch wenn sich Riehl auf diese Gattung mit keinem Wort bezieht, greift er doch Topoi der Familiendramen auf. Dazu gehört vor allem die Rolle des »schwachen Vaters« – auch dies ein sich durchziehender roter Faden aller Untergangszenarien auch ein Jahrhundert später – der aufgrund seiner beruflichen Einbindung immer mehr zum Zaungast der Familie verkommt.47 Väter, die vorgäben, keine Zeit für die Erziehung ihrer Kinder zu haben, gehören nach Riehl zu den inneren Widersprüchen des häuslichen Lebens.48 Statt seinen Kindern »den ersten Blick in die Welt zu vermitteln«, verlöre er sich selbst in dieser.49 Die Tendenz des Selbstbezugs illustrierte Riehl in narrativen Bildern. Die generelle »Vereinsamung der Familienglieder selbst im Innern des Hauses« veranschaulichte er, indem er architektonische Veränderungen familialer Wohnkultur evozierte.50 Ihm, dem das »ganze Haus« als Ideal vorschwebte, erschien es naheliegend, auch das Haus selbst als Verkörperung der Idee der Familie zu interpretieren, eine Homologie zwischen Raum und Institution zu kreieren. In der Kunst, durch seine Art der Beschreibung ein breites Repertoire von Bildern in den Köpfen seiner Leserschaft hervorzurufen, zeigte sich Riehl als Meister. Diese Visualisierung seiner Diagnose war eine durchaus bewusst gewählte Taktik, denn er selbst beschrieb diesen Kunstgriff wie folgt: »Wie eine Illustration dem Texte, stellt sich dieses Kapitel dem vorigen gegenüber. Die Architektur des modernen Wohnhauses ist das steinernde Sinnbild der erlöschenden Idee vom ganzen Haus.«51 So wie er bereits im Vorwort mit dem »Schlußstein« die Baumetapher anklingen ließ, führte er sie später entsprechend weiter aus: »Schauen wir in das Innere unserer Wohnungen, so findet sich’s, daß das ›Familienzimmer‹, der gemeinsame Aufenthalt für Mann und Weib und Kinder und Gesinde immer kleiner geworden oder ganz verschwunden ist. Dagegen werden die besonderen Zimmer für einzelne Familienglieder immer zahlreicher und eigenthümlicher ausgestattet.« 52

Als besondere »Unsitte« empfand er es, dass gerade das »Kinderzimmer« möglichst entfernt vom elterlichen Schlafgemache zu sein habe, »denn«, auch hier wie46 | Koschorke, Albrecht u.a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, Paderborn 2010, S. 16. 47 | Dieter Lenzen hat darauf verwiesen, dass »Vaterfeinde unter Literaten« seitdem nahezu durchgängig zu finden waren und das Ausscheren aus der Familie begleiteten: Lenzen, Dieter: Vaterschaft. Vom Patriarchat zur Alimentation, Reinbek b. Hamburg 1991, S. 221. 48 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 359. 49 | Ebd., S. 26. 50 | Ebd., S. 179. 51 | Ebd., S. 173. 52 | Ebd., S. 179f.

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der ein Seitenhieb, »ein ›gebildeter‹ Vater kann in der Regel gar kein kleines Kind mehr schreien hören. Wer aber Kinder in die Welt setzen will, der muß sie auch können schreien hören.«53 Diese funktionale Trennung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vornehmlich in bürgerlichen Wohnungen durchzusetzen begann, geißelte Riehl als schrittweise Abkehr des familialen Miteinanders, als Vereinzelung der Familienmitglieder, die ihren Zusammenhalt nicht im »Familienzimmer« lebten, sondern im »Salon« zur Schau stellten. Dieser geriet in seinen Augen zum Symbol der Hegemonie französischen Einflusses auf die deutsche Kultur. »Der Salon dient aber auch nicht, wie jene Räume, dem ›Hause‹, sondern der ›Gesellschaft‹ und diese Gesellschaft des Salons ist weit entfernt, gleichbedeutend zu sein mit dem engen, festgeschlossenen Kreis der Freunde des Hauses. Die nichtsnutzige sociale Fiction der sogenannten ›Gesellschaft‹, als des Inbegriffs einer Gruppe von interessanten oder eleganten feinen Leuten, bei denen man von den bürgerlichen, häuslichen und sittlichen Qualitäten absieht, die bonne société, bezeichnet vielmehr geradezu die Auflösung des häuslichen Freundeskreises und des Familienlebens.« 54

Mit der Durchsetzung des »Salons« beschreibt Riehl auch eine veränderte Stoßrichtung der Familie: Sie wendet sich, zu ausgewählten Anlässen, demonstrativ nach außen, setzt sich in Szene und vernachlässigt darüber die Pflege des Inneren. Auch diesen Richtungsschwenk sieht er in baulichen Veränderungen wiedergespiegelt. Nicht das eigene Zimmer als Rückzugsort, sondern der »Erker« in seiner Eigenart versinnbildlichte für ihn die angemessene Balance zwischen dem Individuum und seiner Familie: »Das architektonische Symbol für die Stellung des Einzelnen zur Familie war im alten Haus der Erker. Im Erker, der eigentlich zum Familienzimmer, zur Wohnhalle gehört, findet der Einzelne wohl seinen Arbeits-, Spiel- und Schmollwinkel, er kann sich dorthin zurückziehen: aber er kann sich nicht abschließen, denn der Erker ist gegen das Zimmer offen. So soll auch der Einzelne zur Familie stehen, und nach diesem Grundgedanken des Erkers müßte von Rechtswegen das ganze Haus construirt sein.« 55

Dass die »moderne Baupolizei« gerade diese Erker ins Visier nahm und bei Neubauten zu unterbinden versuchte, war für Riehl das Indiz dafür, dass »die äußerliche Gleichmacherei der Häuser« eng zusammenhinge mit der Nivellierung des Staates, der Gesellschaft, der Familie.56 Das »architektonische Haus der Zukunft« dagegen müsse »von innen« heraus gebaut werden »wie das sociale«. »Schafft erst die neue Familie, dann wird diese Familie sich selbst ihr Haus bilden, – [sic] ›anleiben‹.«57 Baumeister, die ein solches Familienleben der Zukunft internalisiert hätten, würden diesen »organischen« Baustil wie von selbst umsetzen und »gar

53 | Ebd., S. 180. 54 | Ebd., S. 185. 55 | Ebd., S. 187. 56 | Ebd., S. 188. 57 | Ebd., S. 189.

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nicht wissen, wie sie zu demselben gekommen sind«.58 Gesellschaftskonzepte, so die innovative Idee dahinter, müssen nicht nur schwarz auf weiß auf dem Papier ihren Niederschlag finden, sondern können durchaus als steinernes Zeugnis noch augenfälliger in Erscheinung treten. Mit dieser Vorstellung nahm Riehl einen Trend voraus und kehrte ihn gleichzeitig um: Nicht die Familie stilisierte er hier als Objekt des social engineering, sondern vielmehr als aktives Subjekt gesellschaftlicher Gestaltung. »Das ächte Familienleben«, so sein Credo, »ist aber an sich schon eine Form des öffentlichen Lebens.«59 Dass die Familie durch die Praxis ihres Zusammenlebens ihre Umwelt entscheidend mitgestaltete, vor allem aber diese Praxis auch nachhaltig beeinflusste, war ihm sehr bewusst. Nicht Eingriffe von außen, sondern die Selbstheilungskräfte, so das Fazit, sollten letztlich die Krise der Familie abwenden helfen. Ein Rezept dafür verschrieb er ihr nicht. Seine wenigen praktischen Handlungsvorschläge erscheinen als Weg der kleinen Schritte auf den ersten Blick einer Zukunftsvision nicht würdig, passen aber in seine Weltsicht der praxisnahen dichten Beschreibung des gesellschaftlichen Alltags. Zum einen wollte er der deutschen Familien ihren eigenen Rhythmus zurückgeben. Sie habe sich durch »französische Einflüsse« das Zeitregime aus den Händen nehmen lassen und das Mittagessen zunehmend nach hinten verschoben. Man muss dazu wissen, dass nicht nur Berliner Vereine, wie vorn erwähnt, diesem Ritual huldigten, sondern dass bereits vor Georg Simmel60 und der Phalanx heutiger Pädagogen und Soziologen die Bedeutung von gemeinsamen Mahlzeiten der Familie als Instrument der Festigung innerfamilialer Machtstrukturen vor allem in Deutschland beschworen wurde. Nicht zuletzt darum, weil hier anders als in den anglo-amerikanischen Suburb-Gesellschaften die größere Nähe von Familie und väterlichem Arbeitsplatz seine kurzzeitige Rückkehr zur Mittagszeit möglich machte.61 Wie eingespielt dieses Alltagsritual noch im späten 19. Jahrhundert war, bestätigt ein Brief des Studenten Max Weber, den er 1886 seiner Mutter schrieb: »Ein großer Vortheil des Alleinseins ist in dieser Beziehung die dadurch gegebene Möglichkeit einer etwas schnelleren Erledigung der Fütterung. Sonst dehnt sich das Sitzen dabei doch immer ziemlich lange aus, und es ist ja auch andererseits wieder sehr natürlich, da es die einzigen Zeiten sind, wo die ganze Familie unter sich beisammen ist und die Beschäftigung eine der wenigen, bei denen Groß und Klein und die verschiedenen Naturen mit dem gleichen Interesse sich zu beteiligen in der Lage sind.« 62

Vor diesem Hintergrund erklärt sich die exponierte Stellung, die auch Riehl der mittäglichen Familienmahlzeit einräumte. Um ein Zurück in das ursprüngliche

58 | Ebd. 59 | Ebd., S. 65. 60 | Simmel, Georg: Soziologie der Mahlzeit, in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt 41, 10.10.1910. 61 | Vgl. Budde, Gunilla: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, 1840-1914, Göttingen 1994, vor allem S. 82-84. 62 | Brief an Mutter Helene Weber vom 16.6.1885, in: Ders.: Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 159.

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»deutsche Zeitregiment« zu erreichen, schlug er folgende Praktik der Beharrlichkeit vor: »Wohl aber kann man Sitten ganz allmähliche reformiren, indem Jeder bei sich selbst anfängt und ganz still in Wort und Exempel bei Freunden und Bekannten weiter Propaganda macht, bis zuletzt ein allgemeiner Brauch, endlich eine neue Sitte aufkeimt. Es sollte nur einmal eine respektable Zahl unabhängiger Hausväter den Muth haben, ihr Tagewerk wieder zwischen 5 und 6 Uhr Morgens zu beginnen und die Tischzeit zwischen 11 und 12 Uhr zu legen, und so würden bei der natürlichen Zweckhaftigkeit dieser Einrichtung bald Tausende nachfolgen, die sich jetzt noch aus eitel Vornehmthuerei schämen, nach deutsch bürgerlicher Sitte Mittag zu machen. Die Bureaux und Comptoire würden allmählich gezwungen, sich nach diesem Brauch zu richten.« 63

Sich wieder zur gewohnten Zeit am Familientisch zu versammeln ist der eine Rat, der andere, mit Hilfe regelmäßiger Rituale das Familiengedächtnis zu pflegen. Dazu gehörte auch, der Familienchronik, dem neben der Bibel wichtigsten Buch, einen Ehrenplatz einzuräumen. Die Praxis, sie regelmäßig hervorzuholen, sie zu führen, zu aktualisieren und sich durch sie der langen Reihe der Ahnen der familialen Identität zu vergewissern, galt für Riehl als Inbegriff gelebter Familientradition.64 Am Ende seines Buches, »dessen Stoff so vielfach das deutsche Gemüth bewegt«, gibt Riehl sich bescheiden. Als »Socialpolitiker« glaubte er, zukünftige Entwicklungen nur als »Traum einer goldenen Zukunft« phantasieren zu können. »Wir können uns die Zukunft überhaupt ja gar nicht anders denken, als indem wir Vergangenheit oder Gegenwart in ein anderes Colorit umstimmen«. Denn »könnten wir uns die wirklich neuen Elemente der Zukunft auch nur ahnend vorstellen, so würden wir sie damit auch schon halb besitzen und sie wäre eben keine rechte Zukunft mehr, sie wäre schon eine halbe Gegenwart.« Nur wenn »wir die Vergangenheit ergreifen«, so Riehls Variante des berühmten Geschichtstopos, »besitzen wir auch die ganze Gegenwart; die Zukunft aber können wir nur schauen in der Täuschung eines verklärten Abbildes dessen, was wir bereits besitzen.«65 Während hier, in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch ein Zeitgenosse mit viel Verve für den historischen Rückblick und wenig Vertrauen in die gesellschaftliche Prognostik schrieb, hatte sich drei Jahrzehnte und mehrere Auflagen später seine Sichtweise verschoben. »Europa hat sich gründlich verändert, neue Ideale des politischen und socialen Lebens erfüllen und bewegen unser Volk, wir denken anders, empfinden anders wie damals. Wir haben viel lernen und viel vergessen müssen. Den Wandlungen habe ich mich wahrhaftig nicht verschlossen; ich habe redlich an mir gearbeitet vorzuschreiten mit der vorschreitenden Zeit;

63 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 274f. 64 | Ebd., S. 277, 302. Eine solche Familienchronik zu führen, war offenbar häufig Praxis. Erinnert sei auch an die bekannte Passage in Thomas Manns Buddenbrooks, in der Hanno feierlich einen Schlussstrich darin zieht: »Ich glaubte […] es käme nichts mehr« (Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a.M. 2011, Kap. 7). 65 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 302.

Blick zurück nach vorn ich habe, was leicht ist, zu lernen getrachtet, und, was unendlich schwerer, ich habe auch gekämpft, dass ich vergessen lernte.« 66

Vor allem ein Ziel hat er erreicht: Die Familie ist von der Wissenschaft »unendlich tiefer erkannt, sie ist zugleich wieder ein Gegenstand des öffentlichen Interesses in unserem Volke geworden. Erkenntniß ist schon halbe Besserung.«67

3. F amilienkrise als D auerbrenner des 20. J ahrhunderts Das galt erst recht für das 20. Jahrhundert. Gesellschaftswissenschaftler jedweder Couleur widmeten, wenn sie sie nicht gar ins Zentrum stellten, der Familie einen Teil ihres Oeuvres. Diagnosen und Prognosen der Familie der Gegenwart, verstanden als grundlegende Reproduktionsbasis der Gesellschaft, als Kerninstitution zur Bewältigung des Alltagslebens und als gesellschaftliches Integrationsmedium zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse waren nun aber mehr noch als 100 Jahre zuvor vor allem Krisenszenarien, vielfach sogar eher Untergangsprognosen, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Plausibilität nicht mehr unter Beweis stellen mussten. Zu den strukturellen, die Familie tangierenden Veränderungsprozessen, die bereits ein Jahrhundert zuvor ihre Schatten voraus geworfen hatten, kamen weitere hinzu: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor allem als Herausforderung an die Mütter, sich weiter verändernde Geschlechterrollen durch mehr politische Partizipation, demographische Entwicklungen mit nun vermeintlich grundsätzlich anderer Richtung, weitere Optionen der Auflösung der Ehe und eine generell zunehmende Pluralisierung von Familienformen. Im deutschen Fall erweitert durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer perfiden Familienpolitik: Familien – arische – wurden gefördert und gefeiert, andere Familien millionenfach ermordet. Kinder und Jugendliche wurden als Zukunftsträger gepriesen, die Erziehungsverantwortung der Eltern durch konkurrierende Jugendverbände marginalisiert. Nicht zuletzt der Krieg nahm den Familien dann – eine Zeitlang oder für immer – den Vater.68 Die »vaterlose Gesellschaft« in Krieg und langer Nachkriegszeit als fundamentalen Eingriff in die Familie zu sehen, war der konsequente Fokus zeitgenössischer Gegenwartsdiagnosen, die sich jetzt auf Fragen der »Autorität« im Allgemeinen und in der Familie im Besonderen richteten.69 Horkheimer und Adorno setzten hier die ersten richtungsweisenden Zeichen. Mit dieser Akzentuierung verband sich ein Perspektivschwenk hin zu einer eher qualitativ als quantitativ orientierten Gesellschaftsbetrachtung, die im Sinne von Riehl durchaus auch in die Familien hineinzuleuchten versuchte. Auch in den jetzt entstehenden Schriften schwingt der Subtext eines Ideals mit, das wider aller Erfahrung vom väterlichen Oberhaupt 66 | Ebd., S. XIIf. 67 | Ebd., S. 222. 68 | Schelsky, Helmut: Der Vater und seine Autorität. Eine Bestandsaufnahme der Familie in Westdeutschland, in: Wort und Wahrheit 8, 1953, S. 663-672. 69 | Vgl. Imbusch, Peter: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ihr Beitrag zur Familiensoziologie, in: R. Nave-Herz (Hg.): Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits, S. 153174.

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ausgeht und die Familie der Verantwortung unterstellt, als von der Mutter gemana­ gten Rekreationsraum die Imperative der sozialökonomischen Rationalisierungsprozesse zu kompensieren und andererseits für die umfassende Persönlichkeitsentwicklung der Kinder Sorge zu tragen.70 Obwohl durchaus die Schattenseiten dieses Modells diskutiert werden, erscheint eine Schwächung der Vaterrolle als gefahrvolle Erosion bewährter Familienformen. »Nirgendwo sonst in ihren Schriften«, erklärt Peter Imbusch diesen Widerspruch, zeigen Horkheimer und Adorno »so wenig Distanz zu ihrem eigenen (bildungs-)bürgerlichen Hintergrund, nirgendwo sonst idealisieren sie geradezu eigene Lebenserfahrungen und die bürgerliche Familie so sehr« wie in den Aufsätzen zur Familie.71 Eine solche enge Symbiose zwischen autobiographischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Zukunftsentwürfen findet sich dann wenig später auch bei Talcott Parsons, der zu Beginn der 1950er Jahren die »neolokale Gattenfamilie« der amerikanischen Vorstädte, mit altbekannter Rollenverteilung zuständig für die Primärsozialisation der Kinder und die Stabilisierung der Erwachsenenpersönlichkeit, als Durchschnittsmodell festschrieb.72 Hollywoodfilme reproduzierten und visualisierten dieses Muster immer wieder und halfen mit, dieses Bild nachhaltig zu prägen. Offenkundig wird auch hier, dass Parsons vor allem jene Lebensform beschrieb, die »für ihn selbst und seine Berufsgruppe normal und evident war«.73 Dominanz konnte sie keineswegs beanspruchen. Und es war ein Familienkonzept, das, der räumliche Auszug aus den Zentren an die Peripherie versinnbildlichte dies markant, sich weitgehend von äußeren Einflüssen geschützt wissen wollte. Inwieweit Familien von außen gelenkt werden könne und ob vor allem der Staat – schützend – in die Familie hineinlangen dürfe oder gar müsse, gehörte jetzt zu den Kernfragen. Für Riehl, der alle Hoffnung auf die Selbstheiligungskräfte der Familie setzte, waren staatliche Eingriffe unwillkommene Übergriffe. Die Gesellschaftswissenschaftler der fünfziger Jahre zeigten sich da eher verhalten, zumal einige von ihnen in explizit staatlichem Auftrag die Familie unter die Lupe nahmen und als offiziell bestellte Experten und Gutachter staatlicher Regelwerke bestellt wurden. So auch der Schweizer Soziologe René König, der bereits 1946 für den Schweizer Bundesrat eine Empfehlung erarbeitete, ob die Familie als verfassungsmäßig schutzwürdiges Institut anzuerkennen sei.74 Ebenso wie Horkheimer, Adorno und Parsons steht für ihn auch neben der biologischen Reproduktion die Hervorbringung einer sozial-kulturellen Persönlichkeit als »zweite Geburt« im Zentrum. Dabei sieht er den Staat in der Pflicht, gleichsam »vormundschaftlich«, der drohenden »Desintegration der Familie« mit Hilfsmaßnahmen wie Sozialversicherungen, Arbeitszeitregelungen, Mutter- und Jugendschutz zu begegnen und so ihrer »Synchronisation mit gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart«

70 | Ebd., S. 167. 71 | Ebd. 72 | Parsons, Talcott/Bales, Robert F.: Family, Socialization, and Interaction Process, Glencoe 1953, S. 16f. 73 | Ebd., S. 279. 74 | Vgl. Feldhaus, Michael: René König. Von der Notwendigkeit einer Familiensoziologie als Gegenwarts- und Krisenwissenschaft, in: R. Nave-Herz (Hg.): Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits, S. 175-196, hier S. 182.

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den Weg zu ebnen.75 König identifizierte einen eigenen, entschleunigten Rhythmus des »Teilsystems« Familie, den die Gesellschaft als Eigenwert respektieren und entsprechend reagieren müsse. Hier traf er sich, bei allen sonstigen Diskrepanzen, mit Helmut Schelsky, der soziologische Wirklichkeitsanalyse immer auch als »Wertanalyse« verstanden wissen wollte. Ihm war wichtig, eine ausbalancierte Beziehung zwischen Familie und Staat zu erzielen, bei der beide weder zu stark auseinandertreten noch zu eng aufeinander bezogen sein sollten. Die Familie dürfe in ihrer Autonomie nicht beschnitten werden, müsse aber immer auch ihre Aufgabe, die nachfolgende Generation auf die Gesellschaft vorzubereiten, im Auge behalten.76 Dass Schelsky in seinen Familienschriften und namentlich bei den Buchtiteln das Wort »Wandlungen« der »Krise« vorzog, ist Programm. Auch er sieht die Krise, aber gleichzeitig auch die Chance, dass die Familie mit einem strukturadäquaten Formwandel auch in der Zukunft ihre Funktion der »Stabilisierung« weiterhin erfüllen kann. Der »Zusammenhang zwischen der Einsicht in die Gefährdung der Familie und dem Versuch, die Kräfte zur Sicherung ihres Bestandes zu erforschen und daraus Lehren und Anweisungen für politische und soziale Maßnahmen und Verhaltensweisen abzuleiten«, sind für ihn Grundanliegen aller Familiendiagnosen.77 »Kräfte zur Sicherung« des Bestandes der Familie beobachtet Schelsky vor allem in den Flüchtlingsfamilien der fünfziger Jahre. Die Familie als sich in der Not selbst stärkende Gemeinschaft findet er hier besonders eindringlich bestätigt. In Fettdruck heißt es in seinem Bestseller Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart: »Die Flüchtlingsfamilie ist keine Ausnahme, kein Gegensatz zu einer konstant bleibenden Familienverfassung der deutschen Gesellschaft, sondern sie scheint die fortgeschrittenste und ausgeprägteste Form einer Wandlung zu sein, der die deutsche Familie in der Gegenwart überhaupt unterliegt.« 78

Zu Recht, wie Michael Klein betont, verweist Schelsky hier auf eine noch heute aktuelle Blindstelle soziologischer Untersuchungen, die »auf dem Dualismus von Eingesessenen und Flüchtlingen, von ›Heimat und Fremde‹ auf bauen, anstatt die Entwicklung der Gesamtgesellschaft von vornherein zu ihrem Thema zu machen.« 79 75 | Ebd., S. 184. 76 | Schelsky, Helmut: Die gegenwärtigen Problemlagen der Familiensoziologie, in: Specht, Karl Gustav: Soziologische Forschung in unserer Zeit. Leopold von Wiese zum 73. Geburtstag dargebracht, Köln/Opladen 1951, S. 282-296, hier S. 288f. 77 | Schelsky, Helmut: Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 2, 1949, S. 218-247, hier S. 247. Vgl. auch Klein, Michael: Helmut Schelsky, in: R. Nave-Herz (Hg.): Die Geschichte der Familiensoziologie in Portraits, S. 197217, hier S. 203. 78 | Schelsky, Helmut: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 1953. 79 | Schelsky, Helmut: Die Flüchtlingsfamilie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 3, 1950, S. 159-177, hier S. 163.; M. Klein: Helmut Schelsky, S. 211.

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Anders als Riehl, auf den sich Schelsky immer wieder bezieht, war er beim Zusammentragen seines Materials kein Einzelkämpfer. »Rund 120 Studierende« [der ›konservative‹ Soziologe verwandte hier tatsächlich die geschlechtsneutrale Form] der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg hatten zwischen 1949 und 1950 die Aufgabe, insgesamt 167 Flüchtlingsfamilien »längere Zeit zu beobachten, die einzelnen Familienmitglieder zu befragen und ihre Einsichten in einer Monographie der Familie niederzulegen.«80 Das Methodenspektrum reichte von Fragebögen über offene Interviews bis zur reinen Erlebnisbeschreibung. »Durch eine gründliche und gleichmäßige soziologische Vorbildung« entstanden so »soziographische Fallstudien« in Form von Familienmonographien.81 Auffallend bei Schelsky, wie zum Teil auch bei Riehl, sind die sich darin stellenweise diametral widersprechenden Familiendiagnosen: Auf der einen Seite wird auf die Stabilisierungsleistung der Familie in der Krise abgehoben, die private Abschließung vor äußeren Einflüssen und das Festhalten an alten Leitbildern beschworen, andererseits konstatiert er Mobilität, Desorganisation, Individualisierung als unübersehbare Tendenzen, begleitet von Besitzergreifungsambitionen »durch Organisationen und Bürokratien«.82 Ihm selbst ist diese Widersprüchlichkeit offenbar sehr bewusst, doch auflösen kann und will er sie nicht. Stattdessen schlägt er vor: »Wir glauben, daß die Soziologie heute gezwungen ist, für eine entwicklungsgeschichtliche Ortsbestimmung unserer Gegenwart mehrere Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung mit in sich gegenläufigen Entwicklungen anzunehmen, will sie nicht die Tatsachen der sozialen Lage in ihrer Fülle und Widersprüchlichkeit dogmatisch vereinfachen oder in die Aufgaben und Denkweisen der Geschichtsmetaphysik überwechseln. Solche Theorien der gegenläufigen Prozesse würden ihren Charakter als Hypothesen deutlicher zur Schau stellen müssen, als es die sozialwissenschaftlichen Entwicklungslehren bisher taten, und die Soziologie […] würde in ihren Denkweisen offener werden gegenüber der voraussichtlich noch viele neue Tatsachen in ihrem Schoße tragenden Zukunft.« 83

Auch Schelsky zeigt sich hier skeptisch gegenüber Zukunftsprognosen und erst recht gegenüber klaren Handlungsanweisungen. Seine Familienstudien sollen vor allem Beispiele mehr oder minder gelingenden Familienlebens reflektieren. Sein Schüler Gerhard Wurzbacher, der wenige Jahre später auf Grundlage desselben Materials Leitbilder des gegenwärtigen deutschen Familienlebens präsentierte, ging da weiter. Zum einen wollte er die an der Studie beteiligten Studierenden an das soziale Gebilde näher heranführen, das jeder »auf Grund eigener gründlicher Erfahrungen am besten kennt«.84 Zum zweiten, so das Vorwort zur dritten Auflage des Jahre 1958, wollte er den »einseitigen Gesichtspunkten […] in ausländischen Darstellungen«, die »die patriarchalisch-autoritären Züge in der deutschen Familie 80 | Ebd., S. 45. 81 | Ebd. 82 | M. Klein: Helmut Schelsky, S. 211f. 83 | H. Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S. 357 (Hervorh. von mir). 84 | Wurzbacher, Gerhard: Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens, Stuttgart 3 1958, S. 9.

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überbetont« hätten, ein empirisch gesättigtes Gegenbild entgegenhalten. Last but not least wollte den »zumeist deutsche[n] Darstellungen« Paroli bieten, »die unter vorwiegender Beachtung von zweifellos vorhandenen Auflösungs-, Wandlungsund Zerrüttungsvorgängen die Fähigkeit verloren« hätten, »Neubildungen und Festigungen zu erkennen«.85 Die internationale Konkurrenz von Familiendiagnosen, auf die hier angespielt wird, war eher neu, die Tendenz, nicht nur die Familie der eigenen Gesellschaft zu beobachten, hatte bereits Riehl praktiziert. Wie bei ihm waren auch die Familienmonographien aus der Schelsky-Schule, die ihre Diagnose in Form dichter, stellenweise wertender Beschreibung boten, das eigentliche Ziel. Auf direkte Empfehlungen wird verzichtet. Also: Gesellschaftsdiagnosen zu erstellen, ob offiziell, wissenschaftlich oder privat initiiert, um dann von staatlicher Seite als Grundlagen möglicher Interventionen zu dienen, das zeigt dieser knappe Exkurs, war zwar bereits eine im 19. Jahrhundert geübte Praxis, im 20. Jahrhundert wurde sie zur Regel. Dass man dabei auch auf Vorläufer rekurrierte, zeugt von dem Bewusstsein, auf einem eingespielten Feld zu operieren. Wilhelm Heinrich Riehl konnte nicht verhindern, dass ein Jahrhundert später nationalsozialistische Ideologen sich immer wieder auf ihn beriefen, seine Thesen sich anverwandelten und dabei wohlweislich seine philosemitischen Exkurse86 ›überlasen‹. Ähnlich erging es Helmut Schelsky. Zum Wegbereiter ›restaurativer‹ Tendenzen in der Bundesrepublik wurde er vor allem mit seinen kritischen Aussagen zur weiblichen Erwerbstätigkeit. Indem diese, auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, gern aufgegriffen wurden, um das westdeutsche Familienbild gegen das der DDR auszuspielen, erreichten andere seiner Aussagen, wie etwa die zu den Flüchtlingen, nicht die große Öffentlichkeit. Vor einer solchen selektiven Wahrnehmung waren Gesellschaftsanalytiker ebenso wenig geschützt wie vor einer Fehlinterpretation oder Instrumentalisierung ihrer Diagnosen. Die Familie als Beobachtungsgegenstand bot dabei besondere Fallstricke: Sie betraf und berührte alle, doch gab sie ihr Innenleben nur bedingt preis. Es scheint, dass die Familienwissenschaftler dies in Grenzen respektierten und sich entsprechend zurückhaltend gegenüber konkreten Veränderungsvorschlägen oder skeptisch gegenüber deren Wirkungsmacht zeigten.87 Große Vorbehalte gegenüber staatlichen Eingriffsbefugnissen in den Bereich des Privaten hegten Diagnostiker wie Riehl und Bebel. Und auch ihre Nachfolger zeigten hier, wenngleich grundsätzlich aufgrund der historischen Erfahrung heraus offener für Direktiven, durchaus sensibel gegenüber der besonderen Institution Familie. Unabhängig ihrer politi85 | Vorwort, ebd., S. 6. 86 | W. H. Riehl: Die Familie, S. 231ff. 87 | »Bedauerlicherweise ist nie methodisch einwandfrei untersucht worden, in welchem Ausmaß und wie sich sozialpolitische Maßnahmen tatsächlich auf die Familie auswirken« (König, René: Soziologie der Familie, in: Ders.: Schriften. Ausgabe letzter Hand, bislang 20 Bde., Wiesbaden 1998ff.; Bd. 14, S. 329-577, hier S. 377 [urspr. 1969/1976]). Auch Jutta Limbach zeigt sich mit Blick auf ihre eigene Disziplin eher verhalten: »Der Forschungsstand der Rechtssoziologie rechtfertigt bislang nur bescheidene Hoffnungen, daß durch Recht ein gesellschaftlicher Wandel [in Bezug auf Familien] bewirkt werden könnte« (Limbach, Jutta: Die Entwicklung des Familienrechts seit 1949, in: Nave-Herz, Rosemarie [Hg.]: Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S. 11-34, hier S. 12).

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schen Couleur setzten viele von ihnen, schrieben sie über die Familie, ihre konservativ-liberale Brille auf. Namentlich durch die – für einen Teil der Deutschen sogar doppelte – Diktaturerfahrung hatte sich die Fähigkeit der Familie, weitgehend als Parallelwelt zur Gesellschaft existieren und eine intime Nische des Rückzugs aus Öffentlichkeit und Politik bieten zu können, für viele als existentiell wertvoll erwiesen. Doch gänzlich erwehren konnte sich die Familie spätestens seit dem 19. Jahrhundert weder vor öffentlichem Interesse noch vor staatlicher Kontrolle und Lenkung, am wenigsten vor indirekten Rückwirkungen gesellschaftlicher Veränderungen und Umbrüche. Das langlebige und immer wieder leicht vitalisierbare Niedergangsnarrativ, das in schöner Regelmäßigkeit Familie als rückwärtsgewandte oder zukunftsorientierte Idee aus der Normalität des Alltags auf die öffentliche Agenda katapultierte, aber entpuppte sich, und dies mit fortschreitender Pluralisierung der Familienwirklichkeiten, immer mehr als bloßes Glasperlenspiel.

Das deutsche Universitätsmodell als Zukunftsentwurf Zur Rolle von Universität, Wissenschaft und Bildung in den Gegenwartsdiagnosen deutscher Hochschulrektoren seit dem 19. Jahrhundert Dieter Langewiesche

1. G egenwartsanalysen in R ek tor atsreden . Z ur Q uelle und welche F r agen an sie gestellt werden Im 19. Jahrhundert verfestigte sich an den Universitäten im deutschen Sprachraum die bis um 1968 reichende Tradition, dass der Rektor jedes Jahr am Festtag seiner Hochschule über die Bedeutung von Universität und Wissenschaft nachdachte.1 In unserer Zeit ist diese Tradition in veränderter Form wieder aufgenommen worden. Die Rede hatte früher zwei Gruppen von Adressaten. Die Mitglieder der Universität, vor allem die Erstsemester sollten mit dem Selbstbild der Universität vertraut gemacht werden. Zudem versammelte sich ein nicht-universitäres Auditorium von politisch und gesellschaftlich Entscheidungsmächtigen, die regelmäßig teilnahmen: Minister und hohe Staatsbeamte, nicht selten der Landesherr oder ein anderes Mitglied aus der landesherrlichen Dynastie. Hinzu kamen hohe Repräsentanten aus den Kirchen, dem Militär, der Justiz, der Stadt, Rektoren anderer Universitäten und andere Honoratioren. Ihnen allen erläuterte der Rektor, welche Bedeutung die Hochschule sich und der Wissenschaft zuschrieb, was sie für die Menschheit leiste und für die eigene Nation, wie sie den Standort der Gegenwart in der (Wissenschafts-)Geschichte sah. Dafür standen dem Rektor zwei Redetypen zur Verfügung: die Wissenschafts- und die Gesellschaftsrede. In ersterer sprach der Rektor über ein Forschungsfeld in seinem Fach oder über die Bedeutung von 1 | Die Reden sind verzeichnet und zum erheblichen Teil online als PDF-Datei verfügbar (URL: www.historische-kommission-muenchen-editionen.de/rektoratsreden [17.6.2018]). Soweit die Reden hier zur Verfügung stehen, wird im Folgenden auf Nachweis des Druckorts verzichtet und bei Zitaten die Seite im Text in (Klammern) genannt. Zur Quellenart Langewiesche, Dieter: Die Rektoratsreden an den Universitäten im deutschen Sprachraum, in: Stein, Claudius (Hg.): Der rhetorische Auftritt. Redekultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Rektorats- und Universitätsreden 1826-1968, München 2016, S. 21-36.

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Universität und Wissenschaft insgesamt; im zweiten Redetypus ging es um ein gesellschaftliches Problem, das auf wissenschaftlicher Grundlage analysiert werden sollte. Nicht selten changierte die Wissenschaftsrede in den zweiten Typus. Welche Gegenwartsdiagnosen bieten diese Reden, wie veränderten sie sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart? Gegenwartsdiagnose ist hier gemeint als doppelte Diagnostik, wie es von den Herausgebern erläutert wird: als Mittel zur Selbstmodellierung der Universität und des Wissenschaftsfachs, für das der Rektor spricht, und zur intervenierenden Gesellschaftsanalyse. Der Ort, an dem diagnostiziert wurde, waren die Universitäten in allen deutschsprachigen Staaten. In ihnen entstand im 19. Jahrhundert jenes Universitätsmodell, für das sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung Humboldt’sche Universität durchgesetzt hat. Diesen Raum hatte Wilhelm Heinrich Riehl vor Augen, als er 1893 in seiner Münchner Rektoratsrede Die Heimat der Universität die »nördlichste deutsche Universität […] nicht Königsberg sondern Dorpat, die südlichste nicht Freiburg sondern Bern« (20) nannte. Die österreichischen rechnete er selbstverständlich auch dazu. Sie alle kommunizierten Jahr für Jahr an bestimmten Tagen mit einer elitären Öffentlichkeit. Kommunikationsmedium war die wissenschaftliche Rede. Sie wurde rasch publiziert, erreichte nicht selten schnell mehrere Auflagen, Zeitungen berichteten, bildungsbürgerliche Zeitschriften druckten sie mitunter, später wurde sie oft in Werkausgaben des Redners aufgenommen. Rektoren anderer Universitäten bezogen sich in ihren Reden aufeinander. Der Rektor sprach mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität. Diesen Anspruch beglaubigte das Publikum, das Jahr für Jahr die Rede hörte oder las. In der Begrifflichkeit der Herausgeber ließe sich vom Charisma der Wissenschaft sprechen. Auch wenn man den Charismabegriff auf Herrschaftslegitimation bezieht, ist er hier angebracht, denn viele Redner sahen in der Wissenschaft die eigentliche Herrscherin der Neuzeit. Sie nutzten die Rektoratsrede als Instrument, die Wertidee autonome Wissenschaft zu legitimieren – nach innen gegenüber denen, die an der Universität lehrten oder studierten, nach außen gegenüber denen, welche die Institution Universität finanzierten und ihre Ansprüche anerkennen sollten. Worauf sahen die Rektoren die Legitimität der Institution Universität und ihrer Wertidee gegründet, wie wurde für sie in den Rektoratsreden geworben, welche Gegenwartsdiagnosen wurden dabei vortragen, welche Kontinuitäten, welche Brüche lassen sich im 19. und 20. Jahrhundert beobachten?

2. W issenschaf t als deutungsoffene G egenwartsdiagnose und K ontrollinstanz im K ampf der W eltanschauungen Betrachtet wird der Typus Wissenschaftsrede. In ihr gehen die Gegenwartsdiagnosen unmittelbar aus der Analyse von Fachproblemen hervor, doch sie werden meist verhüllter als in der Gesellschaftsrede vorgetragen. Für das lange 19. Jahrhundert werden zwei Beispiele ausgewählt. Als erstes die fachlich höchst anspruchsvolle Rede Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis, mit der Max Planck 1913 sein Rektorat in Berlin angetreten hat. Er begann wie dort üblich mit der preußisch-nationalen Ursprungserzählung der Berliner Universität. Ihr Kern lautet: Die Berliner Universität wurde im Augenblick tiefster staatlicher Not gegen die Gefahr dauerhafter französischer Unterjochung gegründet, ein Fundament preußischen

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Wiederaufstiegs gleichrangig neben der Armee. Wissenschaft und Militär machten Preußen groß und mit Preußen die deutsche Nation. Aus diesem nationalpolitischen Erstgeburtsanspruch wurde aber kein wissenschaftlicher Vorrang abgeleitet. Die Berliner Universität als Unterpfand preußisch-nationaler Selbstbehauptung: Diese rigoros instrumentalisierende Geschichtsdeutung, vor der auch Geschichtsprofessoren nicht zurückscheuten, ließ der Physiker nur knapp anklingen. Mehr war nicht nötig, jeder im Auditorium hatte diese Meistererzählung preußisch-deutscher Größe vor Augen. Nation und Universität – diese Verbindung machte die deutschen Universitäten in ihrem Selbstbild zu einem zentralen Pfeiler, auf dem die deutsche Nation aufruhte. Den Vorrang, den die Berliner Universität in dieser Erzählung beanspruchte, anerkannten die Rektoren der Universitäten anderer deutscher Staaten nicht, denn sie dachten föderal. Doch gemeinsam arbeiteten sie an dem Bild, wonach die deutsche Universität der Gegenwart, obwohl vom einzelnen Staat finanziert, zum Fundament der deutschen Nation gehöre.2 Mit der Berufung auf die Nation suchte die Universität ihren Geltungsanspruch vom staatlichen oder landesherrlichen Wohlwollen zu lösen. In der historischen Legitimation dieses Anspruchs blieb die Institution Universität jedoch abhängig von der Geltung der Wertidee Nation in der Gesellschaft. Sie hat diese Wertidee nicht erzeugt, sondern reihte sich ein in den Kreis der Deuter. So ließ sich wissenschaftliche Autonomie als Institution nicht legitimieren. Dies war Aufgabe der Wissenschaftsrede. Sie führte dem Auditorium der Entscheidungsmächtigen vor Augen, was Forschung sei, welche Bedeutung sie für die Universität und ihre Bildungsaufgabe besitze, warum auf ihr die Leistungskraft der Nation und der Fortschritt der Menschheit beruhten. Die Rektoratsreden waren Fortschrittserzählungen. Die Gegenwart bildete die Spitze der Fortschrittsbewegung, die sich in der Forschungsentwicklung fassen lasse. Diese Vorstellung war im 19. Jahrhundert weitestgehend unstrittig. Das läßt sich auch an der Argumentationsstruktur in Max Plancks Rede ablesen.Wissenschaft ist Kampf. Diese Linie durchzieht seine Rede über den Stand der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kampf um die angemessenere Theorie im Konflikt zwischen Erklärungen, die sich aufgrund neuester Forschungsergebnisse nicht mehr miteinander vereinbaren lassen. Gegenwart wird hier definiert als Bruch mit Erklärungen, an die man bisher geglaubt hatte. Nie zuvor habe die »experimentelle physikalische Forschung« in so vielen Bereichen und so grundsätzlich mit dem früheren »Verständnis der Natur und ihrer Gesetze« gebrochen (352). Eine neue umfassende Theorie gebe es noch nicht, der Kampf sei noch nicht entschieden. Doch einiges lasse sich bereits feststellen. Es waren vor allem zwei theoretische Einsichten, die versprachen, über die Physik hinaus der Gegenwart neue Denkmöglichkeiten zu öffnen.3 2 | Näher ausgeführt bei Langewiesche, Dieter: State – Nation – University. The Nineteenth-Century »German University Model« as a Strategy for National Legitimacy in Germany, Austria, and Switzerland, in: Jansen, Axel/Franzmann, Andreas/Münte, Peter (Hg.): Legitimizing Science. National and Global Politics (1800-2010), Frankfurt a.M./New York 2015, S. 51-79. 3 | Zum Hintergrund dieser Rede – die Umwälzungen in der Physik – informiert mit der wichtigsten Literatur Padova, Thomas de: Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914-1918, München/Berlin 2017.

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1. Raum und Zeit können anders als bisher nicht mehr als voneinander unabhängige Größen gedacht werden. Das »Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit« (Albert Einstein) habe »im bisherigen Verlauf des Kampfes« zwischen Konstanz des Raumes und der Zeit »entschieden die Oberhand behalten« (355). Die Raum-Zeit-Beziehung ist also in Bewegung geraten. Das hebe die Gegenwart in ihrem Wissen um Grundfragen der Welterkenntnis von der Vergangenheit ab. 2. Der Satz von der »Stetigkeit aller dynamischen Wirkungen« (356), an den man seit Aristoteles geglaubt habe, gelte nicht mehr. Die Natur mache explosionsartige Sprünge (356f.). Die Quantenhypothese sei auf dem Wege, dies zu erklären. Sie zeige ihre Überlegenheit auch in Gebieten, für die sie ursprünglich nicht erdacht worden sei, denn die neue physikalische Theorie von den Quantensprüngen in der Natur lasse sich übertragen. Wohin, das führte Planck nicht aus. Doch er stellte die Theorie so vor, dass sie der Gegenwart neue Denkmöglichkeiten über die Zukunft öffnet. Welche, das sei noch unbekannt; sie zu erörtern sei Aufgabe der Wissenschaft. Auf empirischer Grundlage. Doch Empirie beweise nichts. Selbst die Physik als die »exakteste aller Naturwissenschaften« komme nicht voran »ganz ohne Weltanschauung, das will sagen ganz ohne unbeweisbare Hypothesen« (360). Menschliche Wahrnehmung liefere »niemals ein Abbild, sondern höchstens ein Zeichen der Außenwelt« (359). Selbst ein »physikalisches Weltbild«, das »alle empirisch gefundenen Naturgesetze vollkommen genau darzustellen vermag«, beweise nicht, daß ihm die »›wirkliche‹ Natur auch nur einigermaßen ähnlich sei« (359). Die Annahme, physikalisches Weltbild und Natur stimmten überein, lasse sich aber auch nicht widerlegen. An diesem »Vacuum« (360) des Wissens, das der Mensch niemals beseitigen könne, arbeite die Wissenschaft. Sie sei der Prüfstein für jede Weltanschauung (im Sinne von unbeweisbarer Hypothese), mit der dieses »Vacuum« begreif bar gemacht werden soll. Jede Wissenschaft arbeite an diesem nie endenden Prozess der hypothetischen Welterklärung, »sei es im Laboratorium oder am Schreibtisch« (360), also in den Natur- und in den Geisteswissenschaften. Planck hierarchisierte hier nicht die Wissenschaften in ihrer Welterklärungsfähigkeit, im Gegensatz zu vielen Naturwissenschaftlern damals und auch heute. Der Physiker rechtfertigte Weltanschauung als Hypothese, die den ungesicherten Blick in die Zukunft ermögliche. Der Wissenschaft wies er die Aufgabe zu, die Angemessenheit der Weltanschauung zu prüfen, ohne jedoch eine sichere Auskunft geben zu können. Diese Sicht auf die unvermeidbare Unsicherheit von Zukunftsprognosen ließ sich auf andere Bereiche übertragen, auch auf die Politik. Weltanschauung wird als Instrument der Welterklärung anerkannt, und zugleich wird der Wissenschaft ein Prüfamt zugesprochen, das die Unsicherheit eingrenzt, nicht aber beseitigt. Auch der Physiker arbeitete in seiner Rektoratsrede also am Charisma der Wissenschaft, an ihrer gesellschaftlichen Führungsaufgabe. Plancks Fachvortrag über die Physik seiner Zeit endete mit einem Bekenntnis zum innersten Kern des deutschen Universitätsmodells. Nur wer Forschung »an seinem eigenen Leib durchgekostet« (360) habe, sei fähig, seine Weltanschauung wissenschaftlich zu läutern. Deshalb, so das Credo des deutschen Universitätsmodells, wie es jede Rektoratsrede begründete, müsse die Universität Forschung und Lehre verbinden. Darin liege der gesellschaftliche Bildungsauftrag der Universität: wissenschaftliche Bildung als die höchste Form von Bildung, vermittelt von der forschenden Universität an die künftige Elite zum Wohle aller. Diesen Anspruch verkündeten die Rektoratsreden überall und ohne jede Ausnahme, Jahr für Jahr

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immer wieder. Das Auditorium der Entscheidungsmächtigen hörte zu. Die Rektoratsrede dürfte das wichtigste Medium gewesen sein, mit dem die Universität ihren Anspruch auf nationale Geltung und wissenschaftliche Autonomie öffentlich bekundete und eine adäquate Alimentierung einforderte. Dass die Entscheidungsmächtigen im Auditorium sich diesem Legitimationsritual Jahr für Jahr aussetzten, indem sie zur Rektoratsrede erschienen und sich anhörten, warum die Wissenschaft die heutige Herrscherin über die Welt sei, wird man als Einverständnis durch Teilhabe deuten dürfen. Auf diesem Konsens beruhten die Außenlegitimation des Autonomieanspruchs der Wissenschaft und die gesellschaftliche Anerkennung ihres Anspruchs, allgemeingültige Gegenwartsdiagnosen vorlegen zu können. Wenn man diese Außenlegitimation das Charisma der Wissenschaft und ihres zentralen Orts, der Universität, nennen wollte, so speiste es sich aus der Vorstellung, wissenschaftliche Forschung als nie abzuschließender Prozess der Welterkenntnis öffne einen Fortschrittsweg, der nur wissenschaftlich autonom bestimmt werden könne, aber allen zugutekomme. Die Aufgabe der Universität bestehe darin, den Studierenden zu ermöglichen, diese wissenschaftliche Form der Welterkenntnis zu verinnerlichen, so dass sie in allen Lebensbereichen und Berufen genutzt werden könne, um Probleme zu erkennen und Lösungen vorzuschlagen. Diesen wissenschaftlichen Habitus anzuerziehen, wird in der Rektoratsrede als der Bildungsauftrag der Universität in ihrem deutschen Modell bestimmt. Zu demonstrieren, dass diese Art von wissenschaftlicher Bildung befähige, auch Fragen zu durchdenken und wissenschaftlich fundierte Lösungen vorzulegen, wenn es um gesellschaftliche Probleme jenseits des eigenen Fachgebiets geht, war die Aufgabe der Gesellschaftsrede. Sie nutzte das gesellschaftliche Ansehen der Universität; woraus es sich speiste, hatte die Wissenschaftsrede zu zeigen. Lorraine Daston hat kürzlich in ihrem außerordentlich anregenden Aufsatz When Science Went Modern 4 ausgeführt, Ende des 19. Jahrhunderts habe die Schriften der Wissenschaftler eine Art Melancholie durchzogen, getränkt mit »sadness, yearning, and resignation«. Sie spricht vom »nightmare of scientific progress: The truths of today would become the falsehood – or at least the errors – of tomorrow.« Die neue Erfahrung, wissenschaftlicher Fortschritt füge nicht neue Erkenntnisse zu den alten hinzu, sondern entwerte diese, habe die Wissenschaftler verunsichert. »Modern science had seceded from the spirit of modernity.« Davon ist in den Rektoratsreden jedoch nichts zu spüren. Auch nicht in einer Rede wie der Max Plancks, der seinem Auditorium erklärte, das bisherige physikalische Weltbild trage nicht mehr, eine neue umfassende Theorie gebe es noch nicht. Viele Rektoren sprachen über Brüche in ihrem Fach, über die neue Ungewissheit, selbst in der Mathematik, wie in einem der nächsten Abschnitte gezeigt wird. Doch die Rektoren reagierten darauf nicht mit Verunsicherung, sondern sahen ihre Überzeugung von der Überlegenheit des deutschen Universitätsmodells bestätigt. Es ziele auf wissenschaftliche Bildung, also auf die Fähigkeit, Entwertung des Alten durch das Neue als Prinzip von Forschung zu erkennen. Deshalb leiteten sie aus ihrer fachlichen Gegenwartsdiagnose einen optimistischen Blick in die Zukunft ab. Wohin das eigene Fach sich bewege, könne man nicht wissen. Doch wer im Studium ge4 | Daston, Lorraine: When Science Went Modern, in: The Hedgehog Review. Critical Reflections on Contemporary Culture 18, 2016, S. 1-6. Dort alle Zitate.

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lernt habe zu verstehen, was Forschung ist, werde sich wissenschaftlich gewappnet auf die Offenheit der Zukunft einstellen können. Bildung durch Forschung mache zukunftssicher, obwohl man die Zukunft nicht kennen kann – davon zeigten sich die Rektoren aller Fächer überzeugt. Bevor nach Brüchen im 20. Jahrhundert gefragt wird, soll erörtert werden, wie Rektoratsreden den Denkraum für Gesellschaftsdiagnosen erweiterten und zugleich zu begrenzen suchten.

3. W issenschaf t legitimiert und begrenz t  G esellschaf tskritik In Max Plancks Frage, wo steht die Physik heute, konnte man unschwer die Frage nach dem Standort der Gegenwart mitschwingen hören. Die neuen, noch ungesicherten Einsichten in Raum-Zeit-Beziehungen und in sprunghafte Entwicklungen in der Natur für Gesellschaftsanalysen zu nutzen, überließ Planck dem Auditorium. Seine Botschaft, dass Fortschritt nur durch Kampf zu erreichen sei, bot sich hingegen unmittelbar zu Übertragungen an. In den Sozial- und Geisteswissenschaften trat die Zeitdiagnose der Wissenschaftsrede meist deutlicher hervor. Dies soll nun an der Berliner Rektoratsrede Adolph Wagners von 1895 Die akademische Nationalökonomie und der Socialismus erörtert werden. Wie der Physiker betonte der Nationalökonom die Übertragbarkeit »der beherrschenden Theorien und Hypothesen der Zeit« (5) auf andere Bereiche. Wissenschaftlicher Fortschritt wird auch bei ihm sprachlich durch Kampf um Herrschaft gekennzeichnet. Er sah seine Gegenwart (und sein Fach) beherrscht durch »die Lehre Darwin’s, die Vererbungs- und Anpassungslehre, die Evolutionstheorie« (5). Allerdings würden diese Theorien überfordert, wenn man sie wie der »neueste sogenannte wissenschaftliche Socialismus« (6) verwende. Dies zu korrigieren, sei Aufgabe der Wissenschaften. Was sein Fach dazu beizutragen vermöge, sollte seine Rektoratsrede darlegen. Das klang wie ein antisozialistisches Fanal, war es aber nicht. Den Sozialismus pries er als ein »grosses neues kritisch-dogmatisches nationalökonomisches System, welches bewusst und principiell dem ökonomischen Liberalismus und Individualismus antagonistisch entgegentrat« (22). Die Probleme der Industriegesellschaft gründlicher zu erforschen, habe die Nationalökonomie vom Sozialismus gelernt – eine Voraussetzung, um ihm zum Wohl der Gesellschaft kritisch entgegentreten zu können. Wagners Rektoratsrede war eine selbstbewusste Verteidigungsrede. Er verteidigte sein Fach, dem man Nähe zum Sozialismus und zu dessen Eigentumskritik vorgeworfen hatte, indem er die Autonomie der Wissenschaft und ihr »Recht der voraussetzungslosen Forschung« (6) als die einzige Möglichkeit darlegte, sich mit dem Sozialismus auseinanderzusetzen. Nur so lasse sich zeigen, warum er als Bauplan für eine neue Gesellschaftsordnung nicht funktionieren könne, wenngleich er ein notwendiges Korrektiv zum »ökonomischen Individualismus« (34) biete. Wagners Gegenwartsdiagnose wies der Wissenschaft die zentrale Position für die Entwicklung von gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zukunftsoptionen zu bzw. für deren Überprüfung, wenn sie in der Gesellschaft ohne wissenschaftlichen Beistand entwickelt wurden. Er ging von seinem Fach aus, griff jedoch in ein anderes über, die Psychologie, indem er ausführte, eine sozialistische Gesell-

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schaft verlange »nicht nur viel vollkommenere Menschen, sondern wesensandere Naturen als Menschen einmal waren, sind und bleiben werden« (33). Wissenschaft öffnet bei Wagner Denk- und Handlungsräume, die große Teile der Gesellschaft und insbesondere die Eliten verschlossen halten wollten, doch zugleich soll Wissenschaft diese Räume begrenzen, indem sie aus der Erforschung der Psychologie des Menschen ableitet, zu welcher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Mensch nicht fähig sei. Diese Argumentation des Nationalökonomen lässt eine Einbruchsstelle erkennen, die im 20. Jahrhundert das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft grundlegend verändern sollte: Die Gesellschaft akzeptiert nicht mehr den Autonomieanspruch von Wissenschaft, vor allem wenn es um die Wahl von Themen für Großforschungsprojekte geht. Der Soziologe Peter Weingart hat für die Wissensgesellschaft unserer Gegenwart von einer spiegelbildlichen Entwicklung gesprochen: mit der »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft« gehe die »Vergesellschaftung der Wissenschaft« einher.5 Letzteres hätte Wagner wie alle anderen Rektoren als Untergang der Wissenschaft durch Autonomieverlust verdammt, doch dass sich die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft abzeichne, hat er in seiner Sozialismusanalyse als Gefahrenanalyse aufscheinen lassen, ohne dass ihm ein Begriff dafür zur Verfügung stand. In der Geschichte der nationalökonomischen Ideen, wie er sie in seiner Rektoratsrede darlegte, erkannte er mehrfach Impulse zur Veränderung dieser Ideenlehre, die nicht aus der akademischen Wissenschaft kamen. Am bedeutendsten schätzte er die Wirkung der »socialistischen wissenschaftlichen und agitatorischen Litteratur« (20) ein. Sie habe als »bedeutsames Ferment« auf die akademische Nationalökonomie eingewirkt, so dass sich eine »socialpolitische Richtung unserer Wissenschaft« an den Universitäten etablieren konnte (20). Wagner anerkannte, dass außerhalb der Universitäten Ideen entstehen können, welche das wissenschaftliche Denken über Gesellschaft und Wirtschaft verändern, weil sie das Diagnoseinstrumentarium erweitern. Doch indem die zuständige akademische Wissenschaft, hier die Nationalökonomie, die außer-universitär entstandenen Ideen aufnahm und wissenschaftlich läuterte, schien die Gefahr einer Vergesellschaftung der Wissenschaft gebannt. Die Priorität der institutionalisierten Wissenschaft wurde gewahrt, ihr Führungsanspruch in der Gesellschaftsdiagnose verteidigt. Diese Abwehr einer Vergesellschaftung der Wissenschaft konnte aber nur funktionieren, solange die politisch und gesellschaftlich Entscheidungsmächtigen den Autonomieanspruch der Wissenschaft akzeptierten und die Universität damit betrauten, das Gehäuse für die autonome Wissenschaft bereit zu stellen und instand zu halten. Deshalb führte die Rektoratsrede den Entscheidungsmächtigen immer wieder vor Augen, warum die autonome Wissenschaft, institutionalisiert in der Universität, Fortschritt für alle sichere. Wie die Rektoren darauf reagierten, als sie die Gefährdung des Autonomieanspruchs und der bisherigen Position der Universität wahrnahmen, soll nun an Rektoratsreden des 20. Jahrhunderts erörtert werden.

5 | Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, S. 18.

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4. A nt worten auf ein neues B edrohungsszenarium nach dem  E rsten W eltkrieg Die Zahl der Studierenden expandierte im späteren 19. Jahrhundert, doch die Universität blieb eine Bildungsstätte für wenige. Darauf war das Selbstbild der Universität in jeder Hinsicht zugeschnitten. Sie sah sich als eine Eliten-Institution und wollte es bleiben. Deshalb stürzte die Öffnung für die Vielen aus bildungsfernen Sozialkreisen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gelang, die Universität in eine Krise ihres Selbstverständnisses. Auf diese Form von Demokratisierung des Zugangs war sie nicht vorbereitet. Bildung durch Forschung war ein Elitenkonzept. Zur Elite gehöre, wer intellektuell in der Lage sei zu forschen oder Forschung verstehend nachzuvollziehen. Die Wissenschaftsrede, in welcher der Rektor über Forschungsfragen dozierte, war für das Auditorium eine Möglichkeit zur Selbstprüfung, eine Art Elitezugehörigkeit-Examen. Wer es nicht bestand, galt nicht fähig zum Nachvollzug von Forschung, also nicht elitefähig. Er gehörte nicht in diese »Gralsburg der Wissenschaft«, »ein nationales Heiligtum für das ganze deutsche Volk«, wie es 1924 auf einer Tagung der Europäischen Studentenhilfe der Orientalist Carl Heinrich Becker formuliert hatte6 – ein Hochschulreformer! Bis zum Ersten Weltkrieg war dieses Bild der Universität als Bildungsstätte für eine kleine Elite nicht in Frage gestellt worden. Auf sie war die Gegenwartsdiagnostik in den Rektoratsreden ausgerichtet. Als wissenschaftlich beglaubigt galt sie, wenn sie auf der Grundlage des methodischen und theoretischen Instrumentariums des Fachs, für das der Analysierende als kompetent ausgewiesen war, erstellt worden ist. Da jedes Universitätsfach als gleichrangig in seinem Bildungswert galt, konnte man mit diesem Selbstbild die Vorstellung von einem Ensemble konkurrierender Gegenwartsdiagnosen verbinden. Es war Aufgabe der Gesamtheit der Rektoratsreden, dieses Ensemble in seiner Vielfalt zu präsentieren, nicht es zu vereinheitlichen oder nach dem (fach)wissenschaftlichen Rang der Diagnosen zu hierarchisieren. Es gab zwar eine Vielzahl von Naturwissenschaftlern, die innerhalb der Wissenschaften hierarchisierten, indem sie von der Überlegenheit naturwissenschaftlicher Methoden gegenüber geisteswissenschaftlichen ausgingen, doch in den Rektoratsreden wurde dieser Geltungskampf in aller Regel nicht ausgetragen. Ihre Aufgabe war es, in dem gemeinsamen Bildungsauftrag von Fächern, die nicht mehr miteinander kommunizierten, die Einheit der Universität zu repräsentieren. Die Fähigkeit eines jeden universitären Fachs zur Gegenwartsdiagnose sah man im Bildungswert der Forschung verankert. Dieses Selbstbild forderte, von der Gleichrangigkeit konkurrierender Zeitdiagnosen durch Wissenschaftler auszugehen. Und zugleich begründete es eine Hierarchie, denn an der Spitze rangierten die Diagnosen, die von Repräsentanten der akademischen Wissenschaft beglaubigt worden waren. Die akademisch gebildete Elite sprach sich so Überlegenheit in der Gegenwartsdiagnose gegenüber Nichtakademikern zu, und innerhalb der Elite der Akademiker beanspruchten die Wissenschaftler an der Universität als der institutionelle Ort von Forschung den Vorrang.

6 | Becker, Carl Heinrich: Vom Wesen der deutschen Universität, in: Ders.: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausgewählte Schriften, Köln 1997 (urspr. 1924), S. 305-328, hier S. 307.

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Dieser Führungsanspruch der Universität in der Gesellschaftsdiagnose wurde als gefährdet empfunden, als nach dem Ersten Weltkrieg parlamentarische Republiken an die Stelle von Monarchien traten. Letztere hatten der großen Mehrheit der Bevölkerung begrenztere politische Partizipationsmöglichkeiten, den Universitäten hingegen einen immediaten Zugang zu den staatlichen Entscheidern geboten. Wissenschaft als eine »Verfassungsfunktion«, wie es Pierangelo Schiera mit Blick auf das deutsche Kaiserreich genannt hat, schien der Vergangenheit anzugehören.7 Es entstand ein Gefährdungsbewusstsein, das die Offenheit der Universitäten für konkurrierende Gegenwartsdiagnosen verengte. Dies soll zunächst an den Einstellungen zu »Nation« skizziert werden. In einem zweiten Schritt werden Rektoratsreden betrachtet, deren Gegenwartsdiagnosen versteckter waren. Aus dem Anspruch, an der inneren Nationsbildung führend mitzuwirken, indem man die Eliten zur Nation bilde, bezog die Universität ihren hohen Geltungsanspruch. Deshalb musste er immer wieder aufs Neue angemeldet werden. Die deutsche Rektoratsrede ordnete die Universität zwei Legitimitätsebenen zu: der nationalen und der einzelstaatlichen.8 Gegenüber beiden beanspruchte sie ein Immediatverhältnis. Hier auf den Monarchen bezogen, dort auf die ideelle Macht Nation, als deren geborene Interpretin sich die Universität sah. In Deutschland konnte deshalb in den Gegenwartsdiagnosen der Rektoratsreden Nation gegen Volk und Volkssouveränität ausgespielt werden. Die Rektoren präsentierten jedoch kein einheitliches Bild. Am deutlichsten trat das hervor, wenn es um Föderalismus und Zentralisierung ging. An den preußischen Universitäten wurde eine deutsche Geschichte erzählt, die auf den preußisch geführten, protestantisch geprägten Nationalstaat zulief, mit der Berliner Universität als Geburtsort und Zentrum des deutschen Universitätsmodells, das die Fortschrittskraft der deutschen Nation verbürge. In allen anderen deutschen Staaten bzw. Ländern erzählten die Rektoren eine föderalistische deutsche Nationalgeschichte, die keine Berliner Blaupause für das deutsche Universitätsmodell kannte.9 Die doppelte Loyalität zwischen Nation und monarchischem Einzelstaat, in die sich die deutsche Universität im 19. Jahrhundert selber gestellt hatte, musste nach dem Ende aller Monarchien eine Neuausrichtung nationalpolitischer Gegenwarts- und Vergangenheitsanalysen sehr erschweren. Die deutschen und die österreichischen Universitäten waren auf die parlamentarische Republik nicht vorbereitet, sich in sie institutionell einzuordnen, fiel ihnen schwer. Die Nation hingegen konnten sie weiterhin als überstaatliche Legitimitätsebene für den Bildungsauftrag der Universität aufrufen. Doch nun als einen Gegenpol zur ungeliebten Republik. Wissenschaftliche Bildung – das Zentrum universitären Selbstverständnisses – im 7 | Schiera, Pierangelo: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 98. 8 | In der Schweiz stand der Kanton im Zentrum, überwölbt von der Nation; das Leitbild war republikanisch, gleichwohl elitär. In der Habsburgermonarchie war es angesichts konkurrierender Nationalisierungsprozesse weitaus komplizierter. 9 | Einblicke dazu bei Langewiesche, Dieter: Selbstbilder der deutschen Universität in Rektoratsreden. Jena – spätes 19. Jahrhundert bis 1948, in: John, Jürgen/Ulbricht, Justus H. (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln 2007, S. 219-243; Ders.: Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14, 2011, S. 15-37.

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Namen der Nation gegen den Nationalstaat, das war neu. Neu war auch das Ausmaß, in dem sich die Universitäten nun in Vorträgen an ein nicht-universitäres Publikum wandten.10 Auch daran ist zu erkennen, wie unsicher sich die Universität fühlte. Universitätsbildung hieß für sie weiterhin Elitenbildung. Aber die Wege in die Eliten, vor allem in die politischen, waren vielfältiger geworden, und nicht mehr alle Wege führten durch die Universität. Nun saßen in den Regierungen Repräsentanten von universitätsfernen Parteien. Gegen sie verteidigten die Universitäten den Anspruch auf Autonomie der Wissenschaft; nur als Forschungsuniversität könnten sie ihre Aufgabe als nationale Bildungsinstitution erfüllen. Dazu haben viele Rektoren gesprochen und eingehend aus ihrer Sicht die Gegenwart bewertet. Auf diese meist kämpferischen Gesellschaftsreden gehe ich nicht ein, sondern befrage zwei Wissenschaftsreden. Sie stehen beide ganz im Zeichen der Kontinuität zur Vorkriegszeit. Es geht um Erhard Schmidts Berliner Rektoratsrede Über Gewißheit in der Mathematik (1929) und Othenio Abels Wiener Rektoratsrede Die Entwicklung der Paläobiologie im Rahmen der Naturwissenschaften (1932). Erhard Schmidt, ein angesehener Name noch heute in der Mathematik,11 hielt eine Rede, die heute niemand wagen würde, auf einer Feier für die gesamte Universität vorzutragen. Auch er war sich bewusst, »daß unter den Errungenschaften des Menschengeistes die Mathematik im Gesichtsfeld der gebildeten Allgemeinheit nicht günstig gestellt ist« (104). Dennoch wählte er aus diesem Fach ein offenes Problem, über das sich die Experten uneinig waren. Er durfte dies tun, weil er überzeugt war, wer Forschung nachvollziehen kann, ist wissenschaftlich gebildet. Das elitäre Publikum teilte offensichtlich weiterhin diese Überzeugung. Schmidt konfrontierte es mit der Feststellung, dass anders als noch im 19. Jahrhundert heute »eine Reihe fundamentaler Schlußprinzipien der mathematischen Beweislogik« (105) umstritten sei. »Diese Uneinhelligkeit beruht auf der Verschiedenheit der Stellungnahme zum Begriff des Unendlichen« (105). Schmidt diskutierte dieses Problem eingehend, um dem Auditorium verständlich zu machen, »die mathematische Gewißheit« stecke zwar »in einer Krise, aber einer produktiven, deren Erschütterungen die Symptome einer Vertiefung der Fundamente sind« (111). Diese Krise ins Positive zu wenden, habe den Forschern Charakter abverlangt, um es zu wagen, die eingefahrenen Denkgeleise zu verlassen. Das war der Punkt, an dem er sich den jungen Studierenden zuwandte: das Werk derer, auf denen man auf baut, bewundern, aber bereit sein, alles »selbständig nachzuprüfen – in bewusster Abwehr gegen den Lärm der Schlagworte und sich immunisierend gegen die tausendfältige Wiederholung der Tagesmeinung« (112). Alles gehöre vor den »Richterstuhl Ihres Verstandes« (112). Wir wissen nicht, wie das Auditorium mit dieser Botschaft umgegangen ist. Für eine Rezeptionsgeschichte der Rektoratsreden fehlen die Quellen. Doch man wird annehmen dürfen, wer bereit war, sich auf den nicht leichten Gedankengang des Mathematikers einzulassen, der darlegte, wie die Auseinandersetzung mit dem »Einspruch des Intuitionismus gegen das scheinbar Evidente« (111) sein Fach be10 | Vgl: Kotowski, Mathias: Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999. 11 | Reich, Karin: Erhard Schmidt (1876-1959). Mathematiker des Monats Dezember 2015, in: Berliner Mathematische Gesellschaft e.V. (URL: www.math.berlin/mathematiker/erha​r dschmidt.html [3.3.2017]).

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reichert habe, wird auch bereit gewesen sein, darüber nachzudenken, was diese Einsichten in der Mathematik in anderen Bereichen bedeuten könnten. Zu solchen Transfers wollte die Rektoratsrede als Bildungsrede anregen. Die Hörer wussten das. Deshalb hörten sie zu. Es ging um wissenschaftliche Bildung durch Nachvollzug von Forschung, um befähigt zu werden, diesen Umgang mit offenen Fragen in andere Bereiche zu übertragen. Die Rede des Mathematikers über die produktive Wirkung der Erkenntniskrise in seinem Fach lud ein, die politisch-gesellschaftliche Krise der Gegenwart ebenfalls vor dem »Richterstuhl« des eigenen Verstandes zu betrachten. Diese Rektoratsrede war ein stiller Appell, vor der Gegenwartskrise nicht zu kapitulieren, sondern sie mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren und nach Lösungen zu suchen. Der Mathematiker hat Denkräume geöffnet oder doch zumindest aufgefordert, nach ihnen zu suchen, ohne selber Wege zu weisen. Die Wiener Rektoratsrede des Paläobiologen Abel argumentiert im Fachteil vergleichbar zu der des Mathematikers.12 Auch Abel zeigte, wie sich sein Fach seit dem 19. Jahrhundert dramatisch verändert hatte. Auch bei ihm war das eine internationale Entwicklung – Forschung wurde durchweg als ein Prozess ohne Grenzen präsentiert –, auch bei ihm geriet als sicher Angenommenes in die Kritik, auch bei ihm zeichnete sich eine neue Synthese ab, die fachliche Gegensätze überwand und hier sogar die Einheit der Naturwissenschaften sichtbar gemacht habe. Abel lieferte aber im Gegensatz zu dem Mathematiker die Nutzanwendung des Prinzips wissenschaftliche Bildung durch Forschung oder Nachvollzug von Forschung gleich mit, denn den Transfer in andere Bereiche nahm er selber vor. Er überließ dies nicht dem Auditorium. Insofern verbanden sich bei ihm beide Redetypen, die Wissenschafts- und die Gesellschaftsrede. Seine Rede enthüllte den Kardinalfehler in der Vorstellung, die dem Selbstbild des deutschen Universitätsmodells, wie es die meisten Rektoren präsentierten, zugrunde lag: Wissenschaftliche Bildung befähige per se nicht nur zur Gegenwartsdiagnose, sondern auch Problemlösungen zu finden, die auf Wertentscheidungen beruhen. Wissenschaft kann jedoch keine Werturteile begründen. Diese Einsicht Max Webers blieb den allermeisten Rektoren verschlossen, wenn sie fachwissenschaftliche Forschungsergebnisse in Handlungsempfehlungen umsetzten, die auf Wertentscheidungen beruhten. Abel nannte es in seiner Wiener Rektoratsrede das »letzte Ziel und die wichtigste Aufgabe der Paläobiologie […] die Dokumente für eine Geschichte des Lebens zu liefern und den Gesetzen nachzuspüren, nach denen sich die Umgestaltung der Lebewesen im Laufe ihrer Geschichte vollzogen hat.« Gelinge dies nicht, so wäre der Paläobiologe lediglich ein Chronist und nicht der »Historiker des Lebens«.13 Er suchte seinem Auditorium zu zeigen, wie sein Fach, das er mit geformt hatte, die Grenze verschiebe, bis wohin »Naturforschung« reiche und das »Reich der Metaphysik« beginne.14 Was er nicht erkannte: In seinem Versuch, als paläobiologischer »Historiker des Lebens« eine »Brücke von der Vergangenheit unmittelbar bis zur Gegenwart« zu schlagen,15 überschritt er nicht die Grenze zur Metaphysik, son12 | Vgl. Abel, Othenio: Die Entwicklung der Paläobiologie im Rahmen der Naturwissenschaften, in: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1932/33, Wien 1932, S. 97-117. 13 | Ebd., S. 106. 14 | Ebd., S. 113. 15 | Ebd., S. 114.

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dern zum Werturteil, das sich nicht aus Forschung ableiten lässt, sondern ohne Bezug zur Wissenschaft vom Individuum gesetzt und verantwortet werden muss. Er meinte an Höhlenbären, deren Spuren er in der Steiermark untersucht hatte, ein Lebensgesetz erschlossen zu haben, das für alle Lebewesen gelte. »Wir lernen daraus, daß das Leben in einem harten Kampfe ums Dasein die Arten am Leben erhält, während das Optimum der Existenzbedingungen die Kräfte des Widerstandes erschlaffen läßt, dafür aber eine Möglichkeit für das Weiterleben inferiorer und degenerierter Individuen schafft und so unausgesetzt an der inneren Schwächung und Degeneration einer Art arbeitet, was unweigerlich zum Untergang führen muß«.16

Abel verstand diesen Transfer aus seinem Fach ins menschliche Leben und in die Gegenwart als »sittliche Bildung«, welche die Universität der künftigen Elite mit auf den Weg geben müsse.17 Er scheute sich nicht, daran unmittelbar den Appell anzuschließen, mit dem seine Rektoratsrede endete: die »von äußeren Feinden bedrohte Ostmark des Deutschen Reiches« zu verteidigen, bis sie »das alte Österreich […] wieder heimführen können ins Deutsche Reich«.18 Abel war als engagierter deutschnationaler Antisemit bekannt, als er 1929 Rektor der Universität Wien wurde.19 Seine Rektoratsrede ist auch im Fachteil durchtränkt von Metaphern des militärischen Kampfes. Wer selber forschen oder Forschung nachvollziehen will, müsse fähig sein, an die Forschungsfront vorzustoßen. Dort »wetteifern« die Fächer im Streben nach wissenschaftlichem Fortschritt. So sei sein Fach aus den »hinteren Linien an die Front des wissenschaftlichen Vormarsches vorgerückt«.20 Es arbeite mit am »letzte[n] Ziel aller Naturforschung«, »die Erfassung einheitlicher, die Natur in ihrer Gesamtheit beherrschender Gesetze und die Einordnung des Naturgeschehens in ein einheitliches Weltbild«.21 Ein solches Weltbild, in dem sich »eine wahrhaft universelle Bildung« bekunde, zu ermöglichen, sei »das letzte Lehrziel«, das zu erreichen nur die forschende Universität, nicht die Fachschule in der Lage sei.22 Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts der Erfahrung, dass die Universität ihren Mitgliedern und ihren Absolventen offensichtlich nicht die Fähigkeit anerzogen hatte, die Vertrautheit mit dem Prinzip Forschung in politische Urteilsfähigkeit und in sittliche Wertmaßstäbe zu überführen, musste über die Universität

16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 115. 18 | Ebd., S. 116f. 19 | Taschner, Klaus: Othenio Abel. Paläontologe, antisemitischer Fakultäts- und Universitätspolitiker, in: Ash, Mitchell G./Ehmer, Josef (Hg.): Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert), 2 Bde., Wien 2015, Bd. 2, S. 287292. Abel Paläontologe zu nennen, verkennt, dass er die Entwicklung von der Paläontologie zur Paläobiologie mitbestimmt hat. Das führt Abel in seiner Rede aus, von der Taschner nur den politischen Schlussappell betrachtet. 20 | O. Abel: Die Entwicklung der Paläobiologie im Rahmen der Naturwissenschaften, S. 107. 21 | Ebd., S. 106. 22 | Ebd., S. 115.

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als Bildungsinstitution und über Wissenschaftsautonomie als Voraussetzung für ›Fortschritt durch Wissenschaft‹ neu nachgedacht werden.

5. G egenwartsdiagnose in der R ek tor atsrede der  G egenwart In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Rektoren im Westen und im Osten Deutschlands in ihren Reden intensiv mit der Katastrophengeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Die Rektoratsrede wurde zur Gegenwartsanalyse, um die jüngste Vergangenheit zu verstehen. In ihrer Studie Zwischen Tradition und Innovation. Die Rektoratsreden an den deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen der Nachkriegszeit 1945-1950 23 hat Christina Schwartz gezeigt, dass es den Rektoren um langfristige Ursachen, nicht um die Beurteilung der Weimarer Republik oder anderer Phasen auf dem Weg in den Nationalsozialismus ging. Dieser lange Blick in die Vergangenheit ermöglichte es, nach Gründen zu fragen, die nicht speziell in der deutschen Geschichte liegen, und dennoch die besondere Verantwortung der Deutschen unmissverständlich hervorzuheben. Die Rektoren fragten nach dem deutschen Sonderweg, ohne dieses Wort zu kennen. Sie trennten zwischen »Wir« und »die Nazis«. »Wir« wurde so charakterisiert, dass dieses unbestimmte Kollektiv die Verantwortung für den Aufstieg »der Nazis« zur Macht zu tragen hatte und dennoch über Werte verfügte, die als allgemein menschlich oder spezifisch europäisch-abendländisch galten. Deshalb könnten die Deutschen als Kollektiv, so argumentierten die Rektoren, sich in diese übernationale Wertegemeinschaft einfügen, ohne mit ihrer Tradition insgesamt brechen zu müssen. Erstmals in der deutschen Geschichte legten die Universitätsrektoren einhellig ein Bekenntnis zur Demokratie und zu einer westlichen Wertegemeinschaft ab. Die Rektoren sprachen durchweg den deutschen Hochschulen – den Professoren, nicht den Studierenden! – eine hohe Mitverantwortung am deutschen Sonderweg in den Nationalsozialismus zu. Deshalb hielten sie alle eine gründliche Hochschulreform für notwendig. Zugleich aber waren sie sich einig, die deutsche Universität sei im Kern gesund. Diesen Traditionskern gelte es zu bewahren, indem man die Hochschule und ihre Beziehung zur Gesellschaft verändere. Dass dieser Reformwille zugunsten einer Kontinuitätswahrung abflaute, war kein Spezifikum nur der Hochschulen. Wie sie das deutsche Universitätsmodell in seinem Kern – wissenschaftliche Bildung auf der Grundlage der Einheit von Forschung und Lehre – beurteilten, wie sie auf den Weg in die »Massenuniversität«, den die staatliche Politik vorgab, und auf die Tendenzen zur »Vergesellschaftung der Wissenschaft« reagierten, soll nun anhand einiger Rektoratsreden betrachtet werden. Ich beginne in unserer Gegenwart, in der deutsche Universitäten in unterschiedlicher Form den neuen Rektor und die Erstsemester wieder mit Festakten begrüßen, zu denen auch Reden gehören. Drei wurden ausgewählt. Mit einer vierten Rede wird abschließend ins Ende der 1960er Jahre zurückgeblickt, als an fast allen

23 | Erscheint demnächst in der Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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deutschen und österreichischen Universitäten, nicht hingegen in der Schweiz,24 die Tradition der Rektoratsrede abbrach. Als erstes die Inaugurationsrede des Kirchenhistorikers Christoph Markschies 2006 an der Humboldt-Universität, als er auf Antritts- und Festreden seiner Vorgänger in Berlin blickte, um die »Gegenwartstauglichkeit« ihrer Reformideen zu prüfen (2).25 Die Anrede des Auditoriums bezeugt, dass sich erneut ein Kreis politisch Entscheidungsmächtiger oder doch zumindest Einflussreicher versammelt hatte.26 Markschies hoffte, mit seinem Rückblick herausfinden zu können, worin einst der »gemeinsame geistige Boden« der »vielen deutschen und ausländischen Universitäten« (er griff hoch: Harvard) bestanden habe (2). Damit verfehlte er gänzlich die Selbstmodellierung, an der die Rektoren des 19. Jahrhunderts, die er erwähnte und die vielen anderen, die unerwähnt blieben, gemeinsam gearbeitet hatten: an dem deutschen Universitätsmodell, das die damaligen Rektoren von dem französischen und dem englischen dezidiert abgesetzt haben. Die amerikanischen Universitäten spielten in den Rektoratsreden vor dem Ersten Weltkrieg keine Rolle. Auf eine Kurzformel gebracht: Die Lehrer der englischen Universität erziehen, aber forschen nicht und wer forsche, lehre nicht; die französische Wissenschaftslandschaft sei zerlegt worden in spezialisierte Forschungsstätten einerseits und Fachschulen ohne Forschung andererseits; nur das deutsche Modell verbinde Forschung und Lehre und institutionalisiere so wissenschaftliche Bildung. Diese Bildungsidee, die für das Selbstbild deutsches Universitätsmodell schlechthin zentral war, wird bei Markschies unter Verweis auf Schleiermacher zum Appell verdünnt, auch die mittelmäßig begabten Studenten zu fördern (4). Im Rückblick auf die Tradition wird die Diagnose zur Handlungsempfehlung. Sie verkennt jedoch, was in der Tradition, die zur Legitimation aufgerufen wird, als Kern des deutschen Universitätsmodells in Abgrenzung zu den Modellen anderer Nationen gegolten hatte: die Universität als eine spezifisch wissenschaftliche Bildungsinstitution. In dieser Besonderheit, die man sich im Vergleich mit den politischen und ökonomischen Hauptkonkurrenten Großbritannien und Frankreich immer wieder bestätigte, hatte man früher einen wichtigen Faktor im Wettbewerb zwischen Nationen gesehen. Im Zeichen eines einheitlichen europäischen Studienmodells – Stichwort Bologna – muss der Wettbewerb zwischen Universitäten und Staaten anders begründet werden. Die Berliner Rede von 2006 brach also mit dem deutschen Universitätsmodell, wie es die Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert unermüdlich entworfen und begründet hatten, obwohl sich der Berliner Rektor auf diese Reden ausdrücklich als Ratgeber für gegenwartsbezogene Reformideen berief. Seine Gegenwartsdiagnose, die als Handlungsprogramm gedacht war, baut auf Traditionsstiftung, die sich zugespitzt beschreiben läßt als Traditionsbruch durch Traditionsverkennung.

24 | Auch nicht in Köln; wohl eine Ausnahme in Deutschland. 25 | Seine Reden sind zugänglich unter URL: https://www.hu-berlin.de/de/ueberblick/ge​ schichte/rektoren/markschies (17.6.2018). 26 | Genannt werden ein Altbundespräsident, der Regierende Bürgermeister, eine Bürgermeisterin, ein Staatssekretär, Abgeordnete, Exzellenzen, der Ratsvorsitzende, Hochschulrektoren und -präsidenten, Dekane.

Das deutsche Universitätsmodell als Zukunf tsentwur f

Zweites Beispiel: Bonn 2009, Antrittsrede des Rektors Jürgen Fohrmann, ein Literaturwissenschaftler.27 Auch er hatte ein Auditorium von Entscheidungsmächtigen vor sich. Unter ihnen ein Minister, ein Staatssekretär, der Bürgermeister. Hinzu kamen Repräsentanten von Wissenschaftsorganisationen. Das war relativ neu. Diese mächtigen Mitspieler im Prozess der Selbstmodellierung von Wissenschaft und Universität gab es früher nicht, wenngleich im späteren 19. Jahrhundert außeruniversitäre Wissenschaftsorganisationen hinzugekommen waren. Sie hatten offensichtlich das Selbstbild der deutschen Universität, wie es die Rektoren entwarfen, nicht tangiert. Der neue Bonner Rektor tat, was Rektoren in ihrer Festrede immer getan hatten: Sie warben für die Universität. 2009 hieß das in Bonn, die Institution Universität als einen Pfeiler der Wissensgesellschaft auszuweisen, unverzichtbar trotz aller Mängel im Einzelnen. Der scheidende und der neue Rektor teilten sich diese Aufgabe. So war es auch früher gewesen. Der scheidende zog Bilanz.28 2009 war es eine Bilanz angefüllt mit Wissenschaftsmanagement. Das neue Hochschulfreiheitsgesetz von Nordrhein-Westfalen, zwei Jahre zuvor in Kraft getreten, habe einen »Paradigmenwechsel« erzwungen, den der Rektor so umschrieb: »institutionelle Unabhängigkeit, Output-orientierte Lehr- und Forschungsprofile, institutionalisierter Wettbewerb, leistungsbezogene Ressourcenzuteilung«, »neue interne Hierarchisierung der Organe«, Notwendigkeit von »Qualitätsmanagement«, ein »12-Punkte-Programm« für die eigene Universität mit »fächerbezogener Qualitätsdiskussion und Zielformulierung«. Und mit Blick auf die Exzellenzinitiative: ein Cluster und zwei Graduiertenschulen, aber, so der Rektor bedauernd, »die Verleihung des Labels ›Eliteuniversität‹« blieb »vorerst versagt«. Sein Nachfolger sprach 2011 von »einer immer noch nicht ganz erledigten Trauerarbeit«.29 Solche Worte wären früher keinem Rektor über die Lippen gekommen. Und dennoch – der Rektor als Wissenschaftsmanager, wie er hier im alten Ritual des Rektoratswechsels vor die Öffentlichkeit trat, wirbt auf diesem Forum heute wie damals um gesellschaftliche Akzeptanz für die Institution Universität, wie sie sich in ihren Besonderheiten und in ihren Aufgaben selber wahrnimmt und von der Gesellschaft anerkannt werden möchte – als eine Bildungsinstitution. 2009 sprachen in Bonn der scheidende und der neue Rektor von dem Bildungsbegriff, der geklärt werden müsse. Ein »Bildungsdiskurs« sei nötig, um zu erkennen, »was wir unter Bildung verstehen«, als Voraussetzung dafür, dass die Institution Universität ihre Aufgabe erfüllen könne. Der Rektor als Wissenschaftsmanager verlangt heute von der Gesellschaft, sie möge klären, welche Art von Bildung sie denn wünscht und damit, welche Art von Universität sie haben möchte. Früher hatte er Jahr für Jahr der gesellschaftlichen Elite, die ihm zuhörte, gesagt, welche Art von Bildung die Universität vermitteln will, ein Bildungsbegriff, dem alle zustimmten. Die gesellschaftliche Elite und die Institution Universität waren sich einig, im Studium gehe es um wissenschaftliche Bildung. Heute wird nach einem neuen gemeinsamen 27 | Zugänglich unter URL: http://www3.uni-bonn.de/einrichtungen/rektorat/anspra​c he-​ fohrmann.pdf (17.6.2018). 28 | URL: http://www3.uni-bonn.de/einrichtungen/rektorat/ansprache-winiger.pdf (17.6.​ 2018). 29 | URL: http://www3.uni-bonn.de/einrichtungen/rektorat/rektor_ jahresbericht_2011. pdf (17.6.2018).

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Bildungsverständnis gesucht. Es gibt zwar noch Rektoratsreden, welche die Tradition ›wissenschaftliche Bildung‹ fortführen,30 sie scheint aber nicht mehr konsensfähig zu sein. In Tübingen, als drittes Beispiel, begann die Wiederbelebung der Tradition 1996. Wiederbelebt wurde die Wissenschaftsrede, mit der sich die Universität als eine Forschungsinstitution vorstellt. Nicht der Rektor hatte sie gehalten, sondern er hatte mich als Historiker damit beauftragt. Wiederbelebt wurde auch die Vergabe der Promotionspreise, mit denen die Universität ihren Willen und ihre Fähigkeit dokumentiert, die Studierenden an die Forschung heranzuführen und sie daran zu beteiligen. Gänzlich neu war: der Ministerpräsident des Landes sprach, wie auch an anderen Hochschulen, und trug seine Gegenwartsanalyse vor.31 Darin dokumentiert sich ein tiefer Bruch mit dem Selbstverständnis im deutschen Universitätsmodell. Worüber auch immer gesprochen wurde, es sprach der Repräsentant der Universität, um zu zeigen, wie Wissenschaft mit offenen Fragen umgeht und so wissenschaftlich bilde. 2010 sprachen in Tübingen am dies universitatis u.a. die Geschäftsführerin eines großen Wirtschaftsunternehmens über die Rolle der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft, und der langjährige Intendant des ZDF, ein Tübinger Absolvent, stellte seine Festrede unter den Titel »Was uns zusammenhält. Überlegungen im 20. Jahr der Deutschen Einheit«. Nicht die Universität präsentierte ihre Gegenwartsdeutungen und ihre Vorstellungen von ihren Aufgaben, sondern sie ließ sich sagen, was von ihr erwartet werde. Dies wird man als eine Facette im vielschichtigen Prozess der Vergesellschaftung von Wissenschaft bewerten dürfen. Die Reden am Festtag der Universität lassen diesen Prozess indirekt erkennen, wenn man darauf achtet, wer redet und wer zuhört, wie über Wettbewerb etwa am Beispiel der Exzellenzinitiative oder über Rankings und Evaluierung gesprochen wird. Das sind Zeichen für die Suche nach einem veränderten Selbstbild, das die Repräsentanten der Universität offensichtlich nicht mehr wie früher aus ihren eigenen Zeitdiagnosen entwerfen können. Bevor eine Bilanz für das 19. und 20. Jahrhundert versucht wird, soll eine Rektoratsrede des Jahres 1969 betrachtet werden, als die Tradition abbrach. Sie zeigt noch einmal, wie die Rektoren in ihrer Antrittsrede den Universitätsangehörigen und denen, die von außen kamen, ihr Bild von Universität und Wissenschaft zu vermitteln suchten, indem sie ihr eigenes Fach vorstellten. Hier kam hinzu, dass der Rektor auf zeitgenössische Bedrohungswahrnehmungen einging und sie mit der Situation der Naturwissenschaften in der Gegenwart verknüpfte. 9. Mai 1969, Rede des Ernährungswissenschaftlers Günther Siebert Zur Situation der modernen Biologie, als er sein Rektorat an der Universität Hohenheim 30 | So 2003 Alfons Labisch in seiner Düsseldorfer Rektoratsrede, in der er Karl Jaspers berühmte Rede im Titel aufrief: Die »Idee der Universität« in unserer Zeit. Analysen und Konsequenzen. 31 | In Bochum sprachen auf der Universitätsfeier 2000 der Ministerpräsident des Landes NRW, Wolfgang Clement, und der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Winfried Schulze. Im Tübinger Bericht zur Rede von Ministerpräsident Teufel heißt es: »Er verpflichtete die Universitäten darin, ihren Beitrag zur materiellen Zukunftssicherung und zum Selbstverständnis der Gesellschaft zu leisten«; zit.n. dem Rechenschaftsbericht des Rektors auf der Homepage der Universität Tübingen (URL: https://www.uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/veroeffentlichungen/jahresbericht/archiv-jahresbericht.html [17.6.2018]).

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antrat. Als Ziele seiner Rede nannte er: den Informationsanspruch der Öffentlichkeit erfüllen und »Selbstdarstellung seiner Wissenschaft« verbunden mit »persönlichen Überzeugungen« (3). Also eine Wissenschaftsrede. Er blickte, wie es der Tradition entsprach, auch auf die gesellschaftlichen Wirkungen seines Fachs. Siebert ging nicht ausdrücklich auf die damalige Studentenbewegung und ihre Wirkungen auf die Universität und die Hochschullehrer ein. Doch dieses Geschehen stand indirekt angesprochen am Anfang und Ende seiner Rede. Siebert begann mit der Frage nach den »Quellen der Unruhe […], die heute die geistige Welt durchzieht« (5). Er blickte auf diejenige Quelle, die er in der Universität und in der Wissenschaft verortete: »die prinzipielle Unerfüllbarkeit des vollen geistigen Freiheitsbedürfnisses in den Naturwissenschaften« (5). Ihm ging es um die besondere Situation der Naturwissenschaften und warum sie anerkannt werden müsse. Deshalb suchte er zu begründen, dass in den Naturwissenschaften, zu deren biologischem Zweig sein Fach gehöre, Axiome und Naturgesetze – obwohl sie Veränderungen in der theoretischen Einordnung unterliegen – das Maß an Freiheit enger begrenzen als in den Geisteswissenschaften. Das »archaische Freiheitsbedürfnis des Menschen« (4), von dem er ausging, werde in den Naturwissenschaften durch die Geltung der Axiome und Naturgesetze begrenzt. Deshalb sei die »Anziehungskraft geisteswissenschaftlicher Fächer so viel größer als praktisch ökonomische Überlegungen je nahelegen würden« (5). Der »geistige Freiheitsdrang« des Naturwissenschaftlers (5) arbeite in einem Raum, der von den Regeln der Natur begrenzt werde, doch diese Regeln zu erforschen ermögliche, die »natürliche Welt« zu verstehen und zu beherrschen (9). Das motiviere den Naturwissenschaftler. Seine Forschung sei wertneutral, die »Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnis« sei hingegen »wesentlich ein politischer Entscheidungsprozeß« (8). In ihm müssen ethische Maximen eingehalten werden. Die Universität habe daran mitzuwirken, aber die moralische Verantwortung für die Anwendung naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bestimmte er als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie der Universität aufzubürden, würde diese überfordern. Doch dem Naturwissenschaftler komme dabei eine besondere Aufgabe zu, denn er müsse in seiner Forschung »als erster mit der Angst vor der Zukunft fertig werden« und an ihm liege es, »seine innere Sicherheit auf die übrigen Glieder der Gesellschaft zu übertragen« (9). Hier fassen wir, nun verhüllt formuliert, eine Überzeugung, die nahezu jede Rektoratsrede bekundet hatte: Die Universität ist eine Institution der Elite. Die Gesellschaft insgesamt und ihre Institutionen sind verantwortlich für den ethischen Umgang mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, doch Wissenschaft und Universität erklären, warum der (natur)wissenschaftliche Fortschritt notwendig ist. Auf sein Fach bezogen bedeute dies: die Menschheit trotz der Expansion der Weltbevölkerung davor bewahren, in Unterernährung, Armut und Elend zu verkümmern (10). Auf die Unruhe seiner Gegenwart ließ sich auch beziehen, was der Ernährungswissenschaftler über den Ordnungs- und Hierarchiebegriff, über Struktur und »Unbestimmtheitsrelation« (13) in den Naturwissenschaften ausführte. Er verdichtete seine Deutung zur Metapher »keine Ordnung ohne Stoffwechsel« (15). Wie diese Diagnose in die damalige hitzige Debatte über die Gesellschaftsordnung der Zukunft transferiert werden könnte, ließ Siebert offen. Aber doch nicht ganz. Den Schluss seiner Rede überschrieb er Zum Wissenschaftsbegriff (16-18). Forschung erfordere »absolute intellektuelle Freiheit« (16). Deshalb vertrage die Universität

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als Ort der »Freiheit der Forschung und Lehre […] keine rechtliche Hierarchie, sondern nur Kollegialität«. In dieses Gebot schloss er die Studierenden ein. Was Kollegialität in der Ordinarienuniversität seiner Gegenwart bedeute, erörterte er nicht. Worauf es dem Rektor ankam: Demokratie und Parlamentarismus taugen nicht für die Ordnung der Universität. Sie sei der Ort »analytischen Denkens«, das ausschließlich durch Überzeugungskraft Autorität gewinne. Wer dies an der Universität außer Kraft setzen wolle, indem er Ordnungsprinzipien der politischen Demokratie übernehme, sei dabei, »einen neuen Typ von Untertan zu schaffen« (17). So bezog der Hohenheimer Rektor im damaligen Streit um die Universität der Zukunft dezidiert Position, obwohl er eine auf sein Fach bezogene Wissenschaftsrede hielt. Hier wird man von doppelter Diagnostik sprechen dürfen. Es ging um Verflechtung von Universität und Gesellschaft und um Differenzbestimmung.

6. D ie F orschungsuniversität als B ildungsinstitution im deutschen U niversitätsmodell – eine B il anz Wissenschaftliche Bildung an der Universität hieß für die Rektoren nicht Ausbildung zum Wissenschaftler. Dies müsse die Universität auch leisten, doch für die große Mehrheit der Studierenden war mit wissenschaftlicher Bildung gemeint, jeder soll die Fähigkeit erwerben, mit den Methoden seiner Studienfächer offene Probleme zu erkennen und nach geeigneten Lösungen zu suchen, also in der Lage sein, Wissensgrenzen auf methodisch sicherer Grundlage zu überschreiten. Diese Fähigkeit sollte jeder Student auf der Universität erlernen, als Verhaltensform verinnerlichen und als Problemlösungskompetenz in den Beruf mitnehmen, ganz gleich welcher es sein würde. Wissenschaftliche Bildung als Vorbereitung auf Probleme, die man noch nicht kennt, könne nur eine Lehre vermitteln, die auf Forschung beruht. Das ist die bildungstheoretische Begründung für den innersten Kern des deutschen Universitätsmodells, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten, in der Schweiz und in der Habsburgermonarchie herausgebildet hatte. Die Rektoren wussten, man kann beides auch trennen. Deshalb warb jeder Rektor für dieses Modell Jahr für Jahr im öffentlichen Akt der Rektoratsübergabe. Das deutsche Universitätsmodell sei in seiner Leistung für die Gesellschaft allen anderen überlegen, lautete die Dauerbotschaft der Rektoren. Es bedürfe der Reform – eine durchlaufende Linie in den Rektoratsreden mit zeitspezifischen Verdichtungen und Dramatisierungen –, aber in seiner Substanz müsse es erhalten werden. Darin waren sich die Rektoren aller Universitäten und ihr Auditorium der Entscheidungsmächtigen lange Zeit einig. Diese Einigkeit bekundete sich nicht zuletzt in der Bereitschaft des Auditoriums, jede Wissenschaftsrede als Bildungsrede zu akzeptieren und hinzunehmen, wenn der Redner seine fachlichen Erkenntnisse in die Beurteilung politisch-gesellschaftlicher Fragen transferierte. Akzeptiert wurde auch der Anspruch der Institution Universität, an der Spitze aller Bildungsinstitutionen zu stehen und die Elite auszubilden. Die Rektoratsrede als Bildungsrede brachte dieses Selbstbild den Entscheidungsmächtigen Jahr für Jahr nahe. Im Vergleich zur Gegenwart sprach dieses Selbstbild, das die Rektoratsrede entwarf, der Lehre in der Forschungsuniversität einen hohen Wert zu. Da das Postulat der Einheit von Lehre und Forschung auf den Bildungsauftrag der Universität be-

Das deutsche Universitätsmodell als Zukunf tsentwur f

zogen wurde, konnte beides unmittelbar miteinander verknüpft werden. Das universitäre Leitbild integrierte den Forschungserfolg in den Bildungsauftrag. Und dieser Bildungsauftrag ließ alle Universitäten als ebenbürtig erscheinen. Deshalb finden wir vom 19. Jahrhundert bis zum vorläufigen Ende der Tradition der Rektoratsrede um 1968 keine Rektoratsrede, die eine Hierarchie zwischen den Universitäten des deutschen Modells auch nur andeutet. Eine Exzellenzinitiative zur Hierarchisierung der Universitäten als Forschungseinrichtungen wäre undenkbar gewesen. Als Bildungsinstitution sahen sich alle gleichwertig an, als Forschungsstätte keineswegs. Die Distanz der Realität zu diesem Ideal verschwiegen die Rektoren keineswegs. Aber als Leitbild hielten sie daran fest. Scharf zugespitzt: Das Wissenschaftsmanagement im deutschen Universitätsmodell, wie es im 19. Jahrhundert entstanden ist, zielte auf Egalität im Bildungsauftrag, das heutige Wissenschaftsmanagement betont den Rang in der Forschungsleistung. Die Gegenwartsdiagnosen in den Rektoratsreden damals und heute lassen diesen tiefen Umbruch im Selbstbild der Institution Universität erkennen. Als Bildungsinstitution sprach sich die Universität in der Rektoratsrede die generelle Fähigkeit und Aufgabe zur wissenschaftlich begründeten Gegenwartsanalyse zu. Als Forschungsuniversität, die als eine Ansammlung von Bereichsexperten von der Gesellschaft wissen will, was sie unter Bildung versteht, muss es ihr schwerfallen, ihre Kompetenz zur Gegenwartsanalyse über das jeweilige Fachgebiet hinaus zu begründen.

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Diagnose: »Unaufmerksamkeit«* Yvonne Ehrenspeck-Kolasa

1. E inleitung Im Folgenden soll der Geschichte der Diagnose »Unaufmerksamkeit«1 bis hin zur Diagnose »ADHS« nachgegangen werden. Dabei interessieren die paradigmatischen pädagogischen Konstruktionen von Aufmerksamkeitsphänomenen ebenso wie die pädagogischen Technologien der Aufmerksamkeitserzeugung, -steuerung und -erhaltung in der Geschichte der wissenschaftlichen Pädagogik und Erziehungswissenschaft sowie ihrer Referenzdisziplinen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. In einem ersten Schritt wird die aktuelle Konjunktur des Begriffs Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert und das Thema Aufmerksamkeit 2 in den Kontext der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung und der historischen Bildungsforschung gestellt (2). In einem zweiten Schritt werden die begrifflichen Dimensionen des Konzepts Aufmerksamkeit rekonstruiert, die im 18. Jahrhundert entwickelt wurden. Denn an dieser Epochenschwelle wurde mit den sich etablierenden Wissenschaften vom Menschen die Wahrnehmungsund Bewusstseinskategorie Aufmerksamkeit erstmals in besonderem Maße beachtet und zu einem zentralen Erkenntnisvermögen wie zu einer bedeutenden * | Dieser Beitrag ist eine stark überarbeitete Fassung zweier Aufsätze der Autorin; vgl. Ehrenspeck, Yvonne: Die Bildung der Aufmerksamkeit. Pädagogische Konstruktionen eines Wahrnehmungs- und Bewusstseinsphänomens im 18., 19. und 20. Jahrhundert, in: Bilstein, Johannes/Brumlik, Micha (Hg.): Die Bildung des Körpers, Weinheim 2013, und Ehrenspeck-Kolasa, Yvonne: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts. Joachim Heinrich Campes Reflexionen zur Beobachtung und Bildung »junger Kinderseelen«, in: Reh, Sabine/Berdelmann, Kathrin/Dinkelaker, Jörg (Hg.): Aufmerksamkeit. Theorie – Geschichte – Empirie, Weinheim 2015. Dieser Beitrag schließt an diese Publikationen der Autorin an und erweitert sie. 1 | »Unaufmerksamkeit« ist eines der Kernsymptome der »ADHS«. Weitere Kernsymptome sind »Hyperaktivität« und »Impulsivität«. Alle »möglichen zu diagnostizierenden ADHS-Subtypen beziehen sich auf diese Kernsymptome« (Gawrilow, Caterina: Lehrbuch ADHS, München 2 2016, S. 21). 2 | Zur historisch-anthropologischen Funktion von Aufmerksamkeit vgl. Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit.

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»Kulturtechnik«3 der Moderne erklärt (3). Am Beispiel der philanthropistischen pädagogischen Konzepte von Johann Bernhard Basedow und insbesondere Joachim Heinrich Campe werden sodann typische Codierungen von Aufmerksamkeit und Strategien der Aufmerksamkeitssteuerung in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts vorgestellt (4). Schließlich wird auf paradigmatische pädagogische Diskursivierungen von Aufmerksamkeitsphänomenen im 19. und 20. Jahrhundert (5) sowie auf die Transformation des Aufmerksamkeitsdiskurses im 20. und 21. Jahrhundert durch die moderne Medizin, Psychologie,4 Psychiatrie, Neurobiologie und Kognitionswissenschaft und deren Bedeutung für die Pädagogik verwiesen (6). Der Beitrag rekonstruiert mithin die Geschichte der Diagnose »Unaufmerksamkeit« und »ADHS« in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft sowie in ihren wichtigsten Referenzwissenschaften vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. Er versteht sich als ein Versuch, eine Genealogie der Diagnose »ADHS« im Kontext von diversen Modi des Anordnens, Zeigens und Umformens von Phänomenen im disziplinären Diskurs der Pädagogik und ihrer Referenzdisziplinen zu entwerfen, »darzustellen«5 und zu plausibilisieren.

2. D ie G eschichte von »A ufmerksamkeit« und »U naufmerksamkeit« als F orschungsdesider at in der  E rziehungswissenschaf t In ihrer »kurzen Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit« stellt Lorraine Daston folgende Frage: »Warum, wann und wie geschieht es, dass die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit eher auf diese statt auf jene Objekte richtet, oder dass sie zuvor als disparat wahrgenommene Objekte zu einer gemeinsamen Kategorie zusammenfasst?«6 Diese Frage ließe sich auch angesichts der aktuellen Konjunktur der Kategorie Aufmerksamkeit stellen. So sind in den letzten Jahren neben dem bereits seit den 1990er Jahren in Psychologie, Medizin und Pädagogik sowie in der medialen Öffentlichkeit intensiv diskutierten Phänomen der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nun auch in der in Philosophie, Wissenschaftsgeschich3 | Assmann, Aleida: Einleitung, in: Dies./Assmann, Jan (Hg.): Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, S. 11-25, hier S. 13; Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008, S. 11. 4 | Neumann, Odmar: Theorien der Aufmerksamkeit. Von Metaphern zu Mechanismen, in: Psychologische Rundschau 43, 1992, S. 83-101; Schmidt-Atzert, Lothar/Krumm, Stefan/ Bühner, Markus: Aufmerksamkeitsdiagnostik. Ableitung eines Strukturmodells und systematische Einordnung von Tests, in: Zeitschrift für Neuropsychologie 19, 2008, S. 59-82. 5 | Zum performativen Charakter von Wissenschaft und Erziehungswissenschaft vgl. Balzer, Nicole/Su, Hanno: Pädagogisierende Performanz und gegenstandstheoretische Performativität. Zum Modus erziehungswissenschaftlichen Forschens, in: Meseth, Wolfgang u.a. (Hg.): Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn 2016, S. 241-253, hier S. 241ff. 6 | Daston, Lorraine: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2001, S. 11.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

te, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Ökonomie sowie in der Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft zahlreiche Publikationen erschienen, die sich mit diesem Thema befassen. Es wird vermutet, dass eine vermehrte Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit etwas mit der komplexer gewordenen Technik- und Medienevolution zu tun hat, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist und sich seither noch intensiviert hat. Und es wird davon ausgegangen, dass »verstärkte Diskursivierungen der Aufmerksamkeit« gekoppelt sind an »Modernisierungsprozesse und kulturelle Transformationen der Subjektmodellierung, der Wissensordnungen sowie der Wahrnehmung und ihrer Medien.« 7 Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang nicht nur als eine im Kontext von Modernisierungsprozessen transformierte Kategorie der Wahrnehmungstheorie zu verstehen, sondern sie fällt auch in den »Zuständigkeitsbereich der Verhaltenslehren und Selbsttechniken«. Denn wenn »Akte der Aufmerksamkeit zugleich Akte der Selbstaufmerksamkeit sind«, dann sind »Prozesse der Wahrnehmung, ihrer Medialität, Prozesse der Aufmerksamkeit und der Zerstreuung, sowie Konstitutionen von Subjektivität systematisch nicht zu trennen«.8 Da »Konzepte der Aufmerksamkeit und Konzepte der Moderne« insofern »unmittelbar aufeinander bezogen« gedacht werden, erklärt sich im Hinblick auf eine historische Einordnung von Aufmerksamkeitsdiskursen auch die Konzentration der bislang wichtigsten Auseinandersetzungen mit diesem Problemzusammenhang auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und auf die klassische Moderne.9 Dass diese gängige Phasierung der Aufmerksamkeitskonjunkturen problematisch sein könnte, wurde allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts nahegelegt. In Daniel Braunschweigers Dissertation »Die Lehre von der Aufmerksamkeit«10 von 1899 finden sich zahlreiche Hinweise auf eine bereits im 18. Jahrhundert ausgeprägte Auseinandersetzung mit der Aufmerksamkeit. Braunschweiger zitiert gleich zu Beginn seiner Studie Charles Bonnet, der 1770 vermerkt hatte, dass das »nützlichste Buch, das jemals der menschliche Verstand hervorbringen könne, das leider aber noch fehle, eine Geschichte der Aufmerksamkeit« sei.11 Aufmerksamkeit war also bereits im 18. Jahrhundert ein zentrales Thema in den Wissenschaften vom Menschen.12 Denn, so der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, »attention was displayed, defined and redefined in a historical situation, when self-experience, self observation and self-experiment became important tools for the self-understanding of a remarkable number of academics, scholars, scientists, intellectuals, and artists«.13 Diese Aufmerksamkeitsdebatte um 1800 7 | B. Thums: Aufmerksamkeit, S 12. 8 | Ebd. 9 | Ebd. 10 | Braunschweiger, David: Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1899. 11 | Bonnet, Charles: Abgekürzte Analyse des analytischen Versuches, welche einige Erläuterungen über die psychologischen Grundsätze des Verfassers enthält, Zürich 1770, S. 69. 12 | Hatfield, Gary: Attention in Early Scientific Psychology, in: Wright, Richard D. (Hg.): Visual Attention, New York 1998. 13 | Hagner, Michael: Toward a History of Attention in Culture and Science, in: MLN 118, 2003, S. 670-687, hier S. 671.

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konturierte zudem den Begründungszusammenhang der neuen Wissensfelder der Ästhetik und Anthropologie. Und in dieser Aufmerksamkeitskonjunktur werden bereits alle Parameter entfaltet, die auch die Diskurse der Aufmerksamkeit im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen werden, wie etwa die Aspekte: Klarheit und Stärke, Tätigkeit und Willensakte der Aufmerksamkeit, die Unterscheidung von willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit, Ausdehnung, andauernde Fixierung, Motivation und die individuelle Disposition der Aufmerksamkeit sowie die Doppelrhetorik des Paares Aufmerksamkeit und Zerstreuung.14 Aus bildungs- und erziehungstheoretischer Perspektive stellt sich Aufmerksamkeit nicht nur als ein biologisch verankerter Überlebensmodus dar, der bei Tier und Mensch beobachtet werden kann, sondern sie ist auch kulturell codiert und wird von einem »Arsenal an Techniken, Medien« und »sozialen Praktiken« durchformt.15 Sie muss eingeübt und als Kompetenz durch Erziehung und Selbstbeobachtung erworben werden. Im Ausgang des 18. Jahrhunderts wird Aufmerksamkeit deshalb auch zu einem grundlegenden Problem der Pädagogik und der Bildungstheorie. Sie wird gar als »Anfangspunkt« von Bildungsprozessen überhaupt gefasst, wie etwa bei Hegel, der die Aufmerksamkeit in seiner »Philosophie des Geistes« als den »Anfang der Bildung« bezeichnet hat.16 Man muss in der Tat nicht lange suchen, um in pädagogischen Handbüchern, Enzyklopädien und Periodika vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff »Aufmerksamkeit« zu finden, und man wird dort über deren zentrale Bedeutung für Bildungs- wie Unterrichtsprozesse informiert. Erstaunlich ist nur, dass die dort dokumentierte Prominenz des Begriffs nie dazu geführt hat, dass der Kategorie Aufmerksamkeit in der Erziehungswissenschaft eine historisch-systematische Analyse gewidmet wurde.17 Auf dieses Manko einer »Geschichte der Aufmerksamkeit in der Pädagogik«, die das Phänomen nicht nur aus der »Brille der Psychologen« sehen sollte, wurde bereits vor über 40 Jahren hingewiesen. Denn die Aufmerksamkeit sei ohne Zweifel »ein pädagogi-

14 | Thums, Barbara: Die schwierige Kunst der »Selbsterkenntnis – Selbstbeherrschung – Selbstbelebung«. Aufmerksamkeit als Kulturtechnik der Moderne, in: Herrmann, Britta/ Thums, Barbara (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 17501850, Würzburg 2003, S. 139-163, hier S. 141f. 15 | Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004, S. 9. 16 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: Sämtliche Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 3, S. 318f. 17 | Elisabeth von Stechow hat 2015 einen Versuch unternommen, den Diskurs über Aufmerksamkeit vom 16. bis zum 21. Jahrhundert zu rekonstruieren. Diese Studie liefert einen verdienstvollen, aber leider nur kurzen, Überblick über das Thema Aufmerksamkeit in Schulordnungen und Schulschriften vom 16. bis ins 19. Jahrhundert (mit einem Ausblick auf den ADHS-Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts). Die Studie über Aufmerksamkeit in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft stellt allerdings nicht die für die Disziplin und Profession der Pädagogik bedeutsame Transformation des Themas Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit im 18. Jahrhundert dar und geht nur kurz auf die Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert ein; vgl. Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

sches Problem«, so der Pädagoge Karl Schneider 1968.18 Und auch Andreas von Prondczynsky, Jochen Kade sowie Elisabeth von Stechow haben eine solche Untersuchung eingefordert.19 So vertritt von Prondczynsky die These, dass »sich bei einer intensiven historischen wie systematischen Beschäftigung mit Aufmerksamkeit und ihrem Gegenteil, der Zerstreuung, über das philosophiegeschichtliche etablierte Diskursgefüge hinaus auch eine Linie des modernen Bildungs- und Erziehungsdiskurses rekonstruieren lässt«20. Auch wenn dieser These zugestimmt werden kann, sollten von Prondczynskys Phasierungsvorschläge für ein solches, wie er zu Recht bemerkt, äußerst »umfangreiches Forschungsprojekt«21 ergänzt werden. Denn von Prondczynsky geht davon aus, dass eine besondere »pädagogisch-reflexive Beschäftigung mit der Aufmerksamkeitsproblematik«22 erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum entstehe. Zwar trifft es zu, dass erst Herbart auf die Relevanz der Kategorie Aufmerksamkeit für die Pädagogik unter systematischer Perspektive hingewiesen hat. Jedoch hat es eine »pädagogisch-reflexive«.23 Eine Auseinandersetzung mit der Aufmerksamkeit in der Pädagogik auch schon im 18. Jahrhundert gegeben.24 Auch das komplementäre und mitunter prekäre Verhältnis von Aufmerksamkeit und Zerstreuung wurde nicht erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen, sondern bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Pädagogik rege diskutiert. Da in dieser Zeit der Aufmerksamkeitsdiskurs paradigmatisch geprägt und die Kategorie Aufmerksamkeit als »Kulturtechnik«25 bedeutsam wurde, sollte eine Rekonstruktion des pädagogischen Diskurses über die Wahrnehmungsphänomene Aufmerksamkeit, Unaufmerksamkeit und Zerstreuung bereits an dieser Epochenschwelle ansetzen. Dieser Argumentation entsprechend zeigt Jochen Kade auf, dass sich in der Moderne eine spezifische Form der »pädagogischen Aufmerksamkeitskommunikation«26 etabliert hat, die an den pädagogischen Adressaten spezifische Erwar18 | Schneider, Karl: Die Aufmerksamkeit als Problem einer anthropologischen Didaktik, in: Bildung und Erziehung 3, 1968, S. 203-219, hier S. 204. 19 | Prondczynsky, Andreas von: »Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit«. Historische Konstruktion eines spannungsvollen Verhältnisses, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 13, Bad Heilbrunn 2007, S. 115-137; Stechow, Elisabeth von: Von Störern, Zerstreuten und ADHS-Kindern, Bad Heilbrunn 2015; Kade, Jochen: Aufmerksamkeit – nicht aufmerksam – unaufmerksam. Kulturelle Hintergründe und erziehungswissenschaftliche Aspekte der Aufmerksamkeitskommunikation, in: Reh, Sabine/Berdelmann, Kathrin/Dinkelaker, Jörg (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie, Wiesbaden 2015; Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts. 20 | A. von Prondczynsky: »Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit«, S. 116. 21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Ebd. 24 | Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; E. von Stechow: Von Störern, Zerstreuten und ADHS-Kindern; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts; S. Reh/K. Berdelmann/J. Dinkelaker (Hg.): Aufmerksamkeit. 25 | B. Thums: Aufmerksamkeit, S. 11. 26 | J. Kade: Aufmerksamkeit – nicht aufmerksam – unaufmerksam, S. 142.

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tungen richtet, seinen bisherigen Aufmerksamkeitsfokus zu überprüfen und zu verändern. Diese »normierende Aufmerksamkeit«27 steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit der sich im 18. Jahrhundert allmählich vollziehenden Etablierung des Erziehungssystems als eines Teilsystems der modernen Gesellschaft. Die Schule als Institution und Organisation, und der Schulunterricht als Interaktionssystem, sind die entscheidenden Kontexte, innerhalb derer die Diagnosen von »Unaufmerksamkeit«, »Hyperaktivität« und »Impulsivität« gestellt wurden und in Form der Diagnose »ADHS« nach wie vor gestellt werden.28 Es ist auch im 21. Jahrhundert insbesondere der schulische Kontext, in dem am häufigsten der Verdacht auf die mittlerweile etablierte Diagnose »ADHS« artikuliert wird.29 Die Klärung, ob es sich tatsächlich um die »richtige« Diagnose »ADHS« handelt, wird in der Folge durch Mediziner, Psychiater und Psychologen sowie in Diagnostik geschulte Pädagogen zusammen mit den Eltern der Betroffenen und den Betroffenen selbst vorgenommen. Ob ein Kind oder ein Jugendlicher »schwierig oder krank« ist,30 stellt, wie eine empirische Untersuchung zeigen konnte,31 einen komplexen Aushandlungsprozess dar, innerhalb dessen nicht nur »diagnostische Kriterien« eine Rolle spielen. Auch andere Faktoren sind bedeutsam: soziale Herkunft und Habitus der Eltern und der betroffenen Kinder, Jugendlichen (und mittlerweile auch) Erwachsenen,32 ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital, das Geschlecht33 oder auch ethnische Herkunft oder Migrationshintergrund. Die Prävalenzraten von ADHS-Diagnosen unterscheiden sich sogar im Hinblick auf die Herkunft aus unterschiedlichen Ländern und Staaten, wie Europa (z.B. in Deutschland, Frankreich), den USA, Südamerika, Asien oder Afrika und Australien,34 sowie bezogen auf die Herkunft der Betroffenen aus entweder ländlichen Regionen oder Großstädten und Metropolen.35 Eine Geschichte der Diagnose »ADHS«36 sollte insofern grundsätzlich kontextualisiert werden und auf ihre jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen hin überprüft werden. So sind die Bedingungen zu thematisieren, unter denen sich die diagnostische Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit von Schüler*innen gerichtet hat und richtet: Was also bedingt die Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit? Bemerkenswert ist im Hinblick auf die Herkunft der Diagnose »Unaufmerksamkeit«, dass auch im Kontext aktueller neurodiagnostischer Argumentation und 27 | Hahn, Alois: Aufmerksamkeit, in: A. Assmann/J. Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten, S. 25-56, hier S. 28ff. 28 | Mackowiak, Katja/Schramm, Satyam Antonio: ADHS und Schule. Grundlagen, Unterrichtsgestaltung, Kooperation und Intervention, Stuttgart 2016. 29 | Becker, Nicole: Schwierig oder krank? ADHS zwischen Pädagogik und Psychiatrie, Bad Heilbrunn 2014; K. Mackowiak/S. A. Schramm: ADHS und die Schule. 30 | N. Becker: Schwierig oder krank? 31 | Ebd. 32 | Groß, Samira u.a.: ADHS im Erwachsenenalter, in: Der Nervenarzt, Heidelberg 2015. 33 | C. Gawrilow: Lehrbuch ADHS, S. 52. 34 | Ebd., S. 43. 35 | K. Mackowiak/S. A. Schramm: ADHS und die Schule. 36 | Zur Geschichte der Diagnose »ADHS« nach DSM und ICD (C. Gawrilow: Lehrbuch ADHS, S. 24).

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

neuester kognitionswissenschaftlicher, medizinischer, psychiatrischer und psychologischer Erkenntnisse immer wieder aufs Neue eine Geschichte der Diagnose »ADHS« generiert wird. Diese Narrationen beginnen wahlweise bei Alexander dem Großen, Goethe oder Edison,37 Heinrich Hoffmann (Mitte des 19. Jahrhunderts), 1902 bei George Still38 oder auch erst in den 1930er Jahren bei Franz Kramer und Hans Pollnow.39 Die Genese und Bedeutung des »Krankheitsbildes« »ADHS« mit seinem Erscheinungsbild in der Trias »Unaufmerksamkeit«, »Hyperaktivität« und »Impulsivität«40 wird in der Moderne dabei stets auch mit »Gegenwartsdiagnosen« verknüpft. So wird etwa bei Müller, Candrian und Kropotov 2011 in ihrem Buch »ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis«41 im Zusammenhang der Plausibilisierung der Entstehung der Diagnose durch die Arbeiten des Kinderarztes und Kinderbuchautors Heinrich Hoffmann Mitte des 19. Jahrhunderts oder auch durch den Mediziner George Still Anfang des 20. Jahrhunderts ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Reizüberflutungen, die durch neue Technologien induziert werden, Urbanisierungseffekten, Industrialisierung, schlechten Arbeitsbedingungen, sozialer und politischer Unruhe sowie dem Zeitgeist des »Sozialdarwinismus« und dem Phänomen »Unaufmerksamkeit« hergestellt. Zudem wird die These aufgestellt, dass durch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts »gefragten Tugenden«, wie »Ordnung, Pünktlichkeit und Selbstbeherrschung« unruhige Kinder »stärker« auffielen als zuvor. In diesem Zusammenhang wird auch der Pädagoge Ludwig von Strümpell zitiert, der »Unruhe und Unaufmerksamkeit« 1890 als »Konstitutionellen Charakterfehler« klassiert habe.42 Medizinische oder pädagogische Diagnosen von »Unaufmerksamkeit« und »Aufmerksamkeitsdefiziten« finden sich jedoch weit früher als in den diversen »Narrationen« über die »Entdeckung« der Diagnose »ADHS« angenommen.43 Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts finden sich einschlägige Dokumente, die belegen, dass die Phänomene »Unaufmerksamkeit« und »Aufmerksamkeitsdefizite« sowohl in diversen wissenschaftlichen Diskursen als auch in Alltagsdiskursen mit diversen »Gegenwartsdiagnosen« verknüpft wurden. Um zu plausibilisieren, wie die Diagnose »Unaufmerksamkeit« als Problem der modernen Gesellschaft diskursiviert wird, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die »Entdeckung« des Phänomens »Aufmerksamkeit« für die sich im 18. Jahrhundert etablierenden Humanwissenschaften und deren Bedeutung für modernen Gesellschaften. Der Fokus liegt im Folgenden auf paradigmatischen Deutungen des Phänomens Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit in der Medizin, der ra-

37 | Rothenberger, Aribert/Neumärker, Klaus-Jürgen: Wissenschaftsgeschichte der ADHS. Kramer-Pollnow im Spiegel der Zeit, Darmstadt 2005. 38 | Still, George F.: The Goulstonian Lectures on Some Abnormal Psychical Conditions in Children, in: The Lancet London 159, 1902, Nr. 4102, S. 1008-1013. 39 | A. Rothenberger/K.-J. Neumärker: Wissenschaftsgeschichte der ADHS. 40 | K. Mackowiak/S. A. Schramm: ADHS und die Schule. 41 | Müller, Andreas/Candrian, Gian/Kropotov, Juri: ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis, Berlin/Heidelberg 2011. 42 | Ebd., S. 32f. 43 | Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts.

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tionalistischen empirischen Psychologie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Philosophie und der Pädagogik des 18. Jahrhunderts.

3. A ufmerksamkeit als E rkenntnisvermögen und K ulturtechnik im 18. J ahrhundert und »U naufmerksamkeit« als P roblem der M oderne Die früheste bekannte Quelle, in der »Unaufmerksamkeit« und Aufmerksamkeitsdefizite beobachtet und diskutiert wurden, stammt von dem Arzt Melchior Adam Weikard.44 Weikards Aufsatz »Mangel der Aufmerksamkeit. Attentio Volubilis« von 1775 gilt als die früheste Quelle, die sich mit dem Phänomen und der Diagnose »Unaufmerksamkeit« befasst und ist bereits sehr nah an den aktuellen Beschreibungen dessen, was heute als »Unaufmerksamkeit« unter das ADHS-Syndrom subsummiert wird.45 Eine weitere frühe Quelle aus der Medizin stammt von dem Arzt Alexander Crichton, der ebenfalls bereits Ende des 18. Jahrhundert in seinem Aufsatz: »An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement: On Attention and its Diseases« von 1798 über die »Mental Restlessness« und Aufmerksamkeitsstörungen berichtet.46 In der rationalistischen empirischen Psychologie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird der Aufmerksamkeit in Christian Wolffs »Psychologia empirica« erstmals ein Platz in der Psychologie zugewiesen. Sie wird zu einer eigenständigen »facultas« erklärt und den oberen Erkenntnisvermögen zugeschlagen.47 Wolff definiert Aufmerksamkeit als die Fähigkeit, »einen Teil einer zusammengesetzten Wahrnehmung klarer zu machen als die übrigen«.48 Diese Konzentration auf den Teil eines Ganzen setzt ein Ausblenden voraus. Deshalb sei es zur Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit nötig, die Aktivitäten der Einbildungskraft (imaginatio) und der äußeren Sinne zu reduzieren. »Kurz, die nicht-rationalen Kräfte müssen

44 | Barkley, Russell/Peters, Helmut: The Earliest Reference to ADHD in the Medical Literature? Melchior Adam Weikard’s Description in 1775 of »Attention Deficit« (Mangel der Aufmerksamkeit, Attentio Volubilis), in: Journal of Attention Disorders 16, 2012, S. 623-630; Martinez-Badía, Jose/Martinez-Raga, Jose: Who says this is a modern disorder? The early history of attention deficit hyperactivity disorder, in: World Journal of Psychiatrie 5, 2015, S. 379-386. 45 | Lakoff, Andrew: Adaptive will: The evolution of attention deficit disorder, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 36, S. 149-169; R. Barkley/H. Peters: The Earliest Reference to ADHD in the Medical Literature?; J. Martinez-Badía/J. Martinez-Raga: Who says this is a modern disorder? 46 | Palmer, Erica/Finger, Stanley: An Early Description of ADHD (Inattentive Subtype): Dr. Alexander Crichton and »Mental Restlessness« (1798), in: Child Psychology and Psychiatry Review 6, 2001, S. 66-73. 47 | Adler, Hans: Bändigung des (Un)Möglichen. Die ambivalente Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Aufklärung, in: Steigerwald, Jörn/Watzke, Daniela (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Über Erregung und Steigerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003, S. 41-55, hier S. 45. 48 | Ebd., S. 46.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

für ein Gelingen der Aufmerksamkeit tendenziell abgeschaltet werden«.49 Diese Ausführungen Adlers zeigen Wolffs kognitive Konstruktion der Aufmerksamkeit auf. Adler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Wolff jedoch auch den für pädagogische Fragestellungen relevanten kulturellen Charakter der attentio sowie deren Erwerb und Übung betont.50 In der Philosophie, der »Erfahrungsseelenkunde« (Moritz), der rationalistischen »Psychologie« und der Pädagogik des 18. Jahrhunderts wird zudem die willkürliche Aufmerksamkeit von der unwillkürlichen Aufmerksamkeit unterschieden. Der Pädagoge Johann Bernhard Basedow bezeichnet diese beiden Aufmerksamkeitsformen in seinem »Elementarwerk« auch als die vorsätzliche und die unvorsätzliche Aufmerksamkeit.51 Bei der willkürlichen Aufmerksamkeit wird davon ausgegangen, dass der Mensch seine Aufmerksamkeit mittels des Willens kontrollieren und lenken kann. Diese Art der Aufmerksamkeit wird mit Freiheit, Vernunft und Selbstkonstitution verbunden. Die unwillkürliche Aufmerksamkeit ist dagegen eine Aufmerksamkeit, bei der der menschliche Wille gar keinen Einfluss auf das Eintreten derselben hat.52 Die Aufmerksamkeit wird »vielmehr von Reizen (innerlichen wie äußerlichen) erweckt, ist von ihnen abhängig, ohne das wir es beabsichtigen, ja oft gegen unseren Willen«.53 Mit der Einführung der Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis durch Alexander Gottlieb Baumgarten werden ab Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals auch die unteren Erkenntnisvermögen und damit auch die unwillkürliche Aufmerksamkeit aufgewertet.54 Konsensfähig und herrschend für die »Psychologie« des späten 18. Jahrhunderts wird dann schließlich die Auffassung der Aufmerksamkeit als Seelenvermögen, das zwischen unteren und oberen Erkenntniskräften vermittelt.55 Wenn aber die Aufmerksamkeit »als grundlegende Vermittlungsinstanz […] konzeptualisiert wird, gleichzeitig […] im Rationalismus die willkürliche Aufmerksamkeit als Einwirkung der Seele auf die Sinne und damit als Akteur des Verstandes interessant ist, dann müssen mit der Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen erschwerte Bedingungen herrschen. Auch der unwillkürlichen Aufmerksamkeit soll nun ihr Erkenntnisrecht verliehen werden, was

49 | Ebd. 50 | Ebd., S 47. 51 | Basedow, Johann Bernhard: Elementarwerk. Kritische Bearbeitung (der 2. Auflage von 1785) in drei Bänden, Leipzig 1909; D. Braunschweiger: Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts, S. 63. 52 | D. Braunschweiger: Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts, S. 63. 53 | J. B. Basedow zit.n. ebd., S. 25. 54 | Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert, in: J. Steigerwald/D. Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit, S. 55-74, hier S. 58ff. 55 | D. Braunschweiger: Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts, S. 21ff.; Neumann, Odmar: Art. »Aufmerksamkeit«, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971-2007, Bd. 1, S. 635-645, hier 635ff.; B. Thums: Aufmerksamkeit, S. 58.

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die Aussichten auf eine erfolgreiche Steuerung der Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse insgesamt jedoch immer unsicherer macht«.56 Anschauliche Beispiele dieses Dilemmas liefern die zeitgenössische Moralphilosophie und die empirische »Psychologie«, die »mit Blick auf die bürgerliche Tugenderziehung zur Verbesserung des individuellen Aufmerksamkeitsvermögens aufrufen, gilt dieses doch als Grundlage der hierfür notwendigen Selbsterkenntnis«.57 Als Ausweg aus diesem Dilemma wird von Philosophen, Ärzten und Pädagogen die diätetische Kunst des Maßhaltens, eine spezielle »ästhetische Erziehung«58 und die Entwicklung einer Psychotechnik empfohlen, welche die willkürliche Aufmerksamkeit zu verbessern und die unwillkürliche Aufmerksamkeit »zu zügeln und die sinnlichen Kräfte zu reglementieren« in der Lage ist.59 Zugleich wird eine entsprechende Ausbildung der »Kulturtechnik«60 Aufmerksamkeit zu einer zentralen Aufgabe der Tugend- und Vernunfterziehung erklärt. Oder wie Michael Hagner es für das 18. Jahrhundert zusammenfasst: »[Attention] becomes an instrument in education and the development of the individual, and therefore a bourgeois virtue. To exaggerate and generalize, one could say that the moment reason becomes important, so does attention«.61 Aufmerksamkeit wird also zu einer wichtigen Kategorie, seit der Mensch als unbestimmtes, bildsames und perfektibles Vernunftwesen konstruiert wird.62 Diese Auffassung vom Menschen, die eine Umstellung von Fremd- auf Selbstreferenz impliziert,63 steht auch im Zusammenhang des Wechsels von einem mechanistischen hin zu einem organologischen Denken. Diese Umstellung auf selbstreferenzielle und organologische Denkmodelle hatte auch einen Paradigmenwechsel in der Bildungstheorie und Pädagogik der Moderne zur Folge.64 So orientierte sich die Pädagogik an neuen Ergebnissen der Naturwissenschaft, Medizin, Physiologie und Anthropologie und ging von der »Reizbarkeit«65 und Empfindungsfähigkeit lebendiger Materie und Körper aus. Dies intensivierte die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Freiheit des Menschen, aber auch das Interesse an Aufmerksamkeitsprozessen. So werden im 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Disziplinen Überlegungen zum Stellenwert von Ästhetik und Aufmerksamkeit als Vermittlungsmodi zwischen Natur und Freiheit angestellt und Fragen nach den Möglichkeiten der Bildung und Erziehung zu Moralität und Sittlichkeit diskutiert.

56 | B. Thums: Aufmerksamkeit, S. 58. 57 | Ebd. 58 | Ebd., S. 63. 59 | Ebd., S. 67. 60 | A. Assmann: Einleitung, S. 13; B. Thums: Aufmerksamkeit, S. 11. 61 | M. Hagner: Toward a History of Attention in Culture and Science, S. 673. 62 | Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts. 63 | Luhmann, Niklas: Frühneuzeitliche Anthropologie, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt a.M., 1993, Bd. 1, S. 162-235. 64 | Müller, Hans-Rüdiger: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 14ff. 65 | Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 123ff.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

Aufmerksamkeit, so kann man zusammenfassen, wird seit dem 18. Jahrhundert normativ im Hinblick auf die Vernunftentwicklung des Menschen und die Idee des perfektiblen Menschen gedeutet; wurde zu einem Instrument der Bildung und Disziplinierung der Persönlichkeit und damit zu einer bürgerlichen Tugend. Die philanthropistische Pädagogik etwa entwickelte eigene Programme, in denen der Menschwerdung des Menschen mit seinen physischen, kognitiven und sittlichen Vermögen und zum Teil sogar proto-experimentell nachgegangen wurde.66 So interessierte sich die philanthropistische Pädagogik bereits für Aufmerksamkeitsdefizite der Kinder im Bereich der willkürlichen Aufmerksamkeit. Diese als Aufmerksamkeitsdefizite beobachteten Phänomene wurden in diesem Kontext als Willensschwäche gedeutet, der über pädagogische Arrangements wie etwa aufmerksamkeitsfördernde Bildungs- und Lernumgebungen oder Übungen und Habitualisierungen abgeholfen werden sollte. Aufmerksamkeit wird damit zu einem pädagogisch herzustellenden Produkt im Dienste der Personänderung und der Humanisierung des Menschen.

4. K onstruk tionen der A ufmerksamkeit und der  »U naufmerksamkeit« in der P ädagogik des 18. J ahrhunderts Wie Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts konzeptualisiert wurde, wird im Folgenden zunächst am Beispiel des Philanthropismus und der Konzepte von Johann Bernhard Basedow und Joachim Heinrich Campe dargestellt. Hierbei lässt sich zeigen, dass sich die Pädagogik zwar immer an philosophischen und psychologischen Konstruktionen der Aufmerksamkeit orientiert, aber auch eigenständige Codierungen der Aufmerksamkeit leistet. So interessiert sich die Pädagogik nicht nur für die Erkenntnistheorie der Aufmerksamkeit, sondern auch für die Phänomene der Selbstaufmerksamkeit, die in Bildungs- und Erziehungsprozessen eine Rolle spielen. Sie thematisiert die Aufmerksamkeit auf die Bildungsinhalte und -gehalte, auf die Entwicklung des Zöglings und die Aufmerksamkeit des Zöglings selbst. Basedows und Campes Aufmerksamkeitspädagogiken, die im Folgenden vorgestellt werden, sind insofern exemplarisch. In Johann Bernhard Basedows »Elementarwerk« von 1770-1774 wird Aufmerksamkeit zur Basis für Erfahrungs-, Erinnerungs- und Lernprozesse wie auch für die bewusste Kenntnis, aber auch Kontrolle des eigenen Selbst erklärt.67 Die Kultivierung der Aufmerksamkeit ist allerdings nicht nur bedeutsam für den Zögling, sondern auch für den Erzieher bzw. die Erzieherin, der die »erste Erziehung« des Kindes oblag, wie Joachim Heinrich Campe in seiner Schrift »Über die früheste Bildung junger Kinderseelen«68 von 1785 deutlich macht. Die Begründungsgrundlage für eine notwendige professionelle Einweisung der Mütter in die Methodik der Erziehung findet sich in der von den Philanthropen favorisierten sensualistischen Erkenntnistheorie sowie in der Auffassung, dass die erste Prägung über das spä66 | Vgl. ebd., S. 11. 67 | J. B. Basedow: Elementarwerk. 68 | Campe, Joachim Heinrich: Über die früheste Bildung junger Kinderseelen, Frankfurt a.M. 1985 (urspr. 1785).

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tere Leben des Kindes entscheidet. Mütterliche »Schuld« konnte dabei nicht nur durch erzieherisches Handeln, sondern ebenso gut durch falsches physisches und psychisches Verhalten in der Schwangerschaft verursacht sein: »Mütter, denen das künftige Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, können […] von dem ersten Augenblicke ihrer Empfängniß an nicht zu aufmerksam auf die Erhaltung der Gesundheit ihres Leibes und ihres Geistes seyn; können vor jeder Unmäßigkeit, vor jeder Ausschweifung aus der graden Straße der Tugend und Rechtschaffenheit, und vor jedem widrigen Affekte, nicht zu sorgfältig sich in Acht nehmen«. 69

Es bedarf somit einer willkürlichen und steten Selbstaufmerksamkeit, um zu gewährleisten, dass das Kind sich positiv entwickeln kann, oder in der vegetabilen Metaphorik Campes gesprochen: dass das »zarte, so eben erst hervorgequollene Knöspchen zu einem gesunden und starken Fruchtaste gedeihen« könne.70 Ähnlich wie Christian Gotthilf Salzmann, der in seinem »Symbolum« von dem Grundsatz ausging, dass »von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge […] der Erzieher den Grund in sich selbst« suchen müsse,71 setzte bereits Campe auf eine methodisch angeleitete Selbstanalyse, die die erziehende Person dazu anhält, den Grund für Erziehungsfehler bei sich zu suchen.72 Campe verlangt von den Müttern einen zu kultivierenden Habitus der Selbstaufmerksamkeit, Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, um die notwendige Distanz zu sich selbst und zum Kind herzustellen. Erst diese »Kultivierung des Verhaltensorganismus« 73 ermöglicht den unverstellten Blick auf die Eigendynamik und die selbsttätige Entwicklung des Kindes und ist die notwendige Voraussetzung der empfohlenen Handlungs- und Erziehungskompetenz. Selbstbeobachtung und Selbstaufmerksamkeit werden zu einer zentralen Kulturtechnik erklärt, ohne die ein adäquater Erzieherhabitus nicht zu erlangen ist. In dem Kapitel »allgemeine Grundsätze der Seelenerziehung« aus der Abhandlung: »Über die früheste Bildung junger Kinderseelen« 74 weist Campe seine Leserinnen in die erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner sensualistischen Erziehung ein. Ausgehend von seinen Überlegungen zur Sinnes- und Verstandesentwicklung des Kindes empfiehlt Campe den Entwicklungsprozess des Kindes durch Anregungen der Seelenkräfte und das Prinzip der Wiederholung nutzende Übungen zu befördern. Er wendet sich gegen eine Erziehung, die einzig darauf achtet, der Entwicklung des Kindes keine Hindernisse in den Weg zu legen und 69 | Ebd., S. 87. 70 | Ebd. 71 | Salzmann, Christian Gotthilf: Ameisenbüchlein, Paderborn 91912, S. 17; Kersting, Christa: Die Genese der Pädagogik im 20. Jahrhundert. Campes »Allgemeine Revision« im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft, Weinheim 1992, S. 302f. 72 | C. Kersting: Die Genese der Pädagogik im 20. Jahrhundert, S. 303. 73 | Bornscheuer, Lothar: Überlegungen zur literaturanthropologischen Relevanz des systemtheoretischen Ansatzes von Talcott Parsons, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. internationalen Germanisten Kongresses Göttingen, 11 Bde., Tübingen 1986, Bd. 9, S. 11-20, hier S. 17. 74 | J. H. Campe: Über die früheste Bildung junger Kinderseelen.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

votiert dafür, dass »man, um eine junge Seele zu bilden, den Gang und die Absichten der Natur nicht nur nicht stören, sondern auch werkthätig befördern dürfe und müsse«.75 So sollen nach Campe alle Seelenvermögen durch Erziehung ausgebildet werden, wie der Verstand, die Vernunft, Einbildungskraft, Gedächtnis, Witz, Scharfsinn, Sinneskraft und auch die Aufmerksamkeit. Nach Campe ermöglicht eine »größere und anhaltendere« Aufmerksamkeit in der Ontogenese den Anfang der Verstandestätigkeit und der Menschwerdung überhaupt: »In der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres äussern die Seelen unserer Kinder nicht mehr Verstandesfähigkeit, als die Tiere, das heißt gar keine. […] In der andern Hälfte eben desselben Jahres fangen sie nach und nach, das eine mehr das andere weniger an, eine merklich größere und anhaltendere Aufmerksamkeit auf verschiedene Gegenstände zu äußern, und das ist ein Zeichen, dass der angehende Mensch sich vom Tiere loszuwinden sucht, oder dass die Verstandesfähigkeit des Kindes im Erwachen begriffen ist«.76 Damit wird die Aufmerksamkeit zum Ausgangspunkt für pädagogisches Handeln gemacht.77 Zudem ist die »Bildung der Aufmerksamkeit« 78 zentral für die Übung der Verstandeskraft, deren Beförderung ein wichtiges Erziehungsziel darstellt.79

5. D ie D iagnose »U naufmerksamkeit« im K onte x t der   wissenschaf tlichen Pädagogik des 19. und zu B eginn des 20. J ahrhunderts Dass Aufmerksamkeitssteuerung eine zentrale Aufgabe der Pädagogik ist, hat auch Herbart 1802 in seiner Abhandlung zu »Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung« deutlich gemacht.80 Deren Bedeutung betont er auch noch 30 Jahre später in den »Briefen über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik«: »Was kann denn«, so fragt er dort, »dem Pädagogen wichtiger als die Aufmerksamkeit« sein?81 So ist insbesondere die »Spannung und Festhaltung der Aufmerksamkeit«

75 | Ebd., S. 192. 76 | Ebd., S. 192f. 77 | Zur besonderen Logik der Aufmerksamkeitserzeugung, -lenkung und -aufrechterhaltung in der Pädagogik, insbesondere im Schulunterricht vgl. Markowitz, Jürgen: Verhalten im Systemkontext. Zum Begriff des sozialen Epigramms. Diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt a. M 1986; J. Kade: Aufmerksamkeit – nicht aufmerksam – unaufmerksam. 78 | Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit. 79 | Zu Campes Konzept einer erfolgreichen »Aufmerksamkeitserziehung« im 18. Jahrhundert vgl. Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts. 80 | Ehrenspeck, Yvonne: Versprechungen des Ästhetischen. Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts, Opladen 1998, S. 220ff.; A. von Prondczynsky: »Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit«, S. 122. 81 | Herbart, Johann Friedrich: Pädagogische Briefe oder Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik, in: Ders.: Pädagogische Schriften, 3 Bde., Stuttgart 1982, Bd. 2: Pädagogische Grundschriften (urspr. 1832), S. 157-255, hier S. 247.

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ein »wichtiges Präliminarproblem aller Erziehung«.82Herbart hofft auf eine allmähliche Kultivierung der willkürlichen Aufmerksamkeit des Zöglings durch eine pädagogisch geleitete kontinuierliche Übung, die von der »rohen« hin zur »reifen Anschauung« führt.83 Ende des 19. Jahrhunderts wird diese Sicht allerdings erheblich irritiert. So erweisen Experimente im Umfeld der Psychophysik die willkürliche, vom Bewusstsein steuerbare Aufmerksamkeit selbst als zweifelhafte Instanz aus, und die willkürliche Aufmerksamkeit wird insgesamt zum Ausnahmezustand.84 Zugleich aber wird gerade deshalb, weil die Individuen einem »cultural double bind« zwischen den subjektiven Erschütterungen der Modernisierung und dem Zwang zu gesellschaftlicher Disziplinierung und Produktivität ausgesetzt sind, die Notwendigkeit einer wirkungsvollen Wahrnehmungsdisziplinierung und Aufmerksamkeitssteuerung immer dringlicher.85 Zentraler Gegenstand von Forschung wird Aufmerksamkeit aber auch in den Naturwissenschaften, insbesondere der Sinnesphysiologie und Psychologie86 sowie dann auch in der von diesen Disziplinen beeinflussten »experimentellen Pädagogik«.87 Diese geht den Phänomenen Aufmerksamkeitssteigerung und Aufmerksamkeitsverlust in vielfältigen experimentellen Untersuchungen nach. Es wird eine »physiologische Pädagogik«88 empfohlen, die sich an den Naturwissenschaften, insbesondere der Physiologie des 19. Jahrhunderts orientiert.89 Aufmerksamkeitsdefizite werden in der Folge mit »Energieverlusten«, »Ermüdungserscheinungen« sowie »Überbürdungen« erklärt und damit in einen Zusammenhang mit typischen Gegenwartsdiagnosen der Moderne gestellt.90 Im Anschluss daran werden pädagogische Handlungsanweisungen zur Aufmerksamkeitssteuerung formuliert. So empfiehlt Ernst Meumann, ein Vertreter der »expe-

82 | Herbart, Johann Friedrich: Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung untersucht und wissenschaftlich ausgeführt, in: Ders.: Pädagogische Schriften, 3 Bde, Stuttgart 1982, Bd. 1: Kleinere pädagogische Schriften (urspr. 1802), S. 76-97, hier S. 80. 83 | Ebd., S. 80f. 84 | Hagner, Michael: Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand, in: Haas, Norbert/Nägele, Rainer/Rheinberger, Hans-Jörg (Hg.): Aufmerksamkeit, Eggingen 1998, S. 273-294, hier S. 287. 85 | B. Thums: Die schwierige Kunst der »Selbsterkenntnis – Selbstbeherrschung – Selbstbelebung«, S. 140f. 86 | M. Hagner: Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand; Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kunst, Frankfurt a.M. 2002. 87 | Meumann, Ernst: Intelligenz und Wille, Leipzig 1913. 88 | Preyer, William: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 1923 (urspr. 1882), S. IX; Oelkers, Jürgen: Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 245-286, hier S. 264. 89 | Vgl. J. Oelkers: Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert. 90 | Ebd., S. 271ff.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

rimentellen Pädagogik«91 in seiner Schrift: »Intelligenz und Wille« von 1913, das das Kind seinen Willen schulen müsse, um konzentriert aufmerken zu können«.92 Aber auch die Reformpädagogik entdeckt die Aufmerksamkeit.93 Hier geht es allerdings nicht so sehr um die Übung der willkürlichen Aufmerksamkeit, sondern um die Förderung von Aufmerksamkeitsprozessen, zu denen das Kind natürlicherweise von sich aus immer schon in der Lage ist. Dies ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Maria Montessori in ihrem Buch »Kinder sind anders« nachzulesen.94 »Mit der Aufmerksamkeit und ihrer Polarisation« spricht Montessori eine grundlegende Fähigkeit des Kindes an, »mittels derer die Strukturierung des Lernens unterstützt und gefördert werden kann«.95 Aufmerksamkeit muss also nicht erst eingeübt, sondern sie muss vielmehr zugelassen werden. Montessori setzt auf die Selbstbildungskräfte des Kindes, die allerdings durch pädagogisch gestaltete, kindgemäße Lernumgebung gefördert werden können. Reize und Überforderungen aus der modernen Lebenswelt müssen ausgeschlossen werden.

6. D ie D iagnosen »U naufmerksamkeit« und »ADHS« im K onte x t der wissenschaf tlichen P ädagogik und der E rziehungswissenschaf t und ihrer R eferenzdisziplinen im 20. und 21. J ahrhundert Ebenfalls reformpädagogisch motiviert ist das Interesse des Pädagogen Martin Wagenschein an der Aufmerksamkeit und auch an der »Unaufmerksamkeit«. So stellt er »Unaufmerksamkeit« in den Kontext einer »Gegenwartsdiagnose« und spricht in seinem Aufsatz »Über die Aufmerksamkeit« von 1959 von den Gefahren der Reizüberflutung durch die Medien, die dazu führen, dass immer mehr Kinder in der Schule »unaufmerksam« sind.96 Wagenschein setzt dagegen ein neues didaktisches Programm und hofft auf eine Pädagogik, in der die Aufmerksamkeit nicht das Ergebnis einer Willensschulung darstellt, sondern aus einem »Begehren des Schülers« resultiert. Ausgangspunkt von Wagenscheins Argumentation ist die Feststellung, dass es in der Schule an Muße mangele. Dieser Mangel verhindere in der Schule die »Fühlung« mit dem Gegenstand,97 eine Voraussetzung des exemplarischen Lernens. Dieser Mangel an Muße werde immer stärker vom außerschulischen Leben in die Schule hineingetragen. Wenn vom Schüler Aufmerksamkeit verlangt werde, heiße das in der Regel, »munter forsch und aggressiv die Dinge anzupacken«.98 Die rechte Aufmerksamkeit sei aber nicht zu verwechseln mit einer Muskelanstrengung. Überhaupt sei der Wille kaum von Bedeutung. Hier wird 91 | Heinemann, Evelyn/Hopf, Hans: AD(H)S. Symptome. Psychodynamik. Fallbeispiele. Psychoanalytische Theorie und Therapie, Stuttgart 2006. 92 | E. Meumann: Intelligenz und Wille, S. 18. 93 | A. von Prondczynsky: »Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit«, S. 115. 94 | Montessori, Maria: Kinder sind anders, München 2005 (urspr. 1938). 95 | A. von Prondczynsky: »Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit«, S. 115. 96 | Wagenschein, Martin: Über die Aufmerksamkeit, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1959, S. 35-48. 97 | Ebd., S. 38. 98 | Ebd.

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deutlich, dass Wagenschein an der unwillkürlichen Aufmerksamkeit mehr interessiert ist als an der willkürlichen, die vormals im Interesse der Pädagogik stand.99 Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert lassen sich zahlreiche pädagogische Deutungen der willkürlichen und unwillkürlichen Aufmerksamkeitsphänomene finden. Zu beachten ist hierbei aber auch, dass die Bewertung von Aufmerksamkeitsphänomenen insbesondere im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sehr stark beeinflusst ist von den Erkenntnissen der Medizin, der Psychiatrie und der Psychologie sowie gegen Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dann auch von der Neurobiologie, Neuropsychologie, der Epigenetik und den Kognitionswissenschaften.100 Aufmerksamkeitsdefizitphänomene wurden im Kontext früher Erklärungen von Medizin und Pädagogik zunächst als moralisches Defizit, als »Willensschwäche«,101 als pathologische Verhaltensstörungen, als »affektives und moralisches Irresein«,102 als »Erschöpfung des Zentralnervensystems« oder auch als »Neurasthenie«103 sowie als krankhafte, fehlende moralische Kontrolle, als »defect of moral control«,104 beschrieben, um dann spätestens im Verlauf des 20. Jahrhunderts als »Manifestation einer Krankheit« und als »attention deficit«105 identifiziert und diagnostiziert zu werden. Spätestens seit den 1980er Jahren und mit der offiziellen Diagnose »ADD« und »ADHD« (deutsch »ADHS«) durch die Aufnahme der Diagnose in das DSM-III (1980 in den USA) oder in das ICD (10) wurden biomedikalische, biochemische und pharmakologische Interventionen empfohlen. Dies hatte nicht unerhebliche Konsequenzen für den pädagogischen Diskurs über Aufmerksamkeitsdefizitphänomene bei Kindern, Jugendlichen und neuerdings auch bei Erwachsenen.106 99 | Ebd., S. 39. 100 | Becker, Nicole: Der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster in der Debatte über ADHS. Eine Analyse pädagogischer Zeitschriften, in: Mietzner, Ulrike/Tenorth, Heinz-Elmar/ Welter, Nicole (Hg.): Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim 2007, S. 186-202; N. Becker: Schwierig oder krank?; Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Dies.: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts. 101 | Reh, Sabine: Vom »deficit of moral control« zum »attention deficit«. Über die Geschichte der Konstruktion des unaufmerksamen Kindes, in: Kelle, Helga/Tervooren, Anja (Hg.): Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung, Weinheim 2008, S. 109-127. 102 | Mausley, H.: The physiology and pathology of the mind, London 1867, S. 88. 103 | Beard,, George Miller: Neurasthenia, or Nervous Exhaustion. In: Boston Medical and Surgical Journal 80, 1869, S. 217-221. 104 | G. F. Still: The Goulstonian Lectures on Some Abnormal Psychical Conditions in Children, S. 1008. 105 | S. Reh: Vom »deficit of moral control« zum »attention deficit«, S. 114ff. 106 | N. Becker: Der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster in der Debatte über ADHS; Kliems, Harald: Vita hyperactiva. ADHS als biologisches Phänomen, in: Niewöhner, Jörg/ Beck, Stefan (Hg.): Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 143-171; Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts; E. von Stechow: Von Störern, Zerstreuten und ADHS-Kin-

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

Auffällig sind bezogen auf das Phänomen »Unaufmerksamkeit« nicht nur die diversen Phasierungen und Narrative der Genese von »ADS/ADHS« als »diagnostischer« Kategorie. »Störungen«, wie differente Aufmerksamkeitsdefizitphänomene, die als »typisch« für das Phänomen »ADS/ADHS« angesehen werden und die als ausreichend distinkt gelten, um unter der »Diagnose« »ADS/ADHD/ADHS« subsummiert werden zu können, werden, je nach Wahl von Alltagssituationen, wissenschaftlicher Referenzdisziplin, des plausibilisierten Diskurses innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte, in Bezug auf das Lebensalter, für das diese Diagnose »typisch« sein soll, oder im Konnex neu entwickelter Diagnosetechnologien sowie Behandlungs- und Interventionsmöglichkeiten angesiedelt. So werden in Semantiken und Narrativen, die mit Metaphern und Begriffen wie »Ursprung« oder »Entdeckung« argumentieren, diverse Narrative der »Diagnosen« von attentio volubilis, »Unaufmerksamkeit« bis hin zu ADS/ADHD/ADHS, vom Ende des 18. Jahrhunderts über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinweg, oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten im 20. Jahrhundert als »Diagnose« identifiziert und im Kontext von »Gegenwartsdiagnosen« plausibilisiert.107 Bezogen auf das späte 18. und im 19. Jahrhundert werden Phänomene von »Unaufmerksamkeit« und »Aufmerksamkeitsdefizite« (insbesondere im Kontext Unterricht und Schule) als »Willensschwäche« und »moralisches Defizit«108 gedeutet und im Kontext gestiegener gesellschaftlicher Anforderungen in der Moderne bezüglich der Etablierung und Optimierung von Subjektbildungsprozessen interpretiert. Aufmerksamkeitsregulation wird für den Menschen in der Moderne als unbedingt notwendig erachtet, und insbesondere die Pädagogik etabliert sich als die optimale Disziplin und Profession, um Strategien zur Förderung der Willensbildung und Selbstregulierung von Individuen (und Gruppen, wie Schulklassen) zu entwickeln und institutionell zu implementieren.109 Seit der Mitte des 19. Jahrhundert werden Phänomene von »Unaufmerksamkeit« und »Aufmerksamkeitsdefiziten« zum »Krankheitsbild« erklärt und im Medium der Wissenschaften Medizin, Psychiatrie und Pädagogik verbreitet und kontrovers diskutiert. Diese Phänomene werden aber auch in populärer Literatur verarbeitet und thematisiert, wie in dem bekannten Buch: »Der Struwwelpeter« des bekannten Kinder- und Jugendpsychiaters Heinrich Hoffmann. Der »Zappelphilipp« wird Mitte des 19. Jahrhunderts zur ikonischen Darstellung stilisiert, die die Diagnose »ADS« und »ADHS« popularisiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Thema Aufmerksamkeit und »Unaufmerksamkeit« ebenfalls zu einem zentralen Thema in der sich neu etablierenden wissenschaftlichen Disziplin Psychologie. Auch in dieser Disziplin wird das Phänomen »Unaufmerksamkeit« (kontrovers) diskutiert, etwa in den Schriften von William James, der »Aufmerksamkeitsdefizitphänomene« als »Persönlichkeitsfaktor« deutet, und diesen auf mangelnde Impulskontrollfähigkeit zurückführt. Zugleich entwickelt sich das Thema »Undern; Becker, Nicole: Schwierig oder krank? ADHS zwischen Pädagogik und Psychiatrie, Stuttgart 2015. 107 | Müller, Andreas/Candrian, Gian/Kroptow, Juri: Neurodiagnostik in der Praxis, Berlin/ Heidelberg 2011. 108 | S. Reh: Vom »deficit of moral control« zum »attention deficit«. 109 | Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts.

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aufmerksamkeit« in der wissenschaftlichen Pädagogik im Kontext von Scholarisierungseffekten und der Ende des 19. Jahrhunderts gelungenen Totalinklusion in das Schulsystems zu einem Topthema des Herbartianismus, der Reformpädagogik und auch von empirischer Forschung und Professionstheorie. Im 20. Jahrhundert wiederum wurde die »Entdeckung« des Phänomens »ADS/ ADHD/ADHS« erstmals 1902 dem Mediziner George Still und dessen Diktum einer »abnormal psychical condition« zugeschrieben,110 und unter anderem durch das Phänomen einer »mental restlessness« gekennzeichnet.111 Einen weiteren Paradigmenwechsel in der Diagnose »Aufmerksamkeitsdefizit« stellen die Verbindung von biopsychiatrischer Diagnostik von »Aufmerksamkeitsdefiziten« und deren medikamentöse Behandlung durch Psychopharmaka in den 1930er Jahren durch den Psychiater Charles Bradley und die Arbeiten der beiden Psychiater Kramer und Pollnow dar. In ihrer Wissenschaftsgeschichte der ADHS lassen Aribert Rothenberger und Klaus-Jürgen Neumärker die Diagnose »ADS/ ADHD/ADHS« sogar erst mit Kramer/Pollnow »beginnen«.112 Dieser Diskurs wurde flankiert von weiteren auftretenden Vermutungen, etwa über Hirnläsionen und der wenig distinkten Diagnose »minimal brain dysfunction« oder »Minimale Cerebral Dysfunction«, »MCD«.113 Durch die Forschungen von Charles Bradley (der in den 1930er Jahren erstmalig Versuche mit »Benzedrin« an Kindern mit unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten durchführte) zu Unaufmerksamkeitsphänomen und zu Aufmerksamkeitsprozessen und deren Steuerung durch Psychopharmaka wurde in den 1930er Jahren zugleich ein biomedikalischer Diskurs um das Phänomen »Unaufmerksamkeit« angestoßen.114 Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde diese neurophysikalische, neuropsychiatrische und biomedikalische Sichtweise auf das Phänomen »ADHS« durch die »Neurodiagnostik« und durch neuere und neueste Diagnosetechnologien, und -medien, wie das EEG, das CT und das MRT oder den neu »entdeckten« »Biomarkern« noch weiter untermauert.115 Diese ebenfalls gängige Phasierung in der Medizin und Psychiatriegeschichte und die »erstmalige« Identifizierung der »Diagnose« diente der Plausibilisierung eines Narrativs, welches die »Entdeckung« und Ausdifferenzierung der Diagnose, sowie die der typischen Temporallogik von Diagnosen folgenden adäquaten Interventionen bei ADS/ADHD/ADHS in der Neuropsychologie und der Biomedizin ansiedelt und plausibilisiert. In der Folge taucht die Diagnose dann erstmals 1978 als »Hyperkinetisches Syndrom« und in den 1980er Jahren in den USA auf der Ebene von Klassifikationssystemen als »Attention Deficit Disorder« (ADD) im DSM-III auf. Zuletzt formiert sich die Diagnose schließlich als »ADHD« (bzw. ADHS) in weiteren Auflagen des DSM-IV und DSM-V (2014), wobei 2014 im DSM V eine Erweiterung des Zeitrau110 | G. F. Still: The Goulstonian Lectures on Some Abnormal Psychical Conditions in Children. 111 | Ebd. 112 | A. Rothenberger/K.-J. Neumärker: Wissenschaftsgeschichte der ADHS. 113 | H. Kliems: Vita hyperactiva. 114 | Ebd., S. 145. 115 | A. Müller/G. Candrian/J. Kroptow: Neurodiagnostik in der Praxis.

Diagnose: »Unaufmerksamkeit«

mes des Auftretens der ersten Symptome im Alter von 7 Jahren, wie noch im DSM IV festgelegt, auf das Alter von 11-13 Jahren (DSM V) vorgenommen wurde. Im ICD der WHO taucht das Syndrom erstmals 1974 im ICD 8 auf. Allerdings liegt im ICD die Betonung auf dem Aspekt der »Hyperaktivität« und weniger auf dem Aspekt der »Unaufmerksamkeit«. Auch wenn das DSM und das ICD große Unterschiede im Hinblick auf die Diagnose »ADHS« aufweisen, konnte sich die Diagnose »ADHS« vermittelt auch über diese prominenten Diagnosemanuale weltweit etablieren. Die neueste bedeutsame Entwicklung bezüglich der Diagnose »Unaufmerksamkeit« und »ADHS« zeigt sich insbesondere in der Etablierung von neuesten Selbstoptimierungsdispositiven  durch die Verbindung und Anwendung von Medizintechnik, Digitaltechnik und Pädagogik, etwa durch »Selftracking« und die Erfindung von Apps und Wareables in der Medizintechnik und deren Anwendung in der Medizin, Psychiatrie und in Alltagskontexten wie Schule und Freizeit.116 So kann man im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine allmähliche Diskursverschiebung vom »deficit of moral control« hin zum »attention deficit« beobachten.117 Aufmerksamkeitsdefizite werden im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer seltener als Willensschwäche und Erziehungsdefizit gedeutet, wie dies noch im 18. und 19. Jahrhundert der Fall war, sondern werden spätestens seit den 1980er Jahren vermehrt biopsychiatrisch gedeutet und als neurobiologische Vorgänge beschrieben, auf die zunächst mit pharmazeutischen Interventionen zu reagieren ist, bevor pädagogische Maßnahmen überhaupt greifen können. Damit sind wiederum Diskursverschiebungen in den Humanwissenschaften im Hinblick auf die Deutung des Verhältnisses von Natur und Freiheit des Menschen zu beobachten, was sich in besonderer Weise im Diskurs der pädagogischen Wissenschaft und deren Rezeption der neurobiologischen Forschungen zum Phänomen der Aufmerksamkeitsdefizitund Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) rekonstruieren lässt.118

116 | Die Entwicklung von »AwareMe« (gefördert durch das BMBF) ist dafür ein aktuelles Beispiel für die »Unterstützung des Selbstmanagements« für Patient*innen mit »ADHS« durch die »Entwicklung eines modularen und interaktiven Therapiesystems« verbunden mit dem Einsatz interaktiver digitaler Medientechniken, insbesondere mithilfe von »Smartphones«; vgl. die Homepage des BMBF (URL: https://www.technik-zum-menschen-bringen. de/projekte/awareme [22.4.2018]). 117 | S. Reh: Vom »deficit of moral control« zum »attention deficit«. 118 | N. Becker: Der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster in der Debatte über ADHS; Dies.: Schwierig oder krank?; Y. Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit; Y. Ehrenspeck-Kolasa: Das Thema Aufmerksamkeit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts.

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V. Felder des Diagnostischen

»The Great Moderation« Makroökonomische Zeitdiagnosen vor der Great Recession 2008ff. und die blinden Flecken der Mainstream-Ökonomik Hanno Pahl

1. E inleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einer Gegenwartsdiagnose aus der zeitgenössischen Mainstream-Makroökonomik. Das ist aus zwei Gründen eher ungewöhnlich, die deshalb hier vorangestellt werden sollen: (a) Erstens gibt es vergleichsweise wenig Forschungen aus der Soziologie (oder ihren Nachbardisziplinen), die sich einer Analyse von Ökonomik und ökonomischem Wissen widmen. Zuletzt konnte man dies im Zuge der wirtschaftlichen Verwerfungen ab 2007 (Finanz-, Wirtschafts- und Staatschuldenkrisen) besichtigen. Es gab zwar eine große Aufmerksamkeit in den verschiedenen Qualitätszeitungen, wo über ein mögliches Versagen oder gar eine Mitschuld der Ökonomik am Krisenprozess diskutiert wurde.1 Stimmen aus der Soziologie oder aus den anderen nicht primär auf Wirtschaft geeichten Sozial- und Kulturwissenschaften haben sich an diesen Debatten allerdings fast gar nicht beteiligt. Das gilt auch und gerade für die Wirtschaftssoziologie, die nicht nur selbst kaum Beiträge zu den Krisendynamiken vorgelegt hat, sondern auch die Mainstream-Ökonomik – jenseits pauschaler Abgrenzungsnarrative, die zum identitätsstiftenden Kernbestand der Wirtschaftssoziologie zu zählen sind – nicht im Detail betrachtet hat. So etwas wie ein identifizierbares Forschungsfeld, wo von sozialbzw. kulturwissenschaftlicher Warte aus die Ökonomik als Gegenstand systematisch adressiert wird, ist gegenwärtig erst im Entstehen begriffen.2 (b) Zweitens gehört die gegenwärtige Mainstream-Makroökonomik nicht unbedingt zu den Hauptproduktionsstätten von Gegenwartsdiagnosen, was gerade durch einen kursorischen Vergleich mit der Soziologie deutlich zu Tage tritt: Ul1 | Siehe dazu Pahl, Hanno: Die Wirtschaftswissenschaften in der Krise. Vom massenmedialen Diskurs zu einer Wissenssoziologie der Wirtschaftswissenschaften, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 37, 2011, S. 259-281. 2 | Siehe als Überblick über die aktuellen Untersuchungen vor allem im deutschsprachigen Bereich Maeße, Jens/Pahl, Hanno/Sparsam, Jan (Hg.): Die Innenwelt der Ökonomie. Wissen, Macht und Performativität in der Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden 2016.

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rich Beck, Boris Holzer und André Kieserling vermuten für die Soziologie zwar die Ausdifferenzierung von drei Forschungsclustern oder Wissenschaftsmodi, die im Zuge des Größenwachstums der Disziplin mehr und mehr auseinandergetreten seien und in der Gegenwart als recht klar separierte Bezirke erscheinen: soziologische Zeitdiagnosen, Gesellschaftstheorien sowie (quantitative) empirische Forschungen. Zugleich verweisen sie aber darauf, dass zwischen soziologischen Gesellschaftstheorien und soziologischen Zeitdiagnosen oftmals eine recht enge Beziehung besteht (wohingegen die quantitative Sozialforschung vielfach isolierter situiert ist).3 Insofern gehören Gegenwartsdiagnosen durchaus zum Kerngeschäft der Soziologie.4 Eine solche fachliche Prominenz sowie relative Nähe von normalwissenschaftlicher Forschung und Gegenwartsdiagnostik kann meines Erachtens für die moderne Volkswirtschaftslehre nur sehr bedingt festgestellt werden: Während es bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch in der Volkswirtschaftslehre nicht ungewöhnlich war, dass arrivierte Fachvertreter sich gegenwartsdiagnostisch betätigt haben – und zwar uno actu mit dem Verfassen gewichtiger Fachpublikationen – ist diese Verbindung im Zuge der nahezu flächendeckenden Formalisierung und Mathematisierung der volkswirtschaftlichen Disziplin deutlich zurückgetreten.5 Bücher wie Joseph Schumpeters Capitalism, Socialism and Democracy (1942) oder Friedrich A. Hayeks The Road to Serfdom aus dem Jahre 1944,6 die jeweils starke zeitdiagnostische Komponenten enthalten, aber zugleich auch als genuin wirtschaftswissenschaftliche Forschungsleistungen galten, sind heute in dieser Form kaum noch denkbar. Stattdessen bezieht sich das breite Segment normalwissenschaftlicher ökonomischer Forschung auf relative enge und hochgradig 3 | Beck, Ulrich/Holzer, Boris/Kieserling, André: Nebenfolgen als Problem soziologischer Theoriebildung, in: Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 63-81. 4 | Man denke an die Arbeiten von Beck selbst, dessen »Risikogesellschaft« (Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986) vor allem als Zeitdiagnose rezipiert wurde (und zwar weit über die Soziologie bzw. die Wissenschaft hinaus), zugleich aber rückgekoppelt war an eine Theorie reflexiver Modernisierung, die auch binnendisziplinär eine gewisse Überzeugungskraft und Anerkennung besaß. Man mag aber auch an Niklas Luhmann denken, dessen gesellschaftstheoretisches Oeuvre zwar als ungleich sperriger gilt (und medial auch kaum die Aufmerksamkeit erhalten hat, wie sie für Beck zu verzeichnen ist); gleichwohl finden sich unter den prominentesten Texten Luhmanns in den 1980er und 1990er Jahren Beiträge zu den Themenfeldern Risiko, Ökologie und Exklusion, denen allesamt starke zeitdiagnostische Bezüge zugesprochen werden können. Als neueres Beispiel mag schließlich der erfolgreiche Band zu Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte erwähnt werden (Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009), der Gegenwartsdiagnostik und Theorien der modernen Gesellschaft problemlos engführt. 5 | Siehe zur historischen Transformation der Ökonomik unter anderem Morgan, Mary S./ Rutherford, Morgan (Hg.): From Interwar Pluralism to Postwar Neoclassicism, Durham, NC 1998; sowie Fourcade, Marion: Economists and societies. Discipline and profession in the United States, Britain, and France, 1890s to 1990s, Princeton, NJ 2009. 6 | Schumpeter, Joseph A.: Capitalism, socialism and democracy, London/New York 1942. Klein, Peter A. u.a. (Hg.): The collected works of F. A. Hayek, Chicago 1989.

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formalisierte Trajektorien modelltheoretischen und ökonometrischen Forschens, wohingegen gegenwartsdiagnostische Beiträge zumeist in den Regionen populärwissenschaftlicher Publikationen angesiedelt sind. Zu groß scheinen die Differenzen zwischen beiden »Genres« gelagert, als dass beide in einem Publikationsformat integriert werden könnten.7 Mit diesen beiden Überlegungen als Hintergrundfolie soll im vorliegenden Text nach einigen Besonderheiten von Gegenwartsdiagnosen in der Mainstream-Ökonomik gefragt werden. Mit der sogenannten Great Moderation wird eine Gegenwartsbeschreibung betrachtet, die nur wenige Jahre vor der Great Recession eine große Prominenz innerhalb der Mainstream-Makroökonomik erlangen konnte. Dass es sich hierbei um eine Gegenwartsdiagnose aus der Makroökonomik handelt, ist bereits ein erster Befund. Die Subdisziplin der Makroökonomik adressiert Fragen und Zusammenhänge auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Aggregate, es geht ihr primär um den Zustand der (nationalstaatlichen) Gesamtökonomie. Dass mittlerweile für die meisten Phasen der jüngeren Vergangenheit entsprechende Bezeichnungen vorliegen – Great Depression (1930er), Great Inflation (1970er), Great Moderation (ca. 1985-2007) sowie nun die Great Recession (seit 2007) – verweist auf die Funktion von Gegenwartsdiagnosen als Ordnungen der Zeit: Die abgelaufene Geschichte wird als eine Abfolge distinkter Phasen begriffen, diese lassen sich beispielsweise entlang verschiedener Erfolgskriterien bewerten und nicht zuletzt miteinander und mit der Situation in der Gegenwart vergleichen. Die faktische Komplexität und Unübersichtlichkeit des wirtschaftlichen Geschehens lässt sich reduzieren und auf einige wenige Faktoren und Geschehnisse verdichtet diskutieren. Mit Great Moderation wird thematisch das Phänomen bezeichnet, dass die US-Wirtschaft (sowie, mit Abstrichen, die Weltwirtschaft) etwa ab der Mitte der 1980er Jahre im historischen Vergleich milde Rezessionen aufgewiesen hat, dass die Schwankungen des Bruttosozialprodukts in dieser Zeit moderat ausgefallen sind sowie eine hohe Stabilität von Preisen zu verzeichnen war. Eine typische Form des Belegs für die Existenz einer solchen Phase findet sich in der untenstehenden 7 | Dem Genre der Gegenwartsdiagnose können einerseits populärwissenschaftliche Titel in oftmals reisserischem Ton zugeordnet werden, etwa Schriften wie Roubini, Nouriel/ Mihm, Stephen: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Crisis Economics, München 2011. Andererseits lassen sich auch für ein breites Publikum verfasste Schriften arrivierter Fachvertreter hinzuzählen, etwa Stiglitz, Joseph E.: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, München 2011. Das gewählte Format ist hier das des populären Sachbuchs bzw. des Essays. Um den Kontrast zur makroökonomischen Normalwissenschaft herauszustellen, sei nur auf eine Charakterisierung der Bauprinzipien typischer makroökonomischer Zeitschriftenartikel hingewiesen: »To caricature, but only slightly: A macroeconomic article today often follows strict, haiku-like, rules: It starts from a general equilibrium structure, in which individuals maximize the expected present value of utility, firms maximize their value, and markets clear. Then, it introduces a twist, be it an imperfection or the closing of a particular set of markets, and works out the general equilibrium implications. It then performs a numerical simulation, based on calibration, showing that the model performs well. It ends with a welfare assessment«: Blanchard, Olivier J.: The State of Macro (NBER Working Paper Series, Nr. 14259), Cambridge, MA 2008, S. 26 (URL: www.nber.org/ papers/w14259.pdf [18.4.2018]).

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Grafik, wo die ab Mitte der 1980er Jahre geringere Bandbreite der Schwankungen (des Wachstums) des Bruttosozialprodukts in den USA durch einen Vergleich mit vorherigen Jahrzehnten plastisch abgebildet wird: Abbildung 1: Starke Abnahme der Volatilität des Bruttoinlandprodukts seit Mitte der 1980er Jahre.

Im Folgenden geht es darum, die Konstruktion und Transformation des Konzepts der Great Moderation nachzuverfolgen, um zentrale Charakteristika dieser Gegenwartsdiagnose (und – vielleicht – makroökonomischer Gegenwartsdiagnosen im Allgemeinen) herauszuarbeiten. Der Gang der Argumentation setzt mit einigen Beobachtungen zum Kontext der Gegenwartsdiagnose der Great Moderation ein, denn diese reiht sich in eine Mehrzahl auffälliger disziplinärer Semantiken und Selbstbeschreibungen ein, in denen sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre ein starkes Selbstbewusstsein der Makroökonomik artikulierte (2.). Anschließend wird stichprobenartig näher beleuchtet, wie die Diagnose einer Great Moderation entstanden ist, wie sie sich im Verlauf verändert und welche Form das Konzept schließlich jenseits akademischer Zirkel angenommen hat (3.). In knapper Form wird danach referiert, mit welchen Problemen sich die Mainstream-Ökonomik seit dem Ausbruch der jüngsten Wirtschaftskrise konfrontiert sah, wobei speziell darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass die durch die Great Moderation-These suggerierte falsche Sicherheit zur Genese blinder Flecken der Forschung (und ebenso der Geldpolitik) beigetragen hat (4.). Abschließend erfolgt eine Diskussion, die kurz über den weiteren Verlauf der Diskussionen um die Great Moderation informiert sowie die gegenwartsdiagnostischen Charakteristika zusammenstellt (5.).

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2. Z um K onte x t der These der G re at M oder ation : E inheits - und F ortschrit tssemantiken im B ereich von M akroökonomik und G eldpolitik seit M it te der 1990 er J ahre Innerhalb der Mainstream-Makroökonomik gab es ab der zweiten Hälfte der 1990er verschiedene Konsensverlautbarungen bzw. Einheitssemantiken. Ein zentraler Begriff ist hierbei jener einer sogenannten New Neoclassical Synthesis.8 Dieser Begriff bezeichnet eine Einigung (oder einen »Burgfrieden«) zwischen den beiden vormals (vor allem in den 1980er Jahren) noch stark konkurrierenden Schulen oder Strängen moderner makroökonomischer Forschung, den New Classical Macro­ economics sowie den New Keynesian Economics. Nach dem »Zusammenbruch« des alten Keynesianischen Konsenses der 1950er und 1960er Jahre durch empirische (Stagflation) und theoriebezogene (Rational Expectations Revolution, Monetarismus) Geschehnisse in den 1970er Jahren zeigte sich das Feld zwischenzeitlich recht uneins.9 Das war für eine Wissenschaftsformation, der es nicht um höherstufige Re­ flexions- und Orientierungsangebote geht (wie es bei der Soziologie mehrheitlich der Fall ist), sondern um konkrete wirtschaftspolitische Handlungsanweisungen, ein prekärer Zustand. Umso emphatischer wurden die in den 1990er Jahren zu verzeichnenden Konsensbewegungen begrüßt. In enger Verbindung mit der disziplinbezogenen Einheitssemantik der Neuen Neoklassischen Synthese wurde auch für den Bereich der Geldpolitik, der traditionell den wichtigsten außerwissenschaftlichen Bezugskontext der Makroökonomik darstellt, von einem Consensus on Monetary Policy gesprochen: »The worldwide progress in monetary policy is a great achievement that, especially when viewed from the perspective of 30 years ago, is a remarkable success story. Today, academics, central bank economists, and policymakers around the world work together on monetary policy as never before«.10

Zentrale Elemente dieses Konsenses betreffen die Annahme, dass es keinen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit in der langen Frist gibt, dass es also nicht möglich ist, durch expansive Geldpolitik nachhaltig eine Steigerung der Wirtschaftsaktivität zu generieren und damit zu einer Reduktion von Arbeitslosigkeit beizutragen. Ferner wird eine regelgeleitete (im Unterschied zu einer diskretionären) Geldpolitik als überlegen eingeschätzt (auch dies ist verglichen mit den 1950er und 1960er Jahren eine deutliche Wende). Es kam zu der weitgeteilten Annahme, dass die Kontrolle von Geldwertstabilität sans phrase bereits ein hinreichendes Kri8 | Goodfriend, Marvin/King, Robert: The New Neoclassical Synthesis and the Role of Monetary Policy, in: Bernanke, Ben S./Rotemberg, Julio (Hg.): NBER macroeconomics annual 1997, Cambridge, MA/London 1997, S. 231-296 (URL: www.nber.org/chapters/c11040.pdf [12.7.2018]). 9 | Siehe dazu detailliert De Vroey, Michel: A history of macroeconomics from Keynes to Lucas and beyond, New York 2016. 10 | Goodfriend, Marvin: How the World Achieved Consensus on Monetary Policy (NBER Working Paper Series, Nr. 13580), Cambridge, MA 2007 (URL: www.nber.org/papers/ w13580.pdf [12.7.2018]).

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terium darstellt, um eine Stabilität und einen stabilen Wachstumspfad der Gesamtökonomie zu gewährleisten. Insgesamt sind diese Maßnahmen und Normen allesamt um die Vorstellung zentriert, wonach Geldpolitik sich auf das Setzen stabiler Rahmenbedingungen beschränken soll, wodurch ein wohlfahrtsoptimales Wirken der Marktkräfte am ehesten gewährleistet sei. Dieses Selbstbewusstsein und diese (trügerische) Sicherheit lassen sich in zahlreichen Verlautbarungen auffinden. Ich beschränke mich im Folgenden zur Illustration auf drei Aussagen besonders prominenter und arrivierter Mainstream-Makroökonomen aus dem Zeitraum von 1995 bis 2005. Robert Lucas, einer der Hauptprotagonisten der New Classical Macroeconomics, formulierte es in seiner Presidential Address auf der Jahrestagung der American Economics Association (AEA) im Jahre 2003 so: »Macroeconomics was born as a distinct field in the 1940s, as a part of the intellectual response to the Great Depression. The term then referred to the body of knowledge and expertise that we hoped would prevent the recurrence of that economic disaster. My thesis in this lecture is that macroeconomics in this original sense has succeeded: Its central problem of depression-prevention has been solved, for all practical purposes, and has in fact been solved for many decades«.11

Hier wird zumindest die originäre Keynes’sche Agenda, wonach Makroökonomik Steuerungswissen zu generieren habe, durch das tiefe Rezessionen – die als Marktwirtschaften inhärent begriffen wurden – verhindert oder abgemildert werden können, als ein für alle Mal »gelöst« behauptet. Bezogen auf die Steuerungskompetenz der Zentralbank findet sich eine ebenfalls sehr optimistische Einschätzung bei Paul Krugman: »You may quarrel with the Fed chairman’s judgment – you may think that he should keep the economy on a looser rein – but you can hardly dispute his power. Indeed, if you want a simple model for predicting the unemployment rate in the United States over the next few years, here it is: It will be what Greenspan wants it to be, plus or minus a random error reflecting the fact that he is not quite God«.12

Der Zentralbank wird hier zugestanden, zentrale makroökonomische Aggregatgrößen (wie die Arbeitslosenrate) – bei Beachtung des mittlerweile seitens der Makroökonomik generierten Forschungsstandes – quasi nach Belieben manipulieren zu können. Schließlich sei auf eine Aussage Ben Bernankes hingewiesen, die dieser im Rahmen eines in 2005 durchgeführten Interviews getätigt hat: »So there are stories that one can tell where the financial system comes under an enormous amount of stress due to some sort of shock be it monetary, financial or real, and the financial system is so complex and so inter-related that one can’t rule out the kinds of contagion that 11 | Lucas, Robert E.: Macroeconomic Priorities, 2003 (URL: http://pages.stern.nyu. edu/~ dbackus/Taxes/Lucas %20priorities %20AER %2003.pdf [27.7.2012]). 12 | Krugman, Paul: Vulgar Keynesians. A penny spent is not a penny earned?, in: Slate, 7.2.1997 (URL: www.slate.com/articles/business/the_dismal_science/1997/02/vulgar_ k​e ynesians.html [12.7.2018]).

»The Great Moderation« were seen in the 1930s. I do hope that central banks have learned enough in the ensuing years to understand the importance of maintaining price stability and of reacting quickly and effectively to shorten the effects of financial instability. I optimistically think that while we could still have financial crises and bad outcomes in the world economy, policy makers know enough now to short circuit the impact before it becomes anything like the severity of the 1930s. Certainly that’s the hope anyway«.13

Zwar artikuliert Bernanke stärker als die zuvor herangezogenen ökonomischen Experten die weiterhin bestehende Möglichkeit großer Wirtschaftskrisen und verweist hier hellsichtig auf eine wahrscheinliche Schlüsselstellung des Finanzsystems. Auch er gibt sich allerdings überaus zuversichtlich, dass das wissenschaftswissenschaftliche Wissen im Bereich von Geld- und Wirtschaftspolitik mittlerweile solch einen Grad an Solidität erreicht habe, dass zumindest größere Verwerfungen mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können. Ein weiteres – und hier abschließend angeführtes – Indiz liefert schließlich das Abstimmungsverhalten der Mitglieder des Federal Open Market Committee, dem zentralen Entscheidungsgremium der FED. Hier zeigt die folgende Tabelle für die Zeit ab der Mitte der 1990er Jahre bis zum Krisenausbruch eine historisch einmalige Phase hohen Konsenses: Abbildung 2: Anzahl abweichender Voten bei den Abstimmungen im FOMC (1957-2013).

Zusammengenommen zeigt sich, dass die Makroökonomik (und die sich auf die Erkenntnisse und Einschätzungen der Makroökonomik stützende Geldpolitik) sich unmittelbar vor dem Ausbruch der Great Recession 2007 in einem Zustand großer Selbstsicherheit befunden hat. Die Diagnose der Great Moderation bildete ein zentrales Element innerhalb eines ganzen Arsenals von Selbstbeschreibungen der Selbstsicherheit, dem hierin vor allem die Bedeutung zukam, die jüngere Vergan13 | Zitiert bei Parker, Randall E.: The economics of the great depression. A twenty-first century look back at the economics of the interwar era, Cheltenham/Northampton, MA 2007, S. 66.

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genheit der Wirtschaftsentwicklung als Erfolgsgeschichte zu rahmen und – implizit – die Fortsetzung einer entsprechenden Prosperitätskonstellation erwartbar zu machen.

3. D ie These der G reat M oderation : V om wissenschaf tlichen F orschungsthema zu einer popul ären G egenwartsdiagnose Im Folgenden wird die These der Great Moderation im Dreischritt von Genese im Bereich ökonometrischer und statistischer Forschung, Inanspruchnahme seitens geldpolitischer Entscheidungsträger sowie Popularisierung seitens der Massenmedien näher beleuchtet. Das ist natürlich ein recht selektives resp. idealtypisches Verfahren, lässt sich aber durch die Absicht legitimieren, zunächst einmal Kerncharakteristika der Gegenwartsdiagnose zu extrahieren (anschließende Tiefenbohrungen unter Hinzunahme eines umfassenderen Materialkorpus sind damit explizit eingefordert).

3.1 Zur Genese des Konzepts der Great Moderation in der statistischen und ökonometrischen Forschung Der Begriff der Great Moderation taucht das erste Mal in einem Working Paper auf, das den Titel Has the Business Cycle Changed and Why? trägt.14 Von einer dezidierten Gegenwartsdiagnose kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesprochen werden. Die Autoren beziehen sich auf eine Reihe aktueller, vor allem statistischer und ökonometrischer Forschungen, in denen (ähnlich wie in der oben bereits aufgeführten Zeitreihe) für die Zeit ab Mitte der 1980er Jahre eine Abnahme in der Volatilität makroökonomischer Kerngrößen festgestellt wurde. Im Abstract des Beitrags heißt es zunächst: »From 1960 to 1983, the standard deviation of annual growth rates in real GDP in the United States was 2.7 %. From 1984-2001, the corresponding standard deviation was 1.6 %. This paper investigates this large drop in the cyclical volatility of real economic activity«.15

Mit dem Titel ihres Aufsatzes stellen sich die Autoren in eine Tradition von Beiträgen, in der Strukturveränderungen der Wirtschaft gemutmaßt wurden, die sich in einer Veränderung des wohl bekanntesten und allgemeinsten Wirtschaftsphänomens manifestierten, dem Konjunkturzyklus. Bekannt sind hier etwa Bronfenbrenners Sammelband Is the Business Cycle Obsolete?16 oder Webers Artikel The End

14 | Stock, James H./Watson, Mark W.: Has the Business Cycle Changed and Why?, in: NBER Macroeconomics Annual 17, 2002, S. 159-230 (URL: www.nber.org/chapters/c11075.pdf [12.7.2018]). 15 | Abstract, in: NBER Macroeconomics Annual 17, 2002, S. 5-7, hier S. 6 (URL: www.nber. org/chapters/c11071.pdf [27.7.2018]). 16 | Bronfenbrenner, Martin (Hg.): Is the Business Cycle Obsolete? Based on a conference of the Social Science Research Council Committee on Economic Stability, New York 1969.

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of the Business Cycle?17 Stock und Watson kommen auf Basis einer Analyse eigener und bereits vorliegender Forschungen zu drei hauptsächlichen angeführten Erklärungsfaktoren für den Rückgang von Volatilität: »These explanations fall into three categories. The first category is changes in the structure of the economy. Candidate structural changes include the shift in output from goods to services […], information-technology led improvements in inventory management […], and innovations in financial markets that facilitate intertemporal smoothing of consumption and investment […]. The second category is improved policy, in particular improved monetary policy […], and the third category is good luck, that is, reductions in the variance of exogenous structural shocks«.18

Der erstgenannte Erklärungscluster zu Strukturveränderungen der Ökonomie bezieht sich beispielsweise auf die Einführung von Verfahren wie »Just-in-time«Produktion, die es Unternehmen ermöglichen können, schneller und flexibler auf Angebots- und Nachfrageänderungen reagieren zu können. Die im dritten Erklärungscluster genannten (Reduktionen von) externen strukturellen Schocks bezeichnen Geschehnisse wie den Ölpreisschock der 1970er Jahre, als durch die plötzliche Verteuerung eines zentralen Produktionsinputfaktors die Angebotsseite eruptiven Veränderungen ausgesetzt war (Ereignisse, die für den Zeitraum ab den 1980er Jahren nicht mehr in ähnlicher Weise verzeichnet wurden). Auf Grundlage existierender und eigener Studien nehmen die Autoren folgende Gewichtung für die Gründe einer Great Moderation vor: »In brief, we conclude that the structural shifts, such as changes in inventory management and financial markets, fail to explain the timing and magnitude of the moderation […]. Changes in U.S. monetary policy seem to account for some of the moderation, but most of the moderation seems to be attributable to reductions in the volatility of structural shocks. Altogether, we estimate that the moderation in volatility is attributable to a combination of improved policy (10-25 %), identifiable good luck in the form of productivity and commodity price shocks (20-30 %), and other unknown forms of good luck that manifest themselves as smaller reduced-form forecast errors (40-60 %); as discussed […], these percentages have many caveats.«19

Entsprechend der (für fachexterne BetrachterInnen höchst eigentümlichen) Konventionen ökonometrischer Forschung wird zwar mit konkreten Zahlenangaben gearbeitet, um mögliche Ursachen möglichst detailliert zu gewichten. Zugleich sind die abgesteckten Prozentbereiche sehr breit, zudem weisen die Autoren selbst auf die Unsicherheit definitiver Ursachenbestimmungen hin. Als tentatives Ergebnis bleibt der Befund, dass zwar Veränderungen in Betriebsabläufen (Bestandsverwaltung etc.) sowie eine verbesserte Geldpolitik zur Phase der Great Moderation beigetragen haben dürften, dass aber ein Großteil der Volatilitätsreduktionen

17 | Weber, Steven: The End of the Business Cycle?, in: Foreign Affairs 76, 1997, H. 4, S. 6582. 18 | J. H. Stock/M W. Watson: Has the Business Cycle Changed and Why?, S. 162. 19 | Ebd.

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schlicht auf glücklichen Umständen basiert, etwa dem Ausbleiben großer externer Schocks.

3.2 Die These der Great Moderation bei Ben Bernanke Ein Charakter als Zeitdiagnose kann der Great Moderation erst zugesprochen werden, seit die Bezeichnung in 2004 in einer Rede von Ben Bernanke, damals noch nicht Chairman, aber bereits Mitglied des Board of Governors of the Federal Reserve, im Rahmen eines Vortrags auf einem Treffen der Eastern Economic Association prominent aufgegriffen wurde. Zwar handelt es sich bei seinem Referat nicht um eine an ein breites Publikum gerichtete populärwissenschaftlich-politische Ansprache, sondern um einen technisch anspruchsvollen, an ein Fachpublikum gerichteten Beitrag. Gleichwohl hat die Prominenz des Autors ebenso wie die Qualität der Bezeichnung »Great Moderation« als Catchword mutmaßlich dazu beigetragen, dass das Konzept ab diesem Zeitpunkt einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte (mehr dazu im Abschnitt fünf). Bernanke beginnt seinen Beitrag mit einer Literaturübersicht, die er entlang der drei bereits bei Stock und Watson unterschiedenen möglichen Ursachen strukturiert. Er geht davon aus, dass allen drei vermuteten Faktoren tatsächlich ein Einfluss zugeschrieben werden kann, gleichzeitig versucht er, die Rolle verbesserter Geldpolitik besonders herauszustreichen: »My view is that improvements in monetary policy, though certainly not the only factor, have probably been an important source of the Great Moderation. In particular, I am not convinced that the decline in macroeconomic volatility of the past two decades was primarily the result of good luck, as some have argued, though I am sure good luck had its part to play as well. In the remainder of my remarks, I will provide some support for the ›improved-monetary-policy‹ explanation for the Great Moderation«. 20

Dass sich gerade Bernanke mit dieser überaus optimistischen Einschätzung hervortut, ist mit Blick auf seine wissenschaftliche Biografie bemerkenswert und liefert einen weiteren Hinweis, wie groß das im zweiten Abschnitt skizzierte Vertrauen in Wirtschaft und Geldpolitik vor 2007/08 war: Bernanke hat sich in seiner akademischen Lauf bahn geradezu obsessiv mit der Great Depression der 1930er Jahre auseinandergesetzt, seine ersten Publikationen stellen gewichtige Beiträge zu deren Ursachen und Verlaufsformen dar.21 Noch in 1995 hat er die Wichtigkeit krisentheoretischer Forschungen in der Aussage kodifiziert: »To understand the Great Depression is the Holy Grail of macroeconomics«.22 Damit hat er zu einer Zeit auf die Bedeutung von Krisentheorien verwiesen, in der große Teile des ma20 | Bernanke, Ben S.: The Great Moderation. Remarks by Governor Ben S. Bernanke. At the meetings of the Eastern Economic Association, Washington, DC, February 20, 2004 (URL: www.federalreserve.gov/Boarddocs/Speeches/2004/20040220/([18.4.2018]). 21 | Etwa Bernanke, Ben S.: Non-Monetary Effects of the Financial Crisis in the Propagation of the Great Depression (NBB Working Paper, 1054), Cambridge, MA 1983. 22 | Bernanke, Ben S.: The Macroeconomics of the Great Depression. A Comparative Approach, in: Journal of Money, Credit and Banking 27, 1995, S. 1-28, hier S. 1.

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kroökonomischen Mainstreams das Thema als zweitrangig klassifizierten.23 Um den Jahrtausendwechsel hat sich Bernanke an Forschungen beteiligt, in denen die dominante Modellklasse von RBC- bzw. DSGE-Modellen um finanzökonomische Dimensionen erweitert wurde24 – was nach 2008 (und heute) Modethema und Forschungsschwerpunkt ist, damals aber eine Ausnahmeerscheinung darstellte.25

3.3 Populäre Bezugnahmen auf das Konzept der Great Moderation in den Massenmedien Die Diagnose der Great Moderation hat – zumindest vor dem Beginn der Wirtschaftskrise von 2008 – keine bemerkenswerte massenmediale Karriere durchlaufen. Vermutlich war das Konzept zu abstrakt, um massenmedialen Nachrichtenwerten zu entsprechen und eine passförmige Attraktivität als Thema zu besitzen. Gleichwohl gibt es einige vereinzelte Bezugnahmen, von denen hier ein instruktives Beispiel angeführt sei. Im Januar 2007 – also zu einem eher späten Zeitpunkt – hat Gerard Baker einen Beitrag mit dem Titel Welcome to the Great Moderation in der Times publiziert.26 Baker wird dem neokonservativen Spektrum zugeordnet. Nach einem Studium von Philosophy, Politics, and Economics am renommierten Corpus Christi College der Oxford University war er zunächst bei der Bank of England sowie dann der Lloyds Bank tätig. Später folgten Stationen bei der BBC sowie ab 1994 Führungspositionen im Zeitungswesen (Financial Times, The Times, Wallstreet Journal).27 Zur Illustration seiner Interpretation des Konzepts kann die folgende längere Textstelle herangezogen werden. Baker verlagert die Erklärungspluralität, wie sie dem akademischen Diskurs entnommen werden kann, in Richtung auf ein allgemeines Narrativ aus dem Bestand des populären Neoliberalismus: »Economists are debating the causes of the Great Moderation enthusiastically and, unusually, they are in broad agreement. Good policy has played a part: central banks have got much 23 | So etwa Robert Lucas, der wichtigste Protagonist neuklassischer Makroökonomik: »I think that economic growth, and particularly the diffusion of economic growth to what we used to call the Third World, is the major macroeconomic event of the twentieth century. But the Great Depression is a good second« (Lucas, Robert: Inverview, in Snowdon, Brian/Vane, Howard R.: Modern macroeconomics. Its origins, development and current state, Cheltenham/Northhampton, MA 2005, S. 272-293, hier S. 274). 24 | Siehe Bernanke, Ben S./Gertler, Mark/Gilchrist, Simon: The Financial Accelerator in a Quantitative Business Cycle Framework (NBER Working Paper Series, 6455), Cambridge, MA 1998 (URL: www.nber.org/papers/w6455.pdf [18.4.2018]). 25 | Siehe Pahl, Hanno/Sparsam, Jan: DSGE-Makroökonomik und die Krise: Soziologische Inspektion einer modellgetriebenen Wissensformation, in: Maeße, Jens/Pahl, Hanno/Sparsam, Jan (Hg.): Die Innenwelt der Ökonomie. Wissen, Macht und Performativität in der Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden 2016, S. 135-158. 26 | Baker, Gerard: Welcome to »the great moderation«, in: The Times, 19.1.2007 (URL: w w w.timesonline.co.uk/tol/comment/columnist s/gerard_baker/ar ticle1294376.ece [18.4.2018]). Der Text befindet sich hinter einer Paywall. 27 | Siehe die biografischen Angaben bei Wikipedia, Art. »Gerard Baker« (URL: https:// en.wikipedia.org/wiki/Gerard_Baker [12.7.2018]).

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Hanno Pahl better at timing interest rate moves to smoothe out the curves of economic progress. But the really important reason tells us much more about the best way to manage economies. It is the liberation of markets and the opening-up of choice that lie at the root of the transformation. The deregulation of financial markets over the Anglo-Saxon world in the 1980s had a damping effect on the fluctuations of the business cycle. These changes gave consumers a vast range of financial instruments (credit cards, home equity loans) that enabled them to match their spending with changes in their incomes over long periods. In the City of London and New York, the creation of the secondary mortgage market, cushioned banks from the effect of a sharp downturn in their core business. The globalisation of finance meant that downturns in one market could be offset by strength overseas. The economies that took the most aggressive measures to free their markets reaped the biggest rewards.« 28

Im Unterschied zur akademischen Debatte verzichtet Baker im gesamten Text auf Absicherungen durch Bezüge auf die Forschung. Die Ambivalenz möglicher verschiedener Ursachen wird zugunsten eines Lobgesangs auf die wohlfahrtssteigernden Effekte liberalisierter Finanzmärkte aufgelöst. In ähnlichem Sinn beschließt Baker seinen Beitrag mit einer Art Pathosformel: »The Great Moderation offers another precious lesson in an old truth of economics: the power of creative destruction. The turmoil of free markets is the surest way to economic stability and prosperity«.29

4. E inschub : D ie K rise 2007ff. und die blinden F lecken der  M ainstream -Ö konomik Dass die Scientific Community der Mainstream-Ökonomik von den Ausmaßen der Krise seit 2007 überrascht wurde und auch im Verlauf der Krisenentfaltung wenig brauchbare Rezepte liefern konnte, wird kaum bestritten. Dies lässt sich nicht zuletzt an Stellungnahmen geldpolitischer Entscheidungsträger ablesen. So führte Jean-Claude Trichet, von 2003 bis 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit aus: »As a policy maker during the crisis, I found the available models of limited help. In fact, I would go further: in the face of the crisis, we felt abandoned by conventional tools. In the absence of clear guidance from existing analytical frameworks, policy makers had to place particular reliance on our experience. Judgement and experience inevitably played a key role«. 30

28 | Der Originaltext befindet sich hinter einer Paywall. Die Textstelle wurde zitiert nach Keen, Steve: A Couple of Gems, in: Steve Keen’s Debtwatch. Analysing the Collapse of the Global Debt Bubble (URL: www.debtdeflation.com/blogs/2009/01/04/a-couple-of-gems/ comment-page-1/[18.4.2018]). 29 | Zitiert nach S. Keen: A Couple of Gems. 30 | Trichet, Jean-Claude: Reflections on the nature of monetary policy non-standard measures and finance theory. Opening address at the ECB Central Banking Conference, Frankfurt a.M., 18.11.2010 (URL: https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2010/html/sp​ 101118.en.html [18.4.2018]).

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Dass die Zentralbanken durch ihr – wenn auch spätes – Handeln Schlimmeres verhindert haben, ist gegenwärtig ebenfalls eine weithin konsensuelle Position, gekoppelt allerdings an die Beobachtung, dass hierzu mit dem aktuellen makroökonomischen Kanon gebrochen und maßgeblich auf sogenannte »unkonventionelle Maßnahmen« referiert wurde (vor allem auf Praktiken des Quantitative Easing sowie von Forward Guidance). Mit Blick auf den Theoriebestand vor Ausbruch der Krise vermutet Frederic S. Mishkin: »Before the recent financial crisis, the common view, both in academia and in central banks was that achieving price and output stability would promote financial stability. This was supported by research […] which indicated that monetary policy which optimally stabilizes inflation and output is likely to stabilize asset prices, making asset-price bubbles less likely. Indeed, central bank’s success in stabilizing inflation and the decreased volatility of business cycle fluctuations, which became known as the Great Moderation, made policymakers complacent about the risks from financial disruptions. The benign economic environment leading up to 2007, however, surely did not protect the economy from financial instability. Indeed, it may have promoted it. The low volatility of both inflation and output fluctuations may have lulled market participants into thinking there was less risk in the economic system than was really the case«. 31

Eine von vielen Seiten artikulierte Hauptkritik bezieht sich darauf, dass im makroökonomischen Mainstream der 1990er und frühen 2000er Jahre fast alle Faktoren, die sich im Zuge der Krise als entscheidend erwiesen haben, in den etablierten Modellen schlicht abwesend waren: »The key elements in the causation of the Financial Crisis were totally absent from the paradigm of the New Neoclassical Synthesis. There were no banks, no shadow banks, no subprime lending, no securitization, no interconnectedness between banks, no leverage, no bubbles, no liquidity crises, no deleveraging – nothing of that sort«. 32

Der Finanzsektor wurde reduziert auf eine einzelne Geldmarkt-Zinsrate, die von der Zentralbank kontrolliert werden kann und als zentraler (eigentlich sogar: einziger) Übertragungsmechanismus für geldpolitische Impulse in Richtung von Güter- und Arbeitsmärkten gedacht wurde. Die Finanzmärkte wurden – in gleichgewichtstheoretischer Tradition – lediglich als Schleier über der Ebene einer sogenannten Realökonomie interpretiert (bei einer solchen Ontologie ist es dann in der Tat naheliegend, sie aus der Analyse weitestgehend auszusparen): »Indeed, financial factors in general progressively disappeared from macroeconomists’ radar screen. Finance came to be seen effectively as a veil – a factor that, as a first approxi31 | Mishkin, Frederic S.: Monetary Policy Strategy: Lessons from the Crisis (NBER Working Paper Series, 16755), Cambridge, MA 2011, S. 29f. (URL: https://www.nber.org/papers/ w16755.pdf [12.7.2018]). 32 | Landmann, Oliver: Short-Run Macro After the Crisis: The End of the »New« Neoclassical Synthesis? (University of Freiburg, Department of International Economic Policy, Discussion Paper Series, 27), Freiburg 2014, S. 10 (URL: www.vwl.uni-freiburg.de/iwipol/REPEC/fre/ wpaper/DP27_Landmann_Short_Run_Macro.pdf [18.4.2018]).

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Hanno Pahl mation, could be ignored when seeking to understand business fluctuations […]. And when included at all, it would at most enhance the persistence of the impact of economic shocks that buffet the economy, delaying slightly its natural return to the steady state«. 33

Caballero macht hierfür vor allem Prozesse akademischen Herdenverhaltens verantwortlich, die zu einer rigiden Verengung der Forschungslandschaft geführt haben: »On the methodology front, macroeconomic research has been in ›fine-tuning‹ mode within the local-maximum of the dynamic stochastic general equilibrium world, when we should be in ›broad-exploration‹ mode. We are too far from absolute truth to be so specialized and to make the kind of confident quantitative claims that often emerge from the core. On the policy front, this confused precision creates the illusion that a minor adjustment in the standard policy framework will prevent future crises, and by doing so it leaves us overly exposed to the new and unexpected«. 34

Wie oben bereits vermerkt, war ein ganzes Bündel von Theoriebausteinen und kognitiven Pfadabhängigkeiten dafür verantwortlich, dass Ökonomen (und weite Teile der Finanzmarktöffentlichkeit) sich in einer trügerischen Sicherheit wähnten. Die Gegenwartsdiagnose einer Great Moderation bildet ein Puzzlestück innerhalb dieses Konglomerats von Selbstversicherungen. Besonders eindrücklich wird die Nichtbeachtung von Finanzmarktdynamiken in verschiedenen Arbeiten von Claudio Borio und seiner Kollegen von der Bank for International Settlements (BIS) ausgeführt, die neben den Business Cycles, auf die sich die Aufmerksamkeit fast ausschließlich richtete, das Phänomen von Financial Cycles stellen.35 Hier zeigt sich 33 | Borio, Claudio: The financial cycle and macroeconomics: What have we learnt? (BIS Working Papers, 395), Basel 2012, S. 1 (URL: www.bis.org/publ/work395.pdf [18.4.2018]). Die blinden Flecken der Mainstream-Makroökonomik lassen sich auch andersherum konturieren, durch Verweise auf die Eigenschaften und Blickwinkel jener Ansätze, die bezüglich der Antizipation und/oder Erklärung der Krise vergleichsweise gut abgeschnitten haben: »Those who ›saw it coming‹ in their analyses emphasized financial assets, debt, and the flow of funds. […] Regarding behavioral assumptions, these include uncertainty, bounded rationality and non-optimizing behavior […]. Methodologically, these analysts favor empirical work rather than theoretical formalism, and they share an aversion to methodological individualism« (Bezemer, Dirk J.: The Credit Crisis as a Paradigm Test, in: Journal of Economic Issues 45, 2011, S. 1-18, hier S. 15). Diese Attribute beziehen sich ersichtlich vor allem auf das Feld heterodoxer Ökonomik, also von Theorietraditionen, denen seitens des Mainstreams oftmals die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird. 34 | Caballero, R. J.: Macroeconomics after the Crisis: Time to Deal with the Pretense-of-Knowledge Syndrome, in: Journal of Economic Perspectives 24, 2010, S. 85-102, hier S. 85. 35 | C. Borio: The financial cycle and macroeconomics: What have we learnt?, S. 3. Bemerkenswert ist, wie frühzeitig Phänomene finanzmarktlicher Instabilität seitens der BIS thematisiert wurden. Borio und Lowe haben bereits in 2002 festgestellt: »Burnt by the experience of the 1970s, policy makers had put in place credible institutional safeguards against monetary instability. They had done so by endowing central banks with clear mandates to maintain price stability and with the necessary autonomy to pursue them. And yet, the same decades

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sehr deutlich, wie der Rekurs auf bestimmte Aggregate (und die Vernachlässigung von anderen) blinde Flecken und falsche Situationsdeutungen generiert hat. Abbildung 3: Finanzzyklus und Konjunkturzyklus in den USA.

Zumindest einige Autoren fragen gegenwärtig nach, ob der in Konzepten wie der Great Moderation diagnostizierte Rückgang von Volatilität nicht (auch) als Resultat einer letztlich theorieinduzierten Blickwinkelverengung zu gelten hat. Nicola Acocella und andere vermuten – und dies schließt an obige Grafik und die Arbeiten Borios an – genau einen solchen Theorieeffekt: »[I]t may be that there was no moderation at all, merely a transfer of volatility from business cycle frequencies to longer cycles. Since policymakers were focused on the problems caused by business cycles, the switch in volatility was not observed and hence contributed to the severity of the 2008-2012 financial crisis«. 36

will in all probability also be remembered as those that saw the emergence of financial instability as a major policy concern, forcing its way to the top of the international agenda. One battlefront had opened up just as another was victoriously being closed. Ostensibly, lower inflation had not by itself yielded the hoped-for peace dividend of a more stable financial environment«; Borio, Claudio/Lowe, Philip: Asset prices, financial and monetary stability: exploring the nexus (BIS Working Papers, 114), Basel 2002, S. 1 (URL: www.bis.org/publ/ work114.pdf [18.4.2018]). Auch das nach 2007 allseitig favorisierte Konzept makroprudenzieller Regulation findet sich im BIS-Kontext spätestens in 2003, siehe Borio, Claudio: Towards a macroprudential framework for financial supervision and regulation? (BIS Working Papers, 128), Basel 2003 (URL: www.bis.org/publ/work128.pdf [18.4.2018]). 36 | Acocella, Nicola/Di Bartolomeo, Giovanni/Hallett, Andrew Hughes: Macroeconomic Paradigms and Economic Policy. From the Great Depression to the Great Recession, Cambridge 2016, S. 77.

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5. D iskussion : C har ak teristik a der G re at M oder ation als  G egenwartsdiagnose Wie steht es gegenwärtig um die Debatten einer Great Moderation und was sind die hauptsächlichen Charakteristika dieses Konzepts als Gegenwartsdiagnose? Gerard Baker, dessen Popularisierungsversuch qua massenmedialer Auf bereitung oben kurz betrachtet wurde, hat seine Perspektive in 2009 widerrufen, in einem Beitrag mit dem drastischen Titel Bringing down the curtain on the folly of my faith in the Great Moderation.37 Das spiegelt nicht unbedingt die allgemeinen Rezeptionstrends wider. Eine Suche des Stichworts »Great Moderation« bei Google Trends38 (durchgeführt am 3. Dezember 2016) zeigt einen ersten Höhepunkt kurz nach Veröffentlichung von Bernankes oben betrachteter Publikation, während das Interesse im Anschluss zunächst eher gering ist. Etwa zwischen August und September 2007 ist ein steiler Anstieg als Suchbegriff zu verzeichnen, die eigentliche Hochphase liegt dann zwischen Juli 2008 und Juli 2009. Abbildung 4: Häufigkeit des Stichwortes »Great Moderation« bei Google Trends.

Der August 2007 gilt weithin als Zeitpunkt, an dem die Great Recession erstmals manifest wurde. Zwar gab es bereits seit Herbst 2006 einige Krisenanzeichen, »[b]ut on August 7, the interbank market ›froze‹. The banks would not lend to each other. This was virtually unprecedented – something that market participants had not experienced before«.39 Größere allgemeine Aufmerksamkeit erhielt die Great Moderation also genau in dem Moment, in dem sich tiefgreifende Krisendynamiken vollzogen. Zu diesem Zeitpunkt richtet sich die mediale Aufmerksamkeit stark auf ökonomische Themen, in diesem Zuge geraten auch akademische Makroökonomik und Zentralbankpolitiken stärker unter Beobachtung.  

37 | Baker, Gerard: Bringing down the curtain on the folly of my faith in the great moderation, in: The Times, 13.1.2009 (URL: http://business.timesonline.co.uk/tol/business/col​ umnists/article5504996.ece [18.4.2018]). Der Text befindet sich hinter einer Paywall. 38 | Dieser Dienst ist in wöchentlicher Auflösung seit Anfang 2004 für die gesamte Welt bzw. einzelne Regionen verfügbar. Die Werte geben das Suchinteresse relativ zum höchsten Punkt im Diagramm für die ausgewählte Region im festgelegten Zeitraum an. Der Wert 100 steht für die höchste Beliebtheit dieses Suchbegriffs. Der Wert 50 bedeutet, dass der Begriff halb so beliebt war und der Wert 0 entspricht einer Beliebtheit von weniger als 1 % im Vergleich zum Höchstwert. 39 | Leijonhufvud, Axel: Two systemic problems, in: Centre for Economic Policy Research, Policy Insight, Nr. 29, Januar 2009, S. 2 (URL: https://cepr.org/sites/default/files/policy_ insights/PolicyInsight29.pdf [27.7.2018]).

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Die akademische Diskussion sieht etwas anders aus. Eine Suche bei Web of Science (durchgeführt am 3. Dezember 2016) ergibt für das Stichwort »Great Moderation« (qua Topic-Suche) folgende Resultate: Abbildung 5: Häufigkeit des Stichwortes »Great Moderation« bei Web of Science.

Die Validität der Gegenwartsdiagnose der Great Moderation wird innerhalb der makroökonomischen Forschung keinesfalls grundsätzlich verworfen, sondern wird lebhaft diskutiert. Der Forschungsoutput sowie die Verweise auf einschlägige Texte nehmen bis heute mehr oder minder kontinuierlich zu. Der Bereich der Positionen reicht dabei – ähnlich wie vor der Krise 2007ff. – von Arbeiten, die die Great Moderation als glücklichen Umständen geschuldet rubrizieren40 bis hin zu Beiträgen, die jene für die Phase der Great Moderation typische geringe Volatilität auch für die Zukunft als Normalfall annehmen und die Turbulenzen der Great Recession somit zu einem kurzen Intermezzo erklären.41 Diese Reaktionsweise deckt sich weitestgehend mit der allgemeinen Art und Weise, wie seitens der Mainstream-Ökonomik angesichts der Krisenverwerfungen verfahren wird: Die – vor allem seitens heterodox-ökonomischer Kritik sowie der Medien kolportierte – Forderung nach tiefgreifenden Reformen des Fachs bzw. der etablierten Paradigmen wird dezidiert zurückgewiesen.42 Ein Großteil der gegenwärtigen For40 | Etwa Crowley, Patrick/Hallett, Andrew Hughes: Volatility transfers between cycles: A theory of why the »great moderation« was more mirage than moderation (Bank of Finland Research Discussion Papers 23, 2014) (URL: https://helda.helsinki.fi/bof/bitstream/han​ dle/123456789/13453/BoF_DP_1423.pdf?sequence=1&isAllowed=y [12.7.2018]). 41 | Etwa Clark, Todd: Is the Great Moderation Over? An Empirical Analysis, in: Federal Reserve Bank of Kansas City Economic Review 4, 2009, S. 5-42. 42 | Dazu vermuten Dobusch und Kapeller: »Obgleich die neoklassische Forschungsgemeinschaft durchaus als mitverantwortlich für Entstehung und Ausmaß der Krise angesehen wird – und das zum Teil auch innerhalb der Mainstream-Ökonomie […] – bleiben größere institutionelle oder forschungsstrategische Änderungen innerhalb dieses dominanten Paradigmas weitgehend aus. Der Hauptgrund hierfür ist freilich die Selbstreferentialität des akademischen Diskurses, dessen Qualitätskriterien sich durch die Finanzkrise keineswegs verschoben haben. Der Statusverlust neoklassischer Ökonomie, so dieser überhaupt feststellbar ist, bezieht sich also primär auf den öffentlichen, aber nicht auf den innerakademischen Diskurs« (Dobusch, Leonhard/Kapeller, Jakob: Wirtschaft, Wissenschaft und Politik:

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schung bezieht sich darauf, die neuen Problemlagen – vor allem finanzmarktseitige Krisendynamiken – in den etablierten Modellkanon einzubauen.43 Als vorläufiges Resultat zu den gegenwartsdiagnostischen Charakteristika der Great Moderation sollen abschließend die folgenden Punkte zusammengestellt werden: • Wie oben vorausgeschickt, fungieren die bekannten makroökonomischen Gegenwartsdiagnosen prominent als Ordnungen der Zeit. Ganz ähnlich wie wir es auch aus der Soziologie kennen (etwa bei Konzepten wie Fordismus und Postfordismus oder Industriegesellschaft und Wissensgesellschaft) wird die abgelaufene (jüngere) Geschichte in verschiedene Phasen eingeteilt. Diese fungieren als relativ stabile, komplexitätsreduzierte Referenzen und erlauben durch diachrone Vergleiche die Kontrastierung verschiedener Phasen sowie Standortbestimmungen der Gegenwart. • Der Problembezug der Gegenwartsdiagnose einer Great Moderation referiert auf Gegenwart und Zukunft, schöpft dazu aber aus einer spezifischen Ausdeutung der Vergangenheit: Die Überwindung der hohen Inflationsraten der 1970er Jahre im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre wird als Beleg gedeutet, dass die Engführung von Zentralbankpolitik auf Geldwertstabilität (auf Kosten vormals gleichrangiger Ziele wie etwa der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit) eine richtige Entscheidung war. Hieraus wird abgeleitet, dass auch zukünftig mit ähnlicher Schwerpunktsetzung verfahren werden sollte. • Die exemplarische Diskussion von drei verschiedenen Weisen der Ausdeutung der Great Moderation konnte darüber hinaus aufzeigen, dass eine stabile und eine gewisse Eindeutigkeit suggerierende »Datenlage« nichtsdestotrotz große interpretative Flexibilität zulässt. Interpretative Differenzen entzünden sich vornehmlich an der Gewichtung unterschiedlicher Gründe/Ursachen. Dabei kann vermutet werden, dass die jeweiligen Ausdeutungen mit den entsprechenden Sprecherpositionen korrelieren. Makroökonomische Grundlagenforschung, Makroökonomik im Kontext geldpolitischer Schlüsselpositionen sowie der Bereich des Wirtschaftsjournalismus schließen in jeweils unterschiedlicher Weise an den statistisch-ökonometrischen Befund geringerer Volatilität an und deuten ihn im Sinne der Spielregeln ihrer jeweiligen Felder. • Die Great Moderation lässt sich ferner unter der Fragestellung diskutieren, wie durch die Prominenz dieses Konzepts Sagbarkeitsräume eröffnet oder verschlossen werden. Wie oben skizziert, reiht sich die Gegenwartsdiagnose ein in starke disziplinäre Einheitssemantiken (Neue Neoklassische Synthese) sowie eine große Zuversicht in den erreichten Stand von Beratungswissen (New Consensus in Monetary Policy). Alle diese Begrifflichkeiten – von denen anzunehmen ist, dass sie sich wechselseitig gestützt haben – führten zur Verbreitung falscher Sicherheitsannahmen. Ausgeblendet wurde beispielsweise die Zunahme finanzökonomischer Krisen seit den 1980er Jahren oder das problematische Wachstum des Finanzsektors. Die sozialwissenschaftliche Bedingtheit linker Reformpolitik, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 41, 2001, S. 389-404, hier S. 401). 43 | Siehe zu solchen Modifikationsverfahren wiederum H. Pahl/J. Sparsam: DSGE-Makroökonomik und die Krise.

»The Great Moderation«

• Dass die Debatten um die Great Moderation auch nach Krisenausbruch 2007ff. nicht abgeebbt sind, verweist schließlich deutlich auf einen hohen Grad an disziplinärer Autonomie der Volkswirtschaftslehre (bzw. der Makroökonomik): Das Festhalten an der These geringer Volatilität ermöglicht eine Normalisierung von Krisenphänomenen, die als Ausnahmeerscheinungen rubriziert werden. Dies wiederum kann als Argument ins Feld geführt werden, um Forderungen nach einer Reform der Curricula (etwa durch einen stärkeren Einbezug heterodoxer Positionen) zurückzuweisen. Während die Soziologie einerseits selbst als Produzentin von Gegenwartsdiagnostik prominent in Erscheinung tritt, finden sich in ihrem Bestand zugleich zahlreiche reflexive Auseinandersetzungen mit dem Format der (soziologischen) Gegenwartsdiagnose als einer Art Genre.44 Dort wird die Machart solcher auf Publika jenseits der Fachöffentlichkeit abzielender Formate diskutiert und es werden mögliche Vor- und Nachteile abgewogen (etwa Entprofessionalisierungsgefahr versus Relevanzsteigerung). Der vorliegende Text hat versucht, solche Reflexionsleistungen auf ökonomische Gegenwartsdiagnosen zu übertragen. In diesem Zuge sind bereits einige Besonderheiten der Volkswirtschaftslehre zu Tage getreten, insbesondere ihr »Doppelcharakter« als zugleich stark politisch eingebundene wie auch als qua hochgradiger Mathematisierung nach Außen besonders opak anmutende Disziplin. Bereits eingangs wurde festgestellt, dass – im Unterschied zur relativ großen Nähe von Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnose in der Soziologie – für die zeitgenössische Volkswirtschaftslehre von einer größeren Distanz von »normalwissenschaftlicher« Forschung und Gegenwartsdiagnostik auszugehen ist. Hierin ist vermutlich ein wichtiger Einsatzpunkt und eine besondere Chance für weiterführende Forschungen zu erblicken: Einfache Diffusionsmodelle, die von einem bloßen »Durchsickern« entsprechender Wissensbestände von der akademischen Sphäre in die Öffentlichkeit und den Politikbereich ausgehen, dürften – wofür die vorliegende Analyse bereits sensibilisiert hat – nicht nur zu kurz greifen, um die Popularität und Spezifik ökonomischer Gegenwartsdiagnosen adäquat zu rekonstruieren. Sie zielen auch daran vorbei, die relativ große Distanz zwischen normalwissenschaftlicher Forschung und Gegenwartsdiagnostik innerhalb der Volkswirtschaftslehre analytisch fruchtbar zu machen. Es ist diese Distanz, die es der soziologischen Beobachtung ökonomischer Gegenwartsdiagnosen ermöglicht, den jeweils an verschiedenen Stellen beteiligten Personen und Organisationen (Sprecherpositionen) sowie epistemischen Formaten und deren je spezifischen Mechanismen von Persuasion (mathematische Modelle, der Bezug auf Zeitreihen/ Statistik, Diagramme, schließlich griffige Narrative) im Prozess der Zirkulation und Modifikation gegenwartsdiagnostischer Topoi im Detail nachzugehen. Dies offeriert gute Möglichkeiten, sowohl Selektionsprozesse als auch Transformationsprozesse ökonomischer Gegenwartsdiagnostik analytisch zu erschliessen, also beispielsweise danach zu fragen, warum sich bestimmte Diagnosen gegenüber anderen als erfolgreicher und politisch folgenreicher erweisen. 44 | Siehe als Überblick beispielsweise Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II: Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen 2002, und ihren Beitrag in diesem Band.

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Die Gesellschaften der Bildung Pathologien und Therapien im zeitgenössischen Bildungsdiskurs Tobias Peter

1. D ie G esellschaf ten der G egenwart Welche Rolle spielt die Gegenwart, wenn wir von den Gesellschaften der Bildung reden? Als individueller Moment ereignishaften Erlebens1 ist die Gegenwart der Bildung zunächst nicht mehr und nicht weniger als die unmittelbare Lektüre, pädagogische Unterweisung oder Wiederholung gelernten Wissens. Diese Gegenwart scheint in der pädagogischen Praxis zu einem knappen Gut zu werden. Denn die soziale Steigerungslogik einer beschleunigten Kommunikation und Produktion schlägt sich offenbar in einer Verkürzung von Gegenwarten nieder,2 die sich an verdichteten Lernzeiten, einer immer kürzeren Halbwertzeit des Wissens und der prinzipiell unendlichen Verlängerung von Bildungsphasen beobachten lässt. Die Gegenwart der Bildung erscheint weniger als Muße, denn als Muss – so eine Diagnose, die selbst Teil einer Vielzahl gegenwärtig kursierender Gesellschaftskonzepte ist.3 Gegenwartsdiagnosen ringen um Deutungsmacht über die gesellschaftliche Form von Gegenwart.4 So wird beispielsweise das in der Moderne vielfach variierte Symptom einer zunehmenden Beschleunigung5 sowohl an der Gesellschaft als Ganzem wie an Individuen erkannt, werden nicht zuletzt im Hinblick auf Bildung der Verlust sozialer Beziehungen, Erschöpfung und Identitätsverluste problematisiert und wahlweise Entschleunigung, Achtsamkeit oder Resonanz als Ausweg empfohlen. Andere beklagen mit den ›Auswüchsen‹ der Postmoderne die Folgen alternativpädagogischer Konzepte und fordern, gleichsam als Retrotopie,6 die

1 | Vgl. Stepath, Katrin: Gegenwartskonzepte. Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen, Würzburg 2006. 2 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, S. 129ff. 3 | Vgl. Pongs, Armin (Hg.): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, München 1999; Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2008. 4 | U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. 5 | Vgl. H. Rosa: Beschleunigung, S. 192. 6 | Baumann, Zygmunt: Retrotopia, Berlin 2017.

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Rückkehr zu Autorität und Disziplin.7 Ganz gleich aus welcher Perspektive: Immer wieder beobachten Gegenwartsdiagnosen krankhafte, zumindest störende Phänomene und Fehlentwicklungen im Bildungsbereich und entwerfen zielgerichtete Interventionen zu deren Behebung oder zur Wiederherstellung vergangener Zustände. Damit bereiten die Diagnosen wiederum alltägliche Praktiken vor, mit denen direkt in den gesellschaftlichen Organismus und die unmittelbare Gegenwart der Bildung eingegriffen wird. Diagnostische Perspektiven auf die Gesellschaft assoziieren – wenn auch nicht explizit, sondern mit einer komplexen soziologischen Theoriebildung übersetzt – nicht von ungefähr das Bild des funktionierenden Körpers. Schließlich besitzen Metaphern des Leibes, Körpers oder Organismus seit der Antike bis zur Entstehung der Soziologie eine lange Tradition der Gesellschaftsbeschreibung.8 Das mit Begriffen wie Statik und Dynamik, Differenzierung und Integration in Verbindung stehende »biologische Hintergrundmodell« bildet die Voraussetzung, um Gesellschaft als »Naturgegenstand« und damit legitimes Untersuchungsobjekt in den Blick nehmen zu können.9 Diese Prägung soziologischer Theoriebildung, und in ihrem Gefolge auch populärer Gegenwartsdiagnosen von Metaphern und Konzepten des Organismusmodells, steht in enger Verbindung mit einer Heuristik der Diagnose. Entsprechend der medizinischen Herkunft des Begriffs Diagnose (griech. diágnōsis [διάγνωσις]) ›Unterscheidung, Beurteilung, Erkenntnis, Bildung‹) geht es dabei darum, den ärztlichen Blick auf den ›Organismus‹ der Gesellschaft und ihre Teile zu richten, um genau und durchgreifend zu erkennen, zu unterscheiden und zu beurteilen (griech. diagignṓskein [διαγιγνάσκειν]).

7 | Bueb, Bernhard: Elitedenken als Erziehungsmittel, in: Kodalle, Klaus M. (Hg.): Der Ruf nach Eliten, Jahrbuch der Philosophie, Beiheft 2, Würzburg 2000, S. 97-100. 8 | Vgl. Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, bes. S. 79ff., 88ff. Metaphern des Körpers und Leibes kommen bereits in der antiken Staatsphilosophie und christlichen Theologie, später im bio-mechanischen Modell des Leviathan und Rousseaus Vorstellungen eines empfindsamen Staatskörpers zum Ausdruck und beeinflussen mit den Physiokraten schließlich auch das ökonomische Denken bis in die Gegenwart; vgl. Meyer, Ahlrich: Organismus, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Stuttgart 1971-2004, Bd. 6, S. 1330-1357, hier S. 1330. 9 | Meyer, Ahlrich: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13, 1969, S. 128-199, hier S. 34. Mit der von Saint-Simon, Comte, Durkheim und Spencer beanspruchten Organismusmetapher wird Gesellschaft als Resultat einer natürlichen Entwicklung, nicht als Vertragsmodell oder Ergebnis von sozialen Kämpfen begriffen. Diese Auffassung von Gesellschaft als Organismus prägt schließlich insbesondere das Gesellschaftsverständnis der deutschen Soziologie, sei es mit einem explizit organizistischen Vokabular wie bei Schäffle, Albert: Bau und Leben des Socialen Körpers, 4 Bde., Tübingen 1875/1878, oder in der Adaption für die Gemeinschaftssoziologie bei Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Berlin 1887, bis hin zur kommunikationstheoretisch umgearbeiteten Gesellschaftstheorie von Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.

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In dieser Perspektive zielen Gegenwartsdiagnosen darauf ab, Symptome zu entdecken, ein ›Krankheitsbild‹ festzustellen und auf Grundlage einer systematischen Anamnese eine Prognose zu erstellen und Therapien einzuleiten. Es ist insbesondere die an Habermas anschließende Zeitdiagnostik der kritischen Theorie, die versucht, die gesellschaftlichen Widersprüche der Moderne als Sozialpathologien zu identifizieren, die es in einer Versöhnung von gesellschaftlicher Komplexität und Emanzipationsansprüchen aufzuheben gilt.10 Gegenwartsdiagnosen geht es demnach zunächst »um eine Bestimmung und Erörterung von solchen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft […], die sich als Fehlentwicklungen oder Störungen, eben als ›Pathologien des Sozialen‹ begreifen lassen.«11 Komplementär zum Begriff der Diagnose erfasst und bestimmt die Pathologie eine Krankheit, von der ein bestimmter Organismus befallen ist. Weil sie einen bestimmten Maßstab des Richtigen und Normalen voraussetzen, bezeichnen Pathologien anormale Zustände, die von einem bestimmten sozialen Bereich in die Gesellschaft ausstrahlen oder umgekehrt. Was als Pathologie bezeichnet wird, informiert somit immer auch über den normativen Horizont, über »die Vorstellung von Normalität, die auf das gesellschaftliche Leben im Ganzen bezogen ist.«12 Der im vorliegenden Beitrag angelegten Heuristik der Pathologie geht es nicht darum, soziale Pathologien zu indizieren und an einem ethischen Maßstab von »Normalität« als Ermöglichungsbedingung von Selbstverwirklichung zu messen. Dies würde einen eigenen normativen Horizont voraussetzen, der bestimmen ließe, was sich als richtige oder falsche gesellschaftliche Entwicklung auffassen lässt. Vielmehr geht es darum herauszupräparieren, auf welche Weise in Gegenwartsdiagnosen bestimmte Pathologien des Bildungssystems in durchaus kritischer Absicht problematisiert werden und welche Differenz von Normalität und Pathologie dabei sichtbar wird. Pathologisierungen versuchen gesellschaftliche Zustände zu objektivieren, um sie auf diese Weise zu problematisieren. Daran knüpfen schließlich Kritik und Neuverhandlung des Gesellschaftlichen sowie eine Normalisierung und die Entfaltung von Lösungsvorschlägen an. Um den pathologischen Phänomenen auf dem Weg in eine andere Gesellschaft entgegenzuwirken, müssen schließlich Lösungsstrategien (Therapien) in Anschlag gebracht werden. Gegenwartsdiagnosen lassen sich als diskursive Ordnungen verstehen, die den unzähligen ereignishaften Praxen eine kohärente Deutung, mithin Gegenwart verleihen. Denn stellt man in Rechnung, dass die Gegenwart der Ort ist, an dem sich Vergangenheit und Zukunft schneiden,13 dann sind auch die situativ und ereignishaft erscheinenden Praktiken des Lehrens und Lernens durchzogen von Semantiken der Vergangenheit, die auf die Zukunft zielen. Indem Gegenwartsdiagnosen ihrerseits beobachtet werden und Eingang in gesellschaftliche Diskurse finden, stellen sie Problematisierungen und Deutungsmuster, Argumente und 10 | Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981; Kneer, Georg: Die Pathologien der Moderne. Zur Zeitdiagnose in der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ von Jürgen Habermas, Opladen 1990. 11 | Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie, in: Ders. (Hg.): Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M. 1994, S. 10. 12 | Ebd., S. 50. 13 | Nassehi, Armin: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011, S. 314f.

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Rechtfertigungen gesellschaftlicher Praktiken zur Verfügung. Auf diese Weise bilden Praktiken und Diskurse aneinander gekoppelte Aggregatzustände kultureller Wissensordnungen, die sich um bestimmte Konzeptionen von Gesellschaft herum bilden.14 Dies unterstellt, bewegen sich die in ereignishafter Gegenwart ereignenden Praktiken in verschiedenen, mitunter konfligierenden Gesellschaften der Gegenwart. Dementsprechend unterschiedlich sind die Gesellschaftsbezüge bestimmter Problematisierungen und programmatischer Forderungen, die zur Legitimation von Bildungsreformen oder neuen pädagogischen Praxen in Anspruch genommen werden. Auch wenn sich Gegenwartsdiagnosen prinzipiell auf die Gesamtgesellschaft beziehen, thematisieren sie nicht jeden gesellschaftlichen Bereich. Vielmehr konzentrieren sie sich auf bestimmte Ebenen oder Teilbereiche der Gesellschaft, ohne in nationalen Räumen zu verbleiben. Dabei dient die Analyse von einzelnen Funktionssystemen dazu, die Gesellschaft als Ganzes zu charakterisieren.15 Mit ihrem Orientierungswissen kanalisieren sie bestimmte Denkräume, in denen aus gesellschaftlichen Problematisierungen auch soziale Lösungen abgeleitet werden. Bildung wird dabei als Motor oder Instrument gesellschaftlichen Wandels konzipiert und zugleich aufgrund diagnostizierter Zwänge selbst zum Gegenstand von Veränderung. Auf je unterschiedliche Weise konstruieren und legitimieren die Konzepte damit Transformationsprozesse in Bildung und Gesellschaft. Die Bildung der Gesellschaft lässt sich nicht auf eine bestimmte dominante Gegenwartsdiagnose reduzieren. Vielmehr zeigt sich das Erziehungssystem diskursiv höchst umkämpft.16 Dabei ist bei den gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Debatten um Bildung eine hegemoniale Stellung von Narrativen zu beobachten, die, unter verschiedenen Etikettierungen firmierend, vor allem auf die Perspektiven von Wissen, Globalität oder Inklusion abstellen.17 Die damit verbundenen soziologischen Gegenwartsdiagnosen strahlen in den bildungspolitischen Diskurs und die Bildungsinstitutionen aus. Dieser Beitrag nimmt deshalb nicht nur die ernsten Semantiken sozialphilosophischer Gegenwartsdiagnosen, sondern ebenso die populären und programmatischen Semantiken in den Blick, die in Politik und Institutionen des zeitgenössischen Bildungssystems sichtbar sind. Analysiert werden deshalb sowohl soziologische Gegenwartsdiagnosen als 14 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie, Frankfurt a.M. 2008, S. 188-210. 15 | Vgl. U. Schimank/U. Volkmann: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, S. 14f. 16 | Vgl. Peter, Tobias: Umkämpfte Systematizität. Zur diskursiven Konstruktion des Erziehungssystems, in: Soziale Systeme 19, 2015, S. 53-84. 17 | Diese Auswahl erhebt nicht den Anspruch, alle Gegenwartsdiagnosen abzubilden, die bildungsrelevante Aspekte enthalten. Vielmehr basiert die Auswahl auf Analysen des Bildungsdiskurses, die im Rahmen des Teilprojekts »Egalität oder Exzellenz« der DFG-Forschergruppe »Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem« vorgenommen wurden. Bei der quantitativen Analyse bildungspolitischer Programmatiken und institutioneller Konzepte konnten Wissen, Globalisierung und Inklusion als wesentliche gegenwartsdiagnostische Referenzpunkte der Argumentation herauspräpariert werden. Ausgewählte Texte dieses Samples wurden für die Feinanalyse ausgewählt und werden hier wiederum mit gegenwartsdiagnostischer Primärliteratur kontextualisiert.

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auch bildungspolitische Dokumente und institutionelle Konzepte. Auch wenn der Schwerpunkt dabei auf dem Bildungsdiskurs in Deutschland liegt, werden auch systematisch relevante Texte des US-Diskurses herangezogen. Herausgearbeitet werden die Problematisierungen und Kritiken (Pathologien) ebenso wie die Transformationsperspektiven und Lösungsansätze (Therapien).

2. W issen Dass umfassende Bildung und nicht schiere Muskelkraft zu Arbeit, Glück und Wohlstand führt; dass Informationsverarbeitung und Netzwerkbildung, nicht primär Kapital oder Bürokratie zu ökonomischem Erfolg und zum Gelingen gesellschaftlicher Steuerungsprozesse führen, gilt Gegenwartsdiagnosen wie der »Informationsgesellschaft«, »Wissenschaftsgesellschaft« oder »Wissensgesellschaft« sowie verwandter Konzepte wie der »Postindustriellen Gesellschaft« als gewiss.18 Allen Ansätzen ist gemein, dass sie implizit oder explizit einen signifikant gestiegenen Stellenwert des Wissens innerhalb der gesellschaftlichen Zusammenhänge feststellen und deshalb Bildung eine zentrale Rolle in der Gesellschaft zuweisen. Diagnostiziert wird ein sozialstruktureller Epochenwechsel, in dem Wissen im Zuge einer fortschreitenden wissenschaftlichen Durchdringung mehrerer sozialer Felder die gesellschaftliche Reproduktion bestimmt.19 Innerhalb des Sets basaler ökonomischer Kategorien verschiebt sich demnach der Konflikt Kapital-Arbeit in Richtung Kapital-Wissen oder Arbeit-Wissen. Für das Funktionieren der Gesellschaft und ihrer Teile ist nun entscheidend, welches Wissen für die Kapitalakkumulation notwendig ist bzw. im Bildungsprozess erworben werden muss.20 In der einseitigen Betonung des Faktors Wissen unterschlägt die Diagnose der Wissensgesellschaft tendenziell, dass materielle Produktion, körperliche Arbeitsroutinen und Kapitalausstattung keineswegs obsolet werden.21 Aus der unterstellten wissensgesellschaftlichen Transformation resultiert eine umfassende Pathologie der Gegenwart, die der klassischen Industriegesellschaft der Moderne eine fundamentale Krise ihrer wirtschaftlichen Wachstumsfähigkeit und kulturellen Kohäsion attestiert. Die frühen Konzeptionen der Wissens-

18 | Vgl. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter, 3 Bde., Opladen 2004; Stehr, Nico: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a.M. 1994; Kreibich, Rolf: Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frankfurt a.M. 1986; Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1996. 19 | Vgl. Kübler, Hans-Dieter: Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 195f.; Steinbicker, Jochen: Zur Theorie der Informationsgesellschaft. Ein Vergleich der Ansätze von Peter Drucker, Daniel Bell und Manuel Castells, Opladen 2001. 20 | Vgl. Stehr, Nico: The fragility of modern societies. Knowledge and risk in the information age, London/Thousand Oaks 2001, S. 105f. 21 | Bittlingmeyer, Uwe H./Bauer, Ullrich: Strukturierende Vorüberlegungen zu einer Theorie der Wissensgesellschaft, in: Dies.: Wissensgesellschaft. Mythos, Ideologie oder Realität, Wiesbaden 2006, S. 327.

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gesellschaft 22 in den USA der 1960er Jahre diagnostizieren demographische und wissenschaftliche Entwicklungszwänge einer älter und urbaner werdenden Gesellschaft, die steigenden Qualifikationsanforderungen und höheren Bildungsanstrengungen gegenübersteht. Wenn »es in einer Gesellschaft gegensätzliche Ansichten über Exzellenz gibt – oder sie sich selbst nicht zum Streben nach Exzellenz aufraffen kann – werden die Konsequenzen in allen Bereichen zu spüren sein«, so John W. Gardner, Präsident des Think Tanks Carnegie Corporation und später Bildungs- und Wohlfahrtsminister. »Die Krankheit wird nicht jedes Organ angreifen, aber die daraus folgende Hinfälligkeit wird in allen Teilen des Körpers zu spüren sein.«23 Krisendiagnosen wie diese zeichnen das Bild eines alternden, undynamischen Gesellschaftskörpers, für dessen Gesundung ein bildungs- und wissensorientiertes Leistungsstreben alternativlos scheint. Auch wenn diese ungebrochen organizistische Metaphorik eher die Ausnahme wissensgesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen bleibt, so eint sie doch die grundsätzliche Überzeugung des Social Engineering, dass die Gesellschaft und ihre Probleme bis hin zu mentalen Stimmungen als Ganzes erfassbar und steuerbar seien.24 In die Gegenwartsdiagnose der Wissensgesellschaft ist eine Pathologie notorisch unzureichender Bildungsanstrengungen eingeschrieben, die sich sowohl auf die Gesellschaft, das Bildungssystem als auch die Individuen bezieht. In der Brille wissensgesellschaftlicher Diagnosen und der von ihnen antizipierten Entwicklungen stellt nicht nur ein steigender Bedarf an Fachkräften, sondern vor allem die wachsende Komplexität der Anforderungen das Bildungssystem vor erhebliche Herausforderungen.25 Vor diesem Hintergrund besitzt das meritokratische Prinzip für die Gegenwartsdiagnose der Wissensgesellschaft zentrale Bedeutung. Auch wenn der Nachweis von Wissen und Kompetenz bis zu einem gewissen Grad objektivierbar ist, so ist deren Erwerb abhängig von komplexen sozialen Voraussetzungen; dementsprechend formulieren wissenschaftliche Gegenwartsdiagnosen früh das Problem der equality of opportunities,26 das fortan in unterschiedlichen Varianten den Bildungsdiskurs prägt. Der Imperativ der Chancengleichheit adressiert dabei nicht nur das Bildungssystem, sondern auch die Bildungssubjekte – wenn gleiche Startchancen vorausgesetzt werden, kann mangelnder Bildungserfolg als ein Ergebnis individuellen Versagens ausgewiesen werden.27

22 | D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft; Drucker, Peter F.: Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf 1993. 23 | Gardner, John William: Excellence. Can we be equal and excellent too?, New York 1962, S. xiv. 24 | Vgl. Etzemüller, Thomas: Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: Ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11-39. 25 | Vgl. Rockefeller Brothers Fund: The pursuit of excellence. Education and the future of America [the Rockefeller report on education]. Panel report V of special studies project, Garden City, NY 1958, S. 15ff. 26 | J. W. Gardner: Excellence. 27 | Vgl. Bröckling, Ulrich/Peter, Tobias: Mobilisieren und Optimieren. Egalität und Exzellenz als hegemoniale Diskurse im Erziehungssystem, in: Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.): Elite und Exzellenz im Bildungssystem, Wiesbaden 2014, S. 129-147.

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Trotz der in den 1960ern angestoßenen Bildungsexpansion in den westlichen Industriegesellschaften haben sich in den nachfolgenden Jahrzehnten die Befunde mangelnder Chancengleichheit und eines zu geringen Leistungsniveaus nicht verändert. Gleichwohl ändert sich der Begründungszusammenhang mit dem Aufkommen neoliberaler gesellschaftlicher Strömungen. Wenn aus Sicht der Humankapitaltheorie »in modernen Gesellschaften die Produktivität auf Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Wissen beruht«,28 dann geraten die Produktionsbedingungen im Bildungs- und Wissenschaftssystem unter Druck. Vor diesem Hintergrund diagnostiziert der von der Reagan-Administration beauftragte Report A Nation at risk zu Beginn der 1980er Jahre für die USA, dass deren einstiger Vorsprung in Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und technologischer Innovation angesichts einer Vielzahl von Konkurrenten geschwunden ist.29 Ausgehend von der These einer wissensbasierten Ökonomie wird die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zum entscheidenden Problem: »Um den knappen Wettbewerbsvorsprung, den wir auf den Weltmärkten besitzen, zu halten und auszubauen, müssen wir unser Bildungssystem zum Nutzen aller reformieren − ältere und jüngere, wohlhabende und arme, Mehrheit und Minderheiten. Lernen ist eine unabdingbare Investition, um Erfolg im aufkommenden Informationszeitalter zu haben.« 30

Notwendig ist die Mobilisierung aller Bildungsreserven, unabhängig von Herkunft, Alter oder Einkommenssituation. Die zentralen, vielfach variierten Pathologien der wissensgesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen lassen sich als quantitative und qualitative Widersprüche identifizieren: Wachsende Qualifikationsanforderungen stehen einer beständigen Unterversorgung mit Hochqualifizierten gegenüber; die pädagogische Praxis bleibt gegenüber steigenden Qualitätsansprüchen defizitär. In der erfolgreich plausibilisierten notorischen Unzulänglichkeit der Bildungspraxis gegenüber einer dynamischen wissensbasierten Entwicklung liegt der Erfolg wissensgesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen. Bildungspolitische Argumentationen verweisen unverändert wirkungsvoll auf die wirtschaftliche Notwendigkeit wissensbasierter Innovationen und leiten als Therapie den notwendigen Ausbau höher Bildung aus wachsenden wissenschaftlich fundierten Anforderungen der Arbeitswelt ab. Im Rahmen dieses Diskurses sieht sich die EU in der Lissabon-Strategie »mit einem Quantensprung konfrontiert, der aus der Globalisierung und den Herausforderungen einer neuen wissensbasierten Wirtschaft resultiert.«31 An den Hochschulen kennzeichnet gesellschaftliche Relevanz die ›neue Wissensproduktion‹, die unter dem Schlagwort Modus 2 und anderen Konzepten innovationsorientierter For28 | Becker, Gary Stanley: Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education, Chicago 1996, S. 220. 29 | National Commission on Excellence in Education: A Nation at Risk, US-Department of Education, Washington 1983. 30 | Ebd., S. 10. 31 | Europäischer Rat: Offizielle Texte der Ergebnisse des Gipfels von Lissabon zur neuen Wirtschafts- und Sozialstrategie der Europäischen Union und zur Lage auf dem Balkan. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000, Luxemburg 2000, S. 1.

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schungskonzepte dominant geworden ist.32 Da es dabei vor allem um jenes Wissen geht, das sich in überschaubaren Zeiträumen maximal gesellschaftlich kontextualisieren und verwerten lässt, geraten die Universitäten zunehmend in den Konflikt, die Produktion eben jenes Wissens zu unterlassen, das potentiell die größten Verwertungsrisiken generiert und damit die Offenheit des wissenschaftlichen Wissensprozesses zu gefährden droht. Neben Forschung und Entwicklung setzen die bildungspolitischen Programme im Zeichen der Wissensgesellschaft einerseits auf einen breiten Zugang zu Informationstechnologien und umfassende Mindestkompetenzen aller EU-Bürger im Bildungsbereich. Zum anderen geht es darum, »daß Europa attraktive Perspektiven für seine fähigsten Köpfe bieten kann.«33 Damit ist zugleich eine umfassende ökonomische Steuerung verbunden, die darauf setzt, die vorhandenen Ressourcen intensiver und effizienter zu nutzen und zugleich eine zielgerichtete und an klaren Benchmarks ausgerichtete Erhöhung des Humankapitals zu realisieren.34 Daraus ergibt sich eine aktive Rolle des Staates bei der Bereitstellung qualitativ hochwertiger Bildungsdienstleistungen.35 Die aufkommende wissensbasierte Ökonomie ist nicht nur auf ein wesentlich größeres Spektrum an Fähigkeiten angewiesen, sondern ebenso darauf, die individuellen Potentiale über individualisierte Anreizstrategien zu heben. Um das Potential der sogenannten Bildungsfernen zu erschließen, müssten individuelle Lernprozesse angeregt werden.36 Die fundamentale Bedeutung von Wissen für die gesellschaftliche Reproduktion verlangt veränderte pädagogische Strategien. Wenn die Verknüpfung und 32 | Abgeleitet von wissensgesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen sollen sich Forschung und Lehre gesellschaftlich legitimieren, an Innovationszyklen, potentieller Verwertbarkeit und Employability orientieren und unter Beweis stellen, »nicht nur richtiges, sondern wichtiges Wissen zu produzieren« (Maasen, Sabine: Exzellenz oder Transdisziplinarität. Zur Gleichzeitigkeit zweier Qualitätsdiskurse, in: Hornbostel, Stefan/Simon, Dagmar/Heise, Saskia [Hg.]: Exzellente Wissenschaft. Das Problem, der Diskurs das Programm und die Folgen, Bonn 2008, S. 23-32, hier S. 25). In der Konsequenz weiten Universitäten ihr Kompetenzportfolio aus und suchen die Relevanz ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse über Rahmenpläne, Zielvereinbarungen und Evaluationen sicherzustellen. Strategische Innovation, Profilierung und Vernetzung werden als genuine Aufgabe von Wissenschaft begriffen (vgl. Wissenschaftsrat: Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems. Drs. 3228-13, Braunschweig 12.7.2013). Mit diesen Entgrenzungsprozessen sind zugleich Intensivierungslogiken verbunden, die auf kürzere Innovationszyklen und einen immer höheren Durchsatz von Wissen abzielen. 33 | Europäischer Rat: Offizielle Texte der Ergebnisse des Gipfels von Lissabon zur neuen Wirtschafts- und Sozialstrategie der Europäischen Union und zur Lage auf dem Balkan, S. 5. 34 | Ebd., S. 6. 35 | Vgl. Morais, Ana u.a.: Towards a Sociology of Pedagogy. The Contribution of Basil Bernstein to Reasearch, New York 2001; Sertl, Michael: A Totally Pedagogised Society. Basil Bernstein zum Thema, in: Ribolits, Erich/Zuber, Johannes: Pädagogisierung. Die Kunst, Menschen mittels Lernen immer dümmer zu machen!, Wien 2004. 36 | Vgl. Peter, Tobias: Egalitäre Bildung als hegemoniales Projekt. Zur Herausbildung bildungspolitischer Hegemonien und Gegenhegemonien am Beispiel des Hamburger Schulreformdiskurses, in: Löw, Martina (Hg.): Vielfalt und Zusammenhalt, Frankfurt a.M./New York 2014.

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Schaffung eines Wissens mit immer kürzerer Halbwertzeit im Mittelpunkt wissensbasierter Gesellschaften steht, wird die reine Orientierung auf die Vermittlung statischen Wissens ebenso zum Problem wie der damit verbundene lehrerzentrierte Unterricht. Weil brachliegende Bildungsressourcen gehoben werden müssen, schlägt der rein quantitative Ausbau in eine neue Qualität der Bildungspraxis um. Der Anspruch auf Chancengleichheit wird hier in ein relationales Leistungsverständnis übersetzt. Es wird nicht von jedem die gleiche Leistung verlangt, wohl aber die Ausschöpfung des individuellen Potentials. Auf diese Weise sollen gerade die unterschiedlichen Startvoraussetzungen zu maximalen Bildungsanstrengungen anspornen, ohne die bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen. Den Konzepten der Wissensgesellschaft zufolge wird in einer hochflexiblen, wissensbasierten Ökonomie die Entwicklung individueller Besonderheiten, die Fähigkeit sich selbst einzuschätzen und aktiv zu steuern unabdingbar. Dem komplexen Umgang mit immer neuem Wissen ist demnach nur gewachsen, wer eigenständig, reflektiert und flexibel ist. Die pädagogischen Forderungen der permanenten Innovation und der Intensivierung, dem Konzepte wie Lernen lernen, Individuelles Lernen oder Lebenslanges Lernen entspringen, produzieren dabei ständig neue Herausforderungen eines »unbegrenzten Aufschubs.«37 Die in den wissensgesellschaftlichen Pathologien formulierte Unzulänglichkeit gegenüber einer fortschreitenden Dynamik des Wissens wird in individuelle wie institutionelle Therapien eines weit über die Aneignung von Wissen hinausgehenden Lernens übersetzt. »Neben den kognitiven Fähigkeiten sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Talente entdecken und gemeinsam entwickeln. Die Förderung von Fantasie und Kreativität ist ebenso Bildungsziel wie […] der offene Umgang mit Fehlern sowie eine ausgeprägte Rückmelde- und Gesprächskultur.«38 Originalität und Anderssein sollen nicht nur für kreative Prozesse und innovative Entwicklungen fruchtbar gemacht, sondern auch als individuelle Ressource eingebracht und vermarktet werden. Je unsicherer ist, welche individuellen Kompetenzen in der Zukunft zählen, desto dringlicher wird die Förderung besonderer Talente in der Gegenwart. Die wissensgesellschaftlichen Konzepte radikaler Individualisierung formulieren den Imperativ, sich mit der Unverwechselbarkeit seines Selbst im Wettbewerb zu behaupten. Sie knüpfen dabei an marktliberale Wettbewerbsrhetoriken und emanzipatorische Konzepte der Aufklärungspädagogik gleichermaßen an.39 Bislang extern auf bereitete Inhalte nur passiv aufzunehmen, steht nicht nur für mangelnde Kreativität, sondern auch für eine Unterwerfung unter zweifelhafte Autoritäten, die es zu überwinden gilt. Dagegen zielt das aktive und reflexive Erarbeiten von Wissen auf eine machtkritische Haltung und birgt zugleich Innovationspotential. Trotz ihrer Wirkmächtigkeit sind die Brüche und Widersprüche wissensgesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen unübersehbar. Die höhere Relevanz von Wissen hat die Faktoren Arbeit und Kapital in der gesellschaftlichen Reproduktion keines37 | Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Ders. (Hg.): Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 257. 38 | Sekundarschule Olsberg: Schulprogramm, Olsberg 2012. 39 | Schulz, Andreas: Der »Gang der Natur« und die »Perfektibilität« des Menschen. Wissensgrundlagen und Vorstellungen von Kindheit seit der Aufklärung. In Gall, Lothar/Schulz, Andreas (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 15-40.

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wegs marginalisiert, sondern lediglich neu formiert. Mit der Aufwertung wissenschaftlichen Wissens ist es zu einer erheblichen Expansion des Hochschulbereichs und zunehmenden Verwissenschaftlichung vormals unakademischer Berufsfelder gekommen. In den Debatten um Akademisierungswahn, prekäre Beschäftigungsbedingungen akademischer Berufe und die Zumutungen lebenslangen Lernens zeigt sich, dass die Gegenwartsdiagnose der Wissensgesellschaft nicht nur als Verheißung, sondern ebenso als Drohung wahrgenommen wird. Die Betonung individueller Leistung droht die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Ungleichheiten jeder Bildungskarriere zu unterschlagen. Die meritokratische Grundkonzeption der Wissensgesellschaft erneuert eine unveränderte Illusion der Chancengleichheit.40

3. G lobalität Dass sich nicht nur Wissen, sondern auch Kapital global und jenseits territorialer Grenzziehungen bewegt, ist an sich kein neues Phänomen und wurde insbesondere seit dem 19. Jahrhundert unter verschiedensten theoretischen Bezügen thematisiert.41 Völkerverständigung, Frieden und kultureller Austausch prägen schon lange einen Internationalisierungsdiskurs, in dem die Konzepte nationaler Gesellschaften und Bildungsräume nachhaltig relativiert werden. Erst vor diesem Hintergrund sind die grundlegenden Veränderungen verständlich, die sich mit der spätestens seit den 1990er Jahren wirkmächtigen Gegenwartsdiagnose der Globalisierung vollziehen. Sie hebt auf eine neue Qualität des globalen Austauschs ab, die aus freien Märkten und kommunikationstechnologischen Veränderungen resultiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass Globalität nicht nur transnational, sondern ebenso auf individueller und institutioneller, lokaler, regionaler und nationaler Ebene konstituiert wird.42 Die damit verbundenen Veränderungen lassen sich insbesondere im ökonomischen Bereich beobachten. So umfasst der Welthandel nun nicht nur materielle Güter, sondern zunehmend »Informationen, Wissen, Fertigkeiten. Während die ›alte Weltwirtschaft‹ vor allem durch intersektorale Handelsbeziehungen zwischen den Volkswirtschaften (z.B. Rohstoffe versus Kapitalgüter) und überwiegend nationalstaatlich orientierte und verfasste Unternehmen charakterisiert war, bilden sich in der ›neuen Weltwirtschaft‹ zunehmend global vernetzte Produktionsstrukturen heraus.« 43

40 | Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971. 41 | Vgl. Rehbein, Boike/Schwengel, Hermann: Theorien der Globalisierung, Konstanz 2012; Middell, Matthias/Engel, Ulf (Hg.): Theoretiker der Globalisierung, Leipzig 2010. 42 | Sassen, Saskia: Globalization or denationalization?, in: Review of International Political Economy 10, 2001, S. 1-22. 43 | Messner, Dirk: Gesellschaftliche Determinanten wirtschaftlicher Entwicklung in der Weltmarktwirtschaft. Markt, Netzwerksteuerung und soziale Gerechtigkeit als Elemente einer Entwicklungsstrategie jenseits des Neoliberalismus, in: Brunkhorst, Hauke/Kettner, Matthias (Hg.): Globalisierung und Demokratie, Frankfurt a.M. 2000, S. 90-127, hier S. 90.

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Mit dem Schlagwort der Globalisierung werden nicht nur die harmonischen Gefüge einer Weltmarktwirtschaft, Weltwissenschaft oder eines Weltbildungssystems diagnostiziert, die mit der Homogenität von Nationalstaaten vergleichbar wären. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die bisherige Einteilung in Staaten und Regionen, in denen sich souveräne Politik und prosperierende Ökonomien entsprechen, zusehends einer Topographie heterogener Prosperität und Armut, zu einer Neuaufteilung der Weltgesellschaft in ökonomische und politische Zentren und Peripherien weicht.44 Wer zu den viel beschworenen Gewinnern der Globalisierung zählen will, muss sich als attraktiv und wettbewerbsfähig erweisen. Die Pathologie der Globalisierungstheorie: die Nationalstaaten und die daran gekoppelten Wohlfahrts- und Bildungssysteme sind einerseits Hürden, andererseits unzureichend gewappnete Instanzen der Bewältigung von Globalisierung. In Debatten wie um die Förderung von Bildungseliten wird die existenzielle Dimension dieses Globalisierungsdrucks deutlich: »[Z]u viele unserer Besten gehen ins Ausland. Wir wollen sie in Bayern halten. Qualität vor Quote, Klasse statt Masse – das muss unser Maßstab sein. Ohne Eliten, ohne die Pioniere, die sich in Neuland vortasten, wird gerade eine schrumpfende und alternde Bevölkerung in Deutschland ihren Wohlstand nicht sichern können. Wenn die Muskeln unseres Landes schrumpfen, bricht irgendwann das Skelett unseres Sozialstaates zusammen. Elitenförderung bringt eine soziale Dividende für alle. Deshalb fördern wir Eliten.« 45

Nicht nur regionale und nationale, sondern auch transnationale Bildungs- und Wissenschaftsräume stehen deshalb unter dem Verdacht der Mittelmäßigkeit: »Europäische Forschungseinrichtungen üben auf die Forscher aus aller Welt bei weitem nicht die magische Anziehungskraft aus wie amerikanische Hochschulen, Unternehmen und Laboratorien. In Europa finden Forscher aus Drittländern keine besonders günstigen (materiellen und administrativen) Bedingungen vor. In der Regel müssen zunächst zahlreiche bürokratische Hürden überwunden werden. […] Die Abwanderung der besten Köpfe, die angeblich gestoppt werden konnte, geht in Wahrheit weiter.« 46

Die mit dem Stichwort »Brain-Drain« apostrophierte mangelnde Attraktivität der europäischen und deutschen Hochschulen im globalen Vergleich gefährdet demnach die Leistungserbringung von Wissenschaft und letztlich auch Wirtschaft.47 Auch dem Schulsystem wird gemessen an internationalen Vergleichsmaßstäben eine ungenügende Leistungsfähigkeit attestiert. Notorische Sichtbarkeits-, Attraktivitäts- und Leistungsdefizite als auch eine unzureichende globale Vernetzung und interkulturelle Kompetenz der zeitgenössischen Bildung werden pathologisch. 44 | Vgl. ebd., S. 94. 45 | Stoiber, Edmund: Regierungserklärung, in: Plenarprotokoll zur 30. Sitzung des 15. Bayerischen Landtags, München 2004, S. 1993. 46 | Europäische Kommission: Hin zu einem europäischen Forschungsraum. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Brüssel 2000, S. 22. 47 | Vgl. Haberkamm, Thomas/Dettling, Daniel (Hg.): Kampf um die besten Köpfe. Perspektiven für den deutschen Hochschulstandort, Berlin 2005.

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An diesen Befund knüpft ein ganzes Bündel an Therapien an. Um die ›Herausforderungen der Globalisierung‹ zu bewältigen, werden insbesondere Hochschulen in den ›Kampf um die besten Köpfe‹ geschickt. Nahezu jede Hochschule setzt sich mit Internationalisierungsstrategien das Ziel, eine vielfältige Studierendenschaft und engmaschige Austausch- und Forschungsnetzwerke zu schaffen.48 Das in den Papieren der 1990er Jahre aufkommende Paradigma vom Wettbewerb als Erfordernis und Katalysator von Globalisierung wird früh mit der Orientierung an Spitzenleistungen verbunden. So schreiben sich exzellente Bildungseinrichtungen kosmopolitische Weltläufigkeit, den globalen Austausch von Wissen und eine multikulturell geprägte Atmosphäre auf die Fahnen. Universitäten untermauern ihren Elitestatus mit internationalen Publikationen, globalen Forschungskooperationen und einer vielfältigen Studierendenschaft. Bewerber an exklusiven Hochschulen werden als potentielle ›Global Leaders‹ adressiert, die »bereits während ihrer Ausbildung das sichere Auftreten auf internationalem Parkett erlernen und sich die notwendige interkulturelle Erfahrung und Etikette aneignen, die ihre späteren Führungspositionen von ihnen verlangen.«49 Die Förderung von Internationalität folgt der Logik von Diversitystrategien wie dem »Diversity Code of Conduct« der TU München.50 Eine heterogene Studierendenschaft suspendiert Leistungsmaßstäbe nicht, im Gegenteil: Indem die Ausweitung des Pools die Wahrscheinlichkeit der Erträge maximiert, erhöhen sich auch die individuellen Leistungserwartungen. Auf der Suche nach den ›High Potentials‹ sollen alle in den Blick kommen, um die Besten zu fördern. Unabhängig davon, ob später Positionen in eher national orientierten Unternehmen eingenommen werden – globale Orientierung wird nicht aus Gründen ethisch fundierter Weltoffenheit, sondern als ökonomisch verwertbare Humanressource verlangt.51 Ausgehend von den diagnostizierten Defiziten einer immer wieder unzureichenden und gefährdeten globalen Positionierung und Vernetzung wird Globalität in Konkurrenzverhältnisse übertragen. Die Therapien erzeugen so performative Effekte und tragen dazu bei, das Feld hierarchisch zu strukturieren. Auch in der schulischen Bildung schlägt sich die Gegenwartsdiagnose der Globalisierung nieder. UNESCO-Projektschulen, Europaschulen und Schüleraustauschprogramme verfolgen zunächst das Motiv der Völkerverständigung, auch wenn die damit verbundene Mobilität weithin auf die gymnasiale Bildung beschränkt bleibt.52 Internationalität wird in diesen Projektschulen als »Erziehung

48 | Gemeinsame Wissenschaftskonferenz: Strategie der Wissenschaftsminister/innen von Bund und Ländern für die Internationalisierung der Hochschulen in Deutschland. Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vom 12.4.2013, Berlin 2013. 49 | HHL Handelshochschule Leipzig: Fundraising-Broschüre, Leipzig 2008. 50 | Technische Universität München: Diversity Code of Conduct München 2015 (URL: h t t p s://w w w.g s .t um.de/be t r euende/gu t e - be t r euung /di ver si t y- c ode - of- c onduc t / [20.2.2016]). 51 | Vgl. Peter, Tobias: Die Ordnung der Auswahl. Selektionsdiskurse im Erziehungssystem zwischen Exzellenz und Egalität, in: Helsper, Werner/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Auswahl der Bildungsklientel, Wiesbaden 2015, S. 108. 52 | Vgl. Fellmann, Gabriela: Schüleraustausch und interkulturelle Kompetenz. Modelle, Prinzipien und Aufgabenformate, Frankfurt a.M. u.a. 2015.

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zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit«53 verstanden, die der »curriculare, didaktische und methodische Anspruch interkulturellen Lernens«54 verbindet. Anders als im Bereich der universitären Bildung ist internationaler Austausch kein konstitutiver, sondern bestenfalls ergänzender Bestandteil schulischer Bildung. Bezeichnenderweise zielt das Gymnasium lange Zeit eher auf die Aneignung altsprachlicher Bildung zur Erschließung überlieferten humanistischen Wissens, denn auf den Erwerb moderner Verkehrssprachen. Im Zuge des Globalisierungsdiskurses wird die Semantik der Verständigung zunehmend von einer bildungspolitischen Rhetorik überformt, nach der es »bestmöglich qualifizierte Menschen« braucht, »um im globalen Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können.«55 Im Zuge dessen entstehen Strategien, die Internationalität von Bildungsinhalten und Lehrkräften als besonderes Merkmal im Wettbewerb um Schüler ausweisen. Dem Anspruch, ihre Schüler fit für die Globalisierung zu machen, wollen Gymnasien einerseits durch einen höheren Anteil sprachlicher Fächer gegenüber anderen Schularten gerecht werden.56 Zum anderen sind es internationale Kooperationen und Austauschprogramme wie der International Baccalaureate, mit dem das Versprechen einhergeht, durch eine internationale Orientierung sowohl Globalität als auch Exklusivität zu erwerben. Das Programm zielt auf »Weltklasse-Lehrer und -Schüler« ab: »The IB supports schools and teachers to provide a rigorous, high-quality education.«57 Internationalität erstreckt sich auf die pädagogische Qualität der Schule ebenso wie auf die persönliche Qualität der Bildungsklientel. In den Schulprogrammen der Internationalen Schulen setzt sich dieser Anspruch fort und nimmt dabei zentrale Narrative einer ökonomisch geprägten Globalisierung auf: »Als Schule haben wir die Bedürfnisse einer stark am Wettbewerb orientierten und sich globalisierenden Welt, der unsere Schüler in der Zukunft einmal angehören werden, erkannt. Wir möchten, dass sich alle Schüler bei uns wohl und gut aufgehoben fühlen, damit sie die notwendigen akademischen und sprachlichen Fähigkeiten entwickeln können, die sie später brauchen werden, um in dieser Welt erfolgreich zu bestehen.« 58

53 | UNESCO-Projektschulen: Selbstdarstellung, 2016 (URL: http://ups-schulen.de/wirueber-uns/[30.3.2016]) 54 | Bundesnetzwerk Europaschule: Potsdamer Erklärung, Potsdam 2008 (URL: www.bun​ desnetzwerk-europaschule.de/index.php/potsdam-33.html [10.6.2016]). 55 | CDU/GAL: Vertrag über die Zusammenarbeit in der 19. Wahlperiode der Hamburgischen Bürgerschaft zwischen der Christlich Demokratischen Union, Landesverband Hamburg und Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Hamburg, Hamburg 2008, S. 7. 56 | Helsper, Werner u.a.: International orientierte höhere Schulen in Deutschland – Zwei Varianten von Internationalität im Wechselspiel von Institution und Schülerbiografie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19, 2016, S. 705-725. 57 | International Baccalaureate Organisation: Homepage. World-class educators and students, 2017 (URL: www.ibo.org [20.2.2017]). 58 | Internationale Schule Berlin: Homepage. Willkommen in der ISB Oberschule (URL: www.internationale-schule-berlin.de/index.php/de/oberschule-ueber-uns-isb/ar ticles/ oberschule-isb.html [20.2.2017]).

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Globalisierung als Gegenwartsdiagnose wird hier nicht mit Verständigung konnotiert, sondern als anspruchsvolle Herausforderung formuliert. Das dementsprechende pädagogische Anforderungsprofil »ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, eine hohe Lernleistung zu erbringen.«59 Das Narrativ vom »Kampf um die besten Köpfe« schickt nicht nur Bildungseinrichtungen in den Wettbewerb, sondern adressiert zugleich das entsprechende Bildungsklientel. Schulen, die auf den Umgang mit Vielfalt ebenso setzen wie auf internationalen Austausch und eine Profilierung in den internationalen Verkehrssprachen, bereiten Elitebildung an den Hochschulen vor. Kosmopolitische Orientierung und interkulturelle Kompetenz werden dabei keineswegs als Selbstzweck im Sinne globalen Lernens verstanden. Internationalität fungiert hier als Merkmal der Distinktion, mit dem sich Schulen und Schüler von anderen abheben können.60 Obschon exklusive Schulen und Hochschulen unverändert in einem nationalstaatlichen Rahmen organisiert werden, orientieren sie auf die Heranbildung von Führungspersönlichkeiten für globale Karrieren. Gefragt ist nicht nur die »epistemologisch fundierte Kompetenz«, um mit unterschiedlichen Logiken der Teilsysteme umzugehen.61 Erwartet wird nun vor allem die Kompetenz, mit Differenz und Kontingenz umgehen zu können. Internationalität fungiert als distinkter Code, mit dem signalisiert wird, den Herausforderungen komplexer Führungsanforderungen gewachsen zu sein. Diversität und Interkulturalität werden deshalb als Ressourcen aufgefasst, die es früh zu entwickeln und stetig zu festigen gilt. Der affirmative Globalisierungsdiskurs übersieht gleichwohl den Zwangscharakter und die Effekte der Homogenisierung, die mit ihm einhergehen. Folgt man der These einer Globalisierung,62 nach der Homogenisierung eine zentrale Voraussetzung für globales Wachstum ist, dann werden Hochschulen und ihre Curricula weltweit immer ähnlicher und sinken die individuellen Handlungsspielräume von Schulen und Hochschulen, sich diesem Mainstream zu entziehen.

4. I nklusion Mit der Gegenwartsdiagnose einer vielfältigen und inklusiven Gesellschaft ist eine starke normative Anspruchshaltung verbunden, die sich insbesondere im Bildungsbereich, aber auch in sozialpolitischen, medialen und pädagogischen Diskursen niederschlägt. Während der Inklusionsgedanke vor allem mit Blick auf die schulische Erziehung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf disku-

59 | Swiss International School: Bildungskonzept. Wir leben auf zwei Kontinenten, in drei Ländern und an 16 Schulorten (URL: www.swissinternationalschool.de/Portrait/Bildungs​ konzept [20.2.2017]). 60 | Vgl. Keßler, Catharina u.a.: Envisioning world citizens? Self-presentations of an international school in Germany and related orientations of its pupils, in: Journal of Research in International Education 14, 2015, S. 114-126. 61 | Vgl. Nassehi, Armin: Eliten als Differenzierungsparasiten, in: Hitzler, Ronald/Hornbostel, Stefan/Mohr, Cornelia (Hg.): Elitenmacht, Wiesbaden 2004, S. 25-41. 62 | Ritzer, George: Die Globalisierung des Nichts, Konstanz 2005, S. 131ff.

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tiert wird,63 ist er auch in anderen Lebensbereichen, etwa im Sport oder Arbeitsleben, von Bedeutung. Über die Teilhabe von Menschen mit Behinderung hinaus kommen damit auch andere Bereiche wie Migration in den Blick. Auf internationaler Ebene als social inclusion verhandelt, steht die Debatte in engem konzeptionellem Zusammenhang mit Diversity-Ansätzen. Ihre gegenwartsdiagnostische Kraft beruht auf dem Befund einer prinzipiellen Heterogenität der Gesellschaftsmitglieder. Behinderung wird ebenso wie Geschlecht, Alter, Ethnie u.a. als eine horizontal angelegte Differenz aufgefasst.64 Soziologische Debatte und sozialpolitische Programmatik beziehen ihre Überzeugungskraft aus einem vertrauten Dualismus: Inklusion wird mit Gleichheit und Teilhabe assoziiert, Exklusion dagegen mit Ungleichheit und Exklusivität. ›Vollinklusion‹, also »full and effective participation and inclusion in society«,65 gilt als Gebot der Stunde. Inklusion ist demnach ein positiv besetzter, normativ hoch aufgeladener, Exklusion ein nicht minder aufgeladener, aber negativ konnotierter Begriff.66 Die Besonderheit dieser Gegenwartsdiagnose zeigt sich in ihrer expliziten Transformationslogik entlang der behaupteten Entwicklungslinie Exklusion – Segregation – Integration – Inklusion. Die gegenwartsdiagnostische Kraft des Begriffsduals Inklusion/Exklusion beruht auf der Pathologie von Desintegration, Anomie und multiplen Ausgrenzungslagen – gesellschaftliche Krisenphänomene, die seit den 1980er Jahren mit dem Exklusionsbegriff konnotiert werden. Ihre Wirkmächtigkeit kommt insbesondere in der sozialpolitischen Debatte zum Ausdruck. So setzt sich die EU-Kommission mit dem Politikfeld »Social Protection & Social Inclusion« als Bestandteil des aktuellen europäischen Wirtschaftsprogramms »Europe 2020 strategy for smart, sustainable and inclusive growth« zum Ziel, »to lift at least 20 million people out of poverty and social exclusion and to increase employment of the population aged 20-64 to 75 %«.67 Mit dem Begriff der Exklusion werden hier die wachsenden Ungleichheiten in Einkommen, Vermögen und Statusverteilung und die Tatsache pathologisiert, dass eine wachsende Gruppe von Prekären und Abgehängten von wichtigen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist. Ausgehend von den gesellschaftstheoretischen Annahmen der inklusiven Gesellschaft beschreibt das Gegenstück der Exklusion die pathologischen Problemlagen: multiple Ausgrenzungslagen entlang von Geschlecht, Behinderung, Alter 63 | Vgl. Werning, Rolf: Stichwort: Schulische Inklusion, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17, 2014, S. 601-623. 64 | Cramer, Colin/Harant, Martin: Inklusion. Interdisziplinäre Kritik und Perspektiven von Begriff und Gegenstand, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17, 2014, S. 639-659. 65 | UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Art. 3, c, Berlin 2014. 66 | Die Gegenwartsdiagnose der Inklusion kommt in soziologischen Theorien und in gesellschaftlichen Diskussionen zum Tragen, die zwar lose aufeinander verweisen, bisher jedoch kaum systematisch verbunden sind; vgl. Peter, Tobias/Waldschmidt, Anne: Inklusion. Genealogie und Dispositivanalyse eines Leitbegriffs der Gegenwart. In: Sport und Gesellschaft 14, 2017, S. 29-52. 67 | Europäische Kommission: Employment, Social Affairs & Inclusion. Social Protection & Social Inclusion, Brüssel 2016 (URL: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=750 [20.2.2017]).

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oder Herkunft, die sowohl auf strukturelle Barrieren als auch kulturelle Diskriminierungen zurückzuführen sind. Demnach bleibt nicht nur das Recht auf Teilhabe uneingelöst, sondern werden auch ökonomische Potentiale verschwendet. Die skizzierten Pathologien gehen mit einer umfassenden Kritik von Diskriminierung und Exklusion einher. Insbesondere beim Bildungssystem besteht kein Zweifel daran, dass der faktischen Diversität unterschiedliche Diskriminierungen gegenüberstehen und das Recht auf umfassende Teilhabe nur in Ansätzen verwirklicht ist. »Noch immer orientieren sich das Studienangebot und die Studienorganisation vieler Hochschulen in Deutschland an einem idealtypischen ›Normalstudenten‹ – einem Abiturienten deutscher Herkunft, der unmittelbar nach dem Schulabschluss ein Vollzeitstudium aufnimmt und dieses als seinen Lebensmittelpunkt betrachtet. Dabei sind Abweichungen von dieser ›Norm‹ immer weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel.« 68

Brisant wird der Befund einer Diskriminierung qua Normalisierung nicht nur an den Hochschulen, sondern vor allem im Schulsystem, wo die Exklusion von Behinderung strukturell verankert ist und weitere Ausgrenzungsphänomene entlang von Migration und sozialer Herkunft auf der Ebene kultureller und pädagogischer Praxen zu beobachten sind. »SchülerInnen stoßen auf Schwierigkeiten, wenn sie Hindernisse für Lernen und Teilhabe erfahren. Hindernisse und Schritte zu ihrer Überwindung können in allen Aspekten des Systems gefunden werden: in Schulen, Gemeinden, lokalen, länderspezifischen und landesweiten Strukturen.«69 Bezogen auf die Realität des deutschen Bildungssystems »muss man konstatieren, dass hier weitgehend und dominierend nach wie vor Segregation stattfindet und in einigen Bereichen (bundesländer- und schulstufenspezifisch) kleinere oder größere Praxisfelder von Integration und sehr wenige Inseln der Inklusion vorhanden sind.« 70 Problematisch ist demnach nicht nur die sonderpädagogische Praxis schulischer Separation, sondern auch eine Integrationspädagogik, die sonderpädagogische Klassifikationen, Normalisierungen und Abwertungen in der schulischen Praxis fortsetzt oder re-etabliert.71 Exklusion wird somit durch das real existierende Bildungssystem reproduziert.

68 | Stifterverband für die deutsche Wissenschaft: Diversity-Audit »Vielfalt gestalten«. Ausschreibung, Essen 2015 (URL: https://www.bwstiftung.de/fileadmin/Mediendatenbank_DE/BW_Stif tung/Programme_Dateien/Bildung/Hochschulen/Diversity_Audit/di​ versity_audit_ausschreibungsinfos.pdf [20.2.2017]). 69 | Hinz, Andreas/Boban, Ines: Index für Inklusion – Lernen und Teilhabe in Schulen der Vielfalt entwickeln, Halle 2003, S. 13. 70 | Hinz, Andreas: Segregation – Integration – Inklusion. Zur Entwicklung der Gemeinsamen Erziehung, in: Dübbers, Sabine (Hg.): Von der Integration zur Inklusion. Kinder und Jugendliche mit Behinderung gehören auch in der Schule dazu. Beiträge zur Tagung »Von der Integration zur Inklusion« am 12. November 2005 im Kleisthaus Berlin-Mitte, Berlin 2005, S. 6-19, hier S. 12. 71 | Vgl. Hinz, Andreas: Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion?!, in: Schnell, Irmtraud/Sander, Alfred (Hg.): Inklusive Pädagogik, Bad Heilbrunn 2004, S. 41-74.

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Das Postulat der Inklusion geht von einem umfassenden Formwandel des Gesellschaftlichen aus, in dem Differenz und Heterogenität unhintergehbare Tatsachen sind. Es wird wirkmächtig in einem gesellschaftlichen Kraftfeld, das Probleme und deren Lösungen plausibel und praktische Umsetzungen zwingend und dringlich erscheinen lässt. Seit Ende der 1990er Jahre ist die Orientierung auf Inklusion insbesondere durch bildungspolitische Beschlüsse wie die Salamanca-Erklärung 72 und in jüngster Zeit im Rahmen der Menschenrechtspolitik durch die UN-Behindertenrechtskonvention73 paradigmatisch geworden. Aus der Problematisierung von Inklusion als dringlicher Aufgabe werden Therapien abgeleitet, mit denen Abhilfe geschaffen werden soll. Die Apparatur gesellschaftlicher ›Problemlösung‹ zielt zunächst auf eine Abkehr von armuts- und fürsorgeorientierten Sozialpolitiken. Ziel inklusiver Politik ist es »to support living and inclusion in the community, and to prevent isolation or segregation from the community.« 74 Einerseits sollen rechtliche Ansprüche und strukturelle Barrieren beseitigt werden. Andererseits setzen Inklusions- und Diversity-Konzepte auf das Empowerment von Benachteiligten. Die in den Inklusionskonzepten mit den Begriffen von Differenz, Anderssein und Vielfalt positiv konnotierte Individualität wird als Recht und als Ressource formatiert. Das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler ungeachtet ihrer Voraussetzungen wird vor allem als Einlösung eines grundsätzlichen Rechts auf Bildung ohne weitere Voraussetzungen verstanden. »Schulen sollen ihre jeweiligen Praktiken so gestalten, dass sie die inklusiven Kulturen und Strukturen der Schule widerspiegeln. Sie stellt sicher, dass Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Klassenraumes die Partizipation aller Schüler/-innen anregen und ihre Stärken, ihre Talente, ihr Wissen und ihre außerschulischen Erfahrungen einbeziehen. Statt die meisten Schüler/-innen zu unterrichten und wenige individuell zu unterstützen, werden Lernprozesse so arrangiert, dass sie Lern- und Partizipationsbarrieren überwinden helfen und so für alle gemeinsames Lernen an gemeinsamen Lerngegenständen ermöglicht wird. Die Schulgemeinschaft mobilisiert Ressourcen innerhalb der Schule und in der örtlichen Gemeinde, um ein solches aktives Lernen für alle zu fördern.« 75

Ausgehend von einer prinzipiellen Heterogenität der Bildungsklientel setzen inklusive pädagogische Strategien auf individualisiertes Lernen. Inklusions- und diversitätsorientierte pädagogische Praxen sollen nicht nur gegenseitige Akzeptanz, sondern den produktiven Umgang mit Differenz einüben. Manuale wie der Index for Inclusion vereinen ein ganzes Bündel von Technologien in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und bieten Problemdiagnose und Lösungsstrategien 72 | UNESCO: Die Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse angenommen von der Weltkonferenz »Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität«, 7.-10. Juni 1994, Salamanca 1994. 73 | UN-Behindertenrechtskonvention. 74 | Ebd., Art. 19, b. 75 | Paula-Fürst-Schule Berlin: Die vier Säulen der Inklusion an der Paula-Fürst-Schule. Einzelförderung, (temporäre) Lerngruppen, Kooperation im Klassenraum, Beratung und Information, Berlin 2015 (URL: http://paula-fuerst-gemeinschaftsschule.de/cms/_data/1-S_ ulen_der_Sonderp_dagogik_an_der_Paula-F_rst-Schule_v1.4.pdf [20.2.2017]).

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gleichermaßen.76 Indem sie umfassende Teilhabe und Vielfalt als Recht und Ressource fassen, die jeweils nie vollständig einlösbar sind, stoßen sie Therapien der permanenten Individualisierung und Differenzierung an. In die Norm der Inklusion ist grundlegend eine Subjektvorstellung eingeschrieben, die »individuelle Autonomie und Selbstbestimmung« sowie die »Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen« voraussetzt.77 Das Individuum wird als Kompetenzbündel aktivierbarer individueller Fähigkeiten und Potentiale verstanden: »Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können. Niemand ist perfekt, das wissen wir. Aber in jedem Menschen stecken viele Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese Talente wollen wir entdecken, fördern und einfordern, denn unsere Gesellschaft will und braucht die Beiträge aller.« 78 Der unternehmerische Geist, der die Forderungen nach Inklusion durchzieht, setzt voraus, Kompetenzen ausbilden und selbstverantwortlich agieren zu können. Mit der zugeschriebenen Bildungs- und Arbeits- und Vertragsfähigkeit als Referenzpunkt für Inkludierbarkeit gehen zugleich Aktivierungs- und Mobilisierungseffekte einher, als deren Folge das Gelingen und Scheitern von Inklusion individualisiert wird. Exklusion dient als Drohkulisse für diejenigen, die potentiell ausgeschlossen werden können, und erhöht so den individuellen Anpassungsdruck. Zwar steigt mit der Inklusion die gesellschaftliche Akzeptanz von Abweichung und werden Normalitätsgeboten relativiert; jedoch lassen sich stigmatisierende Ausgrenzung und Ausschließung im Sinne »protonormalistischer« Grenzziehung 79 ebenfalls weiter beobachten.

5. D ie anderen G esellschaf ten Die skizzierten Gegenwartsdiagnosen des zeitgenössischen Bildungsdiskurses versuchen mit einer jeweils eigenen Perspektive als zeitgemäße Fortschrittserzählung zu überzeugen. Sie verdichten ausgewählte und thematisch abgegrenzte Problematisierungen zu spezifischen Pathologien der Gegenwartsgesellschaft und leiten daraus Therapien ab, beschneiden so Sagbarkeitsräume und schließen andere Gesellschaften der Gegenwart aus dem Diskurs aus. Dies gilt umso mehr, als dass die Gegenwartsdiagnosen von Wissensgesellschaft, Globalisierung und Inklusion sich nicht gegenseitig widersprechen, sondern systematische Bezugspunkte aufweisen.80 So knüpfen Hochschulen an das Narrativ der für eine globale Wissensgesellschaft notwendigen Spitzenkräfte an, wenn sie postulieren, »wissenschaftliche 76 | Booth, Tony/Ainscow, Mel: Index for Inclusion. Developing learning and participation in schools, Bristol 2011. 77 | UN-Behindertenrechtskonvention. 78 | Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Berlin 2011, S. 5. 79 | Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006. 80 | Vgl. Bittlingmeyer, Uwe H./Bauer, Ullrich: Strukturierende Vorüberlegungen zu einer Theorie der Wissensgesellschaft, in: Dies.: Wissensgesellschaft. Mythos, Ideologie oder Realität, Wiesbaden 2006, S. 11f.

Die Gesellschaf ten der Bildung

Erkenntnisse und exzellente Ausbildung für die besten Köpfe heute und in der Zukunft sind die Grundlage für Innovationen und sichern unsere globale Wettbewerbsfähigkeit.« 81 Der globale Austausch von Wissen referiert informationstechnologische Voraussetzungen, Diversität und Globalität basieren auf interkultureller Akzeptanz, Wissensproduktion und die Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven werden zusammengedacht. Dabei fällt auf, dass allen drei Gegenwartsdiagnosen eine ökonomische Grundierung gemeinsam ist. Ihre Wirksamkeit erzielen sie nicht zuletzt durch den Verweis auf wettbewerbliche Zwänge und ökonomische Ressourcenoptimierung. Akzeptanz und Wirksamkeit entfalten sie durch spezifische rhetorische Strategien, in denen sie auf je unterschiedliche Weise eine gesellschaftliche Pathologie der gesellschaftlichen Verkrustung und Lähmung beschreiben – eines Stillstands, der angesichts dynamischer gesellschaftlicher Entwicklungen zum Rückschritt zu werden droht. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Wettbewerbs diagnostizieren sie die Verschwendung individueller Potentiale durch mangelndes Wissen, unzureichende globale Attraktivität und mangelnde Inklusion. In unterschiedlicher Weise bedienen sich dabei die Therapien der Theorie des Humankapitals.82 Bildung gilt als Investition, die präventiv wirkt, um zukünftige Innovationen zu erzeugen, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten und mangelnde Teilhabe in Form von Kriminalität oder Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Nur wer sich den Herausforderungen anpasst, fällt nicht zurück. Weil die gesellschaftlichen Wirklichkeiten immer gegenüber den entworfenen Transformationsdynamiken zurückbleiben müssen, entfalten die Gegenwartsdiagnosen einen Sog permanenter Mobilisierung und Optimierung, die eng mit den zu Beginn beschriebenen verdichteten und verkürzten individuellen Gegenwarten der Bildung zusammenhängt.83 Die systemischen und individuellen Zwänge, die letztlich nichts anderes als eine Anpassung an Markt und Wettbewerb verlangen, zeigen, wie Diagnosen gesellschaftlicher Gegenwart nicht nur bei Bildungsprozessen in die individuellen und momenthaft erlebten Gegenwarten hineinragen. Die in Gegenwartsdiagnosen beschriebenen Gesellschaften der Bildung prägen, vermittelt über bildungspolitische Programmatiken und institutionelle Konzepte, die pädagogischen Praktiken und individuellen Bildungsorientierungen. Gesellschaftliche Pathologien ungenügenden Leistungsstrebens, mangelnder internationaler Kompetenzen und ausschließender Bildungsstrukturen verbleiben nicht im luftleeren Raum, sondern verunsichern Institutionen und Subjekte gleichermaßen. Sie beschreiben den normativen Horizont, vor dem wirkmächtige bildungspolitische Reformen, institutionelle Veränderungen und individuelle Anstrengungen dringlich erscheinen. Eben jene Verknüpfung zwischen gesellschaftlichem Gegenwartsdiskurs und individueller Praxis von Gegenwarten gilt es näher zu untersuchen. Eine praxisanalytische Perspektive kann dazu beitragen, die inhärente Ausweglosigkeit und 81 | ESCP Europe Business School: Herzlich willkommen zur ESCP Europe Wirtschaftshochschule – Grußwort, Berlin 2011. 82 | Vgl. Becker, Gary Stanley: Staat, Humankapital und Wirtschaftswachstum, in: Ders. (Hg.): Familie, Gesellschaft und Politik – die ökonomische Perspektive, Tübingen 1996, S. 217-226. 83 | Vgl. U. Bröckling/T. Peter: Mobilisieren und Optimieren.

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Hermetik gegenwartsdiagnostischer Diskurse aufzubrechen. Denn indem Systemzwang und individuelle Verantwortlichkeit zusammenfallen, tendiert die beschriebene Fügungs- und Anpassungsrhetorik dazu, mit der Aufwertung individueller Verantwortung zugleich kollektive politische Ermächtigung zu dementieren. Damit fügen sich diese Gegenwartsdiagnosen in einen postpolitischen Diskurs der Alternativlosigkeit und des Systemzwangs. Eine Kritik der Gesellschaft muss deshalb umso mehr die Brüche und Fissuren ihrer Diagnosen in den Blick nehmen. Im Aufspüren des Ausgeschlossenen und Unsagbaren werden so auch die anderen Gesellschaften der Gegenwart sichtbar.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm Nikolaus Buschmann

Der Begriff der Nachhaltigkeit ist aus der politisch-sozialen Sprache1 der Gegenwart nicht wegzudenken: Keine politische Partei verzichtet auf das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, Organisationen ab einer bestimmten Größenordnung haben einen Nachhaltigkeitsbericht vorzulegen, selbst Konsumartikel, die hinsichtlich ihrer ökologischen Bilanz fragwürdig erscheinen, wie Fastfood, Smartphones oder SUV, werden mit diesem Label beworben. Die Etablierung von Nachhaltigkeitssemantiken in nahezu allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern ist Teil einer kollektiven Blickwinkelverschiebung in Gestalt der »ökologischen Revolution« (Radkau), die in den 1970er Jahren die westlichen Industriegesellschaften erfasste; sie bildete gleichsam die Inkubationsphase des Nachhaltigkeitsdiskurses.2 Das Programm einer nachhaltigen Entwicklung, wie es die internationale Diplomatie in den 1980er Jahren erarbeitet hat, entwirft dabei eine Transformationsperspektive für die moderne Industriegesellschaft. Ihr Ausgangspunkt ist die Diagnose einer sozial-ökologischen Krise, die nicht nur die vielfältigen Umweltprobleme und die globale Ungleichheit in der Gegenwart in den Blick nimmt, sondern die auch die zukünftigen Konsequenzen gegenwärtiger Lebensformen und Produktionsweisen für die menschliche Zivilisation insgesamt problematisiert und Lösungen für die erkannten Probleme nahelegt. In der »Nachhaltigkeit« artikuliert sich ein Programm, das den Anspruch erhebt, alle wichtigen gesellschaftlichen Handlungsfelder strategisch miteinander zu verknüpfen sowie global und generationenübergreifend wirksam zu sein. Dem vielzitierten Bericht der Brundtland-Kommission von 1987 nach gilt eine gesellschaftliche Entwicklung dann als nachhaltig, wenn sie »den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen«; um 1 | Grundlegend zum Konzept einer historischen Semantik der politisch-sozialen Sprache vgl. Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 1, S. XIII-XXVII; Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989. Zur methodologischen Erweiterung begriffsgeschichtlicher Ansätze vgl. Müller, Ernst/Schmieder, Falko: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016. 2 | Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.

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dieses Ziel zu erreichen, müsse der gesellschaftliche Wandel »heute beginnen, und zwar gemeinsam beginnen, national und international.«3 Bei dem Entwurf einer nachhaltigen Entwicklung handelt es sich mit anderen Worten um ein Konzept, das zur Intervention in die Gegenwart auffordert, um eine zukünftige Fehlentwicklung zu vermeiden.4 Die Rede von der Nachhaltigkeit ist damit einerseits zu einer weithin akzeptierten Formel für den Umgang mit jenen (sozialen, ökonomischen, ökologischen) Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft geworden, die seit der ökologischen Wende in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit geraten sind. Andererseits zeigt sich, dass die semantischen Konturen des Begriffs in seinem Gebrauch immer wieder neu gezogen werden, sich die dabei markierten Bedeutungsfelder ständig verschieben und seine Auslegungen stark voneinander abweichen: Was unter Nachhaltigkeit jeweils verhandelt wird, kann – wie eingangs angedeutet – völlig Unterschiedliches betreffen und durchaus widersprüchlich ausfallen. Der Umstand, dass sich unter diesem Leitbild verschiedenartige Perspektiven auf die Gegenwartsgesellschaft und ihre Zukunft versammeln, weist den Nachhaltigkeitsdiskurs nicht nur als Effekt einer steigenden Sensibilisierung für Umweltfragen aus, sondern auch als eine Arena für das Ringen um die Deutungshoheit über und die Hervorbringung von »existenziellen Bezugsproblemen«5 als jenen Bestimmungen der Wirklichkeit, die eine umfassende Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen postulieren und legitimieren. Der Beitrag bringt das Konzept der Nachhaltigkeit als ein diagnostisches Programm in den Blick, welches – angelehnt an eine aus dem medizinischen Kontext stammende Heuristik – eine Pathologie der industriellen Moderne mitsamt einer Therapie entwirft. Es identifiziert die ökologisch-soziale Krise als das fundamentale Problem der Gegenwart und formuliert zugleich Vorschläge für dessen Lösung. Das Interesse des Beitrags gilt insbesondere der Frage, wie Nachhaltigkeit zu einem solchen diagnostischen Programm wurde, das zur Transformation der Gesellschaft auffordert und dabei tiefgreifende Interventionen in dieselbe nahelegt. Der erste Abschnitt nimmt den Formenwandel der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung im Zeichen des Ökologischen in den Blick und untersucht, wie der Zusammenhang aus Strukturwandel und Umweltveränderungen als ein gesellschaftliches Problem relevant (gemacht) wurde, das dringend einer Lösung bedürfe. Ausgehend von einer Standortbestimmung gegenwärtiger Umweltgeschichtsschreibung wird dabei zunächst die gesellschaftliche Wahrnehmungsverschiebung rekonstruiert, die dem Nachhaltigkeitsdiskurs vorauslief. Im Anschluss werden die Argumentationsstrukturen und das Zeitmodell in den Blick genommen, die sich in der öko3 | Hauff, Volker (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. 4. 4 | Hier werden die Konturen einer »Fernmoral« erkennbar, der zufolge die Interessen zukünftiger Generationen den normativen Maßstab gegenwärtigen Handelns bilden sollten; vgl. dazu Kuchenbuch, David: »Fernmoral«. Zur Genealogie des glokalen Gewissens, in: Merkur 70, 2016, H. 807, S. 40-51. 5 | Vgl. dazu Scheffer, Thomas: Zur Schöpfung kritischer Potentiale der Ethnomethodologie. Zugleich ein Beitrag zur Soziologie sozialer Probleme, Frankfurt a.M. 2018 (URL: https:// www.academia.edu/35585148/Kritische_Ethnomethodologie._Zugleich_ein_praxeologi​ scher_Beitrag_zur_Soziologie_sozialer_Probleme [20.12.2018]).

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

logischen Krisendiagnose artikulieren. Sie bilden die zentralen Bauelemente der prominent durch den Club of Rome popularisierten Denkfigur von den »Grenzen des Wachstums«, die, so lautet die These des Beitrags, das diagnostische Imaginäre des Nachhaltigkeitsdiskurses im Sinne eines Grundmotivs bildet, welches den damit verknüpften Vorstellungen eines notwendigen gesellschaftlichen Wandels ihre spezifische Gestalt verleiht. Der dritte Abschnitt arbeitet den bereichsübergreifenden und integrativen Charakter des Programms als sein Spezifikum heraus. Hier wird deutlich, dass sich die Rede von der Nachhaltigkeit nicht mehr nur auf ökologische Bezugsprobleme bezieht, sondern längst zur Chiffre für eine umfassende Transformation der modernen Industriegesellschaft geworden ist, die alle ihre Lebensbereiche und Handlungsfelder betrifft. Abschließend wird der kontroverse Charakter des Nachhaltigkeitsdiskurses herausgearbeitet, indem die – für die Durchsetzung des Nachhaltigkeitsdiskurses als hegemoniales Projekt6 konstitutive – Ausdifferenzierung des Programms beispielhaft anhand konträrer Szenarien einer nachhaltigen Gesellschaft dargelegt wird. Damit wird deutlich gemacht, dass die Selbstproblematisierung von Gesellschaften immer schon in soziale Kämpfe verstrickt ist. So zeigt der Beitrag die umfassende kulturelle Wirksamkeit des diagnostischen Programms einer nachhaltigen Gesellschaft.7

1. Z ur D iagnostifizierung der gesellschaf tlichen  N aturverhältnisse Die Umweltgeschichtsschreibung, zu der auch die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Nachhaltigkeit gehört, ist selbst eine Hervorbringung des ökologischen Zeitalters. Ihre Anliegen und Fragestellungen richteten sich deshalb von Beginn an auch an der Agenda und den normativen Prämissen umweltpolitischer Debatten aus.8 Unter diesem gleichsam diagnostisch voreingestellten Blickwinkel interessiert sich ein Teil der Forschung für die »unbeabsichtigten und langfristigen Folgewirkungen menschlichen Handelns für die Natur«.9 Dieses Erkenntnisinteresse folgt einer gesellschaftlichen Suchbewegung nach den historischen Ursachen gegenwärtiger Umweltprobleme und möchte durch die Bereitstellung »historischen Orientierungswissens« selbst einen Beitrag 6 | Dingler unterscheidet innerhalb dieses Diskurses hegemoniale und nicht-hegemoniale Ansätze nachhaltiger Entwicklung; vgl. Dingler, Johannes: Postmoderne und Nachhaltigkeit. Eine diskurstheoretische Analyse der sozialen Konstruktion von nachhaltiger Entwicklung, München 2003. 7 | Der Beitrag greift auf bereits publizierte Forschungsergebnisse zurück und stellt diese in einen erweiterten Interpretationsrahmen; vgl. Buschmann, Nikolaus: Zukunftsverantwortung. Zur Diagnostifizierung des Verhältnisses von Mensch und Natur nach 1945, in: Henkel, Anna u.a. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung, Bielefeld 2018, S. 211-231. Für die kritische Kommentierung dieses Textes danke ich meinen Oldenburger Kollegen Steffen Hamborg und Jędrzej Sulmowski. 8 | Uekötter, Frank: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 2. 9 | Siemann, Wolfram/Freytag, Niels: Umweltgeschichte – eine geschichtswissenschaftliche Grundkategorie, in: Siemann, Wolfram (Hg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003, S. 8.

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zur Lösung dieser Probleme leisten.10 Es ist damit von einer Problemdiagnose informiert, deren historisches Gewordensein in der eigenen Forschung allerdings eine untergeordnete Rolle spielt, so dass es auf eine spezifische Weise zur Institutionalisierung dieser Problemdiagnose beiträgt. Ein jüngerer Strang umweltgeschichtlicher Forschung richtet den Fokus dagegen zuvörderst auf die historischen Möglichkeitsbedingungen für die gesellschaftliche Artikulation dieser Diagnose. Ihm geht es um die Erhellung genau jener zeitgenössischen Wahrnehmungsprozesse, in denen Umweltveränderungen überhaupt erst als ein Umweltproblem erkannt und dadurch bearbeitbar gemacht wurden.11 Der in diesem Aufsatz gestellten Frage nach dem Formenwandel der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung in der »Ära der Ökologie«12 liegt die Einsicht zugrunde, dass die analytische Rekonstruktion des gesellschaftlichen Strukturwandels und daraus resultierender Umweltveränderungen keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Art und Weise ihrer Wahrnehmung zulässt. Entsprechend richtet sich das Erkenntnisinteresse im Folgenden darauf, wie der für die Moderne charakteristische Zusammenhang aus Strukturwandel und Umweltveränderungen als ein gesellschaftliches Bezugsproblem in den Blick kam, das dringend einer Lösung bedurfte. Um an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Die Diagnose einer tiefgreifenden ökologischen Krise der Gegenwartsgesellschaft soll damit keineswegs bestritten werden. Danach zu fragen, wie sie auf der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung als ein gesellschaftliches Problem in den Blick geriet, bedeutet nicht, sie als bloßes Diskursphänomen zu begreifen. Vielmehr sind die kulturellen Formen der Weltaneignung in eine konkrete, gegenständlich-symbolische Welt eingelassen, deren Deutungsspielräume sich nicht beliebig verschieben lassen: »Basisprozesse« wie ökonomisches Wachstum, demografischer Wandel und Konsumverhalten einerseits und deren »Wahrnehmung« als maßgebliche Faktoren einer gesellschaftlichen Problembestimmung andererseits, um auf eine Terminologie Christof Dippers zurückzugreifen, sind mit anderen Worten sowohl unhintergehbar aufeinander bezogene als auch immer schon kulturell vermittelte Dimensionen der jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Sinnordnung einer historischen Epoche.13 Die Ordnungsmuster, die der gesellschaftlichen Weltwahrnehmung zugrunde liegen, basieren ihrerseits auf einem historischen Fundus kulturell verfügbarer Motive, so dass in jeder Gegenwartsdeutung Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verschränkt sind.14 Verlieren bestimmte Ordnungsmuster ihre handlungsorientierende Erklärungskraft für und ihre Deutungshoheit über die Entwicklungstrends auf der Ebene der Basisprozesse, dann »steuern Ge-

10 | Pfister, Christian: Das »1950er Syndrom« – die umweltgeschichtliche Epochenschwelle zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft, in: Ders. (Hg.): Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 21996, S. 51-53. 11 | Vgl. Kupper, Patrick: Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43, 2003, S. 325-348. 12 | J. Radkau: Die Ära der Ökologie. 13 | Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37, 2012, S. 37-62. 14 | Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M. 2014, S. 33.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

sellschaften«, so Dipper, »auf eine Kulturschwelle zu, bei deren Überschreitung neue Ordnungsmuster Geltung erhalten«.15 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Konzept der Nachhaltigkeit als ein solches neues Ordnungsmuster begreifen, das aus einer Wahrnehmungsverschiebung hervorging, welche den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit in einem grundsätzlichen Sinne auf das Mensch-Natur-Verhältnis in der Moderne lenkte. Neu an dieser »1970er Diagnose«, wie Patrick Kupper diese Wahrnehmungsverschiebung treffend bezeichnet hat,16 war indes nicht die Einsicht, dass die Industrialisierung negative Auswirkungen auf die natürliche Umgebung oder die menschliche Gesundheit zeitige: Sachverhalte wie Luftverschmutzung, Wasserverunreinigung oder Bodenbelastung waren bereits im späten 19. Jahrhundert als gesellschaftliche Probleme erkannt worden und bildeten seitdem Gegenstände kontroverser Debatten.17 Neu war vielmehr, dass diese Themen in den übergreifenden Deutungszusammenhang eines »Umweltbewusstseins« rückten, das sich um 1970 in bestimmten Milieus der westlichen Industriegesellschaften auszubilden begann.18 Es ging nun nicht mehr um partikulare Umweltveränderungen, sondern um ein grundlegendes »Umweltproblem«, das dem wachstumsgetriebenen Modell der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft konstitutiv eingeschrieben zu sein schien. Betrachtet man die Ebene der gesellschaftlichen Basisprozesse, so erreichte dieses Modell in der Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tat ein neues Niveau: Die von Christian Pfister formulierte These einer umweltgeschichtlichen Epochenschwelle in den 1950er Jahren beruht auf dem Befund eines beschleunigten Wachstums von Wirtschaft und Wohlstand, das deutlich über dem Zuwachs der Bevölkerung gelegen habe. Als ökonometrische Indikatoren dienen Pfister das Bruttoinlandprodukt, der Bruttoenergieverbrauch, die Anzahl von Personenwagen und Kleinbussen sowie der Umfang von Siedlungsabfällen, deren Zunahme exponentiell verlaufen sei, während die Bevölkerung lediglich linear zugenommen habe. In den divergierenden Wachstumskurven bilde sich demnach der Übergang von der Industriegesellschaft zur Konsumgesellschaft ab.19 In Kombination mit den sinkenden Preisen für fossile Energieträger habe der durch einen neuen Produktions- und Konsumstil verursachte Energieverbrauch ein Ausmaß erreicht, welches schließlich, so Pfister, »zum bedrohlichen Krankheitsbild, zum Syndrom geworden« sei.20 Bei dieser Einschätzung handelt es sich allerdings um eine Diagnose, die in der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung der ersten beiden 15 | C. Dipper: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, S. 59. 16 | P. Kupper: Die »1970er Diagnose«. 17 | F. Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, S. 6-23. 18 | J. Radkau: Ära der Ökologie, S. 101. Das Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen von 1978 versteht darunter »Einsichten in die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch diesen selbst« sowie »Bereitschaft zur Abhilfe« (zit.n. de Haan, Gerhard/Kuckartz, Udo: Umweltbewusstsein. Denken und Handeln in Umweltkrisen, Opladen 1996, S. 36). 19 | C. Pfister: Das »1950er Syndrom«, S. 67. 20 | Ebd., S. 95. Für die von Pfister aufgestellte These eines »1950er Syndroms« spricht auch die Beobachtung, dass in dieser Zeit vormals unstrittige Sparsamkeitsmaximen an Geltung verloren hätten und eine Wegwerfmentalität entstanden sei; vgl. Andersen, Arne:

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Nachkriegsjahrzehnte noch keine nennenswerte Rolle spielte. Vielmehr artikuliert sich in ihr genau jenes Umweltbewusstsein, das aus der Wahrnehmungsverschiebung um 1970 allererst hervorging.21 Der aus dem angelsächsischen Sprachraum entlehnte Neologismus »Umweltbewusstsein« stand aus zeitgenössischer Sicht für einen »grundlegenden Wandel der Denkungsart, dass nämlich hemmungsloses industrielles Wachstum als Movens der Industriegesellschaft nicht länger vertretbar« sei, wie der Spiegel 1971 schrieb.22 Ein zentrales Charakteristikum dieser »Denkungsart« bildete die Wahrnehmung von Umweltveränderungen im Zeichen der »Ökologie«: Dieser »Komplex von Wissenschaft, Weltanschauung, politischer und kultureller Bewegung«23 stellte einen Deutungsrahmen bereit, innerhalb dessen zuvor separat behandelte und räumlich lokalisierbare Probleme als Teile eines Problemkreislaufs – der »ökologischen Krise« – gleichsam ganzheitlich erfasst werden konnten.24 Dabei wurden Teildebatten des von Experten aus Wissenschaft und Verwaltung betriebenen technischen »Umweltschutzes«25 wie Luftreinhaltung, Gewässerschutz und Lärmbekämpfung einerseits und des zwischen staatlicher Verwaltung, ehrenamtlichem Beauftragtenwesen und Verbänden angesiedelten Naturschutzes andererseits zusammengeführt.26 Zugleich bot die ökologische Betrachtung des Mensch-Natur-Verhältnisses ein Modell für die Lösung der von ihr selbst identifizierten Krise, indem sie die Vorstellung eines »konvivialen«27 Ganzen aus Natur und Kultur mit der Annahme einer technischen Beherrschung dieses Ganzen verband.28

Das 50er-Jahre-Syndrom. Umweltfragen in der Demokratisierung des Technikkonsums, in: Technikgeschichte 65, 1998, S. 329-344. 21 | P. Kupper: Die »1970er Diagnose«, S. 327. 22 | O.A.: Ende der Zukunft, in: Der Spiegel, 6.9.1971, S. 148. 23 | Trepl, Ludwig: Zur politischen Geschichte der Ökologie, in: Hassenpflug, Dieter (Hg.): Industrialismus und Ökoromantik. Geschichte und Perspektiven der Ökologisierung, Wiesbaden 1991, S. 193-210, hier S. 193. 24 | Engels, Jens Ivo: Umweltschutz in der Bundesrepublik – von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung, in: Reichardt, Sven/Siegfried, Detlef (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010, S. 405-422, hier S. 406. 25 | Wie »Umwelt«, »Umweltpolitik« und »Umweltbewusstsein« ist auch dieser Begriff seit der ökologischen Wende um 1970 in der heutigen Bedeutung geläufig; vgl. Hermanns, Fritz: Umwelt. Zur historischen Semantik eines deontischen Wortes, in: Busse, Dietrich (Hg.): Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels, Tübingen 1991, S. 235-248. 26 | Uekötter, Frank: Naturschutz im Aufbruch. Eine Geschichte des Naturschutzes in Nordrhein-Westfalen 1945-1980, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 11. 27 | Nach Ivan Illich bezeichnet der Begriff »das Gegenteil der industriellen Produktivität«. Er stehe »für den autonomen und schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu der konditionierten Reaktion von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt« (Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München 1988, S. 28). 28 | L. Trepl: Zur politischen Geschichte der Ökologie, S. 201-204.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

Im Fokus der Ökologie konnten Umweltprobleme verschiedenster Provenienz von nun an symptomatologisch als Zeichen eines tieferliegenden Problems gedeutet werden, nämlich einer gleichsam pathologischen Störung der Beziehung zwischen Mensch und Natur, die in eine Katastrophe planetarischen Ausmaßes, ja sogar in den »Selbstmord des Planeten«29 zu münden drohe. Um die materielle Veränderung der Umwelt durch den Menschen als ein solches Syndrom erkennen zu können, bedurfte es mit anderen Worten eines diagnostischen Blicks, der in der gegebenen Wirklichkeit die darunterliegende Struktur eines bis dahin verborgenen Realen sichtbar machte.30 Die ökologische Perspektive auf die Industrie- und Konsumgesellschaft leistete genau dies: Phänomene, die bis dahin als zwar ernstzunehmende, aber doch beherrschbare Begleiterscheinungen einer aus zeitgenössischer Sicht ansonsten aber begrüßenswerten gesellschaftlichen Entwicklung erschienen waren, wurden nun als Symptome einer Krankheit erkennbar, die in eben diesem Entwicklungsmodell angelegt war. Das pathogene Strukturmerkmal dieses Modells – die Fixierung auf Wachstum – markierte die neo-malthusianische Gedankenfigur von den »Grenzen des Wachstums«: Sie fungierte als diagnostisches Imaginäres der gesellschaftlichen Blickwinkelverschiebung um 1970 und prägte sich der Argumentations- und Zeitstruktur der damit verknüpften Katastrophenerzählungen ein, die im kommenden Abschnitt in den Blick genommen werden sollen.

2. D as diagnostische I maginäre des  N achhaltigkeitsdiskurses Indem die Lebensformen und Wirtschaftsweisen der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft als Ursachen einer grundlegenden zivilisatorischen Fehlentwicklung ausgemacht wurden, wurde zugleich das Verhältnis von Mensch und Natur als solches zu einem Gegenstand des Diagnostizierens: Mit dieser Diagnostifizierung der »gesellschaftlichen Naturverhältnisse«31 verloren vormals gültige Ordnungsmuster auf der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die sich in positiv konnotierten Narrativen der wirtschaftlichen Prosperität, des technischen Fortschritts und der wissenschaftlichen Welterschließung artikuliert hatten, ihre orientierende Funktion bezüglich der langfristigen Entwicklungstrends auf der Ebene der gesellschaftlichen Basisprozesse.32 Damit verknüpft war die Ausweitung des Diagnosespektrums auf das Nicht-Menschliche, insbesondere auf die konstitutive Bedeutung natürlicher Ressourcen für den Bestand der menschlichen Zivilisation. Zu einem maßgeblichen Grundmotiv des ökologischen Diskurses avancierte in diesem Zusammenhang die Gedankenfigur von den »Grenzen des Wachstums«, die mit dem Bericht des Club of Rome eine paradigmatische Artikulation erfuhr.33 29 | O.A.: Morgen kam gestern, in: Der Spiegel, 5.10.1970, S. 74-96, hier S. 75. 30 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 24. 31 | Becker, Egon/Jahn, Thomas (Hg.): Soziale Ökologie. Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen, Frankfurt a.M./New York 2006. 32 | Vgl. C. Dipper: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, S. 59. 33 | Meadows, Dennis u.a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972.

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Die Erkenntnis, dass »ein endlicher Erdball kein unendliches materielles Wachstum« zulasse, mochte aus der Sicht von politischen Experten wie Erhard Eppler zwar eine »Binsenweisheit« sein,34 gleichwohl verlor sie erst um 1970 ihren zuvor eher randständigen epistemischen Status. Als diagnostisches Imaginäres der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung im Zeichen der Ökologie durchsäumte sie den wachstumskritischen Entwurf einer Epoche »nach dem Boom«, in der das »Ordnungsmodell der industriellen Lebenswelt«35 auf den Prüfstand geriet. Zeigten die anthropogenen Veränderungen der Umwelt im Rahmen dieser Krisendiagnose die konstitutive Fehlentwicklung des westlichen Zivilisationsmodells an, so wurde das Wachstumsparadigma, das diesem Modell zugrunde lag, als strukturelle Ursache dieser Fehlentwicklung identifiziert. Nach den Berechnungen von Dennis Meadows und seinem Team vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) tendierte das »Systemverhalten« dieses Modells »eindeutig dazu, die Wachstumsgrenzen zu überschreiten und dann zusammenzubrechen. Der Zusammenbruch, sichtbar am steilen Abfall der Bevölkerungskurve nach ihrem Höchststand, erfolgt infolge Erschöpfung der Rohstoffvorräte.«36 Der 1972 publizierte Bericht des Club of Rome bildete den vorläufigen Höhepunkt einer Renaissance malthusianischer Denkfiguren in der öffentlichen Debatte über die Zukunftsfähigkeit der modernen Gesellschaft, deren Genealogie innerhalb des ökologischen Diskurses sich bis in die 1940er Jahre zurückverfolgen lässt.37 Auch die damit verknüpfte Kritik an der wachstumsbasierten Wirtschafts- und Lebensweise der westlichen Zivilisation war keineswegs neu,38 doch erst im Zusammenspiel mit den Szenarien der Überbevölkerung39 und der Ressourcenknappheit gewann das Mahnwort von den Grenzen des Wachstums seine gegenwartsdiagnostische Brisanz. Diese bestand darin, dass die Zukunft als eine »Katastrophe ohne Ereignis«40 imaginiert wurde, die der Gegenwart längst eingeschrieben war – und damit ein intervenierendes Handeln im Hier und Jetzt erforderte: »Wenn man sich entscheidet, nichts zu tun, entscheidet man sich in Wirklichkeit, die Gefahren des Zusammenbruchs zu vergrößern. Wir können nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie lange der Mensch die Kontrollmaßnahmen gegen das Wachstum noch hinausschieben kann, ehe er die Möglichkeit dazu verliert.« 41

34 | Eppler, Erhard: Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 4 1976, S. 9. 35 | Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3 2012, S. 33. 36 | D. Meadows u.a.: Die Grenzen des Wachstums, S. 111. 37 | Desrochers, Pierre/Hoffbauer, Christine: The Post War Intellectual Roots of the Population Bomb. Fairfield Osborn’s Our Plundered Planet and William Vogt’s Road to Survival in Retrospect, in: The Electronic Journal of Sustainable Development 1, 2009, S. 37-61. 38 | Kohr, Leopold: The Breakdown of Nations, London 1957; Galbraith, John Kenneth: The Affluent Society, Harmondsworth 1958. 39 | Ehrlich, Paul R.: The Population Bomb, New York 1968. 40 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 19. 41 | D. Meadows u.a.: Die Grenzen des Wachstums, S. 164.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

Der Eindruck des Ausgeliefertseins an die Gefahren des Zusammenbruchs wird hier nicht zuletzt dadurch vermittelt, dass Wachstum nicht als Produkt menschlichen Tuns, sondern als ein selbstläufiger, geradezu naturwüchsiger Prozess erscheint. Der Bericht des Club of Rome stellte den Zustand der Gegenwart als einen komplexen Zusammenhang miteinander verknüpfter Probleme des Bevölkerungswachstums, der Umweltverschmutzung, des Energieverbrauchs, der Nahrungsmittelversorgung und der Rohstofferschöpfung dar. Mithilfe von Computersimulationen, die es erlauben sollten, die systemischen Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren in den Blick zu nehmen, sei das Forscherteam rasch zu der Erkenntnis gelangt, dass »die kurzen Verdopplungszeiten im System der Menschheit uns erstaunlich rasch an die Grenzen des Wachstums heranführen werden.«42 Die kybernetische Modellierung gesellschaftlicher Basisprozesse und deren Extrapolation in die Zukunft ermöglichten es, die Pathogenese der menschlichen Zivilisation als eine sich unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung entziehende Struktur sichtbar zu machen.43 Auf dieser neuen, computergenerierten Wahrnehmungsebene entstand das abstrakte Bild einer Metakrise, das eine lange Liste von Problemfeldern umfasste, jedoch »keine klar benennbaren Akteure und Schuldigen, keinen präzisen Moment oder begrenzbaren Ort, kein einzelnes Szenario« kannte, sondern »viele Zeitpunkte, Lokalitäten und Verlaufsformen« aufwies.44 Dass Meadows und sein Team nach Auffassung von Kritikern die Werturteile, Prämissen und Hypothesen, die ihrer Modellbildung zugrunde lagen, nicht hinreichend reflektiert hatten, schmälerte die Überzeugungskraft des Berichts in der breiteren Öffentlichkeit kaum. Mochte die »Weltuntergangs-Vision aus dem Computer«45 auch auf gewichtige Einwände von Koryphäen wie den Nobelpreisträgern Simon S. Kuznets oder Gunnar Myrdal stoßen: Sie befeuerte eine Idee, »deren Zeit gekommen ist«, wie selbst der rechte Scharfmacher Herman Kahn einräumte, einer der heftigsten Kritiker der Studie.46 Urteile wie diese lassen sich dahingehend interpretieren, dass der Club of Rome mit seiner Diagnose ein weithin geteiltes Unbehagen an der Gegenwart artikulierte, das im dystopischen Resonanzraum der »ökologischen Krise« bereits angelegt war – und das kurz nach Erscheinen des Berichts durch Ereignisse wie die Verknappung des Ölangebots durch die OPEC, weltweite Missernten und die Hungerkrise in Afrika bestätigt zu werden schien.47 Die in dem Bericht vorgenommene Modellierung der gesellschaftlichen Entwicklung als eine Katastrophe, die nicht als ein (kontingentes) Ereignis in der Zukunft, sondern als ein in der Gegenwart bereits angelegter, berechenbarer Prozess imaginiert wurde, implizierte ein Zeitmodell, dessen Eigenart in der »extrapola-

42 | Ebd., S. 75. 43 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 24. 44 | Ebd., S. 20. 45 | O.A.: Weltuntergangs-Vision aus dem Computer, in: Der Spiegel, 15.5.1972, S. 126129, hier S. 126. 46 | Oltmans, Willem: Die Grenzen des Wachstums. Pro und contra. Interviews über die Zukunft, Reinbek b. Hamburg 1974, S. 51. 47 | Böschen, Stefan/Weis, Kurt: Die Gegenwart der Zukunft. Perspektiven zeitkritischer Wissenspolitik, Wiesbaden 2007, S. 155.

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tionistischen«48 Schließung der Zukunft bestand. Die Vorstellung einer Verfügbarkeit über geschichtliche Verläufe, wie sie noch mit dem Gestaltungsoptimismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte einhergegangen war, wurde dabei zutiefst in Frage gestellt. In dem Bild, das Meadows und sein Team vom Prozess der Zivilisation entwarfen, bildete die Selbstvernichtung der Menschheit den Fluchtpunkt einer als verlängerte Gegenwart gedachten und somit »defuturisierten«49 Zukunft, deren Eintreffen lediglich verhindert werden konnte. Dieser Zugang konzipierte die Zukunft nicht als einen offenen Gestaltungsraum, sondern forderte im Sinne einer »self-destroying prophecy«50 dazu auf, in die Vergangenheit der zukünftigen Gegenwart – die gegenwärtige Gegenwart – einzugreifen, um die prognostizierte Katastrophe abzuwenden. Hier wird einmal mehr deutlich, dass, wie Eva Horn dargelegt hat, Entwürfe einer Zukunft als Katastrophe nicht nur einen anderen epistemischen, sondern auch einen anderen politischen Status haben als etwa Utopien, Pläne, Versprechen oder Hoffnungen: Sie fordern zu Verhinderung und präventivem Einschreiten auf, reklamieren eine Dringlichkeit, die nicht einfach abgewartet werden könne, und zwingen dazu, sie entweder zu glauben oder anzuzweifeln. Die kommende Katastrophe erhebe »immer den Anspruch, etwas bereits in der Gegenwart Gegebenes zutage treten zu lassen,« und gebe dem, was zuvor in Hypothesen, Statistiken und Prognosen unscharfe Konturen hatte, eine greif bare Gestalt.51 Dieses Ineinandergreifen einer im Hier und Jetzt ansetzenden Präventionslogik und der Modellierung gesellschaftlicher Entwicklung als zukünftige Katastrophe bringt das Schlusskapitel des vom Club of Rome vorgelegten Berichts noch einmal eindringlich auf den Punkt: »Was noch fehlt, sind ein realistisches, auf längere Zeit berechnetes Ziel, das den Menschen in den Gleichgewichtszustand führen kann, und der menschliche Wille, dieses Ziel auch zu erreichen. Ohne dieses Ziel vor Augen, fördern die kurzfristigen Wünsche und Bestrebungen das exponentielle Wachstum und treiben es gegen die irdischen Grenzen und in den Zusammenbruch.« 52

Die Gedankenfigur von den »Grenzen des Wachstums« als diagnostisches Imaginäres der kollektiven Selbst- und Weltwahrnehmung im Zeichen der Ökologie bildete die epistemische Einsatzstelle des Nachhaltigkeitsdiskurses avant la lettre. Das gilt zunächst für dezidiert wachstumskritische Ansätze, deren programmatische Grundlagen im Laufe der 1970er Jahre von Autoren wie Herman Daly,53 Ivan

48 | Gould, Steven Jay: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt. Essays zur Naturgeschichte, Basel 1986, S. 11. 49 | Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 41999, S. 99. 50 | S. Böschen/K. Weis: Die Gegenwart der Zukunft, S. 151. 51 | E. Horn: Zukunft als Katastrophe, S. 25. 52 | D. Meadows u.a.: Die Grenzen des Wachstums, S. 164. 53 | Daly, Herman E.: Steady-State Economics, Washington 1977.

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Illich54 oder Ernst Friedrich Schumacher55 ausgearbeitet wurden: Sie entwarfen die Konturen einer Postwachstumsgesellschaft, die durch Maßnahmen wie Konsumverzicht, Umverteilung von Arbeit und den Rückbau industrieller Wertschöpfungsprozesse herbeigeführt werden sollte, um den vom Club of Rome prognostizierten Kollaps der menschlichen Zivilisation zu verhindern.56 Demgegenüber arbeiteten sich die etwas später formulierten Konzepte einer Ökologischen Modernisierung57 dialektisch an der These des Berichts ab: Mit ihrem Ansatz einer technologiegetriebenen Entkoppelung von ökonomischem Wachstum und Ressourcenverbrauch postulieren sie ein »Wachstum der Grenzen«, das neue Spielräume für künftiges Wirtschaftswachstum eröffnen soll.58 Die Nachhaltigkeitsdiskussion bleibt damit bis heute in schillernder Weise auf das Wachstumsparadigma bezogen: Wachstum erweist sich »einerseits zwar als Schimäre, andererseits aber auch als hochgradig flexibles Prinzip, das es sogar vermag, seinen politisch-ideologischen Gegenpol zu unterwandern.«59 Die Krisendiagnose eines wachstumsgetriebenen Kollapses der menschlichen Zivilisation bietet damit Ansatzpunkte für unterschiedliche, teilweise konträre Interventionsszenarien, die sich gleichwohl allesamt von der Einsicht leiten lassen, dass die Abwendung der zukünftigen Katastrophe ein umfassendes Eingreifen in gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart erfordere.

3. N achhaltigkeit als integr atives K onzep t Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, brachte die Diagnostifizierung der gesellschaftlichen Naturbeziehungen die Folgen der Industrie- und Konsumgesellschaft für die Umwelt als Syndrom einer zivilisatorischen Fehlentwicklung in den Blick. Damit verknüpft war die Vorstellung einer zukünftigen Katastrophe, in der das – als Idealzustand imaginierte – »ökologische Gleichgewicht«60 von Natur und Gesellschaft bereits gekippt war. Als diagnostisches Grundmotiv für den Entwurf einer nachhaltigen Gesellschaft, die sich wieder in dem verloren gegangenen Gleichgewicht befinden sollte, fungierte die Gedankenfigur von den »Grenzen des Wachstums«: Die ökologische Krisendiagnose identifizierte die 54 | I. Illich: Selbstbegrenzung. 55 | Schumacher, Ernst Friedrich: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, Reinbek b. Hamburg 1977. 56 | Vgl. Paech, Niko: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie, Marburg 2 2011. 57 | Bemmann, Martin/Metzger, Birgit/Detten, Roderich von (Hg.): Ökologische Modernisierung. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts in Umweltpolitik und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M./New York 2014. 58 | Fücks, Ralf: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, München 2015. In eine ähnliche Stoßrichtung zielt das Narrativ des »qualitativen Wachstums«; vgl. Müller, Carsten: Nachhaltige Ökonomie. Ziele, Herausforderungen und Lösungswege, Berlin/Boston 2015, S. 53f. 59 | Hoffmeister, Dieter/Wendt, Björn/Droste, Luigi: Nachhaltigkeit in Münster. Studierende und Normalbürger: Ressource für eine zukünftige Stadtentwicklung? Münster 2014, S. 38. 60 | Potthast, Thomas: Die wahre Natur ist Veränderung. Zur Ikonoklastik des ökologischen Gleichgewichts, in: Fischer, Ludwig (Hg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 193-221.

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Wachstumsdynamik der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft als den maßgeblichen Konstruktionsfehler des westlichen Zivilisationsmodells. Der Weg in eine nachhaltige Zukunft war im Licht dieser Krisendiagnose nicht mit Korrekturen an einzelnen Stellschrauben des gegenwärtigen Zivilisationsmodells zu erreichen, sondern erforderte Interventionen in das Gesamtgefüge der Gesellschaft. Dafür waren Maßnahmen nötig, die über bereichsspezifische – etwa umweltpolitische – Zugänge hinaus auf eine politikfeldübergreifende Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zielten: Es bedürfe einer Umstellung »in nahezu allen Sparten unserer Politik«, wie Erhard Eppler forderte.61 Die als »systemisches«62 Problem identifizierte Umweltkrise verlangte nach einer Therapie, die Interventionen in unterschiedlichen Politikbereichen und auf diversen institutionellen Ebenen zu einem umfassenden politischen Programm bündelte. Vormals voneinander isoliert geführte Debatten über Bevölkerungsentwicklung, ökonomisches Wachstum, soziale Gerechtigkeit, Naturschutz und Ressourcenverbrauch verbanden sich dabei zu einer inhaltlich äußerst vielschichtigen, von verschiedensten Interessen befeuerten Debatte, aus dem das Konzept einer nachhaltigkeitsorientierten Transformation63 in unterschiedlichen Spielarten hervorging. Der Nachhaltigkeitsdiskurs nahm mithin eine Vielzahl von gesellschaftlichen Schlüsselthemen auf und integrierte sie – mehr oder weniger zeitgleich mit dem Ende des »ideologischen Zeitalters«64 – in eine neue Großerzählung über die Zukunft der Gegenwartsgesellschaft in einer nunmehr »reflexiven« Moderne.65 Der integrative Charakter dieser Großerzählung lässt sich an der Entstehungsgeschichte des Konzepts einer »nachhaltigen Entwicklung« nachvollziehen, welches bis heute die wohl wichtigste Referenz des Nachhaltigkeitsdiskurses ist.66 Das Konzept war vor allem eine Schöpfung der internationalen Konferenzdiplomatie, 61 | E. Eppler: Ende oder Wende, S. 18. 62 | Vgl. Lipke, Jürgen: Globale Herrschaftsverhältnisse und Naturaneignung. Eine weltsystemische und sozial-ökologische Betrachtung der globalen Umweltkrise, in: Meyer, Tilman u.a. (Hg.): Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2011, S. 351-371. 63 | Vgl. dazu beispielsweise Schneidewind, Uwe: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2018. 64 | Vgl. Hansen, Jan: Ideologien, Ende der, in: Reichherzer, Frank/Droit, Emmanuel/Hansen, Jan (Hg.): Den Kalten Krieg vermessen: Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung, Berlin/Boston 2018, S. 165-181. 65 | J. Dingler: Postmoderne und Nachhaltigkeit, S. 196. Zum Konzept der »reflexiven Moderne« vgl. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996. 66 | Die folgenden Abschnitte zum integrativen Charakter des Nachhaltigkeitsdiskurses orientieren sich an den einschlägigen Studien von Basil Bornemann. Er beschreibt die Genese der Nachhaltigkeitsidee als einen Prozess der Diskursintegration, in dessen Verlauf sich ehemals separate Diskurse über »Umwelt« und »Entwicklung« miteinander verschränkten. Das eigentlich Neue dieser Idee besteht demnach nicht in den Teilideen, sondern vielmehr in der »Aufeinanderbezogenheit bis dahin isolierter positiver und normativer Symbolbestände unterschiedlicher ideengeschichtlicher Herkunft« (Bornemann, Basil: Policy-Integration und Nachhaltigkeit: Integrative Politik in der Nachhaltigkeitsstrategie der deutschen Bundesregierung, Wiesbaden 2 2014, S. 213).

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die – orientiert an den Prinzipien umweltpolitischer Planung67 – über mehrere Etappen hinweg Gestalt annahm. Eine erste Wegmarke bildete die UNO-Weltkonferenz über die menschliche Umwelt von 1972 in Stockholm. Sie machte die ökologische Frage als ein politisches Problem von globaler Tragweite bedeutsam, indem sie neben einem umfangreichen Katalog von Handlungsempfehlungen ein weltweites Erdbeobachtungssystem (Earthwatch) sowie ein internationales Umweltmanagement unter Leitung des im gleichen Jahr gegründeten UN-Umweltprogramms (UNEP) dauerhaft auf den Weg brachte. Darüber hinaus wurden in Stockholm nicht mehr nur die Umweltprobleme der Industriestaaten verhandelt: Mit »Umwelt und Entwicklung« und »menschlichen Ansiedlungen« gelangten Themen auf die Agenda, die nun auch die sozialen und ökonomischen Aspekte der Umweltproblematik aus der Perspektive sogenannter »Entwicklungsländer«68 in den Blick nahmen.69 Als ein auf das Ökosystem erweitertes Prinzip der Nutzung und des Managements natürlicher Ressourcen tauchte der Begriff »sustainability« erstmals prominent in einem von der IUCN, dem UNEP und dem WWF gemeinsam entwickelten Strategiepapier aus dem Jahr 1980 auf, der sogenannten »World Conservation Strategy«. Das Augenmerk lag dabei auf der Verbindung von Umwelt- und Entwicklungsfragen. »Sustainable development« war demnach eine Entwicklung, »die durch Schutz und Erhaltung der Natur dafür Sorge trägt, dass die natürlichen Ressourcen, und damit ihre materielle Basis, auf Dauer (für zukünftige Generationen) erhalten bleibt und so Entwicklung auch in der Zukunft sichert«.70 Die Brundtland-Kommission präsentierte im Jahr 1987 eine elaborierte Version dieses Ansatzes, die nun allerdings nicht mehr in erster Linie auf ökologische Fragen fokussiert war. Der Bericht entwarf vielmehr ein anthropozentrisches Entwicklungsprogramm, das – unter dem verantwortungsethischen Leitmotiv der intergenerationalen Gerechtigkeit – ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung gleichermaßen zu berücksichtigen beanspruchte.71 Die Konferenz der UNCED in Rio de Janeiro 1992 skizzierte mit der Agenda 21 schließlich die politischen Leitlinien für die globale Umsetzung des von der Brundtland-Kommission ausgearbeiteten Entwurfs auf lokaler Ebene.72 Das Programm einer nachhaltigen Entwicklung, so kann das bisher Gesagte zusammengefasst werden, erhebt das ökonomische Prinzip des Ressourcen-Managements zu einer moralischen Norm von globaler Tragweite und bezieht es auf ein breites Spektrum gesellschaftlicher Problembereiche – von Bildung, Wissen67 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 310. 68 | Zu den semantischen Implikationen dieser Bezeichnung vgl. Langhof, Antonia: Managementkonzepte in der humanitären Hilfe. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Semantik und Organisationsstruktur, Wiesbaden 2018, S. 109. 69 | Schulz-Walden, Thorsten: Anfänge globaler Umweltpolitik. Umweltsicherheit in der internationalen Politik (1969-1975), München 2013, S. 183. 70 | Di Giulio, Antonietta: Die Idee der Nachhaltigkeit im Verständnis der Vereinten Nationen. Anspruch, Bedeutung und Schwierigkeiten, Münster 2004, S. 31. 71 | Baumgärtner, Stefan u.a.: Öffentliche Nachhaltigkeitssteuerung, in: Heinrichs, Harald/ Michelsen, Gerd (Hg.): Nachhaltigkeitswissenschaften, Berlin/Heidelberg 2014, S. 261320, hier S. 292. 72 | Brunold, Andreas: Globales Lernen und Lokale Agenda 21. Aspekte kommunaler Bildungsprozesse in der »Einen Welt«, Wiesbaden 2004.

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schaft, Forschung und Technik über Mobilität, Konsum, Ernährung und Gesundheit bis hin zu Wirtschaft, Finanzen, Arbeit und Sozialem.73 Die Integration einer solchen Vielzahl von Themen in die Entwicklungsperspektive einer Transformation der modernen Industriegesellschaft 74 hat dazu geführt, dass sich Nachhaltigkeitssemantiken nicht nur in umweltpolitischen Zusammenhängen, sondern letztlich auf allen wichtigen Politikfeldern finden lassen.75 Integrativ wirkt der Nachhaltigkeitsdiskurs jedoch nicht nur in thematischer Hinsicht, sondern auch bezüglich der Verknappung von Thematisierungschancen innerhalb der politischen Kommunikation, wie Basil Bornemann herausgearbeitet hat.76 So stoßen bestimmte Argumente, Motive und Erzählungen beispielsweise einer »immerwährenden Prosperität« 77 auf Ablehnung und werden durch neue Argumente, Motive und Erzählungen etwa eines »guten Lebens« 78 jenseits des Wachstumsparadigmas abgelöst. Zur kommunikativen Integration kommt die soziale Integrationsfunktion im Sinne einer »Relationierung bisher separierter Akteure« sowie einer »Überwindung und Neurahmung etablierter Gegensätze und Konflikte zwischen Akteuren«:79 Nachhaltige Entwicklung wird dabei als ein Prozess der Koevolution gedacht, der die produktiven wie reproduktiven Potenziale von Individuen, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt aufrechterhalten soll.80 Das Moment der Integration unterschiedlicher Politikbereiche ist nicht nur ein Phänomen auf der Handlungsebene staatlicher Akteure. Es kann auch dahingehend interpretiert werden, dass sich die außerparlamentarische Linke in den 1970er Jahren neu zu formieren begann, indem sie ökologische Fragen als zusätzliches Feld der politischen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und dem ihn repräsentierenden Staat für sich entdeckte.81 73 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 203. 74 | Kopfmüller, Jürgen (Hg.): Ein Konzept auf dem Prüfstand. Das integrierte Nachhaltigkeitskonzept in der Forschungspraxis, Berlin 2006; Jörissen, Juliane/Kopfmüller, Jürgen/ Brandl, Volker: Ein integratives Konzept nachhaltiger Entwicklung, Karlsruhe 1999. 75 | Zur Verbreitung und Funktion von Nachhaltigkeitssemantiken vgl. Melde, Thomas: Nachhaltige Entwicklung durch Semantik, Governance und Management. Zur Selbstregulierung des Wirtschaftssystems zwischen Steuerungsillusionen und Moralzumutungen, Wiesbaden 2012, S. 83-134. 76 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 215; vgl. Ders.: Integrative Political Strategies – Conceptualizing and Analyzing a New Type of Policy Field, in: European Policy Analysis 2, 2016, S. 168-195. Bornemann rechnet das Konzept der nachhaltigen Entwicklung einem neuen, »reflexiven« Typus von Politikfeld zu, der sich aus Gegenbewegungen zu zwei dominanten Trends der Differenzierung von Politikfeldern einerseits und deren Institutionalisierung andererseits entwickelt habe. 77 | Lutz, Burkhart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./ New York 1984. 78 | A. Di Giulio: Die Idee der Nachhaltigkeit im Verständnis der Vereinten Nationen, S. 316f. 79 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 215. 80 | Spangenberg, Joachim H.: Nachhaltigkeit – Konzept, Grundlagen, Herausforderungen, Anwendungen, in: UTOPIE kreativ 174, 2005, S. 327-341. 81 | Pettenkofer, Andreas: Die Entstehung der grünen Politik. Kultursoziologie der westdeutschen Umweltbewegung, Frankfurt a.M. 2014.

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Integration ist schließlich auch ein Motiv, dass sich in der diagnostischen Struktur des Nachhaltigkeitskonzepts findet: Es beinhaltet Vorstellungen in Bezug auf einen bestimmten Soll-Zustand als Ausdruck eines Sets entsprechender Normen und Ziele, Annahmen über gesellschaftliche Ist-Zustände sowie Aussagen über mögliche Ansätze und Strategien des Wandels.82 Das Motiv der Integration scheint dabei in allen drei Dimensionen auf: in Form eines integrierten Normensystems, einer integrierten Analyse von Problemen und integrierten Strategien des Wandels. Das Konzept der Nachhaltigkeit steht mithin »für ein umfassendes diagnostisches und therapeutisches Programm, das eine spezifische Sichtweise sozial-ökologischer Problemlagen mit Orientierungen und Ansätzen der Problemlösung verbindet.« 83 Die heterogene Vielfalt von Themen und darin involvierter Interessen, die den Nachhaltigkeitsdiskurs ausmachen, ist jedoch auch der Grund dafür, dass dieser Diskurs von Beginn an ein Ort für gesellschaftspolitische Kontroversen war, wie abschließend dargelegt werden soll.84

4. N achhaltigkeit als kontroverses K onzep t Kaum ein anderer Begriff der politisch-sozialen Sprache, so wurde eingangs vermerkt, hat in jüngerer Vergangenheit eine so starke Deutungsmacht für die (diagnostische) Bestimmung der Gegenwartsgesellschaft erhalten wie der Nachhaltigkeitsbegriff. Wie schnell sich die Rede von der Nachhaltigkeit im politischen Diskurs etablierte, zeigt ein Blick in die Wahlprogramme politischer Parteien: War der Begriff in den 1980er Jahren nur einem kleinen Kreis von Experten geläufig, bildete er zur Bundestagswahl 1998 zunächst das Alleinstellungsmerkmal von Bündnis90/Die Grünen, um bereits vier Jahre später als »terminologisches Passepartout« in den Programmen aller im Bundestag vertretenen Parteien aufzutauchen.85 Die Rede von der Nachhaltigkeit, so könnte man sagen, hat sich dem öffentlichen Diskurs als eine kommunikative Norm eingeprägt und wirkt als solche auch längst in den lebensweltlichen Alltag hinein – als Ruf nach mehr individueller Verantwortungsübernahme86 für die Schaffung einer nachhaltigen Gesell82 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 216f.; vgl. als typisches Beispiel für die diagnostische Struktur von Nachhaltigkeitskonzepten Grunwald, Armin u.a. (Hg.): Forschungswerkstatt Nachhaltigkeit. Wege zur Diagnose und Therapie von Nachhaltigkeitsdefiziten, Berlin 2001. 83 | B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 217. 84 | Gottschlich, Daniela: Kommende Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive, Baden-Baden 2017, S. 73. 85 | Uekötter, Frank: Haus auf schwankendem Boden: Überlegungen zur Begriffsgeschichte der Nachhaltigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, 2014, H. 31/32, S. 9-15. 86 | Buschmann, Nikolaus/Sulmowski, Jędrzej: Von »Verantwortung« zu »doing Verantwortung«. Subjektivierungstheoretische Aspekte nachhaltigkeitsbezogener Responsibilisierung, in: A. Henkel u.a. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung, S. 281-295; vgl. auch die Fallstudie von Sulmowski, Jędrzej: Eigenverantwortung als neoliberale Regierungstechnologie und/oder emanzipatorische Selbst-Ermächtigung? Über die Vielfalt von Responsibilisierungsweisen in einem sozial-ökologischen Gemeinschaftsprojekt, in: A. Henkel u.a. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung, S. 331-349.

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schaft und einer genau darauf abzielenden Bildungsarbeit 87 sowie in Form diverser Spielarten »moralischen Konsums«88 bis hin zur Pflege eines lifestyle of health and sustainability.89 Die vielfältigen Auslegungen und Anwendungen, die mit dieser »semantischen Innovation«90 einhergehen, belegen eindrücklich, dass Nachhaltigkeit zu einer universellen Formel für die Suche nach Wegen aus der systemischen Krise geworden ist, die der industriellen Moderne im Zeitalter der Ökologie bescheinigt wird. Die widersprüchlichen Interessen, die bei dieser Suche aufeinandertreffen, sowie der Umstand, dass im Nachhaltigkeitsdiskurs heterogene gesellschaftliche Debatten zusammenlaufen, bedingen zugleich, dass sich die Bedeutungsbezüge des Begriffs in seinem Gebrauch ständig verschieben. Diese semantische Unschärfe hat dem Nachhaltigkeitsbegriff den Vorwurf eingetragen, im Verlauf seiner Verwendungsgeschichte zu einem »Plastikwort« (Uwe Pörksen) geworden zu sein, das »seine Orientierungskraft und folglich jegliches Problemlösungspotenzial«91 verloren habe. Indes ist das auf Problemlösung gerichtete Bemühen um begriffliche Trennschärfe und konzeptionelle Eindeutigkeit angesichts der Vielstimmigkeit des Nachhaltigkeitsdiskurses unweigerlich mit der Einnahme partikularer Positionen verbunden. Entsprechend ist in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe miteinander um öffentliche Aufmerksamkeit, wissenschaftliche Exzellenz und politischen Einfluss konkurrierender und sich dabei scharf voneinander abgrenzender Szenarien einer nachhaltigen Gesellschaft entstanden, in deren Vielgestalt sich die Pluralität diagnostischer Weltbezüge in der Gegenwartsgesellschaft zeigt. Die Uneindeutigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs einerseits und die Vielfalt miteinander konkurrierender Auslegungen andererseits bilden also zwei Seiten einer Medaille: Sie verweisen darauf, dass Nachhaltigkeit zu einer Chiffre für die risikobehaftete Zukünftigkeit der Gegenwartsgesellschaft geworden ist, an der sich zugleich das Ringen um die Deutungshoheit über die Beschaffenheit jener gesellschaftlichen Bezugsprobleme festmacht, welche die kollektive Aufmerksamkeit binden und entsprechende gesellschaftliche Problemlösungskapazitäten mobilisieren. Neben diesen an der Sache orientierten Verwendungszusammenhängen bleibt zudem auch gezieltes Greenwashing in der Logik des diagnostischen Programms, ganz abgesehen von einem dekontextualisierten Gebrauch des Nachhaltigkeitsbegriffs als Aufwertung für Anliegen unterschiedlichster Art. Damit teilt »Nachhaltigkeit« das Schicksal anderer Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache wie »Demokratie«, »Moderne« oder »Kapitalismus«: Sie 87 | Bormann, Inka/Hamborg, Steffen/Heinrich, Martin (Hg.): Governance-Regime des Transfers von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Qualitative Rekonstruktionen, Wiesbaden 2016. 88 | Priddat, Birger P.: Moralischer Konsum. 13 Lektionen über die Käuflichkeit, Stuttgart/ Leipzig 1998. 89 | Geden, Oliver: Strategischer Konsum statt nachhaltiger Politik? Ohnmacht und Selbstüberschätzung des »klimabewussten« Verbrauchers, in: Transit. Europäische Revue 36, 2008, S. 132-141. 90 | Pies, Ingo: Nachhaltigkeit. Eine semantische Innovation von welthistorischer Bedeutung, Halle 2006. 91 | N. Paech: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum, S. 39.

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sind gesellschaftlich stets umkämpft, und über ihren Inhalt besteht kein Konsens. Es kann also – in Anlehnung an eine Reflexion Wolfgang Knöbls zum Begriff der Moderne – nicht davon ausgegangen werden, dass der Streit um die Bedeutung des Nachhaltigkeitsbegriffs je zu einem Ende führen wird.92 Wie seine Präsenz in der politischen Debatte zeigt, scheint er jedoch trotz der häufig beklagten Unmöglichkeit, ihn letztgültig definieren zu können, keineswegs überflüssig geworden zu sein: Vielmehr bilden die verschiedenen Szenarien einer nachhaltigen Gesellschaft das Spektrum und damit die partikularen Positionen einer nahezu fünf Jahrzehnte andauernden Debatte ab, die seit der ökologischen Wende um 1970 diverse Akzentverschiebungen durchlaufen hat. Wie bereits dargelegt wurde, ist mit dem Konzept der Nachhaltigkeit in den 1980er Jahren ein Orientierungsrahmen entstanden, der die vielfältigen Krisen der gesellschaftlichen Naturbeziehungen als ein globales Ineinandergreifen von ökologischen, sozialen und ökonomischen Problemen interpretierbar machte, für deren Lösung sich je nach Problemfokus, Interessenlage und gesellschaftlicher Positionierung entsprechende gesellschaftliche Transformationsperspektiven herausgebildet haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausdifferenzierung des Nachhaltigkeitsdiskurses als eine von sozialen Kämpfen durchzogene diagnostische Suchbewegung der Gegenwartsgesellschaft beschreiben: In ihrem Verlauf entstanden konträre Aussagen darüber, wie Nachhaltigkeit als gesellschaftspolitisch relevantes Projekt konstituiert und bearbeitbar gemacht werden kann. Die verschiedenen Nachhaltigkeitsszenarien geraten so als partikulare Artikulationen »gegenwärtiger Zukunft«93 in den Blick. Gemeinsam ist den Nachhaltigkeitsszenarien, dass sie Interventionen in die Gegenwart auf der Folie einer »negativen Erwartungszukunft«94 postulieren. Es bedürfe »aktiver Gestaltung in Form von geeigneten Strategien und Maßnahmen, um auf eine nachhaltigere Entwicklung umzusteuern«, wie etwa Armin Grunwald betont, ein prominenter Fürsprecher des Transformationsszenarios einer ökologischen Modernisierung.95 Auf der Grundlage der allgemeinen Zielsetzung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Ressourcenverbrauch und Ressourcenregeneration entwerfen die Szenarien entlang der oben beschriebenen Argumentations- und Zeitstruktur des Nachhaltigkeitsparadigmas allerdings unterschiedliche Perspektiven einer wünschbaren Zukunft und damit verknüpfte Modelle einer nachhaltigen Transformation. In der Forschung finden sich diverse Vorschläge, die verschiedenen Entwürfe einer nachhaltigen Gesellschaft typologisch zu unterscheiden. Fokussiert man dabei auf die Antworten, die jeweils auf die Frage nach den »Grenzen des Wachstums« gegeben werden, stehen sich heute zwei Lager gegenüber: Am wachstums92 | Vgl. Knöbl, Wolfgang: Beobachtungen zum Begriff der Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37, 2012, S. 63-77; vgl. zu Nachhaltigkeit als »contested concept« B. Bornemann: Policy-Integration und Nachhaltigkeit, S. 210212. 93 | Graf, Rüdiger/Herzog, Benjamin: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, S. 497-515. 94 | Ebd., S. 512. 95 | Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit, Frankfurt a.M./New York 2 2012, S. 49.

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pessimistischen Pol der Debatte sind die verschiedenen Spielarten einer Postwachstumsökonomie96 sowie Entwürfe einer Postkollapsgesellschaft97 angesiedelt. Sie stimmen darin überein, dass sie das Ziel eines nachhaltigen Umgangs mit natürlichen Ressourcen für unvereinbar mit weiterem Wirtschaftswachstum halten. Demgegenüber streben wachstumsoptimistische Positionen wie etwa der Ansatz einer Ökologischen Modernisierung98 eine Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch an, oder sie gehen davon aus, dass sich die ökologischen Folgen wirtschaftlichen Wachstums technologisch beherrschen lassen, weshalb man diese Perspektive als ein »business as usual«99 bezeichnen kann.100 Die genannten Szenarien unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Zielbestimmungen und Maßnahmen der Intervention in die Gesellschaft, sondern auch im Blick auf die Art und Weise, wie diese Maßnahmen wirksam werden sollen, auf welchen Handlungsebenen sie angesiedelt und welche Instanzen für ihre Durchführung zuständig gemacht werden. Ob die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft als politischer Systemwechsel, als kultureller Wandel, als staatlich regulierter Prozess oder als eigendynamische Entwicklung konzipiert wird, hängt nicht zuletzt auch von den sozial- und gesellschaftstheoretischen Prämissen ab, die in die Nachhaltigkeitsszenarien eingelassen sind. Das lässt sich beispielsweise an der Auseinandersetzung über den Stellenwert von technischen und sozialen Innovationen zeigen: Geht die Effizienzstrategie, die auf eine technologische Optimierung der Rohstoffproduktivität setzt, mit einer Adressierung von Experten in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik einher, so fokussiert die Suffizienzstrategie in erster Linie auf die Lebensstile der Konsumenten und die sie ermöglichenden (politischen) Rahmenbedingungen. Entsprechend wird die Aufgabe für die Herbeiführung eines Wandels im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung unterschiedlichen Akteuren zugewiesen.101 Vor diesem Hintergrund entwickeln die verschiedenen Entwürfe einer Transformation der Gegenwartsgesellschaft in eine nachhaltige Zukunft ihr je spezifisches diagnostisches Programm im Hinblick – erstens – auf die Bestimmung der Gegenwart (»wie ist die Welt beschaffen«), zweitens auf die Prognose einer aus dieser Gegenwart abgeleiteten Zukunft (»wie wird die Welt beschaffen sein«), drittens auf die Utopie einer nachhaltigen Zukunft (»wie soll die Welt beschaffen sein«) sowie – viertens – auf die Interventionen, die von der nicht-nachhaltigen Gegenwart in eine nachhaltige Zukunft führen (»was muss getan werden, damit die Welt so beschaffen sein wird«). Für das Szenario der Postkollapsgesellschaft kann man die Verbindung dieser Momente wie folgt darstellen: Die Gegenwart 96 | N. Paech: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. 97 | Heimrath, Johannes: Die Post-Kollaps-Gesellschaft. Wie wir mit viel weniger viel besser leben werden – und wie wir uns heute schon darauf vorbereiten können, München 2012. 98 | Ein prominentes Beispiel ist Fücks, Ralf: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, München 2013. 99 | Vgl. für diese Position Lomborg, Bjørn: Cool it! Warum wir trotz Klimawandels einen kühlen Kopf bewahren sollten, München 2 2008. 100 | Henkel, Anna: Natur, Wandel, Wissen. Beiträge der Soziologie zur Debatte um nachhaltige Entwicklung, in: Soziologie und Nachhaltigkeit 2, 2016, S. 3-23. 101 | N. Buschmann/J. Sulmowski: Von »Verantwortung« zu »doing Verantwortung«, S. 283.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

ist gekennzeichnet durch ein Zivilisationsmodell, das – Diagnose – aufgrund der »Übernutzung der Ökosphäre« bei »gnadenloser Unterversorgung der halben Menschheit« – Prognose – einem systemischen Kollaps entgegenstrebt.102 Dieser Kollaps ist unvermeidbar und bildet in dieser Erzählung zugleich die Voraussetzung dafür, den Gegenentwurf zu diesem Modell zu verwirklichen, nämlich – Utopie – ein transhumanes Gemeinwesen von gemeinschaftsförmigen Nahbeziehungen im Einklang mit der »Erdenmutter«.103 Gegenwartsdiagnostisch unterscheidet sich das Szenario der Postkollapsgesellschaft nur graduell vom Szenario der Postwachstumsgesellschaft, und auch das Bild der Zukunft ist ähnlich düster. Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden Szenarien liegt in der Risikoeinschätzung, also in der Frage, für wie wahrscheinlich das Eintreten eines bestimmten Zustands gehalten wird. Während das Postkollapsszenario die Selbstvernichtung des neuzeitlichen Zivilisationsmodells als dessen unvermeidliches Telos begreift, geht das Postwachstumsszenario von einem durch den Menschen gestaltbaren Übergang aus, der auf die Transformation dieses Modells zielt, so dass ein neues Zivilisationsmodell entsteht, das auch Elemente des alten enthält. In dem einen Szenario liegt der Zeitpunkt eines möglichen präventiven Eingreifens bereits in der Vergangenheit, es ist also immer schon deutlich nach zwölf, während in dem anderen Modell der Zivilisationsbruch vermieden werden kann, nämlich in Form eines kulturellen Wandels, angestoßen durch ein in die breite Gesellschaft diffundierendes radikales Umdenken und Andersmachen seitens einer ökologischen Avantgarde von change agents. Die Vorstellung, dass eine gezielte Transformation der Gesellschaft in eine nachhaltige Zukunft prinzipiell möglich sei, teilen die ansonsten zutiefst kontroversen Szenarien der Postwachstumsökonomie und der Ökologischen Modernisierung: Sie leiten zu Maßnahmen an, die den prognostizierten Kollaps verhindern und eine Zukunft herbeiführen sollen, in der ein »ökologisches Gleichgewicht« hergestellt ist. Während das Szenario der Postkollapsgesellschaft von der dystopischen Erwartung eines unvermeidlichen ökologischen Zusammenbruchs ausgeht, entwerfen die Szenarien der Postwachstumsökonomie und der Ökologischen Modernisierung eine Risikozukunft, deren Eintreffen durch präventive Maßnahmen durchkreuzt werden soll. »Man tut etwas«, so Ulrich Bröckling, »bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.«104 Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Szenarien liegt also nicht im Moment der Prognose, sondern vielmehr in der Modalität der Interventionen und dem angestrebten Soll-Zustand, der die Interventionen informiert: Das Szenario der Ökologischen Modernisierung leitet zu einem Wandel innerhalb des gegenwärtigen Zivilisationsmodells an, das reformiert werden soll, ohne an seinen Grundfesten zu rütteln: Es setzt weiterhin auf Wachstum, das durch technische Innovation zu »grünem« Wachstum wird. Im Szenario der Postwachstumsgesellschaft hingegen ist das Zivilisationsmodell selbst Gegenstand des Wandels. Es richtet sich explizit gegen das ihm eingeschriebene Wachstums- und 102 | J. Heimrath: Die Post-Kollaps-Gesellschaft, S. 10-13. 103 | Ebd., S. 10. 104 | Bröckling, Ulrich: Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, 2008, S. 38-48, hier S. 38.

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Innovationsparadigma und spricht einem Rückbau der Industriegesellschaft das Wort. Im Szenario der Postkollapsgesellschaft ist der Zivilisationsbruch indes nicht nur potenziell angelegt. Vielmehr ist die gesellschaftliche Fehlentwicklung bereits so weit vorangeschritten, dass sie den Zusammenbruch gegenwärtiger Lebensformen und Wirtschaftsweisen zwingend hervortreibt. Mit anderen Worten: Der prognostizierte Kollaps entzieht sich gegenwärtiger Verfügbarkeit. Während die beiden anderen Szenarien entweder auf technischen oder auf kulturellen Wandel, auf Innovation oder Verzicht setzen, um einem möglichen Zivilisationsbruch vorzubeugen, sind diejenigen, die das Postkollapsszenario bevölkern, dazu aufgerufen, Lebensformen und Wirtschaftsweisen zu entwickeln, die sich unter den Bedingungen des Zivilisationsbruchs bewähren. Vorbeugung meint in diesem Fall also nicht Vermeidung, sondern Vorbereitung auf das Unvermeidbare im Modus der Immunisierung: Damit bisherige Selbstschutzmechanismen nicht mehr greifen, müssen neue Formen der aktiven Risikokontrolle etabliert werden, etwa im Sinne von Resilienz oder preparedness.105 Das Ziel lautet demnach, sich in der Katastrophe einzurichten, allerdings in einer Weise, die diese Katastrophe als Chance begreift. Denn »für die Post-Kollaps-Gesellschaft zu üben«,106 bedeute nicht, Mangelverwaltung unter Überlebenden zu betreiben, sondern in eine bessere Welt aufzubrechen, die in der untergegangenen nicht enthalten war.

5. F a zit Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Szenario der Postkollapsgesellschaft geht von einem in der Gegenwart angelegten, unvermeidbaren Zivilisationsbruch aus, der zugleich die Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Zivilisationsmodells darstellt, das auf den Trümmern der industriellen Moderne entsteht. Das Szenario der Postwachstumsökonomie zielt hingegen auf die Gestaltung eines Übergangs zwischen zwei Zivilisationsmodellen. Es geht nicht zwingend von einem zivilisatorischen Kollaps aus, sondern strebt vielmehr einen Paradigmenwechsel an, der in einer Kombination aus modernen und vormodernen Lebensformen und Wirtschaftsweisen zu einer nachhaltigen Gesellschaft führt, die ohne ökonomisches Wachstum auskommt. Das Szenario der Ökologischen Modernisierung wiederum will den Wandel innerhalb des bestehenden, also wachstumsgetriebenen Zivilisationsmodells so gestalten, dass Ökologie und Ökonomie miteinander »harmonieren«, was auch immer darunter verstanden wird. Es setzt dabei einerseits auf ein Wachstum der Grenzen und andererseits auf eine Entkoppelung von wirtschaftlichem Wachstum und dem Verbrauch natürlicher Ressourcen. Ausgehend vom diagnostischen Grundmotiv des Nachhaltigkeitsdiskurses, der neo-malthusianischen Denkfigur von den »Grenzen des Wachstums«, gelangen die genannten Szenarien zu unterschiedlichen Bestimmungen von Gegenwart und Zukunft sowie zu teilweise gegenläufigen Interventionsprogrammen und ent105 | Bröckling, Ulrich: Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, in: Daase, Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M. 2012, S. 94-108, hier S. 102. 106 | J. Heimrath: Die Post-Kollaps-Gesellschaft, S. 20.

Nachhaltigkeit als diagnostisches Programm

sprechenden gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen. Die Blickwinkelverschiebung der ökologischen Revolution um 1970 wird in der Gegenwartsgesellschaft also in einer vielfältigen, geradezu ambivalenten Weise kulturell wirksam. Dabei basieren die verschiedenartigen Auslegungen der Diagnose einer globalen ökologisch-sozialen Krise in den Szenarien einer nachhaltigen Gesellschaft auf einer gemeinsamen Grundargumentation und einem damit verknüpften Zeitmodell. Diese begründen das Postulat einer umfassenden Intervention in die Gesellschaft auf der Deutungsfolie einer in das Zivilisationsmodell der industriellen Moderne immer schon eingelassenen, nunmehr sichtbar gewordenen »Katastrophe ohne Ereignis«, um noch einmal auf die treffende Formulierung von Eva Horn zurückzugreifen. Der in diesem Beitrag rekonstruierte Formenwandel der kollektiven Wahrnehmung im Zeitalter der Ökologie rückt damit nicht nur ein historisch neuartiges existenzielles Bezugsproblem ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, sondern geht auch mit einem Formenwandel des Politischen einher. Dieser zeigt sich etwa in Planspielen einer ökologischen Bewirtschaftung der Zukunft, in einer auf wissenschaftliche Expertise setzenden Rhetorik des Sachzwangs oder auch in der Responsibilisierung verschiedenster individueller und kollektiver Akteure für das seit der Konferenz von Rio wiederholt ausgerufene Ziel einer nachhaltigen Transformation der Weltgesellschaft. Die Frage, ob dieser Formenwandel eher auf eine »Vergesellschaftung des Regierens« und infolgedessen auf eine »Enthierarchisierung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft« zuläuft,107 oder ob eine Priorisierung ökologischer Zielsetzungen nicht vielmehr unauflösbare politische Konflikte zwischen ideologisch verhärteten Positionen provozieren wird,108 lässt sich mit Bezug auf die Szenarien unterschiedlich beantworten. Eine – an anderer Stelle zu leistende – Genealogie nachhaltigkeitsorientierter Interventionsprogramme ließe die unhintergehbare Partikularität der in ihnen entworfenen Perspektiven auf die Wirklichkeit und damit deren Bindung an gesellschaftliche Interessenlagen in ihrem Gewordensein noch deutlicher zutage treten: Sie könnte zeigen, dass die miteinander konkurrierenden Diagnosen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse jeweils an bestimmte Praktiken und Orte der Zukunftserzeugung gebunden sind, aus denen unterschiedliche Spielarten einer die Gegenwart herausfordernden Zukunft hervorgehen.109 In der Vielgestalt der Szenarien einer nachhaltigen Gesellschaft bildet sich mit anderen Worten nicht zuletzt auch das gesellschaftliches Ringen um eine wünschbare Zukunft ab – und damit um die Geltung von und den legitimen Umgang mit den diese Zukunft orientierenden Bezugsproblemen, die aus genau diesem Grund nicht einfach »der Sache nach« gegeben sind, sondern die als solche in einer stets umkämpften Praxis immer wieder neu und anders hervorgebracht werden.

107 | Brozus, Lars/Take, Ingo/Wolf, Klaus Dieter: Vergesellschaftung des Regierens? Der Wandel nationaler und internationaler politischer Steuerung unter dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, Wiesbaden 2003, S. 218. 108 | Darauf verweist Horn, Eva: Jenseits der Kindeskinder. Nachhaltigkeit im Anthropozän, in: Merkur 71, 2017, H. 814, S. 5-17. 109 | R. Graf/B. Herzog: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen, S. 504-513.

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Migrationsgesellschaft als Arena gegenwartsdiagnostischer Praktiken Eine analytische Annäherung Paul Mecheril

1. E inleitung Wenn wir Migration zunächst als eine spezifische Form der körperlichen Grenzüberschreitung verstehen,1 dann hat es Bewegungen von Menschen über Grenzen mutmaßlich zu allen historischen Zeiten und fast überall gegeben. Die Konsequenzen grenzüberschreitender Bewegungen können hierbei als Phänomene untersucht und verstanden werden, in denen neues Wissen, Erfahrungen, Sprachen und Perspektiven in soziale Zusammenhänge eingebracht und diese entsprechend umgestaltet und verändert werden. Die Überschreitung von Grenzen, die grenzüberschreitenden Bewegungen von Menschen, ihrer Lebensweisen, Geschichten und Erinnerungen, fordert die Register der symbolischen, juristischen und moralischen Legitimierung von Grenzen heraus. Migration als Überschreitung von Grenzen geht aber zugleich auch mit der Bestätigung des Bestehenden einher. So werden beispielsweise nationalstaatliche Grenzen im Moment der Überschreitung in besonderer Weise sichtbar und in ihrer Geltungsmacht bekräftigt und sogar auch, wie etwa die Geschichte des Schengener Raums zeigt, wiedereingerichtet. Die Überschreitung von Grenzen, um es in knappster Form zu sagen, schwächt und stärkt ihre Gültigkeit. In diesem Sinne besteht das zentrale gesellschaftstheoretische Kennzeichen jener grenzüberschreitenden Mobilität, die als Migration bezeichnet wird, darin, dass sie mit der Beunruhigung sozialer Verhältnisse und Regelungen verbunden ist. Vielleicht ist es sogar sinnvoll davon auszugehen, dass erst das Phänomen der Beunruhigung Mobilität zu Migration macht. Damit wären drei analytische Elemente einer Definition von Migration gewonnen: Bewegungen von Menschen und Lebensweisen über signifikante Grenzen, in deren Folge natio-ethno-kulturell ko-

1 | »Migration means crossing the boundary of a political or administrative unit for a certain minimum period« (Castles, Stephen: International Migration at the Beginning of the Twenty-First Century: Global Trends and Issues, in: International Social Science Journal 52, 2000, S. 269-281).

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dierte Ordnungen, verstanden als Muster iterativer Grenzziehungspraktiken (s.u.), beunruhigt werden. Die bisherigen Anmerkungen stellen nun formal selbst keine Gegenwartsoder Zeitdiagnose dar und beanspruchen dies auch nicht. Die Diagnostizierung der Gegenwart als migrationsgesellschaftliche Gegenwart, die Wendung als Zeitdiagnose, käme formal erst dann ins Spiel, wenn behauptet würde, das bisher Skizzierte (Bewegung-Grenze-Unruhe) sei zentrales Kennzeichen der Gegenwart. Die Migrationsforschung bzw. die wissenschaftliche Thematisierung von Migration neigt durchaus zu dieser diagnostizierenden Geste: Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts beginnt für Stephen Castles und John Miller ein spezifisches Zeitalter, da Migration zu einem hervorstechenden Merkmal moderner Gesellschaften geworden sei.2 Aufgrund bestimmter Bedingungen,3 die spätestens mit dem Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt gelten, findet die Gegenwartsdiagnose von Castles und Miller4 breite Zustimmung. Ludger Pries5 beispielsweise führt in diesem Sinne aus, dass – weil Migration »als dauerhafter Zustand und damit als eine neue soziale Lebenswirklichkeit für eine wachsende Anzahl von Menschen«6 aufgefasst werden müsse – die Migrationsforschung »aus einer eher randständigen Position in das Zentrum soziologischer Gegenwartsdiagnose« 7 geraten könne. Auch für den politischen Raum gilt Migration als signifikantes Thema und Problem der Gegenwart: »Migration und Integration«, schreibt die ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit sowie Präsidentin des Bundestages a.D. Rita Süssmuth, »sind Themen von großer sozialer Sprengkraft. Sie sind Grundlage für heftigste Auseinandersetzungen […]. Das Themenfeld ist ins Zentrum der Aufmerksamkeit der internationalen Staatengemeinschaft gerückt. Es steht auch auf der politischen Agenda der Europäischen Union weit oben«. 8

Es spricht also eine Reihe von Befunden dafür, die sich im Ausdruck Migrationsgesellschaft9 auch artikulierende Kennzeichnung von Gegenwart als migrations2 | Castles, Stephen/Miller, Mark J.: Migration in the Asia-Pacific region, in: Migration Information Source 2009 (URL: https://www.migrationpolicy.org/article/migration-asia-pa​ cific-region [28.8.2018]). 3 | Als solche Bedingungen können unter anderem gelten: die Ausbreitung der programmatischen Idee, dass Menschen befugt und in der Lage sind, Einfluss auf ihr eigenes, nicht zuletzt auch mit dem jeweiligen geographischen, ökologischen, politischen und kulturellen Ort verbundenes Schicksal zu nehmen; die Zunahme der Intensität globaler Ungleichheit sowie der Umstand, dass diese als Ungerechtigkeit kommuniziert wird; die zunehmende ›Schrumpfung‹ der Welt aufgrund nicht zuletzt transport- und kommunikationstechnischer Entwicklungen (Mecheril, Paul: Migrationspädagogik – ein Projekt, in: Ders. (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik, Weinheim 2016, S. 8-31). 4 | S. Castles/M. J. Miller: Migration in the Asia-Pacific region. 5 | Pries, Ludger: Internationale Migration, Bielefeld 2015. 6 | Ebd., S. 32. 7 | Ebd., S. 60. 8 | Süssmuth, Rita: Migration und Integration: Testfall für unsere Gesellschaft, München 2006, S. 7. 9 | Erstmals Mecheril, Paul: Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim 2004.

Migrationsgesellschaf t als Arena gegenwar tsdiagnostischer Praktiken

gesellschaftliche Gegenwart10 ernst zu nehmen. Gleichwohl soll die Frage nach dem empirischen Sinn, nach den wissenspolitischen Vorteilen oder nach dem gesellschaftsanalytischen Gewinn der Gegenwartsdiagnose Migrationsgesellschaft nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Vielmehr interessiere ich mich in diesem Beitrag erstens für die gesellschaftliche Verhandlung von Migration als Arena der Produktion spezifischer Gegenwartsdiagnosen und dabei zweitens vorrangig auch nicht für empirisch unterscheidbare migrationsgesellschaftliche Gegenwartsdiagnosen, sondern für die Frage, mit Hilfe welchen analytischen Instrumentariums migrationsgesellschaftliche Gegenwartsdiagnosen beschrieben, unterscheiden und untersucht werden können. Das Anliegen dieses Beitrags ist also mehrfach bescheiden und eingeschränkt: Letztlich geht es lediglich darum, ein Analysewerkzeug der Untersuchung migrationsgesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen zu entwickeln und zu plausibilisieren. Dies erfolgt in zwei größeren Schritten. Zunächst widme ich mich im nachfolgenden, zweiten Abschnitt des vorliegenden Textes in einer explikativen Skizze der allgemeinen Strukturlogik des Diagnostizierens. Migration beunruhigt Ordnungen sozialer Zusammenhänge in praktisch-technischer wie normativer Hinsicht – dieser Zusammenhang wird im dritten Abschnitt dieses Textes terminologisch mit Hilfe der Ausdrücke natio-ethno-kulturell kodierte Ordnung, Krise und hegemoniale Schließung genauer ausgeführt. Am kurzen Ende des Beitrags werden die in den vorherigen Ausführungen und Überlegungen aufgefundenen analytischen Elemente zu einem Instrument der Analyse migrationsgesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen verdichtet. Seine Anwendung bleibt nachfolgenden Studien vorbehalten.

2. D ie G egenwart gesellschaf tlicher G egenwartsdiagnosen Nicht jede Aussage über die Eigenschaften von X wird zu einer Diagnose über X, und auch nicht jede Aussage über den zukünftigen Zustand von X stellt eine Diagnose über X dar. In Abgrenzung von anderen Aussage- und Praxistypen des Zugriffs auf Zukunft, etwa dem Orakel (das über die Befragung einer höheren In10 | »Konsequenzen der Zuwanderung und Emigration, der Pendelmigration und Einwanderung sind«, heißt es in dem 2004 erschienenen Buch »Einführung in die Migrationspädagogik« (P. Mecheril: Einführung in die Migrationspädagogik, S. 8) in durchaus diagnostizierender Manier, »konstitutiv für die hiesige gesellschaftliche Realität: Deutschland ist ein Migrationsland. In Frankfurt beispielsweise, dem Zentrum des Rhein-Main-Gebietes, das eines der größten Migrationsräume in Europa ist, gelten nahezu 40 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen als Migranten. Jeder dritte junge Mensch in der EU weist einen Migrationshintergrund auf. Ende 2000 lebten ca. 7,3 Millionen Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland. Dies entspricht einem Anteil von knapp neun Prozent an der Gesamtbevölkerung. Mehr als die Hälfte dieser Gruppe lebte 2001 länger als zehn Jahre in Deutschland, ein Drittel länger als 20 Jahre. Die Zahl der Einbürgerungen betrug im Jahr 2000 etwa 187.000 und ein Jahr später rund 178.000. Die mit Migration einhergehenden Wandlungsprozesse berühren hierbei nicht allein spezifische gesellschaftliche Bereiche, sondern vielmehr Strukturen und Prozesse der Gesellschaft im Ganzen. Migration betrifft in einem so entscheidenden Maße gesellschaftliche Wirklichkeit, dass der Ausdruck Migrationsgesellschaft angemessen ist«.

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stanz Zukunft gewinnt), dem Hellsehen oder der Prophetie (eine Zukunftsschau, die von besonderen und letztlich nicht erlernbaren Anlagen des prophetischen oder hellsehenden Subjektes abhängt), ist das Diagnostizieren eine Praxis, die Aussagen über X formuliert, indem sie sich X zuwendet und an X Erkenntnisse über die Gegenwart und Zukunft von X gewinnt. Diagnose verstehe ich formal als eine profane, da erlernbare Praxis der Deutung über den als (potenziell) defizitär verstandenen Zustand von einem X und zwar an diesem X. Im Diagnostizieren werden Aussagen über einen Gegenstand oder Sachverhalt an der Analyse des Gegenstandes und nicht etwa über das Werfen von Steinen oder Holzstückchen oder das Lesen der Eingeweide eines eigens zur Gewinnung von Gewissheit über die Zukunft geschlachteten Tieres gewonnen. Für das Diagnostizieren ist damit der Aussagetyp Wahrscheinlichkeitsaussage über die Gegenwart und Zukunft von X an X konstitutiv. Er wird mit dem Ansinnen und dem Anspruch verfolgt, Perspektiven zur Behebung, mindestens der qualitativen Modifikation oder quantitativen Minderung des Zustandes von X anzugeben. Gegenwartsdiagnosen versehen hierbei gesellschaftliche Verhältnisse »gleichsam mit einem Etikett«11 und bezeichnen sie beispielsweise als Risikogesellschaft, Konfliktgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft oder Verantwortungsgesellschaft.12 Was aber ist Gegenwart? Zunächst fällt auf, dass die Gegenwart der Gegenwartsdiagnose deshalb auf ein Paradox verweist, da sich nahezu alles diagnostizieren lässt, nur die Gegenwart nicht. Denn Gegenwart ist das, was sich beständig und konstitutiv entzieht, sie ist, wie Demirovic mit Bezug auf Hegel schreibt, »ständiges Verschwinden des Jetzt ins Nichts und des Nichts ins Sein«.13 Die Diagnostikerin jedoch bedarf der Positivität des X. Über das Abwesende lässt zwar zuweilen sogar vortrefflich sprechen, es lässt sich aber nicht diagnostizieren, es sei denn, man zöge es in den Bereich des tatsächlich Anwesenden und positivierte es sozusagen. Doch Gegenwart als beständig im Kommen und Gehen befindliche Zeiterfahrung, als unerreichbares, mithin abwesendes Phänomen lässt sich nicht positivieren. Insofern ist die Vermutung nicht ganz abwegig, dass die Konjunktur von Gegenwartsdiagnosen Ausdruck eines vermehrten, zugleich verzagten wie anmaßenden Bedürfnisses nach der Fixierung dessen ist, was nicht fixierbar ist, der Schnappschuss des Spiegelbilds eines Vampirs sozusagen.14 Doch

11 | Volkmann, Ute: Gegenwartsdiagnosen und soziale Ungleichheit – eine Einführung, in: Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.): Gegenwartsdiagnosen und soziale Ungleichheit, Fernuniversität Hagen 2000, S. 3-7 (URL: https://vu.fernunihagen.de/lvuweb/lvu/file/FeU/ KSW/2017 WS/03741/oeffentlich/03741-4-01-S1-NE+Vorschau.pdf [27.8.2018]). 12 | Ebd. 13 | Demirovic, Alex: Der Tigersprung. Überlegungen zur Verteidigung der »Gegenwart«, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 46, 2016, H. 183, S. 307-316. 14 | Im Übrigen »handelt es sich bei der Spiegelbildlosigkeit (des Vampirs) um einen genetischen Defekt. Dieser bewirkt eine lichtmagnetische Aura, welche die Lichtstrahlen um den Vampir herum fließen lassen, so dass auf die Spiegelfläche nur die Lichtinformationen treffen von den Gegenständen, welche sich hinter dem Vampir befinden. Strenggenommen hat der Vampir also ein Spiegelbild. Dieses ist jedoch nicht sichtbar, da es von der Abbildung der Gegenstände, welche sich hinter ihm befinden verdeckt wird«: Warum haben Vampire kein Spiegelbild? Fragen Sie Dr. Kürbis, 2015 (URL: www.halloween.de/neuigkeiten/

Migrationsgesellschaf t als Arena gegenwar tsdiagnostischer Praktiken

um Gegenwart im Sinne von Präsenz geht es vielleicht auch nicht so sehr in Gegenwartsdiagnosen. Worum dann? Ute Volkmann15 weist in einem Beitrag zu Gegenwartsdiagnosen und sozialer Ungleichheit darauf hin, dass die Soziologie sich immer auch mit der Frage nach »den spezifischen Merkmalen des gesellschaftlichen Hier und Heute [beschäftigt]. Gegenwartsdiagnosen sind das Genre in der soziologischen Literatur, das darauf eine Antwort zu geben versucht«. Gegenwartsdiagnosen beziehen sich somit nicht allein auf eine Zeit (»heute«), sondern operieren auch mit Raumkonzepten (»hier«), wobei es sich sowohl bei der Zeit als auch beim Raum, auf die Gegenwartsdiagnosen bezogen sind, um Phänomene handelt, die von Gegenwartsdiagosen nicht nur etikettiert, sondern zugleich auch hergestellt und hervorgebracht werden. Diagnostiziert wird sozusagen der Zustand des Sozialen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes. Soziologische Gegenwartsdiagnosen   können – auch wenn sie abstrakter angelegt sind als Analysen einzelner Nationalstaaten16 – ihrer formalen Strukturlogik nach keinen totalen Geltungsanspruch erheben. Sie sind nicht nur temporal relativ, sondern heben zumeist auch nur ein einzelnes Prinzip gesellschaftlicher Ordnung und ihres Wandels hervor17 und plausibilisieren dieses Prinzip vor einem spezifischen Erfahrungshorizont. Außerhalb des kulturellen Referenz- und Erfahrungsbereichs der Wissensgesellschaft ist beispielsweise die Gegenwartsdiagnose »Wissensgesellschaft« wenig sinnvoll. Denn dort gilt eine andere Gegenwart. Die – beispielsweise – nicht unmaßgeblich von Becks Risikogesellschaft18 zu einer Gegenwartsdiagnose avancierte Feststellung, dass wir in der Ambivalenz der individualisierenden Freisetzung aus traditionalen Bindungen zu bestehen haben, gewinnt dann Plausibilität, wenn je ich mich diesem »Wir« zurechnen bzw. meine Erfahrungen und mein Selbstverständnis sinnvoll an das gegenwartsdiagnostische Deutungsmuster anschließen kann. Die Gegenwart der Gegenwartsdiagnose bezieht sich auf eine Jetztzeit und einen Hierraum, einen Zeitraum und eine Raumzeit. Raum und Zeit der Gegenwartsdiagnose sind hierbei Raum und Zeit eines gesellschaftlich spezifischen bzw. als spezifisch imaginierten Erfahrungs- und Handlungszusammenhangs. Zwar kann dieser Zusammenhang potenziell in einer Gegenwartsdiagnose als Zusammenhang behauptet werden, der alle Menschen der Jetztzeit betrifft, der Hierraum wäre damit der Globus. Doch durchaus geläufiger als dieser diagnostische Grenzfall sind Gegenwartsdiagnosen, die auf die Gegenwart eines gegenüber der Weltgesellschaft eingeschränkteren, partikularen gesellschaftlichen Zusammenhangs bezogen sind und diesen Zusammenhang konstituieren. Nicht also nur Raum und

fragen-dr-kuerbis-warum-koennen-vampire-ihr-eigenen-spiegelbild-nicht-sehen--76485 [1.9.2018]). 15 | U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Gegenwartsdiagnosen und soziale Ungleichheit, S. 3. 16 | Schimank, Uwe: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung, in: Ders./Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I: Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2000, S. 9-22, hier S. 15. 17 | Schimank, Uwe: Art. »Zeitdiagnose, soziologische«, in: Fuchs-Heinritz, Werner/Lautmann, Rüdiger/Rammstedt, Otthein (Hg.): Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 5 2013, S. 765. 18 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986.

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Zeit, sondern auch ein spezifischer, abgrenzbarer gesellschaftlicher Zusammenhang wird im Rahmen von Gegenwartsdiagnosen adressiert und damit hergestellt. Zwar können individuelle Formen des Handelns und Erlebens, die in einem sozialen Raum entstehen und anzutreffen sind, durch die Vergleichbarkeit ihrer materiell-symbolischen Existenzbedingungen gewissermaßen familienähnlich sein;19 in ähnlichen materiellen und sozialen Anforderungsmilieus entstehen aufgrund von Verinnerlichungs-, Verkörperlichungs- und Aneignungsprozessen ähnliche Weisen des In-der-Welt-Seins (In-dieser-Welt-Seins). Doch läge ein materialistischer oder auch naturalistischer Fehlschluss vor, würden das Entstehen und der Bestand spezifischer, abgegrenzter gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht auch mit Blick auf die kollektive und kollektivierende Phantasie betrachtet, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang als Einheit hervorbringt. Gegenwartsdiagnosen verstehe ich in diesem Sinne als Ausdruck eines, um auf ein Mannheimsches analytisches Werkzeug20 zurückzugreifen, konjunktiven Erfahrungsraums, der geprägt ist durch Muster kollektiv geteilter Erfahrungen, geteilte Annahmen in Bezug auf ihre Bedingungen sowie gewissermaßen existenzrelevante Hintergrundannahmen auch in Bezug auf normative Dimensionen dieser Erfahrungen. Diese, den Raum der geteilten Erfahrung hervorbringenden Momente sind hierbei auch als imaginative Kräfte zu verstehen, als kollektivierende Wirkung der vergesellschaftenden Einbildungskraft. Die Kraft der Einbildung eines sozialen Zusammenhangs, die sich bei migrationsgesellschaftlich wirkenden und migrationsgesellschaftlich konnotierten Gegenwartsdiagnosen besonders deutlich zeigt, verweist darauf, dass Gegenwartsdiagnosen immer auch ein unbestimmtes und vage bleibendes, darin womöglich besondere Anziehung entfaltendes, imaginäres Wir aufrufen: »Wir schaffen das«.21 Wir-Zusammenhänge werden hervorgebracht von vergleichbaren politisch und kulturell definierten, materiell-symbolischen Existenzbedingungen und der Imaginations- und Einbildungskraft, die erforderlich ist, um größere soziale Zusammenhänge, deren Mitglieder einander weitgehend unbekannt und füreinander anonym bleiben, iterativ als soziale Einheit zu begreifen. (Migrationsgesellschaftliche) Gegenwartsdiagnosen antworten etikettierend auf diese Verhältnisse, bringen diese darin zugleich hervor, sind Bestandteil der imaginären Produktion von Gegenwart. Was Renata Salecl im Hinblick auf die Nation ausgeführt hat, kann hier für alle größeren Wir-Zusammenhänge geltend gemacht werden: sie definieren die Mitglieder des Wir, bleiben aber zugleich undefinierbar.22 Praktiken der Imagination des Wir können als Versuche begriffen werden, diese symbolische Lücke vorläufig zu schließen. Wenn in funktional differenzierten, pluralen Gesellschaften Individuen zunehmend mit der Aufgabe konfrontiert sind, personale Kontinuität narrativ herzustel-

19 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen (Abschnitt 67), Frankfurt a.M. 1977. 20 | Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens, Frankfurt a.M. 1980. 21 | Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin, prägte diesen Slogan auf einer Bundespressekonferenz Ende August 2015. Er ist seither zu einem der meist zitierten, parodierten und kritisierten Symbolisierungen eines politischen Willens geworden. 22 | Salecl, Renata: Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse, Wien 1994, S. 14.

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len,23 die eigene Geschichte als gestaltete Kontinuität und kontinuierliche Gestalt darzustellen, dann können Gegenwartsdiagnosen als Angebot verstanden werden, diese individuelle Selbsttemporalisierung durch Bezug auf ein Wir herzustellen. Für die Aufgabe, das eigene »Leben in der Gegenwart rückblickend verstehen und vorausschauend führen«24 zu können, stellen Gegenwartsdiagnosen Angebote dar, an die narrativ angeknüpft werden kann. Die rückblickend vereinheitlichende Selektion und Auslegung der eigenen Erfahrungen kann, wie Dieter Sturma25 es im Anschluss an Ulrich Pothast tut, als »Einheitsarbeit« bezeichnet werden. »Die die Vergangenheit rekonstruierende und die Zukunft konstruierende Einheitsarbeit der Person ist narrativ formiert«.26 Einheits- oder Kontinuitätsarbeit ist in der Hinsicht temporale Arbeit, als sie Zeit zum Gegenstand (zum Arbeitsmaterial sozusagen) hat und weiterhin in der Zeit stattfindet. Der Bezug dieser temporalen Konstitutionsund Kontinuitätsarbeit auf den Wir-Zusammenhang-Rahmen webt die erinnerte und entworfene eigene Geschichte in den faktischen und imaginierten Kontext hinein. Wenn Thilo Sarrazin mit seinem erneuten Bestseller, der in Aussicht stellt zu erläutern, wie der Islam »die Gesellschaft« bedrohe, ab Herbst 2018 publizistisch und in den Talk-Shows behauptet, dass wir vor einer feindlichen Übernahme durch den diese unsere Gesellschaft bedrohenden Islam stehen, dann stellt dies ein Angebot an bestimmte Rezipient/innen dar, sich dem Wir zuzurechnen, das bedroht ist. Sarrazins Diagnose, dass die, das heißt unsere Gesellschaft durch den Islam bedroht sei, operiert mit einem Krisenszenario, das das nicht-islamische Wir gesellschaftlicher Verhältnisse beschwört, und ermöglicht jenen, die sich diesem Wir zurechnen können, sich von illegitimen Kräften bedroht zu verstehen und konsequenter Weise bestimmte regulative Maßnahmen zur Eindämmung dieser Gefahr zu fordern.27 Wo die Artikulation28 eigener Erfahrungen mit einer Gegenwartsdiagnose möglich ist, wo ich es plausibel finde, dass meine eigene Erfahrung und mein eigenes Handeln und Nicht-Handeln von dem vermittelt ist, was in Gegenwartsdiagnosen diagnostiziert wird, da rücke ich mich in einen imaginär konjunktiven Zusammenhang eines Wir, das über Zeitraumverweise seine Gestalt gewinnt. Gegenwartsdiagnosen beziehen sich in der Regel auf gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen, die als normatives oder funktionales Problem verstanden und inszeniert werden. Diagnostiziert wird die gesellschaftliche Gegenwart als Krise, mit Blick auf ihr Unsicherheits- oder Gefährdungspotenzial.29 Das kontextualisie23 | Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1998, S. 46-80. 24 | Sturma, Dieter: Person und Zeit, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Zeiterfahrung und Personalität, Frankfurt a.M. 1992, S. 125-159, hier S. 126f. 25 | Ebd., S. 138f. 26 | Ebd. 27 | Sarrazin, Thilo: Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht, München 2018. 28 | Hall, Stuart: Postmoderne und Artikulation, in: Ders. (Hg.): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000, S. 65f. 29 | Vgl. Schallberger, Peter: Soziologische Zeitdiagnosen. Zur Kulturbedeutung der Globalisierung, in: Honegger, Claudia/Bühler, Caroline/Schallberger, Peter: Die Zukunft im Alltagsdenken. Szenarien aus der Schweiz, Konstanz 2002, S. 21-47.

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rende, vergesellschaftende und auch kollektivierende Angebot der Gegenwartsdiagnose als einer kulturell als sinnvoll geltenden und erlebten Form, auf Gefährdungen und Gefahren hinzuweisen und darüber als Einheit (und sei es als eine Einheit der Differenz) Gesellschaft aufzurufen, ist damit einigermaßen spannungsvoll. Es bietet den Einbezug in ein Wir und einen gesellschaftlichen Zusammenhang an, der allerdings bedroht ist. Da, wo ich meine Erfahrungen und Handlungsweisen, mein Selbstverständnis gegenwartsdiagnostisch artikuliere, wird es möglich, individuelle Bedrängnisse auf allgemeine Bedingungsgefüge zu beziehen, die »uns alle« (uns alle, die wir imaginär verbunden sind) irgendwie betreffen, und die notwendigen und sinnvollen Handlungen zur Bewältigung der Krise als ein kollektives Erfordernis zu adressieren. Dies tritt im Rahmen migrationsgesellschaftlicher Diskurse besonders klar in Erscheinung, das migrationsgesellschaftliche Diskurse besonders häufig Zugehörigkeiten und Wir-Konstruktionen aufrufen.

3. D ie (Z ugehörigkeits -)O rdnung der G egenwart und ihre  K rise Unter der Überschrift »Eine zweite Flüchtlingskrise überlebt die EU nicht« erfahren wir von Stefanie Bolzen und Hannelore Crolly in der Welt: »Nach Meinung der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) läuft das Management der Migration in der falschen Reihenfolge ab, für sie hat die Abschottung von Europas Süden und Osten die oberste Priorität. ›Eine zweite Flüchtlingskrise überlebt die EU nicht‹, warnt eine hohe Diplomatin aus einem der vier Länder«. 30

»Die Zuwanderungskrise in Europa«, heißt es in einer verwandten, den Diskurs über Migration nahezu organisch umkleidenden Rhetorik der Bedrohung, »hat sich im letzten Jahr im Zusammenhang mit dem steigenden Einwanderungsstrom aus Nordafrika, dem Nahen Osten, Zentral- und Südasien zugespitzt. Laut Uno-Angaben sind allein auf dem Seeweg knapp 265.000 Migranten in die europäischen Länder gekommen«.31 Diese nahezu beliebigen Beispiele aus der Vielzahl der öffentlichen Stellungnahmen zu der ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geratenen Bedeutsamkeit von (Flucht-)Migration nutzen nicht selten Krisenrhetoriken und operieren mit Bedrohungsinszenierungen.32 Zugleich finden sich aber auch andere, gegenläufige Narrative und Perspektiven etwa kapitalismus- und nationalstaatskritischer oder ökonomistischer Provenienz, in denen nicht Migration, sondern viel eher das Beharren auf dem vermeintlich Gegebenen als Krise verstanden wird.

30 | Bolzen, Stefanie/Crolly, Hannelore: Streit in Brüssel: »Eine zweite Flüchtlingskrise überlebt die EU nicht«, in: Die Welt, 15.12.2017 (URL: https://www.welt.de/politik/ausland/ar​ ticle171609163/Eine-zweite-Fluechtlingskrise-ueberlebt-die-EU-nicht.html [28.8.2018]). 31 | Sputnik Deutschland (URL: https://de.sputniknews.com/trend/migranten_europe_​ 2015/[1.9.2018]). 32 | Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den Anderen: ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 2016.

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So heißt es in einem mit »Ohne Zuwanderung sähe Deutschlands Zukunft düster aus« überschriebenen Beitrag von Daniel Eckert in der Wirtschaftsrubrik der Welt: »Das Schrumpfen der heimischen Bevölkerung hätte längst größere Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft gehabt, gäbe es nicht einen steten Zuzug von Arbeitnehmern aus anderen Ländern«.33 In ökonomistischen Argumentationen wird Migration, ganz in der medizinischen Allegorie des Diagnostizierens, schnell zu einem Antidoton: Migration als Gegenmittel zur Krise. In einem so überschriebenen Beitrag der Wirtschaftswoche heißt es beispielsweise: »Gerade weil Deutschland Zuwanderung in seinen Arbeitsmarkt dringend braucht, muss Zuwanderung in das Sozialsystem streng reguliert werden. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Belastung von Sozialversicherungen und Stadtkassen. Zuwanderungsfeindliche Populisten sind in fast allen Nachbarländern Deutschlands – von Österreich bis in die Niederlande – inzwischen zum wichtigen politischen Faktor geworden, in Frankreich droht der Front National gar zur stärksten Oppositionspartei zu werden«. 34

Welchem politischen Interesse auch immer verpflichtet, X (der Nationalstaat/ Europa/die kapitalistischen Produktionsverhältnisse …) ist in der Krise oder X (der Nationalstaat/Europa/die kapitalistischen Produktionsverhältnisse …) ist die Krise; Migration und Krise sind durchgängig in einem sehr engen diskursiv-semantischen Verhältnis stehende Topoi. Die Kommunikation der Krise gesellschaftlicher Verhältnisse und Ordnungen in Folge von Migrationsphänomenen, so meine These, glückt umso eher, je mehr die Krise in der rhetorischen Gestalt einer allgemeinen Gegenwartsdiagnose, also als Krise, die alle bzw. genauer: uns alle,35 die wir imaginär verbunden sind, irgendwie betrifft, formuliert oder wahrgenommen werden kann. Um den begrifflichen Voraussetzungen dieser Annahme nachzugehen, wende ich mich den Konzepten Ordnung und Krise sowie hegemoniale Schließung zu.

3.1 Ordnungen Die Grundkategorie des wissenschaftlichen Nachdenkens über Phänomene, die unter der analytischen Perspektive Migrationsgesellschaft von Relevanz sind, hat relationalen Charakter; sie findet sich im Verhältnis von Individuen und Gruppen zu natio-ethno-kulturell kodierten Zugehörigkeitsordnungen sowie in der Verän-

33 | Eckert, Daniel: Migration. Deutsche Wirtschaft braucht Zuwanderer, in: Die Welt, 30.1.2018 (URL: https://www.welt.de/wirtschaft/article172987599/Migration-Deutsche-​ Wirtschaft-braucht-Zuwanderer.html [28.8.2018]). 34 | Ginsburg, Hans Jacob/Goebel, Jaqueline: Deutschland braucht Zuwanderer, in: Wirtschaftswoche, 16.11.2013 (URL: www.wiwo.de/politik/deutschland/fluechtlingsdebatte-​ deutschland-braucht-zuwanderer/9046116-all.html [18.1.2018]). 35 | Mit dem Propheten hat die Gegenwartsdiagnostikerin gemein, paradox Teil der Verhältnisse zu sein, die sie überschaut und von denen sie sich, um sie zu überschauen, ein Stück weit abgesetzt haben muss.

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derung dieses Verhältnisses.36 Der Ausdruck natio-ethno-kulturell37 verweist hierbei zum einen darauf, dass die Konzepte Nation, Ethnie/Ethnizität sowie Kultur im Alltagsverständnis, aber auch in der Wissenschaft, nicht selten diffus und zum Teil in unklarer Abgrenzung voneinander Gebrauch finden. Zum anderen verweist der Ausdruck darauf, dass Konzepte von Nation, Ethnie/Ethnizität und Kultur sowohl formal durch Gesetze und Erlasse, materiell durch Grenzanlagen und Ausweise als auch sozial durch symbolische Praktiken in durchaus verschwommener Bedeutung und Konsequenz hergestellt werden und politisch Verwendung finden. Wenn von Migranten, Ausländern, von Polen, von Migrantenkindern, Türkinnen, von Deutschen oder Brasilianerinnen und (insbesondere seit 2001) von Muslimen die Rede ist, dann ist mit dieser Rede in der Regel ein diffuses und mehrwertiges Zugehörigkeitsregister gezogen, das Kultur, Religion, ethnische Identität, nationale Zugehörigkeit, Staatsbürgerschaft unbestimmt aufeinander bezieht. Der Ausdruck natio-ethno-kulturell bringt dies zum Ausdruck und macht darauf aufmerksam, dass migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen von einer variablen, verschwommenen und mehrwertigen ›Wir‹-Einheit strukturiert werden. Natio-ethno-kulturell kodierte Ordnungen verweisen auf imaginierte Räume mit territorialer Referenz. In diesen Zugehörigkeitsordnungen machen Subjekte Erfahrungen der symbolischen Distinktion und Klassifikation, Erfahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit sowie biographische Erfahrungen der kontextuellen Verortung. Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit können als jene idealtypisch unterscheidbaren, analytischen Zugehörigkeitsdimensionen verstanden werden, die in jeder Zugehörigkeitsordnung empirisch spezifisch gefasst sind.38 Mitgliedschaftskonzepte39 regeln, wer zugehörig ist und wer nicht. Hierbei ist Aufenthaltserlaubnis eine formelle Mitgliedschaftspraxis und die häufig an Menschen, die als Personen mit Migrationshintergrund gelten, gerichtete Frage, woher sie kämen, eine informelle Praxis der Kommunikation über Mitgliedschaft. Eine wichtige Voraussetzung für den Idealtyp der fraglosen Zugehörigkeit von Menschen in sozialen Kontexten besteht darin, dass sie nach ihrem eigenen Verständnis sowie nach dem Verständnis bedeutsamer Anderer als Mitglieder dieses Zusammenhangs gelten. Soziale Zugehörigkeit setzt im idealtypischen Grenzfall fragloser Zugehörigkeit den symbolischen Einbezug in ein Wir auf formeller und informeller Ebene voraus. Zugleich ist jeder Zugehörigkeitsraum ein Handlungs- und Wirksamkeitsraum.40 Ihren alltagsweltlichen Sinn gewinnt der symbolische Einbezug in einen Zugehörigkeitsraum daraus, dass bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden, andere verhindert werden. Jeder Zugehörigkeitsraum bezeichnet, in

36 | Mecheril, Paul u.a.: Migrationsforschung als Kritik? Eine Annäherung an ein epistemisches Anliegen in 57 Schritten, in: Ders. u.a. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik?, Wiesbaden 2013, S. 7-55. 37 | Mecheril, Paul: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster/New York 2003, S. 118-251. 38 | Ebd., S. 118. 39 | Ebd., S. 138-160. 40 | Ebd., S. 161-217.

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anderen Worten, einen Handlungsraum, der differentiell Wirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Das in diesem Raum entwickelte und in diesen Raum eingebrachte habituelle Wirksamkeitsvermögen Einzelner bestätigt die Zugehörigkeit oder die Nicht-Zugehörigkeit des und der Einzelnen. Nehmen wir das Beispiel Sprache: Das Vermögen zu sprechen ist nicht hinlänglich erfasst, wenn man lediglich fragt, ob jemand eine Sprache spricht. Unter Bedingungen monolingualistischer gesellschaftlicher Kontexte, also solcher Kontexte, für die das weitgehend für legitim gehaltene Vorherrschen einer Sprache kennzeichnend ist, wird von konkreten Sprecher/innen noch etwas anderes verlangt: Sie sind gehalten, jene Sprache zu sprechen, die in einem gesellschaftlichen Kontext die dominante Sprech- und Sprachweise bezeichnet. Habituelle Wirksamkeit betrifft somit jene Handlungsfähigkeit der und des Einzelnen in natio-ethno-kulturellen Kontexten, in deren Rahmen es Personen möglich ist und ermöglicht wird, hinsichtlich für sie selbst bedeutsamer Aspekte Stellungnahmen zu entwickeln und diese Stellungnahmen in signifikante interaktive Situationen handlungsrelevant und effektvoll einzubringen. Wirksamkeit beschreibt damit ein Verhältnis der Resonanz zwischen dem individuellen Handlungsvermögen, gewissermaßen der habituellen Disponiertheit, und der (bürger-) rechtlichen und der kulturellen Strukturierung des Wirksamkeitsraumes. Das dritte analytische Element der Zugehörigkeitsordnung, Verbundenheit,41 bringt zum Ausdruck, dass die im Begriff der Zugehörigkeit adressierte Relation zwischen Individuum und Kontext nicht allein eine optionale Beziehung ist, sondern vielmehr auch ein Verhältnis, das durch Bindungen ermöglicht wird und sich in Verbundenheiten konkretisiert. Natio-ethno-kulturell kodierte Verbundenheit schließt neben emotionaler Bindung Aspekte moralischer Verpflichtung, kognitiv-praktische Vertrautheit und nicht zuletzt Aspekte materieller Gebundenheit ein. Die durch Verbundenheit ermöglichte Positionierung eines Individuums ist hierbei ein zeitlich strukturiertes Phänomen. Die soziale Verbundenheit einer Person bringt zum Ausdruck, dass sie sich auf den Zugehörigkeitsraum biographisch eingelassen hat und dass sie in den Zugehörigkeitsraum biographisch gewissermaßen zugelassen wurde. Diese Prozesse sind an Verbundenheitskonzepte und ihre Vorgaben geknüpft, die beispielsweise auf die Herstellung kollektiver Erinnerungen wirken, oder die eigene Lebensgeschichte als legitime und respektable Geschichte im Zugehörigkeitsraum und des Zugehörigkeitsraums erzählbar werden lässt. Verbundenheit ist der Zugehörigkeitsaspekt, in dem angezeigt wird, dass soziale Zugehörigkeit die und den Einzelnen in einem Verhältnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Raum bestimmt. Natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitsordnungen, die aus Mitgliedschafts-, Wirksamkeits- und Verbundenheitskonzepten bestehen, profitieren von Migrationsphänomenen und nähren sich gewissermaßen von ihnen. Zugleich werden sie durch Migrationsphänomene irritiert und beunruhigt. Diese sozusagen Beunruhigbarkeit der natio-ethno-kulturell kodierten Ordnung, ihre strukturelle oder latente Krisenhaftigkeit, stellt ein konstitutives Moment dieser Ordnung dar. Dies hängt mit zumindest zweierlei zusammen. Zunächst damit, dass die Imagination eines natio-ethno-kulturell kodierten Wir konstitutiv auf ein Nicht-Wir angewiesen ist und sich damit nicht aus sich selbst, aus einem essentiellen Begrün41 | Ebd., S. 218-251.

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dungszusammenhang heraus stiften lässt. Da das imaginierte Wir an sich und für sich nicht sein kann, ist es krisenhaft. Die latente strukturelle Krisenhaftigkeit natio-ethno-kultureller Ordnung zeigt sich ferner darin, dass sie als Einheitsfiktion und zeitlich prekäre Konstruktion beständig nach Imaginationspraktiken und performativen Aufführungen verlangt, was die Unmöglichkeit der endgültigen Fixierung der (Bedeutung der) Ordnung anzeigt. Ordnungen stellen Muster iterativer Grenzziehungspraktiken dar. Die Angewiesenheit auf inszenatorische Praktiken wie etwa Wir-Rhetoriken (die gerade im Zuge von als kollektive Bedrohung interpretierte und inszenierte Furchterfahrungen mobilisiert werden),42 Fahnen, Hymnen, Sportübertragungen verweist auf die essentielle Notwendigkeit fortwährender, mithin verändernder Selbstaufführung und Selbsterfindung. Dass diese Aufführungen der Sicherung dessen dienen, was nicht sicherbar ist, wird nicht zuletzt im Spiegel von Migrationsphänomenen deutlich: die Krise der Ordnung des Wir wird manifest. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass Migrationsbewegungen im Rahmen und über die Grenzen von natio-ethno-kulturell kodierten Zugehörigkeitsordnungen stattfinden und diese Ordnungen aktivieren, stellen die skizzierten analytischen Elemente von Zugehörigkeit eine Art Untersuchungsheuristik zur Analyse migrationsgesellschaftlicher Auseinandersetzungen dar: Die Auseinandersetzung um die Funktionalität und Legitimität von Bürgerschaftskonzepten (Wahlrecht für Ausländer, Unionsbürgerschaft, transnationale Bürgerschaft) oder auch die Diskussion darum, ob ein transnationales Selbstbestimmungsrecht43 existiert, verweisen darauf, dass migrationsgesellschaftliche Mitgliedschaftskonzepte umkämpft sind; die Funktionalität und Legitimität von monokulturellen Wirksamkeitskonzepten (siehe etwa die pädagogische Debatte um mehrsprachige Erziehung)44 sowie jene von traditionellen Verbundenheitskonzepten (in Debatten, die um die Frage kreisen, ob der Islam zu Deutschland gehöre,45 oder ob und wie die Erinnerung 42 | El-Tayeb, Fatima: European others: Queering ethnicity in postnational Europe, Minneapolis/London 2011. 43 | Casse, Andreas: Globale Bewegungsfreiheit: ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016. Die Argumente, die dafür sprechen, dass es ein verbrieftes Menschenrecht ist, dass zumindest kein Staatsangehöriger in der Regel an der Bewegung innerhalb eines Nationalstaates gehindert werden darf, sind, mit Casse, im Kern: Bewegungsfreiheit ist Katalysator für die Inanspruchnahme anderer Freiheiten wie Versammlungsfreiheit oder die Freiheit, intime Beziehungen außerhalb des lokalen Bereiches zu führen, Bewegungsfreiheit ermöglicht zweitens den Zugang zu materiellen Ressourcen und drittens ist Bewegungsfreiheit konstitutiver Bestandteil dessen, was es heißt, über sich selbst bestimmen zu können. Aus mindestens diesen drei Gründen existiert das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb des nationalstaatlichen Territoriums und da es kein ethisches Argument gibt, diese Bewegungsfreiheit im globalen Raum vorzuenthalten, bestehe, so Casse, ein Recht auf transnationale Bewegung, womit ein weitreichend durchlässiges Mitgliedschaftsmodell vorgeschlagen ist. 44 | Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula: Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009; Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit, Wien 2017. 45 | Yildiz, Yasemin: Immer noch keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie, in: Dietze, Gabrielle/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 83-99; Amir-Moazami, Schirin: Epistemologien der »muslimischen Frage« in Euro-

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an die Shoa Teil der affektiven und kognitiven Bezugnahme auf Deutschland sein solle46), stehen auch auf Grund von Migrationsphänomenen in Frage.

3.2 Hegemoniale Krisen und ihre Regulation Als das zentrale gesellschaftstheoretische Kennzeichen von Migration kann verstanden werden, dass Migration in praktisch-technischer wie normativer Hinsicht zur Irritation von Zugehörigkeitsordnungen beiträgt und damit Kontingenz wie Brüchigkeit dieser Ordnungen anzeigt. Migration führt zur Krise des Gegebenen, zumindest dann, wenn eine entsprechende Deutung vorliegt und kommunikativ durchgesetzt werden kann. »Κϱίσις«, erläutert Reinhart Koselleck im Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland,47 »entstammt dem griechischen Verb ϰϱίνω: ›scheiden‹, ›auswählen‹, ›beurteilen‹, ›entscheiden‹; medial: ›sich messen‹, ›streiten‹, ›kämpfen‹. Daraus ergab sich eine erhebliche Spannweite der Bedeutung von ›Krisis‹. Das Wort gehörte im Griechischen zu den zentralen Begriffen der Politik. Es bedeutete ›Scheidung‹ und ›Streit‹, aber auch ›Entscheidung‹ im Sinne eines endgültigen Ausschlags«. Medizinisch bezeichnete Krisis einen Schwebezustand, der auf einen Wendepunkt zusteuert. Bereits in der Neuzeit wird Krisis in seiner medizinischen Bedeutung auf gesellschaftliche Belange übertragen.48 So werden gesellschaftliche und politische Zustände zuweilen etwa mit einem fieberhaften Zustand, d.h. mit einem kritischen Zustand verglichen, der auf eine für den weiteren Verlauf entscheidende Veränderung schließen lässt. Wer eine Krise diagnostiziert, sieht sich in der Lage, präventive, therapeutische oder unmittelbare Handlungsanforderungen zu verkünden, respektive dazu aufzufordern. Koselleck verweist darauf, dass Krisen kulturelle Konstrukte, mithin wahrnehmungs-, standpa, in: Dies. (Hg.): Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa, Bielefeld 2018, S. 91-125. 46 | Fava, Rosa: Die Neuausrichtung der »Erziehung nach Auschwitz« in der Einwanderungsgesellschaft: Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin 2015; Lücke, Martin: Erinnerungsarbeit, in: P. Mecheril (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik, S. 356-371. 47 | Koselleck, Reinhart: Art. »Krise«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, Bd. 3, S. 617-650. 48 | Ebd., S. 617: »›Krisis‹ hatte in der griechischen Antike relativ klar abgrenzbare Bedeutungen im juristischen, theologischen und medizinischen Bereich. Der Begriff forderte harte Alternativen heraus: Recht oder Unrecht, Heil oder Verdammnis, Leben oder Tod. Der medizinische Sinn dominierte, gleichsam fakultätsgebunden, fast ungebrochen bis in die Neuzeit hinein. Seit dem 17. Jahrhundert erfolgte von hier aus, zunächst im Westen, dann auch in Deutschland, eine metaphorische Ausweitung auf die Politik, die Psychologie, die Ökonomie und schließlich auch auf die Geschichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff wieder theologisch und religiös eingefärbt, in Sinne des Jüngsten Gerichts, das in säkularer Deutung auf die revolutionären Ereignisse angewandt wurde. Aufgrund seiner metaphorischen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit beginnt der Begriff zu schillern. Er dringt in die Alltagssprache ein und wird zum Schlagwort. In unserem Jahrhundert gibt es kaum einen Lebensbereich, der nicht mit Hilfe dieses Ausdrucks seine entscheidungsträchtigen Akzente erhielte«.

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ort- und interessenrelativ sind. Sie verweisen auf die Notwendigkeit schneller Entscheidungen. Krisendiagnosen, insbesondere, wenn sie »unsere Gegenwart« betreffen, wohnt deshalb auch schnell ein alarmistisches Moment inne.49 Erfolgreiche Kriseninszenierungen ermöglichen bereits in der frühen Neuzeit, so Jan Marco Sawilla,50 den Staat als Organismus zu betrachten, und lassen Handlungen gegen die Krise legitim werden; sie ermöglichen weiterhin, dass angesichts des (vermeintlichen) Handlungsdrucks eine gewisse Toleranz entsteht gegenüber dem Fehlschlag der Gegenmaßnahmen. Da, wo die Krise der Ordnung eines sozialen Zusammenhangs, die Krise einer (lokalen) Gegenwart für jene, die von dieser Gegenwart imaginär signifikant affiziert sind, glaubhaft gemacht werden kann, führt dies zur Öffnung und Infragestellung des Zusammenhangs. Die Auseinandersetzungen, die nunmehr in diesem Raum des Möglichen stattfinden, können als Auseinandersetzung um das aufgefasst werden, was in der Zukunft verloren werden kann, was ein signifikanter Verlust wäre, oder um das, was in der Gegenwartszukunft besitzenswert ist; es geht um Werterhalt und -gewinn, letztlich um die Idee der guten Ordnung. Die Auseinandersetzungen enden, wenn der politische Kampf vorläufig entschieden ist und der soziale Zusammenhang (dies mag eine Schule, ein Stadtviertel, eine (kommunal-)politische Einheit sein) wieder symbolisch geschlossen und sozusagen reguliert ist. Wir haben es bei Gegenwartsdiagnosen damit letztlich mit zwei sozialen Zusammenhängen zu tun: dem sozialen Zusammenhang (einer Schule, eines Stadtviertels), in dem Gegenwartsdiagnosen distribuiert und diskutiert werden und um Geltungshoheit ringen, sowie dem sozialen Zusammenhang des imaginären, konjunktiven Erfahrungszusammenhangs, der in Gegenwartsdiagnosen adressiert wird. Beide Zusammenhänge können empirisch zusammenfallen, sind aber analytisch zu unterscheiden. An einem anderen Ort51 habe ich die Bedeutung migrationsgesellschaftlicher Krisen mit Überlegungen zum Regimebegriff untersucht, auf die ich hier teilweise zurückgreife. Regime habe ich dort als vorläufige Schließungen bezeichnet, mit denen sich Krisendeutungen und -diagnosen durchsetzen. Ich kann nunmehr sagen, dass diese Krisendiagnosen besonders wirksam sind, wenn sie auf den Topos der Gegenwart und die einsehbare Zukunft bezogen sind. (Migrations-)Regime stellen eine regulative Reaktion und Resonanz auf eine bedeutsame Unruhe und Krise im entsprechenden sozialen Zusammenhang dar; wobei das, was als Unruhe und Krise gilt, nämlich praktisch-technische und/oder normative Komplikationen, im Rahmen eines Migrationsregimes als Krise wahr und legitim gemacht werden muss.

49 | Schulze, Gerhard: Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt a.M. 2011. 50 | Sawilla, Jan M.: Entscheiden unter Zeitdruck? Zur Krisensemantik in der französischen Publizistik zwischen Religionskriegen, Fronde und Französischer Revolution, in: Schlögl, Rudolf/Hoffmann-Rehnitz, Philip R./Wiebel, Eva (Hg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2016, S. 333-368. 51 | Mecheril, Paul: Ordnung, Krise, Schließung. Anmerkungen zum Begriff Migrationsregime aus zugehörigkeitstheoretischer Perspektive, in: Pott, Andreas/Rass, Christoph/Wolff, Frank (Hg.): Was ist ein Migrationsregime? What is a Migration Regime?, Wiesbaden 2018, S. 313-330.

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Migrationsforschung als Regimeforschung geht es, vereinfachend gesagt, um die Analyse von politischen, kulturellen und interaktiven Mechanismen der Regulation und Steuerung von Migration bzw. globalen Wanderungsprozessen, also um Fragen der Migrationspolitik und -kontrolle. Regime definieren Serhat Karakayalı und Vassilis Tsianos52 als »Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme zu generieren.«

Der Regimebegriff ermöglicht ein Verständnis dafür, dass hinsichtlich der Regulierung von Migration eine Vielzahl von Akteuren (nationalstaatliche und europapolitische Akteure, NGOs, Migrantenselbstorganisationen, Medien, Stiftungen, lokale und transnationale Akteure, Wissenschaftler/innen wie wir etc.) über vielfältige komplexe und konkurrierende Bezüge (wie runde Tische, Tagungen, Expertisen und Verlautbarungen) in hierarchischen und vertikalen (Macht-)Relationen aufeinander bezogen und beteiligt sind. Wir haben es also mit einer Vielzahl antagonistischer Verhältnisse zu tun, in denen es für die konkurrierenden Akteure darum geht, die eigene Deutung der migrationsgesellschaftlichen Gegenwart wahr zu machen. Hierbei spielen Deutungen und Inszenierungen der Gegenwart als Krise und der nahen, zwar nicht einsehbaren, aber probabilistisch mit Hilfe etwa von statistischen Berechnungen und Vorhersagen53 in Augenschein nehmbaren Zukunft eine zentrale Rolle. Krisen sind als Krisen zu kommunizieren und glaubhaft zu machen. Krisendiagnosen, in anderen Worten gesagt, müssen, um praktische Wirksamkeit zu entfalten, hegemonial werden. In diesem Sinn können Migrationsregime als historisch bedingte Verstetigungen der Regulation von migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen begriffen werden, in die sehr unterschiedliche gesellschaftliche Akteure involviert und in denen diese aktiv an der Gestaltung der Verhältnisse in antagonistischen Bezügen beteiligt sind. Wo sich ein Regime als Krisenbeschreibung durchsetzt, geht dies mit hegemonial werdenden Wirklichkeitsbeschreibungen und Formen der Gestaltung von Wirklichkeit einher, die nicht nur mit der Frage verknüpft werden können, wer von diesen Beschreibungen profitiert, wer Gewinner und wer Verliererin von Krisendiagnosen ist,54 sondern auch grundlegender noch auf ihre subjektivierenden Konsequenzen zu befragen sind. Wirksam die Gegenwart in den Blick nehmende Krisendeutungen gehen mit differentiellen Subjektpositionen einher, die unter machtkritischer Perspektive auf die damit verknüpften differentiellen Grade der Anerkennung und Intelligibilität betrachtet werden können. 52 | Karakayalı, Serhat/Tsianos, Vassilis: Movements that matter, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, S. 7-17. 53 | Fischer, Daniel: Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit: Untersuchung über den Umgang mit statistischem Wissen im massenmedialen Diskurs über Arbeitslosigkeit, Wiesbaden 2009. 54 | Imbusch, Peter: Die Soziologie und die Krisen der Gesellschaft, in: Newsletter Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit März 2013, Nr. 12, S. 6-12.

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Das auf eine spezifische Krisendiagnose der Gegenwart reagierende Integrationsregime bzw. -dispositiv55 beispielsweise operiert mit der Unterscheidung zwischen denen, die im Hinblick auf ihren diffus und irgendwie als positiv geltenden Integrationsstatus56 befragt werden können, müssen und sollen (und mit Ausdrücken, die diesen Staus anzeigen und kommunizieren, bezeichnet werden, wie Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund) und denen, bei denen dies nicht erforderlich oder denkbar ist (Nicht-Migranten) und unterscheidet bei ersteren noch einmal zwischen nützlichen und bedrohlichen Subjekten.57 Zugleich sind, wenn wir uns die gegenwärtigen diskursiv-politischen Auseinandersetzungen und regulativen Entscheidungen in Europa vergegenwärtigen, Kriseninszenierungen prominent, die als Notstand die Überforderung (der Kommunen, der Länder, des Nationalstaates, Europas) ausgemacht haben und mit dieser Krisendiagnose als regulatives Prinzip Abschottung, Grenzschließung und eine Politik der Zurückweisung der Körper wahr machen, welche zwei wichtige Subjektpositionen gebiert: (a) Leibsubjekte, deren Empfindsamkeit und Verletzlichkeit etwa als Angst und Wut thematisch ist,58 und (b) (de)subjektivierte Körperwesen, die numerisch als Masse zur Bedrohung werden. »Überforderung – Politik der Zurückweisung der Körper – Leibsubjekte/Körperwesen« könnte insofern als ein gegenwärtig bedeutsames Migrationsregime gefasst werden. Zugleich haben wir es aber auch mit der Wirksamkeit eines Migrationsregimes zu tun, das als Notstand viel eher den Humankapitalbedarf und einen womöglich zukünftigen Humankapitalnotstand ausgemacht hat, aus dem als regulatives Prinzip das der Selektion respektive Ausbildung des Nützlichen resultiert, das Subjektpositionen offeriert, die zwischen den Polen (ewiger) Unnützlichkeit und (vorläufiger) Nützlichkeit angesiedelt sind. Die Trias »Humankapitalbedarf – Selektion – (un)nützliche Subjekte« kennzeichnete mithin ein weiteres Migrationsregime. Migrationsregime bezeichnen, in meinem Verständnis, vorläufige politische Schließungen in einem durch komplexe Akteurskonstellationen hervorgebrachten antagonistischen Feld der Aushandlung einer guten, politischen Ordnung mit subjektivierenden Konsequenzen. Die Schließung lässt einen spezifischen, migrationsgesellschaftlichen Raum entstehen, in dem sich mit differentiellen Konsequenzen eine Version guten Lebens, des für-uns-guten-Lebens durchgesetzt hat. Diese 55 | Mecheril, Paul: Wirklichkeit schaffen. Integration als Dispositiv, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61, 2011, H. 43, S. 49-54. 56 | Riegel, Christine: Integration – ein Schlagwort? Zum Umgang mit einem problematischen Begriff, in: Sauer, Karin E./Held, Josef (Hg.): Wege der Integration in heterogenen Gesellschaften, Wiesbaden 2009, S. 23-40; Schwarz, Tobias: Bedrohung, Gastrecht, Inte­ grationspflicht: Differenzkonstruktionen im deutschen Ausweisungsdiskurs, Frankfurt a.M./ New York 2014. 57 | Ratfisch, Philipp: Zwischen nützlichen und bedrohlichen Subjekten. Figuren der Migration im europäischen »Migrationsmanagement« am Beispiel des Stockholmer Programms, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1, 2015, Nr. 1 (URL: http://movements-journal.org/issues/01.grenzregime/07.ratfisch--nuet zliche-bedrohli​ che-subjekte-stockholm-migrationsmanagement.html [20.8.2018]). 58 | Mecheril, Paul/van der Hagen Wulff, Monica: Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft, in: Castro Varela, María do Mar/Mecheril, Paul (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld 2016, S. 119-142.

Migrationsgesellschaf t als Arena gegenwar tsdiagnostischer Praktiken

hier exemplarisch skizzierten Migrationsregime, die auf Gegenwartsdiagnosen basieren, in denen eine imaginäre Zeit, ein imaginärer Raum und ein imaginäres Wir entworfen sind, konkurrieren um symbolische Vorherrschaft und streben danach, sich durchzusetzen. Das Phänomen des Durchsetzens kann mit einem Hegemoniebegriff erfasst werden, der sowohl das Moment des Zwangs und der Verhinderung als auch das des Zugeständnisses und der Ermöglichung aufnimmt. Eine fruchtbare Referenz zur Auseinandersetzung mit dieser Doppelgesichtigkeit von Herrschaft findet sich in der Hegemonietheorie von Antonio Gramsci.59 Die besondere Gestalt der Herrschaft in modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften besteht darin, dass Momente des Zwangs sich mit Momenten des Konsenses verknüpfen. Welt-, Gegenwarts- und Selbstdeutungen müssen zur Aufrechterhaltung oder auch Veränderung des Status quo beeinflusst werden, um einen weit reichenden Konsens über die Richtigkeit und Alternativlosigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu erzielen. Gramsci arbeitet in seinen historischen Analysen heraus, dass eine gesellschaftliche Gruppe in gesellschaftlichen Transformationsprozessen nur dann hegemonial werden und somit herrschen kann, wenn sie nicht nur qua Nötigung und Gewalt dominiert, sondern sie auch in der Lage ist zu führen. Führung und Hegemonie gehen Zwang und politischer Herrschaft voraus und bilden zugleich ihre Grundlage. Meine These wäre nun, dass unter Bedingungen, die man, wenn auch etwas gestelzt, als Diagnostizität des Gesellschaftlichen bezeichnen könnte, politische Hegemonie auch mit der vorderhand zwanglosen Durchsetzung bestimmter Gegenwartsdiagnosen verknüpft ist, vielleicht sogar sein muss, und dass dies unter migrationsgesellschaftlicher Perspektive besonders klar beobachtbar ist. Für Gramscis Verständnis hegemonialer Verhältnisse ist der Bezug auf Wissensformationen von besonderer Bedeutung. Hegemonieapparate bestimmen die »reale kollektive Lebensweise«60 dadurch, dass sie die Wahrnehmung der Welt durch Begriffe organisieren.61 Das gesellschaftliche Feld von Macht- und Herrschaftsverhältnissen kann hierbei aber nicht allein über die Analyse der Klassenverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden, die bei Gramsci noch dominiert. Vielmehr ist es angemessener, von polyzentrischen hegemonialen Verhältnissen auszugehen.62 Unter der Voraussetzung polyzentrischer Herrschaftsverhältnisse ist Herrschaft nicht die Herrschaft einer gesellschaftlichen Gruppe, sondern eher die Herrschaft von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen durch Begriffe, Wissensbestände und -formen, ästhetische Schemata etc., durch welche spezifische Gegenwartsdiagnosen und damit verbundene Lebensweisen sich durchsetzen, indem sie Zustimmung erfahren und ein Narrativ skizzieren (etwa alltagsrassistische Welt- und Selbstdeutungen, die die Gegenwart

59 | Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Hamburg 1991. 60 | Demirovic, Alex: Löwe und Fuchs. Antonio Gramscis Beitrag zu einer kritischen Theorie bürgerlicher Herrschaft, in: Imbusch, Peter (Hg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien, Wiesbaden 1998, S. 95-107. 61 | A. Gramsci: Gefängnishefte, S. 1324-1326. 62 | Hall, Stuart: Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten, in: Hall, Stuart/Koivisto, Juha/Merkens, Andreas (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, S. 34-65.

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[Europas] als von Migration bedroht inszenieren, verstehen und erleben),63 das individuelle und geteilte Erfahrungen sowohl integriert als auch strukturiert. Gramsci geht ideologietheoretisch davon aus, dass auch das, was als richtig und wahr gelten kann, stets eine Frage der gesellschaftlichen Praxis selbst und damit notwendigerweise ebenfalls in soziale Auseinandersetzungen eingebunden ist.64 Nicht zuletzt für emanzipatorische soziale Bewegungen geht es insofern darum, kritische Deutungen und Diagnosen migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit und Gegenwart zu verbreiten und diese, im Ringen um Hegemonie, durchzusetzen.65 Krisendeutungen und -behauptungen artikulieren insofern immer auch bestimmte partikulare Interessen, die sich entsprechend funktionaler Zeit-, Raumund Wir-Imaginationen bedienen.66 Mit jeder Krisendeutung und -behauptung wird nun immer auch ein spezifischer Bedarf zur Regulation als krisenhaft verstandener gesellschaftlicher Gegenwartsverhältnisse wahrgemacht und Legitimität dafür beschafft, etwa natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitsordnungen (Mitgliedschaft, Wirksamkeit, Verbundenheit) zu regulieren. Jede gesellschaftliche Ordnung ist nicht einfach irgendwie da, sondern wird beständig performativ hergestellt. Regulationsbedarfe und insbesondere gegenwartsbezogene Krisendiagnosen sowie Auseinandersetzungen um die Gültigkeit der jeweiligen Krisendiagnose sind hierbei ein besonderes und wichtiges Moment der Wieder- und Neuherstellung politischer und gesellschaftlicher Ordnung, da aus als gültig geltenden Krisendiagnosen legitimer und plausibler Weise spezifische regulative Prinzipien resultieren. Die Regulation natio-ethno-kulturell kodierter Zugehörigkeitsordnungen steht also damit in Zusammenhang, dass eine bestimmte Krise der Gegenwart als gegeben gesetzt ist, eine bestimmte Krisenbeschreibung hegemonial durchgesetzt wird und entspre63 | Bauman, Zygmunt (Hg.): Die Angst vor den Anderen: ein Essay über Migration und Panikmache; Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart, Bielefeld 2017. 64 | Hirschfeld, Uwe: Intellektuelle, Kritik und Soziale Arbeit. Definitionsversuche in Auseinandersetzung mit Walzer und Gramsci, in: Ders. (Hg.): Gramsci-Perspektiven. Beiträge zur Gründungskonferenz des »Berliner Instituts für Kritische Theorie« e.V., Hamburg 1998, S. 183-205. 65 | Das auf Veranstaltungen und in den Sozialen Medien verbreitete Motto des The Voice Refugee Forum und der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge lautet: Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört! (URL: http://kompass.antira.info/netzwerke/die-karawane-​u ndthe-voice/[1.9.2018]). 66 | Das Verhältnis von Interesse und Krise besteht mithin darin, dass, wie die marxistische Tradition herausgearbeitet hat, die historische Konstellation unterschiedlicher (Klassen-)Interessen Krisen zur Folge haben kann und in Krisen unterschiedliche Interessen von Klassen (oder auch – für unseren Zusammenhang – sich natio-ethno-kulturell verstehenden Gruppen) erkennbar sind: »It should be made clear […] that saying there are different interests in the crisis is not the same as saying that the crisis is the product of different interests. It is to emphasise that once a crisis occurs people have different interest and investments in its existence, intensity, duration and manifestation« (Hage, Ghassan: On stuckedness. The critique of crisis and the crisis of critique, in: Ders. [Hg.]: Alter-Politics. Critical Anthropology and the radical imagination, Melbourne 2015, S. 33-45).

Migrationsgesellschaf t als Arena gegenwar tsdiagnostischer Praktiken

chende Krisenlösungen diskutiert und bestimmte Lösungsoptionen als legitime Lösungen verstanden werden.

4. S chluss Migrationsphänomene rufen durchaus vermehrt die Analyse, aber auch die Diagnose von Gegenwart auf, weil Migration Gegenwart beunruhigt, wobei die spezifische Gegenwart, die in Gegenwartsdiagnosen thematisch und gewissermaßen angerufen wird, nicht nur vage und unbestimmte zeitliche, sondern auch (vage und unbestimmte) räumliche sowie (vage und unbestimmte) soziale Grenzen aufweist. Gegenwartsdiagnosen sind Aussagen über eine (imaginäre) Zeit, einen (imaginären) Raum und einen (imaginären) kollektivierenden, konjunktiven sozialen Zusammenhang, der ein zuweilen als Wir artikuliertes gesellschaftliches Verhältnis bezeichnet – dies wird in einer migrationsgesellschaftlichen Analyse besonders deutlich, wenn »Migrationsgesellschaft« selbst weniger als Gegenwartsdiagnose, sondern eher als Perspektive auf und Werkzeug zur Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden wird.67 Ich habe in diesem Aufsatz Überlegungen vorgestellt, die analytische Elemente identifiziert haben, die geeignet sind, auf (migrations-)gesellschaftliche Verhältnisse bezogene Gegenwartsdiagnosen analytisch genauer zu fassen. Die im Durchgang durch Überlegungen einerseits zur Strukturlogik der Diagnostizierung der Gegenwart sowie andererseits zugehörigkeits- und regimetheoretischen Anmerkungen aufgefundenen analytischen Elemente zur Untersuchung der auf migrationsgesellschaftliche Verhältnisse bezogenen und aus diesen resultierenden Gegenwartsdiagnosen seien am Ende des Beitrags noch einmal zusammengefasst: a) Gegenwartsdiagnose bezeichnet eine Praxis der Deutung des (potenziell) defizitären Zustands der jetzigen und zukünftigen Gegenwart an der Gegenwart, b) Gegenwart adressiert die Momente Raum, Zeit und Wir, welche in für die Praxis der Gegenwartsdiagnose funktionaler Weise unbestimmt und vage bleiben, c) Migration beunruhigt natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitsordnungen, deren Elemente Mitgliedschafts-, Wirksamkeits- und Verbundenheitsregelungen sind, d) diese Beunruhigung kann aus unterschiedlichen Perspektiven als Krise gedeutet und kann als Krise der Gegenwart (Raum, Zeit, Wir) diagnostiziert werden, wodurch die Krisendiagnose besonders eindringlich kommuniziert wird, e) hegemoniale Krisendeutungen führen zur vorläufigen symbolischen Schließung des Deutungskampfes f) und führen zur Durchsetzung eines Migrationsregimes, das immer auch spezifische Subjektpositionen offeriert.

67 | P. Mecheril: Migrationspädagogik – ein Projekt.

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Michel Houellebecqs »Unterwerfung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen« als Folgemodell nach dem Bedeutungsverlust soziologischer Zeitdiagnostik Die Antwortversuche des roman expérimental auf die Migrationskrise Walter Reese-Schäfer

Die Akademisierung der gegenwartswissenschaftlichen Soziologie hat diese von der Zeitdiagnostik entfernt. Um der akademischen Reputationsgewinnung willen wird der Bezug zur Öffentlichkeit zurückgefahren. Es ist mehr Geld zu verdienen mit festen Stellen als auf dem freien Markt der Zeitdiagnostik. Die Deutungskraft hat nachgelassen und wird zunehmend ausgelagert in Formen öffentlicher Intellektualität. Damit geht die zeitdiagnostische Aktivität und Kompetenz wieder dorthin, wo die Behauptung am Markt immer noch nicht durch institutionelle Erstarrung und fachspezifische Engführung ersetzt worden ist: zur Literatur. Genauer gesagt, zu einer fast selbst schon wissenschaftlich, nämlich empirisch-experimentell vorgehenden Art von Literatur, dem Experimentalroman. Emile Zola hat diese Idee in seinem schon im Jahr 1880 erschienenen literaturtheoretischen Text Le roman expérimental in Analogie zu naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen entwickelt. Ausgangspunkt ist eine Fragestellung, z.B. welche Auswirkungen ein leidenschaftliches Liebestemperament auf den Liebenden selbst, auf seine Familie und die Gesellschaft hat. Diese Fragestellung wird dann im Verlauf eines Romans einer Reihe von Tests unterworfen und durch bestimmte Milieus geführt. Der Romancier begnügt sich nicht mit bloßer Beobachtung und Beschreibung, er schickt die Hauptperson seines Romans (so z.B. Balzac seinen Baron Hulot in La cousine Bette) auf experimentelle Weise durch Situationen. Zola resümiert: »Zusammengefasst: das ganze Verfahren besteht darin, die Tatsachen aus der Natur zu nehmen, dann ihren Mechanismus zu studieren und durch Veränderung der Umstände und des Milieus auf sie einzuwirken, ohne sich jemals von den Gesetzen der Natur zu entfernen. Am

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Walter Reese-Schäfer Ende ergibt sich dann eine Erkenntnis über den Menschen, eine wissenschaftliche Erkenntnis in seinem individuellen und sozialen Verhalten.«1

Man wird genauer festhalten müssen, dass es sich um eine Art anschauliches Gedankenexperiment oder eben literarisches Experiment handelt. Zolas These vom Experimentalroman hat weitreichende Folgen gehabt, so bezieht sich z.B. Robert Musil auf diesen Begriff und baut seinen Mann ohne Eigenschaften nach dem Konzept des »Gedankenexperiments«.2 Es ist diese Technik Zolas, der sich zwei moderne gesellschaftsanalytische Experimentalromane der neueren französischen Literatur bedienen, nämlich Michel Houellebecq mit Unterwerfung (Soumission 2015) und Jean Raspail mit Das Heerlager der Heiligen (Le camp des Saints, zuerst 1973, jetzt 2015). Erst der überwältigende Erfolg von Houellebecqs Text hat dem – sehr viel wüsteren und grelleren – Roman von Jean Raspail zu einer neuen und erschreckenden Aktualität verholfen, denn einige Fachrezensenten hatten rasch erkannt, dass die gesellschaftsanalytische Grundfrage beider Romane darin bestand: Wie kam es zur weitgehend widerstandslosen Unterwerfung Frankreichs unter äußere Mächte und Gruppen? Dies ist ein französisches Trauma seit der Kapitulation vor Hitlers Truppen am 22. Juni 1940 im Wald von Compiègne. Wie konnte es passieren? Wo liegen die Ermöglichungsbedingungen und Ursachen? Wie weit waren Gesellschaftsstrukturen schuld, wie weit Persönlichkeitsmerkmale?3 Beide Romane interessieren mich an dieser Stelle nicht so sehr unter literaturwissenschaftlichen Aspekten einer Qualitätsbeurteilung, genannt »literarische Wertung«, und weniger noch einer vordergründigen politischen Bewertung, ob sie progressiv oder reaktionär, ob sie katholisch oder islamistisch, rassistisch oder antirassistisch, sexuell oder antisexuell seien. Mich interessiert vielmehr erstens die experimentalanalytische Versuchsanordnung, zweitens die Wirklichkeitsnähe der Durchführung des Gedankenexperiments und drittens die Qualität des verwendeten und zugrunde gelegten diagnostischen Materials. Wenn man zwei Werke wählt, wird es unvermeidlich sein, gelegentlich Vergleiche zwischen ihnen anzustellen. Aber auch dieser Aspekt würde hauptsächlich nur Literaturwissenschaftler interessieren und ist für mein Thema allenfalls von nachrangiger Bedeutung. Mich interessiert dagegen die Zerlegung beider Romane in zeitdiagnostische Gesamtstrukturen und Teilmodule mit der daran anschließenden Frage, ob die Stilform 1 | Zola, Émile: Der Experimentalroman, Hamburg 1959, S. 122-127, Zitat S. 123. Im Originaltext: »En somme, toute l’opération consiste à prendre des faits dans la nature, puis à étudier le mécanisme des faits, en agissant sur eux par les modifications des circonstances et des milieux, sans jamais s’écarter des lois de la nature. Au bout, il y a la connaissance de l’homme, la connaissance scientifique, dans son action individuelle et sociale« (Zola, Émile: Le roman expérimental, Paris 1905, S. 8). 2 | Musil, Robert: Tagebücher, Reinbek b. Hamburg 1976, S. 591; Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 631; vgl. auch Bunzel, Wolfgang: Nachwort zu Zola, Émile: Der Experimentalroman. Eine Studie, Erlangen 2014, S. 65-94, hier S. 75. Ähnlich Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, München/ Tübingen 1976. 3 | Vgl. Bloch, Marc: Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, Frankfurt a.M. 1992.

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

des Experimentalromans möglicherweise mehr Präzision, Deutungsintensität und Wahrnehmungstiefe erbringt als andere altsoziologische Diagnoseversuche.

1. D ie V ersuchsanordnung Die Versuchsanordnung lässt sich so beschreiben: Bei Houellebecq ist es die französische Präsidentschaftswahl im Jahre 2022. Um den Wahlsieg von Marine Le Pen zu verhindern, unterstützen die Sozialisten zusammen mit den Konservativen einen gemäßigten Islamisten, nämlich Mohamed Ben Abbes. Zugleich übernimmt Saudi-Arabien mit nahezu unbegrenzten Geldmitteln die Finanzierung der Sorbonne, an der Houellebecqs Protagonist Professor ist. Der Roman ist aus der Figurenperspektive des Literaturprofessors geschrieben und schildert die Reaktion der Politik, der Gesellschaft und vor allen Dingen typischer Intellektueller und Universitätsangehöriger auf diese Entwicklung. Im Experimentalroman von Jean Raspail spielt der Islam allenfalls am Rande eine Rolle. Es geht um eine massive Armutsmigration von einer Million Menschen, die sich aus Indien auf hundert Schiffen um das Kap der Guten Hoffnung herum und durch die Straße von Gibraltar auf die französische Mittelmeerküste zubewegt und an Ostern 2025 dort anlangt. Der alte Literaturprofessor, der am Anfang und Schluss des Romans eine Rolle spielt, bleibt letztlich doch eine der vielen Nebenfiguren. Raspail nutzt die steigende Spannung bei Annäherung der Flotte, um die Denkweise und Reaktionen der Medien, der Moderatoren, der Intellektuellen, der Journalisten und der führenden Politiker kenntnisreich und ziemlich stilsicher zu parodieren.4

2. D ie D urchführung des V ersuchs I – H ouellebecq Soweit die Versuchsanordnungen. Nun zur Durchführung. Houellebecq interessiert sich hauptsächlich für die Auswirkungen der politischen Prozesse auf seinen Protagonisten und dessen Umfeld. Die Benennung der Ursache für die Wahl eines »gemäßigt islamistischen« Präsidenten liegt in der Gegenwart: der eindeutigen Ausgrenzung des Front National aus dem politischen Konsens Frankreichs und der Einigkeit der übrigen Parteien, einer Präsidentschaft Marine Le Pens lieber einen Islamisten als das kleinere Übel vorziehen zu wollen. Es handelt sich also um eine Gegenwartsdiagnose des Frankreichs im Jahre 2015, ähnlich wie das in anderen politisch-literarischen Dystopien gehandhabt wurde, am prägnantesten in George Orwells 1984. Houellebecqs Protagonist, der Literaturwissenschaftler François, wird nach dem Ankauf der Sorbonne durch die Gelder Saudi-Arabiens mit einer ordentlichen Pension entlassen, denn an einer islamischen Universität können selbstverständlich keine Nichtmuslime lehren. François ist konstruiert als eine Art unschuldiger 4 | Den Hinweis auf Jean Raspail verdanke ich meinem Kollegen Udo Bermbach. Vgl. jetzt Bermbach, Udo: Vom Untergang des weißen und christlichen Abendlandes. Zur Dystopie des Jean Raspail, in: Amberger, Alexander/Möbius, Thomas (Hg.): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung, Wiesbaden 2017, S. 325-338.

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Tor, der sich für Politik nicht sonderlich interessiert, so dass ihm die politischen Informationen und Gerüchte durch besser informierte Zeitgenossen vermittelt werden, die teils Zugang zum universitären Flurfunk haben, teils über einen Geheimdiensthintergrund verfügen, weil die Medien nur opportune und besänftigende Mitteilungen verbreiten, die entscheidenden Informationen aber übergehen, um niemanden zu beunruhigen und keinen Ärger zu stiften. Romantechnisch ist dies gekonnt arrangiert und steht in einer großen literarischen Tradition. Der Höhepunkt des Romans, zugleich sein längstes Kapitel, ist das Gespräch mit Robert Rediger, dem neuen Präsidenten der Sorbonne. Rediger war zum Islam übergetreten und hatte ein Buch Zehn Fragen zum Islam geschrieben, das 128 Seiten lang war und zahlreiche Abbildungen enthielt. Es war bislang in drei Millionen Exemplaren erschienen. Rediger gibt sich alle Mühe, François die Vorzüge des Islam zu erklären. Rediger wohnt in einem historischen Stadtpalais in der Rue des Arènes Nr. 5, in dem einst Jean Paulhan gelebt hatte. François ist beeindruckt: »Meine Bewunderung für die finanziellen Mittel, die der neuen Universität von Saudi-Arabien zur Verfügung gestellt wurden, nahm stetig zu.«5 Schon als er im Eingangsraum des Palais auf Rediger wartet, öffnet sich offenbar nicht ganz zufällig eine Seitentür und er sieht kurz ein junges, etwa fünfzehnjähriges Mädchen, von dem Rediger kurz darauf sagt, dies sei Aicha, seine neue Ehefrau. Wie immer bei Houellebecq ist der Name als Bezeichnung gewählt, denn Aicha war die dritte (von zehn) und jüngste Frau des Propheten Mohammed. Mit dieser kleinen Inszenierung hat der kluge Rektor den Kern der Persönlichkeit seines Gastes getroffen: sein erotisches Verlangen nach jungen Partnerinnen. Und er bietet ihm auch sogleich zu seiner Verblüffung guten Wein an – weil man doch gehört hatte, der Islam verurteile den Alkoholgenuss. Mehr noch: Rediger lobt die Dissertation seines Gastes über Joris-Karl Huysmans oder das Ende des Tunnels in den höchsten Tönen, indem er sie mit Nietzsches Geburt der Tragödie vergleicht. Durch die Avancen des Universitätspräsidenten fühlt François sich gebraucht, geradezu begehrt: die Alternative wäre für einen so stark zur Depressivität neigenden Charakter wie ihn, »unglücklich und allein zu sterben«.6 Die mephistophelische Verführungsszene kulminiert in Redigers einfachem »Ja« auf die zögernde Frage von François: »Denken Sie … denken Sie, dass ich jemand bin, der zum Islam konvertieren könnte?« 7 Rediger legt ihm auch offen, dass er selbst früher zunächst mit der Identitären Bewegung sympathisiert habe, auch wenn er für sich betont, niemals Rassist oder Faschist gewesen zu sein. Und er legt dar, dass er vom Denken Arnold Toynbees geprägt war, »von seiner Idee, dass der Zusammenbruch einer Kultur nicht durch einen militärischen Angriff von außen verursacht wird, sondern dadurch, dass sie an sich selbst zugrunde geht.«8 Diese Selbstaufgabe und diesen Selbsthass westlicher Kultur, ganz ebenso das Kernthema bei Jean Raspail, spiegelt Houellebecq in seine Romanfigur: depressiv, religiös wie erotisch suchend, aber unbefriedigt, berufsüberdrüssig, jedoch noch nicht ganz lebensüberdrüssig. Am Ende des Gesprächs kommt Rediger auf die Vorbewohner seines Hauses zurück, auf Jean Paulhan und dessen Geliebte Dominique Aury, die dort die Geschich5 | Houellebecq, Michel: Unterwerfung, Köln 2015, S. 216. 6 | Ebd., S. 223. 7 | Ebd. 8 | Ebd., S. 228.

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

te der O geschrieben hatte. In einem ultimativen Verführungsakt wird der Begriff der Unterwerfung zur kulminativen Klammer: »Das ist ein Gedanke, bei dem ich zögere, ihn meinen Glaubensbrüdern ohne Weiteres darzulegen, die ihn möglicherweise für blasphemisch halten könnten. Aber für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, wie sie in Geschichte der O beschrieben wird, und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt.« 9

Solche Argumente, ob inszeniert oder nicht, haben für François eine große Überzeugungskraft. Ein weiterer interessanter zeitdiagnostischer Aspekt in Houellebecqs Unterwerfung ist seine Behandlung der terroristischen Gewalt. Nach dem gängigen Verständnis philosophischer wie sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen ist der Terror ein prägender Aspekt gegenwärtiger sozialer Realität. Am schärfsten hat das vor kurzem Peter Sloterdijk auf den Punkt gebracht. Die Unterwerfung und die Aufgabe der Souveränität hat er in einer Art von kernigem militaristischen Realismus als Außerkraftsetzung des fünften Gebots analysiert. Europa sei im Wesentlichen »eine Koalition von pazifistischen Freizeitpopulationen, die sich unter dem Klubnamen EU zur Optimierung ihrer Konsumansprüche zusammengeschlossen haben.« Daraus folgt »die fast protestfreie Unterwerfung des tötungsunwilligen Vasallen unter das Diktat des tötungsfähigen Souveräns.«10 Tötungsbereitschaft und Tötungswille machen für ihn den entscheidenden Unterschied aus. Houellebecq unterläuft das in Unterwerfung. An zwei Stellen in seinem Roman spielt dies eine Rolle: Im Verlauf des Cocktailempfangs bei dem Rechtsintellektuellen Lempereur hört man ein fortgesetztes Knallen, danach kommt es zu einer Diskussion mit diesem als ernsthaft und verführerisch beschriebenen Reaktionär, der die Vorbereitung eines Bürgerkriegs ankündigt, für Frankreich diesbezüglich allerdings einschränkt, dass es dort nur wenige waffenbegeisterte Aktivisten geben werde – anders vielleicht als in den skandinavischen Ländern: »Die Multikulti-Ideologie ist in Skandinavien um einiges erdrückender als in Frankreich, es gibt zahlreiche kampferprobte, militante Identitäre, auf der anderen Seite ist die Armee unbedeutend, sie wäre vermutlich nicht in der Lage, einem ernsthaften Aufstand etwas entgegenzusetzen. Wenn es in nächster Zeit irgendwo in Europa einen großen Aufstand gibt, dann also vielleicht in Norwegen oder Dänemark. Auch Belgien und Holland sind potenziell instabil.«11 Die zweite Stelle, an der Gewalt eine Rolle spielt, ist die Abreise von François am Tag der Präsidentschaftswahl. An der Raststätte Pech-Montat findet er zersprungene Ladenfenster und mehrere Tote. Im Autoradio hört man nur ein undeutliches Rauschen, später am Abend, als er in seinem ländlichen Ausweichquartier angekommen ist, berichtet das Fernsehen über diese Vorfälle, die wie in Paris auch an vielen Stellen in Frankreich vorgekommen waren. Offenbar waren einige Wahllokale gestürmt und die Urnen entwendet worden. Die Erklärung liefert kurz darauf 9 | Ebd., S. 234. 10 | Sloterdijk, Peter: Digitaler Kolonialismus, in: Milev, Yana (Hg.): Europa im freien Fall. Orientierung in einem neuen Kalten Krieg, Wien/Berlin 2016, S. 37-46, hier S. 42-44. 11 | M. Houellebecq: Unterwerfung, S. 63.

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der Geheimdienstmitarbeiter Tanneur: »Sowohl die europäischen Identitären als auch die Dschihadisten sind bis vor ein paar Tagen noch davon ausgegangen, dass die jeweils anderen bei den Wahlen siegen würden und ihnen nichts anderes übrig bliebe, als die Wahlen zu torpedieren.«12 In den Tagen danach findet zur Vorbereitung der Stichwahl die Einigung der Muslimbruderschaft mit den Bürgerlichen und den Sozialisten statt, die sich auf den Kandidaten Mohammed Ben Abbes verständigen, der sich seinerseits verpflichtet, François Bayrou zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Die Machtergreifung wird also auf friedlichem Weg, mittels der Wahlen stattfinden. Der Terror von identitärer wie dschihadistischer Seite ist nicht bedeutungslos, er schafft das Klima, in dem die einst führenden Parteien sich hinter den von ihnen als gemäßigt empfundenen Kandidaten der Muslimbruderschaft stellen.

3. D ie D urchführung des V ersuchs II – R aspail Die Beschreibung der Geschehnisse an Bord der Schiffe in Jean Raspails Heerlager der Heiligen dagegen folgt einer antihumanistischen Ästhetik des Grauens und des Ekels, die stark von rassistischen Antipathien durchzogen ist. Eine solche Ästhetik steht durchaus in der Tradition des modernen Theaters und Romans, von Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht, Joseph Conrads Herz der Finsternis, den Arbeiten Jean Genets oder George Batailles Das obszöne Werk mit den permanent herausgeschnittenen Augen über Franz Kafkas Die Verwandlung bis hin zu den Romanen und Theaterstücken von Hanns Henny Jahnn, Hubert Fichte und Elfriede Jelinek, nicht zu vergessen die Morgue-Gedichte von Gottfried Benn.13 Rechte wie Linke, politische wie vollkommen unpolitische Autoren operieren mit diesem starken Stilmittel. Es handelt sich aber immer um eine Literatur der Extreme und der Grenzüberschreitung. Adorno spricht in der »Ästhetischen Theorie« etwas herablassend vom »Penchant der neuen Kunst für das Ekelhafte und physisch Widerliche«,14 scheint aber die sozialanklägerische Funktion des sozial Hässlichen durchaus in Rechnung zu stellen. Ekel zum Zweck der Aufklärung wäre auf diese Weise gerechtfertigt. Beim Ästhetiker bleibt allerdings eine Distanz, denn das unmittelbare Gefühl der Zurückweisung dessen, was man als ekelhaft empfindet, kann sich ja auf alles richten: auf die diversen ekelerregenden Krankheiten wie beim Arzt Gottfried Benn, auf Aussehen, Geruch und Andersartigkeit im rassistischen Verständnis, auf Erscheinungsformen der Armut (Baudelaires »Verprügelt die Bettler«) etc. Eine politische Bewertung hätte also immer danach zu fragen, wogegen sich die Repellenz richtet, auf welcher Art von Gefühlen sie beruht und zu welchem Zweck sie eingesetzt wird.

12 | Ebd., S. 123. 13 | Vgl. zu einigen Teilaspekten dieser breiten Literatur: Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1983. 14 | Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1997, Bd. 7, S. 79f.

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

Bei Raspail liegt die Ursache für den Zusammenbruch des französischen Grenzregimes und damit den Zusammenbruch der wohl stolzesten europäischen Staatlichkeit in der humanitären Wehrlosigkeit selbst von Polizei und Militär gegenüber den Armutsflüchtlingen und, ausgeprägter noch, in der Mischung eines wohlwollenden und weltoffenen Humanitarismus mit einer gegen die eigenen westlichen Gesellschaften gerichteten gezielten Propaganda von Medienvertretern, die gerne auch ihrem persönlichen Hass auf den Westen freien Lauf lassen, damit aber auf weitverbreitete Zustimmung stoßen.15 Natürlich werden die Journalisten des radical chic, als sie auf dem Weg sind, die Flüchtlinge willkommen zu heißen, von einer Gruppe französischer Krimineller vergewaltigt und umgebracht, die durch die entstehende Anarchie aus dem Gefängnis flüchten und eine eigene Kampfgruppe der gesellschaftlich Ausgestoßenen bilden konnten. Über die humanitäre Willkommenskultur des Papstes und der übrigen christlichen Konfessionen macht Raspail sich auf besonders satirische Weise lustig. »Die Nächstenliebe ist eine sehr bequeme Waffe, wenn man versteht, sie selektiv zu verwenden. Nie sah man das Flugzeug der Pastoren aufkreuzen, wenn es um unpolitische Nebensachen ging, wie etwa ein Erdbeben in der Türkei oder eine Überschwemmung in Tunesien. Aber wenn die Versorgung von Palästinenserlagern, südamerikanischen Rebellen oder der Befreiungsheere der Bantus auf dem Programm stand, waren sie natürlich sofort zur Stelle. Mehr noch als der Stimme des Notleidens folgten sie der ebenso mächtigen Stimme des Hasses. Und wenn die Mehrzahl der Pastoren ihren Lebensmittelpaketen schon lange keine Evangelien mehr beilegte, so tat das nichts zur Sache. Sie lebten ja nach ihrem eigenen Evangelium.«16

Die satirischen Beschreibungen von Fernsehauftritten propagandistisch missionierender Moderatoren und Talkshowvirtuosen gehören zu den gekonntesten und entspanntesten Passagen in Raspails Roman, auch wenn er auf radikale Wertungen keineswegs verzichtet. Ein Beispiel ist sein Porträt des Fernsehreporters Durfort: »Hören wir uns zunächst die ersten falschen Töne des großen humanitären Karnevals an. […] Durfort war kein schlechter Mensch. Er war ständig dabei, die Welt vor irgendeinem Übel zu retten. Er hetzte von Ungerechtigkeit zu Ungerechtigkeit und hatte kaum Zeit, zwischen zwei Einsätzen das Pferd zu wechseln. Atemlos erschien er auf einer Bühne nach der anderen, um wieder einmal einem Unterdrückten beizustehen oder einen Skandal aufzudecken. Er war ein Zorro des Mikrophons. Das Publikum liebte ihn. […] Lustigerweise galt ausgerechnet er als Inbegriff des kritischen, unbequemen Freigeists. Er wäre ehrlich verblüfft gewesen, hätte man ihm gesagt, daß er nichts weiter als ein stromlinienförmiger Konformist war, der sich gehorsam vor allen Tabus niederwarf, die der intellektuelle Terrorismus der letzten dreißig Jahre befestigt hatte.«17

Einem weiteren agitatorischen Journalisten namens Clément Dio mit nordafrikanischer Herkunft wird der Rassismusvorwurf gemacht:

15 | Raspail, Jean: Das Heerlager der Heiligen, Schnellroda 2 2015 (urspr. 1973). 16 | Ebd., S. 180f. 17 | Ebd., S. 101.

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Walter Reese-Schäfer »Seine intellektuelle Angriffslust nährte sich von einem pathologischen Rassenhaß, von dessen leidenschaftlicher Intensität sich nur wenige Menschen eine Vorstellung machen konnten. […] Seine ›Weltoffenheit‹ bedeutete nichts weiter, als daß er den traditionellen abendländischen Menschen haßte, besonders, wenn er französischer Nationalität war.«18

Als die Flotte der eine Million Armutsflüchtlinge schließlich an der französischen Mittelmeerküste landet, haben die zur Abwehr entsandten Truppen sich längst aufgelöst und die meisten Bürger sind geflüchtet, so dass sich die Landnahme sehr rasch vollziehen kann und schließlich, wenn auch mit einigen Monaten Verspätung, auch die Schweiz erreicht, in die der fiktive Autor der Dystopie sich zurückgezogen hatte: »Das Münchner Abkommen wiederholte sich. Die Schweiz konnte nicht mehr ausweichen. Sie mußte nachgeben. Heute hat sie unterzeichnet. Heute Nacht um 0 Uhr wird sie ihre Grenzen öffnen.«19 In seinem Vorwort zur französischen Neuausgabe von Das Heerlager der Heiligen aus dem Jahr 2011 hat Raspail den dystopischen Charakter seines Romans noch stärker herausgearbeitet und den post-orwellianischen Begriff des Big Other, der politischen Korrektheit der öffentlichen Meinungsmache herausgestellt. Minister, Abgeordnete oder Kommunalpolitiker würden im persönlichen Gespräch klare und illusionslose Worte verwenden, gelegentlich auch sogar die Bereitschaft äußern, aus Abwehrgründen selbst auf Unbewaffnete zu schießen. Im Roman selbst wird das an verschiedenen Kabinettsberatungen und insbesondere an den Worten des französischen Präsidenten vorgeführt. In der Öffentlichkeit hingegen sei der Auftritt genau umgekehrt. »Sollten sie es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und sich gegen die Meute der Medienmacher, Show-Biz-Leute, Künstler, Menschenrechtler, Akademiker, Soziologen, Lehrerschaften, Literaten, PR-Profis, Juristen, Linkschristen, Bischöfe, Wissenschaftler, Psychologen, Radikalhumanitären, Politiker, Vereine, Genossenschaften und was-weiß-ich zu stellen, würden sie in derselben Minute ihr soziales Todesurteil unterschreiben. Denn im anderen Lager steht ihnen eine furchtbare Phalanx gegenüber, die zwar der Brust unserer eigenen Nation entsprungen ist, die sich aber nichtsdestoweniger mit Haut und Haar in den freiwilligen Dienst des Anderen gestellt hat: des Big Other.« 20

Anders als bei Houellebecq handelt es sich bei Raspail um eine reine Armutsmigration – in dem Buch aus dem Jahre 1973 spielt der Islam nur am Rande eine Rolle. Es wäre unter zeitdiagnostischen Gesichtspunkten zu diskutieren, ob religiöse Elemente auch bei den heutigen Wanderungsbewegungen wirklich eine tragende Rolle spielen. Die übrigen Momente und Topoi der heutigen Diskussion, die Verzweiflung der Flüchtlinge, die Bootsuntergänge, die Willkommensprojekte,21 die Propaganda der Medien, die heute von rechts mit dem Begriff »Lügenpresse« charakterisiert wird und schließlich die Phantasien über gesetzlosen, bewaffneten Widerstand gegen Unbewaffnete, auch die Debatte um Rassismus und Gegenrassismus, also den grundlegenden Hass im Verlauf der Bewegung sind alles aus18 | Ebd., S. 88f. 19 | Ebd., S. 414. 20 | Raspail, Jean: Der letzte Franzose, Schnellroda 2014, S. 42 (kursiv im Orig.). 21 | J. Raspail: Das Heerlager der Heiligen, S. 263.

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

führlich in Rede und Gegenrede kommentierte Kernelemente gerade auch heutiger Aktualität. Die literarische Technik ist die der Allegorie. »Was sich im Roman innerhalb von 24 Stunden abspielt, entspricht in der Wirklichkeit einer kontinuierlichen Überflutung, die sich über Jahrzehnte hinweg erstreckt«.22 Bei Raspail steht am Ende des Romans der aussichtlose Widerstand einiger weniger, die sich auf eine Anhöhe zurückgezogen haben und ihrerseits ziemlich sinnlose Morde an unbewaffneten Migranten begehen. »Echter Widerstand wird immer mit Blutvergießen quittiert, aber niemand ist mehr bereit, diesen Preis zu zahlen.«23 Die wenigen Widerständler werden schließlich durch einen von der französischen Regierung angeordneten Luftangriff ausgeschaltet. Der Titel des Romans greift auf die Apokalypse des Johannes im Neuen Testament zurück, in der Übersetzung Martin Luthers lautet die einschlägige Stelle: »Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie« (Apk 20, 9). Die literarische Qualität des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass er bei aller Parteilichkeit des Autors doch einen im Kern tragischen Konflikt exponiert und diesen in einer an vielen Stellen biblischen Sprache elaboriert. Das Problem einer Million extrem armer, schwacher und hungernder Einwanderer gegen einen müden und überernährten Westen sieht er als Konflikt zwischen der Tatsache, dass die Öffnung für diese Einwanderung exakt diese westliche Lebensweise zerstören würde und der Tatsache, dass die Abwehr und Zurückweisung der Einwanderer diese umbringen müsste. Dagegen erlauben die gegenwärtigen moralischen Standards des Westens keine Gegenwehr, und jeder Versuch einer Regierung, Waffengewalt einzusetzen, wird abbröckeln und scheitern, weil niemand solche unmenschlichen Befehle auszuführen bereit wäre, selbst wenn, wie es im Roman durchbuchstabiert wird, der Präsident und einige wenige hohe Offiziere diesen Befehl zu erteilen bereit sind. Das ist das Gedankenexperiment dieses Romans, das ihm seine zeitdiagnostische Tiefe gibt. Die vielen anschaulichen Schilderungen der Debatten in der Medienwelt geben das Kolorit. Wenn man bedenkt, dass dieses Buch 1973 in der ersten Fassung geschrieben wurde, sind die Schilderungen aus dieser Welt weiterhin erstaunlich aktuell und unserer Realität auf eine irritierende Weise nahe. Raspails Roman hat sich als Longseller entwickelt. Ursprünglich hatte der Verlag Robert Laffont im Jahre 1973 20.000 Exemplare gedruckt, im Laufe der Jahre bis 1975 dann aber bis zu 40.000. In den Folgejahren wurden immer ungefähr 5000 Exemplare pro Jahr verkauft. 1975 erfolgte eine Übersetzung bei Charles Scribner ins Englische, die nach der gesprächsweisen Empfehlung des damaligen französischen Geheimdienstchefs auch in die Hände Ronald Reagans gelangte.24 In seinem Clash of Civilizations hat Samuel Huntington diesen Roman dann als ein Dokument des demographischen Pessimismus zitiert und Jean Raspail dadurch eine Premium-Rezeption geboten.25 Mindestens ebenso einflussreich war ein sehr langer Artikel im Atlantic Monthly vom Dezember 1994: Must it be the Rest Against

22 | J. Raspail: Der letzte Franzose, S. 30. 23 | J. Raspail: Das Heerlager der Heiligen, S. 85. 24 | Dupuis, Jérome: Jean Raspail repart en croisade, in: L’Express, 16.4.2011, S. 112. 25 | Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, S. 203f. (in der dt. Übers. S. 326).

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the West? von Matthew Connelly und Paul Kennedy. Sie kommen zu dem sarkastischen Schluss: »It will take more than talk to prove the prophet wrong.«26

4. F a zit Die beiden hier behandelten Zeitdiagnosen sind sogenannte Dystopien, also utopische Texte, die keine schöne, sondern eine fürchterliche Zukunft ausmalen. Utopien wie Dystopien, das hat der Utopieforscher Richard Saage gezeigt, nehmen ihren Ausgangspunkt immer von einer kritischen Zeitdiagnostik.27 Der negative Normativismus der Dystopik verkörpert eine Ästhetik des Schreckens, des Warnens. Die literarische Form, jedenfalls wenn sie so souverän und gekonnt wie im Falle Houellebecqs angewendet wird, ermöglicht eine sehr viel anschaulichere Ausmalung der optionalen Zukunft, denn was im wissenschaftlichen Text Szenario und Spekulation sein müsste, wird hier zur Realoption, in die sich die Leser auch über einen so wenig sympathischen Protagonisten wie François einfühlen können. Die literarische Richtung, die ich hier von der Durchführung her als Experimentalroman gekennzeichnet habe, wird in der literarischen Diskussion gerne auch durch die vorherrschende Stimmung charakterisiert und deshalb markant déprimisme genannt.28 Houellebecqs Roman hat einen deutlich islamkritischen Hintergrund, vor dem der Opportunismus des Protagonisten und seiner Kollegen in der Wissenschaft sich umso deutlicher abzeichnet. Wie lässt sich der Perspektivpunkt Houellebecqs verstehen? In seinem Briefwechsel mit Bernard-Henri Lévy stellt er fest: »Und wenn wir auch als Intellektuelle nicht immer ganz auf der Höhe sind, so haben wir doch das vielleicht einzige Thema angesprochen, zu dem wir unseren Zeitgenossen etwas Erhellendes sagen könnten: Sind wir uns doch beide bewußt, dass die derzeitige Rückkehr des Religiösen über Eigenschaften verfügt, die in etwa so sympathisch wirken wie die des unglaublichen Hulk.« 29

Anders als die meisten aktuellen französischen Philosophen distanziert Houellebecq sich sehr deutlich von Nietzsches radikalem Atheismus: »Keinerlei dionysisches Gelächter, das ein wenig Heiterkeit in die Situation bringen könnte; die Philosophie Nietzsches kommt mir heute vor wie eine unnötige Provokation, ein

26 | Connelly, Matthew/Kennedy, Paul: Must it be the rest against the west?, in: The Atlantic Monthly, December 1994, Nr. 274, S. 61-84, hier S. 84. 27 | Dazu Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, S. 5-7, 16-24, 78-92, 152-164, 236-242, 302-312. 28 | So bei Dilmac, Betül: Houellebecq’s Fin de Siècle: Crisis or Society, Crisis of the Novel – Thematic and Poetological Intertextuality between Michel Houellebecq and Joris-Karl Huysmans, in: Landgraf, Dieme (Hg.): Decadence in Literature and Intellectual Debate since 1945, New York 2014, S. 153-170, hier S. 153. 29 | Houellebecq, Michel/Lévy, Bernard-Henri: Volksfeinde. Ein Schlagabtausch, Köln 2016 (urspr. 2008), S. 166 (Kursiv im Orig.).

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

schlechter Scherz.«30 Stattdessen bekennt er sich zu einer massiven philosophischen Verunsicherung. »Ich fasse also zusammen. Die Menschenrechte, die Würde des Menschen, die Grundlagen der Politik, von alledem lasse ich die Finger, ich verfüge über keinerlei theoretische Munition, nichts, was es mir ermöglichte, solche Ansprüche einzulösen. Bleibt die Ethik – und hier, ja, hier gibt es etwas. Eine einzige Sache nur, klar herausgearbeitet von Schopenhauer: das Mitleid. Aus guten Gründen von Schopenhauer gepriesen, aus guten Gründen von Nietzsche als Quelle aller Moral geschmäht. Ich habe mich bekanntlich auf die Seite von Schopenhauer geschlagen.« 31

Mit den Morddrohungen gegen Ayaan Hirsi Ali hat Houellebecq sich in einem Brief an Bernard-Henri Lévy vom 20. Februar 2008 sehr gründlich befasst. Er schreibt: »Konkret stellt sich die Frage, wohin flüchten?«32 Denn die Freiheit brauche keine Märtyrer, die französische Polizei sei kaum in der Lage, jemanden wirklich zu schützen. Nicht einmal den Israelis gelinge dies immer. Die Engländer hätten inzwischen eine gewisse Erfahrung. »Die große Mehrheit der Einwanderer islamischer Herkunft, die in Westeuropa leben, sind friedliebende Menschen. Allerdings besteht eben auch nur in einem solchen Land, in dem die islamische Gemeinschaft einen so signifikanten Teil der Gesellschaft ausmacht, die Aussicht darauf, genügend Schurken zu rekrutieren, um einen dann auch erfolgreichen Mordanschlag auf jemanden zu planen, der durchaus misstrauisch ist. […] Folgendes würde ich ganz konkret an Ihrer Stelle tun: Ich würde in ein Land ziehen, in dem es nur wenige Moslems gibt, vielleicht nach Prag oder nach Warschau.« 33

Diese Botschaft ist eindeutig: Ausweichen aus den Einwanderungsgesellschaften im Falle einer Morddrohung. Houellebecqs Protagonist passt sich schließlich an und tritt zum Islam über. Wie ist die zeitdiagnostische Prägnanz dieser beiden Bücher einzuschätzen? Weil sie literarische Texte sind, werden sie den meisten Sozialwissenschaftlern suspekt erscheinen, denn diese präferieren die Textsorte des möglichst unverständlich geschriebenen Fachaufsatzes. Darüber hinaus sind beide keineswegs wertfrei, sondern im Falle Houellebecqs ironisch zurückhaltend, aber dennoch deutlich, bei Raspail mehr als deutlich wertend. In einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich in seinem großen Werk zur Statistik der sozialen Ungleichheit, hat der französische Ökonom Thomas Piketty die kaum zu überschätzende Bedeutung literarischer Quellen hervorgehoben. Er erwähnt für die Vermögensverteilung im 19. Jahrhundert vor allem die Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac: »Die beiden Romanschriftsteller kennen sich in der ihre Gesellschaft prägenden Vermögenshierarchie sehr gut aus. Sie spüren ihren verborgenen Grenzen nach und wissen um die 30 | Ebd., S. 169 (kursiv im Orig.). 31 | Ebd., S. 173 (kursiv im Orig.). 32 | Ebd., S. 40. 33 | Ebd., S. 40f.

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Walter Reese-Schäfer unerbittlichen Folgen für das Leben dieser Männer und Frauen, um ihre Bündnisstrategien, ihre Hoffnungen und ihr Unglück. Sie beschreiben die Auswirkungen mit einer Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit, die keine Statistik und keine wissenschaftliche Analyse zu bieten vermag.« 34

Die Hochachtung des berühmtesten Wirtschaftsstatistikers der Gegenwart für die soziologische Qualität bestimmter literarischer Texte hat mich angeregt, diesem Gedanken etwas tiefer auf den Grund zu gehen. Literatur hat der Migrationssoziologie voraus, klar und ohne zwischengeschaltete ideologische wie methodologische Filter Erkenntnismöglichkeiten experimentell ausbuchstabieren zu können. Dabei steht sie immer auch in der Gefahr, durch die narrativ-rhetorische Dichte ihrer Darstellung nicht nur stellenweise über die Wahrheitsmöglichkeiten der Realität hinauszuschießen. Gottfried Benn hat das in einem seiner wichtigsten Essays so auf den Punkt gebracht: »Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz. Wahrheit muß nachgeprüft werden.«35 Gerade die Dichte der apokalyptischen Bilder mit all den Schrecknissen, wie man sie sonst nur aus der Malerei von Hieronymus Bosch kennt, impliziert eben auch die kalkulierte Verführung mittels einer scheinbaren Evidenz, die über das Reale weit hinausschießt und deshalb die tiefsten Urängste der Leser mobilisiert. Jean Raspail hat mit dem Heerlager der Heiligen ein 1984 von rechts geschrieben und das Big Other an die Stelle von George Orwells Big Brother gesetzt. Vor allem der lastende Stimmungs- und Meinungsdruck in den aktuellen Einwanderungsgesellschaften wird in einer so nachdrücklichen Weise anschaulich gemacht, wie dies keiner sozialwissenschaftlichen oder medienwissenschaftlichen Analyse von öffentlicher Meinungsmanipulation möglich gewesen wäre. Nun könnte man einwenden, dass bestimmte literarische Texte wie die beiden hier kurz vorgestellten selber eine Art »soziologischen Blick« aufweisen. Es werden verschiedene Persönlichkeitstypen und gesellschaftliche Sphären (Universitätssystem, Fernsehen, Geheimdienstmilieu, Gefangene, Militär, politische Führungsebene) in ihren unterschiedlichen Reaktionsformen strukturell analysiert. Was beide literarischen Texte aber vielen typischen wissenschaftlichen Studien voraushaben, ist die Entfaltung einer durchaus auch soziologischen Phantasie, die es ihnen ermöglicht, diese Personen und Strukturen unter einen massiven experimentellen Druck zu setzen durch die Konstruktion von gegenwartsverankerten Szenarien der näheren und nächsten denkbaren Zukunft. Anders als in rein imaginativen literarischen Werken, in denen Autorinnen und Autoren sich mehr oder weniger interessante Geschichten ausdenken und damit hoffen, ein Publikum zu interessieren, handelt es sich hier um die strukturlogisch gedachte und dadurch beinahe zwingend erscheinende Verlängerung von aktuellen Gegenwartstendenzen in ihre projektive Fortsetzung. Das würde in der akademischen Soziologie als unwissenschaftlich angesehen werden, ganz abgesehen von den politisch-ideologischen Restriktionen, denen die heutige Migrationssoziologie durch ihre Geldgeberinstitutionen ausgesetzt ist. Die soziologische Imagination, die C. Wright Mills einst einforderte, scheint also tatsächlich in eine ganz bestimmte Literatur34 | Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2015, S. 14. 35 | Benn, Gottfried: Essays. Reden. Vorträge. Gesammelte Werke in vier Bänden, Stuttgart 7 1989, Bd. 1, S. 292.

Michel Houellebecqs »Unter wer fung« und Jean Raspails »Das Heerlager der Heiligen«

form ausgewandert zu sein, die ihre Vorläufer und Vorbilder in der Tat in einer Balzac-Zola’schen Wirklichkeitsliteratur findet. Weitet man den Blick über die hier behandelten Texte hinaus, könnte man – ebenfalls in der französischen Literatur – auch in den Werken zum Beispiel von Yasmina Reza ganz ähnliche zugespitzte menschliche Experimentalsituationen auffinden.

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VI. Medialität und Formenwandel des Diagnostischen

Wissenschaftsopern Gegenwartsdiagnosen zwischen Kunst, Wissenschaft, Ethik und Gender Anna Langenbruch

»[I]ch wollte doch kein biographisches Stück schreiben«, sagt Paul Dessau über seine 1974 in Berlin uraufgeführte Oper Einstein, »sondern ein Zeitstück über die Entwicklung unseres technischen Zeitalters, in dem dieser große Mann eingebettet steht mit anderen Physikern und Begebenheiten um ihn herum, wie etwa der zweite Weltkrieg, Hiroshima und die erste Bombe«.1 Dessau beschreibt seine Wissenschaftsoper als historisch motivierte Gegenwartsdiagnose und ordnet sich damit in eine Tradition des zeitkritischen Wissenschaftstheaters ein, die im deutschsprachigen Raum etwa mit Brechts Leben des Galilei, Dürrenmatts Die Physiker oder Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer verbunden ist. Gleichzeitig verweist er möglicherweise auch auf das musikalische Genre der ›Zeitoper‹,2 ein Sammelbegriff für Opern, die ab den 1920er Jahren verstärkt die Gegenwartsgesellschaft mittels technischer und alltagskultureller Requisiten oder populärer musikalischer Stile auf die Bühne brachten.3 Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen und Figuren im Musiktheater lässt sich jedoch wesentlich weiter, nämlich im Prinzip bis zur frühen Oper im 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Inwiefern lassen sich Wissenschaftsopern als gesellschaftliche Selbstproblematisierung deuten? In welchem Verhältnis stehen dabei Geschichte und Gegenwart(sdiagnostik)? Was verrät uns das Musiktheater über mediale und materiale Gestalten des Diagnostischen? Und wie werden künstlerische Gegenwartsdiagnosen erlebt? Im Zentrum meiner Überlegungen werden vier zeitgenössische Opern über NaturwissenschaftlerInnen stehen, die sämtlich eine historische Figur in den Mittelpunkt stellen. Neben der bereits erwähnten Oper von Paul Dessau über Albert 1 | Dessau, Paul: Aus Gesprächen, Leipzig 1974, hier S. 85. 2 | So interpretiert es etwa Arnold Jacobshagen in: Jacobshagen, Arnold: Montage – Zyklus – Klangsymbol. Einstein-Kompositionen von Paul Dessau, Philip Glass und Dirk D’Ase, in: Rentsch, Ivana/Gerhard, Anselm (Hg.): Musizieren, Lieben – und Maulhalten! Albert Einsteins Beziehungen zur Musik, Basel 2006, S. 113-133, hier S. 116ff. 3 | Zur Zeitoper vgl. grundlegend das Kapitel »Zeitoper als populäres Medium des Musiktheaters«, in: Grosch, Nils: Die Musik der Neuen Sachlichkeit, Stuttgart 1999.

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Einstein (1879-1955) sind dies die 2010 in Lyon uraufgeführte Oper Émilie der finnischen Komponistin Kaija Saariaho über die Mathematikerin und Physikerin Émilie du Châtelet (1706-1749), die Oper Madame Curie (Paris, 2011) der polnischen Komponistin Elzbieta Sikora über die Physikerin und Chemikerin Marie Skłodowska Curie (1867-1934) und die Oper Doctor Atomic (San Francisco, 2005) des amerikanischen Komponisten John Adams über den Physiker J. Robert Oppenheimer (19041967). Ich werde mich dabei nach einigen einleitenden Gedanken zum Gegenstand sowie zum Diagnose-Begriff vornehmlich auf zwei zeitdiagnostische Felder konzentrieren: Wissenschaft und Ethik sowie Wissenschaft und Geschlecht. Dabei geht es mir letztlich darum, die Möglichkeiten und Grenzen der Oper als ästhetischer Handlungs- und Erfahrungsraum von Gegenwartsdiagnosen auszuloten. Entsprechend habe ich die oben beschriebenen Opern ausgewählt: Während im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Stücke von Adams, Dessau und Sikora die ethische Verantwortung von WissenschaftlerInnen steht (u.a. unter dem Stichwort ›Atomzeitalter‹), wird anhand von Saariahos und Sikoras Opern über Wissenschaftlerinnen vielfach das Verhältnis von Wissenschaft und Geschlecht problematisiert.

1. W issenschaf t im M usik the ater : Z um G egenstand Die hier betrachteten vier zeitgenössischen Opern sind nur ein winziger Ausschnitt aus einem nicht nur thematisch, sondern auch historisch und stilistisch vielfältigen Repertoire aus über 700 Opern, Operetten, Musicals, Schauspielen mit Musik sowie Oratorien oder Balletten, die sich im Zeitraum zwischen 1670 und 2015 mit den Wissenschaften auseinandersetzen:4 Schon im 17. Jahrhundert ist das Musiktheater fasziniert von wissenschaftlichen Themen. Dabei dominieren zunächst Philosophie, Theologie und Rhetorik. Ab etwa Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt das musikalische Interesse an Medizin, Pharmazie, Chemie und Alchemie zu, um die Wende zum 19. Jahrhundert folgen vermehrt Astronomie, Technik, Erfindungen und Entdeckungen. Im 20. und 21. Jahrhundert schließlich treffen wir im Musiktheater auf ein ausdifferenziertes Wissenschaftssystem, es werden z.B. zunehmend auch Physik oder Mathematik thematisiert, ohne dass ältere Themen dabei aus dem Repertoire verschwänden. Wissenschaftsopern5 beschäftigen sich schon im 17. Jahrhundert mit historischen PhilosophInnen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit (z.B. Demokrit, Epikur, Aspasia, aber auch Augustinus, Thomas von Aquin oder Thomas Morus). Als ersten neuzeitlichen Naturwissenschaftler im Musiktheater konnte ich bisher den Astronomen Tycho Brahe nachweisen (im 4 | Anders als etwa die Forschung zu den sogenannten science plays (vgl. dazu Shepherd-Barr, Kirsten: Science on stage. From Doctor Faustus to Copenhagen, Princeton 2006), lege ich hier einen offenen Wissenschaftsbegriff zugrunde, der die heutigen Kulturund Geisteswissenschaften genauso berücksichtigt wie die Natur- und Lebenswissenschaften und zudem sensibel ist für die Historizität dessen, was zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unter Wissenschaft verstanden wurde. Für die Mitarbeit bei der Recherche des entsprechenden Musiktheaterrepertoires danke ich Nora Hilsberg. 5 | Vereinfachend spreche ich im Textverlauf von ›Wissenschaftsopern‹. Die oben beschriebene Genrevielfalt ist dabei jedoch stets mitgedacht.

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Singspiel Tycho Brahes Spaadom [Tycho Brahes Prophezeiung] von Johan Ludvig Heiberg mit Musik von Claus Nielsen Schall, 1819).6 Über die longue durée lässt sich also am Musiktheater z.B. beobachten, wie sich das Wissenschaftsverständnis insgesamt wandelt. Wir haben es hier, so meine These, mit ›Historiographischem Musiktheater‹, genauer: mit einer eigenen Form populärer Wissenschaftsgeschichte zu tun. Als Historiographisches Musiktheater bezeichne ich Bühnenereignisse, die Musik, Theater und Geschichtserzählung verbinden, indem sie historische Figuren, Ereignisse, Dinge oder Praktiken thematisieren. Wissenschaft wird in diesen Stücken in mehrfachem Sinne ›verhandelt‹: Sie wird als Handlung konzipiert, in Bühnenhandeln umgesetzt und sie wird kontrovers diskutiert. Gleichzeitig wird sie als ästhetisches Ereignis mit vielfältigen medialen Facetten erlebt, etwa musikalisch, bildlich oder körperlich. Es handelt sich um ein Schnittstellenphänomen, das aus musik-, theater- und wissenschaftsgeschichtlicher Sicht gleichermaßen interessant ist. Im Forschungsfokus steht dabei bisher vor allem die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und (Sprech-)Theater, etwa mit Fragen nach der Theatralität von Wissen,7 nach Theatermetaphorik in den Wissenschaften8 oder nach dem Nutzen theaterwissenschaftlicher Methoden für die Wissenschaftsgeschichte.9 WissenschaftshistorikerInnen blicken auf die Popularisierung von Wissenschaft im Theater durchaus auch kritisch, nutzen aber gleichzeitig das öffentliche Podium, das ihnen sogenannte science plays eröffnen.10 Musikwissenschaftliche Arbeiten konzentrieren sich vorwiegend auf kompositorische Aspekte einzelner Wissenschaftsopern11 oder fokussieren mit Musikgeschichte auf der Bühne auch die Musikwissenschaf-

6 | Dass Brechts Galileo (1938/39 in der ersten Fassung), wie Shepherd-Barr schreibt, als »one of the first science plays to feature a ›real‹ scientist« zu bewerten ist, scheint mir daher fraglich; vgl. K. Shepherd-Barr: Science on stage, S. 54. 7 | Vgl. z.B. Roßbach, Nikola/Baum, Constanze (Hg.): Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit, Wolfenbüttel 2013; Tkaczyk, Viktoria: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, Paderborn 2011. 8 | Vgl. Conrad, Bettina: Bühnenmetaphern in der Wissenschaftsgeschichte zwischen 1870 und 1914, Tübingen 2004. 9 | Vgl. Tkacziks Konzept der »wissenshistorischen Performanzanalyse« in: Tkaczyk, Viktoria: Performativität und Wissen(schaft)sgeschichte, in: Hempfer, Klaus W./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 115-139. 10 | Etwa im Rahmen von Symposien im Aufführungszusammenhang wie vielfach im Fall von Michael Frayns Theaterstück Copenhagen, vgl. K. Shepherd-Barr: Science on stage, S. 11. 11 | Vgl. z.B. A. Jacobshagen: Montage – Zyklus – Klangsymbol; Ermlich-Lehmann, Nina: »Was ist Wahrheit? Bier«. Zur Intertextualität in Paul Dessaus Oper »Einstein«, in: Flechsig, Amrei/Weiss, Stefan (Hg.): Postmoderne hinter dem Eisernen Vorhang. Werk und Rezeption Alfred Schnittkes im Kontext ost- und mitteleuropäischer Musikdiskurse, Hildesheim/Zürich/New York 2013, S. 217-237; Everett, Yayoi U.: Reconfiguring myth and narrative in contemporary opera. Osvaldo Golijov, Kaija Saariaho, John Adams, and Tan Dun, Indianapolis 2016; Knoth, Ina: Paul Hindemiths Kompositionsprozess ›Die Harmonie der Welt‹. Ambivalenz als Rhetorik der Ernüchterung, Mainz 2016.

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ten als Disziplin.12 Doch was gibt das Musiktheater zu sehen und zu hören, wenn man es als populäre Wissenschaftsgeschichte und zugleich als gesellschaftliche Selbstproblematisierung begreift?

2. H istoriogr aphisches M usik the ater und/als G egenwartsdiagnostik Paul Dessau spricht, wie eingangs zitiert, von seiner Einstein-Oper als »Zeitstück über die Entwicklung unseres technischen Zeitalters«. Dass sich Wissenschaftsopern so explizit gegenwartsdiagnostisch positionieren, ist jedoch nicht unbedingt die Regel. Insofern geht es mir im Folgenden auch darum zu erproben, was der analytische Blickwinkel ›Gegenwartsdiagnostik‹ an Wissenschaftsopern sicht- und hörbar macht, deren Gegenwartsbezüge impliziter angelegt sind. Dabei setze ich zunächst bei einem relativ offenen Begriff der Diagnose an, der angelehnt an den medizinischen Gebrauch des Konzepts »die Beurteilung eines konkreten Sachverhalts (der Eigenschaften beliebiger Gegenstände) mit Hilfe von Unterscheidungen eines verfügbaren Klassifikationssystems«13 meint. Als Gegenwartsdiagnose bezeichne ich dementsprechend kulturelle Äußerungen, die einen Sachverhalt beurteilen, indem sie ihn Kategorien zuordnen, die für die eigene Gegenwart von einem größeren Personenkreis als charakteristisch empfunden werden. Gegenwartsdiagnosen verbinden also Zeitkonzept,14 Öffentlichkeit15 und Ordnungsbedürfnis: Sie machen die eigene Gegenwart über den Bezug auf ein öffentlich geteiltes Ordnungssystem verständlich. In der medizinischen Metapher ›Diagnose‹ steckt dabei zugleich ein eher problemorientierter Zugang, in der Regel verbunden mit einem Handlungs- und Veränderungsimpuls, also auch eine Ausrichtung auf die Zukunft. Für das uns vorliegende Repertoire stellt sich zunächst einmal die Frage, inwiefern Historiographisches Musiktheater überhaupt geeignet ist, Aussagen über die Gegenwart zu machen. Steht nicht vielmehr die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Vordergrund? Diese Frage stellt sich allgemeiner auch für Geschichtsschreibung als Gegenwartsdiagnose. Nun zeichnet sich Geschichtsschreibung gerade dadurch aus, dass sie Vergangenheit nur aus der Perspektive der eigenen Gegenwart darstellen kann, also in einem Spannungsverhältnis aus Vergangenheit und Gegenwart entsteht. Konzepte wie Erinnerungskultur16 oder 12 | Vgl. hierzu die Arbeiten der von mir geleiteten Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu Musikgeschichte auf der Bühne an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (URL: www. uni-oldenburg.de/musikgeschichte-auf-der-buehne/[10.7.2018]). 13 | Art. »Diagnose« in: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 8 Bde., Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 462. 14 | Vgl. Dimbath, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik. Generationen, Gesellschaft, Prozess, Paderborn 2016, S. 18. 15 | Aus soziologischer Perspektive bezeichnet Matthias Junge Zeitdiagnosen als »Weg der Soziologie zur Öffentlichkeit«; vgl. Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016, S. 1. 16 | Vgl. z.B. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007.

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Geschichtskultur17 öffnen diesen Zeithorizont in die Zukunft, indem sie beschreiben, wie gegenwärtige Gesellschaften mit Vergangenheit umgehen und dadurch auch zukünftiges Handeln prägen. Wie sich diese unterschiedlichen Zeithorizonte der (musiktheatralen) Geschichtsschreibung und der Gegenwartsdiagnostik aufeinander beziehen lassen, wird ebenfalls zu diskutieren sein. Und: welche Gegenwarten fixiert das Musiktheater? Während in der Soziologie Gegenwarts- und Gesellschaftsdiagnostik nahezu synonym verstanden werden18 und das Fach diese Interpretation auch medial weit verbreitet,19 ist zu erwarten, dass im Musiktheater zwar ebenfalls gesellschaftliche Sachverhalte verhandelt werden – etwa die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers im Konfliktfeld ›Wissenschaft und Ethik‹ –, aber auch spezifischer musikalische oder theatrale. Dessaus Begriff des ›Zeitstücks‹ ist ein gutes Beispiel für die mehrfachen Bezugssysteme des Diagnose-Konzepts in diesem Zusammenhang: Er lässt sich ebenso gesellschaftsdiagnostisch auf »die Entwicklung unseres technischen Zeitalters« beziehen wie musikkulturell auf das Genre ›Zeitoper‹. Die wechselseitige Verweisrichtung der beteiligten Ordnungssysteme ist dabei durchaus variabel, wie wir z.B. im Themenfeld ›Wissenschaft und Geschlecht‹ sehen werden: Ein musikalischer Impuls kann in allgemeine gesellschaftliche Problematisierung münden und umgekehrt. Zudem setzen Diagnosen, um im Bild zu bleiben, einen Arzt voraus, also jemanden, der die Beurteilungskompetenz für sich beansprucht und dem sie auch zugestanden wird. Wer wird im Falle des Musiktheaters zum diagnostischen Akteur? Neben den AkteurInnen des Theaterereignisses – den KomponistInnen und AutorInnen, SängerInnen, RegisseurInnen, MusikerInnen, KritikerInnen oder WissenschaftlerInnen – gerät hier auch die innerdramatische Figurenebene von Wissenschaftsopern in den Blick. Anhand von historischen und fiktiven Figuren, aber auch generischen Gestalten wie Ärzten, Apothekern und Professoren, Quacksalbern oder Scharlatanen werden etwa immer wieder wissenschaftliche Kompetenz oder sogar diagnostische Praktiken verhandelt.20 Wissenschaftsopern sensibilisieren also für eine Vielfalt gegenwartsdiagnostischer AkteurInnen, Handlungen und Praktiken. Dabei steht im Folgenden nicht nur die Oper als Repräsentationsform gesellschaftlicher Selbstproblematisierung im Fokus, sondern auch als ästhetischer Erfahrungsraum von Gegenwartsdiagnosen. Anders als Reinhart Koselleck nutze ich den Erfahrungsbegriff hier nicht als geschichtstheoretische Kategorie,21 sondern konzentriere mich auf ästhetische Erfahrung im Sinne Martin Seels. Auf bauend auf dem Begriff der ästhetischen Wahrnehmung als »Aufmerksamkeit dafür, wie etwas hier und jetzt für unsere 17 | Vgl. Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013, S. 221-252. 18 | Vgl. etwa die Schlüsselbegriffe bei O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 17. 19 | Vgl. Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. 20 | Für das Sprechtheater untersucht dies etwa der Band von Moss, Stephanie/Peterson Kaara L. (Hg.): Disease, diagnosis, and cure on the early modern stage, Aldershot 2004. 21 | Vgl. Koselleck, Reinhart: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«. Zwei historische Kategorien, in: Ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375. Koselleck definiert Erfahrung als »gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können« (ebd., S. 354).

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Sinne anwesend ist«,22 versteht Seel ästhetische Erfahrung als deren Spezialfall, nämlich als ästhetische Wahrnehmung, die »für diejenigen, die sie durchleben, zum Ereignis wird«.23 Ästhetische Erfahrung steht damit ihrerseits in einem spezifischen Verhältnis zur Gegenwart.24 Während Koselleck den Begriff »Erfahrungsraum« metaphorisch verwendet,25 meine ich damit den konkreten »performative[n] Raum«26 der Opernaufführung, der Möglichkeiten für Interaktionen zwischen AkteurInnen und Publikum, für Bewegung, Wahrnehmung und Erfahrung eröffnet. Dieser Erfahrungsrahmen unterscheidet gesellschaftliche Selbstproblematisierung im Musiktheater von der in anderen Medien: Gegenwartsdiagnosen werden im Stück angelegt – sei es klanglich, bildlich oder in bestimmten Figurenkonstellationen –, im Probenverlauf verbalisiert, sie werden aufgeführt, in den Paratexten zur Aufführung beschrieben oder auch erst im Anschluss an das Aufführungsereignis von KritikerInnen und Publikum formuliert.

3. W issenschaf t und E thik I: E instein als diagnostische  F igur Elzbieta Sikora widmet ihre Oper über Madame Curie ihrem Enkel, »avec l’esp­ oir que sa génération et celles d’après ›sauront tirer plus de bien que de mal des nouvelles découvertes‹.«27 Die Komponistin greift damit ein Motiv auf, das für das zeitgenössische Wissenschaftstheater charakteristisch ist: den gesellschaftlichen Ge- und Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Verantwortung von WissenschaftlerInnen in diesem Zusammenhang. Wissenschaft wird im Theater also zum gesellschaftlichen Problemfeld. Dies betrifft insbesondere Theaterstücke – und auch Opern – über PhysikerInnen.28 Zu beobachten ist hier oft die Engführung der Wissenschaftsgeschichte eines Fachs mit einem konkreten Moment der politischen Zeitgeschichte, der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki. Ganz direkt formuliert das etwa Paul Dessau:

22 | Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, in: Seel, Martin (Hg.): Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik, Frankfurt a.M. 2013, S. 56-66, hier S. 57. Seel spricht auch von ästhetischer Wahrnehmung als »Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem«, vgl. ebd. sowie Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003. 23 | M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, S. 58. 24 | Vgl. ebd., S. 59. 25 | R. Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, S. 356. 26 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, hier S. 187. 27 | Sikora, Elzbieta: Quelques mots sur »Madame Curie«, in: Sikora, Elzbieta: Madame Curie. Dossier de presse, Opéra Baltique de Gdansk/Institut Polonais de Paris, Gdansk/Paris 2011, S. 3: »in der Hoffnung, dass seine und die folgenden Generationen ›mehr Gutes als Schlechtes mit den neuen wissenschaftlichen Entdeckungen anzufangen wissen‹« (sämtliche Übersetzungen von mir). 28 | K. Shepherd-Barr: Science on stage, S. 41. Dies trifft bis zu einem gewissen Grad auf drei der hier betrachteten Wissenschaftsopern zu (Adams, Dessau, Sikora), während Wissenschaft in Kaija Saariahos Oper ausschließlich positiv besetzt ist.

Wissenschaf tsopern »Einstein konnte seine Erfindung nicht zurücknehmen. Er war ein großer Wissenschaftler, der aber die Konsequenzen nicht ziehen konnte. Hätte er das getan, ich weiß nicht, inwieweit dann Hiroshima oder Nagasaki hätten vermieden werden können. Ich glaube es nicht. Aber moralisch hätte es eine große Bedeutung gehabt.« 29

Mir geht es weniger darum, die Teleologie dieser Erzählung – also die implizite Ausrichtung der gesamten Physik des frühen 20. Jahrhunderts auf die Entwicklung der Atombombe – aufzubrechen. Vielmehr scheinen mir hier erste Hinweise auf das Klassifikationssystem verborgen, auf das sich Gegenwartsdiagnosen in Wissenschaftsopern beziehen: Erinnerungsorte wie Hiroshima und Nagasaki und populäre Figuren wie Albert Einstein oder Marie Curie dienen – in durchaus unterschiedlicher Weise – der moralischen Beurteilung und Einordnung historischer Sachverhalte, die auf die eigene Gegenwart verweisen und entsprechendes zukünftiges Handeln einfordern (so verstehe ich den Aufforderungscharakter von Sikoras Widmung). Wenig verwunderlich ist, dass sich die physikalische Community selbst an derartigen wissenschaftsgeschichtlichen Reduktionen stößt. »There is one serious dis­ appointment in the way this story is told«, schreiben etwa die Rezensenten der Zeitschrift Nature über Madame Curie: »Directly after the overture, an aged man resembling Albert Einstein appears to Marie. He warns her that devastating consequences could result from her work, and urges her to stop. A video projection of a mushroom cloud rams home the point. Marie shakes off this vision, insisting on the necessity of pursuing the truth. But associating Curie with nuclear weapons is untenable – the relevant discoveries were made shortly before and after her death. Attributing the ethical choices of later scientists to her makes no more sense than the dismissive sexism she endured during her lifetime.« 30

Wissenschaft als ethisches Dilemma ist ein zentrales Thema von Sikoras Oper. Dabei geht es allerdings meiner Ansicht nach weniger um eine direkte Assoziation von Curies Forschung mit der Entwicklung von Atomwaffen, sondern um die grundsätzliche Frage der Risiko-Folgen-Abschätzung wissenschaftlicher Erkenntnis.31 Verkörpert wird dies durch die Spannung zwischen den Figuren Albert Einstein und Marie Curie. Während Curie immer wieder, und besonders eindrücklich gegen Ende der Oper, für den Wert von Wissenschaft als Suche nach Erkenntnis, 29 | P. Dessau: Aus Gesprächen, S. 85. 30 | Michalowski, Stefan/Smith, Georgia: An elemental heroine. An opera on the astonishing life of Marie Curie enthralls Stefan Michalowski and Georgia Smith, in: Nature 480, 1.12.2011, S. 38. Die Rezensenten beziehen sich hier auf die Pariser Uraufführung der Oper durch das Ensemble der Opera Bałtycka Gdansk am 15. November 2011 in der Maison de l’Unesco. Es ist durchaus möglich, dass die Videoprojektion in den folgenden Danziger Vorstellungen gestrichen wurde, im Video der Danziger Inszenierung ist sie jedenfalls nicht zu sehen; vgl. die DVD Elzbieta Sikora: Madame Curie (Opera Bałtycka), Warsaw: DUX, 2012 (Live-Aufnahme in polnischer Sprache mit deutschen Untertiteln: Danzig, Opera Bałtycka, 23./24. November 2011). 31 | Z. T. wird dies sehr konkret auf Curies Entdeckung des Radiums und auf dessen erst später festgestellte Gesundheitsschädlichkeit bezogen, etwa in Szene 26.

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nach dem Unbekannten plädiert (Szene 26), ist Einstein in den Eingangs- und Schlussszenen der Oper als »projection d’une conscience éthique«32 konzipiert und vertritt ein äußerst kritisches Wissenschaftsbild. Interessant ist dabei die Zwiespältigkeit der Einstein-Figur, denn eigentlich gibt es in Sikoras Oper zwei Einsteins: Während der junge Einstein als unkonventioneller Denker und charmanter Redner im Dialog mit Marie Curie und diversen Forscherkollegen dargestellt wird (vgl. Szene 15), ist es der alte Einstein, der in den die Oper rahmenden Traumszenen33 als mahnende Stimme des Gewissens auftritt und dabei Wissenschaft grundsätzlich in Frage stellt. Marek Weiss übernimmt in seiner Inszenierung dabei ganz wörtlich das bekannte Einstein-Stereotyp: Den alten Forscher mit grauweißer Haarmähne, Schnurrbart und Strickjacke. Paradoxerweise speist sich Einsteins Autorität als diagnostische Figur jedoch gerade aus seiner Popularität als Forscher und als Welterklärer, der im kulturellen Gedächtnis verankert ist als jemand, der die Komplexität physikalischer Gesetze auf eine einfache Formel reduziert habe. Die Ikone des Wissenschaftlers an sich wird in der Oper also zum Wissenschaftsverweigerer. Das anachronistische Zusammentreffen von WissenschaftlerInnen verschiedener Orte und Zeiten ist auf der Bühne keine Seltenheit. So treten etwa in Dessaus Einstein Giordano Bruno, Leonardo da Vinci und Galileo Galilei auf, von Karl Mickel konzipiert als »Götterebene« nach dem Vorbild der barocken Oper.34 Während dort also Einstein in Dialog mit der wissenschaftlichen Vergangenheit tritt, spricht Marie Curie in Sikoras Oper gewissermaßen mit der Zukunft der Wissenschaft, verkörpert durch den alten Einstein. Die umgekehrten Altersverhältnisse der Figuren suggerieren nicht nur ein mögliches Autoritätsgefälle, sondern verschieben den wissenschaftsgeschichtlichen Zeithorizont der Oper: Die Zukunft ist gewissermaßen bereits Vergangenheit, während Marie Curie als gegenwärtiges Zentrum fungiert.

4. W issenschaf t und G ender in der O per Das Figurenverhältnis zwischen Einstein und Curie ist ganz wesentlich geschlechtlich codiert: In der Inszenierung spricht ein alter Mann mahnend zu einer jungen Frau, die sich gegen diese Warnungen energisch bis verzweifelt durchsetzt. Wenn Elzbieta Sikora schreibt, sie habe für ihr nächstes Opernprojekt »un personnage féminin fort«35 gesucht und in Marie Skłodowska Curie gefunden, so ist ihre Marie Curie stark vor allem gegen gesellschaftliche und wissenschaftsspezifische Widerstände. Die gezielte Suche nach starken, komplexen Frauengestalten in der Oper verbindet Sikora mit der ebenfalls in Paris lebenden finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Als einen Impuls zur Komposition ihrer 2010 an der Opéra national de 32 | Rigaudière, Pierre: Un opéra sur Marie Curie triomphe en Pologne, in: Diapason, 20.1.2014 (URL: www.diapasonmag.fr/actualites/critiques/un-opera-sur-marie-curie-trio​ mphe-en-pologne [26.9.2016]): »Projektion eines ethischen Gewissens«. 33 | Szene 2 und Szene 25-26. 34 | Karl Mickel im Gespräch mit Stefan Amzoll (2005), zit.n. A. Jacobshagen: Montage – Zyklus – Klangsymbol, S. 122. 35 | E. Sikora: Quelques mots sur »Madame Curie«, S. 3: »eine starke Frauenpersönlichkeit«.

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Lyon uraufgeführten Oper Émilie bezeichnet diese ein gewisses Unbehagen gegenüber den Frauenfiguren des Kanons moderner Monodramen – eines Kanons, von dem sie sich damit gleichzeitig abgrenzt und in den sie sich einschreibt: »Les monodrames musicaux les plus connus, comme Erwartung ou La Voix humaine décri­ vent une femme perdant le sens de sa vie du fait de l’absence d’un homme. En tant que femme, cela m’a toujours un peu gênée, aussi formidables que soient ces œuvres. J’ai donc voulu créer avec Émilie le portrait d’une femme plus complexe«. 36

Am Beginn beider Opernprojekte scheint also ein feministischer Impuls gestanden zu haben, der seinen Ausgangspunkt im gegenwärtigen Musikleben hat und beide Komponistinnen in die Wissenschaftsgeschichte führt. Darin verbirgt sich auch die These, dass historische Wissenschaftlerinnen eben dies leisten: einer Opernfigur Komplexität und Stärke zu verleihen. In beiden Opern drückt sich dies u.a. durch die zentrale Position der jeweiligen Hauptfigur aus. In Saariahos Monodram ist Émilie du Châtelet ohnehin die einzige Figur. Das heißt allerdings nicht, dass die Oper vollständig auf Dialoge verzichten würde. Aber die Stimmen von du Châtelets Gesprächspartnern – etwa ihren Liebhabern Voltaire und Saint-Lambert – erklingen nur »as disembodied echoes of her own«.37 Saariaho nutzt hierfür einen kompositorischen Kunstgriff: Sie doppelt und bearbeitet die Stimme der Sängerin mittels Live-Elektronik. Obwohl Sikoras Oper wesentlich größer besetzt ist,38 bezeichnet auch sie ihre Oper als »elaborate monodrama«,39 in dem Marie Curie als zentrale Handlungsträgerin ununterbrochen auf der Bühne präsent ist. Beide Komponistinnen problematisieren mit ihren Opern auch das traditionelle Wissenschaftlerbild40 und entwerfen mehr oder weniger explizit ihr eigenes Gegenmodell: »I didn’t want Marie Curie to be that person we all know from our school textbooks – a scientist who worked tirelessly from morning till night in search of new discoveries«, sagt Sikora in einem Interview, »but a flesh and blood person that had her own intense emotional and academic life, a life in every sense of the word. I wanted to depict her as a real, live person and a woman at that.«41 Sikora entwirft in der Figur der Marie Curie eine enge Verbindung von Wissenschafts36 | Saariaho, Kaija: Émilie pour Karita, in: Dies.: Emilie. Programmheft der Uraufführung, Opéra national de Lyon, Lyon 2010, S. 38-42, hier S. 39: »Die bekanntesten musikalischen Monodramen, wie Erwartung oder La Voix humaine, beschreiben eine Frau, die den Sinn ihres Lebens verliert, weil sie keinen Mann hat. Als Frau hat mich das immer ein bißchen gestört, so großartig diese Werke auch sind. Ich wollte also mit Émilie das Porträt einer komplexeren Frau schaffen«. 37 | Rosenberg, Marion Lignana: Saariaho’s »Émilie« makes triumphant New York debut at Lincoln Center Festival, 20.7.2012 (URL: http://theclassicalreview.com/2012/07/saaria​ hos-emilie-makes-triumphant-new-york-debut-at-lincoln-center-festival/[20.9.2016]). 38 | Madame Curie sieht 11 Gesangs- und drei Sprechrollen sowie einen Chor vor. 39 | The Turbulent Life of Madame Curie. Talk with Elzbieta Sikora, Marek Weiss (URL: www. biweekly.pl/article/2915-the-turbulent-lifeof-madame-curie.html [26.9.2016]). 40 | Das Wissenschaftlerbild – z.B. von Kindern – ist wiederholt soziologisch untersucht worden und erweist sich als erstaunlich konstant; vgl. dazu Frayling, Christopher: Mad, bad and dangerous? The scientist and the cinema, London 2005, S. 12-21. 41 | The Turbulent Life of Madame Curie.

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und Gefühlsleben, die in einem lebendigen biographischen Porträt münden und so die latent vorausgesetzte Dualität zwischen »scientist« und »woman« vereinen soll. Ein ähnliches Prinzip verfolgt Saariaho in Émilie, wenn sie die gegensätzlichen Leidenschaften ihrer Hauptfigur beschreibt: »Des passions, elle en eut de nombreuses pendant sa vie, dont les objets évoluaient entre deux pôles: ses amours démesurées (pour les hommes, les bijoux, les jeux de hasard), et son attraction intime et profonde pour la connaissance, l’étude et le travail scientifique. Ces deux côtés de son caractère, forts et souvent excessifs, contribuent à créer un personnage très humain dans ses contradictions, surprenant, attachant. Malgré son existence tumultueuse, elle a réussi à maîtriser des connaissances scientifiques comme seules de rares personnes le pouvaient à son époque, et à réaliser, pendant sa grossesse et les derniers mois de sa vie, un travail remarquable en traduisant et commentant les Principia Mathema­ tica de Newton.« 42

Man kann dies als feministische Dekonstruktion von Dichotomien lesen, wie eine Rezensentin der New Yorker Erstaufführung.43 Gleichzeitig arbeiten beide Komponistinnen jedoch mit dichotomen Konzepten, vor allem mit den Gegensatzpaaren Körper/Geist und Gefühl/Verstand. Saariaho etwa setzt dieses Denkschema unmittelbar musikalisch um, wenn sie ihre Komposition von Émilie du Châtelets Privatleben als »plus gestuels et charnels, rythmiquement capricieux« beschreibt: »L’écriture vocale y est expressive, souvent nerveuse, même explosive.«44 Im Gegensatz dazu sei die Musik in den Passagen, die ihre wissenschaftliche Arbeit beträfen »plus abstraite, moins rythmique, le corps y est moins présent«: »Émilie lit ou dit les textes librement, et son expression balance entre ces lectures intenses mais calmes et les passages chantés dans des états extatiques, presque illuminés.«45 Die 42 | K. Saariaho: Émilie pour Karita, S. 40: »Leidenschaften hatte sie viele während ihres Lebens. Deren Objekte bewegten sich zwischen zwei Polen: ihrer maßlosen Liebe (zu Männern, Schmuck, Glücksspiel) und ihrer intimen und tiefgehenden Neigung zu Erkenntnis, Studium und wissenschaftlicher Arbeit. Diese zwei starken und oft exzessiven Seiten ihres Charakters tragen dazu bei, eine Figur zu schaffen, die sehr menschlich ist in ihren Widersprüchen, überraschend und anziehend auch. Trotz ihres turbulenten Lebens hat sie es geschafft, sich wissenschaftliche Kenntnisse in einem Maße anzueignen wie nur wenige Personen ihrer Zeit und während ihrer Schwangerschaft und der letzten Monate ihres Lebens mit der Übersetzung und Kommentierung von Newtons Principia Mathematica eine bemerkenswerte Arbeit fertigzustellen.« 43 | M. L. Rosenberg: Saariaho’s »Émilie« makes triumphant New York debut: »Culture over nature, mind over body, spirit over sensation: more than a quarter-century ago, feminist thinkers showed how these and other hierarchical pairs of ideas have been used in philosophy and literature to prop up the most insidious hierarchy of all: man over woman. Having a womb was thought to be irreconcilable with reason […]. Émilie, the 2010 opera by Kaija Saariaho that had its triumphant New York premiere on Thursday as part of the Lincoln Center Festival, undermines many of these dualities and myths.« 44 | K. Saariaho: Émilie pour Karita, S. 40: »gestischer und fleischlicher, rhythmisch kapriziös«; »Die Vokalkomposition ist hier expressiv, oft nervös, selbst explosiv.« 45 | Ebd., S. 41: »abstrakter, weniger rhythmisch, der Körper ist hier weniger präsent«: »Émilie liest oder spricht die Texte frei und ihr Ausdruck hält die Waage zwischen dieser intensi-

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Fülle von Körpervokabeln (gestisch, fleischlich, ausdrucksvoll) und Geistbegriffen (abstrakt, ruhig, ekstatisch, erleuchtet) zeigt eine ziemlich klare und musikalisch konkretisierte Trennung zwischen Privatleben und Wissenschaft, die Saariaho als in der Figur der Émilie du Châtelet vereinte Körper-Geist-Dichotomie komponiert. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit dem Frauenkörper: Die schwangere Émilie du Châtelet arbeitet an ihrem wissenschaftlichen Hauptwerk – der französischen Übersetzung und Kommentierung von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica – Wissenschaft und Weiblichkeit werden also enggeführt und am Körper der Hauptfigur inszeniert. Ganz gegensätzlich gehen die Uraufführungsplakate der beiden Opern mit dem Thema Körperlichkeit um. Abbildung 1, 2: Uraufführungsplakate von Madame Curie und Émilie.

Das Plakat zu Madame Curie zeigt vor dunklem Hintergrund eine Frauengestalt in ekstatischer Bewegung, mit offenem, wirrem Haar, zurückgeworfenem Kopf und im weißen, leicht verrutschten Hemd – ein Nachthemd? Was uns das Plakat zu sehen gibt, ist das Bild einer leidenschaftlichen Frau. Passend dazu ist die typographische Trennung des Wortes »MADAME« in »MAD« und »AME« – für jeden, der des Französischen und Englischen kundig ist, lesbar als »verrückte Seele«. Dagegen zeigt das Émilie-Plakat lediglich wissenschaftliches Werkzeug – Skizzenbuch, Zirkel und Federkiel –, dessen Historizität, auf weißen Untergrund leicht schattiert, beinahe wie in einem Schaukasten ausgestellt wirkt. Während die Objekte und in der abgebildeten Skizze auch das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit im Zentrum stehen, bleibt der Körper der Wissenschaftlerin hier unsichtbar. ven, aber ruhigen Lektüre und Passagen, die in ekstatischen, fast erleuchteten Zuständen gesungen werden.«

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Opern über Wissenschaftlerinnen sind im zeitgenössischen Opernrepertoire, aber auch in der älteren Wissenschaftsoper, ausgesprochen selten. Auffällig an den beiden hier betrachteten Opern ist, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Gender – insbesondere von Wissenschaft und Weiblichkeit – sowohl in den Stücken selbst, als auch in den Materialien zur Aufführung und in den Rezensionen ein zentrales Thema ist. Das unterscheidet sie von Opern über männliche Wissenschaftler wie Einstein und Doctor Atomic, obwohl selbstverständlich dort Genderkonzepte genauso eine Rolle spielen, etwa die Konstruktion von Einstein als »große[r] Mann« und Wissenschaftsgenie bei Dessau46 oder von Robert Oppenheimer als »American Faust« mit Kitty Oppenheimer als »ewig-weiblichem« Gegenpart.47 Indem Émilie und Madame Curie ›Wissenschaft und Gender‹ als diagnostisches Feld der Oper erschließen, werfen sie gleichzeitig die Frage auf, wie sich Gegenwartsdiagnosen zur gesellschaftlichen Norm verhalten. Ein männlich geprägtes Wissenschaftlerbild in Wissenschaftsopern scheint öffentlich kaum der Rede wert zu sein. Inwiefern ist also das ›Normale‹ überhaupt diagnostisch lesbar? Oder wird es nur sichtbar, wenn man es gewissermaßen ex negativo betrachtet?

5. W issenschaf t und E thik II: A tomzeitalter musik alisch Ob und wie etwas als Gegenwartsdiagnose wahrgenommen wird, hängt u.a. von einem gewissen Konsens darüber ab, was der gesellschaftlichen Problematisierung bedarf, und von der Verfügbarkeit kultureller Codes und Bezugssysteme, die kulturelle Repräsentationen erst als Gegenwartsdiagnosen lesbar machen. Ein solcher ›diagnostischer Konsens‹ herrscht z.B. in Bezug auf das Problemfeld ›Wissenschaft und Ethik‹. Wie dies die Wahrnehmung und Deutung von Wissenschaftsopern in Probenprozess, Aufführung und medialer Vermittlung prägt, ist besonders eindrücklich an John Adams’ 2005 in San Francisco uraufgeführter Oper Doctor Atomic über J. Robert Oppenheimer zu beobachten. Als Leiter des sogenannten »Manhattan Projects« zur Entwicklung der ersten Atombombe verkörpert der Physiker geradezu idealtypisch den Konflikt zwischen Forschung und atomarer Massenvernichtung: »Which better subject John Adams and Peter Sellars could have chosen to denonciate the fall of the modern world?« kündigt etwa die Internetplattform Medici.TV in populärer gegenwartsdiagnostischer Rhetorik die Videoaufnahme der Oper an. »After him [Oppenheimer], the world will never be the way it used to be, and is inexorably shifting towards the nuclear era«.48 Das Atomzeitalter also, der ›Sündenfall‹ der Moderne – wie funktioniert das in der Oper? Doctor Atomic spielt in Los Alamos und auf dem Testgelände des Manhattan Projects in den Wochen und Stunden vor dem ersten Atombombentest im Juli 1945. Mit einigem Recht ließe sich das Stück als ›Dokumentaroper‹ bezeichnen, denn ähnlich wie Kipphardts Dokumentartheater stützt sich Peter Sellars, der Librettist und Regisseur der Oper, auf ein breites Spektrum von Originaldokumenten, 46 | P. Dessau: Aus Gesprächen, S. 84-85. 47 | Vgl. Y. U. Everett: Reconfiguring myth and narrative in contemporary opera, S. 130-134. 48 | Medici.TV. Classical Music Videos: Doctor Atomic – Adams (De Nederlandse Opera, Amsterdam, 2007) (URL: www.medici.tv/#!/doctor-atomic-john-adams-peter-sellars [7.3.2017]).

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vor allem aus Oppenheimers eigener Bibliothek.49 Bei näherer Betrachtung wäre diese Bezeichnung allerdings eher irreführend, verschränkt Sellars doch virtuos Behördendokumente, zeitgenössische Literatur über die Atombombe, Gedichte von Baudelaire, John Donne und Muriel Rukeyser sowie Ausschnitte aus der Baghavad Gita zu einer künstlerisch-historisch-wissenschaftlich-mythischen Collage. In hohem Maße ethisch aufgeladen scheint bereits die Probenarbeit zur Uraufführung gewesen zu sein: »This whole night is about the atomic bomb«, zitiert der Kritiker Alex Ross Sellars’ Probenbeginn, »and I want actually to begin with the most important words – that, at the end the day, yes, it’s wrong, and everyone knows it. Yes, it’s wrong.«50 Ross setzt Sellars Gedanken fort, indem er ihn auf die eigene Gegenwart bezieht: »As a New Yorker who thinks regularly about the possibility of a stray nuclear bomb wiping out not only my life but everything I love, I didn’t doubt him for a moment. But I wondered whether the director was politically stacking the deck. He was, however, merely setting up one pole of the debate.« 51

Hier deutet sich bereits an, dass ein eindeutiges ethisches Urteil über Robert Oppenheimer für Sellars nicht im Zentrum der Oper stehen wird. Diese Vielfalt von Standpunkten und Deutungsmöglichkeiten teilt Doctor Atomic mit Dessaus Einstein. Dessen Librettist Karl Mickel beschreibt Uneindeutigkeit als charakteristisch für die Kunst der Oper: »[E]ine bestimmte Szene ist ein Informationsbündel, das gleichzeitig verschiedene und sogar kontradiktorische Aussagen ermöglicht. Diese Simultaneität und der Einsatz des Zitates in der Musik dienen dazu, einen Assoziationsraum zu schaffen, in den mehr als eine Aussage hineingeht.« 52

Damit unterscheidet sich die Oper als Möglichkeitsraum für Gegenwartsdiagnosen wesentlich von anderen Medien, in denen diese sich eher durch Eindeutigkeit, oft sogar Formelhaftigkeit (Stichwort ›XY-Gesellschaft‹53) auszeichnen. Widerspricht die Deutungsoffenheit einer intermedialen Kunst wie der Oper mit ihren vielfältigen Bezugssystemen also dem Prinzip ›Diagnose‹? Gerade diese Offenheit lässt sich jedoch auch wieder diagnostisch wenden, wie es Nina Ermlich-Lehmann am Beispiel des Einstein tut: »Die Offenheit des Einstein ist die Offenheit der bösen Seite der Moderne: das Richtige tun zu wollen und dennoch das Falsche zu tun, bzw. – noch schärfer – das Falsche, was man tut, tun

49 | Vgl. Y. U. Everett: Reconfiguring myth and narrative in contemporary opera, S. 125. 50 | Peter Sellars, zit.n. Ross, Alex: Doctor Atomic. »Countdown«, in: The New Yorker, 3.10.2005 (URL: www.therestisnoise.com/2005/09/doctor_atomic.html [6.3.2017]). 51 | Ebd. 52 | Karl Mickel, in: Aus dem Kolloquium zu »Einstein«, in: Opernschaffen der DDR im Gespräch. Material zum Theater 43, 1974, H. 11, S. 40-70, hier S. 52. 53 | Vgl. O. Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 17.

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Anna Langenbruch zu müssen, auch wenn man weiß, dass es das Falsche ist, weil es keinen richtigen Ausweg mehr gibt bzw. dieser nicht mehr sichtbar ist.« 54

Eines dieser Bezugssysteme ist naheliegender Weise die Musik. Während Paul Dessau die Musik Bachs als wesentlichen Ausgangspunkt für das intertextuelle Verweisungsspiel des Einstein nutzt,55 sind die musikalischen Referenzen in Doctor Atomic vielfältiger: Von Wagner über Varèse und Strawinski bis zur Musik populärer Science-fiction-Filme entdecken die Akteure und Rezensenten der Produktion in Adams’ Musik »the entire ghoulish army of twentieth-century styles«.56 Dabei fehlt es auch nicht an thematisch inspirierten Wortneuschöpfungen an der Schnittstelle von Musik und Wissenschaft – wie z.B. »atomic Minimalism« –,57 um Adams’ »din of pummeling rhythms, fractured meters and jolting repeated figures«58 zu beschreiben. Zudem setzt Adams diverse klangliche Codes ein, die elektronisch übertragen mit der Livemusik interagieren und diese mit konkreten Sinnhorizonten versehen: »›Doctor Atomic‹ begins not with music but with noise: a two-minute electronic collage of industrial groans and screeches, into which is mixed the roar of airplanes, military voices, and a snippet of Jo Stafford singing ›The Things We Did Last Summer‹. It suggests the buzzing of the innards of the bomb as it bleeds through radio static. All this will rain down on the audience from speakers that the sound designer, Mark Grey, has installed all over the War Memorial Opera House. Jo Stafford’s voice breaks up, cuts off, and gives way to a brutally dissonant passage for full orchestra, which feels like a detonation in progress. Adams had in mind not so much the explosion itself as the mental conflict of the Los Alamos physicists, who were mortally afraid of what would happen if their bomb did not work and no less afraid of what might happen if it did.« 59

Industrie- und Fluglärm und militärisches Geschrei schaffen einen »realistischen« Hörraum, innerhalb dessen die Deutung des dissonanten Orchesterklangs als Bombenexplosion fast zwangsläufig scheint. Unterstützt wird diese Deutung durch die historische Aufnahme von The Things We Did Last Summer: Im beschriebenen Kontext erhält das eigentlich harmlose populäre Liebeslied, das Jo Stafford 1946 aufnahm, als Verweis auf den Sommer 1945 einen ausgesprochen düsteren Subtext. Ross’ Beschreibung vermittelt einen Eindruck von der klanglichen Komplexität des Liveerlebnisses in der Oper, bei der sich das Ohr gewissermaßen realistische Deutungsanker sucht. Gleichzeitig verweist er auf die prinzipielle Deutungsoffenheit dieser Klangsituation, indem er indirekt Adams’ Gedanken zu dieser Passage zitiert: der Komponist assoziiere hier weniger die konkrete Explosion, sondern eher einen angstbesetzten geistigen Zwiespalt, ein ethisches Dilemma. 54 | N. Ermlich-Lehmann: »Was ist Wahrheit? Bier«, S. 235-236. 55 | Vgl. dazu N. Ermlich-Lehmann: »Was ist Wahrheit? Bier«. 56 | A. Ross: Doctor Atomic. 57 | Tommasini, Anthony: Countdown of the Eve of Destruction, in: The New York Times, 3.10.2005 (URL: www.nytimes.com/2005/10/03/arts/music/countdown-to-the-eve-of-de​ struction.html?_r=0 [7.3.2017]). 58 | Ebd. 59 | A. Ross: Doctor Atomic.

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Mit Überlegungen zur Balance zwischen konkret lautmalerischer Klangdeutung und einem weitergehenden, musikalisch vermittelten ›Hörwissen‹ schaltet sich auch Sellars in die Orchesterprobenarbeit ein: »[W]hen you make this thunder and do these sudden explosions it’s not purely descriptive. You are indicating moral heights and depth of knowing. Those strange wind solos, for example – the oboe solos that play when they are talking about radiation poisoning – they show how cancer works in the body, how radiation functions. Or these weird, dark wind chords: the physicists are saying one thing, but you in the orchestra are telling us there’s a whole lot more.« 60

Man könnte Sellars Deutung des Orchesterparts mit Steven Feld als »acoustemology«61 zwischen Musik und Wissenschaft bezeichnen, also als eine klangliche Form des Wissens und der Orientierung in der Wissenschaftswelt der Oper, bei der ein ›allwissendes Orchester‹ als auch moralischer Kompass fungiert. Eine solche Akustemologie scheint eine Leitlinie für die musikalische und inszenatorische Gestaltung der Oper gewesen zu sein. Durch den Bezug auf kulturell geteilte klangliche Codes ist sie bis zu einem gewissen Grad intersubjektiv nachvollziehbar. Explizit diagnostisch lesbar wird dies etwa in den Reaktionen auf den Schluss des Doctor Atomic. Sellars und Adams richten den Spannungsbogen der Oper ganz auf ihr Ende – und damit auf den Atombombentest – hin aus. Zeit und Zeiterfahrung spielen dabei eine wesentliche Rolle,62 bezogen auf die historische Zeit genauso wie auf die ästhetische Eigenzeit63 der Oper. »Some people claim that it’s the world’s first countdown«, beschreibt Sellars die historische Zeiterfahrung während des Tests. Die Oper dehne dieses Zeiterlebnis musikalisch aus: »At the end of the opera, you can feel the passage of time in the most real way, as with the Doomsday Clock of the Bulletin of the Atomic Scientists, showing how many minutes remain until midnight. You get the hands of that clock, and inside every minute is a universe. A twenty-minute countdown takes forty minutes. From zero minus one minute up to the explosion takes four minutes. […] This is ›Götterdämmerung‹ for our generation, with our speed, with our tension points, with our nervous energy, but with nothing being a metaphor and everything being a reality.« 64

Sellars scheint die Realität des Zeiterlebens gerade in der musikalischen Überdehnung der messbaren Zeit ins subjektiv Empfundene zu entdecken. Dabei greift er mit Wagners Götterdämmerung wiederum auf ein musikalisches Klassifikations60 | Peters Sellars, zit.n. ebd. 61 | Felds Wortschöpfung vereint die Begriffe »acoustics« und »epistemology« mit dem Ziel »to investigate the primacy of sound as a modality of knowing and being in the world«; vgl. Feld, Steven: A Rainforest Acoustemology, in: Bull, Michael/Back, Les (Hg.): The auditory culture reader, Oxford 2003, S. 223-239, hier S. 226. 62 | Vgl. dazu Everetts Analysen zu Doctor Atomic in: Y. U. Everett: Reconfiguring myth and narrative in contemporary opera, S. 124-165. 63 | Vgl. zum Begriff: Gamper, Michael/Hühn, Helmut (Hg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014. 64 | Peters Sellars, zit.n. A. Ross: Doctor Atomic.

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system zurück, das sich diagnostisch sowohl auf gegenwärtige beschleunigte Zeiterfahrung beziehen lässt (und damit auf ein Phänomen, das auch aktuelle soziologische Gegenwartsdiagnosen wesentlich prägt),65 als auch auf das historische Ereignis Atombombentest als potentielles Weltuntergangsszenario. Folgt man Martin Seels Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung, so handelt es sich bei dieser Art des Zeiterlebens um ein grundlegendes Merkmal von Kunsterfahrung im engeren Sinne. Seel versteht ein künstlerisches Objekt als »ein Ereignis, das einen Aufstand der Gegenwart nicht allein hervorruft, sondern – kraft seiner Gegenwart – eine Darbietung von Gegenwart möglich werden lässt. Diese Darbietung kann sich auf die Erfahrung der Gegenwart des Werkes selbst oder auf eine von ihm imaginierte Gegenwart beziehen.«66 Kunst ermögliche »durch ihre unwahrscheinliche Gegenwart die Erfahrung vergangener oder künftiger, erinnerter oder imaginierter Gegenwärtigkeit«.67 Ein besonderer Kunstgriff ist dabei die Verweigerung des erlösenden Spannungsabfalls am Ende des Stücks: »One of the most striking aspects of John Adams’ Doctor Atomic … is its failure to provide an audience rendered intellectually torpid by the instant gratification of a technologically oppressive media machine with a cathartic kaboom«, schreibt Jon Anthony Carr nach der Uraufführung und fährt fort: »We know precisely how this story will end, and the knowing reminds us, as for what seems an eternity we watch Atomic’s awestruck cast belly-down and eyes turned heavenward, of our ultimate responsibility in what we are witnessing, as in a single, defining moment at the dawning of an age of unspeakable horror, our nation assumed the role of ›destroyer of worlds.‹« 68

Vorstellbar ist, dass dieser Verzicht auf ein Ende, das es im wahrsten Sinne des Wortes ›krachen lässt‹, die spannungsgeladene Zeitdehnung, die gefühlte Ewigkeit des Schauens/Hörens, sogar über das eigentliche Ende des Stücks hinaus trägt, wie es jeder Konzert- und Opernbesucher kennt, der einmal die enorme Ausdehnung der Zeit in der Stille des ausbleibenden Applauses nach einer gelungenen Aufführung erlebt hat. Im Gewand der Musikkritik treffen in diesem Blogeintrag zudem Medien- und Gesellschaftskritik unmittelbar aufeinander. Das abstrakt Weltenzerstörende, das sich auch in Sellars Bild der Götterdämmerung findet, wird konkretisiert, personalisiert und politisiert (»our ultimate responsibility«, »our nation«). Gleichzeitig wendet der Rezensent das Dämmerungsbild: Hier geht es um den Beginn eines neuen »Zeitalters des Schreckens«, weniger um das Ende eines alten. In der Präsenzerfahrung des Theaters wird das Publikum gefühlt zum »Zeugen« und Mitverantwortlichen des historischen Ereignisses. Ähnlich deutet dies ein weiterer

65 | Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. 66 | M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, S. 62. 67 | Ebd., S. 63. 68 | Jon Anthony Carr, zit.n. Chen, Sidney: Doctor Atomic. Reaction Chain, in: The Standing Room, 4.10.2005 (URL: www.thestandingroom.com/blog/2005/10/doctor_atomic_r.html [6.3.2017]).

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Blogger, der zudem sehr plastisch die Wirkung einer derart spannungsgeladenen Opernaufführung beschreibt: »I found the final 20 or 30 minutes of Doctor Atomic utterly gripping and suspenseful. Moist palms, back muscle tension, frozen legs, the whole bit. […] After two hours or so of the bomb hanging over our heads – not just visually but aurally – it’s finally, fully acknowledged in the last seconds of the opera that the crux of the drama has nothing to do with whether this particular test bomb succeeds or what its yield is. In the end, Doctor Atomic is resolutely not about the bomb; it’s about death on a massive scale, wreaked on humanity by humanity.« 69

Mir scheint, dass gerade dieses intensive körperliche und emotionale Erleben die Oper als ästhetischen Erfahrungsraum von Gegenwartsdiagnosen auszeichnet. Mit Erika Fischer-Lichte lässt sich argumentieren, dass insbesondere Klangerfahrungen wie die oben beschriebene dabei bis zur Auflösung der »Körpergrenzen« der ZuhörerInnen reichen: »Wenn die Laute/Geräusche/Musik den Körper des Zuschauers/Zuhörers zu ihrem Resonanzraum machen, sie in seinem Brustkorb re-sonieren, wenn sie ihm körperliche Schmerzen zufügen, eine Gänsehaut auslösen oder einen Aufruhr der Eingeweide herbeiführen, dann hört der Zuschauer/Zuhörer sie nicht mehr als etwas, das von außen in sein Ohr dringt, sondern spürt sie als inner-leiblichen Vorgang«.70

Eine solche Wirkung ist jedoch akustemologisch – also über klangliche Codes wie die »hörbar« über dem Publikum schwebende Bombe oder die musikalisch »tickende« Zeit – nur begrenzt planbar. So wurde der Verzicht auf einen »cathartic kaboom« durchaus nicht von allen ZuhörerInnen und in jeder Aufführung gleichermaßen goutiert. Über eine halbszenische Aufführung von 2008 heißt es etwa: »Many sat in disbelief, wondering what to take away from this disjunctive experience.« 71 Auch hier bleiben Gegenwartsdiagnosen in der Oper also letztlich deutungsoffen.

6. Z um diagnostischen P otential von K unst Was bedeutet dies nun für das Musiktheater als Handlungs- und Erfahrungsraum von Gegenwartsdiagnosen? Gegenwartsdiagnosen hatte ich eingangs als kulturelle Äußerungen definiert, die die eigene Gegenwart über den Bezug auf ein öffentlich geteiltes Ordnungssystem verständlich machen, und zwar in der Regel verbunden mit einem Handlungs- und Veränderungsimpuls, also einer Ausrichtung auf die Zukunft. Entsprechend zeigt der analytische Blickwinkel ›Gegenwartsdiagnostik‹ die Oper zunächst einmal als Handlungsraum, in dem soziales und ästhetisches Handeln aufeinander bezogen sind. Gerade die beschriebene Deutungsoffenheit des »Informationsbündels« Oper scheint dem ordnenden und auf kategoriale Vereinfachung ausgerichteten Konzept 69 | S. Chen: Doctor Atomic. 70 | E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 207. 71 | Y. U. Everett: Reconfiguring myth and narrative in contemporary opera, S. 124.

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des Diagnostischen aber auch zu widersprechen. Zugleich bietet sie Denkanstöße für die Frage nach dem diagnostischen Potential von Kunst. Ausgangspunkt könnten dabei etwa die von Seel beschriebenen mehrschichtigen Gegenwartsbezüge der Kunsterfahrung sein: »Kunst«, schreibt Seel, »präsentiert Präsenz, indem sie Präsenz produziert. Im Ereignis ihrer Werke bringt sie jene Konstellationen des Möglichen und Unmöglichen, Anwesenden und Abwesenden durcheinander, die wir als Realität unserer Zeit zu erfahren gewohnt sind. Indem sie so mit dem Gleichlauf des Wirklichen bricht, führt sie auf und führt sie vor, wie sehr das Wirkliche ein Mögliches und wie sehr das Mögliche ein Wirkliches ist. Dieses Bewusstsein des Wirklichen im Möglichen und des Möglichen im Wirklichen ist ein Bewusstsein von Gegenwart: ein Bewusstsein davon, wie offen der Lauf der Zeit und die Ordnung der Dinge tatsächlich sind.« 72

Künstlerische Gegenwartsdiagnosen würden sich demnach nicht nur durch ein spezielles Wirklichkeitsverhältnis auszeichnen, das Realitäten einerseits kategorial ordnet und sie dabei andererseits mit Möglichem und Unmöglichem verschränkt. Sie würden auch Gegenwart auf besondere Weise erfahrbar machen. Dabei wird im Musiktheater das Zusammenspiel von Sprache, Klang, Bild und Körper in der medialen Gestaltung von Gegenwartsdiagnosen greif bar. Überzeugungskraft gewinnen Opern nicht nur sprachlich oder intellektuell, sondern auch dadurch, dass sie Menschen emotional berühren, klanglich affizieren, körperlich zum Teil des Geschehens machen. Wie sich dies in anderen gegenwartsdiagnostischen Formaten verhält, wäre noch zu untersuchen. Wissenschaftsopern jedenfalls sind eingebunden in ein vielstimmiges gesellschaftliches Deutungsspiel, sie lassen sich unter Umständen selbst diagnostisch lesen, lösen aber vor allem Gegenwartsdiagnosen aus. Dass sich diese – anders als in anderen zeitdiagnostischen Genres – kaum auf eine eindeutige Formel bringen lassen, hängt auch mit den sich kreuzenden Bezugssystemen an einer Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Geschichte und Gegenwart zusammen.

72 | M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, S. 63.

Praktiken der Diagnostifizierung der Singer/ Songwriter-Figur am Beispiel der Fremd- und Selbstinszenierung Tom Morellos Martin Butler

Dass Lied- oder Gedichtzeilen und deren Verfasser in unterschiedlichen Formen des politischen Kommentars herangezogen werden, um gegenwartsgesellschaftliche Verhältnisse auf den Punkt zu bringen, ist wohl keine Seltenheit: Im März 2017 beispielsweise, kurz vor dem geplanten Besuch der Bundeskanzlerin beim damals gerade erst vereidigten US-amerikanischen Präsidenten Trump, verweist Stephan-Andreas Casdorff in Der Tagesspiegel auf das wohl bekannteste Stück des amerikanischen Folk-Musikers Woody Guthrie, »This Land is Your Land«, um die Lage der US-amerikanischen Nation zu beschreiben. Diese, so suggeriert es Casdorffs Anspielung, habe sich weit entfernt vom Ideal demokratischer Ordnung, das der Song bereits in seinem Entstehungskontext eingefordert hat (»This Land was made for you and me«). Als »heimliche Nationalhymne der Vereinigten Staaten«, so hält Casdorff fest, würde durch den Song also »gut illustriert, was gerade in den Uneinigen Staaten von Amerika stattfindet«.1 Ein solcher Verweis ermöglicht, so ließe sich argumentieren, eine in der Persona Woody Guthrie und seinem Stück angelegte Deutung der gegenwärtigen politischen Situation. Denn der im Kommentar von Casdorff aufgerufene historische Kontext fungiert als Bezugspunkt für die Bewertung der Lage der Nation unter Trump: Der Rückgriff auf Guthries Song sowie dessen Charakterisierung als »heimliche Nationalhymne« lassen sich als Verweis auf einen auch im Jahr 2017 nicht realisierten Zustand deuten. Chiffreartig, so ließe sich argumentieren, verdichtet sich also in der Referenz auf Guthrie eine Problematisierung gegenwärtiger Verhältnisse unter Rückgriff auf eine spezifische historische Konstellation. Aber nicht nur die politische Berichterstattung, sondern auch das Feuilleton bedient sich nicht selten der Figur des Singer/Songwriters, auf die dann als Ausdruck eines spezifischen Zeitgeists, einer Stimmung oder Stimme einer ganzen Generation Bezug genommen wird bzw. die als solche durch die Bezugnahme erst hergestellt werden. Ausgesprochen oft und gerne wird dabei auf Bob Dylan zu1 | Casdorff, Stephan-Andreas: Merkel kommt Trump höchst ungelegen, in: Der Tagesspiegel, 3.3.2017 (URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/kanzlerin-beim-us-praesidenten-​ merkel-kommt-trump-hoechst-ungelegen/19506272.html [22.11.2018]).

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rückgegriffen, dem – und nicht erst seit der Würdigung seines Werks durch den Literaturnobelpreis – geradezu regelmäßig zugesprochen wird, dass sich in seinen Liedern (s)eine äußerst sensible Beobachtungsgabe widerspiegele, mit der die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihr Wandel stets zugespitzt und punktgenau bestimmt würden. Kritiker wie Marcus Greil schreiben ihm zu, das kollektive Unbewusste der amerikanischen Gesellschaft aufspüren zu können,2 andere behaupten gar, er sei »America’s living, breathing musical unconscious«.3 Das Potential Dylans als feinfühliger Beobachter und Kommentator wird ebenso hervorgehoben, wenn er als »ein Seismograph analytisch kaum zu fassender, untergründig politischer Stimmungen und Haltungen« beschrieben wird, als »ein Artikulator, der Atmosphärisches in Klänge fasst und diese zu Melodien verbindet, in denen man den Ton einer Zeit, einer Bewegung, eines Milieus entdeckt, wenn man ein entsprechendes Sensorium entwickelt und sich eingehört hat«.4 Schließlich wird ihm auch ein spezifisch diagnostisches Potential unterstellt – beispielsweise dann, wenn zur Bestimmung der gegenwärtigen Lage der Nation unter Trump Dylans Song »Slow Train Coming« herangezogen wird, da seine Zeilen ein »diagnostisches Element aufweisen, das die große Erzählung Amerikas als Land, das seine industrielle Identität verlieren wird, spiegelt«.5 Ausgehend von diesen Beobachtungen frage ich in meinem Beitrag danach, wie und unter welchen Umständen die Figur des Singer/Songwriters zu einem diagnostischen Subjekt gemacht wird. Am Beispiel des US-Amerikaners Tom Morello – der nicht selten als legitimer Nachfolger von Guthrie und Dylan adressiert wird und sich auch dementsprechend geriert – möchte ich zeigen, dass sich solche diagnostifizierenden Momente sowohl auf der Ebene der Songs und ihrer Aufführung als auch im Rahmen der Fremdinszenierung Morellos ausmachen lassen. Vorbereitet wird diese Analyse der Diagnostifizierung der Persona Morello durch eine Skizze der historischen und ästhetischen Verortung der Singer/Songwriter-Figur.

1. Z ur S inger /S ongwriter -F igur : B ezugsdiskurse , I mplik ationen , K onnotationen Als ›Label‹ zur Bezeichnung einer bestimmten Form der Produktion und Aufführung populärer Musik, die insbesondere nach dem Folk-Revival der 1950er und 1960er Jahre ›salonfähig‹ wird, erlangt der Begriff »Singer Songwriter« erstmals im Titel der 1965 veröffentlichten Songsammlung Singer Songwriter Project Album besondere Aufmerksamkeit.6 Zwar lässt sich die Kombination »Singer and Song2 | Marshall, Lee: Bob Dylan: The Never Ending Star, Cambridge/Malden MA 2007, S. 255. 3 | Zit.n. L. Marshall: Bob Dylan, S. 260. 4 | Alkemeyer, Thomas: Der Gestus der Gegenwarten. Zur Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan, 2016 (URL: www.blog.wizegg.uni-oldenburg.de/?p=854 [15.11.2018]). 5 | Dax, Max: Als Bob Dylan in die Zukunft Amerikas blickte, in: Süddeutsche Zeitung, 12.11.17 (URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/bob-dylan-als-bob-dylan-in-die-zukunft-amer​i kas-blickte-1.3736068 [22.11.2018]). 6 | Vgl. Green, Stuart/Isabelle Marc: More Than Words: Theorizing the Singer-Songwriter, in: Marc, Isabelle/Green, Stuart (Hg.): The Singer-Songwriter in Europe: Paradigms, Politics and Place, New York 2016, S. 1-19, hier S. 10f.

Praktiken der Diagnostifizierung der Singer/Songwriter-Figur

writer« zur Beschreibung von MusikerInnen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden, und bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchen Bezeichnungen wie »singer songwriter« oder auch »songwriter-singer« vereinzelt auf;7 der Begriff wird aber erst in den späten 1960er und den 1970er Jahren populär.8 Zunächst als »marketing tool«9 eingesetzt, wird er in der Folge sowohl im nordamerikanischen als auch im europäischen Kontext – oftmals retrospektiv – zur Bezeichnung solcher MusikerInnen verwendet, die zuvor der Folk- und Protestliedtradition zugeordnet wurden.10 In der Modellierung der Singer/Songwriter-Figur wird also einerseits an einen »folk discourse«11 angeknüpft, für den vor allem ein Gestus der Authentizität der Produktion und Aufführung zentral war;12 andererseits weicht das kollektiv-extrovertierte Element des Folk in der (Selbst-)Inszenierung von MusikerInnen zumindest in Teilen einer nun stärker auf das singende Individuum bezogenen Form des Ausdrucks – einem »confessional mode«, der sich an der US-amerikanischen »confessional poetry« der 1960er Jahre (u.a. von Robert Lowell, Sylvia Plath, Anne Sexton) orientiert und stärker introspektiv ausgerichtet ist, ohne dabei jedoch apolitisch zu werden.13 »While the new genre [des Singer/Songwriters] clearly represents a change in focus and in attitude from public confrontation and anger to personal struggle and a reflective sadness, it does not entail a rejection of social concerns«.14 Zugleich wird in der Verfertigung der Figur auch nicht selten auf die historisch viel weiter zurückreichende Traditionen des Barden oder Minnesängers15 sowie auch des in der europäischen Romantik prominenten Figur des poète maudit16 zurückgegriffen, des umherwandernden und marginalisierten Solo-Künstlers also, der aus distanzierter Perspektive die Geschehnisse in der Welt zu beobachten und zu kommentieren vermag. Das ständige In-Bewegung-Sein wird dabei als konstitutiv für den randständigen Status des Singer/Songwriters herausgestellt: »Within the pilgrimage, the liminal state can become fixed or permanent for the travellers«.17 Gleichzeitig ist dieser »liminal state« conditio sine qua non für seinen spezifischen Modus der Weltdeutung. Aus dieser Konstellation unterschiedlicher Elemente bildet sich die Vorstellung der Figur des Singer/Songwriters als Verkörperung eines »self-sufficient author of

7 | Vgl. Shumway, David A.: The Emergence of the Singer-Songwriter, in: Williams, Katherine/Williams, Justin A. (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, Cambridge 2016, S. 11-20, hier S. 11. 8 | Williams, Katherine/Williams, Justin A.: Introduction, in: Dies. (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, S. 1-7. 9 | S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 10. 10 | Vgl. ebd. 11 | S. Frith, zit.n. S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 11. 12 | Vgl. S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 11. 13 | Vgl. D. A. Shumway: The Emergence of the Singer-Songwriter, S. 14ff. 14 | Ebd., S. 17. 15 | Vgl. S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 6. 16 | Vgl. ebd., S. 12. 17 | Aldredge, Marcus: Singer-Songwriters and Open Mic, in: K. Williams/J. A. Williams (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, S. 278-290, hier S. 288.

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modernity«18 heraus, der entgegen der Einsicht in die Marktförmigkeit populärer Musik für die Autonomie und Authentizität künstlerischen Ausdrucks steht: »The singer-songwriter parallels […] the belief that the ideology of autonomous art still determines the struggles and defines the prizes in the field of cultural production«.19 Verstanden als »creatively inspired but solitary and troubled musical pilgrim«,20 verdichtet sich in der Figur des Singer/Songwriter introspektive Reflexion und soziales Bewusstsein.21 Vor dem Hintergrund dieser bis heute gängigen (und durch die kulturhistorische und kulturwissenschaftliche Forschung zum Thema sicher auch ko-produzierten) Vorstellung des Singer/Songwriters scheint sich diese Figur unter bestimmten Umständen zur Diagnostifizierung anzubieten. Zu vermuten wäre nun, dass dies insbesondere in solchen Phasen erfolgt, die als besonders prekär oder bedrohlich wahrgenommen worden sind und auch in der Geschichte des politischen Liedes in den USA als die Momente gelten, in denen das sozialkritische Potential des Singer/Songwriters auf besondere Art und Weise zur Entfaltung gebracht wird, wie z.B. in der Großen Depression der 1930er Jahre, während des Zweiten Weltkriegs oder der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre.22 Um nun zu vermeiden, dass die Untersuchung der Diagnostifizierung von Singer/Songwriter-Figuren nicht nur eine Auswahl von Künstlern bestätigt, denen nach bestimmten Selektionskriterien ein Platz im Kanon amerikanischer Kulturgeschichtsschreibung zugewiesen wurde und die gerade deshalb als Diagnostiker besonders ›geeignet‹ erscheinen, sei an dieser Stelle das längst Augenfällige thematisiert: In Anbetracht der üblicherweise, d.h. eben auch in den in diesem Beitrag zitierten Quellen herangezogenen Namen in der Beschreibung der Singer/Songwriter-Figur als Subjekt bzw. Medium der Diagnose wird schnell deutlich, dass Diagnostifizierungsprozesse mit Blick auf die Kategorien Gender und Ethnizität anscheinend mit einem bias belegt sind: Künstler, auf die als Singer/Songwriter Bezug genommen wird, und denen als solche ein besonderes, unter bestimmten Umständen eben diagnostisches Verhältnis zur Welt zugesprochen wird, sind überwiegend männlich und weiß. Zwar gibt es bis heute durchaus eine Vielzahl weiblicher Singer/Songwriter.23 Diese werden aber nur selten als solche wahrgenommen. Denn im Einklang mit einem im Popdiskurs (immer noch) dominanten heteronormativen Gendermodell werden die für die Singer/Songwriter konstitutiven Merkmale der Autonomie und Authentizität in der Regel männlichen Vertretern des Genres zugeschrieben:

18 | S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 12; vgl. auch ebd., S. 10. 19 | Zit.n. ebd., S. 12. 20 | M. Aldredge: Singer-Songwriters and Open Mic, S. 288. 21 | Vgl. ebd. 22 | Zum dokumentarischen und prognostischen Potential Woody Guthries während der Weltwirtschaftskrise vgl. z.B. Jackson, Mark A.: Prophet Singer: The Voice and Vision of Woody Guthrie, Jackson, MS 2007; zur Prophetie Dylans vgl. u.a. Rogovoy, Seth: Bob Dylan: Prophet, Mystic, Poet, New York 2009. 23 | Vgl. Taylor, Jennifer: Gender, Genre, and Diversity at Lilith Fair, in: K. Williams/J. A. Williams (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, S. 215-225, hier S. 218f.

Praktiken der Diagnostifizierung der Singer/Songwriter-Figur »The perceived autonomy essential to the singer-songwriter is routinely denied to female artists […].What we perceive as a negative opinion of female singer-songwriters by the music industry and many male listeners (with the conspicuous exceptions of Joni Mitchell, Joan Baez and a handful of others) is consistent with the discrimination against women in popular music in general. This bias also stands in sharp contrast to the prominence of women in the genre of the singer-songwriter«. 24

Zentral für die männliche Konnotation der Singer/Songwriter-Figur ist dabei wohl nicht zuletzt die ebenfalls männlich besetzte romantische Konzeption von Autorschaft:25 »Still now, ›high art criteria [such as authorship] are most often invoked to legitimate male musicians than female musicians‹«.26 Joni Mitchell sieht in dieser Idee von Autorschaft gar die Grundlage der (im Kunstdiskurs durchaus gängigen) Unterstellung weiblicher Unfähigkeit zur Artikulation der ›wirklich wichtigen Angelegenheiten‹: »It is no compliment to be called a ›female songwriter‹ as it ›implies limitations [which have] always been true of women in the arts‹, who are seen as incapable of really tackling the important issues that men could tackle«.27 Die Figur des Singer/Songwriters ist allerdings nicht nur männlich konnotiert, sondern ist in erster Linie auch eine weiße Figur.28 Zwar wird nicht selten auf den Blues als wichtigen Bezugspunkt in der Tradition des Singer/Songwriters hingewiesen, das ›Label‹ Singer/Songwriter wird aber auf eigentlich ›einschlägige‹ afroamerikanische KünstlerInnen nicht konsequent angewendet: »African American musicians such as BB King, Chuck Berry, Ray Charles, Muddy Waters, Otis Redding, Stevie Wonder, James Brown, or Nina Simone are usually described as within a genre, such as soul, funk, rhythm’n’blues or jazz, rather than as singer-songwriters«.29 Im intersektionalen Zusammenspiel der Kategorien ›gender‹ und ›race/ ethnicity‹ schließlich wird die Hierarchie der Anerkennung in diesem Bereich populärkultureller Musikproduktion schnell deutlich: »white women have continued to thrive as singer-songwriters, while women of other ethnicities are less visible as singer-songwriters in the mainstream, commercial market […] As a result, black women do not always figure into either the racially marked women’s music scene or singer-songwriter category, where whiteness and respectability run deep«. 30

24 | S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 15f.; vgl. auch Tomatis, Jacopo: Rediscovered Sisters: Women (and) Singer-Songwriters in Italy, in: I. Marc/S. Green (Hg.): The Singer-Songwriter in Europe, S. 79-91, hier S. 80ff. 25 | Vgl. J. Tomatis: Rediscovered Sisters, S. 81f. 26 | Ebd., S. 81. Tomatis zitiert den Artikel »Gender and Cultural Consecration in Popular Music« von Vaughn Schmutz und Alison Faupel aus dem Jahre 2010. 27 | Zit.n. Fellezs, Kevin: Gender, Race, and the Ma(s)king of »Joni Mitchell«, in: K. Williams/J. A. Williams (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, S. 201-214, hier S. 207. 28 | Vgl. Till, Rupert: Singer-Songwriter Authenticity, the Unconscious and Emotions (feat. Adele’s ›Someone Like You‹), in: K. Williams/J. A. Williams (Hg.): The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter, S. 291-304, hier S. 295. 29 | Ebd. Vgl. auch S. Green/I. Marc: More Than Words, S. 16. 30 | J. Taylor. Gender, Genre, and Diversity at Lilith Fair, S. 219.

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Wer also als gegenwartsdiagnostizierender Singer/Songwriter adressiert und in Szene gesetzt wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wer überhaupt als Singer/Songwriter wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: Die Voreingenommenheit in Bezug auf Gender und Ethnizität in der Verfertigung der Singer/Songwriter-Figur wird, so lässt sich annehmen, auch in Prozessen ihrer Diagnostifzierung wirksam, die sich als Momente einer fortwährend exkludierenden Konsekration31 und Kanonbildung verstehen lassen. Vor diesem Hintergrund läuft sicher auch ein Beitrag wie dieser stets Gefahr, mit seiner Text- und Kontextauswahl eine bereits erfolgte Auswahl von Gegenwartsdiagnostikern lediglich zu affirmieren. Im Bewusstsein dieses formativen Potentials der eigenen Untersuchung ist der Blick gerade auf diese Selektionskriterien und -mechanismen lohnenswert, ermöglicht er doch – ausgehend von der Figur des Singer/Songwriters – danach zu fragen, wer in modernen westlichen Gesellschaften überhaupt als Gegenwartsdiagnostiker in Frage kommt und wer nicht, wem die Kompetenz und die Autorität des Diagnostizierens zugesprochen wird und wem nicht.

2. K onstell ationen der D iagnostifizierung : Z ur  V erfertigung der P ersona Tom M orello Vielleicht ist es gerade die der Figur des Singer/Songwriters unterstellte besondere Beobachtungs- und Beurteilungsgabe, die sie in der jüngeren Vergangenheit erneut zu einem Bezugspunkt der Selbst- und Fremdinszenierung von Musikern gemacht hat. Denn durch diese Bezugnahme lässt sich eine als gesellschafts- und medienkritisch geltende Position beziehen, die innerhalb eines als technologisiert und ökonomisiert wahrgenommenen popkulturellen Feldes besonders authentisch anmutet: »The singer-songwriter tradition draws upon folk and blues histories, suggesting a definition of popular music in terms of music of the populace, and connecting it with orality and issues of authenticity. In an era of composition where computer music technology and online distribution have made more accessible the creation, performance and distribution of popular music, the singer-songwriter model of popular music creation is gaining attention from those who recognise its increasing relevance and importance within musical culture. It is also being reinvented and revived, from bedroom electronic music producers to new folk musicians«. 32

In der Tat scheinen in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise Solo-Alben ehemaliger Mitglieder populärer (Rock-)Bands eine durchaus verbreitete Erscheinung zu sein, auf denen sich die Solo-Künstler als Variationen der Singer/Songwriter-Figur in Szene setzen und auch nicht selten als solche wahrgenommen werden. Genannt seien hier u.a. Father John Misty (ehemaliger Schlagzeuger der Band Saxon Shore), Chuck Ragan (Sänger der Band Hot Water Music), Brian Fallon (Sänger und Gitarrist von The Gaslight Anthem) Jeff Tweedy (Sänger und Gitarrist der Band 31 | Vgl. J. Tomatis: Rediscovered Sisters, S. 87ff. Tomatis beruft sich auf das Konzept der Konsekration von Bourdieu und schließt auch hier an Vaughn Schmutz und Alison Faupel an. 32 | R. Till: Singer-Songwriter Authenticity, S. 302.

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Wilco), Greg Graffin (Sänger der Band Bad Religion) oder eben auch Tom Morello (ehemaliger Gitarrist der Band Rage Against the Machine), die sich allesamt auf die eigene Stimme und eine akustische Instrumentalisierung beschränken. Auch jenseits des weiß und männlich konnotierten Rock-Paradigmas, in das sich die Singer/Songwriter-Figur sowohl musikästhetisch als auch weltanschaulich vergleichsweise problemlos ›einpassen‹ lässt, haben sich eine Reihe von KünstlerInnen etablieren können, die als Singer/Songwriter auftreten bzw. eingesetzt werden (u.a. Kendrick Llamar, Adele, Alicia Keys oder Rhiannon Giddens). Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan im Jahr 2016 lässt sich vielleicht sogar als Ausdruck dieser ›neuen‹ Popularität der Figur des Singer/Songwriters als Bezugspunkt zur Deutung von Gegenwart verstehen.33 Aber auch die aktuelle politische Situation in den Vereinigten Staaten mag dieser Tendenz Vorschub leisten – das Magazin Rolling Stone jedenfalls stellt in seiner Ausgabe vom 23. März 2017 eine neue ›Riege‹ von Singer/Songwritern vor, die sich als »new protest singers« in gegenwärtige politische Diskurse einmischen. Hier heißt es: »Ever since Woody Guthrie branded his guitar with the words THIS MACHINE KILLS FASCISTS, folk music has made defining American values a mission. So it’s fitting that in this immigrant-bashing, race-baiting era, a new generation of songwriters are putting their machines to work, and doing more than slinging slogans«. 34

Als Vertreter dieser neuen Generation hat sich Tom Morello in den letzten Jahren als »The Nightwatchman« einen Namen gemacht. Dabei wird der Persona Morello – verstanden als Aktualisierung der Figur des Singer/Songwriters – durch unterschiedliche Formen der Selbst- und Fremdinszenierung diagnostisches Potential zugesprochen.35 Dieser Prozess der Diagnostifizierung geschieht – zumindest im Fall Morello – insbesondere über eine bestimmte Aneignung der Vergangenheit als Ausgangspunkt für die Produktion von Bedeutung im Hier und Jetzt. Mit anderen Worten: Unter Rückgriff auf bestimmte historische Referenzpunkte werden in der Fremd- und Selbstinszenierung Morellos die Gegenwart sinnfällig gemacht und Zukunftsszenarien zumindest impliziert. Dieses ›Wieder-Holen‹ des Vergangenen 33 | Diese Bezugnahme auf die Singer/Songwriter-Figur als eine die Gegenwart deutende Figur knüpft nicht zuletzt an die auch in anderen Bereichen der Kulturproduktion durchaus gängige und in unterschiedlichen historischen Kontexten anzutreffende Vorstellung des Künstlers als ›Seismograph‹ (moderner) gesellschaftlicher Verhältnisse an. Zu dieser Vorstellung vgl. u.a. Fleckner, Uwe: Der Künstler als Seismograph. Zur Gegenwart der Kunst und zur Kunst der Gegenwart, Hamburg 2012; Brunner, Maria E.: Geschichte und Zeugenschaft: Literatur als Seismograph von Kulturen und Gesellschaftsformen der Gegenwart, Würzburg 2016. 34 | The New Protest Singers, in: Rolling Stone Nr. 1283, 23.3.2017, S. 49-50, hier S. 49. 35 | Der Begriff der »Persona«, der hier stets mit Bezug auf den konkreten Fall Morello verwendet wird, impliziert, dass sich die in der Performanz Morellos aktualisierte Figur des Singer/Songwriters »ausgehend von einem textuellen lyrischen Ich [konstituiert], das sich als konstruierte Größe durch biografische und realweltliche Bezüge auf die empirische Autorfigur beziehen kann und so deren Identität mit dem Text-Ich unverbindlich suggeriert« (Huber, Till: Blumfeld und die Hamburger Schule: Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop, Göttingen 2016, S. 218).

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zum Zwecke des Vorausdeutens verstehe ich dabei als zentrales Charakteristikum einer spezifisch diagnostischen Form der Deutung von Welt, die sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigt: auf der paratextuellen Ebene (d.h. beispielsweise mit Blick auf das visuelle Arrangement von Plattencovern, die Bookletlayouts), auf der Ebene der Performance (u.a. im Rahmen von Live-Gigs) und auf der Ebene der Liedtexte. Neben diesen v.a. produktionsästhetisch relevanten Momenten tragen zudem medial und institutionell differente Formen der Rezeption (z.B. in Reviews, in Blogs) zur Konstituierung der Persona Morello als diagnostizierendem Singer/ Songwriter bei. Deren distanzierend beobachtende Position wird bereits durch den schon genannten Künstlernamen »The Nightwatchman« evoziert: Morello tritt auf und in Erscheinung als eine über das Wohl der Menschen wachende Instanz, die in prekären, unsicheren Zeiten (eben nachts) dafür sorgt, dass die Dinge in Ordnung bleiben oder wieder gebracht werden – als eine »höhere Sozietät«,36 wie Kunicki die Figur des Nachtwächters aufgrund seiner regelmäßigen Einsamkeit charakterisiert. Darüber hinaus verweist der Titel seines ersten Albums One Man Revolution aus dem Jahr 2007 – also aus dem Jahr, das in einer Reihe retrospektiver Betrachtungen den Beginn der Finanzkrise markiert – auf das transformative Potential seines künstlerisch-politischen Ausdrucks. Den Albumrücken ziert ein schwarz-weißes Foto eines US-Highways – ganz in der Tradition des umherwandernden Barden, welche auch schon für Woody Guthrie, Bob Dylan oder Bruce Springsteen als zentrale Bezugsfolie fungierte, wird Morello hier also inszeniert als rast- und ruheloser Zeitgenosse, der seine Stimme aus einer marginalisierten Position hörbar macht. Sein In-Bewegung-Sein, symbolisiert durch das Bild der Straße, die sich gen Horizont verjüngt, schafft die nötige Distanz für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Status Quo.37 Die Aktualisierung dieses nicht nur in der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte wiederkehrenden Topos des ›itinerant man‹, der durch seine Mobilität überhaupt erst dazu befähigt wird, die Dinge, die sich ansonsten unsichtbar (fehl-)entwickeln, zu sehen und zu benennen,38 ist auch für Inszenierungen Morellos im weiteren Verlauf seiner Karriere kennzeichnend: Nach der Veröffentlichung seines ersten Solo-Albums trägt er u.a. im Rahmen einer Reihe von Live-Auftritten in den Straßen New Yorks wesentlich zum ›Soundtrack‹ der damals aufkommenden Occupy Wall Street-Bewegung bei und läutet dabei – im Schulterschluss mit anderen MusikerInnen – eine Art ›Folk Revival 2.0‹ ein, indem er sich sowohl auf 36 | Kunicki, Woijciech: Ernst Jüngers Nietzscheanische Rückkehr zur Theologie im Werk der 30er Jahre, in: Romahn, Carolina/Schipper-Hönicke, Gerold (Hg.): Das Paradoxe: Literatur zwischen Logik und Rhetorik, Würzburg 1999, S. 173-184, hier S. 181. 37 | Vgl. zu dieser Denkfigur auch Gross, Peter: Der Nomade, in: Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, S. 316-325. 38 | Vgl. dazu ausführlich Butler, Martin: Ramblin’ Men: The Figure of the Hobo in American Folk Culture, in: Ganser, Alexandra/Gerund, Katharina/Paul, Heike (Hg.): Figures of Mobility: Pirates, Drifters, Fugitives in the U.S. and Beyond, Heidelberg 2012, S. 155-175; Ders.: Woody Guthrie und Punk: Formen und Funktionen einer fruchtbaren Zusammenarbeit, in: Schiller, Dietmar (Hg.): »A Change is Gonna Come«: Popmusik und Politik. Beiträge zu einer politikwissenschaftlichen Popmusikforschung, Münster 2013, S. 171-182.

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musikalisch-performativer Ebene als auch hinsichtlich seiner politischen Positionierung auf die amerikanische Protestliedtradition (oder deren romantisch-verklärter retrospektiver Auslegung) bezieht. Die Bezugnahme auf vergangene musikalische Traditionen und deren implizite und explizite Muster der problematisierenden Weltdeutung auf textueller, musikalischer und performativer Ebene zur Bewertung der Gegenwart und zur (expliziten wie impliziten) Formulierung zukünftiger Entwicklungen trägt zur Diagnostifizierung der Persona Morellos bei. Denn sie erlaubt eine Selbstverortung jenseits des sogenannten ›Mainstreams‹, am ›Rande der Gesellschaft‹ – an einem Ort, an dem, so könnte man sagen, ein diagnostischer Blick zuallererst ermöglicht wird. Mit anderen Worten: Die Bezugnahme des Musikers auf den Gemeinplatz des Barden (aktualisiert in den Figuren des musizierenden Wanderarbeiters bzw. des ›Hobos‹39) in Prozessen der Selbst- bzw. Fremdinszenierung, vor allem durch eine Reihe von intertextuellen und intermedialen Verweisen auf die mittlerweile ikonischen literarischen und musikalischen Texte und deren Verfasser aus den 1930er Jahren – allen voran Woody Guthrie – eröffnet eine Position der Marginalität. Die dadurch geschaffene Distanz zum Gegenstand der Beobachtung wird als Voraussetzung für die Objektivität des Blicks ausgestellt, das Nicht-Gefangensein in den Umständen zur Bedingung der Möglichkeit der Diagnose eines krisenhaften Hier und Jetzt, verbunden mit dem (expliziten oder impliziten) Verweis auf zukünftige Entwicklungen, in der Regel durch den Rückbezug auf als historische Präzedenzen inszenierte Ereignisse/Narrative/Ikonen. Die randständige Position bzw. Positionierung legitimiert und autorisiert also den Diagnostizierenden, wird zur conditio sine qua non für die Herausbildung (s)eines in diesem Falle dezidiert männlich und weiß konnotierten diagnostischen Blicks.40 Im US-amerikanischen Kontext lässt sich diese Argumentationsfigur der besonderen Legitimität und Notwendigkeit des diagnostischen Blicks ›von außen‹, die eben auch in der Inszenierung der Persona Morello wirksam wird, als Aktualisierung der in der US-amerikanischen Kulturgeschichte so zentralen Gattung der Jeremiade verstehen.41 Wie u.a. Sacvan Bercovitch herausgearbeitet hat, ist für diese Form des gesellschaftskritischen, gleichzeitig aber an der Vorstellung einer perfekten Gesellschaft als utopischen Zukunftsentwurf festhaltenden ›Klageliedes‹ die Idee des widerständigen ›Unterwegs-Seins‹ als systemstabilisierendes Moment 39 | Die Figur des ›Hobos‹ wurde vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der an Bedeutung und Einfluss gewinnenden Gewerkschaftsbewegung als Teil eines »vanguard of larger social changes« (DePastino, Todd: Citizen Hobo: How a Century of Homelessness Shaped America, Chicago/London 2003, S. 110) inszeniert. Gerade aufgrund seiner Außenseiterstellung, so die Argumentation, war der ›Hobo‹ in der Lage, eine andere, nicht korrupte oder korrumpierbare Perspektive auf die Lage der Nation einzunehmen und somit als ›cultural custodian‹ zu fungieren. Für gewerkschaftlich organisierte Gruppierungen wie die International Brotherhood Welfare Association (I.B.W.A.) oder die Industrial Workers of the World (I.W.W.) war die Lebensform des ›Hobo‹ Modell für einen Typus Mensch, der die eigene Existenz für die der arbeitenden Klasse aufopferte. T. DePastino: Citizen Hobo, S. 110, schreibt: »hoboes were ›a chosen people‹ burdened by the world-historical mission of ushering in the glorious socialist future.« 40 | Vgl. auch M. Butler: Ramblin’ Men; sowie Ders.: Woody Guthrie und Punk. 41 | Vgl. u.a. Bercovitch, Sacvan: The American Jeremiad, Madison 1978.

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zentral, denn die durch das Unterwegs-Sein ermöglichte diagnostische Perspektive geht – zumindest in der zur Rede stehenden Gattung – in der Regel mit einem emphatischen Aufruf zur Re-Integration der bedrohten Gesellschaftsordnung einher: »the very act of identifying malfunction becomes an appeal for cohesion«.42 Denn gerade dadurch, dass sie den kritischen und ›reinen‹ Blick von außen ermöglicht, vermag die Jeremiade zu einem »renewed sense of community«43 beizutragen: »The logic of the American jeremiad demands that the centrality of the community routinely be reconceived by the marginalized individual consciousness. And the individual consciousness, authorized by the community, no longer appears as a detached and a free point of origin for ethical action«. 44

Die Figur des Singer/Songwriters und deren Aktualisierung in der Persona Morellos, verortet im Peripheren, im Marginalen, im Subkulturellen, treten also immer dann ›in Erscheinung‹, wenn die Funktionsfähigkeit dessen, was als ›Zentrum‹ anerkannt ist, prekär oder bedroht erscheint. Neben diesen intermedialen, auf verschiedene Topoi und Formen der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte zurückgreifenden Arrangements der Inszenierung von Morello als stets mobile, marginale Persona, deren Mobilität und Marginalität ihr eine Position erschließen, von der aus die Diagnose der Gegenwart nicht nur legitim, sondern überhaupt erst möglich erscheint, lassen sich auch die Songs von Morello sowie deren performative Rahmungen bei Live-Konzerten als multidimensionale Verweisungszusammenhänge verstehen und analysieren, in denen sich unterschiedliche historische Konstellationen verdichten und miteinander ins Spiel gebracht werden. Bei einer gemeinsamen Performance mit Bruce Springsteen45 im New Yorker Madison Square Garden im Oktober 2009,46 die im Folgenden mit Blick auf ihre diagnostifizierenden Momente etwas genauer angeschaut werden soll, wird Morello nach einer die Tradition amerikanischer Singer/Songwriter beschwörenden Vorrede Springsteens von diesem auf die Bühne gerufen. Nachdem also Springsteen in einer rückwärtsgerichteten Perspektive eine (ebenfalls weiß und männlich geprägte) Genealogie des Rock’n’Roll über Bob Dylan, Hank Williams, Pete Seeger, 42 | Bercovitch, Sacvan: The Problem of Ideology in American Literary History, in: Critical Inquiry 12, 1986, S. 631-653, hier S. 644; vgl. auch M. Butler: Ramblin’ Men; sowie Ders.: Woody Guthrie und Punk. 43 | Alkana, Joseph: Introduction: Cohesion, Dissent, and the Aims of Criticism, in: Colatrella, Carol/Alkana, Joseph (Hg.): Cohesion and Dissent in America, Albany, NY 1994, S. ix-xxi, hier S. xi. 44 | Ebd. Vgl. dazu auch M. Butler: Ramblin’ Men; sowie Ders.: Woody Guthrie und Punk. 45 | Auch diesem wird übrigens nicht selten diagnostisches Potential zugeschrieben, u.a. in einem Beitrag der FAZ nach dem Wahlsieg Trumps, vgl. Flatten, Maak: Bruce Springsteens Prognose: Zurück an die Hochöfen der Hölle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.12.2016. Ich danke Uwe Schimank für den Hinweis auf diesen Artikel. 46 | Bruce Springsteen w[ith] Tom Morello – Ghost of Tom Joad – Madison Square Garden, NYC – 2009/10/29&30 (URL: https://www.youtube.com/watch?v=n-mq0uJ7rlM [22.11.2018]).

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Woody Guthrie und Leadbelly bis hin zu den »fathers of folk music« skizziert und dann auf die aktuelle gesellschaftliche Problemlage hinweist (»hard times on Wall Street and hard times on Main Street«), ist der Boden für die Ankündigung Morellos bereitet. Die als rite de passage inszenierte Anrufung Morellos als »one of the greatest guitar players in rock’n’roll« (und – zumindest implizit – als Nachfolger in der eben skizzierten Reihe von Musikern) produziert eine Erzählung von Kontinuität; die dann folgende, gemeinsam vorgetragene musikalische Darbietung trägt zur wechselseitigen Konsekration der beiden Musiker bei. Nachdem Springsteen Morello auf die Bühne bittet, beginnt die Band mit dem Song, die zur Aufzeichnung des Konzerts installierten Kameras machen durch ihre Einstellung die beiden eindeutig als Protagonisten des Abends identifizierbar. Springsteens Gesang setzt ein, Morello steht leicht versetzt hinter ihm und spielt noch nicht mit. Nach einem langsamen, zoomenden Schwenk der Kamera auf Springsteen während der ersten Strophe des Songs bewegt sich diese wieder in Richtung Halbtotale, sodass Morello erneut mit ins Bild rückt, der am Ende des ersten Refrains dann mit seiner Gitarre einstimmt und die zweite Strophe singt. Dieser sich entlang der Songstruktur entwickelnde »Dialog« kulminiert zunächst im zweiten Refrain, der von beiden gesungen wird, bevor Springsteen und Morello im Wechsel jeweils zwei Gitarrensoli zum Besten geben. Die dann folgende Strophe wird aufgeteilt von beiden gesungen, der nächste Refrain wiederum zusammen. In der langen rein instrumentalen Schlusspassage richtet sich die Aufmerksamkeit schließlich ganz auf Morello, der ein experimentell-ekstatisches Gitarrensolo vorträgt, bevor sich Springsteen nach Ausklingen des gemeinsamen Schlussakkords mit einer Umarmung bei ihm bedankt. Zentral bei dieser Darbietung ist nicht nur die Inszenierung eines den Fortbestand der amerikanischen Liedtradition sicherstellenden Dialogs der Generationen, sondern auch bzw. vor allem das Lied, das gespielt wird. »The Ghost of Tom Joad« nämlich ist eines der Lieder Springsteens, mit dem er sich selbst schon Mitte der 1990er Jahre explizit in diese Tradition einordnet: Im Jahre 1995 veröffentlichte Springsteen das gleichnamige Album und spielte mit Album- und Liedtitel auf den Protagonisten des Romans Früchte des Zorns von John Steinbeck aus dem Jahr 1939 an – ein Roman, dessen Plot ein Jahr nach Veröffentlichung bereits in einer Ballade von Woody Guthrie vertont wurde, die sich der Melodie eines traditionals über den (möglicherweise zu Unrecht) wegen Mordes zum Tode verurteilten Bahnarbeiter John Hardy bediente.47 Diese Verquickung unterschiedlicher ›Bezugsquellen‹ (sowohl synchron als auch diachron gedacht) macht die Aufführung von »The Ghost of Tom Joad« durch Springsteen und Morello zu einem Knotenpunkt unterschiedlicher historischer Kontexte, an dem nicht nur die Vergangenheit aktualisiert, sondern – wie noch zu zeigen sein wird – auch ein diagnostischer Blick auf die Gegenwart durch den Rückbezug auf Vergangenes Gestalt annimmt. Die Darbietung des Stücks ist also 47 | Die folgende Lesung des Songs folgt der in Butler, Martin: Referenz und Inszenierung. Oder: Warum der Geist von Tom Joad immer noch spukt: Zum Potential (populär)kultureller Ausdrucksformen in der Modellierung migrantischer Subjekte, in: Mecheril, Paul (Hg.): Subjektbildung: Interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2014, S. 7996; sie ist aber im Hinblick auf die Identifikation der diagnostischen Potentiale des Songs anders perspektiviert.

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nicht nur das Resultat eines Dialogs zweier Generationen von Musikern, wie es die ankündigenden Worte Springsteens und die Choreographie der beiden Musiker implizieren, sondern wird durch die sie prägenden multiplen Referenzen auf das ›Repertoire‹48 differenter amerikanischer Protestliedtraditionen sowie semantisch aufgeladener, ikonischer Kontexte (›Weltwirtschaftskrise‹) selber dialogisch. Während der Gegenwartsbezug des Stücks auf der Ebene der Performance durch die Ko-Präsenz von Springsteen und Morello als Vertreter zweier Generationen von Singer/Songwritern hergestellt wird, erzeugt auch der Liedtext durch einen Verweis auf die in den 1990er Jahren vom damaligen Präsidenten George Bush beschworene ›neue Weltordnung‹ nach dem Ende des kalten Krieges eine besondere Aktualität und nutzt als sinnstiftende Bezugsfolie den Kontext der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, der über die »narrative Abbreviatur«49 ›Tom Joad‹ aufgerufen wird. Der Song macht durch den Rückgriff auf Vergangenes auf die gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Missstände im Land aufmerksam und fokussiert dabei die Figur des obdachlosen Migranten, die er vor dem Hintergrund von Steinbecks Romancharakter entwickelt. Der Sprecher des Songs ist mitten unter denen, die ständig gleichermaßen auf der Flucht (vor der Polizei) und auf der Suche (nach einer zweiten Chance) sind, und beklagt deren äußerst prekäre körperliche und seelische Verfassung (»No home no job no peace no rest«): »Men walkin’ ’long the railroad tracks Goin’ someplace there’s no goin’ back Highway patrol choppers comin’ up over the bridge Hot soup on a campfire under the bridge Shelter line stretchin’ ’round the corner Welcome to the new world order Families sleepin’ in their cars in the Southwest No home no job no peace no rest The highway is alive tonight But nobody’s kiddin’ nobody about where it goes I’m sittin’ down here in the campfire light Searchin’ for the ghost of Tom Joad.«

Eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation, die sich hier – so suggeriert es die topographische Markierung »Southwest« – plausibel auf das Schicksal vieler mexikanischer MigrantInnen beziehen lässt, die legal und illegal in die USA einwandern, brächte nur der »ghost of Tom Joad« – eine rebellische, widerständige Einstellung also, eine Handlungsoption, die zu verfolgen sein müsste, wollte man sich aus der Position des Opfers einer »new world order« hinausmanövrieren. Eine konkrete Aufforderung, diese Option auch tatsächlich zu realisieren, bleibt der Song aber schuldig. 48 | Sensu Taylor, Diana: The Archive and the Repertoire: Performing Cultural Memory in the Americas, Durham 2003. 49 | Vgl. zum Konzept der »narrativen Abbreviatur« Rüsen, Jörn u.a.: Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein von Abiturienten im Ruhrgebiet, in: Borries, Bodo von/Pandel, Hans-Jürgen/Rüsen, Jörn (Hg.): Geschichtsbewusstsein empirisch, Pfaffenweiler 1991, S. 221-344.

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Als Erklärungsmuster des Hier und Jetzt und zur Skizzierung einer Interventionsoption verweist der Song also zurück in die Vergangenheit und bedient sich bei Steinbeck. Dabei ruft er mit dieser intertextuellen Referenz nicht nur Steinbecks Roman, sondern eine bestimmte, historisch eingebettete, aber dennoch im kulturellen Gedächtnis zur Verfügung stehende, an eben diesen Text und die Autorfigur Steinbeck geknüpfte weltanschauliche Disposition auf. Mit anderen Worten: Die Aktualisierung des Songs durch Morello/Springsteen generiert einen semantischen Überschuss durch die Bezugnahme auf einen selbst schon ikonisch gewordenen Text bzw. dessen Protagonisten. Mehr noch: Die Bezugnahme dient Morello und Springsteen zudem als Strategie der Selbstinszenierung und Positionierung, einerseits politisch: als linke Rockmusiker, die den ›Armen, Schwachen und Unterdrückten‹ eine Stimme verleihen, andererseits ästhetisch: als Teilhaber an einer literarischen Tradition sowie an einer intellektuellen, historisch sowie gegenwärtig präsenten, kritischen Reflexion über die US-amerikanische Gesellschaft. Der Song ließe sich also beschreiben als eine »blicklenkende ›Möglichkeitserwägung‹«,50 die im Modus der »Zeigegeste […] ein Deutungsangebot darüber [liefert], wie die Gesellschaft verfasst ist, bzw. in welche Richtung sie sich entwickelt«.51 Dies passiert in erster Linie durch die Aktualisierung vergangener gesellschaftlicher Konstellationen, die in der Regel schon zu simplifizierenden Schemata geronnen sind bzw. auf die nur komplexitätsreduzierend Bezug genommen wird.52 Dadurch, dass der Song also auf eine bereits schematisierte Vergangenheit rekurriert, mit der die Gegenwart auf eine bestimmte Art und Weise sinnfällig gemacht wird, tritt einerseits ein »Fokussierungseffekt«53 ein, den Krähnke als charakteristisches Merkmal diagnostischen Zeigens identifiziert. Folgte man Krähnke in seiner Beschreibung der Spezifik der Zeitdiagnose als Modus der Problematisierung von Gegenwart, so müsste das ›Zeigen auf etwas‹ gleichermaßen zu einer »Unschärfe«, einem »Diffusionseffekt«54 führen, »denn eine Zeigegeste erklärt nichts, sondern orientiert nur auf etwas«.55 Hier nun erfüllt meines Erachtens gerade das dezidiert und explizit an der Vergangenheit ausgerichtete Zeigen auf die Gegenwart mehr als nur eine Orientierungsfunktion, denn die Aktualisierung des Vergangenen birgt zumindest vorausdeutendes Potential im Sinne einer (zumindest suggerierten) Analogiebildung (»es ist jetzt so, wie es damals auch einmal war, und wir wissen ja, wo das hinführen kann!«). Man könnte hier also von einem Plausibilisierungseffekt sprechen, insofern, als die Zukunft der inszenierten Vergangenheit – geronnen als scheinbar verbürgter Kausalzusammenhang im kulturellen Gedächtnis – als sinnstiftende Bezugsfolie für die Imagination einer möglichen Zukunft der Gegenwart fungiert. Mit anderen Worten: Durch den Aufruf des Kontexts der Weltwirtschaftskrise und der da-

50 | Krähnke, Uwe: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler: Zur Heuristik metaphorischer Gesellschaftsbeschreibungen, in: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016, S. 7-20, hier S. 8. 51 | Ebd. 52 | Vgl. ebd., S. 8ff. 53 | Ebd., S. 8. 54 | Ebd. 55 | Ebd.

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mit zusammenhängenden massiven sozialen Missstände, »sprachlich indiziert«56 durch den Verweis auf Steinbecks Protagonisten »Tom Joad«, »kann die Kluft zu kognitiv noch nicht klar erfassbaren Gesellschaftsphänomenen bzw. -trends überbrückt werden«,57 die dadurch verstehbar(er) und in ihren Folgen abschätzbar(er) gemacht werden. Dieses ›Wieder-Holen‹ der Bezugsgröße »Great Depression« kommt dabei allerdings nicht ganz einer ›Anamnese‹ im Sinne der Identifikation von »in der Vergangenheit liegende[n] empirische[n] Sachverhalte[n]«58 gleich; vielmehr inszeniert das Lied eine bestimmte Version der Vergangenheit als Maßstab zur Beurteilung des Hier und Jetzt. Der Song wird also diagnostisch lesbar. Man könnte sagen, er führt in verdichteter Form das vor, was Oliver Dimbarth als charakteristisch für den Bezug zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenwartsdiagnostischen Narrativen hält: Er zeichnet »ein bestimmtes Bild von Geschichte« und bezieht sich dabei »auf typisierte Formen des Überkommenen, die als sozialhistorische Deutungsmuster Anerkennung bekommen«.59 Dieses Überkommene, so ließe sich ergänzen, muss der Gegenwart nicht unbedingt unmittelbar vorzeitig sein, sondern kann sich auch auf historisch ›entferntere‹ Kontexte beziehen, die durch Analogiebildung zur Erklärung der gegenwärtigen Situation und zur Abschätzung möglicher Konsequenzen herangezogen werden.60 Mit anderen Worten: Die über die Figur Tom Joad aufgerufene Erinnerung an die Große Depression wird zu einer Art »geteilten Erfahrungszusammenhangs«61 der sowohl ein Muster zur Deutung der Gegenwart als auch – im Sinne eines »Zukunftsgedächtnisses«62 – einen Erwartungshorizont für die Zukunft hervorbringt.63 Selbstredend sind schon die historischen Bezugsfolien, auf die Morello und Springsteen auf textueller und performativer Ebene zurückgreifen, mediale Konstruktionen, zusammengesetzt aus ganz unterschiedlichen ›Bausteinen‹ wie z.B. einem jeweils zeitgenössischen Marketing, einer spezifischen Rezeptionsgeschichte, nicht zuletzt auch einer bestimmten geschichts- bzw. kulturwissenschaftlichen Bearbeitung,64 gerahmt in der durch eine bestimmte Form weißer Maskulinität sich auszeichnende Idee des Singer/Songwriters. Die Momente des Ursprungs genauso wie der Kontinuität von Joe Hill über Woody Guthrie bis hin zu Bruce Springsteen und schließlich Tom Morello als legitimem ›Thronfolger‹ sind folglich Effekte der Aufführung des Songs innerhalb eines vergleichsweise fest etablierten Bezugs-

56 | Ebd., S. 13. 57 | Ebd. 58 | Ebd. 59 | Dimbarth, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik: Generation – Gesellschaft – Prozess, Paderborn 2016, S. 224. 60 | Vgl. auch U. Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler, S. 10. 61 | O. Dimbarth: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 75. 62 | Vgl. Welzer, Harald: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60, 2010, H. 25/26, S. 16-23. 63 | Vgl. O. Dimbarth: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 75. 64 | Vgl. u.a. Morgan, Jeff: »Hard Travelin«: Constructing Woody Guthrie’s Dust Bowl Legacy, in: Partington, John (Hg.): The Life, Music, and Thought of Woody Guthrie: A Critical Appraisal, Aldershot 2012, S. 99-114.

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rahmens »erfundener Traditionen«.65 Die Aktualisierung historischer Texte und Kontexte als deren modus operandi, so sollte hier illustriert werden, trägt durch die Rekurrenz auf den Topos des ›itinerant man‹ und die Analogiebildung zu vergangenen Ereignissen auf der Ebene des Liedtextes zur Inszenierung der Persona Morello als Variation der Figur des Singer/Songwriters bei. Die Bedeutungspotentiale, die durch eine solche Referenzierung aktiviert werden können, beziehen sich dabei also nicht nur auf ein bestimmtes ›Image‹ der Künstler-Persona (als Hobo, als working class man), das durch den Rückgriff auf Vergangenes evoziert wird, sondern auch auf ein bestimmtes Bild des Zustands einer Gesellschaft (im Klassenkampf, in der Krise), welches die aufgerufenen Texte und Kontexte chiffreartig versinnbildlichen. Nicht zuletzt sind an diesen Prozessen der ›Diagnostifizierung‹ der Figur des Singer/Songwriters auch verschiedene Instanzen und Medien der Rezeption beteiligt; das Sprechen und Schreiben über etwas oder jemanden als ›Diagnostisches‹ oder ›DiagnostikerIn‹ (auch in dem vorliegenden Beitrag) trägt zur Verfertigung diagnostizierender Subjekte bei. Mit Bezug auf die Figur des Singer/Songwriters lassen sich in dieser Hinsicht nicht nur eine Vielzahl nicht-wissenschaftlicher Beiträge finden – einige wenige davon werden zu Beginn dieses Beitrags zitiert –, sondern auch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen, deren Titel bereits auf die Zuschreibungen und Zumutungen hinweisen, die in Richtung dieser Figur regelmäßig artikuliert werden: Eine vor zehn Jahren erschienene Monographie über Guthrie beispielsweise weist alleine durch ihren Titel Prophet Singer66 auf die gesellschaftsdiagnostischen Potentiale des amerikanischen Musikers; eine ganze Reihe weiterer wissenschaftlicher Beiträge, wie z.B. Dirk von Petersdorffs Analyse der »Gegenwartsdiagnostik in der deutschen Popmusik«,67 der sich insbesondere den Singer/Songwritern der sogenannten Hamburger Schule widmet, tragen letztlich auch zur Produktion dieser Figur und zu regelmäßigen Inszenierungen ihrer Aktualisierungen in Form unterschiedlicher Personae bei. Eine Untersuchung von Konstellationen der Diagnostifizierung, wie sie in diesem Beitrag angestoßen wurde, müsste eben auch diesen beobachtenden Diskurs und dessen ontoformative Potentiale in der Hervorbringung von Gegenwartsdiagnosen bzw. -diagnostikerInnen als Analysegegenstand berücksichtigen. Zudem sollte sie schließlich auch die angesprochenen Kräfte und Elemente im Prozess der Verfertigung der Figur des Singer/Songwriters noch genauer unter die Lupe nehmen, um auf diese Weise Antworten auf die Fragen näher zu kommen, welche MusikerInnen überhaupt als Singer/Songwriter wahrgenommen, welche davon wiederum als DiagnostikerInnen eingesetzt werden, und welche VertreterInnen anderer musikalischer Genres als KandidatInnen der Diagnostifizierung in Frage kommen. Gerade eine weitere Sensibilisierung für die Relevanz der Kategorien ›Gender‹ und ›Ethnizität‹ in solchen Prozessen schiene dabei lohnenswert und angebracht zu sein, eröffnete diese doch eine kritische Perspektive auf die Ein- und Ausschlusskriterien in Prozessen der Kanonbildung in diesem Bereich US-amerikanischer Kulturproduktion. 65 | Hobsbawm, Eric: Introduction: Inventing Tradition, in: Ders./Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 2012, S. 1-14. 66 | M. A. Jackson: Prophet Singer. 67 | Petersdorff, Dirk von: Der Apfelmann aus Delmenhorst: Zur Gegenwartsdiagnostik in der deutschen Popmusik, in: Merkur 62, 2008, H. 705, S. 123-131.

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Lärmkonflikte – soziale Aushandlungen auditiver Emissionen Susanne Binas-Preisendörfer »Palmström liebt sich in Geräusch zu wickeln, teils zur Abwehr wider fremde Lärme, teils um sich vor drittem Ohr zu schirmen«. Christian Morgenstern1 Seit der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden in westlichen Gesellschaften unüberhörbar Stimmen laut, die sich mit Fragen von Geräuschen, Lärm, zu lauter Musik und deren Verhinderung befassen. Morgenstern titelt sein Gedicht Lärmschutz und verdirbt gleich in den ersten Zeilen die Pointe, wenn er die Doppelbödigkeit desselben anspricht. Der Begriff des Lärms gilt als ein negativ konnotierter Schlüsselbegriff der Moderne und Gradmesser zivilisatorischer Fehlentwicklungen.2 »Was zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt als legitim oder illegitim, als Lärm also, gehört wurde, war deshalb immer auch Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und Aushandlungsprozesse zwischen konkurrierenden Klang- und Hörkulturen.«3 In der deutschen Sprache unterscheidet man zwischen Lärm und Geräusch, im Englischen (noise) oder romanischen Sprachen (rumore, bruit) kennt man den Unterschied nicht. Etymologisch existiert für Lärm eine sprachliche Nähe zwischen dem aus dem italienischen stammenden Frühhochdeutschen all’arme, was so viel heißt wie ›zu den Waffen‹. Die Auseinandersetzungen zu Fragen von Lärm, zu lauter Musik, Krach und Lärmschutz bleiben das gesamte 20. Jahrhundert präsent und sind es auch gegenwärtig. Dabei werden auf der einen Seite v.a. Bedrohungen für Gesundheit und menschliches Zusammenleben diagnostiziert und auf der anderen eben diese Klänge als ästhetischer Erfahrungsraum von Gesellschaft inszeniert und erlebt. Dieser Beitrag thematisiert kontrastierende Interpretationen von Lautheitsempfinden, die in Bezug auf das Medium Klang Gegenwartsdiagnosen erzeugen, modellieren und verbreiten und als gesellschaftliche Selbstproblematisierungen gelesen werden können. Wenn dabei einerseits die Rede ist vom Recht auf Stille, von Akusti1 | Morgenstern, Christian: Galgenlieder, Berlin 1905. 2 | Vgl. Missfelder, Jan-Friedrich: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38, 2012, S. 21-47. 3 | Ebd., S. 40.

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scher Ökologie, oder Anwohnerinitiativen gegen Clublärm und auf der anderen von Intonarumori, ästhetischem Empowerment und emotionalen Zonen im Baurecht, dann ist ein diskursives Spannungsfeld von Gegenwartsdiagnosen aufgespannt, das da­ raufhin befragt werden kann, vor welchem gesellschaftlichen und auch politischen Standpunkt und in welcher Perspektive diese Diagnosen jeweils erstellt werden. Es sei gleich zu Beginn des Beitrages darauf hingewiesen, dass die hier angesprochenen ›Diagnosen‹ als Problematisierungen von Wirklichkeit artikuliert werden, sich jedoch in ihren Beschreibungsmustern von Gegenwart insofern unterscheiden, als dass man im skizzierten Spannungsfeld eben auch auf kulturelle Praktiken trifft, die nicht als explizite Diagnosen im Sinne von Aufforderungen zu zielgerichtetem intervenierenden Handeln fungieren. Sie sollen als implizite Diagnosen verstanden werden, denn auch sie ringen um gesellschaftliche Deutungsmacht, werden von ihren Initiatoren als Interventionen ins Spiel gebracht und imaginieren Zukunft. Dabei fallen historische Verdichtungen auf, die mit Prozessen offenkundiger gesellschaftlicher Veränderungen in westlichen Gesellschaften korrespondieren: erstens die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Industrialisierung und Urbanisierung, Wachstumsparadigma), zweitens die Anfänge der Ökologiebewegung in den 1960er und 1970er Jahren (Paradigma vom Ende des Wachstums) und drittens eine durch disruptive Veränderungen technologischer Kommunikationsmittel und soziale Instabilität gekennzeichnete Gegenwart. Der folgende Beitrag geht deshalb chronologisch vor und stellt in drei Zeitschritten konträre Semantiken auditiver Gegenwartsdiagnosen im 20. und frühen 21. Jahrhundert vor: erstens Anti-Lärm-Bewegung und Futurismus, zweitens Akustische Ökologie und gegenkulturelles Empowerment und drittens Anwohnerinitiativen und die Unmittelbarkeit des Affektiven. Abschließend soll danach gefragt werden, ob und wie Lärmkonflikte als Gegenwartsdiagnosen verstanden werden können und inwiefern sie auf die Gestaltung einer zukünftigen Wirklichkeit zielen. Die folgende Auseinandersetzung mit Lärmdiagnosen, bei denen es sich im Kern um Lärmkonflikte handelt, gründet auf der Lektüre von Primär- und Sekundärquellen, sichtet Diskursfragmente im Feld und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Insgesamt ist der Quellenkorpus heterogen, weil er auf Aussagen und Sprecher*innen zum Thema Lärm und Lautheit zugreift, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektiven das Thema beobachten, analysieren und verhandeln: aus akademischen (Psychophysikalische Hörforschung, Klangumweltforschung, Geschichtswissenschaften, Musikwissenschaften, Popular Music Studies, Sound Studies), aus musikalisch-künstlerischen (Komponist*innen, Klangkünstler*innen, Musiker*innen), aus journalistischen (Feuilleton, Musikjournalismus), aus aktivistisch-interventionistischen (Anwohnerinitiativen) und interessenspolitischen (Medien, Verbände und Vereine), schließlich um Perspektiven, denen es um den Ausgleich von Interessen geht (z.B. Kommunen, EBU). Zur ›Einstimmung‹ auf die Problematik des folgenden Beitrages empfehle ich, sich an die eindringlichen Klänge zahlloser Vuvuzelas (bunte Plastiktrompeten) zu erinnern, die aus den Fußballstadien Südafrikas im Jahr 2010 während der Weltmeisterschaft in deutsche Wohnzimmer übertragen und zum Ausgangspunkt heftiger Auseinandersetzungen in den einschlägigen Medien wurden. Kritisiert wurde, dass man angesichts dieser akustischen Kulisse (vergleichbar einem Hor-

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nissenschwarm) dem eigentlichen Spielverlauf nicht mehr folgen und dass es v.a. auch zu Hörschädigungen kommen könne, wenn man sich dem Schalldruck einer oder vieler Vuvuzelas unmittelbar aussetze. Andere verwiesen darauf, dass das südafrikanische Publikum mit der Vuvuzela seinen Status als Akteur der Spiele reklamiere.4 Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft hatte es TV-Beiträge darüber gegeben, wie diese ›Instrumente aus Plastik‹5 in Eigenproduktion hergestellt und auf dubiosen Wegen im südlichen Afrika vertrieben werden. Als problematisch erwies sich dabei für viele westliche Ohren ein ganzes Bündel von Aspekten: eine mögliche Hörschädigung, die Verunmöglichung, in gewohnter Weise den relevanten akustischen Informationen eines kompetitiven Spielverlaufs folgen zu können (Intransparenz), und schließlich Hinweise auf spezielle Ökonomien vor Ort. Damit sind Irregularitäten und (Fehl-)Entwicklungen prognostiziert, die in allen drei Zeitschnitten eine Rolle spielen werden.

1. L ärm als P l age und ästhe tisches P rogr amm Am Vorabend des Ersten Weltkrieges, einer Zeit, als die schnell wachsenden Großstädte Europas durch den Ausbau von Verkehrsmitteln, Fabriken und Mietsquartieren auch zu Agglomerationen erhöhter Lautstärken und diffuser Geräuschkulissen wurden, propagierten die Vertreter*innen des italienischen Futurismus die Abwendung der Künste von romantischen Schönheitsidealen und klassischen Formprinzipien.6 Mit Bezug auf das von Filippo Tommaso Marinetti 1909 im Pariser Le Figaro veröffentlichte Manifest des Futurismus Fondazione e Manifesto del Futurismo formulierte der Maler und Erfinder der sogenannten »Intonarumori« (Geräuschinstrumente) Luigi Russolo im Jahr 1913 ein ebensolches Manifest speziell für die Musik: »Durchqueren wir eine große moderne Hauptstadt, die Ohren aufmerksamer als die Augen, und wir werden daran Vergnügen finden, die Wirbel von Wasser, Luft und Gas in den Metallrohren zu unterscheiden, das Gemurmel der Motoren, die unbestreitbar tierisch schnaufen und pulsieren, das Klopfen der Ventile, das Hin-und-her-laufen der Kolben, das Kreischen der mechanischen Sägen, das Holpern der Tramwagen auf ihren Schienen, die Schnalzer der Peitschen, das Knistern der Vorhänge und Fahnen. Wir werden uns damit unterhalten, das Getöse der Rollläden der Händler in unserer Vorstellung zu einem Ganzen zu orchestrieren, die auf- und zuschlagenden Türen, das Stimmengewirr und das Scharren der Menschenmengen, die verschiedenen Getöse der Bahnhöfe, der Eisenhütten, der Webereien, der Druckereien, der Elektrozentralen und der Untergrundbahnen.« 7

4 | Bonz, Jochen: Vuvuzela (URL: www.jochenbonz.de/2010/06/[27.5.2014, nicht mehr online]). 5 | Richtige Musikinstrumente sind aus Holz und Metall, Kinderinstrumente sind aus Plastik. 6 | Vgl. Mosch, Ulrich: Lärm als ästhetisches Phänomen, in: positionen. Beiträge zur neuen Musik, November 1992, Nr. 13, S. 2-6. 7 | Russolo, Luigi: Die Geräuschkunst. Auszug aus Ders.: Intonarumori (1916), Basel 1999 (URL: www.medienkunstnetz.de/source-text/39/[17.7.2018]).

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Bei den von Russolo konstruierten Intonarumori (Geräuschinstrumente) handelte es sich um hand-, später elektrisch betriebene mechanische Apparaturen, mit denen man ein breites Frequenzspektrum modulierender, rhythmisch anmutender Geräusche und Mikrointervalle erzeugen konnte. Diese Geräusche ähneln Maschinenklängen, die die Intonarumori jedoch nicht imitieren, sondern je nach Bauprinzip und Material erst auslösen. Das so erzeugte Geräusch sollte als ›abstraktes Material‹ von seinen maschinellen Ursprüngen befreit, nun vom Mensch beherrschbar sein.8 In ihrem Äußeren (Holzkästen mit Schalltrichtern) ähnelten die Intonarumori dem in den 1910er Jahren v.a. in bürgerlichen Wohnzimmern bekannter und präsenter werdenden Grammophon. Russolo, der eigentlich Maler war, wechselte quasi sein Material und komponierte eigens Stücke für diese zu Klangskulpturen zu- und übereinander gestellten Apparaturen und entwickelte dafür den herkömmlichen Partituren vergleichbare grafische Notationsschemata. Das erste seiner Konzerte für 18 Intonarumori, die in acht verschiedene Klangtypen aufgeteilt waren, endete 1914 in Mailand mit einem Skandal, wohingegen eine ganze Reihe von Konzerten im gleichen Jahr in London auf ein positives Echo stieß. »Diese Evolution zum ›Geräusch-Ton‹ war bis heute« – so Russolo 1913 – »nicht möglich. Das Ohr eines Menschen des 18. Jahrhunderts hätte die disharmonische Intensität gewisser Akkorde, die in unseren Orchestern (mit dreimal so vielen Ausführenden gegenüber damals) hervorgebracht werden, nicht ertragen können. Unser Ohr dagegen verlangt danach, da es schon vom modernen, mit vielfältigen Geräuschen so verschwenderischen Leben erzogen worden ist. Doch unser Ohr begnügt sich nicht damit und verlangt nach immer stärkeren akustischen Emotionen.«9 Man darf nicht verschweigen, dass Russolo zunächst mit Marinetti und dessen Kriegsphantasien sympathisierte.10 Wie andere Futuristen der Vorkriegszeit auch, begrüßte er die Zeichen und die zunehmend technisch geprägte Geräuschwelt der sich radikal industrialisierenden Stadt und forderte eine Kunst, die solche Erfahrungen aufnimmt und thematisiert, mit denen die technische Welt die Menschen damals konfrontierte.11 Für Russolo sind diese Klänge legitim, d.h. kein Lärm. Ihm geht es um musikalische Geräusche bzw. die unbegrenzt große Vielfalt von Klangfarben, die er zum ästhetischen Programm erhebt: er möchte »großzügig klangliche Ohrfeigen austeilen, […] es sollte Brummen, Krachen, Grollen, […] Zischeln, Kreischen oder Knistern«.12 Die von den Intonarumori erzeugten Klänge wurden allein auf mechanischem Wege erzeugt und abgestrahlt (Trichter), nicht durch Lautsprecher verstärkt. Mikrofone und Lautsprecher setzten sich erst ab 1923 durch und ebneten so auch den Weg für den konsequenten künstlerischen Bezug auf Alltagsgeräusche, wie er später von den Vertretern13 der Musique concréte verwirklicht wurde.

8 | Vgl. URL: www.medienkunstnetz.de/werke/intonarumori/[13.3.2017]. 9 | Ebd. 10 | Im Jahr 1927 wandte sich Russolo als Antifaschist von Italien ab. 11 | Vgl. U. Mosch: Lärm als ästhetisches Phänomen. 12 | Vgl. L. Russolo: Die Geräuschkunst. 13 | Bekannt wurden in diesem Zusammenhang die 1948 von Pierre Schaeffer, der seit den 1930er Jahren in Paris als Nachrichten- und Rundfunkingenieur arbeitete, aus urbanen Alltagsgeräuschen komponierten Geräusch-Etüden, wie z.B. eine Eisenbahn-Etüde.

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Das beginnende 20. Jahrhundert – so der an auditiven Wissensformen interessierte Historiker Daniel Morat – war geprägt von einer »doppelte[n] ›Technisierung des Auditiven‹ […], einer primären durch Maschinenlärm und Großstadtverkehr und einer sekundären durch die neuen akustischen Aufzeichnungs-, Speicherungs- und Übertragungsmedien.«14 Waren die Geräusche vor der Jahrhundertwende noch quasi ›organischen Ursprungs‹ (wie z.B. Pferdewagen, Händler*innen, Straßenmusiker*innen, Klingeln), so wurden sie nun in zunehmendem Maße von technischen Geräuschquellen wie Autos, Zügen und Straßenbahnen, Bauarbeiten (primäre Technisierung) und bald schon durch Phonographen, Telefon und Radio (sekundäre Technisierung) geprägt.15 Nicht zuletzt durch die Technisierung des bürgerlichen Haushalts und v.a. auch durch die Ausdehnung großstädtischer Vergnügungsbetriebe wurden Geräusche und gestiegene Lautstärken als Problem bzw. Lärm benannt und verhandelt. Als Quellen von Lärm galten v.a. der großstädtische Verkehr und die lautlichen Äußerungen der (Mit-)Menschen.16 1908 – also in zeitlicher Nähe zu den Aktivitäten der Futuristen – gründeten sich in deutschen Städten Antilärmvereine. Als Vorreiter der Antilärmbewegung in Deutschland gelten Aktivitäten der Society for the Suppression of Unnecessary Noise, die 1906 in New York gegründet wurde und erfolgreich Lobbyarbeit für Antilärmverordnungen betrieb. Sie erwirkten tatsächlich Ruhezonen rings um Krankenhäuser und Schulen. Der Philosoph und Kulturkritiker Theodor Lessing berief sich auf das New Yorker Vorbild, als er 1908 den Deutschen Lärmschutzverband ins Leben rief, der auch als Antilärmverein bekannt wurde.17 Lessing schreibt: »Die Hämmer dröhnen, die Maschinen rasseln. Fleischerwägen und Bäckerkarren rollen früh vor Tag am Hause vorüber. Unaufhörlich läuten zahllose Glocken. Tausend Türen schlagen auf und zu. Tausend hungrige Menschen, rücksichtslos gierig nach Macht, Erfolg, Befriedigung ihrer Eitelkeit oder roher Instinkte, feilschen und schreien, schreien und streiten vor unsern Ohren und erfüllen alle Gassen der Städte mit den Interessen ihrer Händel und ihres Erwerbs. Nun läutet das Telephon. Nun kündigt die Huppe [sic!] ein Automobil. Nun rasselt ein elektrischer Wagen vorüber. Ein Bahnzug fährt über die eiserne Brücke. Quer über unser schmerzendes Haupt, quer durch unsere besten Gedanken. […] Alle Augenblicke ein neues unangenehmes Geräusch!«18

Die von Lessing 1908 begründete Vereinszeitschrift trug den Namen »Der Anti-Rüpel. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Rohheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben« (in der Unterzeile »Das Recht auf Stille«).19 Die Klage über den Lärm der Nachbar*innen hatte nicht zuletzt laut Lessing insbesondere unter Intellektuellen und Gelehrten eine lange Tradition, er selbst

14 | Morat, Daniel: Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft der Großstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive, in: Herrmann, Bernd (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2009-2010, Göttingen 2010, S. 171-190, hier S. 175. 15 | Vgl. ebd. 16 | Vgl. ebd. 17 | Ebd., S. 177f. 18 | So zit.n. ebd. 19 | Ebd., S. 179.

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»sprach von einer ›endlose[n] Schar von Blutzeugen wider den Lärm‹ und zitierte unter anderem Schopenhauer, Kant, Goethe, Lichtenberg und Jean Paul«.20 Die schnell wachsende Großstadt wird einerseits zum Bedrohungsszenario und andererseits zur Ressource ästhetischer Auseinandersetzung. Das Bedrohungsszenario spiegelt die Angst bürgerlicher Eliten vor den lärmenden Massen, richtet sich aber v.a. auf die akustischen Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung der Gesellschaft als Ursache dieser Störungen. Die Geräuschkunst der Futuristen hingegen interveniert gegen einen am klassisch-bürgerlichen Klangideal orientierten Musikbegriff,21 seine Instrumente, Gattungen und Programmatik. Auch Russolo bezieht sich auf die akustischen Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung, identifiziert sich aber mit ihnen und bewertet sie positiv. Es wäre sicherlich interessant herauszufinden, ob Theodor Lessing und Luigo Russolo in ihrer Zeit voneinander bzw. Kenntnis von den jeweiligen ›Bewegungen‹ nahmen. Lärm zu ertragen und zu erzeugen galt und gilt auch heute noch als ein Zeichen proletarischer Männlichkeit. Seine Gründe hat(te) dies u.a. in der Bedeutung, die die Bedienung und Kontrolle von Maschinen durch die Arbeiter*innen22 in den Fabriken am Fließband, an den Webstühlen oder in den Telefonschaltämtern und deren Lautstärkemissionen mit sich bringt. Diese Fähigkeit zur Deutung von Maschinengeräuschen als eine notwenige Voraussetzung der Beherrschung und Kontrolle einer immer komplexer sich gestaltenden und durch Einzelne kaum steuerbaren Apparatur erlangt durchaus diagnostische Qualität, findet aber keineswegs Eingang in diagnostische Narrative mit gesellschaftspolitischen Effekten. In der bemessenen Freizeit (im Biergarten oder auf dem Tanzboden) erlebt man sich meist lautstark zusammen mit Gleichgesinnten. Im Publikum eines Konzerts mit Geräuschinstrumenten dürften diese Großstädter*innen nicht zu finden gewesen sein. In der Stadt des Jahrhundertwechsels liegen die klanglichen Markierungen sozialer Gruppen und akustischen Folgen der Industrialisierung jedoch eng beieinander und geraten in Konflikt: Schließzeiten und Sperrstunden sollen das Konfliktpotenzial mindern helfen. Russolo, der Erfinder der Intonarumori, wandte sich zum Ende seines Lebens (1947) wieder ausschließlich der Malerei zu. Lessing stellte die Herausgabe der Zeitschrift Das Recht auf Stille (der Titel der ersten Ausgaben des Anti-Rüpel wurde später in den Untertitel verschoben) auf Grund der gesunkenen Mitgliederzahl und Spendenbereitschaft des Vereins 1911 nach nur drei Jahren ein. Lärm als eine relationale Empfindungsgröße »rückte zwar allmählich ins allgemeine Bewußtsein, rangierte aber […] in der öffentlichen Gesundheitspflege hinter den Gefahren durch

20 | Ebd. 21 | Bis weit in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Kunstszenen von Suchbewegungen und Positionen gekennzeichnet, die das klassisch-romantische Kunstideal zu unterminieren, ja zu zertrümmern suchten. In der Nähe des hier diskutierten Gegenstandes seien die Protagonisten der Lautpoesie wie z.B. Kurt Schwitters genannt. Diese Kunstszenen und -bewegungen verstanden sich als Avantgarden wider eines aristokratisch-bürgerlich organisierten Kunstbetriebes und seinen Vorstellungen von ästhetischer Qualität und Rezeptionspraktiken. 22 | Vgl. Bijsterveld, Karin: Mechanical Sound, Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge, MA 2008.

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die neuen ›Volksseuchen‹ Tuberkulose, Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten«.23 Ärzte stellten vielmehr die Diagnose ›nervöse Störung‹, deren Ursache man zwar auch in schädigenden Geräuschen vermutete, es aber mangels wissenschaftlicher und praktischer Untersuchungen nicht beweisen konnte.

2. S oundscape -F orschung , L ust am L ärm und einige › bedrohliche ‹ S ignale akustischer G ruppensolidarität Die Re-Humanisierung der Städte und die Kritik am urbanen Lärm blieben im 20. Jahrhundert ein Thema von anhaltendem Interesse. Einen breit rezipierten Beitrag in diesem Zusammenhang leisteten die sogenannten klassischen Soundscape-Studien24 der 1970er Jahre um den kanadischen Komponisten, Musikpädagogen, Autor und Aktivisten R. Murray Schafer (*1933). Der Ende der 1960er Jahre von Schafer geprägte Begriff der Soundscape (Klangumwelt) ist aufs engste verbunden mit der zeitgleich in westlichen Gesellschaften aufkommenden ökologischen Bewegung. Das Amalgam aus Sound und Landscape bezeichnet bei Schafer »die akustische Hülle, die den Menschen umgibt und alle vorhandenen Laute eines Ortes umfasst. […] [konzipiert] als Alternative zur frontalen und selektiven Hörhaltung […], wie sie etwa im Konzert und Theater, dem konventionellen Schulunterricht und dem Mono- und Stereohören [in den 1970er Jahren] praktiziert wird.«25 Die »Idee von einer Klangumwelt als akustischer Dimension und Grenze der Welt, in der menschliches Leben stattfindet«26 bildete den Ausgangspunkt der Schafer’schen Kritik an der akustischen Umwelt der Nachkriegszeit in westlichen Gesellschaften und für konkrete Vorschläge zu ihrer gestaltenden Veränderung,27 die sich in der Bewegung der Akustischen Ökologie artikulierte. Schafer versteht »Klänge als systemisches Netz aus ›vernommenen Geschehnissen‹ natürlicher, menschlicher und technischer Provenienz […], die historisch wandelbar sind, v.a. aber bewusst gestaltet werden können«.28 Damit liefert Schafer einen Ansatz zur Diagnostifizierung der akustischen Umwelt, die sich v.a. an ihren sozialen und kommunikativen Funktionen orientiert. Er entwirft ein eigenes Modell der Systematisierung und Kategorisierung von klanglichen Quellen: Klangumwelten setzen sich für Schafer zusammen aus Grundlauten (»keynote sounds«), Signalen (»signals«) und Lautmarken (»sound marks«) und könnten in einer bewussten Hörhaltung wahrgenommen werden. 23 | Saul, Klaus: Wider die ›Lärmpest‹. Lärmkritik und Lärmbekämpfung im Deutschen Kaiserreich, in: Machule, Dittmar/Mischer, Olaf u.a. (Hg.): Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Hamburg/München 1996, S. 151-192, hier S. 152. 24 | Vgl. das World Soundscape Project an der Fraser University Burnaby in der kanadischen Provinz British Columbia (URL: https://www.sfu.ca/~truax/wsp.html [16.3.2017]). 25 | Breitsameter, Sabine: Akustische Ökologie – eine Bestandsaufnahme, in: positionen. Texte zur aktuellen Musik, Februar 2013, Nr. 94, S. 14-17, hier S. 14. 26 | Bonz, Jochen: Vom Verlust der Natur zur Umwandlung des Selbst. Soundscape-Forschung im und nach dem Paradigma der Akustischen Ökologie, in: Zeitschrift für Semiotik 34, 2012, S. 160-181. 27 | Vgl. auch S. Breitsameter: Akustische Ökologie. 28 | J.-F. Missfelder: Period Ear, S. 37.

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Steht einerseits die Relevanz des Klanglichen im Mittelpunkt des Schafer’schen Konzeptes, sind es andererseits die Lärmbelastungen, die angesichts einer den Beobachtungen des World Soundscape Projects nach aus den Fugen geratenen, hässlich klingenden akustischen Umwelt ihre Bewohner*innen auf eine Abstumpfung ihres Gehörs hin-konditioniert.29 Schafer erzählt in seiner Publikation The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World die Geschichte der (klanglichen) Welt als Niedergangsszenario,30 die er in der bewussten Auseinandersetzung mit dieser klanglichen Umwelt, ihrer Systematisierung und der Begrenzung lautlicher Emissionen für die Zukunft zu verbessern sucht. Das breit angelegte Soundscape-Projekt beinhaltete u.a. Messungen und Kartierungen von Lautstärken bzw. Lautstärkedifferenzen an urbanen oder verkehrstechnischen Knotenpunkten wie Autobahnkreuzen, Einflugschneisen oder Flughäfen aber auch in der Natur und Dörfern. In der Nähe der kanadischen Großstadt Vancouver hatte Schafer beispielsweise über vierundzwanzig Stunden die Umgebungsklänge eines Teiches aufgenommen. Als Fazit konstatierte er, dass im Verlauf der westlichen Kulturgeschichte Menschen zunehmend in Distanz zu jahreszeitlich geprägten Wahrnehmungen der Wirklichkeit geraten, hervorgerufen durch das Verschwinden der traditionellen Landwirtschaft und das Vordringen von Industrien, Verkehr und Elektrizität in die menschlichen Lebensumwelten. Verloren gehe vor allem eine hörbare soziale Zyklizität und der Reichtum an Hörperspektiven in der Klangwahrnehmung, die durch eine mangelhafte Klarheit und fehlende Dynamik gekennzeichnet sind, wie sie durch von Maschinen ausgehende Klänge und Geräusche erzeugt werden. Für diesen Prozess bzw. die durch Maschinen und Verkehr mittelbar und unmittelbar erzeugten Soundscapes wählt er den Begriff des Lo-fi (indifferente und undynamische Klangumwelten) im Gegensatz zu Hi-fi (differenzierte und dynamische Klangumwelten): »The country is generally more Hi-fi than the city; night more than day; ancient times more than modern. […] In a Lo-fi soundscape individual acoustic signals are obscured in an overdence population of sounds. The pellucid sound – a footstep in the snow, a church bell across the valley or an animal scurrying in the brush – is masked by broad-band noise.« 31

Eine lärmende Umwelt, so die Argumentationen in den Soundscape-Projekten, entspräche nicht der Natur und führe vor allem dazu, dass Menschen sich nicht mehr orientieren könnten.32 Eine bessere Zukunft bestünde für Schafer in einer akustischen Umwelt, in der man sich wieder besser orientieren könne, »um für den einzelnen eine bedeutungsvolle Beziehung zur akustischen Umwelt aufzubauen«.33 Er empfiehlt und entwickelt als Musikpädagoge und Komponist sogenannte Klangspaziergänge (»soundwalks«), während denen man sich die klangliche Umwelt konzentriert bewusst macht. Schafer ist ein scharfer Beobachter und Analytiker, v.a. aber auch ein Kritiker auditiver Wahrnehmungskonstellationen 29 | Vgl. S. Breitsameter: Akustische Ökologie, S. 15. 30 | Schafer, Raymund Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester 1994 (urspr. 1977). 31 | R. M. Schafer: The Soundscape, S. 43. 32 | J. Bonz: Vom Verlust der Natur, S. 166. 33 | S. Breitsameter: Akustische Ökologie, S. 15.

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seiner Gegenwart. Diese Kritik bezieht sich auch auf die im Zuge der Elektrifizierung Verbreitung gefundenen elektro-akustischen Aufnahme-, Speicher- und Übertragungsmedien, was dazu führt, dass Klangereignisse von der Quelle ihrer Erzeugung abgetrennt wahrgenommen werden. Diese Hörpraxis beschreibt Schafer mit dem Begriff Schizophonia, und rückt sie damit in die Nähe der Diagnose einer psychischen Krankheit. Nicht zuletzt das Radiohören, das in alltäglichen Zusammenhängen eher nebenbei und also nicht konzentriert erfolgt, unterzieht er einer heftigen Kritik, die sich gleichsam auf die Sendestationen als profitorientierte Unternehmen richtet. Die heute als klassisch bezeichneten Soundscape-Studien der 1970er Jahre argumentierten nicht nur – weil verbunden mit der ökologischen Bewegung jener Jahre – im Modus der Zivilisationskritik, sondern auch im Modus der Kulturkritik, wie er seit der Nachkriegszeit und anhaltend bis weit in die 1970er Jahre auch die populärkulturellen (Hör)praktiken der betreffenden musikorientierten Jugendszenen treffen sollte. In der Enzyklopädia Britannia aus dem Jahr 1962 findet man z.B. die folgende Beschreibung: »Der Rock’n’Roll konzentrierte sich normalerweise auf ein Minimum an melodischer Linie bei einem Maximum an rhythmischen Krach und maß sich mit voller Absicht an den ästhetischen Maßstäben des Dschungels.«34 Einmal abgesehen von der diskursiven Verschränkung ästhetischer Simplizität, entgrenzter Körperlichkeit und Rassismus findet sich hier ein Hinweis auf eine vage, aber drastisch formulierte Lärmdiagnose, der, war sie erst einmal durch Eltern, Schule, Medien etc. gestellt, in der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen drakonische Maßnahmen folgen konnten (Verweigerung des Schulzutritts, Drohungen, Diffamierungen, Kürzen der Haare bis hin zu Haftstrafen etc.).35 Das in höchstem Maße von der westlichen Mehrheitsgesellschaft als delinquent empfundene Verhalten mancher Jugendlicher (Körper- und Tanzkultur, Kleidung, Accessoires, Geschlechterverhalten) ist ein Indiz und Symptom dafür, was damals als erstrebenswert, nützlich, problematisch und bedrohlich bewertet wurde. ›Mach das Radio leiser‹ oder ähnliche Appelle, dürften noch zu den harmloseren Restriktionen gehört haben. Übertriebene Reaktionen auf den angeblichen Kulturverfall der Jugendlichen (wie beispielsweise Haftstrafen in Großbritannien) gehörten zum gesellschaftlichen Klima der sog. moral panics. Bemerkenswert ist, dass die 1960/70er Jahre für Schafer und sein Forschungsteam nicht nur ein Jahrzehnt voller Lärmbelastungen angesichts der Explosion von ziviler Luftfahrt (Concorde), Verkehr (Muscle Cars) und ungebremster Bauvorhaben (Abriss, Neu- und Wiederauf bau der zerstörten europäischen Städte) waren, sondern – so zitiert Sabine Breitsameter Schafer – »auch das Jahrzehnt der Rock34 | So zitiert bei Wyman, Bill: Blues. Geschichte, Stile, Musiker, Songs & Aufnahmen, München 2006, S. 279. 35 | Es ist hier nicht der Raum den Abwertungsstrategien gegenüber populären Musikformen als Aushandlungen kultureller Ordnungen und sozialer Konflikte in Gänze nachzugehen. Verwiesen sei mit dem Hinweis auf Unvollständigkeit auf die folgenden deutschsprachigen Publikationen, weil insbesondere auch im deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund der weitverbreiteten Kunstwerkästhetik in Bildung, Politik und Geisteswissenschaften diese Strategien sehr verbreitet waren. Hörner, Fernand (Hg.): Kulturkritik und das Populäre in der Musik, Münster/New York 2016; Fuhr, Michael: Populäre Musik und Ästhetik. Die historisch-philosophische Rekonstruktion einer Geringschätzung, Bielefeld 2006.

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musik, bei der die Schallpegel weit über 100 Dezibel anstiegen und damit lauter waren, als jede Musik, die man je auf der Welt gehört hatte.«36 Hier trifft man auf eine eigenwillige Verschränkung von auditiven und kulturell motivierten Lautheits- bzw. Lärmdiagnosen, die es lohnt, etwas genauer in den Blick zu nehmen, auch oder gerade weil sie widersprüchlich und verwirrend erscheinen. Schafer stimmt zunächst ein in das Narrativ des historischen Crescendo, das nicht unähnlich einem teleologischen Geschichtsbild, hier gewendet in ein Untergangsszenario, davon ausgeht, dass Instrumente ob ihrer Bauart, elektrischen Verstärkung oder in Vielfachbesetzung dafür sorgten, dass Musik immer lauter würde.37 Schon eine einzelne unverstärkte Violine erreicht, wenn sie fortissimo in unmittelbarer Nähe zum Hörer gespielt wird, annähernd 100 dB. Auch ein unverstärktes Saxophon kann eine Lautstärke von bis zu 110 dB erreichen. Es liegt also nahe, dass mit Schafers Befürchtung, dass Rockmusik lauter als jede Musik zuvor sei, weitaus mehr verhandelt wurde als der Hinweis auf physikalische Schallereignisse in dB. In den Diskursen um Lärm und Lautheit spiegeln sich also auch (diagnostische) Entwürfe einer gegenwärtigen bzw. erwünschten kommenden gesellschaftlichen Ordnung wider. Hier wird sie als Bedrohung wahrgenommen. Jimi Hendrix Parodie auf die US-Amerikanische Hymne (»The Star Spangled Banner«), von tausenden von Woodstock-Besucher*innen 1969 begeistert aufgenommen, spielt v.a. mit Rückkopplungs- und Verzerrereffekten, ist hochfrequent und im Sinne Schafers undynamisch, indifferent, Lo-fi. Die Hymne geht in performativem Krach und Lärm unter. Der Gitarrensound der ebenfalls in Woodstock aufgetretene Band Jefferson Airplane wird von Zeitzeugen als berauschend, verführerisch und nicht kontrollierbar beschrieben. Man bezeichnete ihre Sounds als superamplified music. Auf ähnliche Effekte des Diffusen, Verzerrten setzen die Soundästhetiken des in den 1970er Jahren populär werdenden Hardrocks, der sich in den darauffolgenden Jahrzehnten in die kaum mehr überschaubaren Spielarten des Metal verzweigt. Dabei bleiben »Lärm« und Lautheit nie nur auf die klangliche Ebene, z.B. des Death-Metals (Double-Bass, enormes Tempo, tiefer gestimmte Seiten, Growling) beschränkt, sondern reichen bis weit in das Reservoir an Codes und Handlungsmustern ihrer Protagonist*innen und Sympathisant*innen.38 Verzerrungen, Lärm und Lautheit sind tief im Wertesystemen verschiedenster Genres und Stilistiken populärer Musik verankert, keineswegs nur in den Genres, die beim 36 | Schafer, Raymund Murray: Die Ordnung der Klänge (2010), zit.n. S. Breitsameter: Akustische Ökologie, S. 15. 37 | Ein vergleichbares Narrativ kennt das ›lange 19. Jahrhundert‹ im Feld der sinfonischen Musik (Berlioz, Wagner) bis hin zu den eingangs angesprochenen Veränderungen der Klangästhetik im Futurismus. Die Schallleistungen (Lautstärke) eines Sinfonieorchesters des ausgehenden 19. Jahrhunderts erreichten für sich genommen und insbesondere in eigens dafür gebauten Räumen der Aufführungen allemal 100 Dezibel und mehr. Schon in der frühen Neuzeit bezogen Komponisten für Aufführungen in Kirchenbauten und später für Theaterbauten die Raumakustik in der Anlage ihrer Kompositionen mit ein. Selbstverständlich spielten dabei Überwältigungsstrategien insbesondere im religiösen Zusammenhang oder Transgressionsritualen eine wichtige Rolle. 38 | Vgl. Chaker, Sarah: Kill Your Mother/Rape Your Dog – Zur Rolle von Musik in transgressiven Jugendkulturen und Szenen, in: Grimm, Petra/Badura, Heinrich (Hg.): Medien – Ethik – Gewalt. Neue Perspektiven, Stuttgart 2011, S. 205-234.

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ersten Hören als besonders laut gelten. »Wenn die Ohren nicht pfeifen, dann war es nicht gut« oder »Dieser Amp geht bis 11!«,39 heißt es im Film über die halbfiktive Metal-Rockband Spinal Tap und der Vorspann eines Dokumentarfilmes über Rockmusik und ihre Bands am Ende der DDR40 fordert das Publikum auf: »Dieser Film muss laut gehört werden«, d.h. er will zeigen, wie es aus Sicht der Filmemacher ›wirklich‹ ist und dass die Musiker*innen und ihre Musik, die im Film gezeigt werden, etwas zu sagen haben! Lautheit dient als Mittel der Inszenierung, Markierung und Distinktion, sowohl klanglich als auch in Bezug auf Images, Werbung und Selbstbezeichnungen. Lautheit im Sinne von Lautsein schafft einen konkreten (abgeschlossenen) Raum, in dem Gemeinschaften Musik erleben und damit sich selbst erleben und den mit Klang gefüllten Raum als den ihren markieren. Lautheit definiert in diesem Zusammenhang einen akustischen und einen sozial-kulturellen Raum, in dem alternative Regeln und Zukunftsentwürfe geltend gemacht und also imaginiert werden. Lärmkonflikte sind dabei oft bewusst einkalkuliert. Die Lebensentwürfe derjenigen, die sich beispielsweise mit psychedelischer Musik (Jefferson Airplane) identifizierten (Wohngemeinschaften statt bürgerliche Kleinfamilie, weite Kleidung statt Anzug, second hand statt Konsum, »make love not war«), widersprachen denjenigen Lebensentwürfen, von denen man sich auch in Bezug auf seine Hörpraktiken abgrenzte. Allerdings dürften Schafers Lärmdiagnosen und seine Präferenzen für Hifi-Sounds keineswegs im Widerspruch zu den eben geschilderten Lebenskonzepten stehen. Schafer mied die Großstadt und zog aufs Land. Für die britischen Mods (1960er Jahre) und mehr noch für die zum Ende der 1970 Jahre die Bühne der Jugendsubkulturen betretenden Punks galt ›Lärm machen‹ und ›laut sein‹ als ein explizites Handlungsmuster, Provokation, Störung, Code und Möglichkeit des Selbsterlebens, der sich wie ein roter Faden durch die Elemente ihrer kulturellen Praktiken (Auftreten, Jargon, Kleidung, Frisuren, Pogo, Zeichnungen in Fanzines, Klangästhetik) zog. »Gekleidet in Chaos, produzierten sie in der still orchestrierten Krise des Alltagslebens in den späten siebziger Jahren ungebührlichen Lärm – einen Lärm, der auf genau dieselbe Weise und in genau demselben Ausmaß wie ein Stück Avantgarde-Musik (keinen) Sinn ergab.«41 Mittels bedrohlich inszenierter Symbole der Gruppensolidarität und Gruppenidentität wurden Subjekte gebildet, die die Positionierung in der gesellschaftlichen Ordnung erst erträglich machten,42 eine andere und aussichtsreichere Zukunft im Sinne einer expliziten Diagnose aber ist in diesen »Störungen« nicht angelegt. Dennoch, in dem die Vertreter*innen des frühen Centre for Centemporary Cultural Studies in Birmingham (CCCS) sich für diese Praktiken interessierten und mit bestimmten Begrifflichkeiten (Sub- und Gegenkultur) sichtbar machten, reklamierten sie sowohl ihren eigenen Anspruch auf Wissenschaft wie auch den Anspruch der Jugendsubkulturen als legitime Mitglieder von Gesellschaft, samt der dazugehören39 | Die Lautstärke-Skalierung eines Amps (umgangssprachlich für Verstärker) geht bis 10. 40 | flüstern und SCHREIEN – Ein Rockreport (DDR 1988). 41 | Hebdige, Dick: Stil als absichtliche Kommunikation, in: Kemper, Peter/Langhoff, Thomas/Sonnenschein, Ulrike (Hg.): »but I like it« – Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart 1989, S. 392-420, hier S. 407. 42 | Willis, Paul: Spaß am Widerstand: Gegenkultur in der Arbeiterschule, Frankfurt a.M. 1982 (urspr. 1977).

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den Klanglichkeit. Dabei machten sie auf kulturelle Praktiken aufmerksam, die in weiten Teilen der Gesellschaft und insbesondere auch in akademischen Kreisen damals als illegitime Praktiken galten und folglich für Konflikte sorgten. Dies betrifft auch und in ganz besonderem Maße die Praktiken des Hörens von Musik und das Erleben von Klang wie sie in populären und den angesprochenen Gegenkulturen präferiert werden. Das deutsche Wort Hören greift für den Perzeptions- und Aneignungsprozess von Klanggeschehen und Musik sehr kurz, auch wenn in seiner Differenzierung in Zuhören, Aufhören, Mithören, Überhören, Weghören etc. verschiedene Praktiken des Hörens angedeutet sind und also auch unterschieden werden können. Die Aspekte der Unterscheidung zielen jedoch zumeist auf Aspekte des Sprachverstehens und die notwendige Transparenz, die für dieses Verstehen notwendig ist (vgl. auch Schafer). Damit können – so der kanadische Musikwissenschaftler John Shepherd – klangliche Phänomene, auch Musik, die sich »radikal von der Sprache als der anderen auf Klang beruhenden Form menschlicher Kommunikation«43 unterscheidet, letztendlich nicht verstanden werden. »Die Wirkung von Musik ist primär und ursprünglich somatisch und körperlich, nicht zerebral und kognitiv.« 44 Dieser Hinweis dürfte in Bezug auf subjektive und sozial-kulturell kontextualisierte Lärm- und Lautheitsempfindungen von Bedeutung sein. Die Praktiken des Hörens (populärer Musik) reichten in den 1970er Jahren vom erlebnisorientierten Hören bei Konzertereignissen im Freien,45 aufmerksamen Abhören eines Konzeptalbums (Hi-fi), Straßenräume in Beschlag nehmenden plärrenden indifferenten Sounds aus Transistorradios (Lo-fi), zerstreutem Hören morgendlicher Radiosendungen, dem Tanzen in all seinen Formen, Headbangen, Drogenkonsum etc.46 Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz nimmt diese Praktiken zum Anlass, seine Interpretationsfolie von Genealogien der Moderne empirisch zu untermauern. Folgt man seiner Argumentation, dann können die im Zuge gegenkultureller Bewegungen seit den 1960er Jahren sich formierenden jugendorientierten Musikszenen (von Rock’n’Roll, Hippies, Metal, Punk etc. bis Techno) als implizite Diagnosen der ereignisarmen Routinen der Moderne und ihrer Zwecke und Zwänge gelesen werden. Ein zentrales Moment bildet hierbei das Begehren nach somatischem Erleben und die Suche nach Grenzerfahrungen, also dem Gegenteil von Transparenz und Sprachverstehen. In der Materialität des Klanges und seinen auf den Körper gerichteten Dimensionen (Sound, Beat, Lautstärke, Artikulation) der zumeist elektronisch hergestellten oder verstärkten populären Musikformen kommt eine affizierende ›Lust am Lärm‹ zum Ausdruck, die v.a. ästhetische, kulturelle und soziale Normalitätserwartungen und Wertvorstellungen provozieren. Dabei werden Alltagsgrenzen transzendiert und klangliche Überlastung zum Genuss 43 | Shepherd, John: Warum Popmusikforschung, popscriptum Berlin 1992 (URL: http:// www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst01/pst01_shepherd.htm [20.3.2017]). 44 | Ebd. 45 | Siehe dazu auch den Beitrag von Frank Hillebrandt in diesem Band. 46 | Vgl. Schmerenberg, Peter (Hg.): Break on through … to the other side. Tanzschuppen, Musikclubs und Diskotheken in Weser-Ems, Oldenburg 2007; Schwetter, Holger: Jeder für sich, aber gemeinsam. Musik-Erleben in der Rockdiskothek, in: Elflein, Dietmar/Weber, Bernhard (Hg.): Aneignungsformen populärer Musik. Klänge, Netzwerke, Geschichte(n) und wildes Lernen, Bielefeld 2017, S. 113-147.

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und Vergnügen, eingebunden in quasi rituelle Praktiken47 (ein Wochenende durchtanzen) und Spektakel (Festivals). Nur in Ausnahmesituationen (konzentriert ein Konzept-Album hören) wird Musik zum Objekt geistiger und am Werk orientierter kontemplativer Auseinandersetzung. »Die Gegenkultur prämiert Kollektivität als eine Bedingung, unter der bestimmte liminale Erfahrungen erst möglich werden […]. Hier kann sich das Subjekt über den Weg einer kollektiven, nach außen distinkten Alltagssemiotik – Kleidung, Accessoires, Gestik etc. – auf Dauer als Teil einer Gemeinschaft potentiell gleichsinnig Erlebender identifizieren.« 48

Das körperliche Erleben hoher Schallpegel spielt insbesondere für einen als gelungen erlebten Pop-Konzertbesuch oder eine durchgetanzte Nacht im Club eine entscheidende Voraussetzung. Die Kritik am Lo-fi Hören, und vor diesem Hintergrund dürfte der Hinweis Schafers auf die lauteste Musik aller Zeiten eigentlich formuliert gewesen sein, bezieht sich auf Hörpraktiken, die dem gerichteten konzentrierten Zuhören nicht entsprechen. Die Kritik richtet sich auch auf die durch Medienpraktiken ermöglichten Hörpraktiken, die zerstreuten, von anderen Praktiken begleiteten, vor allem aber auf die den Körper affizierenden und (den Geist) vereinnahmenden, die aus Schafers Sicht wenig perspektivierten Praktiken des Hörens. Die von ihm als Lo-fi-Klangumwelt benannte Umwelt sei von Signalen überfüllt, in ihr komme es zur Überdeckung bzw. Maskierung und damit zu mangelnder Deutlichkeit. Schafer ging es darum, genau hinzuhören, die deutliche Wahrnehmung einzelner Klänge stand für ihn im Gegensatz zu dem, was für ihn die Gleichgültigkeit gegenüber der auditiven Welt im Zuge der Modernisierung von Gesellschaften erzeugte. Dass dabei anders motivierte Hörpraktiken in die Kritik und Rockmusik in die Nähe von Zivilisationsmüll, in einen Argumentationszusammenhang mit akustischen Phänomenen bzw. Auswirkungen von Industrialisierung und zunehmender Verdichtung von Verkehrswegen und urbanen Emissionen gerieten, entspricht dem Modus einer kulturkritischen Haltung, der vor den Zumutungen der Moderne warnt, die sich als gegenkulturelle Praktiken aber ebenso gegen diese wendeten. Populäre Musikformen sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts in industrielle Zusammenhänge eingebunden, Tonträger zirkulieren im Warenprozess und es gelten die Regeln von Angebot und Nachfrage, Marketing, Promotion und vor allem diejenigen der Aufmerksamkeitsökonomien. Dabei konnten die in gegenkulturellen Zusammenhängen entworfenen und sowohl er- wie auch gelebten Interventionen im Sinne impliziter Diagnosen zugleich im medialen Verwertungszusammenhang aufgehen, d.h. Störungen absorbiert und bewirtschaftet werden. Bei aller Widersprüchlichkeit bleibt festzuhalten, dass Schafers Arbeiten das Bewusstsein westlicher Gesellschaften dafür geschärft haben, ökologische Fragen auch in audiologischer Hinsicht auf die Agenda zu setzen. Als Umweltbelastun47 | Musikethnologische Forschungen zeigen, dass in rituellen Praktiken die zugleich erzeugten Klänge häufig schrill (obertonreich) und lärmend (rituelle Traditionen der Moche in den Anden) oder dröhnend (tieffrequente Gesänge tibetanischer Mönche während buddhistischer Zeremonien), den Körper unmittelbar affizierend sind. 48 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilserswist 2 2012, S. 467.

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gen werden in Statistiken heute regelmäßig neben Luft- und Wasserverschmutzung, Belastungen bzw. Belästigungen durch Auto- und Fluglärm abgefragt. Es gelten Normwerte für bestimmte Bebauungszusammenhänge und Gewerbenutzungen auf kommunaler Ebene, Lärmkartierungen, Umgebungslärmrichtlinien oder Empfehlungen zur »Lautheitsaussteuerung, Normalisierung und zulässiger Maximalpegel von Audiosignalen« der European Broadcasting Union für den Sendebetrieb. Im beginnenden 21. Jahrhundert sind Lautstärke-Emissionen des städtischen Verkehrs zurückgegangen. Es wird an Materialien (»Flüsterasphalt«) und Verfahren gearbeitet, die Immissionen, wie Verkehrslärm zu mindern suchen. Insbesondere im Kontext des Arbeitsschutzes werden Studien zu den Auswirkungen von Lärm und hohen Lautstärken durchgeführt. Hierbei konnten schädliche Auswirkungen z.B. in Bezug auf die menschliche Hörwahrnehmung bei Berufsmusiker*innen nachgewiesen werden,49 während die Auswirkung von lauter Musik als sogenannte eigenkontrollierte Lärm-Dosis bei jungen Erwachsenen entweder überschätzt wird50 oder nicht explizit nachgewiesen werden konnte.51

3. V on der U nmit telbarkeit des A ffek tiven und A nwohnerinitiativen gegen C lubl ärm In vielen urbanen Agglomerationen Europas dominieren heutzutage Club- und Partykultur die Musikszene. Städte werben mit der Attraktivität ihres Nachtlebens, und der Verweis auf lebendige Straßenräume auch zu Abend- und Nachtzeiten gehört zum Standartrepertoire des Stadtmarketings und der Immobilienbranche. Zugleich wird Wohnraum in den großen Städten knapp und Verdichtung lässt Nutzungskonflikte eskalieren, weil nutzungsgemischte Räume immer wieder auch mit Lärmkonflikten einhergehen (vgl. Kapitel Lärm als Plage und ästhetisches Programm): Straßen-, Kinder-, Bau- und sogenannter Freizeitlärm beschäftigen die Stadtplaner*innen und Stadtentwicklungspolitiker*innen, weil Anwohner*innen sich belästigt fühlen. In einem Positionspapier einer Anwohnerinitiative aus dem Berliner Bezirk Kreuzberg heißt es: »Wir fordern ein sofortiges Ende des Open-AirBetriebs von Musikanlagen […]. Lärm macht aggressiv und gefährdet den sozialen Frieden in unserem Bezirk! Diese Clubkapitalisten verdienen Geld damit, dass sie uns Einwohnern auf die Nerven gehen und mit unserer Nachtruhe auch unsere Gesundheit beeinträchtigen. Den Drogendealern kann man noch aus dem Weg gehen – dem Techno-Lärm nicht.«52 Im Kern geht es der Anwohnerinitiative aber um Probleme, die Teil der voranschreitenden Gentrifizierungsprozesse in den Innen49 | Vgl. Occupational & Environmental Medicine. Professional musicians run almost fourfold risk of noise induced deafness (URL: http://oem.bmj.com/content/suppl/2014/05/01/ oemed-2014-102172.DC1/oemed-2013-102172_press_release.pdf [29.5.2014]). 50 | Hoffmann, Eckhard: Hörfähigkeit und Hörschäden junger Erwachsener unter Berücksichtigung der Lärmbelastung, Heidelberg 1997. 51 | Hellbrück, Jürgen: Das Hören in der Umwelt des Menschen, in: Bruhn, Herbert/Kopiez, Reinhard/Lehmann, Andreas C. (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Reinbek b. Hamburg 2008, S. 17-36. 52 | CLAF Initiative gegen Clublärm am Flutgraben an den Baustadtrat im Bezirksamt von Berlin Kreuzberg vom 13.12.2017.

Lärmkonflikte – soziale Aushandlungen auditiver Emissionen

städten sind, letztendlich wollen sich die Anwohner*innen gegen steigende Mieten und die Umwidmung von Wohnraum zu Ferienwohnungen, Sauf-Tourismus und die Vermüllung ihrer Straßen zur Wehr setzen. Dies scheint mir ein sehr wichtiger Hinweis darauf, welche Konflikte eigentlich gemeint sind, wenn Lärmkonflikte angesprochen und als Auslöser Musik- und Vergnügungsstätten ausgemacht werden. Die Clubs selbst haben dieses Problem erkannt und ersuchen, ähnlich wie die Anwohnerinitiativen die gewählten Vertreter*innen der Kommune um Vermittlung. Den Clubs geht es auch um ihr kommerzielles Überleben. In den Argumentationen und Verhandlungen stellen sie ihre Funktion als Sozialisationsinstanz und Kulturort ins Zentrum. Sie fordern emotionale Zonen im Baurecht und plädieren für die Ausweitung bestimmter städtischer Zonen als Kulturgebiete, in denen ähnliche Lautstärke-Grenzwerte zur Anwendung kommen sollten, wie in Gewerbegebieten. Die Normwerte des Bundesimissionsschutzgesetzes machen den Clubs und Spielstätten regelmäßig zu schaffen und können ihre Schließung bedeuten, also den finanziellen Ruin ihrer Betreiber*innen. »Einen Raum zu finden, der den Vorstellungen und baurechtlichen Schallschutzbestimmungen nach nur ansatzweise entspricht, ist in der Praxis äußerst selten. An der nächsten Häuserfront ist nach 22.00 Uhr ein maximaler Schallpegel von 55 Dezibel erlaubt: Das ist in etwa die Lautstärke eines Tischgespräches«,53 bedauert Karsten Schölermann vom Knust Club Hamburg und einer der Vorstandsvorsitzenden der LIVEKOMM. In den Wahlprüfsteinen anlässlich der Bundestagswahl 2017 fordert die LIVEKOMM die »Einrichtung einer eigenen Gebietskategorie ›Kulturgebiet‹ in der Baunutzungsverordnung (BauNVO). Die Nachtruhe sollte dort deutlich später als 22 Uhr beginnen und nachts ein Immissionsrichtwert von 70 dB(A) gelten […], ebenso ein […] Umdenken beim Bundesimissionsschutzgesetz: Musik ist ein Stück Lebensqualität und kein Lärm. Musikemissionen müssen als privilegiertes Sonderrecht, den Emissionen von Sport- und Kinderlärm gleichsetzt werden.« 54

Die Stadt Berlin bzw. ihr Abgeordnetenhaus hat zum Ende des Jahres 2017 einen im Koalitionsvertrag vereinbarten und kontrovers diskutierten Lärmschutz-Fond in Höhe von einer Million Euro aufgelegt, der die durch Lärm-Klagen in Bedrängnis geratenen Clubs und Spielstätten in die Lage versetzen soll, die notwendigen Umbaumaßnahmen vorzunehmen. Ob die von den Vertreter*innen der Clubs und Musikspielstätten gemachten Vorschläge auf breiter politischer Ebene durchsetzungsfähig sind, mag hier dahingestellt bleiben, jedenfalls zeugen sie von einer Lautheits-Ambivalenz, wie sie in modernen Gesellschaften seit Beginn des 20. Jahrhunderts v.a. im städtischen Raum zu Konflikten führt.55 Ob Musikclubs Kulturorte sind und bezüglich ihrer auditiven Emissionen nicht mit Autobahnen gleichzusetzen sind, ist sicherlich eine Frage der Perspektive. 53 | Vgl. Schölermann, Karsten: Liste des Grauens. Eine kleine Musikclubpolemik, vorgetragen und als Skript verteilt während der Konferenz PLAN!POP12 der Initiative Musik gemeinnützige Projektgesellschaft mbH, Alteglofsmein 2.5.2012. 54 | Was wollen wir? – Wahlprüfsteine 2017. »Clubkultur ist Lebensqualität«. Forderungskatalog zur Bundestagswahl 2017 (Kurzfassung, Stand Februar 2017) (URL: www.live​m usikkommission.de/livekomm/was-wir-wollen/[17.7.2018]). 55 | Vgl. den Abschnitt zur Antilärm-Bewegung oben.

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Dass Musikclubs Kulturorte sind und mittels Musik bzw. über das Medium Klang Vergemeinschaftung stiften, ist aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive unstrittig. Die aktuell vorgetragenen Kritiken am ›Lärm‹ sind vor allem eingebettet in einen Diskurs um Gesundheit und ein Unversehrtheitsparadigma,56 wie es erst moderne Gesellschaften kennen. Verankert ist es heute im Recht auf persönliche Unversehrtheit und räumt entsprechenden Klagen den Vorzug ein. Ein Lärmschutz-Fonds ist vor allem der Versuch, eine Art therapeutische Maßnahme, Nutzungskonflikte mit öffentlichen Mitteln zu befrieden. Politik will hier nicht ihr Gesicht verlieren, gegenüber prominenten Befürworter*innen einer kulturell und ökonomisch attraktiven und lebendigen Stadtkultur,57 denn die Umsätze der Kultur- und Kreativwirtschaft sind in urbanen Räumen erheblich und Clubbetreiber*innen, bekannte Musiker*innen oder Journalist*innen können sich eine hohe Präsenz in den Medien verschaffen. Die Durchsetzungsmacht aber liegt in der Anwendung von Gesetzen oder der Wahl der richtigen Ortes für einen Club, der auch nach 22.00 Uhr noch betrieben werden kann. So kam angesichts der Schließung des Berliner Knaack-Clubs der Sänger der bekannten Berliner Band Knorkator, Gero Ivers alias Stumpen, im Tagesspiegel zu Wort: »›Das ist ein Verbrechen an der Kultur‹ […] seit mehr als 30 Jahren komme er in diesen Club [Knaack] – und nun ist der den neuen Nachbarn in nebenan errichteten Eigentumswohnungen zu laut«.58 Im Knaack hatte die seit Mitte der 1990er Jahre international bekannte Industrial-Metal Band Rammstein ihre lokale Basis und das SO36 im Zentrum Kreuzbergs, das wegen Anwohnerklagen kurz vor der Schließung stand, gehörte im Westberlin der späten 1970er und frühen 1980er Jahre zu den bekanntesten selbstorganisierten Treffpunkten der Punk und New Wave Szene. Dort traten Bands wie Die Toten Hosen, Einstürzende Neubauten, Die tödliche Doris oder Iggy Pop und David Bowie auf. Der weit über die Grenzen Deutschlands bekannte Techno-Club Berghain – deren Betreiber behaupten, dass es sich um den lautesten Klub der Welt handle – befindet sich im massiven Bau eines ehemaligen Heizkraftwerkes, sozusagen in den Ruinen der Moderne und in gehöriger Distanz zu möglichen Konfliktparteien. Dort kann man bis in den frühen Morgen zu Lautstärken von weit über 70 db tanzen. Mancher Journalist gerät dabei ins Schwärmen: »Man kann hier hundertmal, tausendmal emporgestiegen sein. Aber man wird immer noch überwältigt von der Größe des Raums, von der Erhabenheit der Architektur, von den warm-harschen Wellen aus Klang, die einem von oben entgegenschlagen und den Körper

56 | Vgl. Holger Schulze in seinem Vortrag »Volumen und Körper. Zur Kulturgeschichte der Lautheit«, in dem er mit Bezug auf das Unversehrtheitsparadigma auf die Forschungen von Michel Serres (Les Clinq Sens: philosophie des corps mêlés, Paris 1985) verweist, Ringvorlesung LAUTHEIT, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Institut für Musik, Sommersemester 2012. 57 | Aus der Musik- und Clubszene heraus hatten sich im Jahr 2000 die Club-Commission und im Jahr 2007 die Berlin Music Commission gegründet. Beide verstehen sich als Repräsentanten der kleinen und mittelständischen Musikwirtschaft und agieren auch als Lobbyisten gegenüber der Politik. 58  |  Heine, Hannes: Stumpen will Stammgast bleiben, in: Tagesspiegel, 24.6.2010 (URL: www. tagesspiegel.de/berlin/stumpen-will-stammgast-bleiben/1867750.html [31.12.2017]).

Lärmkonflikte – soziale Aushandlungen auditiver Emissionen umhüllen, durch die Knochen und in die Stirn kriechen und die Nasenflügel zum Flattern bringen.« 59

4. F a zit Sich mit Fragen von Lärm und Lautheit zu befassen, löst unter Intellektuellen, Geistes- und Musikwissenschaftler*innen regelmäßig Kopfschütteln aus. Erwartet wird eine kritische Haltung und Hinweise auf die schädigende Wirkung von ›zu lauter‹ Musik. Ja, einen Aufsatz kann man in der Tat nur in Abgeschiedenheit und Ruhe verfassen. Konzentration braucht Stille und zu hohe Schalldrücke können zu Gehörschädigungen führen, auch wenn der Platz direkt vor dem Lautsprecher freiwillig aufgesucht wurde. Es ging in diesen Beitrag keineswegs darum, mögliche Risiken von Hörschädigungen zu banalisieren oder die Argumentationen der frühen Soundscape-Forschung zu diskreditieren. Es geht vielmehr darum, dem diskursiven Spannungsfeld zu folgen, auf das man trifft, wenn sich Fragen von Lärm und Lautheit aus einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive stellen. Die in diesem Beitrag thematisierten Lautheitsdiagnosen, im Alltagssprachlichen als Lärm verhandelt, stellen aus verschiedenen Perspektiven Formen der Problematisierung des Zusammenlebens von Menschen in modernen Gesellschaften dar. Dabei werden die Wirkungen des Auditiven in seiner Materialität (Schalldruck, Ereignisdichte) unterschiedlich bewertet. Zukunft ist auf Seiten ihrer ›Kritiker*innen‹ (Lessing, Schafer, Anwohnerinitiative gegen Clublärm), abgeleitet aus einem Narrativ, nachdem die Klangumwelten des Menschen immer lauter, undynamisch und indifferent (Lo-fi) werden, als etwas Bedrohliches angelegt, das nur durch Interventionen (Deindustrialisierung, Normwerte, Schließung) abgewendet werden kann. Hingegen setzen ihre ›Befürworter*innen‹ auf die ästhetische und/oder sozial-kulturelle Eigenschaft von Klängen und Geräuschen im Sinne von Soundscapes, die Zukunft aus der Gegenwart heraus begrüßen (Futurismus), sich als bewusste Störung inszenieren (jugendorientierte Musikszenen der Gegenkultur) oder das durch Klanglichkeit erlebte Empowerment und Vergnügen (Clubkultur der Gegenwart) verteidigen. Explizite Lärmdiagnosen werden in kulturellen Zusammenhängen und Situationen zurückgewiesen. Lautheit gilt dort als materiell erlebtes Medium des Sozialen, das im Hier und Jetzt artikuliert wird und insofern keine eingreifende Veränderungsperspektive aufzeigt. Dennoch kann dabei von kulturellen Formen der Selbstproblematisierung in Bezug auf Gesellschaft in ihren hochgradig diversifizierten Interessen und Interessenkonflikten gesprochen werden. Auch aus dieser Perspektive werden ›Maßnahmen‹ eingeleitet, die sich im Sinne der Erzeugung einer besseren Welt verstehen, einer Welt, in der andere Regeln gelten oder räumlich und/oder zeitlich begrenzt außer Kraft gesetzt werden. Beide Perspektiven nehmen für sich in Anspruch, eine legitime Position zu vertreten. In der Auseinandersetzung um diese Legitimität entstehen die hier verhandelten Lärmkonflikte.

59 | Balzer, Jens: Clubgeschichte – Wie der Mythos Berghain entstand, in: Berliner Zeitung, 7.6.2016 (URL: www.berliner-zeitung.de/berlin/clubgeschichte-wie-der-mythos-berg​ hain-entstand-24181086 [20.3.2017]).

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Unsichtbare Sichtbarkeiten Kontrollverlust und Kontrollphantasmen in öffentlichen und jugendkulturellen Digitalisierungsdiagnosen Juliane Engel/Benjamin Jörissen

1. E inleitung Wir verstehen nachfolgend ›Gegenwartsdiagnosen‹ als diskursive Figurationen, die zwischen medial artikulierten und distribuierten Manifestationen einerseits und alltagsweltlich gebildeten und umgebildeten, oft auch impliziten Wissensbeständen und ihren Artikulationen andererseits einen dynamischen Zusammenhang herstellen, der von den beteiligten Akteuren als vermittelt oder unmittelbar relevant für eigene zukunftsbezogene Perspektiven und Erwartungshorizonte1 wahrgenommen wird. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive liegt dabei ein besonderes Interesse darin, das Spannungsverhältnis öffentlicher, institutioneller und klientelseitiger Gegenwartsdiagnosen in den Blick zu nehmen. Gegenwartsdiagnosen haben ihre subjektivierungs- und bildungsbezogene Bedeutung in ihrer spezifischen Entwurfs-Struktur der Herstellung (symbolisch vermittelter) präsenter Gegenwärtigkeit im Horizont kommender Gegenwarten.2 Es gehört allerdings zum klassischen pädagogischen Selbstverständnis, diese Entwurfsstruktur als Herausforderung oder Zumutung an Klientelgruppen heranzutragen und somit hegemonial zu setzen: Die Geschichte der Pädagogik präsentiert sich regelmäßig als Verklammerung normativ (voraus-)gesetzter Gegenwartsdiagnosen einerseits und daraus primär begründeter melioristischer Erziehungsentwürfe andererseits.3 1 | Lamprecht, Juliane: Rekonstruktiv-responsive Evaluation in der Praxis. Neue Perspektiven dokumentarischer Evaluationsforschung, Wiesbaden 2012; Dies.: Bildung und Bewertung zu Möglichkeitsräumen in responsiven Evaluationen, in: Miethe, Ingrid/Müller, Hans R. (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Opladen 2012, S. 173-193; Althans, Birgit/Engel, Juliane (Hg.): Responsive Organisationsforschung. Methodologien und institutionelle Rahmungen von Übergängen, Wiesbaden 2016. 2 | Mead, George H.: The Philosophy of the Present, Chicago 1932; Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989. 3 | Davon zeugen etwa Comenius’ neuplatonische Programmatik der weltrettenden Wiedererinnerung an die göttliche Ordnung als zentrale Aufgabe der Didaktik, Rousseaus radikal kulturkritisch begründeter, anthropologisch hochnormativer Erziehungsutopismus und

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Gegenwartsdiagnostik als Form pädagogischer Zumutung zeigt sich in Wolfgang Klafkis normativer Festschreibung ›epochaltypischer Schlüsselprobleme‹ als Kanon eines – wie immer kritisch angelegten – gesellschaftspolitischen Feuilletons, zu dem wir heute sicherlich ›Digitalisierung‹ zählen müssen. Die pädagogischen und bildungspolitischen Gegenwartsdiagnosen in Bezug auf ›Digitalisierung‹ sind vor diesem Hintergrund im Sinne reflexiver Erziehungswissenschaft4 auf ihre strukturellen und normativen Gehalte hin zu befragen: Inwiefern also treffen – oder verkennen – pädagogische und bildungspolitische Digitalisierungsdiagnosen die lebensweltlichen Erfahrungsräume ihrer Zielgruppen – hier also insbesondere die als »digitale Jugendkultur«5 referenzierte Kernklientel digitaler Transformationsphänomene? Inwiefern wären daran anschließende Moralisierungsprogramme begründungsfähig und inwiefern entsprechen die gegenwartsdiagnostischen Zukunftsentwürfe, etwa im Hinblick auf Innovationsforderungen, den Perspektiven ihrer jugendlichen Zielgruppen? Dies versuchen wir nachfolgend einerseits durch die Analyse von öffentlichen Diskursfiguren, die den gesellschaftlichen Wandel und somit gegenwärtige Prognosen eng an Digitalisierungsprozesse binden. So lassen sich einige wichtige Dimensionen und Struktureigenschaften von Digitalisierungsdiagnosen identifizieren. Ihnen können andererseits kontrastiv (post-)digitale Praktiken der Jugendkultur gegenüberstellt werden. In jugendkulturellen Praktiken schließen erlebte, alltägliche Gegenwarten ebenfalls – jedoch ganz anders – an Prozesse der Digitalisierung an, sodass sich hier wiederum jugendkulturelle Konstruktionen von Digitalität und Digitalisierung zeigen. Diese Differenz von öffentlichen Diskursivierungen und jugendkulturellen postdigitalen Praktiken bietet dem Beitrag somit eine Diskussionsgrundlage, um Fragen von Gegenwartsdiagnosen sowohl diskursanalytisch als auch empirisch am Beispiel von Digitalisierungsprozessen als gesellschaftlichem Transformationsgeschehen zu untersuchen. Somit sind aus unserer Perspektive sowohl mediale Konstruktionen öffentlich diskutierter Gegenwartsentwürfe und Bezugshorizonte als auch – zwar stark medial basierte, aber in milieuspezifisch geprägten Prozessen je spezifisch ausgelegte – ›gefühlte‹ Gegenwartslagerungen von Bedeutung. Dieser Zusammenhang ist im Hinblick auf bildungstheoretische Fragestellungen im Sinne gesellschaftlicher und diskursiver Transformationen der Bedingungen von Subjektivations- und Bildungsprozessen zentral. Indem der Beitrag also sowohl diskursive Figuren gegenwärtiger Digitalisierungsdiagnosen als auch aktuelle (post-)digitale Praktiken von Jugendlichen komparativ analysiert, kann er die pädagogisch relevante Differenz beider Phänomene markieren. So ist es für die erziehungswissenschaftliche Erkenntnisbildung – die immer auch eine Praxisorientierung impliziert – charakteristisch und maßgeblich, Beobachterkonstruktionen sowohl auf institutioneller, politischer und öffentlicher Seite als auch auf Seiten der entsprechenden pädagogiSchillers bzw. Herbarts ästhetische Erziehungsentwürfe, die vor dem Hintergrund kantischer Gegenwartsdiagnostik die Verwirklichung von Moralität über den zwanglosen Zwang harmonisierender Ästhetiken zu erreichen versuchten. 4 | Friebertshäuser, Barbara/Rieger-Ladich, Markus/Wigger, Lothar (Hg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Wiesbaden 2009. 5 | Hugger, Kai Uwe (Hg.): Digitale Jugendkulturen, Wiesbaden 2009.

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schen Klientel- und Zielgruppen zu befragen und zueinander in Bezug zu setzen. Das bedeutet hier, die impliziten Argumentationsfiguren öffentlicher Diskurse zur Digitalisierung, die häufig bildungsprogrammatische Entscheidungen nach sich ziehen, in ihrer Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit zu implizitem Wissen über (post-)digitale Phänomene und Problemlagen in jugendkulturellen Praktiken zu untersuchen. Den Hintergrund der nachfolgenden diskursbezogenen und empirischen Betrachtungen bilden daher Theorieentwicklungen zum einen im Bereich erziehungswissenschaftlicher Forschung zu Medienbildung und (post-)digitaler Kultur,6 zum anderen im Bereich von Kulturtheorien des impliziten Wissens und der (Nicht-)Präsenz 7 sowie der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung,8 und hier insbesondere auch im Kontext eines aktuellen, interdisziplinären DFG-Projekts (beteiligte Fächer: Didaktik, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Praktische Philosophie und Geographie) zu »Glokalisierten Lebenswelten von Jugendlichen«.9 Wir diskutieren nachfolgend also zunächst eine typologisierende Beschreibung öffentlicher Digitalisierungsdiagnosen, stellen ihr anschließend empirische Ergebnisse zu postdigitalen Praktiken von Jugendkulturen gegenüber und legen abschließend die produktive Differenz von öffentlichen und empirischen Diskursivierungstypen von ›Digitalisierung‹ als unterschiedlich gelagerte und einander somit gegenüberzustellende Gegenwartsdiagnosen dar.

6 | Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried: Medienbildung – Eine Einführung: Theorie – Methoden – Analysen, Stuttgart 2009; Westphal, Kristin/Jörissen, Benjamin (Hg.): Vom Straßenkind zum Medienkind. Raum- und Medienforschung im 21. Jahrhundert, Weinheim 2013; Jörissen, Benjamin/Meyer, Torsten (Hg.): Subjekt Medium Bildung, Wiesbaden 2015. 7 | Engel, Juliane: (Nicht-)Präsenz. Artikulationen, Materialitäten, Fremdheiten, in: Dies. u.a. (Hg.): Zeitlichkeit und Materialität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorien der Präsenz und des impliziten Wissens, Bielefeld 2019, S. 191-201; Engel, Juliane/Göhlich, Michael/Möller, Elke: Interaction, Subalternity, and Marginalizatiuon. An Empirical Study on Glocalised Realities in the Classroom, in: Engel, Juliane/Fritzsche, Bettina (Hg.): Cultural Identity in Multilocal Spaces. Special Issue of Diaspora, Indigenous, and Minority Education (DIME), London 2019, S. 40-53. 8 | Engel, Juliane: Image language and the language of images. A closer examination of videography in cross-cultural school studies, in: Research in Comparative and International Education 10, 2015, S. 383-393; Engel, Juliane: Pädagogische Blicke zwischen inneren und äußeren Bildern, in: Graßhoff, Gunther/Schmidt, Friederike/Schulz, Marc (Hg.): Pädagogische Blicke, Weinheim/Basel 2016; Dies.: Zur (Un-)Sichtbarkeit organisationalen Lernens. Theoretische Überlegungen, in: Schröer, Andreas u.a. (Hg.): Organisation und Theorie. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden 2016. 9 | DFG-Projekt »Glokalisierte Lebenswelten: Rekonstruktionen von Modi des ethischen Urteilens im Geographieunterricht«, Laufzeit 2015-2019, beteiligte Fächer: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Dr. Juliane Engel; Didaktik der Geographie, Prof. Rainer Mehren, Praktische Philosophie, PD Stefan Applis.

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2. ›D igitalisierung ‹ im D iskurs Öffentliche Digitalisierungsdiskurse können hinsichtlich ihrer institutionellen Verankerung vier dominanten Akteursbereichen zugeordnet werden, so dass man analytisch 1.) digital-kulturelle, 2.) wissenschaftlich-fachliche 3.) politisch/administrative und 4.) öffentlich-zivilgesellschaftliche Diskursarenen und -logiken unterscheiden kann. Ersteres ist eine Besonderheit, in der sich die spezifische Struktur gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse insbesondere im Hinblick auf die öffentlich-medialen Partizipationspotenziale manifestiert. Strukturell betrachtet ist Digitalisierung durchaus nicht nur auf Medialität und öffentliche Artikulationsräume bezogen, sondern gleichermaßen ein infrastrukturelles, technisches und ökonomisches Phänomen. Dennoch hat Digitalisierung über die Eröffnung neuer öffentlicher deliberativer Räume10 von Beginn an einen selbstreferenziellen Diskurs über digitale Medien in digitalen Medien hervorgebracht. Unsere Forschung in bestimmten Sub-Netzwerkclustern der deutschsprachigen Twitterszene11 zeigten beispielsweise einen ganzen Genre- und Memebereich ausschließlich plattform-bezogener Tweets auf Twitter. Diese selbstreferenzielle Auseinandersetzung mit digitaler Kultur in einer Bottom-up-Perspektive aus digitalen Kulturen heraus zeigt sich auf höherer Aggregationsebene etwa auch an diskursiven und politischen Institutionalisierungen wie etwa der re:publica-Konferenzreihe und Vereinsgründungen wie der Initiative »Digitale Gesellschaft (d21)«.

2.1 Modi der Gegenstandskonstruktion in Digitalisierungsdiagnosen Ohne dass wir hier eine systematische und methodengeleitete diskursanalytische Zuordnung typischer Diskursfragmente zu diesen Akteursbereichen – die ihrerseits jeweils erheblich zu differenzieren wären – leisten können, kann zunächst festgehalten werden, dass durchweg in diesen Diskursbereichen, wenn auch im politischen Bereich erst mit einiger Verzögerung, dem Thema ›Digitalisierung‹ eine ausgesprochen hohe Bedeutung zugewiesen wird, die jeweils mit spezifischen – von hochpolitisierten bis zu pragmatisch-instrumentellen – Perspektiven auf Veränderung gesellschaftlicher Zustände verbunden werden. Wir unterscheiden hierbei zunächst zwei Haupttypen von Digitalisierungsdiagnosen entlang zweier dominanter Formen der Gegenstandskonstruktion. Auffällig ist, dass Digitalisierungsdiagnosen in der Konstruktion ihrer Gegenstandsbezüge entweder überwiegend auf der Ebene von Sichtbarkeiten im Sinne gegenständlich umschreibbarer ›Herausforderungen‹ operieren12 oder aber von Annahmen der Ungreif barkeit und Unsichtbarkeit von Digitalität ausgehen, die der Erfahrung und dem planvollen Handeln nicht ohne weiteres zugänglich sind.

10 | Marotzki, Winfried/Sandbothe, Mike: Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, Köln 2000. 11 | Jörissen, Benjamin: Transritualität im Social Web: Ritualisierte Ästhetisierungen des Alltags auf »Twitter«, in: Bilstein, Johannes u.a. (Hg.): Rituale der Kunst, Oberhausen 2011, S. 75-86. 12 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Etzemüller in diesem Band.

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Die in William Gibsons Roman Neuromancer 13 zuerst verwendete Metapher des ›Cyberspace‹ etwa bezeichnet als einer der frühesten holistischen Entwürfe digitaler Welten einen Raum, in dem Personen existieren, der aber zugleich ein reiner Datenraum ist. Seit den 1990er Jahren ist in vielen Filmen und grafischen Visualisierungen die Paradoxie dieser Datenraum-Inszenierung aufgegriffen worden, die – im Gegensatz zur simulierten cartesianischen Räumlichkeit virtueller (3D-) Umgebungen – gerade die Nicht-Körperlichkeit des Cyberspace aufzeigt (der Film The Matrix [USA/Australien 1999] stellt hierfür ein prominentes Beispiel dar). Diese Paradoxalität wird in der für die frühe Netzkultur zentralen Declaration of the Independence of Cyberspace 14 als Figur einer grundsätzlichen Entzogenheit – hier vor allem vor dem Zugriff politisch-administrativer Autoritäten – gewendet: »Cyberspace consists of transactions, relationships, and thought itself, arrayed like a standing wave in the web of our communications. Ours is a world that is both everywhere and nowhere, but it is not where bodies live. […] Your legal concepts of property, expression, identity, movement, and context do not apply to us. They are all based on matter, and there is no matter here. Our identities have no bodies«.15

Diese Betonung der Ungreif barkeit, Entzogenheit und Unsichtbarkeit digitaler Sphären entspricht zwar durchaus medientheoretischen Reflexionen über Digitalität,16 ist aber offenkundig auch Moment strategischer, ›netzpolitischer‹ Positionierungen. Das Ungreif bare des ›Cyberspace‹ kann daher utopische Ressource sein – im Sinne der Erschließung eines historisch unbelasteten, offen-deliberativen, nicht von außen reglementierten Sozial- und Kulturraums. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden wirtschaftlichen Erschließung der digitalen Sphäre in den 2000er Jahren, des damit einhergehenden zentralen Geschäftsmodells der Datenaggregation und der auch nach diesem Muster operierenden neuen staatlichen Überwachungstechnologien – Stichwort NSA-Skandal – gibt aber gerade auch die Ungreif barkeit der digitalen Sphäre, insbesondere in akademischen und populärwissenschaftlichen Diskursen, zunehmend Anlass zu kritischen, teilweise auch dystopischen Digitalisierungsdiagnosen. Dies bezieht sich beispielsweise auf die Feststellung eines generalisierten Kontrollverlustes in Bezug auf digitale Daten und Plattformen, wie er von bekannten Akteuren der deutschen Netz-Szene artikuliert wird,17 auf den digitalen »Solutionismus«18 einer enthobenen und anonymen, aber extrem mächtigen hegemonialen Klasse informatischer Stakeholder,19 deren

13 | Gibson, William: Neuromancer, New York 1984. 14 | Barlow, John P.: Declaration of the Independence of Cyberspace, Davos 1996 (URL: https://www.eff.org/cyberspace-independence [11.4.2018]). 15 | Ebd. 16 | Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002. 17 | Seemann, Michael: Das Neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust, Berlin 2014. 18 | Morozov, Evgeny: The Net Delusion. The Dark Side of Internet Freedom, New York 2011. 19 | Lessig, Lawrence: Code: And Other Laws of Cyberspace, New York 1999.

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Geschäftsmodell mittlerweile vor allem auf digitaler Disruption20 basiert, oder auch als bezogen auf einen inzwischen global vernetzten, softwareisierten Raum der Datenauswertung, in der Software als neuer epistemischer Akteur erscheint, der mit einer unkontrollierbaren »Versenkung der Macht in die räumliche Matrix von Infrastrukturen«21 einhergeht, die schließlich beginnt, materielle Lebenswelten zu strukturieren.22 Diesem primär netzkulturell und akademisch verortbaren Diagnosetyp stehen vor allem in handlungsorientierten Diskursbereichen Perspektiven gegenüber, die eher auf Konstruktionen fassbarer, lebensweltlich gegenstandsförmiger Phänomene fokussieren, die, naheliegenderweise, auf Legitimationsoptionen anschlussfähiger Handlungsentwürfe abheben, insofern aber auch mit instrumentell fokussierten Sichtweisen und Problemdefinitionen von ›Digitalität‹ und ›Digitalisierung‹ einhergehen. Für zivilgesellschaftliche, politisch-administrative und andere (nicht zuletzt auch pädagogisch-)institutionelle Akteure wird Digitalisierung naheliegender Weise dann (und erst dann) thematisch, wenn sie entweder konkrete Steuerungsbedarfe provoziert – z.B. Anschlussprobleme im Hinblick auf Klientelgruppen, innovationsbezogene Wettbewerbschancen, Störungen durch strukturelle Inkompatibilität – oder aber durch äußeren Druck als neue Anforderung an Organisationsziele oder -formen (Innovation, Prozessoptimierung usw.) gestellt wird. So wird beispielsweise seit langem unter dem Label der ›Digital Natives‹ ein Diskurs über den generationalen Wandel und die damit verbundenen Konsequenzen für Organisationen – vor allem im Hinblick auf Attraktivität für qualifizierte Nachwuchskräfte – geführt,23 der vor allem auf – vorgebliche, wie kritisch einzuschränken ist 24 – generationstypische Medien-, Kommunikations- und Lernhabitus der ›Millenials‹ abhebt. Etwas anders stellen sich politische Digitalisierungsdiagnosen dar, wie sie beispielsweise in der KMK-Strategie Bildung in der digitalen Welt25 oder der BMBF-Strategie Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft26 formuliert werden. Hier wird auf eine (post-)digitale Jugendkultur der ›Millenials‹ entweder nicht rekurriert,27 oder sie erscheint lediglich als Erziehungsproblem: »Denn nur, 20 | McQuivey, James: Digital Disruption. Unleashing the Next Wave of Innovation, Cambridge 2013. 21 | Hörl, Erich/Parisi, Luciana: Was heißt Medienästhetik?, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8, 2013, S. 35-57, hier S. 41. 22 | Kitchin, Rob/Dodge, Martin: Code/Space. Software and Everyday Life, Cambridge 2011. 23 | Prensky, Marc: Digital Natives, Digital Immigrants, in: On the Horizon 9, 2001, S. 1-6; Palfrey, John G./Gasser, Urs: Born Digital. Understanding the First Generation of Digital Natives, New York 2008. 24 | K. U. Hugger (Hg.): Digitale Jugendkulturen; Thomas, Michael (Hg.): Deconstructing digital natives. Young people, technology and the new literacies, New York 2011. 25 | Kultusminister-Konferenz: Bildung in der digitalen Welt, 2016 (URL: https://www.kmk. org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/Bildung _digitale_Welt _Webver​ sion.pdf [23.4.18]). 26 | Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft, 2016 (URL: https://www.bmbf.de/files/Bildungsoffensive_fuer_die_di​ gitale_Wissensgesellschaft.pdf, [23.4.18]). 27 | Kultusminister-Konferenz: Bildung in der digitalen Welt.

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wenn digitale Endgeräte nicht allein zur Unterhaltung, sondern auch für die eigene Aus- und Weiterbildung genutzt werden, lässt sich eine digitale Spaltung vermeiden«.28 Der diagnostische Fokus liegt hier weniger in einem habituell-kulturellen Wandel, sondern in der Neujustierung von politischen Zielen – hier insbesondere Bildungsziele – und Wegen. Durchgehend – für handlungsorientierte Diagnostik vielleicht wenig überraschend – kommt hierbei ein ›Chancen- und Gefahren‹-Schema zur Anwendung, das sich dadurch auszeichnet, dass das als Problem wahrgenommene Neue (Digitalisierung) am Maßstab der bisherigen Organisationsziele gemessen wird: »Auch mit digitaler Bildung verfolgen wir klassische bildungspolitische Ziele«.29 Im Gegensatz zu Digitalisierungsdiagnosen der ›Ungreif barkeit‹ erfolgt hier eine – im Sinne der Organisationsziele selektive – Problemdiagnose als lösungsorientierte Gegenstandskonstruktion. ›Digitalisierung‹ erscheint dann als Problem der Qualifikationsanforderungen, der Bildungsgerechtigkeit und der Selbstbestimmung (z.B. »Datentracking, Internetkriminalität oder Cybermobbing«30), aus dem jeweils konkrete Handlungsprogrammatiken (»Grundlegende Kenntnisse von Hard- und Software«, »Beherrschung von Informations- und Kommunikationstechnologien«,31 Restrukturierung von Lernumgebungen32) ableitbar sind. Insbesondere äußert sich der Bedarf an viabler Gegenstandsorientierung an einer auffälligen ›Dingorientierung‹, also einer Tendenz, im Prinzip abstrakte Handlungsbedarfe in letzter Konsequenz in Form dinglich-technisch ›manifester‹ Maßnahmen umzusetzen. Auch wenn die diagnostizierten Probleme zumindest teilweise auf sehr abstrakten und komplexen Ebenen verortet werden (›Selbstbestimmung‹, ›Informationsflut‹, ›digitale Revolution‹ etc.) – ohne dass diese allerdings in übergreifenden transformationstheoretischen Orientierungsrahmen verortet würden –, werden ›Lösungen‹ im Sinne des Chancen-und-Gefahren-Dualismus in der besonderen Betonung von (technischen) Ausstattungsfragen, in informationstechnischen Kenntnissen und einer zusätzlichen »Kulturtechnik – der kompetente Umgang mit digitalen Medien«33 – gesehen.

2.2 (Un-)Sichtbarkeit und (Verlust von) Kontrolle Mit der aufgezeigten Perspektivendifferenz der emergenten ›Ungreif barkeit‹ und Untergründigkeit von Digitalisierung vs. konkreter handlungsorientierter Gegenstandskonstruktion und Problemeingrenzung geht ein tieferliegender gegenwartsdiagnostischer Unterschied einher. Erstere laufen – wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen – auf Diagnosen, Prognosen und Inszenierungen der Entgrenzung hinaus: Sei es die Entgrenzung des freien offenen Cyberspace, die entgrenzte Macht der Digitalkonzerne, Geheimdienste oder der unkontrollierbaren Software selbst, die posthumane Entgrenzung aufgrund einer ›Singularität‹ in der Entwicklung künstlicher Intelligenz usw. Sowohl auf utopischer wie auf 28 | Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft, S. 2. 29 | Ebd., S. 8. 30 | Ebd., S. 2. 31 | Ebd. 32 | Kultusminister-Konferenz: Bildung in der digitalen Welt, S. 8. 33 | Ebd., S. 12.

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dystopischer Seite wohnt solchen Digitalisierungsdiagnosen konzeptionell ein eher subversives Freiheitsmoment – im Sinne der Suspension von Ordnung und Kontrolle – inne. Aus der Zuschreibung einer solchen, grundlegenden Macht von Digitalisierung folgt (logisch betrachtet) entweder die These einer totalen Alterität des Digitalen – wie sie beispielsweise in den transhumanistischen Phantasien der 1980er und 1990er Jahre zum Ausdruck kam –, in der die digitale Sphäre einer nicht-digitalen Welt quasi als ihre Negation gegenübergestellt wird. Oder aber es wird, weniger dualistisch, der Digitalität eine konstitutive, welterzeugende Kraft zugesprochen. Abstrahiert man zusammenfassend die zugrundeliegenden Muster der angeführten Typen von Digitalisierungsdiagnosen, so zeigen sich im ›Chancen und Gefahren‹-Typus vergegenständlichte Verständnisse von Digitalisierung, auf deren Basis als Subtypen prohibitorische, reaktive und – inzwischen vor allem – proaktive Handlungsentwürfe generiert werden. Digitalität erscheint aus diesen Perspektiven als etwas zu Bekämpfendes, zu Beherrschendes oder zu Gestaltendes, und die Lösungen liegen im Rahmen (relativ) klarer Ziel-Mittel-Bestimmungen auf der Hand. Die Subjektposition erscheint in diesem Typus durchweg als (logisch) unabhängig von den als objektiv konstruierten digitalen Gegenstandskonstruktionen, die vor allem als Kontrollproblem identifiziert werden. Im Gegensatz dazu behandeln die gegenwärtigen Digitalisierungsdiagnosen des ersten herausgestellten Typs die Subjektposition nicht als den digitalen Phänomenen gegenüberstehend, sondern im Gegenteil als zirkulär mit ihnen verwoben, also als ein (Ko-)Konstitutionsverhältnis. Digitalisierung wird dann als etwas betrachtet, das nicht nur instrumentell, sondern allein schon im Interesse einer (kulturellen, politischen, ökonomischen, individuellen etc.) Selbstverortung auf seine konstitutiven Prozesse hin befragt wird. So wird beispielsweise das Verhältnis von Privatheit, Datenschutz und unkontrollierbaren öffentlichen Sichtbarkeiten in solchen diagnostischen Diskursen und Praktiken nicht als Schutz- oder Kompetenzproblem eines quasi per se über Intimität konfigurierten Subjekts betrachtet; vielmehr wird umgekehrt die Transformation von Subjektivität und Personalität durch die digitalisierte Verschiebung der kulturellen Koordinaten an- und aufgenommen und im Rahmen digitaler transformativer Praktiken exploriert.34

2.3 Digitale und post-digitale Diagnosetypen Gegenüber den oben diskutierten Fokussierungen auf Digitalität und Digitalisierung lassen sich in jüngerer Zeit auch distanziertere Digitalisierungsdiagnosen ausmachen, die das Phänomen der Digitalisierung stark kontextualisieren und dem Thema Digitalität somit keine prominente Position mehr zuordnen, es aber dennoch als eines der gegenwartskonstitutiven Momente aufgreifen. In solchen ›post-digitalen‹ Diagnosen wird das Digitale häufig nicht mehr als singulärer Akteur fokussiert. Noch die Geste der Überwindung der Fokussierung auf das Digitale muss dieses jedoch als solches zitieren. Der diagnostische Begriff des ›Post-digitalen‹ ist insofern durchaus »a term that sucks but is useful«.35 34 | Heller, Christian: Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre, München 2011. 35 | Cramer, Florian: What is »Post-digital«?, 2015, S. 13 (URL: www.aprja.net/?p=1318 [23.4.18]).

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Vor diesem Hintergrund erscheinen nicht nur Zeitdiagnosen der ›Digitalisierung‹, sondern erscheint auch unsere heuristische Suchstrategie nach ›Digitalisierungsdiagnosen‹ noch zu stark fasziniert und fokussiert von der Vordergründigkeit ihres – sei es als gegenständlich oder ungegenständlich konstruierten – Beobachtungsfeldes. In der post-digitalen Perspektive sind digitale, kulturelle, ökonomische, sogar chemische und biologische Codes, sind digitale, soziale, transaktionale Netzwerke, sind digitale, administrative, akademische Konstruktionen von ›Daten‹ und Entwürfe normativer Datenstrukturen, sind materielle Interfaces, informationsverarbeitende (Chips) und andere Materialien, seien es künstlerische Materialien oder technische Materialien von Nano-Strukturen über DNA-Stränge bis hin zu Flugdrohnen, nicht mehr als durch eine Perspektive auf Digitalität voneinander zu trennen. In dieser Perspektivierung ergibt sich ein neues Zusammenspiel zwischen Digitalisierungsdiagnosen und der (meist damit verbundenen) Diagnosen impliziter Subjektpositionen, die wiederum auch Interventionen bzw. Gestaltungsmöglichkeiten betreffen. Löst man sich jedoch von der Dichotomisierung digital vs. nicht-digital, wie oben beschrieben, führt uns diese Verschiebung oder Hybridisierung auf eine materialitätstheoretische Spur, die das Subjekt nicht länger außerhalb von digitalen Kulturen positionieren kann.36 Stattdessen ginge es nun darum, die wechselseitigen Materialisierungen genauer in den Blick zu nehmen.37 Welche hybriden Subjektformationen und -figurationen entstehen zwischen (nicht-) digitalen Dingen und Menschen? Anstelle einer kulturpessimistischen Sicht lässt sich sodann ihr nicht-planbares Zusammenspiel als diskursive Praxis in ihrer Eigendynamik ernst nehmen und als kreativer Prozess untersuchen, »offen für das Unberechenbare«.38 In den nachfolgenden empirischen Rekonstruktionen von Digitalisierungsdiagnosen in der Jugendkultur interessieren wir uns daher in hohem Maße für die diskursiven Konstruktionen ›des Digitalen‹ – oder eben im post-digitalen Sinne nicht mehr nur ›Digitalen‹ –, also für die diagnostischen Stile, insbesondere fokussiert auf die jugendkulturell maßgeblichen Fragen der Identität, der Exponiertheit, der Selbstbilder und Images als gegenwärtige Praktiken der Subjektivierung.

3. E mpirische E rgebnisse In den Forschungsstudien des bereits erwähnten DFG-Projekts zu »Glokalisierten Lebenswelten von Jugendlichen« wurde deutlich, dass die Lebenswelten der Schüler*innen gegenwärtig von heterogenen Deutungsangeboten und damit verbundenen oftmals implizit bleibenden Gegenwarts- oder Zukunftsdiagnosen geprägt sind. In Zeiten der Globalisierung sehen sie sich bei Entscheidungen und somit bei Differenzierungsleistungen offenbar besonders herausgefordert.

36 | B. Jörissen/T. Meyer (Hg.): Subjekt Medium Bildung. 37 | Engel, Juliane/Beach, Dennis/Jörissen, Benjamin: Ethnography on the Materiality and Historicity of Aesthetic Practices, in: Ethnography and Education 14, 2019 (i. E.). 38 | Parisi, Luciana: Contagious Architecture. Computation, aesthetics and space, New York 2013, S. 36.

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Auf der Grundlage von Ergebnissen empirischer Pilotierungsstudien, die wir 2013/14 in München und Delhi durchgeführt haben,39 gehen wir von der Prämisse aus, dass eine steigende Komplexität von Relationierungsmöglichkeiten das gegenwärtige Erleben von Zeit und Welt sowie damit verbundene Subjektivierungspraktiken von Schüler*innen prägen. Diesem Ergebnis folgend, schließen wir in unserer Projektarbeit an das theoretische Konzept der Glokalisierung40 an, das von einem Zusammenspiel von lokalen und globalen entwicklungen ausgeht. So untersuchen wir in empirischen Studien, wie Schüler*innen die Möglichkeit neuer Relationierungen erleben und erproben. Es lässt sich sodann genauer analysieren, welche Gegenwartsdiagnosen ihren Erfahrungsmodi implizit zugrunde liegen.41 So dient ihnen die (Um-)Nutzung des Smartphones als alltägliche und zentrale Praktik der Subjektivierung vor allem bei der Herstellung von sichtbaren bzw. unsichtbaren Relationierungen von Selbst und Welt, etwa wenn sie einander Selfies schicken, oder über Snapchat per Fotografie mitteilen, dass sie gerade joggen gehen. Im Laufe des Forschungsprozesses ist uns immer deutlicher geworden, wie sich glokalisierende Relationierungen über visuelle Kommunikationen, z.B. durch Bilder, Selfies und Fotografien generieren und dabei das Eigene in ein Verhältnis zum Anderen gesetzt wird;42 das Lokale verbindet sich bei der (Um-)Nutzung des Smartphones, genauer von Messaging Diensten wie WhatsApp oder Snapchat, aber auch von sozialen Netzwerken wie Facebook mit dem Globalen und es entstehen Praktiken der Subjektivierung.43

39 | J. Engel: Image language and the language of images; Engel, Juliane/Riedhammer-Ulrich, Marie: Urteilsbildung und Einbildungskraft. Zum Fremden im Geographieunterricht, in: Schoberth, Ingrid (Hg.): Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, Göttingen 2014, S. 89-124; Engel, Juliane/Fritzsche, Bettina: The potential of videography in comparative education: Introduction, in: Research in Comparative and International Education 10, 2015, S. 319-325 (URL: http://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/1745499915580423 [24.7.2018]). 40 | Robertson, Roland: Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Featherstone, Michael/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities, London 1995, S. 25-44; Dürrschmidt, Jörg: Roland Robertson. Kultur im Spannungsfeld der Glokalisierung, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2 2011, S. 734-745. 41 | Vgl. Robertson, Roland: Globalization. A social theory and global culture, London 1992, S. 98. 42 | Zirfas, Jörg: Identität in der Moderne, in: Jörissen, Benjamin/Zirfas, Jörg (Hg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden 2011, S. 9-17; Wulf, Christoph: Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur, Bielefeld 2014; Althans, Birgit: Zur anthropologischen Notwendigkeit des Verkennens. Jaques Lacans »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«, in: B. Jörissen/J. Zirfas (Hg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S. 55-69. 43 | Fritzsche, Bettina: Das Andere aus dem standortgebundenen Bilde heraus verstehen. Potenziale der dokumentarischen Methode in kulturvergleichend angelegten Studien, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 13, 2012, S. 93-109; Jörissen, Benjamin: Transgressive Artikulation. Ästhetik und Medialität aus Perspektive der strukturalen Medienbildung, in:

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Diese beiden Richtungen – der globale Strom kultureller Güter, der lokale Räume verändert,44 aber auch die lokal spezifische Verarbeitung von globalen Gütern – stellen demnach bereits eine starke Vereinfachung des komplexen Phänomens Glokalisierung dar. Denn auch die kulturellen Güter bergen bereits lokale Spuren in sich und die lokal spezifische Verarbeitung ist von globalen Entwicklungen beeinflusst und prägt Entwürfe oder Diagnosen der Gegenwart. Der Beitrag verfolgt somit eine praxeologische Untersuchung von Gegenwartsdiagnosen, die nach ihrer Logik bzw. Funktion (innerhalb einer Praxis) fragt. So lässt sich rekonstruieren, welche impliziten Gegenwartsdiagnosen der visuellen Kommunikation von Jugendlichen als Praktiken der Subjektivation zugrunde liegen.

3.1 Unsichtbare Sichtbarkeiten – Zu Bildkommunikationen von Jugendlichen als glokalisierte, post-digitale Praktiken Im Rahmen des DFG-Projekts wurden an vier verschiedenen Gymnasien in Franken (naturwissenschaftlich, ästhetisch-musisch, sozialwissenschaftlich-konfessionell, international ausgerichtet) auch 32 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zu ihren alltäglichen Praktiken, Konflikten und Entscheidungen in Zeiten der Globalisierung geführt. Hierbei stellten sich schulübergreifend Netzwerkplattformen und Apps als zentrale – und nicht mehr von der eigentlichen Lebenswirklichkeit getrennte – Erfahrungsräume für die Jugendlichen bzw. für ihre post-digitalen Praktiken der Subjektivierung und damit verbunden (Un-)Sichtbarkeiten heraus. Die folgenden Diskussionspassagen stammen von drei unterschiedlichen Gruppen des international geprägten Gymnasiums. Die empirischen Ergebnisse basieren also auf fallübergreifenden, komparativen Analysen und bahnen somit bereits eine sinngenetische Typologie an.

3.2 Der andere sieht (nicht), ob ich online bin (Gruppendiskussionspassage 10 b) Legende: Af: Schülerin 1 Bf: Schülerin 2 Cf: Schülerin 3 Df: Schülerin 4 Ef: Schülerin 5 If: Forscherin Af: also ich weiß nich da geht man halt einfach schnell drauf und schaut des Bild für fünf Sekunden an und schickt direkt n Bild zurück (.) Bf: ja vor allm da sehn die andern nich also wenn du nur von eim nen Snap anschaun würdest (.) sehn die andern ja nich das du den Snap vom andern angeschaut hast (.) bei Whatsapp wenn du eima on bist Hagener, Malte/Hediger, Vinzenz (Hg.): Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke, Frankfurt a.M. 2015, S. 1-14. 44 | Löw, Martina: Raum. Die topologischen Dimensionen von Kultur, in: Jaeger, Friedrich u.a. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart 2011, Bd. 3, S. 46-60.

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Juliane Engel/Benjamin Jörissen Af: siehst du ja Bf: [ja] Af: das du online bist und deswegen If: Okay und wieso stört euch des Bf: [] Af: ja wenn du halt auf Whatsapp bist und da sin mehrere Nachrichten halt und ich aber nur der einen Person antworten will (.) dann hat äh merken aber die andern Person wenn man den nich antworten will und dann ja warum schreibst du mir nich zurück Bf: ja Cf: oder wenn man irgend ne Nachricht bekommt wo man sich so denkt Df: [ja ich hab jetz keine lust Cf: oh gott] Alle: @(.)@ Cf: und dann will man da nich antworten ?f: [ ] Alle: @(.)@ Af: und des is mit Snapchat halt einfach besser (.) weil da sieht des halt niemand und man kann halt nur der einen Person zurückschicken Cf: Also Antworten Bf: und ich glaub es würd auch was fehln wenns auf einmal weg wär so

Die implizite Frage, um die die Jugendlichen hier kreisen, lautet: Wer sieht was von wem wann? Die Metapher der (digitalen) Sichtbarkeit zeigt sich als dominanter Zugang zu ihren gegenwärtigen Erfahrungen. So beschäftigt sie etwa die Möglichkeit einer (un-)sichtbaren Kommunikation, wenn sie beschreiben, wie unangenehm es ist, dass andere in dem Messenger-Dienst WhatsApp sehen können, dass sie online sind und sie ihnen dennoch nicht antworten (möchten). Hier zeigt sich implizit und bildungstheoretisch relevant, dass die sichtbare und schnelle Beantwortung von Anfragen der anderen für sie Auswirkungen auf ihre Beziehungen zu sich selbst und zu anderen hat. Sie kritisieren, nun nicht mehr unbemerkt bzw. ungesehen nur mit Auserwählten kommunizieren zu können, ohne dass ihre Anwesenheit im Netz für alle sichtbar ist. So ergibt sich für sie hier ein Zwang zur Kommunikation: Entweder sie antworten sofort, oder sie müssen später eine Metakommunikation betreiben. Diese Art der Selbstbeschreibung bzw. des In-Beziehung-Setzens gefällt ihnen nicht und zugleich unterwerfen sie sich ihr bzw. verschieben oder verändern ihre Praktik der Selbstbeschreibung in eine fotografische Sichtbarmachung der eigenen Aktivität, wie das oben stehende Transkript verdeutlicht. Die Jugendlichen beschreiben also implizit, gegenwärtig nicht (lange bzw. längerfristig) gesehen werden zu wollen. Darin dokumentiert sich ein Unbehagen gegenüber einem bestimmten (digitalen) Kommunikationsmedium (WhatsApp) sowie das Begehren, primär fluide Selbstbilder oder prozesshafte Selbstbildung hervorzubringen: Snapchat bietet ihnen eine nicht persistente Bildlichkeit, die auch von der antizipierten Verantwortung für verbreitete (Selbst-)Bilder entlastet. Die Wahl der Verwendung dieser speziellen, in der gegenwärtigen Jugendkultur ausgesprochen beliebten Plattform, ist also wesentlich eine Reaktion auf implizite Vorstellungen von digitaler Kommunikation, Vernetzung und Sichtbarkeit. Dabei wird die empfundene soziale Verpflichtung, unmittelbar antworten zu müssen, nach einem ähnlichen Muster wie in leiblich-situativer Kommunikationen

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aufgebaut: Die Sichtbarkeit der eigenen Wahrnehmungshandlungen – ich sehe, ob mich jemand wahrnehmen kann, mit dem ich (verbal-)gestisch kommuniziere und baue darüber die Erwartung einer anerkennenden Antwortgeste auf – wird von WhatsApp simuliert, von Snapchat jedoch nicht. Für die digitale Kommunikationsumgebung gelten dabei offenbar also dieselben kommunikativen Anstandsregeln wie für nicht-digitale Kommunikation – was entweder auf eine kontinuitätslogische Konstruktion des Digitalen verweisen kann (WhatsApp ist zur nichtdigitalen Alltagskommunikation hinzugetreten; Snapchat jedoch eine instrumentell nutzbare Alternative) oder aber als Hinweis auf eine gegenwärtige, post-digitale Wahrnehmung verstanden werden kann. Letzteres wäre dann der Fall, wenn die Snapchat-Kommunikation nicht mit anderen digitalen Kommunikationsformen kategorial zu einer logischen Klasse ›digitaler Kommunikationstools‹ verbunden würde, sondern vielmehr mit strukturisomorphen anderen visuellen und verbalen Artikulations- und Kommunikationspraktiken verbunden würde. Eine solche Strukturisomorphie läge etwa in dem betont ephemeren Status visueller und verbaler Artikulationen, der durch das technische Design von Snapchat – begrenzte Erscheinungszeit von digitalen Bildern, im Gegensatz zur virtuell unendlichen Persistenz digitaler Bilder45 – unmittelbar umgesetzt bzw. zitiert wird.

3.3 Erfahrungen durch Fotos (mit-)teilen Af: ja Bf: könnte man nicht mehr snapen (.) und dann (.) wärs n bisschen komisch Cf: vor allm man postet halt so Bilder wenn du irgendwie was isst oder wenn du irgendwie wo hingehst oder so Af: @ja@ Df: also schickst du dann halt zu Freunden so Cf: [@vom essen@ Af: man postet des dann so Df: oder machst Videos] If: also so zusagen anstatt (.) ich geh jetz noch laufen oder so schick ich n Foto Bf: genau Af: ja dann schickt man son Bild wie man sich so also halt mit den Joggingsachen Alle: @(.)@ Af: und schickt n Bild und sagt joggen oder so

Die flüchtige foto- oder videografische Mitteilung der eigenen Praktiken (Essen oder Joggen) bietet den Jugendlichen offenbar eine für sie stimmigere Produktion der eigenen (Un-)Sichtbarkeit für andere. Hier zeigt sich, wie sich für die Jugendlichen recht selbstverständlich und (im Unterschied zu den öffentlichen Diskursen) ganz unaufgeregt sprachliche bzw. textuelle Nachrichten durch Bilder ergänzen und teilweise ersetzen. Hier wird – anders als in der Kritik öffentlicher Diskurse – die Frage der eigenen Sichtbarkeit nicht in der Dichotomisierung von zwei 45 | Poster, Mark: Die Sorge um sich im Hyperrealen, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 17, 2008, S. 201-227; Poster, Mark: Information Please. Culture and Politics in the Age of Digital Machines, Durham 2006.

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Welten (digital vs. nicht-digital) erzeugt, sondern der Modus der Sichtbarkeit als Zugang zur Welt und zu sich selbst modifiziert. Sie teilen die eigenen Erfahrungen oder Aktivitäten vorrangig durch bzw. als Bilder in Snapchat (mit). Fotografien werden sodann mit Fotografien, also flüchtigen Bildern beantwortet und Situationen somit als multiple Beobachtungssituationen generiert. Indem sie sich durch flüchtige Bilder in ein Verhältnis zu anderen setzen, gelingt ihnen der Entzug aus dem panoptischen Sichtbarkeitsraum WhatsApp. Bei diesem Phänomen handelt es sich um ein bereits aus anderen Studien bekanntes Muster des postmigrantischen Wegbewegens aus panoptischen Kontrolltechnologien (wie Facebook usw.), auf der Suche nach unsichtbaren Räumen. Wir verstehen dies tentativ als eine Art ›digitalen Exodus ins Post-Digitale‹; eine Abkehr von Anwendungen, die genuin digitale Charakteristiken (Panoptismus, Persistenz) betonen, die aus unserer Sicht jugendkulturelle Gegenwarten prägt. Diese Vermutung wird durch den Umstand gestützt, dass Snapchat den Jugendlichen die Möglichkeit bietet, mit minimalen textuellen Nachrichten (»joggen«) und ephemeren Bildern vor allem auch phatisch zu kommunizieren.

3.4 Einfach ausstellen oder vergessen (Komparative Analyse 10 e) Die dabei thematisierte Verletzbarkeit von Sichtbarkeitsgrenzen wird auch von anderen Jugendlichen (Schüler*innen der 10 e) diskutiert: Legende: Af: Schülerin 1 Bm: Schüler 2 Cf: Schülerin 3 Bm: schreiben und dann schreib ich nich zurück hab sie aber gelesen oder so dann sieht man des ja zum Beispiel auf Whatsapp und deswegen äh geh ich da auch diesen Konflikten aus dem Weg indem ich dann zum Beispiel ähm halt des einfach ausstell das man nich mehr sieht wann ich die Nachricht gelesen hab oder ob ich sie gelesen hab oder sowas und ähm @(.)@ dann kriegt man damit keine Probleme mehr (.) also man man merkt schon das man sehr kontrolliert wird oder auch weman auf Facebook ne Nachricht schreibt steht dann da immer gesehn um so und so viel Uhr und so und des (.) des is schon krass geworden muss ich sagen (.) ja (.) auch mit der NSA und alles da das man immer des Gefühl hat man wird ausgespäht und (.) man vergisst es zwar schnell wieder man vergisst auch schnell wieder das man hier zum Beispiel gefilmt wird aber ähm irgendwie is es dann trotzdem noch da im Hinterkopf und man muss dran denken (.) und (.) des is schon echt in den letzten Jahrn echt ähm hart geworden (.) diese Überwachung (6) Cf: ich seh des zum Beispiel auch oft an mein Freunden wenn man dann miteinander schreibt und der eine schreibt vielleicht viel mit so Smileys und der andre nich und man versteht sich falsch und dann is man irgendwie sauer aufeinander und dann redet man nich miteinander und dann so ja des war eigentlich gar nich so gemeint (.) des passiert auch relativ oft (.) wenn man sich vielleicht noch nich so gut kennt (10) Af: ich find man sieht sich dann auch so gezwungen wenn der jetz eben sehn kann das ichs gelesen hab (.) und ich will eigentlich nich zurück schreiben dann sieht man sich gezwungen ihn eigentlich zurück zu schreiben weil man dann denkt ja der wird dann sauer (.) und (.) ja und des is dann auch nich so schön (7)

Unsichtbare Sichtbarkeiten

Auch in dieser Gruppendiskussion werden Konflikte beschrieben, die sich aus dem Anspruch des sofortigen oder zumindest schnellen Antwortens ergeben. Auch hier wird nicht über eine alternative Kommunikationsform (etwa die Möglichkeit eines verzögerten Reagierens) nachgedacht, sondern offenbar auch die Erfahrung aus ko-präsentischen Kommunikationen, einander direkt zu antworten, in die (post-) digitale Kommunikationen übertragen. Die Lösung für diesen so produzierten Konflikt sieht in dieser Gruppe jedoch anders aus. Sie operieren innerhalb des Messengers WhatsApp, indem sie unsichtbar machen, ob sie die Nachricht schon gelesen haben. Auf der Grundlage der fallübergreifenden, postdigitalen Praktiken von Jugendlichen im Umgang mit digitalen Medien zeigt sich also, dass die Befürchtungen, die mit den oben dargelegten, öffentlich kursierenden Mainstream-Digitalisierungsdiagnosen einhergehen, auf einer praxeologischen Ebene unbegründet bleiben (müssen). Auch im folgenden Abschnitt wird stattdessen deutlich, wie in einem spezifischen Modus der Kommunikation durch bestimmte digitale Medien einerseits und den Performativitätszwängen neoliberaler Optimierungsdiskurse (etwa zu zeigen, wie cool der Urlaub ist) andererseits digitale Bildkommunikationen (um-)genutzt werden.

3.5 »Dann ist es gar nicht mehr so sein Moment«: Komparative Analyse mit der Kontrastgruppe: (Schüler*innen 10a) Legende: Af: Schülerin 1 Bf: Schülerin 2 Cf: Schülerin 3 Df: Schülerin 4 Af: Was mir auch ganz oft auffällt ich hasse Fotos und ich mach auch eigentlich nie Fotos (.) und andere Leute wolln immer ganz viele Fotos machen und jeden Moment irgendwie so aufnehm und dann denk ich mir auch manchmal so ey schade das du kein Foto davon gemacht hast (.) aber irgendwie is des mir in dem Moment nich so wichtig weil ich (.) weil mich des eher belästig irgendwie dann Fotos davon zu machen Bf: (son bisschen wie) ( ) Af: ja (.) ich () halt eher so anguck (.) und dann (.) geh und ds- halt so ganz viel Fotos machen Bf: [ja] Af: ja und dann da so ne Fotosession aus dem Moment wird und es (.) garBf: [ja] Af: nichts schönes is mehr Bf: [ja] Af/Bf: (gar nichts mehr schönes) ( ) Bf: Es geht gar nicht mehr um den Moment sondern nur ums schönste Foto Af: genau Alle: ( ) Bf: wie sollte man es (.) grade des is ja eigentlich n schöner (.) mh schönes Ambiente @(.)@ sollte man des vielleicht auch einfach mal auf sich wirken lassen und so (.) statt dann irgendwie wieder wie zuhause einfach durch sein Smartph-

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Juliane Engel/Benjamin Jörissen Af: [ja aber für viele is des wahrscheinlich auch einfach so-] Bf: [zu schaun und dann einfach-] Af: das die sich denken ok gut wir fahrn jetz in Urlaub des werden richtig coole Fotos Bf: [ja] Af: und dann äh (.) is es einfach richtig stressig wenn man zum Beispiel jetz nen Instagram-Account hat den man ja vielleicht auch richtig pflegt dann viele (.) ich weiß nicht wie die heißen Cf: Followers Bf: Follower Af: heißt des so ja @(.)@ hat und ähm dann halt richtig stolz hat n richtig gutes Foto zu kriegen was vielleicht noch kein anderer hat und Bf: ja auch irgendwie undAf: zu zeigen wo man is aber des is dann gar nich mehr so sein Moment sondern so (.) der Cf: [ja] Af: von der ganzen Welt Cf: [oder auch so-] Df: und ich mein dieses Bild kann er auch zuhause angucken dazu muss er nicht dort sein Bf: ja so sein Urlaub nach dem (.) nach dem (.) Af/Cf: [ ] Bf: Fameheitsstats auszuwähln und zu sagen ja ok gut da war fast noch niemand und da siehts mega cool aus (.) und da kann ich richtig coole Fotos machen wie M. schon gesagt hat und deshalb da so hinzufahren und sich dann alles so durch sein Fotoapparat anzuschaun und ohne sich des mal so wirklich auf sich wirken zu lassen Bf: ja

In dieser Gruppe dokumentiert sich ein Entfremdungsdiskurs: Das Bedürfnis, Selbst- und Weltverhältnisse jenseits von Handyfotos zu produzieren. Diese Orientierung findet sich auch in anderen Passagen, z.B. in ihrer Beschreibung, lieber Bus zu fahren, ohne mit den Handykopfhörern Musik zu hören, oder ohne Handy essen zu gehen, damit man sich unterhalten kann. Die Jugendlichen bearbeiten das Problem der Unmittelbarkeit durch eine Vermeidung des Smartphones. Sie suchen nicht nach unsichtbaren Räumen innerhalb des post-digitalen Systems, sondern verzichten ganz darauf. Besonders an dieser Passage ist jedoch, dass sich (im Verhältnis zu anderen Passagen der Gruppendiskussion) zeigt, dass sich die Rahmung, d.h. die Orientierung der Themenbearbeitung von den Jugendlichen verändert hat. Zuvor war ›offline‹ der gegebene Zustand und nun ist es eine Entscheidung. Überraschend ist somit also nicht die Digitalität oder die Hybridisierung von digitalen und nichtdigitalen Aspekten der Alltagswelt, sondern kennzeichnend für den sich hier dokumentierenden postdigitalen Zustand ist stattdessen die temporäre Entscheidung für die eine Seite, die die Hybridisierung temporär aufhebt, also die digitale Abstinenz oder ggf. auch das Gegenteil. Aus unserer Sicht zeichnet sich gegenwärtig also ein Modus digitaler Vernetzungen als temporäre Hybridisierung ab.

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3.6 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse So zeigen sich fallübergreifend Praktiken der (strukturellen) (In-)Visibilisierung. Die Jugendlichen beschäftigt die implizite Verschränkung von (post-)digitalen und ko-präsentischen Kommunikationsformen, -settings bzw. -erfahrungen, um die sie ringen. Dieses Ringen zeigt sich einerseits auch in dem Begehren, den anderen die eigenen Aktivitäten mittels fluider Fotos in Messengers (im Rahmen globalisierter Bildlogiken) (mit-)zuteilen, sowie andererseits in der Angst einer damit potentiell verbundenen Kontrolle durch die Peers, staatliche Kontrollinstanzen oder (pädagogische) Autoritäten. Im ersten Typus wird dieses Dilemma innerhalb des (post-)digitalen Systems erzeugt und bearbeitet und im zweiten außerhalb, d.h. durch die Vermeidung der Smartphonenutzung, die aber eine aktive, exzeptionelle und daher auch nur temporäre Entfernung vom digitalisierten ›Normalzustand‹ bedeutet.

4. D as S piel mit der eigenen (U n -)S ichtbarkeit – post- digitale P r ak tiken der S ubjek tivierung Es zeigt sich, wie die Ordnung der Sichtbarkeit eines medialen Panoptikums – die in ihren normierenden Aspekten unmittelbar hervortritt, als neue kulturelle Form von Selbstverhältnissen untersucht werden kann.46 So etwa durch einen Rückgriff auf gegenwärtige Theorien zu medialen Bildungsprozessen als post-digitale Praktiken der Subjektivierung. Hier lassen sich die Relationierungsprozesse der Jugendlichen nicht mehr als »›Lernen über/durch/in Medien‹ […] [begreifen], vielmehr geht es um die mediale Konstituiertheit und die medialen Transformationen dieser Prozesse«47 Bildungsprozesse sind zunächst solche, in denen sich eine – immer in kulturelle und soziale Praktiken eingebettet, von diesen in ihrer Form prästrukturierte, initiierte, dem Individuum aufgetragene – selbstreflexive Beziehung zu sich herausbildet. Die empirische Studie analysiert somit fallspezifische Ausprägungen eines medialen Bildungsprozesses: Zwei unterschiedliche Typen der Herstellung von (in-)visibilisierenden Modi des Relationierens von (medialem) Selbst, Anderen und Welt als gegenwärtige Praktiken der Subjektivierung. »Die Artikulation von lokaler Differenz und unterscheidbarer kultureller Identität erfolgt [dabei gemäß] […] den Spielregeln globalisierter Anerkennungsprozeduren [bei der Herstellung von (In-)Visibilisierungen].«48 So erweist sich die Doppelstruktur der panoptischen Exposition einerseits und der damit verschränkten Selbstsorge andererseits als konstitutiv für die mediale Herstellung von Sichtbarkeit. Diese Doppelstruktur generiert ein medial invertiertes Panoptikum, das zum Inszenierungsort von Selbstpraktiken im Sinne eines ›Sich-zu-sehen-Gebens‹ wird. In diesem invertierten Panoptikum weicht der normierende Blick einer dezentralen Menge von Beobachtern

46 | Jörissen, Benjamin: Bildung, Visualität, Subjektivierung, in: Meyer, Torsten u.a. (Hg.): Kontrolle und Selbstkontrolle, Wiesbaden 2011, S. 66. 47 | B. Jörissen: Transgressive Artikulation, S. 4. 48 | J. Dürrschmidt: Roland Robertson, S. 739.

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(andere Jugendliche in den digitalen Netzwerken). Folglich steht das Individuum im Zentrum einer medialen Sichtbarkeitsmaschine.49

5. F a zit : ›D igitalisierung ‹ vs . P ost-D igitalität In ihrer spezifischen Entwurfs-Struktur der Herstellung präsenter Gegenwärtigkeit interessierten uns Gegenwartsdiagnosen in diesem Beitrag im Horizont kommender Gegenwarten.50 Relevant wurden somit sowohl öffentliche Gegenwartsentwürfe am Beispiel von gesellschaftlich diskursivierten Digitalisierungsdiagnosen und Bezugshorizonten als auch jugendkulturelle gefühlte Gegenwartslagerungen. Dabei erscheint die Differenz einer beobachteten Prozessualität von ›Digitalisierung‹ (als temporaler Dynamik) einerseits und einem post-digitalen Zustand als Merkmal jugendlicher Erfahrungsräume andererseits besonders charakteristisch. Digitalität zeigt sich in den hier genannten Erhebungen seitens der Jugendlichen nicht als ein in die Zukunft hinein zu entwerfender und zu gestaltender Gegenwartsaspekt, sondern zum einen als unhinterfragte »technologische Bedingung«51 von Lebensvollzügen, zum anderen als pragmatisch zu bearbeitendes Problem. Die Jugendlichen beobachten dabei post-digitale Entsicherungsphänomene als problematische Formen digitaler Kontrollparadigmen, denen sie sich auf pragmatischer Ebene durch einfache Taktiken zu entziehen versuchen. Dabei antizipieren sie ihre Verletzbarkeit durch visuelle Konstellationen; sie oszillieren zwischen einem Unbehagen an ubiquitarisierter Kontrolle und dem unausweichlichen Vergessen der Kontrolle innerhalb digitalisierter Alltagsvollzüge. Die fluiden und ephemeren visuellen und verbalen Inszenierungen und Kommunikationen lassen sich vor diesem Hintergrund als durchaus adäquater und spezifischer Ausdruck impliziter Digitalitätsdiagnosen verstehen. Sie gehen mit entsprechenden Formen von Subjektivationspraktiken einher, die ihrerseits auf typisch jugendkulturelle Entzogenheiten rekurrieren. Sozialisationstheoretisch wurden Subjektivationspraktiken des Sich-Entziehens in normativ-epigenetischer Perspektive als Moratorium thematisiert. Digitalität wäre vor diesem Hintergrund für diese Jugendlichen ein Phänomen, das nicht mit Kontrollphantasien, sondern eher mit nomadischen Strategien des Entzugs, der (Un-)Sichtbarkeit und auch stetigen Ortswechselns (von Plattform zu Plattform, von digitalisierten Lebensräumen zu lebensräumlicher Digitalität) einhergeht. Schauen wir abschließend auf die Bedeutung eines reflexiven Blicks auf ›Gegenwartsdiagnosen‹ im Phänomenbereich Digitalisierung/Digitalität – hier aus einer erziehungswissenschaftlichen Forschungsperspektive heraus und für diese –, so fällt eine Diskrepanz der Beobachtungsweisen aus öffentlichen (auch erziehungswissenschaftlichen und insbesondere bildungspolitischen) Diskursen einerseits und der hier exemplarisch dargestellten Empirie auf. Diese ist einerseits bemerkenswert und zeigt durchaus Reflexionsbedarf an – im Hinblick auf die Spezifität des Gegenstands ›Digitalisierung/Digitalität‹ ist sie dennoch vielleicht nicht 49 | B. Jörissen: Bildung, Visualität, Subjektivierung, S. 68. 50 | R. Koselleck: Vergangene Zukunft. 51 | Hörl, Erich (Hg.): Die technologischen Bedingungen. Beiträge zur Beschreibung einer technischen Welt, Frankfurt a.M. 2011.

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allzu überraschend: Die Beobachtung digitaler Transformationsdynamiken, die sich seit den 1970er Jahren, in der breiten Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren und in Bezug auf mobile Digitalität schließlich seit Mitte der 2000er Jahre tiefgreifend bemerkbar macht – nicht nur in lebensweltlicher Perspektive, sondern auch in der Erfahrung tiefgreifender Veränderungen in den Bedingungsstrukturen wissenschaftlichen Arbeitens zeigt –, ist naheliegender Weise von zeitlichen Differenzerfahrungen in der eigenen biographischen Perspektive abhängig. Die generationale Lagerung der erziehungswissenschaftlich Forschenden (wie auch pädagogischer und bildungspolitischer Stakeholder) legt entsprechend vor allem auf temporale Dynamiken abstellende Beobachtungsmuster nahe – von kulturkritischen Verfallsdiagnosen (›Gefahren‹) bis hin zu hoffnungs- und innovationsorientierten Zukunftsentwürfen (›Chancen‹) –, die in der zeitlich relativ knappen Periode gegenwärtiger Jugendkultur zumindest nicht in derart dramatischen Umbrucherfahrungen bestehen.52 Für die Gestaltung pädagogischer Praxis ist daraus kritisch abzuleiten, dass Digitalisierungsdiagnosen hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche grundsätzlich ambivalent sind und insofern Aushandlungsbedarfe anzeigen, die am ehesten durch responsive und partizipative Forschungsformate eingelöst werden können. Aufgrund der enormen zeitlichen Entwicklungs-, Implementations- und Veränderungsdynamik digitaler Technologie und ihrer kulturellen Adaption und Gestaltung schlagen generationale Erfahrungen, Perspektiven, Problem- und Gegenstandskonstruktionen in besonderer Weise auf Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe von Bildung in der digitalen Welt (KMK) durch. Sowohl für die pädagogische Forschung als auch für die pädagogische Praxis ist somit hier insbesondere zu fragen, wessen Probleme und Zukunftsentwürfe es sind, die wir aufwerfen und zu lösen uns vornehmen.

52 | Dies zeigt auch bereits die Jugendstudie vom Calmbach, Marc u. a: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016, über verschiedenste Sinusmilieus hinweg. In der von Jörissen u.a. z.Zt. durchgeführten Untersuchung zu post-digitalen kulturellen Jugendwelten (URL: https:// w w w.paedagogik.phil.fau.de/2017/03/bmbf-gefoerder tes-projek t-postdigitale-kultu​ relle-jugendwelten/ [22.8.2018]) bestätigt sich die These der biographieabhängigen Beobachterposition im Hinblick auf Digitalisierungsdiagnosen zudem. Hier fanden wir mikro-generationale Differenzen zwischen älteren Jugendlichen, die sich von Medienpraktiken jüngerer Jugendlicher abgrenzten, welche ihrerseits allerdings auf Plattformen stattfanden, die erst seit kurzem existierten, die also für eine bestimmte (Mikro-)Generation gegenwärtiger Jugendkultur als ›neu‹, jedoch für eine andere bereits als ›normal‹ erscheinen.

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VII. Diagnose als Kritik – Kritik der Diagnose

Mit den Mitteln des Affekts Katarina Zdjelars The Perfect Sound eine (nicht) diagnostische Gegenwartskritik?! Elke Bippus

»In The Perfect Sound (14’30«, 2009) we see a grey-haired man chanting monosyllables, over and over, and a young man mimicking him simultaneously. The sing-song that we hear is captivatingly primal and intensely humane. What we see is an accent removal class for an immigrant conducted by a speech therapist in Birmingham (UK), a city which is paradoxically known for its strong accent. The British context is particularly stratified as in the UK language and speech reveal not only one’s status as a foreigner, but also the last remaining, almost impenetrable traces of the class system. With The Perfect Sound Zdjelar looks at the phenomenon of cultural integration through the erasure of difference in pronunciation and the production of neutrality; obtaining the (voice) mask, which allows a misfit to shift between different modes of appearances and enables him or her to blend into the environment – to become unnoticeable.«1

Abbildung 1: Katarin Zdjelar: The Perfect Sound, 2009, Video 14'33" min, Montage der Handgesten

1 | Vgl. die Homepage von Katarina Zdjelar (URL: http://katarinazdjelar.net/the-perfect-​ sound [12.7.2018]).

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Abbildungen 2-5: Katarina Zdjelar, The Perfect Sound, 2009, Video 14'30" min.

1. G egenwartsdiagnose /Z ukunf tspr ak tiken und ihre  A ufgabe Der auf der Website der Künstlerin Katarina Zdjelar zu findende Begleittext zu ihrem Video The Perfect Sound vermittelt neben Hintergrundinformationen zum Kontext des Geschehens – »accent removal class for an immigrant […] in Birmingham« – einen Hinweis zum von Zdjelar fokussierten Gegenstand. Zdjelar looks at the phenomenon of cultural integration«. Dem Autor zufolge problematisiert die Künstlerin diese Integration kritisch, als Ausradieren von Differenz und als Produktion von Neutralität. Das Video – so der Text – zeigt, dass Integration mit der Auslöschung von Differenzen einhergeht, mit einer Angleichung, die jemanden unerkennbar werden lässt. Voraussetzung hierfür ist ein akzentfreies Sprechen, eine Neutralisierung eben jener Betonungen und Sprachmelodien, die nicht allein das Ausländersein verraten, sondern ebenso die Klassenzugehörigkeit. Die Aneignung des perfect sound ermöglicht ein Maskenspiel, das zu (An-)Passungen an die verschiedenen Lebenswelten befähigt. Nach Sabeth Buchmann verschafft uns The Perfect Sound »Einblicke in eine ›Regierungs-‹ oder auch ›Herrschaftstechnik‹, die […] eben genau das bezwecken will: Marginalisierten, in diesem Fall Einwander_innen durch Sprachtraining Gehör zu verschaffen und sie so den vermeintlichen Grund ihres prekarisierten Status’ über-

Mit den Mitteln des Affekts

winden zu lassen.«2 Die »accent removal class« wird als eine weitere Optimierungstechnik neoliberaler, marktorientierter Selbstbildungskonzepte kenntlich und das Video zeigt die (Selbst-)Produktion eines sich selbst organisierenden, belastbaren, flexiblen Subjekts, das sich den vielfältigen Anforderungen unserer heutigen Lebenswelt anzupassen vermag. Ein Subjekt, das der produktiven Macht der Biopolitik, d.h. »der Befähigung, Ermöglichung, Förderung und Steigerung des Lebens«3 entsprechend agiert, sich also durch die »freiwillige« Unterwerfung/Anpassung an die als normal empfundene soziale und ökonomische Ordnung perfektioniert. Der Text kontextualisiert The Perfect Sound in einer Weise, die es erlaubt, die Videoarbeit als eine zeitdiagnostische Analyse biopolitischer Mechanismen unserer neoliberalen Gesellschaft zu lesen: Das Video greift ein aktuelles Szenario auf, das sich als relevant für die gesamte Gesellschaft deuten lässt. Wie eine sozialwissenschaftliche Gegenwartsdiagnose charakterisiert sich das Video durch seine deiktische Funktion und den Einsatz von Metaphorik – den Titel The Perfect Sound.4 Die imaginative Kraft der Metapher5 regt eine Gedankenassoziation an, »die eine neue Erkenntnis über diesen noch unbekannten Bereich möglich macht.«6 Weitere Parallelen zu Gegenwartsdiagnosen lassen sich entdecken, so beispielsweise, dass das Video nur einen bestimmten Aspekt hervorhebt und den Blick wie zeitdiagnostische Gesellschaftsbeschreibungen auch in eine Richtung lenkt. Krähnke bezeichnet in seinem einleitenden Artikel des Handbuchs Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen solche Reduktionen als »Fokussierungseffekt«.7 Ebenso meint man, den von Krähnke für Gegenwartsdiagnosen konstatierten Bedeutungsüberschuss in The Perfect Sound zu erkennen, der – auch wenn er eine Unschärfe, den »Diffusionseffekt«8 nach sich zieht – von erkenntnistheoretischem Wert sein kann. Umgekehrt gelten Merkmale visueller Darstellungen offenbar auch für die Gegenwartsdiagnose, wie etwa die Zeigegeste. Bekanntermaßen ist der kommunikative Modus visueller Äußerungen jener des Zeigens und gegebenenfalls des Er-

2 | Buchmann, Sabeth: Probe, Vortragsmanuskript vom 28.9.2015, im Rahmen der Vortragsreihe Praktiken des Wissens, veranstaltet von Elke Bippus und Roberto Nigro an der ZHdK (URL: https://intern.zhdk.ch/?99904 [29.6.17]). 3 | Pieper, Marianne u.a.: Biopolitik in der Debatte – Konturen einer Analytik der Gegenwart mit und nach der biopolitischen Wende. Eine Einleitung, in: Dies. u.a. (Hg.): Biopolitik in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 7-28, hier S. 11. 4 | Die Verwendung von Metaphern hat in sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen eine heuristische Funktion; vgl. Krähnke, Uwe: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler. Zur Heuristik metaphorischer Gesellschaftsbeschreibungen, in: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016, S. 7-20, hier S. 12. 5 | »Metaphern ›übertragen‹ etwas Verschiedenes in ein Sprachbild, das uns etwas zeigt, was wir ansonsten nicht sähen. Je lebendiger Metaphern sind, desto mehr vermögen sie uns etwas zu zeigen, das sich der Imagination verdankt. Bei der metaphorischen Imagination handelt es sich immer sowohl um eine individuelle als auch soziale Einbildungs- bzw. Vorstellungskraft«; Kreutzer, Florian: Die »Falle« gegenwartsdiagnostischer Diskurse, in: M. Junge (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, S. 79-99, hier S. 80. 6 | U. Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler, S. 12. 7 | Ebd., S. 8. 8 | Ebd.

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zählens.9 Insbesondere im Kontext des iconic turn wird die Ordnung des Bildlichen als Ereignis des Zeigens bestimmt; dieses kann ein Verkörpern, Vorführen, ein Ausstellen oder ein Hinweisen meinen. Dem zeigenden Verfahren der Sichtbarmachung wird eine epistemische Funktion attestiert. Mit ihm »ereignet ein Wissen, das anders nicht zu exponieren wäre.«10 Im Feld der Kunst reagiert die ästhetische Theoriebildung auf das Zeigen mit einer hohen Wertschätzung, in den Sozialwissenschaften wird dieses dagegen ambivalent eingeschätzt. Das Zeigen produziere eine »Unschärfe, ein Bedeutungsüberschuss. Denn eine Zeigegeste erklärt nichts, sondern orientiert nur auf etwas. Der Sinn des Gezeigten ist nicht präzise festgelegt. Die Adressaten müssen selbst entdecken, was die Zeigegeste bedeuten könnte und welche Relevanz sie ihr beimessen möchten.«11 In den Sozialwissenschaften ist der Stellenwert von Gegenwartsdiagnosen12 aufgrund ihrer Metaphorik, ihres Zeigens und der persönlichen Involviertheit der Autor_innen13 umstritten. Auch wenn sie »gehaltvolle Beschreibungen der Gegenwartsgesellschaft liefern«, stehen sie immer wieder auf dem Prüfstand, weil »sie weder die Objektivität und Genauigkeit empirischer Datenanalysen noch die Abstraktion und logische Stringenz von Gesellschaftstheorien [erreichen]. Zudem fließen in sie Wertvorstellungen über die ideale Gesellschaft ein«, weshalb sie als »wissenschaftlich grenzwertig beargwöhnt«14 werden. Gleichwohl gilt, dass Gegenwartsdiagnosen aufgrund ihres Abstraktionsniveaus, ihrer Zuspitzungen, ihrer Anschaulichkeit wegen einen zentralen Beitrag zur »soziologischen Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst«15 leisten. Sie befördern, auch wenn ihre Prognosen über die zukünftige Entwicklung und (therapeutischen) Vorschläge implizit bleiben, eine kritische Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Entwicklungen. Durch die künstlerischen Produktionen und Theorien im Feld der künstlerischen Forschung und der Wissensproduktion in den Künsten unterstützt, ist eine künstlerische Gegenwartsdiagnose nichts Abwegiges, im Gegenteil, zahlreiche ak9 | Vgl. beispielhaft Boehm, Gottfried u.a. (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2016. 10 | Mersch, Dieter: Die Zerzeigung. Über die »Geste« des Bildes und die »Gabe« des Blicks, in: Richtmeyer, Ulrich/Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni (Hg.): Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst, Bielefeld 2014, S. 15-44, hier S. 44 (kursiv im Orig.). 11 | U. Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler, S. 8. 12 | Nach Florian Kreutzer akzentuiert der »Begriff der soziologischen Zeitdiagnose […] die zeitliche Dimension«. Er plädiert für »den weiter gefassten Begriff der Gegenwartsdiagnose, da in ihm […] neben dem zeitlichen Focus auf die Gegenwart die sachlichen und sozialen Dimensionen der Diagnose stärker präsent sind«; F. Kreutzer: Die »Falle« gegenwartsdiagnostischer Diskurse, S. 83. 13 | Diese problematisiert Uwe Schimank: »Weil hinter soziologischen Gegenwartsdiagnosen häufig auch eine intensive persönliche Betroffenheit steht, man zum Beispiel vor gravierenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen warnen will, unterlaufen einem besonders leicht Wertungen, die dann die Analyse verzerren können«; Schimank, Uwe: Soziologische Gegenwartsdiagnosen. Zur Einführung, in: Ders./Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2007, S. 9-22, hier S. 19. 14 | U. Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler, S. 7. 15 | U. Schimank: Soziologische Gegenwartsdiagnosen, S. 17.

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tuelle künstlerische Produktionen zeichnen sich durch Analysen sozialer Themen unserer Zeit aus. Trotz dieser Möglichkeit, The Perfect Sound als Gegenwartsdiagnose zu begreifen,16 kann die Qualität der Videoarbeit erst dann herausgearbeitet werden, wenn sie nicht allein referentiell und als visuelle Repräsentation eines Zeitgeschehens betrachtet wird, sondern auch jene Differenzen benannt werden, die aus dem selbstreflexiven Anspruch von Kunst erwachsen. Denn mit der Selbstreflexion von Kunst kommt nicht allein ins Spiel, was das Video zu sehen gibt, sondern auch, wie es dies zu sehen gibt. Durch diesen Fokus kann, so die These des vorliegenden Textes, das epistemische Potential von The Perfect Sound kenntlich werden. Denn das Video weist über eine zeitdiagnostische Kritik an der Selbstoptimierung hinaus, indem es sich nicht in einem Urteil (ver-)schließt,17 sondern sich vielmehr als (nicht-)diagnostische, ermöglichende Gegenwartskritik präsentiert und so schließlich auch das Konzept der Gegenwartsdiagnose18 selbst verschiebt.

2. A ffek t : S kizzierung seiner gegenwärtigen K onjunk tur Visuell-akustisch und verfahrenstechnisch vermittelt The Perfect Sound neben seiner gegenwartsdiagnostischen Dimension eine weitere Lesart. Das Video reflektiert sich in seiner Medialität, d.h. in seiner Performativität und Vermittlung von Bedeutung. Unser Blick ist stets mit der Montage- und Schnitttechnik von Schuss-Gegenschuss konfrontiert. Wir registrieren das Geschehen nicht aus der Distanz, unser Blick kann seine Aufmerksamkeit nicht selbstbestimmt auf die eine oder andere Figur richten, wir sind vielmehr mit Großaufnahmen von Mündern und Gliedmaßen konfrontiert, sehen fratzenhaft überzeichnete Gesichtsausdrücke und Handgesten, welche die Produktion der Töne – etwa ein nahezu gesungenes »ing«, ein »miau« oder das britische »th« – visuell vermitteln (Abb. 1-5). Das von Zdjelars exzessiv genutzte Schuss-Gegenschuss-Verfahren, die Bildkomposition der Rückenfigur bzw. die Kadrierung, welche das Blickfeld der Be16 | Während des Workshops Gegenwartsdiagnosen. Modellierungen der Gesellschaft in interdisziplinärer Perspektive, Wissenschaftliches Zentrum Genealogie der Gegenwart (WiZeGG, Oldenburg 8.10.-10.10.2015), wurde die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob dieses Video überhaupt als Gegenwartsdiagnose eingestuft werden kann. Dieser Einwand strukturierte meine weitere Beschäftigung und forderte mich dazu auf, die Effekte auf die möglichen Sinndimensionen des Videos zu durchdenken, wenn es als Gegenwartsdiagnose betrachtet wird. 17 | Diagnose leitet sich ab vom griech.: διάγνωσις,  diágnosis ›Unterscheidung, Entscheidung‹, aus διά-, diá-, ›durch-‹ und γνώσις, gnósis, ›Erkenntnis, Urteil‹. 18 | Krähnke thematisiert die Gegenwartsdiagnose im Vergleich zur ärztlichen Diagnose. Auch der Zeitdiagnostiker stelle wie der Arzt einen Befund her, der den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft beträfe. Seine Diagnose stütze sich dabei »auf in der Vergangenheit liegende empirische Sachverhalte«; U. Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler, S. 9. Während der Arzt jedoch eine Prognose stellt und eine Therapie vorschlägt, wird durch den Zeitdiagnostiker, d.h. durch seine Setzung und Konzentration auf ein Problem, bestenfalls »die in die Zukunft gerichtete Aufmerksamkeit beeinflusst«; Junge, Matthias: Zeitdiagnose als Chance der Soziologie, in: Ders. (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, S. 51-59, hier S. 51.

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trachter_in häufig beschneidet, indem etwa die Hand des Lehrers den Blick auf den Schüler verstellt, oder aber die Schwarzblenden, die das Bild gänzlich verweigern, setzen Akzente, die nicht der unmittelbaren Sinnproduktion unterstellt sind, wodurch sich, das »mhhm«, »ding-dong«, oder die Anweisung des Lehrers – »hold it-stretch it« – zur dadaistischen Klangperformance wandelt. Die Kamera- und Schnitttechnik Zdjelars vermeidet die Frontalperspektive und provoziert eine Ästhetik des Bruchstückhaften, mit der ein Unbehagen und Befremden und zugleich ein rhythmisch-meditativer Sog einhergeht. Gleichwohl ist der Blick stets mit dem Bild als Bild konfrontiert und mit der eigenen Wahrnehmung: Münder, auf- und abgleitende Arme und schnippende Finger stoßen aus dem Bild auf die Betrachter_in zu, so dass das Video uns, wie der Lehrer dem Schüler, einen Spiegel vorzuhalten scheint, in dem wir uns selbst beim Betrachten wahrnehmen. Dieses selbstreferentielle Vorführen des Gemachtseins verhindert nicht, dass uns das Video in seiner Bildlichkeit gleichsam auf den Leib rückt. Wir werden von ihm berührt, und diese Berührung ist nicht metaphorischer Natur, sondern meint einen physischen Affekt.19 Durch seine affektive Kraft provoziert das Video Identifikation, die sich in Form von Zuspruch, Empathie, Mitleid, Wut oder Abwehr formulieren kann. Es macht uns, so der Kurator des Serbischen Pavillons der Biennale Venedig, auf der das Video 2009 gezeigt wurde, empfindsam für die »very material and corporeal affects shaping this ›speaking body‹.«20 Gerade durch die affektive Dimension gewinnt die Arbeit Zdjelars eine Qualität, die mit dem herkömmlichen Verständnis einer gegenwartsdiagnostischen Kritik nicht vereinbar ist, da sie die Analyse mit einer Unentscheidbarkeit verknüpft, die den diagnostizierten Gegenstand nicht allein im Sinne einer Negation kritisiert, sondern zugleich in seiner Potentialität ins Spiel bringt. Konkret meint dies, dass die gezeigten Subjektivierungspraktiken der Selbstoptimierung nicht kritisch verdammt werden, sondern die Betrachter_in zugleich verführend vereinnahmen und damit eine kritische Distanznahme verhindern bzw. eine Bewegung zwischen Kritik/Distanz und Identifikation/Affekt bewirken. Die Künstlerin selbst versucht hierdurch, liest man ihre Statements, die Versprechen biopolitischer Werdensprozesse und Neuerfindungen ins Spiel zu bringen, ohne über die mit ihnen verknüpften physisch manifesten Unsicherheiten und Verwundbarkeiten hinwegzugehen.21

19 | »›Touch‹ is here perhaps not even a metaphor. For it is precisely on the level of being touched – that is physically affected – by the effects of mimetic reflexes that we witness people engage in Zdjelar’s videos and find ourselves engaged by the videos as their visceral rendering of the struggles with intonation almost inevitably at some point will make our lips move mimetically. In ethical terms, this touch of mimicry might actually be a form of empathy«; Verwoert, Jan: Move your Lips to this (In Praise of Accents), in: Bangma, Anke/Zdjelar, Katarina (Hg.): Katarina Zdjelar. But if you take my voice, what will be left to me?/Ali ako mi oduzmeš glas, šta mi ostaje? The Serbian Pavilion at the 53 rd Biennale di Venezia June th November 22 nd 2009, Belgrad 2009, o.S. 20 | Dimitrijevi, Branislav: The Serbian Pavilion at the 53 rd Biennale di Venezia, in: A. Bangma/K. Zdjelar (Hg.): Katarina Zdjelar, o.S. 21 | Vgl. Branislav Dimitrijevi, der Zdjelar mit den Worten zitiert: »Analyzing the processes in which verbal and other skills of communication are acquired Zdjelar, in her own words, works

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The Perfect Sound ist von 2009 und fällt damit in eine Zeit, für die die Medienund Kulturwissenschaftlerin Marie Luise Angerer eine Konjunktur des Affekts in den Künsten wie der Theorie feststellte.22 In ihrer 2007 publizierten kulturwissenschaftlich ausgerichteten Gegenwartsdiagnose23 mit dem Titel Vom Begehren nach dem Affekt spricht Angerer vom »Dispositiv des Affektiven«.24 Subjekttheoretisch begründet sie das Begehren nach dem Affekt als Versprechen der Fülle, das den konstitutiven Mangel zu überwinden vorgebe. Die Rede von der Fülle stehe für »unmittelbare Erfahrung, sowie für die Überwindung der Kluft zwischen Körper und Geist, Ich und Welt«.25 Der, laut Angerer, von der Film- und Kunsttheorie produzierte somatisch-affektive turn lade »den affektiven Körper des Betrachters mit neuem Gehalt auf […] Kunst darf endlich (soll wieder) Affekte produzieren, um ihr Publikum anzusprechen.«26 Angerer diagnostiziert eine nicht zu stoppen›with the potentials that the processes of becoming and re-invention bring, with all of their physically manifest uncertainties and vulnerabilities‹«; ebd., o. S. 22 | Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende haben der Affekt und die Emotionen im Feld der Kunst einen hohen Stellenwert eingenommen. Die Sammelbände Herding, Klaus/ Stumpfhaus, Bernhard (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin/ New York 2004, Krause-Wahl, Antje/Oehlschlägel, Heike/Wiemer, Serjosch (Hg.): Affekte. Analysen ästhetisch medialer Prozesse, Bielefeld 2006, sowie Boehm, Gottfried/Mersmann, Birgit/Spies, Christian (Hg.): Movens Bild: zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, können hier beispielhaft genannt werden. Von der im Kunstfeld diskutierten politischen Theoriebildungen sind die Publikationen von Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire: die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2002, Hardt, Michael: Affektive Arbeit, in: Osten, Marion von (Hg.): Norm der Abweichung, Zürich/Wien/New York 2003, S. 211-224, sowie Massumi, Brian: Ontomacht: Kunst Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010, zu nennen. 23 | In ihrer Rezension von Angerers Buch schreibt Susanne Holschbach: Es »ist nicht gedacht als eine Einführung zum Forschungsstand und zur Begriffsverwendung der Affekttheorien (etwa der Differenzierung zwischen Affekt, Emotion und Gefühl), auch nicht als Einführung in die Theorien, deren »emotional turn« es nachzeichnet, vielmehr stellt es eine Diagnose und setzt ein Statement. Es ist unmissverständlich parteiisch – gegen die Affekteuphorie und die Anbiederung der Kultur- an die Neurowissenschaften –, aber keineswegs gegen eine Beschäftigung mit den Affekten, die, worauf Angerer immer wieder hinweist, auch bei Freud und Lacan nicht gänzlich unter den Tisch fallen, im Gegenteil: Affekte sollten bedacht, ins Denken eingeschlossen werden. Dass dies jedoch nicht der einfachste Weg sei, so Susanne Holschbach, daran gemahne bereits das Motto Freuds, das Angerer ihrer Studie voranstellt: »Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten«; Holschbach, Susanne: Rez. zu »Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich u.a. 2007«, in: ArtHist.net, 23.1.2008 (URL: https://arthist.net/reviews/177 [2.6.2017]). 24 | Nach Angerer ist das Interesse am Affekt, an den Emotionen, an Gefühl und Pathos als ein Dispositiv zu betrachten. Mit Foucault charakterisiert sie Dispositive als »Diskursformationen, in denen sich Macht, Recht und Wahrheit derart miteinander verknoten, dass sie sich sowohl in institutionellen Praxen als auch im Begehren der Subjekte artikulieren«; Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich u.a. 2007, S. 7. 25 | S. Holschbach: Rez. zu »Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt«. 26 | In ihrem ersten Kapitel »Affective Troubles in Medien und Kunst« skizziert Angerer die »flächendeckende Affektbegeisterung, wie sie die Medien- und Kulturtheorien derzeit verbreiten und wie sie sich in künstlerischen Projekten manifestiert«; M.-L. Angerer: Vom

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de »Verschiebung von der Sprache und dem Sexuellen hin zum Affektiven«27 und problematisiert in diesem Zusammenhang insbesondere die Neuorientierung im Denken des Humanen, welcher der Sprache und dem Bewusstsein eine nur mehr marginale Rolle zukommen lässt, sowie den Verlust der Handlungsfähigkeit des Subjekts zugunsten einer Reiz-Reaktionsbeziehung. Die »Politik des Affektiven« ziele auf »Gen- und Gehirnforschung, globale Arbeitsmärkte und aufweichende Sozialabkommen.«28 Kritisch merkt Angerer an, dass eine vielversprechende und notwendige Kulturtheorie des Affekts ausbleibe, Affekt vornehmlich als biologische Größe verhandelt werde und Theoriebildungen des Affekts von Neurobiologie und Kognitionswissenschaft dominiert würden.29 Mit ihrer Untersuchung möchte sie auch solchen Vereinnahmungen entgegenwirken, die etwa das Deleuze’sche Konzept vom Affekt »zu einem homogenisierten Auffanglager für alles Nicht-Sagbare, Nicht-Verstehbare, Nicht-Sichtbare werden« lassen.30 Die Theorien des Affektiven betreiben ihr zufolge eine Aushöhlung der Subjektkonzeptionen, die auf Sprache und Repräsentation basieren, und bringen hierdurch das Humane in eine Krise. Die Verschiebung vom Dispositiv Sex zum Dispositiv des Affektiven interpretiert Angerer infolgedessen als historischen Übergang vom Humanen zum Posthumanen und als Umwälzung, in der »philosophische, kunstund medientheoretische Diskurse mit molekularbiologischen, kybernetischen und kognitionspsychologischen zu einer neuen ›Wahrheit des Menschen‹ verlötet werden«.31 Während Angerer den Affekt und seine Konjunktur aus einer kritischen Distanz in den Blick nimmt und ihn zu einem objektivierbaren und repräsentierbaren Gegenstand macht, scheint Zdjelar auf die Präsenz des Affekts und seine physische Wirksamkeit zu setzen. Präsenz meint hier ein materiales Ereignis, das der Betrachter_in als Zusammenspiel von medialer und verfahrenstechnischer Selbstreflexion und Affekt begegnet. Hierdurch wird die repräsentationslogische Betrachtung der Arbeit aufgestört, die referentielle Bezugnahme aufgebrochen, indem sich der Blick in das visuell-akustische Geschehen verwickelt.32 Die Frage nach der Begehren nach dem Affekt, S. 10. Mit ihrer Analyse trifft sie einen Trend im Medien- und Kunstfeld, der sich mit der Betonung des affektiven und emotionalen eine Steigerung der Aufmerksamkeit verspricht. 27 | Ebd., S. 13. 28 | Ebd. 29 | Ihr Anliegen ist es, eine kritische Aufmerksamkeit auf Entwicklungen wie z.B. die Hegemonie der Neurobiologie zu befördern und die damit zusammenhängenden Konsequenzen in den Blick zu nehmen. 30 | M.-L. Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, S. 14. 31 | Ebd., S. 7. 32 | Die Debatte um den Affekt spitzte sich in einer Polarisierung von Repräsentationskritik und Affekt-Ästhetik zu, was eine reduktionistische Sicht auf beide Aspekte zur Folge hat. Vgl. hierzu das Heft FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 2014, H. 55: New Politiks of Looking – Affekt und Repräsentation (URL: https://www.fkw-journal.de/ index.php/fkw/issue/view/64/showToc [12.7.2018]), insbes. Bippus, Elke: Affekt(de)regu​ lierung durch Affizierung, in: ebd., S. 16-25 (URL: https://www.fkw-journal.de/index.php/ fkw/article/view/1267/1262 [12.7.2018]).

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Bedeutung des Werks geschieht infolgedessen nicht allein in referentieller Weise über das Dargestellte, sondern in Auseinandersetzung mit den Potentialitäten der Darstellung selbst. Die affektive Kraft der Videoarbeit geht aus dieser Perspektive betrachtet nicht in einer von sozialen Deutungsmustern veranlassten Affektion auf, sondern The Perfect Sound wirkt als Affekt, der sich mit Deleuze und Guattari von der Affektion unterscheiden lässt.

3. A ffek t Ein zentrales Merkmal des Affekts, wie ihn Deleuze und Guattari fassen, ist, dass dieser im Unterschied zu Affektionen nicht durch die Repräsentation ging. Die von ihnen im Feld der Kunst angesiedelten Affekte und Perzepte sind »Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen.«33 Sie entbehren jeglicher Referenz auf Affektionen oder Perzeptionen, die aus der Anschauung stammen und bereits durch ›Meinungen‹ strukturiert sind.34 Es wäre falsch, den Affekt deshalb mit der Vorstellung eines Ursprünglicheren zu verbinden, denn er bietet gerade keinen unmittelbaren, direkten Zugang zu einem sinnlich Erlebten, zu Gefühlen oder zu dem, was in vergangenen Epochen wahrnehmbar gewesen sein soll. Im Gegenteil, der Affekt ist Ausdruck einer geschichtlichen Entwicklung, allerdings ihrer Potentialqualitäten. Der Affekt ist in dieser Hinsicht Ort des Möglichen – »Ausdruck reiner Potentialität«.35 Dementsprechend verweigert das Affektbild, wie es Deleuze in Das Bewegungs-Bild. Kino 1 beschreibt, klassische Repräsentationsmuster und Erzählmodi zugunsten einer Selbstaufladung des Bildlichen.36 Es entsteht »eine Potentialisierung von allem, was geschieht und zum Ausdruck kommt«.37 Meine Perspektivierung des Affekts in The Perfect Sound zielt insofern nicht auf eine affektiv ausgelöste unmittelbare Erfahrung. Im Gegenteil, ich versuche zu zeigen, dass die Affekte der materiellen und visuell-akustischen Dimensionen des Geschehens von The Perfect Sound, die keiner bestimmten Repräsentation unterworfen sind, der sozial produzierten Affektion – etwa der eines Urteils in gut und schlecht – widersprechen zugunsten der Potentialität der Kunst. Der Affekt des Bildlichen eröffnet die Möglichkeit neuer Aktualisierungen.38 Das Affektbild, heißt es bei Deleuze, ist 33 | Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M. 2000, insb. Kap. 7: Perzept, Affekt und Begriff, S. 191-237, hier S. 192. 34 | Vgl. ebd., S. 204f. Dagegen sind Affektionen und Perzeptionen »bereits repräsentiert und wiedererkennbar, d.h. sie sind in einem Codierungssystem als Kommunikation bereits ›verstanden‹«; Günzel, Stephan: Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze, Essen 1998, S. 112 (auch Online unter URL: www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/st_ Guenzel_Immanenz.pdf, hier S. 112 [12.7.2018]). 35 | Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, Kino 1. Frankfurt a.M. 1997, S. 153. 36 | Bildtheoretisch formuliert heißt das, das Affektbild zeigt sich als Bild und stört hierdurch den kontinuierlichen Handlungsverlauf, es dehnt den Raum zwischen zwei Aktionen, zwischen zwei Wahrnehmungen. In diesem Sinne nimmt der Affekt »das Intervall in Beschlag […], ohne es zu füllen oder gar auszufüllen«; G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 153. 37 | Ebd. 38 | Ebd., S. 96.

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»eine Qualität oder das Vermögen, das Potential, das sich als solches ausdrückt. […] Der Affekt ist unabhängig von jeder raumzeitlichen Bestimmtheit: Er stammt nichtsdestoweniger aus einer geschichtlichen Entwicklung, die ihn als Ausdruck eines Raums oder einer Zeit, einer Epoche oder eines Milieus hervorbringt (deswegen ist der Affekt das ›Neue‹, und neue Affekte werden unaufhörlich hervorgebracht, vor allem durch Kunstwerke). Kurz die Affekte – die Potentialqualitäten– können auf zwei Weisen erfasst werden: entweder in einem bestimmten Zustand aktualisiert oder von einem Gesicht, einem Äquivalent des Gesichts oder von einer ›Aussage‹ ausgedrückt«.39 Die Potentialität erwächst daraus, dass der Affekt nicht in seiner historischen und konventionalisierten Relationalität aufgeht, sondern sich der raumzeitlichen Bestimmung entgegenstellt. Deleuze bestimmt die Groß- und Nahaufnahme als primäre Ausdrucksweise des Affekts. Eine »Großaufnahme ist ein Gesicht«40 oder »das Gesicht ist als solches Großaufnahme und die Großaufnahme per se Gesicht und beide sind der Affekt bzw. das Affektbild«.41 In seinen Film-Lektüren, in denen er schließlich den Affekt mit dem Raum gleichsetzt, charakterisiert er die Potentialität des Affekts als eine »unendliche Vielfalt von Anschlüssen«42 und bekundet im Affekt/Raum eine »Vielfalt von Potentialen oder Singularitäten, die gleichsam die Vorbedingung jedweder Aktualisierung oder Determinierung sind«.43 In den Kinobüchern konzeptualisiert Deleuze demnach den Affekt als eine Unterbrechung affektiv regulierter Relationalität, als einen Zwischenraum, der sich in seiner Potentialität und vielfältigen Anschlussfähigkeit raum-zeitlichen Bestimmungen widersetzt. The Perfect Sound vermittelt und ist, so meine These, Affektion und Affekt zugleich. Auf der Ebene des Dargestellten wird die Affektion wirksam, d.h. die Zuschauer_innen reagieren intuitiv auf ein Phänomen, weil es sich als Zeitgeschehen vermittelt. Als affizierbare Wesen sind wir, dies ist mit Butler zu sagen, »in die soziale Produktion von Affektivität eingebunden, bevor wir einen Affekt als unseren fühlen und behaupten können; unser Affekt ist mithin niemals bloß unser eigener. Affekte werden, von Anfang an, von anderswoher vermittelt. Soziale Deutungsmuster veranlassen uns dazu, die Welt in einer bestimmten Weise wahrzunehmen, für bestimmte Dimensionen der Welt zugänglich zu sein und anderen zu widerstehen. Reaktionen sind immer Reaktionen auf einen in bestimmter Weise wahrgenommenen Zustand der Welt«.44

39 | Ebd., S. 138. 40 | Ebd., S. 123. 41 | Ebd., S. 124. 42 | Ebd., S. 153. 43 | Ebd. Mit seiner Aufwertung des Affekts reagiert Deleuze auch auf die von ihm kritisierte Vernachlässigung der Genese der Sinnlichkeit, die dazu geführt hat, dass in der Philosophie die menschlichen Vermögen mit der Sinnlichkeit, mit der Anschauung beginnen, aber die Genese dieser Anschauung, dieser Sinnlichkeit nicht befragt wurde; vgl. Ott, Michaela: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemologischen Figur, München 2013, S. 57. 44 | Butler, Judith: Über Lebensbedingungen, in: Dies.: Krieg und Affekt, Zürich/Berlin 2009, S. 11-52, hier S. 35f. Butler konzeptualisiert den Affekt hier als gänzlich determiniert, wohingegen der Affekt bei Deleuze gerade die determinierten Affektionen aufsprengen kann.

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Auf der materiellen, medialen und verfahrenstechnischen Ebene wird das Video zum Affekt. Es zerstört die Organisation der Affektion, öffnet eine Unbestimmtheits- und Ununterscheidbarkeitszone und damit die Möglichkeit einer anderen Lesart des zu sehenden Geschehens. Eine Betrachtung, die den Selbstbildungsprozess nicht notwendig mit der Neutralisierung des Selbst identifiziert, sondern Subjektivierung aus dem Blickwinkel ihrer affektiven Dimensionen in einer gleichsam pharmakologischen Weise fasst: Als ein Prozess im Widerstreit sozial vermittelter Affektion und der Potentialität des Affekts, als ein Prozess der affirmativ und widerständig zugleich wirksam ist. The Perfect Sound mobilisiert den Raum zwischen einer Affektion – der Selbstoptimierung des Migranten – und einem Affekt – die Transformation des Einexerzierens in eine dadaistische Performance. Hierdurch gibt das Video, befragt man es in Relation zu aktuellen Diskussionen um den Affekt und die Biopolitik, ein Zweifaches zu denken. Es legt erstens Aspekte des Affekts offen, die kulturgeschichtlich in den Hintergrund gedrängt wurden, und es fasst zweitens in Folge dieser Neuperspektivierung des Affekts Biopolitik, wie Hardt und Negri, paradoxal: Affekt: Descartes war es, der die Affekte »als allein körperliche Phänomene [definiert], deren Kontrolle durch den Geist zu erstreben ist.«45 Zwar verbindet Spinoza zur selben Zeit den Affekt mit einem reflexiven Moment und verleiht ihm eine herausragende Rolle im Prozess menschlicher Selbstvergewisserung, und auch Rousseau hat dazu beigetragen, den Affekt zum positiven Gegenstand werden zu lassen. Gleichwohl bleibt ein Argwohn gegenüber dem Affekt, der darin manifest wird, dass Kant die mit einer kognitiven Komponente sinnliche Empfindung und damit das Gefühl dem Verstand als gleichwertig an die Seite stellt; die eruptiven Erregungen des Affekts und die auf Pathos beruhende Leidenschaft sind für ihn dagegen Rausch und Wahnsinn: Das eine wirke wie ein Schlaganfall, das andere wie die Schwindsucht. Beide sind »vernunftwidrige oder mindestens nichtvernünftige, emotive Arten der Handlungsmotivation«.46 Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde dem Affektbegriff nur noch das zugewiesen, was an den emotiven Vorgängen undurchschaubar und unkontrollierbar bleibt.47 Auch innerhalb der jüngeren, vor allem von der Neurobiologie angeführten Emotionsforschung scheint die Behandlung der Affekte weitgehend der von Descartes vorgenommenen Zuweisung der Affekte an den Bereich bloß körperlicher Vorgänge zu folgen.48 45 | Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte: Ein historischer Abriß, in: A. Krause-Wahl/H. Oehlschlägel/S. Wiemer (Hg.): Affekte, S. 21. 46 | Recki, Birgit: Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle, in: K. Herding/B. Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl, S. 274-294, hier S. 276. 47 | Vgl. M. Hoff: Die Kultur der Affekte, S. 20. 48 | Vgl. ebd., S. 21. Hoff stellt fest, dass aufgrund verfeinerter Methoden zur objektivierenden Beobachtung hirnphysiologischer Strukturen und Prozesse, die kognitiven Emotionstheorien sich von der Aussicht bestärkt sehen, »dass der Verlauf affektiver Erregungen im Hirn nachgezeichnet und erklärt werden kann. Aus der Relevanz dieser körperlichen Vorgänge für das individuelle Erleben und soziale Verhalten leiten Vertreter der neuen ›Affective Sciences‹ den Anspruch ab, in der Nachfolge der ›kognitiven Wende‹ der 1960er Jahre einen Wissenschaftstrend zu formieren.«

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Biopolitik: Die Biopolitik erfasst, folgt man Hardt und Negri, die Existenz der Einzelnen bis in die intimsten Facetten des Alltagslebens, sie bereitet aber zugleich »den Boden für ein neues politisches Subjekt«.49 »Dieselben Kompetenzen, Affekte und Interaktionsformen, die von der neuen Produktions- und Herrschaftsordnung gefördert werden, untergraben diese, indem sie sich gegen Vereinnahmung und Verwertung sperren und das Begehren nach autonomen und egalitären Lebensformen und Produktionsverhältnissen wecken.«50 Wird The Perfect Sound so betrachtet, verschiebt das Video schließlich auch die Vorstellung einer Gegenwartsdiagnose, denn diese ist dann keine analytisch-zeitdiagnostische konventionelle Kritik im Sinne von Beurteilung und Negation. Die gegenwartsdiagnostische Kritik von The Perfect Sound kann vielmehr mit Roland Barthes als eine Kritik beschrieben werden, die sich nicht allein der Perspektivität ihrer Prämissen bewusst ist, sondern die Performativität von Sprache und deren subversive Kraft nutzt. Das Video formuliert eine Kritik, die ihre Distanz aufgibt und sich affizieren lässt und so auf die Prekarität und Partialität einer jeden Kritik hinweist. Diese Form von Kritik orientiert sich nicht an dem, was als das »Wahrscheinliche« im Bewusstsein der Menschen etabliert zu sein scheint, sondern sucht die Potentialitäten des (Un-)Möglichen. Darauf scheint mir die Verschränkung von Affektion/Affekt/Identifikation und Repräsentation/Analyse/Kritik in Zdjelars Arbeit hin zu zielen. Sie verklammert eine poetische und kritische Ausdruckspraxis. Eine Konstellation, die zwar nicht mehr ganz so abwegig scheint wie in den 1970er Jahren, als Roland Barthes die Rationalitätsmaßstäbe der Literaturwissenschaft aufrüttelte, weil er sich dem Vergnügen beim Lesen zuwandte, die aber in den Wissenschaften immer noch dann ein No-Go ist, wenn die Lust nicht Gegenstand der Untersuchung ist, sondern als Schreibweise praktiziert wird. In Die Lust am Text (1973), eine Publikation, die auch noch heute aufgrund »ihrer analytischen Unschärfe und genialischen Monologizität« als eine »Provokation der Literaturwissenschaft«51 gilt, spricht Barthes von einer das Lesen kennzeich49 | Lemke, Thomas: Imperiale Herrschaft, immaterielle Arbeit und die Militanz der Multitude. Anmerkungen zum Konzept der Biopolitik bei Michael Hardt und Antonio Negri, in: Pieper, Marianne u.a. (Hg.): Biopolitik in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 109-128, hier S. 119. Hardt und Negri konstatieren eine entscheidende Veränderung der Produktionsweise seit den 1970er Jahren. Mit ihr werde das Paradigma des industriellen Kapitalismus durch einen kognitiven Kapitalismus abgelöst. »Innerhalb dieses neuen Regimes werden Wissen und Kreativität, Sprache und Affekt zu zentralen Momenten der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion. […] Der Veränderung der Produktionsweise entspricht eine Verschiebung der Ausbeutungsstrukturen. Kapitalistische Ausbeutung operiere heute vornehmlich über die Abschöpfung affektiver und intellektueller Arbeitsvermögen und die Inwertsetzung sozialer Kooperationsformen. ›Empire‹ steht für die schrankenlose Mobilisierung aller individuellen und kollektiven Kräfte im Dienst der Mehrwertproduktion« (ebd., S. 115). Nach Hardt und Negri subsumiert die Biomacht die gesamte Gesellschaft unter das Kapital und wird als Kontrolle wirksam, welche »Bewusstsein und Körper der Bevölkerung und zur gleichen Zeit die Gesamtheit sozialer Beziehungen durchdringt«. 50 | Ebd., S. 119. 51 | Anz, Thomas: Die Lust am Text. Erinnerungen an Roland Barthes, die Postmoderne und die lange Lustlosigkeit der Literaturwissenschaft, in: literaturkritik.de, November 2015, Nr. 11 (URL: http://literaturkritik.de/id/21327 [12.7.2018]).

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nenden doppelten Lust: eine Lust plaisir und eine Wollust jouissance. Die »Lust am Text« (plaisir) ist mit einer Lektüre verknüpft, die das Erzählte, die logische Folge des Ausgesagten betrachtet. Sie genießt es, Sinn herzustellen und ein kohärentes System aus den vorliegenden Textelementen aufzubauen. Die jouissance ist dagegen eine Wollust, die unsagbar ist. Sie erfasst mit Akribie und Besessenheit jeden Punkt des Lesbaren, verabschiedet sich von Bedeutung, Sinn und Verstehen, sucht nicht die Unterscheidung im Sinne einer sicheren Klassifizierung, sondern setzt sich einer Unentschiedenheit aus. Sie ist nicht auf die Produktion von Sinn reduziert, sondern akzentuiert sinnliche Vermögen. Die Wollust geschieht »im Volumen der Sprachen, der Art des Aussagens, nicht in der Folge des Ausgesagten«.52 Sie ist Barthes zufolge allerdings »außerhalb der Kritik«,53 außerhalb historischer und sozialer Referenzsysteme; das Subjekt löst sich im Gewebe der Textur auf, »wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.«54 Die Lust am Text lässt sich aber offenbar, so legen es zumindest die Widersprüchlichkeiten und Unschärfen von Barthes Text nahe, nie ordentlich separieren in plaisir und jouissance – und sollen es ihm zufolge wahrscheinlich auch nicht. Denn auf der Suche nach der »Wahrheit des Sprechens«55 nähern sich die Schreibweisen von Kritiker und Schriftsteller einander an. Wie ist aber nun eine solche erkenntnisbildende visuelle Praxis, die gegenwartsdiagnostische Anteile hat, aber ebenso eine nicht-diagnostische Gegenwärtigkeit des Bildlichen zeigt, begrifflich zu fassen, insbesondere dann, wenn es um die Beschreibung von Gegenwartsdiagnosen geht? The Perfect Sound zeichnet sich durch eine ästhetische Praxis aus, die auf der einen Seite Soziales visualisiert und auf der anderen Seite unsere Wahrnehmung von einem instrumentellen Handeln,56 wie etwa der Identifizierung des Dargestellten entlang vom Bekanntem, freisetzt. Indem die Darstellung selbst affektiv wirksam wird, kann die Wahrnehmung auf sich selbst gestellt werden und sich auf jene Potentialitäten des nicht Wahrscheinlichen hin öffnen. The Perfect Sound lässt sich in Folge der entwickelten Perspektivierung als eine (nicht-)diagnostische, da nicht in einem Urteil sich schließende Gegenwartskritik begreifen, und damit als eine Kritik, welche sich der Lust der Unentschiedenheit und Potentialität des Nicht-Wahrscheinlichen hingibt, im Wissen um die Gefahr, die Orientierung zu verlieren.

52 | Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1982, S. 66. 53 | Ebd., S. 33. 54 | Ebd., S. 94. 55 | Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, in: Ders.: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, Frankfurt a.M. 1985, S. 59. 56 | Vgl. zu dieser Konzeptualisierung ästhetischer Praxis Kaupert, Michael: Ästhetische Praxis. Selbstentgrenzung der Künste oder Entkunstung der Kunst?, in: Ders./Eberl, Heidrun (Hg.): Ästhetische Praxis, Wiesbaden 2016, S. 3-34.

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Popmusik und Gesellschaftskritik Praxissoziologische Überlegungen Frank Hillebrandt »It’s 10 A. M., Monday, August 18, 1969: Jimi Hendrix is playing to a crowd of forty thousand. Another half million or so have left during the night. Many had to be at work; others had to return to worried families who’d heard conflicting reports about the chaos at Woodstock. […] Those of us gathered around the perimeter of the stage are transfixed by Jimi and his band of gypsies. They’ve been up all night, or maybe longer – like many of us, who haven’t slept more than a few hours in days. […] We are about to be ›experienced‹ in something that will be unique in our lifetime: from ›Voodoo Child‹ he veers into the melody of ›The Star-Spangled Banner‹. […] As Jimi build the song, adding feedback and distortion, I am carried away just as is everyone around me. I realize the national anthem will never be the same. Jimi has plugged into our collective experience: all the emotional turmoil and confusion we have felt as young Americans growing up in the sixties pours from the sound towers. […] It’s a powerful rebuke of the war, of racial and society inequity, and a wake-up call to fix the things that are broken in our society.«1

1. E inleitung : W as ist K ritik ? Auf den ersten Blick ist es für einige vielleicht verwunderlich, dass diese Aussage von Michael Lang, einem der Organisatoren des Woodstock-Festivals von 1969, sich nicht auf eine der vielen politischen Demonstrationen, die sich Ende der 1960er Jahre regelmäßig gegen Vietnamkrieg, Rassendiskriminierung und kapitalistische Ausbeutung ereignen, bezieht, sondern auf ein Rock- und Popfestival. Beschrieben wird hier die bekannte Szene am Ende des legendären Woodstock-Festivals, in der Jimi Hendrix die US-amerikanische Nationalhymne mit seiner E-Gitarre der Marke Fender Stratocaster buchstäblich zerschmettert. Diese Performance des Rock schreibt sich nachhaltig in das kollektive Gedächtnis als Ausdruck des Protests gegen gesellschaftliche Missstände ein. Ihre Wirkmächtigkeit entfaltet die Szene 1 | Lang, Michael: The Road to Woodstock, New York 2009, S. 1f. Siehe zum Woodstock-Festival auch Hillebrandt, Frank: Woodstock im soziologischen Blick. Ein Ereignis zwischen Film, Symbol und Praxis, in: Heinze, Carsten/Schlegelmilch, Arthur (Hg.): Der dokumentarische Film und die Wissenschaften. Interdisziplinäre Betrachtungen und Ansätze, Wiesbaden 2019, S. 159-185.

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nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Pop-Festivals am Ende der 1960er Jahre ein relativ neues und seltenes Phänomen sind. Seitdem haben sich Festivals als mehrere Tage andauernde Zusammenkünfte von sehr vielen Menschen unter freiem Himmel zum Konsum von live aufgeführter Popmusik mehrerer Interpreten als ein fester und selbstverständlicher Bestandteil der Praxisformation des Rock und Pop etabliert. Das Woodstock-Festival steht zwar bereits in einer Serie von Pop-Festivals, die vor allem in den USA unter anderem auch von Michael Lang am Vorbild des legendären Monterey-Pop-Festivals von 1967 organisiert worden waren.2 In seinem völlig ungeplanten Verlauf und in der Intensität der dort dargebotenen Gigs erreicht Woodstock eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Symbolkraft für die Praxisformation des Rock und Pop. Dies gilt im Übrigen, was oft übersehen wird, auch für den Grad der dort praktizierten Kommerzialisierung des Rock und Pop. Gerade weil Pop-Festivals – auch um katastrophale Verläufe wie den von Altamont zukünftig zu vermeiden – in einer immens langen und quantitativ riesigen Serie immer professioneller organisiert werden, sind Woodstock, Monterey und andere Festivals dieser Anfangsphase bis heute Symbole für deutlich mehr als den Genuss von live aufgeführter Popmusik. Sie stehen im Vergleich zu gegenwärtigen, eher Routine gewordenen Festival-Ereignissen für besondere Artikulationen von Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen; eine Kritik, die sich manchmal – wie im Falle von Jimi Hendrix’ Dekonstruktion der US-amerikanischen Hymne – als Symbolisierung der Gesellschaftskritik einer ganzen Generation ungeplant praktisch vollzieht. Für eine Soziologie der Praxis, wie ich sie verstehe,3 sind derartige Ereignisse der Kritik wichtige Ausgangspunkte der Forschung. Als Genealogie der Gegenwart bemüht sich die poststrukturalistische Soziologie der Praxis darum, die Problemgesichtspunkte der Gesellschaft ausfindig zu machen und dann mit ihren Mitteln neu zu untersuchen. Vergangene Praktiken4 wie die des Woodstock-Festivals können zu Kristallisationspunkten einer wirksamen Kritik an der Gesellschaft werden. Mit dieser Perspektivierung verbinden sich wesentliche Konsequenzen für die Soziologie der Praxis. Denn der Antiessentialismus des poststrukturalistischen Materialismus5 der Praxistheorien schließt es aus, zeitlose Normen als Maßstäbe der Kritik zu formulieren. Ein Weg aus dieser Lage der Theoriebildung ist der Versuch, die Kritik an der Gesellschaft als immanente Kritik zu erkennen, indem die Maßstäbe der Kritik identifiziert werden, die sich in der Gesellschaft herausgebil2 | Michael Lang hatte Jimi Hendrix bereits für das erste Atlanta Pop-Festival von 1968 gebucht und ist schließlich auch Organisator des katastrophal ausgehenden Festivals von Altamont im Dezember 1969, das den kurzen Traum von einer »Woodstock-Nation« jäh beendet: Die Rockergruppe Hells Angels wird von den Veranstaltern als Ordnungsmacht eingesetzt. Mitglieder der Gruppe töten vor den Augen der gerade musizierenden Rolling Stones, die das Festival mitinitiierten u.a. weil sie das Woodstock-Festival verpasst hatten, einen afroamerikanischen Festivalbesucher, sodass das Festival abgebrochen werden muss. 3 | Vgl. Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014. 4 | Vgl. Hillebrandt, Frank: Vergangene Praktiken. Wege zu ihrer Identifikation, in: Brendecke, Arndt (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 34-45. 5 | Vgl. Hillebrandt, Frank: Die Soziologie der Praxis als poststrukturalistischer Materialismus, in: Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, S. 71-94.

Popmusik und Gesellschaf tskritik

det haben. Im Anschluss an die Kritische Theorie der Gesellschaft von Habermas und Honneth stellt Titus Stahl fest, dass immanente Kritik als Form der Gesellschaftskritik immer dann stattfindet, »wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft in alltäglichen Situationen sowohl ihre expliziten Normen als auch ihre faktische Praxis unter Verweis auf die impliziten normativen Verpflichtungen kritisieren, deren Akzeptanz sie einander zuschreiben und deren kollektive Verbindlichkeit sie (zu Recht oder zu Unrecht) voraussetzen.« 6

Kritik ist dann etwas, das sich in der Gesellschaft einstellt, indem sich hier Maßstäbe für das Zumutbare herausbilden, die dann aber selbstredend immer noch von der Soziologie bewertet werden können, was von Stahl durch die Unterscheidung zwischen »zu Unrecht und zu Recht« angezeigt wird. In jedem Fall kann eine Praxistheorie, die poststrukturalistisch ansetzt, nicht hinter diese Definition des Kritikbegriffs zurückfallen. Sie muss vielmehr über den Vorschlag von Titus Stahl hinausgehen, indem sie sehr viel deutlicher herausstellt, was es bedeutet, wenn Kritik als Praxis begriffen wird. Genau hierzu hatten bereits zu Beginn der 1990er Jahre Luc Boltanski und Laurent Thévenot mit ihrer Studie über die Rechtfertigung eine vielversprechende Soziologie der kritischen Urteilskraft 7 vorgelegt, an die heute vielfach angeschlossen wird. Hier geht es darum, wie in der Gesellschaft Kritik artikuliert wird, wie sie sich also praktisch ereignet und welche Formen der Rechtfertigung dieser Kritik sich im Kontext dieser Artikulationen herauskristallisieren. Ein solcher Ansatz verfolgt zunächst keine Kritische Theorie, sondern eine Soziologie der Kritik.8 Wenn dies geschieht, werden aber durchaus auch Wege zu einer am Praxisbegriff ausgerichteten Kritischen Theorie deutlich, die gegenwärtig beispielsweise Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Matthias Michaeler in einem Aufsatz konturieren, der nicht zuletzt an Boltanskis Soziologie der Kritik anschließt. Eine Perspektive einer praxistheoretischen Soziologie der Kritik formulieren die Autoren etwa so: »Das kritische Potenzial dieses auf ständigem Perspektivenwechsel basierenden Ansatzes [der Praxistheorien] liegt darin, das Entstehen von Subjektivität in von Machtrelationen, Normierungen und Konflikten geprägten Prozessen in den Blick zu bringen, in denen stets auch historisch situierte Formen der Kritik, des Eigensinns und der Widerständigkeit ihren Platz haben.« 9

6 | Stahl, Titus: Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken, Frankfurt a.M./New York 2013, S. 388. 7 | Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007. 8 | Vgl. hierzu auch Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010. 9 | Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Michaeler, Matthias: Kritik als Praxis. Plädoyer für eine subjekttheoretische Erweiterung der Praxistheorien, in: Alkemeyer, Thomas/ Schürmann, Volker/Volbers, Jörg (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015, S. 25-50, hier S. 42.

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Diese Perspektive, die dem Diktum Foucaults folgt, dass Kritik »die Kunst [ist,] nicht dermaßen regiert zu werden«,10 legt nahe, die Formen der Artikulation von Kritik und Protest in der Praxis ausfindig zu machen, um diesen Artikulationen Gehör zu verschaffen.11 Artikulationen sind dann aber im Sinne von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe12 physisch zu verstehen. Sie ereignen sich nicht als abstrakte Wertideen, sondern als Vollzüge von Praxis, sodass es nicht ausreicht, sie lediglich im Sinne von Boltanski und Thévenot als semantische Formen der Rechtfertigung zu kategorisieren. Kurzum geht es in einer Soziologie der Praxis um die Erforschung der Kritik als Praxis, die sich sehr unterschiedliche Wege sucht und in der Gesellschaft immer wieder physisch zum Vollzug kommt, indem sie sich als Artikulation ereignet. Protestbewegungen wären dann etwa daraufhin zu untersuchen, welche Normen und Werte hier praktisch wirksam werden, wie sich die Proteste an welchen Normen und Werten orientieren und wie diese Artikulation sich schlussendlich manifestiert. In erster Linie denken wir in diesem Zusammenhang, ähnlich wie Judith Butler,13 an große und öffentliche Versammlungen von Menschen, die unter einem bestimmten politischen Motto stehen und dabei als Praxisvollzüge spezifische Verläufe aufweisen. Aber auch massenhafte Fluchtbewegungen können durchaus als Kritik an herrschenden Machtstrukturen verstanden werden, ebenso wie bestimmte Formen der Musikdarbietung – also etwa die »Interpretation« der Nationalhymne durch Jimi Hendrix –, der literarischen Performance oder auch der öffentlichen Zurschaustellung eines spezifischen Lebensstils etwa durch Kleidung und Körpergestaltung (Tätowierungen oder ähnliches). Die Initiierung und Beteiligung an solchen Formen der praktischen Kritik können als Manifestationen von Formen der Anerkennung ganz bestimmter Normen wie etwa Weltoffenheit oder auch allgemeine Akzeptanz von Menschenrechten verstanden werden, ebenso wie sie auch Ausdruck der Ablehnung bestimmter Normen und Werte sein können. Insofern sind diese Praxisvollzüge höchst relevant, denn hier manifestiert sich – ganz allgemein gesprochen – das Werte- und Normensystem einer Gesellschaft, das sich immer wieder praktisch ereignen muss, um wirksam zu sein. Ganz in diesem Sinne will eine an der Praxistheorie orientierte Genealogie der Gegenwart der Popmusik die wertenden Problemgesichtspunkte identifizieren und untersuchen, die sich in den Vollzügen dieser Praxisformation, also etwa in Woodstock, artikulieren, um auf diese Weise einen Beitrag zur Praxissoziologie der Kritik zu leisten. Die zugrundeliegende These ist, dass gerade Popmusik ein Katalysator für Gesellschaftskritik ist, weil in ihr die Mittel für neue, vielfältig genutzte Formen der kritischen Artikulation bereitstehen. Dies steht, wie 10 | Foucault, Michel: Was ist Kritik, Berlin 1992 (urspr. 1978), S. 12. 11 | Damit diese Position gehalten werden kann, muss mit Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 204, von folgendem Sachverhalt ausgegangen werden: »Aber im gesellschaftlichen Körper, in den Klassen, in den Gruppen und Individuen selbst gibt es wohl immer irgendetwas, das in gewisser Weise den Machtbeziehungen entgeht; etwas, das durchaus nicht ein mehr oder weniger fügsamer oder widerspenstiger Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte Energie, ein Entwischen.« 12 | Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 147ff. 13 | Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016.

Popmusik und Gesellschaf tskritik

schnell sichtbar wird, ganz im Gegensatz zur Auffassung der klassischen Kritischen Theorie, die Popmusik gerade als das Beispiel für eine Kulturindustrie sieht, die eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen verhindert. Genau deshalb ist es für meine Überlegungen zunächst von großer Bedeutung, wie Popmusik alternativ zum Theorem der Kulturindustrie praxissoziologisch gefasst werden kann. Dies ist Thema des nächsten Abschnitts.

2. W as ist P opmusik : K ulturindustrie oder  P r a xisformation ? Was Popmusik ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Neuere Narrative des Rock und Pop neigen dazu, eine große, lineare Erzählung der Popmusik in zeitgeschichtlicher Perspektive zu entwickeln, ohne die Ereignisse, Brüche und Diskontinuitäten zu berücksichtigen, die mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Popmusik verbunden sind.14 Der Fokus auf die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit und das kritische Potential der Popmusik ist vergleichsweise neu. Noch in den 1960er Jahren werden Popmusik und ihre Vorläuferinnen regelmäßig als vergängliche Zeitgeistphänomene gedeutet, die in kulturkritischer Perspektive eine Verrohung der Lebenseinstellung junger Menschen erzeugen, in linker Perspektive im Dienst der kapitalistischen Ausbeutung stehen oder beides zugleich sind. Bekannt sind beispielsweise derartige Ansichten, die Ernst Bloch oder Theodor Adorno bereits über die Vorläufer der Popmusik formulieren. Insbesondere populärer Jazz erscheint hier als Ausdruck einer Verrohung der Kultur. Bloch schreibt: »Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterburg, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn, mit einem ihm entsprechenden Gejaule, das die sozusagen tönende Begleitung macht. Solch amerikanische Bewegung erschüttert die westlichen Länder, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen. Der Mensch soll besudelt werden und das Gehirn entleert; desto weniger weiß er unter seinen Ausbeutern, woran er ist, für wen er schuftet, für was er zum Sterben verschickt wird.«15

In den Augen des Neomarxisten Bloch stellt der Jazz offenbar ein neues »Opium fürs Volk« dar. Ganz ähnlich äußert sich Adorno: »Die Society hat ihre Vitalmusik […] nicht von Wilden, sondern von domestizierten Leibeigenen bezogen. Damit können dann freilich die sadistisch-masochistischen Züge des Jazz recht wohl zusammenhängen. So modern wie die ›Primitiven‹, die ihn anfertigen, ist die Archaik des Jazz insgesamt. […] Nicht alte und verdrängte Triebe werden in den genormten Rhythmen und genormten Ausbrüchen [des Jazz] frei: neue, verdrängte, verstümmelte er-

14 | Vgl. etwa Wicke, Peter: Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums, Leipzig 1987; Büsser, Martin: On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik, Darmstadt 2004; Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld 2009. 15 | Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1959, Bd. 1, S. 457.

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Frank Hillebrandt starren zu Masken der längst gewesenen. […] Die moderne Archaik des Jazz ist nichts anderes als sein Warencharakter.«16

Und an anderer Stelle seines Werkes schreibt er, den Jazz in den 1960er Jahren bereits etwas milder betrachtend, über Rockabilly ganz unmissverständlich folgendes: »Die Jazz-Hörer sind sich untereinander uneinig, und die Gruppen pflegen ihre besonderen Varietäten. Die technisch voll Sachverständigen schmähen die grölende Gefolgschaft des Elvis Presley als Halbstarken.«17 Heute muten solche Aussagen zur Popmusik fast grotesk an. Die mit ihnen deutlich werdenden abwehrenden Aufregungen und Proteste, welche die neuen Formen der Musik erregt haben, führen nicht zuletzt auch dazu, dass Popmusik im damaligen wissenschaftlichen Diskurs entweder als bedeutungsloses Zeitgeistphänomen weitgehend ignoriert wird – von kurzen Schmähungen abgesehen –, oder sie wird in schon angedeuteter Weise zum Gegenstand sozialphilosophischer Betrachtungen gemacht. Insbesondere Adornos musiksoziologische Überlegungen und die gemeinsam mit Max Horkheimer in den frühen 1940er Jahren in der Dialektik der Auf klärung aufgestellte Kulturindustriethese18 haben den Diskurs um Popmusik dabei nachhaltig geprägt, und in ihm finden sich bis heute Spuren dieser Denkweise, sodass sie hier kurz umrissen werden soll. Adornos Kultur- und Gesellschaftsverständnis führt letztlich dazu, dass er dem Jazz und später dem Rock’n’Roll so wenig Gutes abgewinnen kann. Für ihn ist gerade der Jazz als populäre Musik der Inbegriff der Kulturindustrie, der zur Ware verkommenen Kultur. Es geht ihm mit der Kulturindustriethese jedoch nicht darum, allein die populäre Musik zu kritisieren, vielmehr übt er Kritik an den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Durch die Technologie der mechanischen Reproduktion, die bereits Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz von 1935 über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit19 zum Thema gemacht hat, sowie die Weiterentwicklung der Aufnahme- und Sendetechnik wird der Konsum der Kultur zu einem individualisierten und von den Produzenten und Rezipienten entfremdeten Vorgang. Dies ermöglicht es – so die zentrale These von Adorno und Horkheimer –, die Kulturproduktion der kapitalistischen Verwertungslogik zu unterwerfen und auf diese Weise Kultur für die Massen zu produzieren. Durch die Standardisierung der Musik verliert diese nicht nur ihren eigenen Wahrheitsgehalt, sondern sie führt auch zur Trübung des gesellschaftlichen Bewusstseins und hat somit auch eine ideologische Wirkung. Die Kulturindustriethese lässt sich mit Adorno somit folgendermaßen auf den Punkt bringen: »Kulturindustrie ist die synthetische Kultur der verwalteten Welt. Ihre Waren werden […] nach dem Prinzip ihrer Verwertung angefertigt, nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt. Die einmal und 16 | Adorno, Theodor W.: Über Jazz, in: Gesammelte Schriften, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1997, Bd. 17, S. 83f. 17 | Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1989, S. 28. 18 | Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1984, S. 108ff. 19 | Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, S. 136-169.

Popmusik und Gesellschaf tskritik prekär errungene Autonomie der Kunstwerke wird zurückgenommen, mit oder ohne die bewusste Absicht der Verfügung. […] Schließlich hat die die Ideologie der Kulturindustrie sich verselbstständigt, bedarf kaum mehr besonderer Botschaften, nähert sich den public relations. […] An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Mit-dabei-Sein, Reklame gemacht für die Welt, so wie ein jedes kulturindustrielles Produkt seine eigene Reklame ist.« 20

Der Produktion von ständig Neuem kommt hierbei eine besondere ideologische Bedeutung zu, denn in Form der populären Musik beschränke sich die Funktion der Musik lediglich darauf, vorzutäuschen, dass überhaupt etwas im Wandel begriffen ist: »Ihre Ideologie ist im wörtlichsten [sic] Sinn das ut aliquid fieri videatur. Durch ihre bloße abstrakte Form, die der Zeitkunst, also den qualitativen Wechsel ihrer Sukzessivmomente, bewirkt sie etwas wie die imago von Werden«.21 Adornos musiksoziologische Schriften basieren ganz offensichtlich auf der in dieser Zeit gängigen Unterscheidung zwischen Unterhaltungs-Musik und ernster Musik bzw. zwischen leichter und höherer Musik: Musik, die der Unterhaltung und Zerstreuung dient, ist mit Adornos ästhetisch-ideellem Kulturverständnis nicht vereinbar. Vielmehr muss für ihn das sinnliche Erleben der Musik, aber auch die Reflexion des musikalischen Werks im Vordergrund stehen. Diese Anforderungen werden jedoch nicht durch den Rezipienten von Unterhaltungsmusik erfüllt: »Musik ist ihm nicht Sinnzusammenhang, sondern Reizquelle. Elemente des emotionalen wie des sportlichen Hörens spielen herein. Doch ist all das plattgewalzt vom Bedürfnis nach Musik als zerstreuendem Komfort.«22 Dabei hebt Adorno die physische Dimension des Musikhörens auch in Hinblick auf die Unterhaltungsmusik hervor: »Als Substitut eines Geschehenden, an dem der mit Musik Identifizierte in welcher Weise auch immer aktiv teilzuhaben glaubt, scheint sie in jenen Momenten, die dem populären Bewusstsein für Rhythmus gelten, imaginativ dem Körper etwas von den Funktionen zurückzuerstatten, welche ihm real durch die Maschinen entzogen wurden; eine Art Ersatzsphäre der physischen Motorik, welche die sonst qualvoll ungebundene Bewegungsenergie zumal der Jungen absorbiert. Insofern ist die Funktion der Musik heute von der in ihrer Selbstverständlichkeit nicht minder rätselhaften des Sports gar nicht so verschieden. […] Eine Hypothese über diesen Aspekt der konsumierten Musik wäre, dass sie die Hörer daran erinnert – wenn nicht gar: ihnen vorspiegelt –, dass sie noch einen Körper haben; dass sie, als bewusste und im rationalen Produktionsprozess Tätige, vom eigenen Körper doch noch nicht gänzlich abgetrennt sind. Diesen Trost verdanken sie demselben mechanischen Prinzip, das ihren Körper ihnen entfremdet«. 23

Adorno sieht zwar ganz im Sinne einer praxissoziologischen Perspektive die physische Dimension des Musikhörens, da er die körperliche Erfahrung der Musik für einen entscheidenden Aspekt ihres Verständnisses hält. Allerdings ist für ihn die körperliche Verschmelzung mit der Musik immer mit der Gefahr verbunden, 20 | Adorno, Theodor W.: Für Wiener Radio, 21.2.1969, nach einem Typoskript, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt a.M. 2003, S. 288ff. 21 | T. W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, S. 66. 22 | Ebd., S. 29. 23 | Ebd., S. 67.

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dass die Musik manipulativ wirkt, weil sie im Sinne der in seinem Werk sehr dominanten Kulturindustriethese zum Nutzen von Ausbeutung und Entfremdung eingesetzt ist. Dies gilt für ihn selbstredend vor allem für populäre Musik, allerdings auch für die klassische Musik eines Jean Sibelius. Der Kulturindustriethese entstammende Sichtweisen auf populäre Musik sind vor allem in Deutschland sehr einflussreich und führen hier in den 1970er und 1980er Jahren dazu, dass Popmusik in die strikte Unterscheidung zwischen U- und E-Musik gezwängt wird. Populäre Musik wird als Epiphänomen der Massenkultur und Produkt der kapitalistischen Kulturindustrie betrachtet. Dadurch geraten vor allem und fast ausschließlich die Produktion und die Produktionsbedingungen der Popmusik in den analytischen Blick. Und dies geschieht in einer prädisponierten Weise, weil dem kulturkritischen Blick ja bereits vorher klar zu sein scheint, was im Bereich der Popmusik der Gesellschaft geschieht. Dies ist jedoch keine zwingende Konsequenz aus Adornos Sichtweise. Seine These von der Kulturindustrie ist bekanntlich mit einer ausgearbeiteten ästhetischen Theorie verbunden,24 die sich nicht nur um die Frage dreht, ob etwas Kulturelles der Verblendung dient oder nicht. Es geht hier bekanntlich auch und vor allem darum, Maßstäbe für ästhetische Ausdrucksformen zu finden, die sich eben jenseits von Funktionalität und Effizienz finden lassen müssen, um nicht der kapitalistischen Verwertungslogik anheim zu fallen.25 An diese Theorie ist vielfältig, etwa auch um den Begriff der Ästhetik Adornos zu rehabilitieren,26 angeschlossen worden. Mit dieser in der aufklärerischen Tradition Kants und Hegels stehenden Perspektive lässt sich Kunst von Kitsch oder Herrschaft unterscheiden. Auf diese Weise kann eine inflationäre Erfahrung des Ästhetischen im Populären ausgeschlossen werden.27 Denn die ästhetische Erfahrung ist nach der klassischen ästhetischen Theorie immer selten und nicht ohne weiteres zu erreichen, weil sie sich dem herrschenden Funktionalismus und dem immanenten Zusammenhang der Herrschaft entziehen muss. Kunstwerke können nun genau danach unterschieden werden, ob sie dies leisten oder eben nicht. Denn wenn es um die »Kraft der Kunst«28 geht, kann danach gefragt werden, welche Ästhetik etwas zu einem Kunstwerk macht: Was unterscheidet ein Kunstwerk von anderen Gegenständen und wie kann es durch dieses Distinktionsmerkmal den Erfahrungsraum des Rezipienten gegen den kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftszusammenhang

24 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973. 25 | Vgl. hierzu Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 148-158. 26 | Vgl. etwa Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt a.M. 1996. 27 | Beispielhaft schreibt T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 394: »Vom Klassischen überlebt die Idee der Kunstwerke als eines Objektiven, vermittelt durch Subjektivität. Sonst wäre Kunst tatsächlich ein an sich beliebiger, für die anderen gleichgültiger und womöglich rückständiger Zeitvertreib. Sie nivellierte sich zu einem Ersatzprodukt einer Gesellschaft, deren Kraft nicht länger zum Erwerb des Lebensunterhaltes verbraucht wird und in der gleichwohl unmittelbare Triebbefriedigung limitiert ist. Dem widerspricht Kunst als hartnäckiger Einspruch gegen jenen Positivismus, der sie dem universalen für anderes beugen möchte.« 28 | Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin 2014.

Popmusik und Gesellschaf tskritik

bereichern?29 In einer solchen Ästhetik steckt immer so etwas wie »[d]er Ekel vor dem ›Leichten‹« (Bourdieu),30 weil die ästhetische Erfahrung sich in einer solchen Theorie eben nicht so einfach einstellt: Sie ist mit Anstrengung und distinktivem Wissen verbunden, das über eine lange Zeit inkorporiert werden muss. Soziologisch gesehen handelt es sich bei dieser Art von Ästhetik ganz im Sinne Bourdieus um eine Reflexionstheorie der Distinktion, sodass ihr letztlich keine besondere Bedeutung zur Ausformulierung einer soziologischen Theorie zugesprochen werden sollte. Sieht man zunächst einmal davon ab, dass die Ästhetik eine Ausdrucksform sozialer Ungleichheit in einer kapitalistischen Gesellschaft ist, kann die rein kunsttheoretisch gestellte Frage danach, wodurch etwas zu einem Kunstwerk wird, einen Aspekt der klassischen ästhetischen Theorie retten, indem sie nicht so sehr bei der spezifischen Ausformung der Kunstwerke, sondern vielmehr bei der Ausformung der ästhetischen Erfahrung ansetzt.31 Diese sich bei der Rezeption von Kulturprodukten als körperlich einstellende Erfahrung lässt sich nicht allein kognitiv verstehen. So ist das Hören von Popmusik, wie etwa des Songs Purple Haze von Jimi Hendrix, für viele Menschen mit einer körperlichen ästhetischen Erfahrung verbunden, die diesen Song zu einem bedeutenden Bestandteil der Praxisformation des Rock und Pop werden lässt, an den bei der Produktion von Popmusik in vielfältiger Form angeschlossen wird. Ästhetik misst sich demnach eben nicht an der »Objektivität« oder Struktur von Kunstwerken, sondern an der Erfahrungswelt von Rezipienten, in seiner Inszenierung, praktischen Produktion, kulturellen und diskursiven Rahmung und anderem. Wird dies ernst genommen, kann Popmusik nicht zu einer Ausdrucksform der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur verkürzt werden. Die Ästhetik der Popmusik lässt sich mit anderen Worten nicht objektiv verneinen, wie dies Adorno noch suggeriert, sie ist vielmehr ein eigenständiger und vielgestaltiger Erfahrungsraum, der deshalb in vielfältiger Form erforscht werden muss. Ganz in diesem Sinne geht eine praxissoziologische Perspektive davon aus, dass Popmusik nicht nur die Freizeitgestaltung und die sogenannte Ablenkung von der Herrschaft des Kapitalismus maßgeblich verändert, sondern bis heute auf deutlich mannigfaltigere Weise Einfluss auf unser Alltagsleben und die Gegenwartsgesellschaft nimmt – nicht zuletzt auch dadurch, dass sie vielfältige ästhetische Erfahrungen ermöglicht, die nicht nur als Illusion eines immanenten Herrschaftszusammenhangs missverstanden werden sollten. Aus diesem Grund sollten die verschiedenen Elemente und Einflussfaktoren herausgearbeitet werden, welche die Praxis der Popmusik mit der ihr eigenen Qualität und Dynamik überhaupt erst hervorbringen. Auf diese Weise werden auch die Formen der Artikulation von Gesellschaftskritik sichtbar, die sich in der Popmusik ereignen.

29 | Dass dies auch völlig anders geschehen kann als über den Begriff der Ästhetik, zeigt Schürkmann, Christiane: Kunst in Arbeit. Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen, Bielefeld 2017, indem sie das Entstehen des Kunstwerkes als praktisch sich vollziehenden Prozess des Arbeitens untersucht. 30 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982, S. 757. 31 | Vgl. hierzu auch J. Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, S. 32ff.

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Der soziologische Blickwinkel auf Popmusik muss mit anderen Worten gerade auf die Multidimensionalität der Praxis des Pop gelenkt werden. Ganz in diesem Sinne soll Popmusik wie folgt definiert werden: Sie ist eine Praxisformation,32 die sich in musikalischer Hinsicht dadurch auszeichnet, verstärkt am Sound, Beat und Rhythmus und weniger am Textuellen orientiert zu sein, um dadurch im besonderen Maße körperlich, d.h. körper-affizierend und leiblich, zu wirken.33 Das, was heute als Popmusik zu verstehen ist, hat seinen Ursprung in den Übernahmen des Rock’n’Roll aus dem Blues und dem Rhythm’n’Blues,34 erweist sich aber von Anfang an als offen, indem immer wieder verschiedene musikalische Stilrichtungen integriert werden. Popmusik ist also als eine offene Musik zu verstehen, die sich immer wieder aufs Neue formiert. Sie wird mit elektronischen Mitteln hergestellt und reproduziert. Sie wird massenmedial verbreitet und gesellschaftsweit rezipiert, geht mit einer Fankultur einher und ist dabei als Klangbett der Gesellschaft klassenübergreifend wirksam. Popmusik weist eine ganz besondere Dynamik auf, weil ihr ein nicht nur punktuell wirkendes Prinzip der ständigen Erneuerung inhärent ist. Da Popmusik fortwährend Neues hervorbringen und popularisieren muss, um praxisrelevant zu bleiben, ist dieses Prinzip wesentlich für die Identität dieser Praxisformation.35 Mit dieser Definition wird es – wie im folgenden Abschnitt deutlich gemacht wird – möglich, die wichtigsten Eckpunkte einer am Ereignisbegriff orientierten Genealogie der Gegenwart der Popmusik zu umreißen und die Formen der popmusikalischen Artikulation von Gesellschaftskritik sichtbar zu machen.

3. P opmusik als G egenstand einer G ene alogie der  G esellschaf tskritik Angesichts der Vielfalt und Dynamik ihrer praktischen Ausformungen lässt sich Popmusik im Anschluss an Deleuze und Guattari als Plateau bezeichnen, als eine »in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet.«36 In Anbetracht dessen ist 32 | Vgl. F. Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien, S. 53ff., 102ff. 33 | Diese eher materialistische, weniger an der Klangtextur orientierte Sichtweise der Popmusik wird inzwischen auch in der neueren, seit etwa 10 Jahren sich entwickelnden Popmusikwissenschaft breit vertreten. Siehe hierzu exemplarisch und initiierend Jost, Christopher: Musik, Medien und Verkörperung. Transdisziplinäre Analyse populärer Musik, Baden-Baden 2012. 34 | Dass dies vor allem dazu führt, dass eine afroamerikanische Kulturform von der weißen Mainstreamkultur okkupiert und damit enteignet wird, zeigt Hamilton, Jack: Just around Midnight. Rock and Roll and the Racial Imagination, Cambridge, MA/London 2016. 35 | Vgl. hierzu Daniel, Anna/Hillebrandt, Frank/Schäfer, Franka: Forever Young? Die besondere Dynamik der Praxisformation des Rock und Pop. In: Lessenich, Stephan (Hg.): Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014 (URL: http://publikationen.soziologie.de/index.php/ kongressband_2014/article/view/153/pdf_19 [13.10.2018]). 36 | Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 37; vgl. auch F. Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien.

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ein breiter Blickwinkel auf die popmusikalische Praxis einzunehmen, um diese sinnvoll in das Forschungsprogramm einer Genealogie der Gegenwart von Gesellschaftskritik einfügen zu können. Anstelle der stereotypen Narrative einer Chronik der Popmusik kommen so die popmusikalischen Einzelpraktiken, wie etwa der Anschlag der Gitarre oder die Betätigung des Schallplattenspielers, in den Blick, die sich in ihrer Verkettung zu Praxisformen – dem Spielen des Instruments oder dem Musikhören – verdichten. Diese Praktiken und Praxisformen bilden in der Gestalt serieller Ereignisse wie etwa dem Konzert, der Aufnahme im Tonstudio, dem Verkauf von Tonträgern oder der 80er-Jahre-Party die Praxisformation der Popmusik. Eine Genealogie der Gegenwart der Popmusik muss also elementar bei den folgenreichen Konstitutionsereignissen ansetzen, welche die Praxis der Popmusik formieren. Denn Praxisformationen sind in Anlehnung an einen Begriff von Marcel Mauss37 als »totale soziale Tatsachen« zu verstehen, die nach Mauss eben deshalb Wirkung entfalten, weil sie sich aus unterschiedlichen, nämlich physischen, symbolischen und habituellen Bestandteilen zusammensetzen.38 Eine Soziologie der Praxis geht mit diesen Begriffen davon aus, das popmusikalische Praktiken immer nur als Folgepraktiken vorstellbar sind, weil sich die Praxisformation des Pop stets neu ereignen muss, um praxisrelevant und wirksam zu bleiben. Die Praxisformation der Popmusik ist somit eine durch physische Praktiken erzeugte Versammlung von unterschiedlichen diskursiven, symbolischen, dinglichen und habituellen Elementen, die in ihrer spezifischen Assoziation eine übersituative Wirkung entfalten, indem sie Praktiken affizieren, die sich wiederum zu Praxisformen wie dem Pop-Festival oder -Konzert, verdichten können, die für einen gewissen Zeitraum auf Dauer gestellt sind, sich also seriell ereignen.39 Diese Praktiken und Praxisformen gilt es nicht nur im Bereich der Produktion und Distribution zu analysieren, sondern überall dort, wo sich Popmusik ereignet: beim Musikhören in den eigenen vier Wänden, im Fitnessstudio, auf einem Konzert, im Jugendclub, im Internet und im Plattenladen. Praxisformationen lassen sich folglich nur in actu als Materialisierungen von Praktiken verstehen, die qua definitionem elementare Ereignisse von umfassenden Ereignissen wie etwa dem Pop-Festival oder -Konzert sind. Anstatt also, wie die Cultural Studies, den analytischen Fokus lediglich auf bestimmte Subkulturen zu richten, setzt die Praxisforschung auf eine Zugangsweise, die es weitestgehend vermeidet, den Untersuchungsgegenstand bereits vorab theoretisch auf eine bestimmte Gruppe von Bestandteilen festzulegen – wie etwa denen, die in einer subkulturellen Fangemeinschaft identifiziert werden können. Stattdessen können durch den breiten Blickwinkel auf möglichst viele Bestandteile der Praxisformation der Popmusik ganz unterschiedliche popmusikalische Zusammenhänge untersucht werden, wobei das methodische Vorgehen jeweils dem zu untersuchenden Gegenstand angepasst wird.

37 | Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1990, S. 17. 38 | Vgl. hierzu auch Hillebrandt, Frank: Totale soziale Tatsachen als Formen der Praxis. Wie uns Marcel Mauss hilft, Sozialität neu zu verstehen, Symposiumsbeitrag zu Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, in: Soziologische Revue 35, 2012, S. 253-260. 39 | Vgl. hierzu ausführlicher: F. Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien, S. 103.

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Eine am Praxisbegriff orientierte Kultursoziologie interessiert sich nicht primär für dauerhafte Regelsysteme, Strukturen oder Kontexte, welche die Praktiken ermöglichen, sondern für den Prozess der Formation von Praktiken, also für den Prozess der sich immer wieder aufs Neue ereignenden Assoziation von unterschiedlichen Aktanten, um es mit Bruno Latour zu sagen.40 Auf diese Weise gelingt es, Popmusik nicht als Ausdruck einer wie immer zu bestimmenden Gesellschaftsordnung zu begreifen, sondern es können vielmehr die unterschiedlichen Elemente und Dimensionen der Popmusik – also auch ihre ästhetischen Erfahrungsräume – in ihrem praktischen Zusammenspiel untersucht werden, die meines Erachtens für die besondere Qualität und Wirkkraft der Popmusik stehen. Dadurch finden nicht nur die Ebenen der Produktion von Popmusik und ihre massenmediale Verwertung Beachtung. Vielmehr möchte ich den unterschiedlichen Intensitätszonen der popmusikalischen Praxis jenseits der gängigen Unterscheidung zwischen Produktion und Rezeption nachspüren, um ihre spezifische Vollzugswirklichkeit in den vielfältigen Zusammenhängen untersuchen zu können, in denen sie von Bedeutung ist. Ein praxissoziologischer Zugang fragt somit danach, wie sich die Praxis der Popmusik angemessen erfassen lässt und setzt hierbei bei den Ereignissen selbst und damit bei der materiellen Verfasstheit der Praxis an, die – im Anschluss an Schatzki41 – als eine Kombination aus Sprechakten (sayings), körperlichen Bewegungen (doings) und einer durch Assoziation zwischen sozialisierten Körpern und materiellen Artefakten ermöglichten Handhabe der Dinge gefasst werden.42 Gegenüber der lang anhaltenden anthropozentrischen Ausrichtung der Sozialwissenschaft wird in einer praxissoziologischen Perspektive der Bedeutung der nichtmenschlichen Aktanten und Dinge besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vinylplatte oder Transistorradio aber auch die Entwicklung des Marshall-Verstärkers oder, eng damit verbunden, der E-Gitarre43 nehmen für die Entstehung der Popmusik eine zentrale Rolle ein. Und gerade die innovativen Weiterentwicklungen der technischen und medialen Möglichkeiten prägen den Wandel der Popmusik seit den 1950er Jahren maßgeblich. Darüber hinaus muss auch die physische Dimension der menschlichen Aktanten beachtet werden. Die physische und die emotionale Komponente des Musikhörens hebt, wie bereits gesagt, auch Adorno hervor, jedoch bleiben diese bei ihm noch in sein ideologiekritisches Kulturverständnis eingebettet. Durch die Fokussierung auf die Praxis, die sich in Ereignissen konstituiert, kann auch in diesem Punkt grundlegender angesetzt werden: Ein Instrument zu beherrschen, ist nicht nur eine kognitive Leistung, sondern inkorporiert vielmehr sozialisiertes praktisches Wissen. Deshalb ist es wichtig, die Körper-Ding-Assoziationen, wie sie sich beispielsweise beim Spielen der E-Gitarre von Jimi Hendrix am Ende des 40 | Siehe vor allem Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007. 41 | Vgl. Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge, MA 1996, S. 89. 42 | Vgl. F. Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien, S. 58ff. 43 | Vgl. hierzu Hillebrandt, Frank: Electric Soundland. Die E-Gitarre in der Revolte, in: Reuter, Julia/Berli, Oliver (Hg.): Dinge befremden. Essays zu materieller Kultur, Wiesbaden 2016, S. 95-105.

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Woodstock-Festivals materiell ereignen, zu einem eigenständigen Untersuchungsgegenstand zu machen. Ebenso wie das Musik-Machen hat auch das Musik-Hören eine physische Komponente, indem Musik nicht nur sinnlich wahrgenommen wird, sondern vielfach auch auf körperliche Weise als Verstärker und Ventil für Emotionen genutzt wird. Gegenüber Adorno verstehe ich diese physisch-emotionale Dimension jedoch nicht lediglich als ein durch Standardisierung kapitalistischer Produktionsprozesse verdrängtes Körpergefühl, welches sich im Rhythmus der Popmusik zuckender Weise Bahn bricht. Es ist vielmehr die physisch-emotionale Dimension der Popmusik, die sich zu einem ästhetischen Erfahrungsraum verdichten kann, der zu einem grundlegenden Untersuchungsgegenstand der Erforschung von Popmusik gemacht werden muss. Ausgangspunkt sind hierbei in erster Linie Live-Ereignisse, da sich hier das Zusammenspiel zwischen Musikerinnen und Publikum, zwischen Technik und Klang, Medien und Ästhetik etc. besonders gut in actu beobachten lässt. In Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand lassen sich hierbei zunächst recht allgemein einige Dimensionen der Praxis des Pop ausmachen. Zunächst ist hier natürlich die musikalische Dimension zu nennen. In den 1950er Jahren entsteht mit dem Rock’n’Roll eine ganz neue Art, das in den Südstaaten der USA tradierte und intensiv gepflegte Bluesschema zu interpretieren – hier ist vor allem die Adaption des Südstaatenblues durch Chuck Berry als wichtigstes Beispiel zu nennen. An diese Innovation in der Produktion von Blues-Musik schließen dann auch weiße Musiker wie Elvis Presley an, der bekanntlich zu einer bis dahin im Musikbereich völlig unbekannten Popularität aufsteigt. Mit enormer Geschwindigkeit und ausgeprägten Beats entsteht eine Musikform, an die sich in vielfältiger, immer mehr populär werdender Form anschließen lässt, sodass sich diverse Musikstile in der Popmusik bilden, die jeweils für sich eine besondere Wirkung entfalten. Im Anschluss daran wird dann auch die räumliche und zeitliche Dimension dieser neuen Musik wichtig, weil sie sich über regionale und zeithistorische Gegebenheiten ausbreitet und sich physische Räume erobert, in denen sie sich ganz unhinterfragt ereignen kann, was sich heute in den diversen Pop- und Rockkonzerten aber auch in den Musikstudios zur Produktion von Popmusik und an anderen Orten wie Jugendzimmern, Fernsehsendungen etc. zeigt. Neben der musikalischen und der raumzeitlichen Ausdehnung hat die Popmusik ohne Zweifel eine körperliche Dimension: Die sozialisierten Körper der Musikerinnen, der Zuhörerinnen, der Tontechniker, der Ordner, der Mitarbeiterinnen des Managements und der Plattenfirmen etc. müssen sich in einer ganz bestimmten Weise vernetzen, damit sich Popmusik immer wieder ereignen kann. Diese Körperlichkeit ist in einer Soziologie der Praxis des Pop eng verbunden mit der gegenständlichen Dimension dieser Praxis: Die technischen und gegenständlichen Aspekte des Pop, wie etwa die Musikinstrumente, aber auch Ton-, Licht-, Verstärker- und Bühnentechnik, sowie spezifische technische Formen der Produktion und Distribution der Pop-Musik – also so etwas wie deren Produktionsmittel – wirken mit an der Vernetzung der sozialisierten Körper. Somit entstehen komplexe Körper-Ding-Assoziationen, die eine ständige und massenhafte Neuaufführung der Popmusik ermöglichen. Damit wird auch die mediale Dimension der Popmusik deutlich: Die massenmedialen Elemente wie Verbreitungs- und Rezeptionstechniken der Popmusik, Massenmedien, Techniken der Distribution von Popmusik etc. sind für das Zustandekommen und die ständige Neuformierung der Praxisformation des Pop konstitutiv.

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Ohne diese massenmediale Verbreitung der entsprechenden Musik und des damit verbundenen Geflechtes von Körpern und Dingen wäre eine Popularisierung der Rockmusik zu Popmusik nicht möglich. Ganz eng damit verbunden ist die Dimension der Klangtextur des Pop. Mit der massenhaften Verbreitung dieser Musik entstehen diverse Stilrichtungen, die sich stark am Klang (Sound) orientieren und sich genau darüber voneinander unterscheiden. Mit der Klangtextur sind Instrumentierung, Vokalisierung und Songstruktur sehr eng verbunden. Auch die Frage, wie bestimmte Songtexte intoniert werden, ist im Kontext der Klangtextur der Popmusik von großer Bedeutung. Hier kann als ein sehr prägnantes Beispiel angeführt werden, dass Bob Dylan seine zunächst sehr stark an Texten orientierte Musik in den 1960er Jahren mit einem eigenen Sound auszustatten beginnt, indem er elektrisch verstärkte Gitarren einsetzt. Eng mit dieser Aufwertung des Sounds in der Popmusik ist eine spezifische Ästhetik verbunden, die sich immer mehr zu einer wichtigen Dimension dieser Praxisformation entwickelt. Neben dem eigenen Sound geht es hier unter anderem um Outfits, Accessoires, das Design der LP- und CD-Covers, Videoclips, das Arrangement von Bühnenshows, die Stilisierung des eigenen Lebens mit und durch Popmusik etc. In ihrem Zusammenspiel entwickelt sich um die Popmusik ein riesiges Narrativ und eine popmusikwissenschaftliche sowie gesellschaftliche Diskursivierung, die sich in Fachmagazinen des Pop, in Interviews mit Popstars und Pop-Fans, Autobiographien von Popstars, literarischen Auseinandersetzungen mit Popmusik in entsprechenden Romanen und Gedichten, Erzählungen über Ereignisse des Rock und Pop und der Produktion von Bildern des Rock und Pop manifestiert. Sichtbar wird dabei eine enge Verzahnung der diskursiven Dimension mit der ästhetischen Dimension des Pop. Diese verschiedenen Bestandteile der Praxisformation des Rock und Pop wirken sehr intensiv und vielfältig zusammen und erzeugen nicht zuletzt dadurch eine Intensitätszone der Gegenwartsgesellschaft, die sich eben nicht allein mit einer ästhetischen Theorie erfassen lässt, die sich um die Frage dreht, welche kulturellen Erscheinungsformen dem immanenten Zusammenhang der Herrschaft dienen und welche nicht. Denn mit der Identifikation und Erforschung des praktischen Zusammenspiels dieser Dimensionen der popmusikalischen Praxis in exemplarischen Ereignissen ist es nicht nur möglich, der besonderen Qualität und Dynamik der unterschiedlichen popmusikalischen Ausdrucksformen nachzuspüren. Mittels einer komparativen Perspektive lässt sich zudem das Spannungsverhältnis zwischen strukturbildenden Wirkungen und stetiger Neuformierung von Popmusik erforschen. Ein solcher Begriff und ein solches Konzept von Popmusik ermöglichen es, Foucault44 folgend, eine Genealogie der Gegenwart zur Zeitdiagnose der Gegenwartsgesellschaft nicht auf ein Kontinuum, auf Zeichen oder gar eine Struktur, sondern auf Ereignisse und Serien zu beziehen. Ein Ereignis besteht dabei »in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung, der Überschneidung, der Anhäufung, der Selektion materieller Elemente.«45 Popmusik ereignet sich ganz im Sinne Foucaults in vielfältiger Weise. Mit diesen bis in die Gegenwart Serien bildenden Ereignissen – Popfestivals sind hier ein wichtiges Beispiel unter vielen anderen – entstehen nicht nur regelmäßig ästhetische Erfahrungsräume, sondern auch Artikulationen 44 | Foucault, Michel: Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 36. 45 | Ebd., S. 37

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von Gesellschaftskritik, die sich in der Popmusik vielfältig ausformen. Und insofern ist Popmusik immer auch ein Bestandteil der »Herkunft«46 der Gegenwartsgesellschaft. Wichtig ist nun zu sehen, dass diese Artikulationen von Kritik in der Popmusik sehr unterschiedlich geschehen können und geschehen sind. Das zu Beginn meiner Überlegungen bereits genannte Beispiel der später als äußerst subversiv wahrgenommenen und rezipierten Darbietung der US-Nationalhymne durch Jimi Hendrix am Ende des Woodstock-Festivals 1969 ist ein solches Ereignis der Kritik, das eben nicht textuell, sondern performativ verstanden werden muss. Vor allem subkulturelle Ausdrucksformen der Popmusik sind, wie dieses Beispiel bereits zeigt, regelmäßig alles andere als mit Worten formulierte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Indem sie, wie etwa im Punk, mit nur wenigen Worten auskommen und stattdessen andere Tatsachen der Subversion schaffen, können subkulturelle Artikulationen auf subversive Weise einen ganzen Lebensstil definieren, der sich gegen herrschende Konventionen zu wenden versucht. Hier entsteht eine signifikante Do-it-yourself-Kultur, in der Musik über eigene Labels verbreitet und den industriellen Ausformungen der Popmusik etwas entgegengestellt wird, das provoziert und dadurch subversiv wirksam ist.47 Ein subversiver Lebensstil muss sich nun aber ereignen, um wirksam zu sein, er kann nicht allein Imagination bleiben. Und genau darin, in der seriellen Performance bestimmter subversiver Formen der Gesellschaftskritik, wird die Bedeutung der Popmusik für eine Genealogie der Gegenwart sichtbar. Die Subversion ereignet sich in der Praxisformation der Popmusik mit den von mir oben beschriebenen Produktionsmitteln der Popmusik, die sich hier seit Mitte des 20. Jahrhunderts gebildet haben und denen immer wieder neue hinzugefügt werden. Vehikel der Subversion können demnach Festival-Formate wie das von Woodstock, Pop-Konzerte, Musikinstrumente wie die E-Gitarre oder auch der Casio-Computer, Tonträger und Aufnahmestudios, Fanzines und andere Magazine des Pop etc. sein. Auf diese Weise ist die Praxisformation des Pop so etwas wie ein Katalysator für bestimmte Formen der subversiven Gesellschaftskritik. Auch wenn sie in den meisten Fällen zur Unterhaltung eines Publikums dient, das mit Popmusik zunächst keine Gesellschaftskritik verbindet, kann sie Teil einer Protestkultur sein, die sich als Praxisform der Gesellschaftskritik manifestiert.48

46 | Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 69-90, hier S. 73. Auf S. 80 dieses Textes schreibt Foucault Folgendes zur erhellenden Erläuterung der Genealogie: Sie »kehrt die Beziehung zwischen dem Einbruch des Ereignisses und der kontinuierlichen Notwendigkeit, wie sie gewöhnlich gesehen wird, um. Eine ganze (theologische oder rationalistische) Tradition der Geschichtsschreibung möchte das einzelne Ereignis in eine ideale Kontinuität verflüchtigen: in eine teleologische Bewegung. Die ›wirkliche‹ Historie lässt das Ereignis in seiner einschneidenden Einzigartigkeit hervortreten«. 47 | Siehe dazu Daniel, Anna: Do-it-yourself-Kultur im Punk. Subkultur, Counterculture oder alternative Ökonomie?, in: Busche, Hubertus u.a. (Hg.): Kultur – Interdisziplinäre Zugänge, Wiesbaden 2018, S. 203-228. 48 | Siehe hierzu Schäfer, Franka: Protestkultur im Diskursgewimmel. Eine diskurstheoretische Erweiterung praxissoziologischer Protestkulturforschung, in: H. Busche u.a. (Hg.): Kultur, S. 127-151.

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Diese Formen der Gesellschaftskritik nicht nur zu identifizieren, sondern als Artikulationen der Gesellschaftskritik genealogisch zu erforschen und dicht zu beschreiben, muss Aufgabe einer Soziologie der Praxis der Popmusik sein. Dazu muss die soziologische Popmusikforschung jedoch grundsätzlich von der auch heute noch gar nicht so seltenen Vorstellung befreit werden, Popmusik sei per se Teil einer Kulturindustrie, die sich zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse gebildet hat und in der jede vermeintliche Subversion in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil sie in den Dienst des Kapitalismus gestellt wird.

4. S chluss : »K re ativitätsdispositiv « oder G esellschaf tskritik durch P opmusik Diese wichtige Schlussfolgerung aus meinen hier dargelegten Überlegungen zu einer Praxissoziologie des Pop möchte ich zum Schluss noch in Beziehung setzen zur aktuellen Zeitdiagnose von Andreas Reckwitz, die er auf die Konstruktion eines Kreativitätsdispositivs gründet, in das auch die Popmusik zu verorten wäre. Diese Zeitdiagnose wird durch eine praxisanalytische Untersuchung der Popmusik, wie ich sie hier konzeptionell vorschlage, infrage gestellt. Denn sie geht über Reckwitz’ Ansatz 49 insofern hinaus, weil sie nicht nur im Rock- und Popstar nach Zeichen für das Kreativitätsdispositiv sucht, sondern nach den konkreten Praxisvollzügen der Popmusik fragt, die als kreativ bezeichnete Praxisformen von der bürgerlichen Spitze der Gesellschaft in alle ihre Teile diffundieren lassen. Damit ermöglicht eine praxissoziologische Genealogie der Popmusik, die Ereignisse und Momente zu identifizieren und zu beschreiben, die in diesem Vollzug gesellschaftliche Kritik symbolisieren und dadurch nicht per se Teil eines ubiquitär wirksamen Dispositivs sind. Im Sinne von Andreas Reckwitz50 ist Popmusik ein Produkt der kreativen Industrie und insofern ein Bestandteil des Kreativitätsdispositivs in einer Ästhetisierungsgesellschaft. Denn in der Popmusik vereinigen sich nach Reckwitz Mode, Werbung, Kunst, Medien und Starsystem, sodass sie, ganz im Sinne der Kulturindustriethese Adornos, als Knotenpunkt in der durch das Kreativitätsdispositiv hervorgebrachten ästhetischen Ökonomie verstanden werden kann.51 Solche Positionen, die zunächst plausibel klingen und für die gegenwärtige Zeitdiagnose der Soziologie typisch sind, schütten am Ende das Kind mit dem Bade aus, weil sie dazu neigen, im Anschluss an die Thesen von der klassenübergreifenden Wirksamkeit von Subkulturen und Avantgardeszenen alle populärkulturellen Artikulationen als Teile einer versteckten Herrschaftsmaschinerie, also etwa eines mysteriösen Krea49 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 257. 50 | Ebd. 51 | Vgl. ebd., S. 171. In seinem neusten Buch spricht Andreas Reckwitz im Übrigen gar von einer »digitalen Kulturmaschine«, die uns alle in ihren Bann zerrt, ohne dass wir irgendetwas dagegen tun könnten. Die singuläre und einzigartige Gestaltung des Lebens erscheint hier einzig als Produkt der »Kulturmaschine«, sodass jeder Ausweg aus dem stahlharten Gehäuse der digitalen Kultur unmöglich zu sein scheint (Reckwitz, Andreas: Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, S. 215ff.).

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tivitätsdispositivs zu begreifen. Dadurch nähert sich die Gegenwartsdiagnose von Reckwitz scheinbar wieder stark den klassischen Positionen einer kritischen Gesellschaftstheorie etwa eines Walter Benjamin oder eines Theodor W. Adorno an. Allerdings denkt Reckwitz die Konsequenz einer kritischen Theorie nicht zu Ende, die darin bestehen würde, die Wirkungen der Herrschaft auf die Lebenswirklichkeit der Menschen zu identifizieren, anstatt einfach zu behaupten, das Kreativitätsdispositiv wirke ubiquitär und könne nicht einmal mehr kritisiert werden, weil es auch diese Kritik ohne Probleme absorbiere. In einer solchen Lage der Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnose scheint es mir angezeigt zu sein, den Begriff der Subversion von Judith Butler wieder stärker in Stellung gegen das soziologische Zurückweichen vor ubiquitär wirksam werdenden Herrschafts- und Machtmechanismen eines Kreativitätsdispositivs zu bringen. Dann erscheinen bestimmte Artikulationen auch in der Popmusik wie die verzerrende Intonierung der US-amerikanischen Nationalhymne oder die Do-it-yourself-Kultur des Punk als materialisierte Symbole des Widerstandes gegen Kolonialismus und hegemonialer Ausbeutung, weil sie uns durch ihre Artikulation unter bestimmten Umständen dazu bringen, unsere eigenen Praktiken der Selbstbildung genealogisch zu reflektieren. Popmusik kann Symbole dafür schaffen, dass es in der Mode, in der Kunst, in der Popkultur oder auch in der Politik so etwas gibt wie ein Entwischen aus Herrschaftsmechanismen,52 auch wenn dies gleichzeitig Teil von bestimmten Dispositiven sein mag, die aber vor allem erst einmal theoretische Konstruktionen der Soziologie sind, um die Praktiken der Gegenwart genealogisch zu reflektieren. Dann kann die alte Frage Adornos, ob ein gutes Leben im Falschen möglich ist, mit Judith Butler neu gestellt werden. Die Antwort Butlers lautet: »Wenn der Widerstand wirklich zu einer neuen Lebensweise führen soll, zu einem lebenswerteren Leben, das der ungleichen Verteilung von Prekarität entgegensteht, dann müssen Akte des Widerstands zugleich Nein zur einen Lebensweise und Ja zur anderen sagen. […] Nach meiner Auffassung lässt sich das gemeinsame Vorgehen, das den Widerstand kennzeichnet, manchmal im Sprechakt oder im historischen Kampf finden, es findet sich aber auch in jenen körperlichen Gesten der Ablehnung, des Schweigens, der Bewegung oder der Weigerung sich zu bewegen, die charakteristisch sind für Initiativen, die demokratische Grundsätze der Gleichheit und ökonomische Grundsätze der wechselseitigen Abhängigkeit allein schon durch ihr Handeln umsetzen, mit der sie eine im radikaleren und substanzielleren Sinne demokratische und interdependente Lebensweise fordern.« 53

Bestimmte Artikulationen der Popmusik können als Expression eines so verstandenen Widerstands verstanden werden. In diesem Sinne kann Popmusik nicht als Produkt einer alles beherrschenden Kulturindustrie oder als Bestandteil eines ubiquitär wirksamen und unentrinnbaren Kreativitätsdispositivs verkannt werden, das den Herrschaftsmechanismen bzw. den gesellschaftlichen Strukturen der Gegenwart lediglich Vorschub leistet. Popmusik erscheint uns dann in bestimmten ihrer Ausformungen als ein Symbol des Widerstandes in Butlers Sinne, das uns 52 | Vgl. M. Foucault: Dispositive der Macht, S. 204, siehe für das hier relevante Zitat auch oben, Anm. 11. 53 | J. Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 278.

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zur genealogischen Reflexion unserer Selbstpraktiken führen kann, um unser Leben zu ändern. Ganz in diesem Sinne ermöglicht es eine genealogisch ansetzende Praxisforschung, die vielfältige Entstehung vergangener Ereignisse wie Pop-Festivals und -Konzerte oder eine alternative Musikproduktion nachzuzeichnen, um auf diese Wese die Artikulation von Kritik und Protest zu identifizieren. Diese Artikulationen finden sich, was eine am Materiellen ansetzende Soziologie der Praxis besonders eindringlich zeigen kann, häufig nicht allein in den Texten (sayings), sondern in anderen physischen Vollzügen der Praxis. Und eine Rekonstruktion der Artikulationen, die ohne eine Genealogie der Gegenwart möglicherweise nicht sichtbar würden, trägt zuallererst dazu bei, das Bild der Praxis, wie sie sich ereignet, vielschichtiger und mannigfaltiger zu zeichnen, als es bestimmte Gegenwartsdiagnosen der aktuellen Soziologie wie etwa die von Andreas Reckwitz tun.

Unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch? Zeitdiagnostisches Wissen im Spiegel der Kritik Frieder Vogelmann

Zeitdiagnosen schillern. Sie sind – sofern erfolgreich – schlagende Deutungen der Gegenwart, in denen sich ihre Leser_innen wiedererkennen. Zeitdiagnostisches Wissen behauptet also, dass »wir uns heute«1 im Lichte des von der Zeitdiagnose hervorgehobenen Phänomens verstehen müssen. Kein Wunder, dass dieser Anspruch auf Kritik aus den Wissenschaften stößt. »Nur« eine Zeitdiagnose präsentiert zu haben, ist zumeist kein lobendes Urteil.2 Vor allem in der Soziologie und in der Philosophie wird zeitdiagnostisches Wissens als unwissenschaftlich, unphilosophisch und unkritisch entwertet. In einem Streifzug durch drei exemplarische Zeitdiagnosen und Kritiken werde ich die drei Operationen herausdestillieren, die notwendig zur Bildung zeitdiagnostischen Wissens sind. Sie sind den Wissenspraktiken soziologischer und philosophischer Forschung eng verwandt und erklären insofern, warum es gerade der Soziologie und der Philosophie nötig erscheint, sich von Zeitdiagnosen abzugrenzen: gestritten wird darum, wer diese Wissenspraktiken für sich reklamieren kann. Mein explorativer Streifzug führt über drei prominente und sehr heterogene Zeitdiagnosen, die uns heute über die Phänomene Beschleunigung, Burnout und Big Data verstehen wollen. Ihr Wissen hat einen sehr unterschiedlichen epistemischen Status: Die Beschleunigungsdiagnose versteht sich als Gesellschaftstheorie, die Burnoutdiagnose tritt als Bestimmung einer sozialen Pathologie auf, und die Debatte um Big Data findet noch größtenteils im Feuilleton statt. Dennoch wird das zeitdiagnostische Wissen jeweils mit denselben drei Operationen erzeugt, die ich am Schluss ex negativo anhand der Kritiken herausarbeite, und jeweils sind es diese Operationen, um deren Gebrauch Soziologie und Philosophie mit den Zeit1 | Die Auflösung dieser Deiktika ist keine triviale Aufgabe: Wer ist das »wir«, das beschleunigt wird, ausgebrannt ist oder sich durch Big Data verwandelt? Wann hat »heute« begonnen? 2 | So z.B. Volkmann, Ute: Soziologische Zeitdiagnostik. Eine wissenssoziologische Ortsbestimmung, in: Soziologie 44, 2015, S. 139-152, hier S. 139f.; Gross, Peter: Pop-Soziologie? Zeitdiagnostik in der Multioptionsgesellschaft, in: Prisching, Manfred (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesellschaft, Wien 2003, S. 33-64, hier S. 37f.

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diagnosen streiten. Die Heterogenität der drei Zeitdiagnosen stärkt diese Behauptungen – wenn sie denn zutreffen.

1. B eschleunigung Wir leben im Zeitalter der Beschleunigung. Niemand zeigt dies eindrucksvoller als Hartmut Rosa, dem zufolge uns heute drei Beschleunigungsformen in Atem halten: Nicht nur führt der technische Fortschritt zu immer schnelleren Produktions-, Transport- und Kommunikationsprozessen, auch der soziale Wandel und unser Lebenstempo haben sich drastisch beschleunigt. Die technische Beschleunigung, unter der Rosa eine »intentionale, technische und vor allem technologische Beschleunigung zielgerichteter Prozesse«3 versteht, sei als Steigerung der Durchschnittsgeschwindigkeit von Produktions-, Transport- und Kommunikationsprozessen leicht zu bestimmen. Mit sozialer Beschleunigung meint Rosa die »Verfallsraten von handlungsorientierten Erfahrungen und Erwartungen«,4 die intragenerational geworden seien, wie sich an den grundlegenden Institutionen unserer Gesellschaft – Familie und Lohnarbeit – zeige:5 Berufs- und Partnerwahl würden weder über mehrere Generationen hinweg stabil bleiben (intergenerational), wie in der Frühmoderne, noch auch nur über eine Generation (generational). Die Zunahme des Lebenstempos als dritte Form der Beschleunigung erweise sich an der immer größeren Menge von »Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit«,6 greif bar etwa an kürzeren Essens- und Schlafenszeiten, Arbeitsverdichtung, Multitasking etc. Die drei Beschleunigungsformen verbinden sich zu einem »Beschleunigungszirkel«:7 Dass von der Erhöhung des Lebenstempos erzeugte Gefühl permanenter Zeitnot motiviere, zeitsparende technologische Innovationen zu kreieren – mithin technische Beschleunigung zu forcieren. Diese wiederum verlange durch den von ihr verursachten Wandel der sozialen Praktiken von den Subjekten Anpassungsreaktionen und erhöhe so deren Lebenstempo. Damit freilich liegt der Gedanke nahe, sich Zeit durch neue technische Verbesserungen zu verschaffen. Einmal in Gang gekommen, würden sich die verschiedenen Beschleunigungsformen zirkulär verstärken; zudem würden sie »Anschub« von »externen Beschleunigungsmotoren«8 erhalten wie dem kapitalistischem Wettbewerb und der säkularen Überzeugung, möglichst viel in dem einzigen uns verfügbaren Leben erleben zu müssen. Eine fortlaufend sich selbst verstärkende Beschleunigung sei daher Signum unserer Zeit. Allerdings muss Rosa noch erklären, was neu an der Beschleunigung ist, was problematisch an ihr ist und warum sie trotz unübersehbar nicht-beschleunigter Prozesse und Praktiken, ja sogar trotz Entschleunigungstendenzen, allgemein gilt. 3 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, S. 124. 4 | Ebd., S. 133. 5 | Ebd., S. 178-186. 6 | Ebd., S. 135. 7 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013, S. 41. 8 | Vgl. ebd., Kap. 2.

Unwissenschaf tlich, unphilosophisch, unkritisch?

In Bezug auf den letzten Punkt argumentiert Rosa, dass es nur fünf Kategorien von Entschleunigung gebe, von denen keine einen Gegentrend darstelle.9 Während diese Frage also eine empirische sei, beantwortet Rosa die ersten beiden Fragen nach der Neuartigkeit und der Bewertung der Beschleunigung auf konzeptueller Ebene: Zwar sei die Beschleunigung heute nicht völlig neu, habe jedoch eine neue Qualität erlangt,10 seit die soziale Beschleunigung intragenerational geworden sei, weil sie damit einerseits die Ausbildung stabiler personaler Identitäten gefährde und andererseits politisch unbeherrschbare Desynchronisationseffekte zwischen sozialen Teilsystemen erzeuge. Wenn sich soziale Verhältnisse innerhalb einer Generation drastisch wandeln, verändere sich das Ausbildungsmuster personaler Identität, die immer weniger übergreifende Zusammenhänge stiften könne. Stattdessen entstehe eine bloß »situative Identität«,11 die keine »Wahrnehmung einer gerichteten Bewegung des Selbst oder des Lebens durch die Zeit« garantieren könne, d.h. keine »Entwicklungsperspektive« erlaube.12 Zugleich treten Rosa zufolge Desynchronisationseffekte zwischen der Politik und anderen sozialen Teilsystemen (insbesondere der Wirtschaft) auf,13 da zumindest demokratische Politik nur sehr eingeschränkt beschleunigungsfähig sei. Die ideologisch »Staatsschuldenkrise« benannten Probleme diverser europäischer Staaten nach den Turbulenzen des Finanzmarkts 2008 liefern anschauliche Beispiele dafür, was eine Beschleunigung aus parlamentarischen Beratungen macht.14 Während Beschleunigung auf individueller Ebene also heute die Ausbildung stabiler personaler Identitäten verunmögliche und damit die private Autonomie bedrohe, unterminiere die von ihr verursachte Desynchronisation auch die öffentliche Autonomie. Damit ist die »Zeit-Diagnose«15 der Beschleunigung in groben Strichen gezeichnet: Wir leben in einem Zeitalter der Beschleunigung, weil der selbstverstärkende Zirkel aus technischer Beschleunigung, sozialer Beschleunigung und der Beschleunigung des Lebenstempos einen intragenerationalen Wandel sozialer Verhältnisse erzeugt. Entschleunigungstendenzen verblassen dagegen, und die Zukunft sieht düster aus: Nur noch zur Ausbildung situativer Identitäten fähig, scheitern die Individuen der Spätmoderne daran, sich private Autonomie zu erkämpfen, und die temporal überforderte Politik opfert die demokratische Willensbildung einer bloß situativ entscheidenden Technokratie, um die Funktionsimperative der desynchronisierten sozialen Teilsysteme zu erfüllen. 9 | H. Rosa: Beschleunigung, S. 138-153. 10 | »[D]ie in der Moderne angelegte Beschleunigung der sozialen Verhältnisse [übersteigt] einen kritischen Punkt […] bzw. [nimmt] eine neue Qualität dergestalt an […], dass die Linearität und Sequenzialität der individuellen und gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bearbeitung von Problemen und Veränderungen aufgebrochen und der Anspruch auf Integration aufgegeben wird« (ebd., S. 349). 11 | Vgl. ebd., S. 362-390, bes. S. 373f. 12 | Ebd., S. 390. 13 | Ebd., Kapitel XII, bes. S. 395. 14 | Am Beispiel der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) nachzulesen in Caspari, Lisa/Faigle, Philip: Der fliegende Bundestag, in: Die Zeit, 26.10.2011 (URL: www.zeit. de/politik/deutschland/44-stunden-bundestag-efsf [23.10.2014]). 15 | H. Rosa: Beschleunigung, S. 38.

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2. Z eitdiagnosen und S oziologie : U nwissenschaf tlich Warum fordern Zeitdiagnosen wie diese die Soziologie heraus? Weil die Soziologie es als ihre ureigenste Aufgabe betrachtet, uns über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft aufzuklären. Sie reagiert daher mit der klassischen Grenzziehung zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Unwissenschaftlichen,16 etwa in Bernhard Peters Beschreibung von Zeitdiagnosen als »Dramatisierungen« mit einer »gewisse[n] Ähnlichkeit gegenüber den Merkmalen von Nachrichtenselektion und -präsentation, die als ›Nachrichtenwerte‹ beschrieben worden sind […]. Journalisten nutzen diese Merkmale, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen«.17 Zeitdiagnosen bestehen demnach aus Bruchstücken von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die je nach Sensationsgrad zusammengestückelt werden. Sieht Peters Zeitdiagnosen noch als »schlechte«, weil an Aufmerksamkeit statt an Wahrheit orientierte Wissenschaft, exkludiert Fran Osrecki sie vollständig aus der Wissenschaft. Nur weil die Soziologie sich noch nicht ausreichend von der Öffentlichkeit und ihren Diskursen emanzipiert habe18 und noch immer auch public sociology sei, d.h. Äußerungen öffentlicher Intellektueller als Teil ihrer wissenschaftlichen Disziplin verstehe, tue sie sich schwer damit, Zeitdiagnosen eindeutig von (echten) Gesellschaftstheorien zu unterscheiden. Wäre die Soziologie wissenschaftlich so autonom wie die Physik, wäre der »Kategorienfehler« offensichtlich, den begeht, wer Zeitdiagnosen als »schlechte oder medialisierte Wissenschaft«19 versteht: Zeitdiagnosen sind einfach keine Wissenschaft, sondern »öffentliche Debatten mit einem exotischen Thema – der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit – und einem noch relativ exklusiven Publikum – der Leserschaft mit tertiärer Ausbildung. Über den Erfolg der Zeitdiagnosen entscheiden in diesem Fall die Massenmedien und sind dabei von wissenschaftlich formulierbaren […] Einsprüchen weitestgehend unabhängig.« 20

Wenngleich Osrecki die Grenze drastischer als andere zieht, und wenngleich es in der Soziologie auch andere Stimmen gibt:21 stets wird die soziologische Ablehnung

16 | Vgl. z.B. Balog, Andreas: Der Begriff »Gesellschaft«. Konzeptuelle Überlegungen und Kritik seiner Verwendung in Zeitdiagnosen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 24, 1999, S. 66-93; Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011, S. 75f.; U. Volkmann: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 140. 17 | Peters, Bernhard: Über öffentliche Deliberation und öffentliche Kultur, in: Ders.: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 103-183, hier S. 168f. 18 | F. Osrecki: Die Diagnosegesellschaft, S. 322, 345f. 19 | Ebd., S. 322. 20 | Ebd. 21 | So verteidigt Walter Reese-Schäfer Zeitdiagnosen, weil die Soziologie ansonsten den Anschluss an die Öffentlichkeit verlöre. Statt also das Genre in Bausch und Bogen zu verwerfen, sucht er nach »Qualitätskriterien«, um gute von schlechten Zeitdiagnosen unterscheiden zu können; vgl. Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, in: Berliner Journal für Soziologie 6, 1996, S. 377-390; ähnlich Prisching, Manfred: Zeitdiagnostik als humanwissenschaftliche Aufgabe, in: Ders. (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesell-

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von Zeitdiagnosen mit der Differenz zwischen Wissenschaft/Nicht-Wissenschaft begründet. Allerdings bedarf diese epistemische Grenzziehung eines epistemischen Kriteriums, um Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden – das insofern robust sein muss, als z.B. die Beschleunigungsdiagnose beansprucht, eine wissenschaftlich fundierte »Rekonzeptualisierung der aktuellen Gesellschaftstheorie« aus »temporalanalytische[r]«22 Perspektive zu sein. Wird dazu Luhmanns Abgrenzung des sozialen Systems Wissenschaft über den Code wahr/unwahr (und den »Nebencode« Reputation) verwendet,23 verwandelt sich dieses soziologische Kriterium unter der Hand in ein epistemologisches – mit gravierenden Folgeproblemen: Denn in der Wissenschaftstheorie überwiegen längst die Zweifel daran, Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft durch ein einfaches Kriterium wie den Wahrheitscode abgrenzen zu können.24 Als Letzter hatte Sir Karl Popper geglaubt, Wissenschaft lasse sich durch die besondere Eigenschaft ihrer Theorien definieren, falsifizierbare, d.h. insbesondere empirisch widerlegbare Hypothesen zu produzieren.25 Dieser Vorschlag trifft jedoch auf eine Reihe derart schwerwiegender Probleme, dass er heute kaum noch vertreten wird.26 Der wichtigste Einwand ist historisch und begrifflich zugleich: Weil jede Theorie auf eine große Anzahl von Hilfshypothesen angewiesen ist, um eine falsifizierbare Aussage abzuleiten, liegt es nahe, beim Scheitern eines Experiments diese Hilfshypothesen, nicht aber die Theorie als widerlegt anzusehen. Nicht nur findet sich dieser Vorgang in der Geschichte der empirischen Wissenschaften häufig, die heute akzeptierten Theorien wären andernfalls kaum entstanden, da sie normalerweise zunächst gegen empiri-

schaft, Wien 2003, S. 153-195. In seinem Beitrag zu diesem Band zieht Fran Osrecki die Grenze nicht mehr ganz so scharf. 22 | H. Rosa: Beschleunigung, S. 24. 23 | Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, zu Reputation als Nebencode bes. S. 244-251. 24 | Laudan, Larry: The Demise of the Demarcation Problem, in: Cohen, Robert S./Laudan, Larry (Hg.): Physics, Philosophy and Psychoanalysis. Essays in Honor of Adolf Grünbaum 1983, S. 111-127. 25 | Popper, Karl R.: The Logic of Scientific Discovery, London 1980, S. 40f. (kursiv im Original): »I shall certainly admit a system as empirical or scientific only if it is capable of being tested by experience. These considerations suggest that not the verifiability but the falsifiability of a system is to be taken as a criterion of demarcation. In other words: I shall not require of a scientific system that it shall be capable of being singled out, once and for all, in a positive sense; but I shall require that its logical form shall be such that it can be singled out, by means of empirical tests, in a negative sense: it must be possible for an empirical scientific system to be refuted by experience.« – Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich behaupte weder, dass Luhmann sich Popper anschließt, noch dass Luhmann seine soziologische Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft epistemologisch aufgeladen hat. Doch wer sie nutzt, um etwas über den Status von Wissen zu sagen, der bürdet ihr epistemologische Begründungslasten auf, die in der Wissenschaftstheorie nach Popper kaum noch jemand zu übernehmen wagt. 26 | Dupré, John: The Disorder of Things. Metaphysical Foundations of the Disunity of Science, Cambridge 1993, S. 222.

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sche Schwierigkeiten behauptet werden mussten. Erst das hartnäckige Festhalten gegen frühe Zweifel und Fehlschläge erlaubte ihre Formulierung.27 Die soziologische Kritik an Zeitdiagnosen als unwissenschaftlich lädt also die soziologische Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft epistemologisch auf und beruft sich dabei auf ein wissenschaftstheoretisch gesehen schwer zu begründendes Kriterium – dessen epistemologische Rechtfertigung sie zudem schuldig bleibt. Doch nur um diesen Preis lassen sich Zeitdiagnosen wie Rosas temporalanalytische Diagnose einer intergenerational gewordenen Beschleunigung aus der Wissenschaft ausschließen.

3. B urnout »Die Welt im 21. Jahrhundert ist schnell, anstrengend, unberechenbar – und führt bei Millionen Deutschen zum Burnout.« Gewohnt dramatisch leitet der Spiegel 2011 seinen großen Artikel über das »Volk der Erschöpften«28 ein. Die bislang nicht offiziell als psychische Krankheit anerkannte Diagnose »Burnout«29 scheint zur Zeitdiagnose prädestiniert, da sie ein latentes Unbehagen auf den Punkt zu bringen erlaubt: Das »Ausbrennen« sei die subjektive Seite einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die vom fortwährenden (Selbst-)Optimierungsdruck eines global gewordenen Wettbewerbs bestimmt ist, in dem wir von unseren Kindern Chinesisch-Kenntnisse ab der Vorschule, einen Lebensplan zum Schulabschluss und anschließend mindestens 45 Jahre ununterbrochener Innovation, Kreativität und Professionalität verlangen würden. Ganz in diesem Sinne versteht beispielsweise Elin Thunman Burnout als »eine soziale Pathologie der Gegenwart« und sieht deren Ursachen in den »tief greifenden Transformationen […], die westliche Gesellschaften in den letzten drei, vier Jahrzehnten erlebt haben«.30 Die Pathologie speise sich aus frustrierten Authentizitätsansprüchen von Lohnarbeiter_innen und sei insofern als »soziale« Pathologie einzuordnen, als sie nicht aus individuell überzogenen Erwartungen auf die Chance zur Selbstverwirklichung in ihrer Lohnarbeit 27 | Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970, S. 146f., fasst diese Kritik sehr schön zusammen: »If any and every failure to fit were ground for theory rejection, all theories ought to be rejected at all times. On the other hand, if only severe failure to fit justifies theory rejection, then the Popperians will require some criterion of ›improb­ ability‹ or of ›degree of falsification.‹ In developing one they will almost certainly encounter the same network of difficulties that has haunted the advocates of the various probabilistic verification theories.« Vgl. auch J. Dupré: The Disorder of Things, S. 229-233. 28 | Dettmer, Markus/Shafy, Samiha/Tietz, Janko: Volk der Erschöpften, in: Der Spiegel, 24.1.2011. 29 | Nach der von der WHO erstellten International Classification of Diseases (ICD) wird Burnout unter der Nummer Z73 geführt und ist demnach keine Krankheit, sondern ein »Problem« mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensführung und als solches ein »Faktor«, der den Gesundheitszustand beeinflusst und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führt. 30 | Thunman, Elin: Burnout als sozialpathologisches Phänomen der Selbstverwirklichung, in: Neckel, Sighard/Wagner, Greta (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin 2013, S. 58-85, hier S. 58.

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herrühre, sondern aus einer paradox institutionalisierten sozialen Forderung von Authentizität: Einerseits würden Lohnarbeiter_innen in unserer Gesellschaft mit dem Ideal authentischer Selbstverwirklichung sozialisiert, andererseits gäbe diese zugleich vor, wie Lohnarbeiter_innen authentisch zu sein haben. Daraus resultiere ein Konflikt zwischen »freier« und »standardisierter« Selbstverwirklichung, der »häufig darin zum Ausdruck [kommt], dass der Arbeitgeber von den Beschäftigten zwar eine persönliche Beziehung zu ihrem Job und die Übernahme von Verantwortung [einfordert], dass er ihnen aber nicht die Ressourcen zur Verfügung [stellt], diese Forderungen angesichts von Stellenkürzungen und Restrukturierungsmaßnahmen auch umzusetzen.« 31

Gestützt auf Axel Honneths Beschreibung zunehmender »Paradoxien« im gegenwärtigen Kapitalismus32 deutet Thunman Burnout als Paradoxie der Selbstverwirklichungsnorm und damit als soziale Pathologie der Gegenwart. Honneth selbst steht dieser Zeitdiagnose allerdings ambivalent gegenüber. Einerseits legt er sie nahe, wenn er den Anstieg psychischer Erkrankungen wie Depression oder Burnout mit Alain Ehrenberg einem »Umschlag des Ideals der Selbstverwirklichung in ein Zwangsverhältnis«33 geschuldet sieht. Andererseits zweifelt er in einem jüngeren Aufsatz daran, da auch medizinische Diagnosen Moden unterlägen, die erklärten, »warum sich nun schon seit einigen Jahrzehnten die Prophezeiungen über jeweils zeittypische Erkrankungen der Psyche (Narzissmus, Borderline, Depression, Burnout) in so schneller Abfolge ablösen«.34 Sitzen Zeitdiagnostiker_innen mit Burnout also einer bloßen »Modediagnose«35 auf, die nicht zur sozialen Pathologie der Gegenwart taugt? Wer unsicher geworden ist, greift zur Reflexionssteigerung. Burnout mag als Diagnose umstritten sein, unstrittig ist, dass diese Diagnose zunehmend verwendet wird – sowohl von Ärzt_innen und Wissenschaftler_innen als auch von den Betroffenen selbst.36 Nicht die vermeintliche Krankheit Burnout, die bereitwillige Aufnahme dieser Diagnose sage etwas über die Selbstverständnisse in unserer Gesellschaft, so die reflexiv gewendete Zeitdiagnose von Ulrich Bröckling. Diagnosen von Zeitkrankheiten wie Burnout (oder Hysterie, Stress etc.) halten

31 | Ebd., S. 75. 32 | Honneth, Axel/Hartmann, Martin: Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung. Ein Untersuchungsprogramm, in: Honneth, Axel (Hg.): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 222-248. 33 | Honneth, Axel: Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung, in: Ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 202-221, hier S. 220. Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008. 34 | Honneth, Axel: Die Krankheiten der Gesellschaft. Annäherung an einen nahezu unmöglichen Begriff, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 11, 2014, S. 45-60, hier S. 49. 35 | Z. B. Kaschka, Wolfgang P./Korczak, Dieter/Broich, Karl: Modediagnose Burnout, in: Deutsches Ärzteblatt 108, 2011, S. 781-787. 36 | Vogelmann, Frieder: Eine erfundene Krankheit? Zur Politik der Nichtexistenz, in: S. Neckel/G. Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung, S. 148-161.

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Frieder Vogelmann »den Zeitgenossen einen Spiegel [vor]. Sie reflektieren, was diese fürchten, worunter sie leiden und woran sie scheitern – und zeigen dadurch ex negativo die Fluchtpunkte gegenwärtiger Lebensführung, die Vorstellung darüber, wie die Einzelnen sich heute selbst begreifen, wie sie an sich arbeiten und für sich sorgen sollen.« 37

Beobachtet die direkte Zeitdiagnostikerin Burnout in der Gesellschaft, beobachtet der reflexiv distanzierte Zeitdiagnostiker Burnout als eine Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Beide erzielen jedoch dasselbe Ergebnis. Bröckling arbeitet anhand der dominanten Metaphern in Burnout-Ratgebern die Widersprüchlichkeit der darin »implizite[n] Anthropologie und Gesellschaftstheorie«38 heraus, die das Subjekt als aus der Balance geratenes Zusammenspiel zweier Hälften verstehen, die es wieder ins Gleichgewicht zu bringen gilt: Den leidenschaftlichen Arbeiter soll dessen Vernunft zur funktionalen Selbstschonung anhalten; der erschöpften Maschine wird eine beobachtende Instanz zur Seite gestellt, die diese Maschine »entweder zu optimieren sucht oder ihren Rückbau zu einem fühlenden Wesen einleitet«;39 den im Hamsterrad Laufenden wird empfohlen, sich ihr Gefängnis Gesellschaft, dem sie nicht entkommen können, wenigstens gemütlicher einzurichten. Jeweils sei Burnout diesen impliziten Anthropologien zufolge ein »Gleichgewichtsproblem«40 und stimme darin mit der Ökonomietheorie überein. Insofern sei Burnout die angemessene Krankheit einer vollständig ökonomisierten Gesellschaft, die begonnen habe, ihre Leitwissenschaft auch für medizinische Diagnosen ihrer Mitglieder zu benutzen. Ihre Therapievorschläge läsen sich »wie aus einer Bauanleitung für Ich-AGs«,41 da sie auf verstärkte Selbstkontrolle durch Bilanzierung des eigenen »Energiehaushalts« abzielen. Auch die reflexive Zeitdiagnose darf also in Burnout ein Signum unserer heutigen Gesellschaft als einer ökonomisierten Selbstoptimierungsgesellschaft erkennen.

4. Z eitdiagnosen und P hilosophie I: U nphilosophisch Anders als die Soziologie kann die Philosophie die Differenz »wissenschaftlich/ unwissenschaftlich« schlecht verwenden, ist doch ihr eigener Status als »Wissenschaft« höchst problematisch.42 Aber muss sie sich überhaupt gegen Zeitdiagnosen verwahren? Zielen ihre Fragen wie »Was ist Wissen?«, »Können wir Moral begründen?« oder »Wie ist das Schöne zu bestimmen?« nicht auf ewigen Wahrheiten? Gegen dieses ahistorische Verständnis von Philosophie nähert Georg Wilhelm Friedrich Hegel Philosophie und Zeitdiagnose einander an:

37 | Bröckling, Ulrich: Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Konturen einer Zeitkrankheit, in: S. Neckel/G. Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung, S. 179-200, hier S. 181 (kursiv im Orig.). 38 | Ebd., S. 182. 39 | Ebd., S. 188. 40 | Ebd., S. 194. 41 | Ebd., S. 197. 42 | Zu den historischen Hintergründen vgl. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 118-137.

Unwissenschaf tlich, unphilosophisch, unkritisch? »Das was ist zu begreifen ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« 43

Damit zwingt Hegel die gegenwärtige (Sozial-)Philosophie zur Abgrenzung – und auch sie ergibt sich aus der mit seinem berühmt-berüchtigtem Diktum gesetzten »Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit«:44 Erstens ist festzuhalten, dass »Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst« nicht einfach die Aufgabe der Philosophie beschreibt. Hegel behauptet stattdessen, dass nur Philosophie ist, was diese Aufgabe erfüllt – die damit zum Kriterium der Differenz Philosophie/Nicht-Philosophie wird. Welche Zeit die Philosophie in Gedanken fasst, ist allerdings doppeldeutig: Einerseits verweist Hegels Satz auf die Gegenwart. Wie jede_r ein Kind ihrer bzw. seiner Zeit ist (auch wenn Hegel nur Männer kennt), ist die Philosophie die gedachte Gegenwart. Demnach besitzt die Vernunft einen Zeitindex, was auf Hegels für seine Zeit »revolutionären« Historismus verweist und es ermöglicht, ihn als Beginn einer philosophischen Tradition anzusehen, die wir als »kritische Theorie« im weiten Sinne bezeichnen können.45 Ihr Anspruch, die Gegenwart in Gedanken erfassen zu können, ist freilich enorm, zumal wenn man, wie Hegel, die Vernünftigkeit dieser Gegenwart bestimmen will: Denn wenn die Gegenwart dasjenige ist, was derzeit wirklich ist, und wenn zudem »das was ist, […] die Vernunft [ist]«,46 so ist die Philosophie das Denken der gegenwärtigen Vernunft. Andererseits kann »ihre Zeit« die gedachte Zeit der Philosophie meinen, die keineswegs mit ihrer historischen Zeit übereinstimmen muss: »Es geht nicht um einen objektiven Zeitabschnitt, eine Phase, die zwischen zwei Eckdaten abläuft und insofern bestimmbar ist. Eher müsste man sagen: Das, was die Philosophie in Gedanken fasst, das ist ihre Zeit.« 47 Es gibt demnach eine Eigenzeit der Philosophie, die einer anderen Stelle aus Hegels Vorrede zufolge ohnehin verspätet ist, da »die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«48 beginnt. In beiden Fällen ist Philosophie nicht »zeitlos«; vielmehr ist Philosophie nach diesen ersten zwei Konsequenzen aus Hegels Zitat ohne ein von ihr selbst mitbe43 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Frankfurt a.M. 2010, S. 26 (Hervorh. im Orig.). 44 | Ebd., S. 24. 45 | Zum revolutionären Historismus vgl. Beiser, Frederick C.: Hegel’s Historicism, in: Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 270-300, zur kritischen Theorie Honneth, Axel: Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie, in: Ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 2007, S. 28-56, hier S. 32. 46 | G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 26 (Hervorh. im Orig.). 47 | Dalferth, Ingolf U.: Philosophie ist »ihre Zeit in Gedanken erfasst«, in: Hegel-Jahrbuch 19, 2013, S. 36-50, hier S. 43. Dalferth gibt anschließend allerdings als Kriterium »guter« Philosophie aus, dass sie ihrer Gegenwart angemessen ist. Dann jedoch gäbe es objektive »Eckdaten« und Dalferth würde in die erste Interpretationsmöglichkeit von Hegels Satz zurückfallen. 48 | G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28.

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dachtes, explizit gemachtes Verhältnis zu »ihrer Zeit«, nicht nur misslungene oder schlechte, sondern keine Philosophie. Die Philosophie soll sich jedoch drittens nicht einfach gegenwärtigen Themen zuwenden: Denn Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst. Zeitdiagnosen erfassen zwar ihre Zeit, verzichten aber auf das Denken. Philosophie ist also nur dasjenige Denken, das sich zu seiner Zeit als ein Denken des in dieser Zeit Vernünftigen sive Wirklichen verhält. »Bloßen« Zeitdiagnosen fehlt genau diese Verbindung aus Vernunft und Wirklichkeit; sie erfassen ihre Zeit, ohne unterscheiden zu können, was in ihr Vernunft und was Unvernunft ist. So liegen sie mal richtig, mal sitzen sie Moden auf, ohne angeben zu können, was der Unterschied zwischen beidem ist. In diesem Sinne sind sie »blind« für ihre Zeit. Schon diese drei Bemerkungen zu Hegels Satz lassen erkennen, wie sich eine ganze philosophische Tradition durch ihre Beziehung zur Wirklichkeit definiert, in der sie das Vernünftige vom gegenwärtig bloß Vorhandenen trennt. So werden die »Spuren der Vernunft« in der Gegenwart sicht- und deutbar, die sich die Gesellschaft aneignen muss, um ihrerseits vernünftig zu sein.49 Nur die Orientierung am jeweils höchstentwickelten Rationalitätsstandard einer objektiven Vernunft erlaube den Gesellschaftsmitgliedern ein gelingendes, d.h. insbesondere sinnerfülltes Leben. Philosophie als ihre Zeit in Gedanken gefasst ist damit eine Explikation dieser in unserer Gesellschaft heute möglichen Vernunft – und ist deshalb, folgt man Axel Honneth, auf die Aufgabe kritischer Sozialphilosophie verpflichtet. Die zentrale Bedingung, um diese Aufgabe rational nachvollziehbar und eben nicht zeitdiagnostisch-impressionistisch zu lösen, liege in der Forderung nach einem begründbaren und begründeten »normativen Gesellschaftsideal«: »Von den Gesellschaftsmitgliedern muß gesagt werden können, daß sie nur dann gemeinsam ein gelingendes, nicht entstelltes Leben zu führen vermögen, wenn sie sich alle an Prinzipien oder Institutionen orientieren, die sie als vernünftige Ziele ihrer Selbstverwirklichung begreifen können; jede Abweichung von dem damit umrissenen Ideal muß insofern zu einer sozialen Pathologie führen, als die Subjekte erkennbar an dem Verlust allgemeiner, kommunaler Ziele leiden.« 50

Damit wird deutlich, wie sich die Beschäftigung der Sozialphilosophie mit der Gegenwart dem eigenen Selbstverständnis nach von Zeitdiagnosen unterscheidet: Diese sind »unphilosophisch«, weil sie die Differenz von aktuell vorhandener Vernunft/Wirklichkeit und stets ebenfalls gegenwärtiger Irrationalität/Schein verfehlen und weil sie ihre normativen Überschüsse, d.h. ihre in die Diagnosen eingehenden Wertungen nicht ausweisen können. Honneths Zweifel daran, dass Burnout tatsächlich eine »soziale Krankheit« darstellt, führt diese Abgrenzung der Sozialphilosophie von Zeitdiagnosen exemplarisch vor: Was Honneth davon abhält, in »Burnout« eine soziale Pathologie zu erblicken, leitet sich aus seinen Überlegungen zur ontologischen und phänomenologischen Bedingung ab, überhaupt von »sozialer Pathologie« sprechen zu können.

49 | Ich schließe hier und im folgenden Satz an Formulierungen in A. Honneth: Eine soziale Pathologie der Vernunft, S. 32, an. 50 | Ebd., S. 33f.

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Die ontologische Bedingung betrifft, was Honneth das »Zurechnungsproblem«51 nennt. Welche Entität wird von einer sozialen Pathologiediagnose als krank bezeichnet: die individuellen Mitglieder der Gesellschaft, das Kollektiv als Großsubjekt oder die Gesellschaft selbst? Weil soziale Krankheiten als massenhaftes Auftauchen derselben individuellen Symptome anzusehen Honneth analytisch zu schwach erscheint und die zweite Alternative kaum sinnvoll auszubuchstabieren sei, plädiert er dafür, von »Sozialpathologien« nur dort zu sprechen, wo die Gesellschaft selbst betroffen ist, »die nicht in der Summe des Verhaltens ihrer Mitglieder aufgeht«.52 Daher klaffe zwischen individueller und sozialer Krankheit eine »ontologische Differenz«,53 so dass wir nicht im selben Sinne von einer ausgebrannten Gesellschaft und von ausgebrannten Lohnarbeiter_innen sprechen könnten. Im Begriff einer »sozialen Pathologie« müsse das »sozial« daher als Bestimmung der ontologischen Referenz verstanden werden. Die phänomenologische Bedingung knüpft an den Krankheitsbegriff an. Gegen Sigmund Freud und Alexander Mitscherlich argumentiert Honneth, dass die Analogie zur individuellen Krankheit nicht soweit vernachlässigt werden darf, dass jede Störung der gesellschaftlichen Reproduktion zur sozialen Pathologie erklärt wird. Institutionelle »Fehlentwicklungen« in einem der drei notwendigen Funktionskreise einer Gesellschaft – Regulierung von innerer und äußerer Natur sowie die Regulierung der intersubjektiven Beziehungen – können nicht schon als soziale Pathologie gelten, weil dann die Eigenheit von Krankheiten, »mit einer irgendwie als Freiheitseinschränkung erlebten Beeinträchtigung zu tun [zu] haben«,54 verloren gehe. Die Analogie lasse sich nur aufrechterhalten, wenn man soziale Pathologien höherstufig als »Reibungen« im Zusammenspiel der für die drei Funktionskreise gefundenen gesellschaftlichen institutionellen Arrangements begreife: »Solche Reibungen und Spannungen haben mit individuellen Krankheiten gemeinsam, dass sie ein gestörtes Verhältnis eines Subjekts, sei es der Person oder der Gesellschaft, zu sich selbst anzeigen; und die Freiheitseinschränkung, die zu unserem Begriff der ›Krankheit‹ gehört, besteht im Fall der Gesellschaft darin, dass die institutionellen Lösungen der einzelnen Funktionsbereiche sich wechselseitig im Weg stehen und an einer gedeihlichen Entfaltung hindern.« 55

Was also mit dem Begriff der sozialen Krankheit zwangsläufig einhergehe, sei die Vorstellung der Gesellschaft als Organismus.56 Diese begrifflichen Bedingungen explizieren den Anspruch, der mit einer Pathologiediagnose erhoben und eingelöst werden muss: Wer Burnout zur charakteristischen Sozialpathologie unserer Zeit erklärt, müsste die daran erkrankte Gesellschaft auf der Ebene ihrer Selbstreproduktion im Zusammenspiel ihrer basalen institutionellen Arrangements als empfindlich gestört erweisen können. Burnout müsste also als Indiz für ein Versagen dargestellt werden können, das bei der Ko51 | A. Honneth: Die Krankheiten der Gesellschaft, S. 50; vgl. auch ebd., S. 46. 52 | Ebd., S. 50. 53 | Ebd., S. 49. 54 | Ebd., S. 58. 55 | Ebd., S. 59. 56 | Ebd., S. 59f.

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ordination der drei Regulierungsaufgaben von innerer und äußerer Natur sowie der intersubjektiven Beziehungen auftritt. Davon allerdings scheint ein problematischer Faktor, der zur verstärkten Inanspruchnahme der Gesundheitssysteme durch die Mittelschicht führt,57 weit entfernt zu sein. Der schwächste Punkt dieser Abgrenzungsstrategie ist das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit. Selbst Honneths radikal deflationiertes Verständnis von Hegels metaphysischer These bleibt an die Fiktion einer höchstentwickelten Rationalität gebunden, denn nur dann findet die Spurensuche nach Vernunftfragmenten in der Gegenwart, die bei Honneth »normative Rekonstruktion« heißt,58 die Spuren einer Vernunft, die als einheitlicher Geist unserer Gegenwart von der Philosophie gedacht werden kann. Doch diese notwendige Unterstellung verhindert, was die Stärke von Zeitdiagnosen ausmacht: Neues in der Gesellschaft aufzuspüren. Das zeigt sich exemplarisch an Honneths Behandlung des Marktes. Weil Honneth die idealisierte Vorstellung des Marktes von Durkheim und Hegel übernimmt, anstatt von den gegenwärtigen Institutionen auszugehen, gilt ihm der Markt als Institutionalisierung sozialer Freiheit, dessen Legitimität an der Norm wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung gemessen werden kann.59 Doch selbst wenn man zugestünde, dass dies dem vom Tausch her gedachten Markt des 18. und 19. Jahrhunderts gerecht wird, ist fraglich, inwieweit das für den in der der Ökonomie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Wettbewerb statt vom einzelnen Tauschakt her konzipierten Markt zutrifft.60 Ist Konkurrenz nicht die Folge von Tauschprozessen, sondern folgen diese umgekehrt aus dem Wettbewerb, ist die wechselseitige Bedürfnisbefriedigung über den Austausch keine konstitutive Norm des Marktes. Das mag aus Sicht einer normativ orientierten Sozialphilosophie schwer verdaulich sein, leitet aber die Architekt_innen der Institutionalisierung dieser Sphäre, die nicht den ökonomischen Theorien einiger Denker des vorletzten Jahrhunderts folgen. Hier wirkt Hegels Forderung, nur das Vernünftige als Wirklichkeit anzuerkennen, wie eine Scheuklappe, die den Philosoph_innen nur eine ideale Norm »am Grunde« des Marktes sehen lässt. Die Abgrenzung der Sozialphilosophie von Zeitdiagnosen über das Kriterium der Vernunft in der Gegenwart führt insofern zu einer Philosophie, die der bekannten Vernunft den Vorzug vor dem unbekannten Neuen gibt. So muss man wohl schließen, dass die in Gedanken gefasste Zeit der Philosophie nicht »unsere Zeit« ist, ja vielleicht sogar, dass diese Eulen der Minerva selbst die Dämmerung verpasst haben.

57 | Vgl. WHO: International Classification of Diseases, Z73. 58 | Vgl. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, S. 17-31. Eine scharfsinnige Kritik dieser Methode liefert Schaub, Jörg: Misdevelopments, Pathologies, and Normative Revolutions: Normative Reconstruction as Method of Critical Theory, in: Critical Horizons 16, 2015, S. 107-130. 59 | »[N]icht an lebensweltlichen Imperativen oder den Werten benachbarter Subsysteme soll die Eigengesetzlichkeit des Marktes auf ihre normativen Grenzen stoßen, sondern an dem ihre ganze Legitimität ausmachenden Versprechen, durch Tauschprozesse zu einer komplementären Ergänzung individueller Handlungsabsichten beizutragen« (A. Honneth: Das Recht der Freiheit, S. 348). 60 | Zur Entwicklung dieser Umstellung im ökonomischen Denken vgl. Dennis, Kenneth G.: Competition in the History of Economic Thought, New York 1977.

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5. B ig D ata Die jüngste meiner drei Zeitdiagnosen stellt mit Big Data ein Phänomen ins Rampenlicht, das gleichermaßen der Informatik, der Statistik wie dem Marketingjargon entstammt.61 Technisch bestimmt, meint Big Data eine Datenmenge, die die derzeit »normale« Technik nur »unbequem« verarbeiten kann.62 Funktional definiert, sind Datenmengen »groß«, wenn sie neue Analysemöglichkeiten eröffnen: »Big Data ist das, was man in großem, aber nicht in kleinem Maßstab tun kann«.63 So basiert Google Translate auf statistischen Auswertungen, die hoffnungslos in die Irre führen würden, könnten sie nicht auf mehr als 95 Milliarden englische Sätze und deren Übersetzungen zurückgreifen; die drei Millionen Sätze, mit denen IBM in den 1990er Jahren maschinelle Übersetzungen signifikant verbessern konnte, wären nicht ansatzweise ausreichend.64 Ideologiekritisch verstehen danah boyd und Kate Crawford Big Data, indem sie zu den genannten Bestimmungen den mythologischen Glauben hinzunehmen, »dass große Datensätze uns Zugang zu einer höheren Form der Intelligenz und des Wissens verschaffen, die neue, bislang unmögliche Einsichten generieren, Einsichten, die eine Aura der Wahrheit, der Objektivität und der Genauigkeit umgibt«.65 Deutlich wird an diesen Definitionen, dass Big Data stets auf Analysemethoden und -techniken verweist. Sie und ihre Bedeutung für unseren kognitiven Zugriff auf die Welt stehen im Zentrum der auf dem Phänomen Big Data basierenden Zeitdiagnosen. Exemplarisch verdeutlichen das Viktor Mayer-Schönberger und Kenneth Cukier, denen zufolge Big Data zu »drei Umwälzungen in unserer Art der Informationsanalyse [führt], die sich auf Selbstverständnis und Organisation der Gesellschaft auswirken« 66 und die die Autoren mit »mehr [more]«, »unscharf [messy]« und »gut genug [good enough]«67 erläutern. Mehr Daten analysieren zu können habe dramatische Auswirkungen, weil nicht nur einzelne, aufwendig zusammengestellte und dank elaborierter Hypothesen repräsentative Stichproben untersucht werden, sondern immer häufiger schlicht alle Daten: Kreditkartentransaktionen etwa könnten vollständig und in Echtzeit auf Auffälligkeiten überwacht werden.68

61 | Zur Herkunft des Begriffs »Big Data« vgl. Diebold, Francis X.: A Personal Perspective on the Origin(s) and Development of »Big Data«: The Phenomenon, the Term, and the Discipline, PIER Working Paper 13-003, S. 5. 62 | So Snijders, Chris/Matzat, Uwe/Reips, Ulf-Dietrich: »Big Data«. Big Gaps of Knowledge in the Field of Internet Science, in: International Journal of Internet Science 7, 2012, S. 1-5, hier S. 1: »Big Data is a loosely defined term used to describe data sets so large and complex that they become awkward to work with using standard statistical software.« 63 | Mayer-Schönberger, Viktor/Cukier, Kenneth: Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird, München 2013, S. 13. 64 | Ebd., S. 52. 65 | boyd, danah/Crawford Kate: Big Data als kulturelles, technologisches und wissenschaftliches Phänomen. Sechs Provokationen, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit, Berlin 2013, S. 187-218, hier S. 189. 66 | V. Mayer-Schönberger/K. Cukier: Big Data, S. 20. 67 | Ebd. 68 | Ebd., S. 39f.

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Die Folgen für die quantitativ vorgehenden Sozialwissenschaften hat Chris Anderson, der ehemalige Chefredakteur von Wired, provokant zusammengefasst: »Wir leben in einer Welt, in der riesige Mengen von Daten und angewandte Mathematik alle anderen Werkzeuge ersetzen, die man sonst noch so anwenden könnte. Ob in der Linguistik oder in der Soziologie: Raus mit all den Theorien des menschlichen Verhaltens! Vergessen Sie Taxonomien, die Ontologie und die Psychologie! Wer weiß schon, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich gerade verhalten? Der springende Punkt ist, dass sie sich so verhalten und dass wir ihr Verhalten mit nie gekannter Genauigkeit nachverfolgen und messen können. Hat man erst einmal genug Daten, sprechen die Zahlen für sich selbst.« 69

Mit dem Zugewinn an verarbeitbaren Daten würden Theorien überflüssig; mit statistischen Methoden könnten alle von unseren »alten« Theorien erklärt und vorhergesagten Effekte in den Daten direkt entdeckt oder widerlegt werden.70 Die erste von Big Data verursachte Transformation in unserem Denken sei also der Verzicht auf substanzielle Theorien. Die zweite Umwälzung liege darin, mit fehlerhaften Daten zu arbeiten anstatt Zeit darauf zu verwenden, Datenmengen von Fehlern zu säubern. Um auf das Beispiel Google Translate zurückzukommen: Natürlich hat kein Mensch die ungeheure Satzmenge überprüft, die der Algorithmus nutzt. Nicht nur arbeitet er ohne Rückgriff auf umfassende linguistische Theorien (erste Umwälzung), er funktioniert auch ohne Qualitätsprüfung der Daten; die schiere Menge ist für gute Übersetzungsergebnisse wichtiger als die Richtigkeit der Sätze. Mayer-Schönberger und Cukier extrapolieren daraus eine Lektion: »Letztlich erfordert der Umgang mit Big Data womöglich, dass wir uns ändern und uns leichter mit Unschärfe, Unordnung und Ungewissheit abfinden. Die Strukturen der Genauigkeit, die uns Halt im Leben geben […], sind womöglich dehnbarer, als wir zugeben möchten, und doch bringt es uns der Realität näher, wenn wir diese Elastizität nicht nur zugeben, sondern uns zunutze machen.« 71

Sie fordern also, das probabilistische Denken der Statistik allgemein zu übernehmen – woran sich gut erkennen lässt, dass die mit Big Data einhergehenden Veränderungen weniger einen Bruch mit unserer Gegenwart bedeuten als vielmehr eine Radikalisierung von in ihr bereits langfristig wirkenden Tendenzen – schließlich entsteht die »probabilistische Vernunft« 72 bereits im 19. Jahrhundert.73

69 | Anderson, Chris: Das Ende der Theorie, in: H. Geiselberger/T. Moorstedt (Hg.): Big Data, S. 124-130, hier S. 126. 70 | V. Mayer-Schönberger/K. Cukier: Big Data, S. 93f., sind deutlich zurückhaltender: Dass man teilweise auf Stichproben verzichten und die Grundgesamtheit direkt analysieren kann, heißt für sie nicht, dass Theorien (jenseits der Statistik) insgesamt überflüssig werden. 71 | Ebd., S. 65 (Hervorh. im Orig.). 72 | Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 171. 73 | Vgl. Hacking, Ian: The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1975; Porter, Theodore M.: The rise of statistical thinking, 1820-1900, Princeton, NJ 1986; Hacking, Ian: The Ta-

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Die dritte Transformation in unserem Denken ergebe sich aus den beiden ersten. Ein Mehr an Daten, das qualitative Auswirkungen auf unsere Analysemethoden und -fähigkeiten hat, sowie ein toleranter(er) Umgang mit Ungenauigkeiten führe zu einer neuen Vorstellung davon, was Ziel der Analysen sei: Vorhersagen, die nicht auf Kausalitäten beruhen, sondern auf Korrelationen – denn diese seien »gut genug«, um einzugreifen. Beispielsweise versucht das »Predictive Policing«, mithilfe aller möglicher Datenquellen auf die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen an bestimmten Orten zu schließen und die Ressourcen der Polizei danach zu vergeben – in der einfachsten Version, indem Patrouillen je nach Verbrechenswahrscheinlichkeit auf Viertel oder Plätze verteilt werden. Ambitioniertere Varianten wollen potentielle Täter_innen präventiv für einige Zeit festhalten oder ihr Strafmaß an ihr Rückfallrisiko koppeln.74 Abermals demonstriert das Beispiel, das die von Big Data »initiierte« Umwälzung in Kontinuität mit langfristigeren Veränderungen steht. Bereits in den 1980er Jahren wurde heftig über die Umgestaltung der Kriminalpolitik aufgrund neuer statistischer Methoden debattiert,75 und Franz von Liszt forderte schon 1883, »Gewohnheitsverbrecher« anhand von Kriminalstatistiken auszusieben und kein Geld für Versuche ihrer Resozialisierung auszugeben, denn »[s]olche Leute in Zellengefängnissen um teures Geld bessern zu wollen, ist einfach widersinnig; sie nach Ablauf von einigen Jahren gleich einem Raubtier auf das Publikum loszulassen bis sie, nachdem sie wieder drei bis vier neue Verbrechen begangen haben, in ein oder zwei Jahren neuerdings eingezogen und wiederum ›gebessert‹ werden: das ist mehr und ist etwas anderes als widersinnig.« 76

ming of Chance, Cambridge 1990; Desrosières, Alain: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005. 74 | Viele dieser Vorschläge sind nicht neu. Vgl. beispielsweise zu je nach Risikovorhersage gesteuerten Polizeieinsätzen Ericson, Richard V./Haggarty, Kevin D.: Policing the Risk Society, Toronto 1997, S. 133-155, und zur »gezielten Unschädlichmachung [selective incapacitation]« rückfallträchtiger Straftäter_innen Greenwood, Peter W.: Selective Incapacitation, Santa Monica 1982. 75 | Frühe einflussreiche, pessimistisch bis dystopische Diagnosen stammen bspw. von Reichman, Nancy: Managing Crime Risks. Toward an Insurance Based Model of Social Control, in: Research in Law and Social Control 8, 1986, S. 151-172; Simon, Jonathan: The Ideological Effects of Actuarial Practices, in: Law & Society Review 22, 1988, S. 771-800; Feeley, Malcolm M./Simon, Jonathan: The New Penology. Notes on the Emerging Strategy of Corrections and Its Implications, in: Criminology 30, 1992, S. 449-474; O’Malley, Pat: Risk, Power and Crime Prevention, in: Economy and Society 21, 1992, S. 252-275; Feeley, Malcolm M./ Simon, Jonathan: Actuarial Justice. The Emerging New Criminal Law, in: Nelken, David (Hg.): The Futures of Criminology, London/Thousand Oaks/New Delhi 1994, S. 173-201. Dagegen besteht Pat O’Malley auf der politischen Flexibilität der probabilistischen Vernunft, die auch anders genutzt werden könne (O’Malley, Pat: Crime and Risk, Los Angeles u.a. 2010, S. 5). Ähnlich argumentiert Lucia Zedner, die sich sowohl gegen eine kategorische Ablehnung als auch gegen eine naive Affirmation der probabilistischen Vernunft ausspricht (Zedner, Lucia: Security, London/New York 2009). 76 | Liszt, Franz von: Der Zweckgedanke im Strafrecht, Frankfurt a.M. 1968, S. 33.

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Insgesamt führt Big Data zu einem Primat der Intervention: Korrelationen reichen aus, um einzugreifen, ohne die kausalen Vorgänge zu begreifen.77 Mit Anderson gefragt: Wen interessiert schon, warum ein Mensch ein Verbrechen begeht, solange ich schnell genug weiß, dass er es wahrscheinlich hier und an diesem Tag verüben wird und ich ihn also daran hindern kann? Auf einen Nenner gebracht, betreffen die von Mayer-Schönberger und Cukier hervorgehobenen drei Umwälzungen allesamt neue Prognosefähigkeiten. Die sozialen Effekte von Big Data hängen demnach davon ab, wie wir diese Prognosefähigkeit verwenden und welche Verhaltensanpassungen stattfinden (werden). Ob wir die schöne neue Welt, die uns Big Data eröffnet, preisen oder perhorreszieren, ihr Kern ist die Herrschaft der probabilistischen Vernunft: Das Zeitalter von Big Data ist das Zeitalter einer Gesellschaft, die sich selbst in immer mehr halbwegs korrekten Risikokalkülen und Korrelationen nur noch soweit verständlich zu machen sucht, bis dieses Verständnis »gut genug« ist, um einzugreifen.

6. Z eitdiagnose und P hilosophie II: U nkritisch Im Ausgang von Hegel tritt die Philosophie als »ihre Zeit in Gedanken gefasst« in Konkurrenz zu Zeitdiagnosen, von denen sie sich durch ein philosophisches »Denken« der Vernunft statt dem bloßen Erfassen der Realität abgrenzt. Allerdings muss sie dafür an der Einheit der Vernunft festhalten – und diese droht, gesellschaftliche Neuentwicklungen zu verdecken. Doch es gibt noch eine zweite philosophische Tradition, die Philosophie eng an ihre Gegenwart bindet und besonders von Michel Foucault betont wird: »Ich bemühe mich um eine Diagnose der Gegenwart; ich versuche zu sagen, was wir heute sind und was das, was wir heute sagen, bedeutet. Diese Ausgrabungsarbeit unter unseren eigenen Füßen ist seit Nietzsche typisch für das zeitgenössische Denken, und in diesem Sinne kann ich mich als Philosophen bezeichnen.« 78

Zwei Fragen stellen sich: Wie unterscheidet sich Foucaults diagnostische Tätigkeit von Hegels philosophischem Denken der Gegenwart? Und welchen Unterschied kann die Philosophie gegenüber Zeitdiagnosen beanspruchen? Foucaults Diagnosen entstehen, indem er die Gegenwart als Konglomerate aus Praktiken entlang der drei Achsen des Wissens, der Macht und der Selbstverhältnisse analysiert, wobei Foucaults Perspektive jeweils auf Legitimationsfragen verzichtet sowie Universalbegriffe historizistisch und nominalistisch auflöst. Auf der Achse des Wissens geht es folglich darum, wie eine Aussage wahrheitsfähig wurde, nicht ob sie zu Recht für wahr oder für falsch gehalten wird; auf der Achse der Macht fragt Foucault statt nach der Rechtfertigung nach dem Wie der Machtausübung; und auf der Achse der Selbstverhältnisse werden die Praktiken der Subjekt-

77 | V. Mayer-Schönberger/K. Cukier: Big Data, S. 82f. 78 | Foucault, Michel: »Wer sind Sie, Professor Foucault?« (Nr. 50), in: Ders.: Dits et Écrits, 4 Bde., Frankfurt a.M. 2001-2005, Bd. 1, S. 770-793, hier S. 776.

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werdung analysiert und nicht ein authentisches Subjekt.79 Ist mit diesem »Wertentzug« 80 die »archäologische« Dimension der Gegenwartsdiagnose umrissen, ergänzt die »genealogische« Dimension die Praktikenanalyse um eine historische Perspektive. Denn Foucaults Ziel ist nicht allein festzustellen, welche Wissensformationen, Machtmechanismen und Subjektivierungsregime es gibt, sondern deren kontingente Entstehung in sozialen Kämpfen zu zeigen. Im Gegensatz zu Hegel schreibt Foucault Genealogien vieler, miteinander kämpfender Vernünfte, nicht die Geschichte der Vernunft. Soll beispielsweise die probabilistische Vernunft, die in Big Data zum endgültigen Durchbruch gelangt, als spezifische Rationalität begriffen werden, darf sie nicht nur als politische Wissenstechnologie erkannt werden, die – keineswegs neutral – neue Phänomene und Zusammenhänge sichtbar und damit für Eingriffe verfügbar macht.81 Foucault fragt zudem, welche Vorstellungen des Eingreifens oder des Regierens bereits existieren müssen, damit Statistik als sinnvolle Regierungstechnik erkannt werden kann. Die Existenzbedingungen der Statistik sind für Foucault nicht von den Existenzbedingungen der Regierungsrationalität zu trennen, die in der Statistik ein probates Instrument erkennt. Deshalb muss eine kritische Diagnose der Gegenwart diese Rationalitäten so freilegen, dass sie in ihrer Kritik nicht bloß eine Gegenposition innerhalb derselben Rationalität bezieht, sondern Gegen-Rationalitäten denkbar macht. Foucaults Diagnose der Gegenwart grenzt sich demnach durch ihre spezifische Form der Kritik von Zeitdiagnosen ab: Sie will nicht »einfach nur das […] charakterisieren, was wir sind« und wie wir es geworden sind, »sondern, indem man den Bruchlinien von heute folgt, dahin zu gelangen, dass man erfasst, worin das, was ist, und wie das, was ist, nicht mehr das sein könnte, was ist. Und in diesem Sinne muss die Beschreibung stets gemäß dieser Art virtuellem Bruch geleistet werden, der einen Freiheitsraum eröffnet, verstanden als Raum einer konkreten Freiheit, das heißt einer möglichen Umgestaltung.« 82

Nicht die Unwissenschaftlichkeit von Zeitdiagnosen, nicht ihr Mangel an philosophischer Unterscheidungsfähigkeit von Vernunft und Unvernunft, sondern ihre unkritische Affirmation bestehender Rationalitäten ist es, was Zeitdiagnosen von Foucaults Diagnose der Gegenwart trennt. Denn für Foucault verbleiben selbst kritisch gemeinte Zeitdiagnosen in der Rationalität befangen, deren Existenzbedingungen sowohl die Kritik als auch die kritisierten Phänomene ermöglichen. Sein archäologisch-genealogisches Verfahren macht dagegen die Existenzbedingungen dieser Rationalitäten sichtbar, zeigt ihre in Kämpfen erfolgte Herstellung 79 | Eine ausführliche und begründete Darstellung von Foucaults hier nur skizzierter Methode gebe ich in Vogelmann, Frieder: Im Bann der Verantwortung, Frankfurt a.M./New York 2014, Kap. 2; Ders.: Foucault lesen, Wiesbaden 2016. Dort finden sich auch die hier unterschlagenen Auseinandersetzungen mit anderen Foucault-Deutungen. 80 | Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 32. 81 | So Köhler, Benedikt: Amtliche Statistik, Sichtbarkeit und die Herstellung von Verfügbarkeit, in: Berliner Journal für Soziologie 18, 2008, S. 73-98. 82 | Foucault, Michel: Strukturalismus und Poststrukturalismus (Nr. 330), in: Ders.: Dits et Écrits, Bd. 4, S. 521-555, hier S. 544 (Hervorh. von mir).

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und macht sie so nicht-notwendig und angreif bar. Eine kritische Diagnose von Big Data sollte demnach nicht fragen, wie wir die neuen, statistischen Prognosefähigkeiten regulieren wollen – denn damit begeben wir uns automatisch in die schwache Position, Politik gegen die Wahrheit der Mathematik zu betreiben. Foucaults ambitioniertes Projekt richtet sich stattdessen gegen die Existenzbedingungen, die die statistische Vernunft wahrheitsfähig machen. Auch diese dritte Abgrenzung hat ihren Preis: Denn Foucault muss die philosophisch hochstufige These vertreten, dass die Wahrheit mit den Rationalitäten auf nicht-relativistische Weise historisierbar ist.83 Nur wenn es ihm gelingt, die Existenz von Gegen-Wahrheiten plausibel zu machen, die nicht der kritisierten Rationalität gehorchen, sondern sich ihr auf der Ebene der Existenzbedingungen widersetzen, kann seine Abgrenzung gelingen.

7. I solieren , G ener alisieren , S ignifizieren Unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch – Zeitdiagnosen kommen in der Kritik durch Soziologie und Philosophie nicht gut weg. Doch in den Abgrenzungsbemühungen zeigen sich ex negativo drei Operationen, mit denen die Zeitdiagnosen ihr Wissen generieren – und die für Soziologie und Philosophie zu nahe an den eigenen Praktiken liegen, um Zeitdiagnosen nicht als Konkurrenten zu empfinden. Diese drei Operationen sind auf die Behandlung des Neuen gerichtet sind und lassen sich als Isolieren, Generalisieren und Signifizieren bezeichnen. 1. Isolieren. Zeitdiagnosen müssen das Neue, an dem sie ihre Diagnose verankern, von allen vorangehenden Entwicklungen abschneiden, da ohne die Behauptung eines Bruchs, der »uns heute« von »uns gestern« trennt, das Phänomen, dessen Zentralität die Zeitdiagnose behaupten will, nicht neu wäre. Diese Operation zieht besonders die soziologischen Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit auf sich, denn die wissenschaftliche Kritik an den Zeitdiagnosen zielt entweder auf den Nachweis, das für die Zeitdiagnose zentrale Phänomen sei etwas Altes, Bekanntes oder jedenfalls nur graduell Anderes, oder sie richten sich direkt gegen die Orientierung am Neuen als Gegenstand, weil damit Forschung nach Nachrichtenwert betrieben wird. Wie die Zeitdiagnosen das Neue isolieren, variiert. In Rosas Beschleunigungsdiagnose findet die Isolierung durch Identifizierung eines Überschlags statt, ab dem soziale Beschleunigung intragenerational verläuft: Dort setzt Rosa den Bruch und isoliert das Neue unserer Gegenwart. Im Falle der Burnout-Diagnose kann die Sozialpathologie selbst den Bruch bezeichnen, der einen noch erträglichen, sozialdemokratisch gezähmten von einem entfesselten, die Psyche seiner Lohnarbeiter_innen rücksichtslos vernutzenden Kapitalismus trennt. In der jüngsten Zeitdiagnose lässt sich besichtigen, wie noch um die Isolierung des Neuen gerungen wird; in den drei Definitionen wird Big Data mal technologisch, mal analytisch und mal ideologiekritisch bestimmt, wobei der Kern des Neuen jeweils die Fähigkeit zur Prognose ist. Die Soziologie fühlt sich von der zeitdiagnostischen Isolierungsoperation herausgefordert, sieht sie es doch als ihre ureigenste Aufgabe, auf gesellschaftliche 83 | F. Vogelmann: Foucault lesen, S. 18-21, 31-33.

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Entwicklungen aufmerksam zu machen und diese zu erklären. Die Isolierung des Neuen muss dabei umso irritierender wirken, je stärker die Soziologie ihr Vorbild in den Naturwissenschaften sucht – denn in rein kausalen Zusammenhängen kann Neues nicht auftauchen. Aber auch eine am Verstehen orientierte Soziologie wird sich mit dem Neuen und seiner Isolierung solange schwertun, wie Brüche und Diskontinuitäten als Anzeichen für Nicht-Verstehen gelten. 2. Generalisieren. Die zweite zeitdiagnostische Operation, die besonders deutlich in der Abgrenzung durch die hegelianische Sozialphilosophie zutage tritt, ist die Generalisierung des isolierten Neuen. Wenn Honneth bemängelt, dass »[k]aum ein theoretisches Unternehmen […] heute voreiliger und unbesonnener betrieben [wird] als das der Zeitdiagnose«,84 so wendet er sich gegen die »unbesonnene« Generalisierung von Phänomenen wie der medizinisch umstrittenen Burnout-Diagnose. Diese Generalisierungskritik ist leicht übertragbar: Gegen die Beschleunigung kann deren sekundärer Charakter geltend gemacht werden, der die vermeintliche Generalisierung der Beschleunigung als bloßen Nebeneffekt anderer Mechanismen erweist;85 gegen Big Data könnte an den bislang eher geringen gesellschaftlichen Durchdringungsgrad erinnert werden, der einer Generalisierung hohe Beweislasten auf bürdet.86 Es ist die zeitdiagnostische Operation der Generalisierung, die aus Sicht der hegelianischen Sozialphilosophie vorschnell reine Modeerscheinungen (und damit Unwirkliches, weil Unvernünftiges) zum Signum »unserer« Gesellschaft erklärt. Doch ohne diese Generalisierung ist keine Zeitdiagnose zu haben, die konstitutiv daran gebunden ist, das Neue zu isolieren und als repräsentativ für unsere Gesellschaft heute darzustellen. Weil die Sozialphilosophie hegelscher Prägung diese Generalisierungsoperation für sich reklamiert, muss die Zeitdiagnose zwangsläufig zur Konkurrentin werden, und die Sozialphilosophie verteidigt sich, indem sie eine Differenz zwischen vernünftigen (wirklichen) und unvernünftigen (»unbesonnenen«) Generalisierungen zieht. 3. Signifizieren. Schließlich kann die Zeitdiagnose auch nicht dabei stehen bleiben, das isolierte und generalisierte Neue für sich stehen zu lassen. Es muss bedeutsam sein, muss etwas bezeichnen. Erst diese dritte zeitdiagnostische Operation macht aus der Feststellung eines neuen, generellen Sachverhalts eine über diesen Sachverhalt hinausweisende Zeitdiagnose. Signifizieren als Name dieser Operation soll betonen, dass die Diagnose immer über den festgestellten Sachverhalt hinausreicht, dass Zeitdiagnosen ihr isoliertes und generalisiertes Phänomen etwas bezeichnen lassen müssen, um es als signifikant zu erweisen. Alle drei dargestellten Zeitdiagnosen tun dies in kritischer Absicht: Beschleunigung wird bedeutsam und weist über das reine Phänomen in dem Maße hinaus, wie Rosa die generalisierte, intragenerational gewordene soziale Akzeleration zum Anzeichen für ein Verfehlen des guten Lebens erklärt. Burnout wird bedeutsam, 84 | Honneth, Axel: Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt a.M. 1994, S. 7. 85 | Z. B. Dörre, Klaus: Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung – eine Kritik, in: Ders./ Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (Hg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik, Frankfurt a.M. 2009, S. 181-204, hier S. 184-190. 86 | Zum »Klassencharakter« von Big Data vgl. d. boyd/K. Crawford: Big Data als kulturelles, technologisches und wissenschaftliches Phänomen, S. 209-213.

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insofern es über das individuelle Leiden hinaus eine soziale Pathologie bezeichnet. Big Data wird bedeutsam, weil die neue Stufe der probabilistischen Vernunft auf ein verändertes Selbstverständnis der Gesellschaft deutet, dessen Implikationen für den Umgang von »uns« mit »uns« gefährlich erscheinen. Wogegen sich die dritte Abgrenzung der foucaultschen Sozialphilosophie wendet, ist der ungewollt affirmative Nebeneffekt dieser Kritik: Weil die Zeitdiagnosen ihren Phänomenen Bedeutung verleihen, indem sie sie über sich hinausweisen lassen, unterschlagen sie die Existenzbedingungen der Rationalitäten, die diesen Phänomenen erst Realität verleihen. Foucault grenzt seine Diagnosen der Gegenwart von Zeitdiagnosen ab, weil Zeitdiagnosen ihrem Phänomen nur Signifikanz verleihen können, indem sie sich der Rationalität seiner Existenzbedingungen unterwerfen. Aber auch in Foucaults Diagnosen stehen die jeweils untersuchten Phänomene für mehr als nur sich selbst – auch hier erklärt die Nähe zur Signifizierungsoperation die Notwendigkeit der Abgrenzung. Es ist also die Behandlung des Neuen mit den drei zeitdiagnostischen Operationen des Isolierens, des Generalisierens und des Signifizierens, die in den Abgrenzungsbemühungen von Seiten der Soziologie und der Philosophie sichtbar werden. Die Logik von Zeitdiagnosen liegt in der Kombination dieser drei Operationen, und zugleich sind sie es, die Zeitdiagnosen unausweichlich in Konkurrenz zu den genannten Wissenschaften bringen. Ob die Abgrenzungsstrategien gegen die zeitdiagnostischen Operationen überzeugen und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, kann an dieser Stelle offen bleiben – ihre konstitutiven Operationen freizulegen ermöglicht uns jedoch, sowohl ihnen als auch der Kritik an ihnen mit dem Bewusstsein zu begegnen, welche argumentativen Lasten damit einhergehen.

Abbildungsnachweise

Beitrag Bippus Abb. 1-5: Zdjelar, Katarina: The Perfect Sound, 2009, Video 14'30", © Katarina Zdjelar.

Beitrag Etzemüller Abb. 1: Volk und Rasse 11, 1936, S. 334. Abb. 2: Mjölkpropagandan 3, 1926, S. 27. Abb. 3: Meddelanden från mjölkpropagandan 5, 1928, S. 6 (Skaraborgsnummer). Abb. 4: The Family of Man. Created by Edward Steichen. Prologue by Carl Sandburg, New York 2008 (urspr. 1955), S. 174. Abb. 5: Czech, Hans-Jörg/Doll, Nikola (Hg.): Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-1945, Dresden 2007, S. 428. Abb. 6: Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 10. koordinierte Bevölkerungsberechnung (2003), S. 26; Neues Volk 2, 1934, H. 2, S. 23.

Beitrag Langenbruch Abb. 1: Opéra Baltique de Gdansk/Institut Polonais de Paris: Elzbieta Sikora. Madame Curie. Dossier de presse, Gdansk/Paris 2011, S. 1. Abb. 2: Opéra national de Lyon: Kaij Saariaho. Émilie. Création mondiale. Dossier de presse, Lyon 2010, Titelblatt.

Beitrag Pahl Abb. 1: Koenig, Evan F./Ball, Nicole: The »Great Moderation« in Output and Employment Volatility: An Update, in: Federal Reserve Bank of Dallas, Economic Letter, 2, 2007, Nr. 9, S. 3 (URL: https://www.dallasfed.org/assets/documents/ research/eclett/2007/el0709.pdf [18.4.2018]). Abb. 2: Thornton, Daniel L./Wheelock, David C.: Making Sense of Dissents: A History of FOMC Dissents, in: Federal Reserve Bank of St. Louis Review96, 2014, S. 213-327, hier S. 216 (URL: https://research.stlouisfed.org/publications/ review/2014/q3/thornton.pdf [18.4.2018]).

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Gegenwar tsdiagnosen

Abb. 3: Borio, Claudio: The financial cycle and macroeconomics: What have we learnt?, Basel 2012, S. 3. Abb. 4: Generiert durch Google Trends (https://trends.google.de/trends/ [3.12.2016]). Abb. 5: Generiert durch Web of Science (http://wokinfo.com/ [3.12.2016]).

Beitrag Zimmermann Abb. 1: Frauen und Wissenschaft: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin 1978, S. 12. Abb. 2: Becker, Barbara u.a. (Hg.): Women’s Liberation: Frauen gemeinsam sind stark!, Frankfurt a.M. 1977, S. 158f. Abb. 3, 4: Heyman, Susan: Growing Up Female. A Personal Photo-Journal, New York u.a. 1974. Abb. 5-9: Wex, Marianne: »Männliche« und »weibliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, Frankfurt a.M. 21980 (urspr. 1978), Titel und S. 36, 175, 358, 344. Abb. 10: Warburg, Aby: Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 5, in: Warnke, Martin (Hg.): Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, Bd. II, 1, Berlin 2000, Tafel 5. Abb. 11-13: NGBK (Hg.): VALIE EXPORT. Mediale Anagramme, Berlin 2003, S. 41, 70, 103. Abb. 14, 15: Spence, Jo: Putting myself in the Picture: A political, personal and photographic autobiography, Seattle 1988, S. 84, 177. Abb. 16: Schor, Gabriele: Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er Jahre aus der SAMMLUNG VERBUND, Wien, München 2010, S. 253-255.

Beiträger und Beiträgerinnen

Thomas Alkemeyer, Prof. Dr., Soziologie und Sportsoziologie, Universität Oldenburg. Susanne Binas-Preisendörfer, Prof. Dr., Musik und Medien, Universität Oldenburg. Elke Bippus, Prof. Dr., Kunsttheorie und Kunstgeschichte, Zürcher Hochschule der Künste. Gunilla Budde, Prof. Dr., Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Universität Oldenburg. Nikolaus Buschmann, Dr., Wissenschaftliches Zentrum »Genealogie der Wissenschaft«, Universität Oldenburg. Martin Butler, Prof. Dr., Amerikanistik: Literatur und Kultur, Universität Oldenburg. Yvonne Ehrenspeck-Kolasa, Prof. Dr., Allgemeine Pädagogik, Universität Oldenburg. Juliane Engel, Dr., Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung, Universität Erlangen-Nürnberg. Thomas Etzemüller, Prof. Dr., Kulturgeschichte der Moderne, Universität Oldenburg. Nicolai Hannig, PD Dr., Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, LMU München. Frank Hillebrandt, Prof. Dr., Soziologie, FernUniversität in Hagen. Benjamin Jörissen, Prof. Dr., Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur, ästhetische Bildung und Erziehung, Universität Erlangen-Nürnberg. Hubert Knoblauch, Prof. Dr., Allgemeine Soziologie/Theorien moderner Gesellschaften, TU Berlin.

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Gegenwar tsdiagnosen

Hannes Krämer, Prof. Dr., Institutionelle Kommunikation mit Schwerpunkt Kommunikation in Institutionen und Organisationen, Universität Duisburg-Essen. Johann Kreuzer, Prof. Dr., Geschichte der Philosophie, Universität Oldenburg. Achim Landwehr, Prof. Dr., Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Düsseldorf. Anna Langenbruch, Dr., Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kulturgeschichte der Musik, Universität Oldenburg. Dieter Langewiesche, Prof. em. Dr., Neuere Geschichte, Universität Tübingen. Matthias Leanza, Dr., Soziologie, Universität Basel. Timo Luks, PD Dr., Neuere Geschichte, Universität Gießen. Paul Mecheril, Prof. Dr., Migration und Bildung, Universität Oldenburg. Fran Osrecki, Dr., Soziologie, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Hanno Pahl, Dr., Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Tobias Peter, Dr., Soziologie, Universität Freiburg. Walter Reese-Schäfer, Prof. Dr., Politikwissenschaft, Universität Göttingen. Uwe Schimank, Prof. Dr., Soziologie, Universität Bremen. Tobias Schlechtriemen, Dr., Soziologie, Universität Freiburg. Eckhard Schumacher, Prof. Dr., Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie, Universität Greifswald. Frieder Vogelmann, Dr., Politikwissenschaft, Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Main. Ute Volkmann, Dr., Soziologie, Universität Bremen. Anja Zimmermann, PD Dr., Kunst und Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart, Universität Oldenburg.

Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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