»Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik: Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht [1. Aufl.] 9783839419823

Welche Auswirkungen haben die Globalisierung und eine wachsende Konsumgesellschaft auf Prozesse der Demokratisierung im

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German Pages 230 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Der Iran in westlichen Medien
Die Themen der einzelnen Kapitel
Material und Methoden
1. Religion in der Moderne
1.1 Zum Verhältnis von Religion und Staat
1.1.1 Religion und Nationalismus
1.2 Der Islam im Prozess der Nationenbildung
1.2.1 Die Neudefinition der Schari’ah
1.2.2 Politischer Islam
2. Der Traum der Moderne im Iran
2.1 Die Modernisierung Irans 1906-1978
2.1.1 Die Moderne konsumieren
2.1.2 Islam als Politik der Emanzipation
2.2 Populäre Kultur zwischen Subversivität und Konformismus
2.3 Ideales Leben und Welt der Frau: Zwei Konzepte von Modernität in der Islamischen Republik Iran
2.3.1 Zusammenfassung der Zeitschriftenanalyse
3. Der moderne kapitalistische Staat
3.1 Demokratie und Kapitalismus
3.2 Die Herrschaft des freien Marktes
3.3 Die Islamische Revolution und die politische Ökonomie Irans seit 1979
3.3.1 Khomeini – Führer der Armen und Entrechteten?
3.3.2 Das ökonomische Programm der Islamischen Republik
3.3.3 Die religiösen Stiftungen
3.4. Iranische Wirtschaft und Politik im transnationalen Kontext
3.4.1 Die Neureichen der Islamischen Republik
4. Religion, Konsum und die Frage der Selbstbestimmung
4.1 Disziplin und Autonomie 1: Religion
4.1.1 The Iranian Mass: Joining the Madness?
4.2. Disziplin und Autonomie 2: Konsum
4.2.1 Jenseits des Spektakels: Die Politik der Indistinktion
5. „Westlicher“ und „islamischer“ Konsum
5.1 Konsum als soziales Zeichensystem
5.1.1 Die Demokratisierung von Traumwelten
5.2 Zentren des Konsums im Iran
5.2.1 Der Bazar
5.2.2 Shopping Malls
6. Alltag in Teheran
6.1 Die Stichprobe
6.2 Konsumorientierung
6.3 Religiosität
6.4 Die Teheraner Mittelschicht
6.4.1 Sozioökonomische Unterschiede im Freizeitverhalten
6.4.2 Fast Food
6.4.3 Einkaufen
6.4.4 Medien
6.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
Resumée
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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»Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik: Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht [1. Aufl.]
 9783839419823

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Ariane Sadjed »Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik

Kultur und soziale Praxis

Ariane Sadjed (Dr. phil.) hat Psychologie und Kulturwissenschaften in Wien und Berlin studiert. Sie forscht zur Rolle des Islam in der Moderne sowie zu politischen und kulturellen Transformationsprozessen.

Ariane Sadjed

»Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht

Die Dissertation, die Grundlage dieses Buches ist, wurde am 6. April 2011 vom Promotionsauschuss der Philosophischen Fakultät III der Humboldt Universität Berlin angenommen. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Ich danke folgenden Personen, die diese Arbeit entscheidend unterstützt haben: Prof. Christina von Braun, Prof. Gabriele Dietze von der Humboldt Universität Berlin, Prof. Arzoo Osanloo von der University of Washington in Seattle, der österreichischen Fulbright Kommission 2007, meinen Eltern Rosemarie und Hushyar Sadjed, Ascan Breuer, Sina Ansari, Roshanak Zangeneh, Alim Beveridge.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ariane Sadjed Lektorat: Clemens Stachel, Martin Udovicic´, Kai Breuer Satz: Ariane Sadjed Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1982-9 ^

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung | 7

Der Iran in westlichen Medien | 13 Die Themen der einzelnen Kapitel | 27 Material und Methoden | 30 1. Religion in der Moderne | 35

1.1 Zum Verhältnis von Religion und Staat | 36 1.1.1 Religion und Nationalismus | 43 1.2 Der Islam im Prozess der Nationenbildung | 46 1.2.1 Die Neudefinition der Schari’ah | 47 1.2.2 Politischer Islam | 53 2. Der Traum der Moderne im Iran | 59

2.1 Die Modernisierung Irans 1906-1978 | 60 2.1.1 Die Moderne konsumieren | 64 2.1.2 Islam als Politik der Emanzipation | 69 2.2 Populäre Kultur zwischen Subversivität und Konformismus | 70 2.3 Ideales Leben und Welt der Frau: Zwei Konzepte von Modernität in der Islamischen Republik Iran | 75 2.3.1 Zusammenfassung der Zeitschriftenanalyse | 90 3. Der moderne kapitalistische Staat | 95

3.1 Demokratie und Kapitalismus | 97 3.2 Die Herrschaft des freien Marktes | 102 3.3 Die Islamische Revolution und die politische Ökonomie Irans seit 1979 | 104 3.3.1 Khomeini – Führer der Armen und Entrechteten? | 106 3.3.2 Das ökonomische Programm der Islamischen Republik | 111

3.3.3 Die religiösen Stiftungen | 120 3.4. Iranische Wirtschaft und Politik im transnationalen Kontext | 124 3.4.1 Die Neureichen der Islamischen Republik | 129 4. Religion, Konsum und die Frage der Selbstbestimmung | 13 5

4.1 Disziplin und Autonomie 1: Religion | 138 4.1.1 The Iranian Mass: Joining the Madness? | 144 4.2. Disziplin und Autonomie 2: Konsum | 146 4.2.1 Jenseits des Spektakels: Die Politik der Indistinktion | 155 5. „Westlicher“ und „islamischer“ Konsum | 159

5.1 Konsum als soziales Zeichensystem | 161 5.1.1 Die Demokratisierung von Traumwelten | 165 5.2 Zentren des Konsums im Iran | 167 5.2.1 Der Bazar | 168 5.2.2 Shopping Malls | 174 6. Alltag in Teheran | 177

6.1 Die Stichprobe | 178 6.2 Konsumorientierung | 179 6.3 Religiosität | 181 6.4 Die Teheraner Mittelschicht | 183 6.4.1 Sozioökonomische Unterschiede im Freizeitverhalten | 184 6.4.2 Fast Food | 186 6.4.3 Einkaufen | 188 6.4.4 Medien | 189 6.5 Zusammenfassung der Ergebnisse | 192 Resumée | 197 Literaturverzeichnis | 205 Abbildungsverzeichnis | 225

Einleitung

Der Titel dieses Buches, Shopping for Freedom, stellt in Frage, ob mit der Expansion und Liberalisierung von Märkten auch Prozesse der Demokratisierung einhergehen. Auf der Ebene der Konsumenten steht damit zur Diskussion, ob Freiheit eine Ware ist, die käuflich zu erwerben ist. Vor dem Hintergrund dieser Fragen werde ich Darstellungen der iranischen Bevölkerung in der westlichen Medienöffentlichkeit auf den Grund gehen, durch die ein mit dem Westen assoziiertes Konsumverhalten ästhetisiert und als rebellisch romantisiert wird. Dass ich mich in Zusammenhang mit dem Iran gerade auf die Themen „Konsum“ und „Freiheit“ konzentriere, liegt daran, dass der Begriff Freiheit – verstanden als ihr Fehlen in Form von Unterdrückung – in Untersuchungen über den Iran im Rahmen der klassischen „Area Studies“ 1 sehr zentral ist. Sofern sich diese Analysen mit zeitgenössischen Phänomenen der iranischen Gesellschaft beschäftigen, gehen sie zumeist von einem fundamentalen Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch die Islamische Revolution von 1979 und einem seitdem zutiefst antagonistischen Verhältnis zwischen der Bevölkerung und dem Staat aus. Dabei wird die jetzige Situation als ausschließlich von staatlicher Unterdrückung in Zusammenhang mit religiösem Fanatismus bestimmt beschrieben, gegen die

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Die „Area Studies“ bezeichnen interdisziplinäre Forschungsfelder, die auf einen bestimmten geographischen Raum – hier den Nahen und Mittleren Osten – spezialisiert sind.

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„das Volk“ stellenweise aufbegehrt.2 Um zu verstehen, wie die Menschen mit dem System der Islamischen Republik zurechtkommen, muss dieses System jedoch auf weit mehr Ebenen analysiert und damit auch von dem Obskurantismus einer alles kontrollierenden Herrschaft enthoben werden. Dies soll nicht implizieren, dass die iranische Regierung nicht autoritär sei. Vielmehr geht es mir darum, zu zeigen, von welchen Faktoren diese Autorität beeinflusst ist und wie sie sich in den letzten 30 Jahren verändert hat. Dieses Buch soll dazu beitragen, zwei dominante Betrachtungsweisen westlicher Wissenschaft und Medien über den Iran neu zu überdenken: zum einen ist dies die Polarisierung der iranischen Gesellschaft in „regimekonforme“ und „oppositionelle“ Gruppen. Zum anderen ist es die Verknüpfung von Aspekten totalitärer Herrschaft mit dem Islam. Die oben beschriebene Form der Auseinandersetzung mit dem Iran hat die westliche Rezeption dahin gehend beeinflusst, dass etwas für westliche Gesellschaften so Selbstverständliches wie Konsum3 im Iran nicht zu existieren scheint. Meine Herangehensweise ist demgegenüber davon geprägt, dass sie sich mit der modernen Alltagskultur beschäftigt, um die iranische Gesellschaft nicht weiter zu exotisieren. Dies lässt sich am besten bewerkstelligen, indem Strukturen aufgezeigt werden, die die iranische Gesellschaft mit westlichen gemeinsam hat: den alltäglichen kapitalistischen Konsum. Die Alltagskultur gibt dabei nicht nur Auskunft darüber, wie sich soziale Transformationsprozesse vollziehen, sondern erlaubt auch, Alltags-

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Einige Beispiele sind: S. Khosravi (2008): Young and Defiant in Iran; R. Varzi (2006): Warring Souls: Youth, Media, and Martyrdom in Post-Revolution Iran oder populärwissenschaftliche Studien wie von N. Alavi (2005): We are Iran.

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Diese Form des Konsums, die ich im Folgenden auch mit dem Begriff der „Konsumgesellschaft“ bezeichne, wurde von Siegrist anhand der folgenden Kriterien definiert: „Die Bereitstellung eines reichhaltigen Warensortiments für Verbraucher aus den meisten sozialen Kategorien. Die Entwicklung hochkomplizierter, die Waren mit Bedeutung versehenden und das Bedürfnis nach ihnen weckenden Kommunikationssystemen. Die Bildung von Objektbereichen als Sphären des Geschmacks, der Mode und des Stils. Die Betonung der Freizeit gegenüber der Arbeit sowie die des Konsums gegenüber der Produktion. Die Entstehung der Kategorie Konsument. Eine tiefe Ambivalenz, manchmal sogar eine tiefe Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums.“ (Siegrist 1997, S. 18)

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geschichten in den „Begriffen der historischen Akteure selbst (zu) entwerfen […].“ (Kaschuba 2003, S. 127) Im Iran wurde durch westliche Kleidung und Waren geprägter Konsum aufgrund der „von oben“ verordneten Modernisierung in den 1930er Jahren unter Reza Schah Pahlavi zu einem Zeichen sozialer Distinktion und bildet bis heute Konflikte zwischen sozialen Schichten sowie das Verhältnis einzelner Gruppen zum Westen ab (siehe Kapitel 2). Im Fall des Iran ist Konsum daher nicht nur als eine soziale Praktik zu verstehen, über die innergesellschaftliche Konflikte verhandelt werden, sondern auch die Zugehörigkeit zu einem „Außen“ – dem idealisierten oder argwöhnisch betrachteten Westen. In der Aufarbeitung dieses historisch geprägten Verhältnisses werde ich zeigen, welche Träume und Ideale durch die Medien und die Marketingindustrie mit dem Konsum westlicher Waren verbunden werden und welche politische Wirkkraft diese Träume in sich tragen. Darüber hinaus werde ich die in Bezug auf den Iran mit Konsum in Zusammenhang stehende (Wahl-) Freiheit als eine oppositionelle und damit befreiende Kraft gegenüber der Religion dekonstruieren. Konsumpraktiken bieten ein Spektrum von Einsatz- und Interpretationsmöglichkeiten, das in kulturwissenschaftlicher Literatur sowohl als Disziplinierung und Management des Selbst (Rose et al. 2006), als auch als Vehikel der Selbstbestimmung gegenüber hegemonialen Strukturen gesehen wird (Fiske 2000). Wo die jeweiligen Handlungen auf diesem Spektrum einzuordnen sind, lässt sich nicht feststellen, indem einzelne Güter oder Praktiken per se als widerständig konnotiert werden, sondern indem sowohl untersucht wird, welche Strukturen der Dominanz am Werk sind, als auch, wodurch die Lesarten von Waren und Konsumpraktiken informiert sind. Mit anderen Worten: was ist der kulturelle Kontext der jeweiligen Handlungen? Darauf aufbauend lässt sich bestimmen, welche Konsumhandlungen als widerständig eingesetzt werden und gegen welche Strukturen sie eigentlich gerichtet sind. Für eine Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Iran müssen zuerst einige Thesen etablierter Modernisierungstheorien neu überdacht werden. Viele unterstützen eine Sichtweise, die nicht nur auf einer essenziellen Unvereinbarkeit von westlichen mit islamischen Gesellschaften beruht (vgl. Lewis 2003, Tibi 1995), sondern implizieren auch eine die-

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ser Differenz inhärente Überlegenheit des Westens gegenüber dem Islam. 4 Obwohl sich die für westliche Gesellschaften postulierten Entwicklungen auch im europäischen Kontext nicht auf die homogene Art und Weise, die ihre Definition voraussetzt, vollzogen haben (van der Veer 1998, S. 288), gelten nicht-westliche Gesellschaften innerhalb klassischer Modernisierungstheorien als rückständig und am Projekt der Moderne gescheitert, wenn sich in ihnen ein Wiederaufleben und eine Verfestigung religiöser Werte zeigen, sie kein kapitalistisches Modell der freien Marktwirtschaft führen, oder über keine aktive Zivilgesellschaft verfügen, die ihre Anliegen gegenüber dem Staat öffentlich macht (vgl. Huntington 1996). Diese, dem Liberalismus5 zuzuordnenden Konzepte des post-aufklärerischen Denkens (Ong 1999), werden hier in Bezug auf die iranische Gesellschaft diskutiert. Der Prozess der Modernisierung hat im Iran seit Beginn des 20. Jahrhunderts widerstreitende Autoritäten und Entwicklungen hervorgebracht, bei deren Darstellung es mir nicht darum geht, zu beweisen, wie nahe der Iran dem auf westliche Gesellschaften zugeschnittenen Ideal der Modernität eigentlich sei. Vielmehr gilt es in Anlehnung an Aihwa Ong (1999) dazule-

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Obwohl die Begriffe „Islam“ und „Westen“ oft als Verallgemeinerungen gebraucht werden, greife ich auf diese Begriffe zurück, da nur so die Überschaubarkeit meiner Argumente gewährleistet werden kann. In beiden Fällen beziehe ich mich jedoch nicht auf eine einheitliche und unveränderliche Gruppe oder Kultur, sondern streiche die in einer Gesellschaft dominanten Trends heraus. So bezeichne ich mit dem Begriff „Islam“ nicht den Islam als Religion, sondern die Vorstellungen, die in westlichen Gesellschaften mit diesem Konzept assoziiert werden, d.h. vor allem auch Projektionen bestimmter Eigenschaften auf das kulturell „Andere“. In den Kapiteln, wo ich auf den Islam als religiöses Glaubenssystem oder politische Bewegung eingehe, ist dies entsprechend definiert. Dasselbe gilt für den Begriff „Westen“: auch dieser ist nicht als eine Vereinheitlichung des gesamten europäischen und nordamerikanischen Raumes zu verstehen, sondern als eine Referenz auf die Ideen und Werte, für die dieser Begriff steht.

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Das Konzept des Liberalismus steht hier für eine Form der Regulation von Gesellschaften, die eine höchstmögliche Wirtschaftsleistung zum geringsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Preis anstrebt. In Anlehnung an Ong (1999) beziehe ich mich dabei vor allem auf Prozesse der Individualisierung in Form von Selbstregulation, Selbstmanagement, Eigenverantwortung, etc.

E INLEITUNG | 11

gen, dass die analytische Trennung von Liberalismus und sozialer Ungleichheit zur Legitimation der Behauptung dient, dass es nicht-westlichen Staaten an liberalen Werten mangle und gesellschaftlichen Spannungen, die durch den modernen Kapitalismus entstanden sind, auf kulturelle Gründe zurückzuführen seien. Strukturen der Herrschaft im Iran allein auf den Staat zu reduzieren und diesen als eine statische Konzentration von islamischem Fanatismus anzusehen, stellt nicht nur eine grobe Vereinfachung gesellschaftlicher Dynamiken im Iran dar. Eine solche Darstellung spielt auch jenen konservativen Kräften, sowohl im Iran als auch im Westen in die Hände, deren Machtbasis durch diese Polarisierung legitimiert wird: Während religiöse und kulturelle Gründe – in Form des Islam – von Wissenschaftlern wie Samuel Huntington (1996) als ein Hindernis für oder die Reaktion auf eine, letztendlich verfehlte, Modernisierung beschrieben werden, profilieren sich iranische Politiker dadurch, „westliche“ Werte öffentlich zu verunglimpfen, und eine „iranische“ oder „islamische“ Moderne zu propagieren. Meine Untersuchung weicht damit von der wissenschaftlichen Tradition ab, islamische Gesellschaften in erster Linie in Hinblick auf den Grad ihrer Säkularisierung hin zu analysieren. Vielmehr wird das „Islamische“ mit den anderen Faktoren, die die Entwicklung der iranischen Gesellschaft beeinflussen, in Beziehung gesetzt, um die auf einer essenzialistischen Vorstellung von Religion oder Kultur basierende Schwerpunktsetzung zu konterkarieren. Die Erarbeitung dieses Wissens erfolgt anhand der von dem Anthropologen Talal Asad (1993) formulierten These, die besagt, dass Traditionen charakteristische Formen der Logik haben, die erst explizit gemacht werden müssen, bevor sie anderen gegenübergestellt und verglichen werden können. Für die Analyse der Bedeutung ökonomischer Faktoren in gesellschaftlichen Transformationsprozessen haben sich postkoloniale Theorien als weiterführend erwiesen, anhand derer Kontinuitäten in Strukturen der Herrschaft herausgearbeitet werden können. Dies ist notwendig, da einige der heute zu beobachtenden Herrschaftsformen im Iran bereits vor der Islamischen Revolution 1979 bestanden haben und in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft nur verständlich werden, wenn die Epochen vor der Islamischen Republik mit berücksichtigt werden. Eine postkoloniale Betrachtungsweise

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erlaubt außerdem zu analysieren, wie sich die Transnationalisierung6 wirtschaftlicher Strukturen auf die Autorität von Staaten über die Bevölkerung auswirkt (Randeria 2007). In Bezug auf den Iran bedeutet dies, dass Veränderungen, die als Folgen des postrevolutionären Wandels untersucht werden, auch zu anderen aktuellen Formen des gesellschaftlichen Strukturwandels, wie beispielsweise der kulturellen und wirtschaftlichen Globalisierung in Bezug gesetzt werden (Mather et al. 2007). Diese, durch Politiken der freien Marktwirtschaft neben dem Staat entstehenden Machtformen (z.B. in Form von wirtschaftlichen Konglomeraten) bewirken eine Fragmentierung und Flexibilisierung zentraler Autorität. Im Prozess der Angliederung von Staaten an die globale Ökonomie entstehen jedoch auch neue, hegemoniale 7 Strukturen, die sich zu bereits bestehenden hinzufügen oder diese ersetzen. Diese auf globaler Ebene angesiedelten Konstellationen bilden durch das ganze Buch hinweg den übergeordneten Bezugsrahmen. Die Frage der Zivilgesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat werde ich, in Ergänzung zu postkolonialen Theorien, mit kritisch-historischen Betrachtungen über moderne liberale Herrschaft (Rose et al. 2006) bearbeiten, um die Bandbreite des Spektrums von Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft aufzuzeigen, die von Komplizenschaft über punktuellen Allianzen zu verschiedenen Formen der Opposition reicht. Das heißt, es werden auch Konfliktlinien innerhalb einzelner gesellschaftlicher Strukturen dargestellt, anstatt diese als vermeintlich homogene Einheiten gegeneinander zu positionieren. Anhand der von Michel Foucault (1978) geprägten Theorie der Governmentalität kann des Weiteren der Zusammenhang zwischen mo-

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Ich verwende den Begriff der „Transnationalität“, um die Dichotomie zwischen dem Globalen (in Form von politisch-ökonomischen Strukturen) und dem Lokalen (als das Kulturelle) auf eine komplexere Analyseebene überzuführen, in der soziale, ökonomische und kulturelle Prozesse miteinander interagieren und in verschiedene Formen der Herrschaft eingebettet sind. Diese Form der „Transnationalität“ wurde unter dem modernen Kapitalismus intensiviert (vgl. Ong 1999, S. 4).

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„Hegemonial“ definiere ich in Anlehnung an Schaffer (2008) als eine Position, die durch Konsensbildung und Zwang hergestellt werden kann und in der „eine Gruppierung darüber bestimmt, welche Interessen sich in welcher Weise formulieren können, wie sie sich vermitteln und durchsetzen lassen.“ (Wagenknecht 2005, zitiert in Schaffer 2008, S. 121)

E INLEITUNG | 13

dernen Formen des Regierens und Strukturen des freien Marktes herausgearbeitet werden. Mit diesen Überlegungen im Hintergrund schlage ich vor, die iranische Gesellschaft nicht anhand der Pole „Freiheit“ und „Unterdrückung“ und den damit verbundenen Assoziationen zu analysieren, sondern darauf zu achten, durch welche Faktoren sich Handlungen als selbstbestimmt oder fremdbestimmt konstituieren. Daraus ergibt sich, dass Konzepte der Selbstermächtigung hier nicht anhand einer eindimensionalen Perspektive, wie dem Aspekt dem Rückgang des Religiösen oder der Rolle der Frau in islamischen Gesellschaften untersucht werden, denn selbst progressive Theoreme wie der liberale Feminismus stoßen gerade in Bezug auf das religiöse Erleben an ihre Grenzen. Dass die Überbetonung bestimmter Aspekte in islamischen Gesellschaften wie „die Unterdrückung der Frau“, „der islamische Patriarch“ etc. in einer Tradition orientalistischer und paternalistischer Sichtweisen steht, wurde bereits eingehend erforscht (z.B. von Braun u. Mathes 2007, Lowe 1991, Moghissi 1996). Viele Frauen aus islamischen Ländern betonen, dass es nicht notwendig sei, dass westliche Feministinnen sie „befreien“. Sie weisen darauf hin, dass die vom westlichen Feminismus definierten Problematiken vor allem die Interessen einer weißen Mittelschicht repräsentieren und Faktoren wie „Ethnie“ oder „Klasse“ ausblenden.8

D ER I RAN

IN WESTLICHEN

M EDIEN

Als Wissenschaftlerin, die nicht im Iran aufgewachsen ist, kann ich nicht für mich in Anspruch nehmen, dem Blick des Westens entgehen zu können. Meine Positionierung als Tochter eines Exil-Iraners bringt mit sich, dass ich gewisse Dinge immer nur als Außenstehende werde wahrnehmen können. Dies ist an sich kein Hindernis, sich mit einem Thema zu befassen, nur halte ich es für genauso wichtig, die Bedingungen zu diskutieren, unter denen diese Informationen verarbeitet werden. Über die jeweils eigene Vergangenheit und wie sie die Gegenwart beeinflusst, besteht oft ein bloß se-

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Ich beziehe mich dabei auf Kritik am Weißen Feminismus, wie sie u.a. von den Women of Color formuliert wurde. Für eine Diskussion islamischer Frauenbewegungen siehe Klein-Hessling, Nökel und Werner (1999).

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lektives Wissen bzw. ein stellenweise sehr zielgerichtetes Vergessen. Die Bereiche, die sich auf den Iran beziehen, werden deshalb nicht „die Unterdrückung im Iran“ zum Thema haben, sondern, wie diese dargestellt wird; was diese Darstellung ausklammert und was dies über die Mechanismen aussagt, die die Wahrnehmung von Freiheit und Unterdrückung in westlichen Gesellschaften prägen. Hier spielt das kollektiv Imaginäre eine wichtige Rolle, also die „historisch wandelbaren Leitbilder oder Idealentwürfe“ (von Braun 2001, S. 278), die das Selbstbild einer Gesellschaft prägen. 9 Von der Annahme ausgehend, dass diese gesellschaftlichen Phantasiebilder in westlichen Gesellschaften aus anderen Quellen schöpfen als im Iran, versuche ich einen diskursiven Rahmen für die folgende Diskussion zu bieten, in der es um die Verbindungen zwischen Religion, Unterdrückung, Freiheit und Konsum geht – und dies am Beispiel des Konsumverhaltens der iranischen Mittelschicht. Um den oben genannten Überlegungen eine anschauliche Grundlage zu geben, wende ich mich nun der bildlichen Darstellung der iranischen Konsumentinnen zu. Diese werden in vielen westlichen Medien gerne als modebewusste junge Frauen gegenüber vollverschleierten Fanatikerinnen positioniert. Wie weit das Kopftuch nach hinten gerutscht ist und wie mit den vorgegebenen Kleidervorschriften gespielt wird, dient anhand dieser bildlichen Mittel zur Darstellung eines vermeintlich subversiven Verhaltens gegenüber dem iranischen Regime. Doch wieso sind gerade diese beiden Darstellungsformen in der westlichen Medienöffentlichkeit so dominant? Kann darin eine Vorstellung von Widerstand erkannt werden, die nur eine bestimmte Art der Subversivität kenntlich macht, nämlich jene, die statt den Regeln des sogenannten „Gottesstaates“ jenen der globalen Konsumkultur – mit westlichen Waren – folgt? Erstaunte Beobachter aus dem Westen verstehen nicht, wieso unter den schwarzen Schleiern mancher Frauen teure Designerschuhe hervorblitzen. Ist diese Kombination ein Zeichen geheuchelter Religiosität? Die Behauptung, dass Religiosität eher in armen und ungebildeten Bevölkerungsschichten verwurzelt ist und die Teilnahme an der globalen Warenwirtschaft und ihren weltlichen Gütern ausschließt, trifft

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Für eine weiterführende Diskussion des kollektiv Imaginären siehe von Braun (2001). Erweiterungen des auf Castoriadis (1990) beruhenden Konzepts des gesellschaftlich Imaginären wurden außerdem von Gaonkar (2002) und Appadurai (2005) vorgenommen.

E INLEITUNG | 15

zumindest im Iran nicht zu.10 Religiosität hat mehrere Facetten, sodass man die, vor allem aus westlichen Kontexten bekannten, Kategorien überdenken oder erweitern muss. Es mag verlockend sein, die modebewussten jungen Frauen zu Kämpferinnen gegen das iranische Regime zu stilisieren. Die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft jedoch als ein starres Verhältnis zwischen religiösen Unterdrückern und um Freiheit kämpfenden Unterdrückten darzustellen, unterstellt, wie ich zeigen werde, einen fundamentalen Gegensatz zwischen den Begriffspaaren Islam/Unterdrückung auf der einen und Westen/Freiheit auf der anderen Seite. Daraus abgeleitete Unvereinbarkeiten, wie Religion und Kapitalismus, islamische und westliche Orientierungen sind jedoch beide in der iranischen Gesellschaft verankert, und das Verhältnis zwischen ihnen verläuft in manchen Bereichen glatt und in anderen konfliktreich. Daher möchte ich untersuchen, an welchen Punkten diese beiden gesellschaftlichen Systeme einander überlagern oder ablösen. In weiterer Folge bedeutet das auch, danach zu fragen, unter welchen Umständen sie die Pluralisierung und Demokratisierung in der iranischen Gesellschaft fördern und wann sie Strukturen der Unterdrückung unterstützen. Um zu veranschaulichen, auf welche Darstellungen ich meine Argumentationen beziehe, habe ich die dominanten Erzählstrukturen in Berichten über den Iran hier mit einer kurzen Analyse der Bildsprache aufgelistet: 1. Im Iran herrscht Unterdrückung, die sich in Form von religiöser Herrschaft manifestiert. 2. Gegen diese Unterdrückung hat sich Widerstand gebildet, der entweder offen um Freiheit kämpft oder subtilere Opposition durch Praktiken leistet, die der religiösen Herrschaft zuwiderlaufen – etwa in Form einer westlich orientierten Konsumkultur. Diese wird dabei als subversives Element zur Erlangung von Freiheit dargestellt. Die spezifische Verknüpfung dieser Kernpunkte Freiheit und Konsum findet sich beispielsweise in der US-amerikanischen Mode- und Unterhaltungszeitschrift Glamour, die in weltweit 25 Ländern erscheint. Sie schalte-

10 Chehabi führt aus, dass Religiosität auch im prärevolutionären Iran schon keine Sache der Unterschicht war; auch die gesellschaftliche Elite beinhaltete tief religiöse Personen. Siehe dazu auch Kapitel 6.

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te Ende 2009, dem Jahr der Präsidentschaftswahlen im Iran, in ihrer englischen Online-Ausgabe den Aufruf: „How To Help: A Campaign You Can Get Involved With. Each year, the Glamour Women of the Year Fund initiative gives readers the opportunity to reach out to extraordinary women around the world. This year, you have two ways to support Iran’s women.“11 Durch eine Spende an die von der Zeitschrift vorgestellte Stiftung werde iranischen Frauen Zugang zu Bildung ermöglicht. Das Bild zu dem Artikel zeigt eine Frau, deren Kleidung in ihrer Ästhetik derjenigen von radikalen Widerstandsgruppen entspricht: Sie ist schwarz angezogen und hat ein schwarzes Tuch um die untere Gesichtshälfte gewickelt, sodass nur ihre Augen zu sehen sind. Diese Mode setzt sich eindeutig von der „islamischen“ Variante der Gesichtsverhüllung ab und lehnt sich eher an die Symbolik des klandestinen oder Guerilla-Widerstandes (z.B. der Zapatisten). Durch das Victory- bzw. Peacezeichen, das sie mit beiden emporgestreckten Händen formt, wird nahegelegt, dass sie zur Protestbewegung in der Folge der Präsidentschaftswahlen zählt. Die vermeintliche Solidarisierung mit Oppositionellen im Iran erfolgt in diesem Fall aber nicht anhand politischer oder sozialer Inhalte, sondern rein ästhetisch: es handelt sich um eine junge, hübsche, entschlossen blickende Frau. Sie ist Teilnehmende an einer bestimmten Körperkultur, deren Vertreterin auch die publizierende Zeitschrift Glamour ist, und in welcher der äußerlichen Erscheinung ein bestimmter Wert zugemessen wird: die Abgebildete hat lackierte Fingernägel, trägt Augen-Make-up, und eine gefärbte Haarsträhne schaut hervor. Die Protagonisten, die die LeserInnen von Glamour aktiv zu unterstützen aufgerufen werden, werden in ihrer Zugehörigkeit zu einer im Iran oppositionellen und widerständigen Strömung als attraktiv wenn nicht sogar begehrenswert konstruiert. Ein weiteres Beispiel für die Ästhetisierung einer bestimmten Form politischen Widerstandes ist die seit 1979 in den USA lebende Künstlerin Shirin Neshat, die sich auf die Proteste im Iran bezieht, um ihren 2009 angelaufenen Film „Women without Men“ zu bewerben. In einem Artikel mit dem Untertitel „Jenseits des Mainstreams“ berichtet sie: „Und es ist manchmal unglaublich schockierend, wie tapfer, wie mutig sie sind. […] Aber es ist auch schockierend, wie schön sie sind. Und wie sie ihre Schönheit benut-

11 www.glamour.com/women-of-the-year/fund/how-to-help (Aufruf 08.07.2010).

E INLEITUNG | 17

zen! Sie nutzen die Kraft ihrer Jugend und ihrer Aggressivität. Aber sie haben es auch satt. Sie sind nicht mehr feige. Denn ihr Leben ist die Hölle.“12

Mit dieser Darstellung wird unter der Vorgabe, abseits des Mainstreams zu sein, die Mainstream-Ansicht der unterdrückten, aber kämpferischen und schönen iranischen Frau vertreten. Diese Aussage, die mit den Hierarchien des gesellschaftlichen Kontexts, in dem sie geäußert wird, absolut kompatibel ist, beansprucht rebellisch zu sein, indem sie für sich eine Ikonographie des Widerstandes erfindet: Die von Neshat beschriebene Wahrnehmung von Herrschaft und Widerstand im Iran entspricht der Perspektive einer westlich orientierten iranischen Oberschicht, die durch die Revolution entmachtet wurde, und blendet die Vielfalt anderer Positionen und Widersprüche innerhalb der iranischen Gesellschaft aus. Sie ist damit nicht nur einseitig, sondern zementiert sogar bestimmte Formen der Herrschaft, wie ich in Kapitel 2 und 4 darlegen werde. Ein anderes Beispiel der Dramatisierung und Romantisierung von scheinbar widerständigem Verhalten findet sich in einem Artikel der linksliberalen englischen Tageszeitung „The Independent“ mit der Überschrift: „Lipstick revolution: Iran’s women are taking on the mullahs.“13 Hier wird das Bild weiter verfestigt, dass sich Widerstand gegen das sogenannte „Mullah-Regime“ vor allem durch modisches Erscheinen formiert: Lippenstift als Revolution – das könnte ein Werbeslogan aus den 1960er Jahren sein. Die Assoziationskette, die hier aufgegriffen wird, stützt sich allerdings auf konkrete Ausgangspunkte: Kurz nach der Revolution, als die revolutionäre Ideologie im Iran noch fanatisch verfolgt wurde, wurden Frauen dazu angehalten, in der Öffentlichkeit kein auffälliges Make-up zu verwenden. Die Verwendung von Make-up oder, allgemeiner gesagt, ein Auftreten, das erkennen lässt, dass der äußeren Erscheinung viel Zeit und Geld gewidmet werde, befördere die Zur-Schau-Stellung und Sexualisierung des Körpers und stünde damit im Gegensatz zu einer Ideologie innerer, nicht-materieller Werte. Diese Ablehnung der Kommerzialisierung der Gesellschaft, auch in Form des Körpers als (sexuelles) Objekt, beruht im Iran zwar auf anderen

12 www.heise.de/tp/blogs/6/145035 (Aufruf 9.1.2011). 13 www.independent.co.uk/news/world/middle-east/lipstick-revolution-irans wo-m en-are-taking-on-the-mullahs-1632257.html?action=Popup&ino=6 (Aufruf 9.1. 2011).

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Grundlagen als bei den postmaterialistischen Eliten14 in westlichen Gesellschaften, sie umfasst jedoch ebenfalls ein Spektrum von liberalen bis konservativen Einstellungen, die sich in ihrer Mehrheit nicht religiös definieren. Das Bedürfnis, sich zu schminken, als Statement des Widerstands gegen den Staat zu interpretieren, unterstützt jedoch die angebliche Unvereinbarkeit zwischen einem islamischen, und einem durch konkrete Konsumund Körperpraktiken als westlich identifizierbaren Lebensstil. Wie ich im Laufe des Buches darlegen werde, schließen sich eine „islamische“ Orientierung und Luxuskonsum – z.B. in Form eines westlichen Warenangebots – jedoch keineswegs aus. Darüber hinaus können konservativ-autoritäre Einstellungen nicht mit einer „islamischen“ Lebensweise gleichgesetzt werden. Sie sind genauso bei Personen zu finden, deren Weltbild durch das soziale Prestige des Konsums geleitet ist (siehe dazu Kapitel 6). Das Problematische an den oben ausgeführten Darstellungen ist, dass sie real existierende Konflikte innerhalb der iranischen Gesellschaft auf eine ästhetische Ebene verlagern, die sich entlang einer konstruierten Binarität zwischen westlichen und islamischen Werten bewegt. Darüber hinaus bleiben sachliche Analysen sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft oder Möglichkeiten der Demokratisierung vergleichsweise schwach im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit, mit der suggeriert wird, dass die iranische Regierung gestürzt werden müsse.15 Trotz dieser Differenzen gibt es durchaus auch Bevölkerungsgruppen, die die Regierung Irans als legitim ansehen. Hier gilt es zu untersuchen, in welchem Verhältnis sie zu den Figuren stehen, die in den Medien gerne als die vermeintlich Widerständigen darge-

14 Für den Begriff des „Postmaterialismus“ siehe Benedikter (2001). Für eine Beschreibung des Konsumverhaltens der US-amerikanischen Oberschichten siehe auch lllouz (2003). 15 Vier Tage nach den Wahlen im Iran, am 16.6.2009, titelte die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“: „Eine Revolution bahnt sich an. Der Wandel ist greifbar nah: Die Iraner wollen endlich in Freiheit leben. Aber sie benötigen die Unterstützung des Westens.“ (www.zeit.de/online/2009/25/iran-freiheit-demonstrationen, Aufruf 08.07.2010) Am Tag darauf fand sich folgende Überschrift: „Die massiven Proteste gegen den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad erregen auch in Deutschland großes Aufsehen. Der Bundestag solidarisiert sich jetzt mit den Demonstranten.“ (www.zeit.de/online/2009/26/reaktion-international-iran, Aufruf 08.07.2010)

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stellt werden, die „das Richtige“ wollen. Wie ich in Kapitel 4 ausführen werde, sind jedoch die auf diese Art und Weise als „Opposition“ stilisierten Personen keineswegs als Vorreiter eines liberalen oder sozial gerechten Irans zu verstehen. Während über ihre persönlichen und politischen Überzeugungen – die sowohl religiös als auch konservativ sein können – wenig bekannt gemacht wird, werden bestimmte Gruppen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung zu einer Form des Widerstandes ästhetisiert, die mit dem Alltag der iranischen Bevölkerung wenig zu tun hat, für den Westen jedoch mit konkreten wirtschaftlichen Interessen verbunden ist.16 Die Fotos von den Demonstrationen gegen die Wiederwahl Ahmadinejads zum Beispiel zeigten stets viel hellen Himmel (siehe die Fotostrecke der „Zeit“, v.a. die Darstellungen Mir Hossein Moussavis),17 und der Schwerpunkt lag auf jungen, gepflegt aussehenden Personen, die in einer geordneten Atmosphäre ihre Rechte einforderten. In einem Bild sind zwei junge Frauen im Vordergrund zu sehen, die schüchtern lächelnd in die Kamera schauen und sich etwas zuflüstern. Man könnte sich vorstellen, Teil dieser freundlichen, offenen Gruppe zu sein. Im Gegensatz dazu würde man sich hier wohl eher unwohl fühlen:

16 Postkoloniale Theorien beschreiben die „rhetoric of cultural difference becoming inseparable from trade wars“ (Ong 1999, S. 197). Die vom Westen formulierte Kritik an der undemokratischen Politik des Iran steht in offensichtlichem Widerspruch zu der semi-kolonialen Vergangenheit, in der westliche (und sozialistische) Länder die Geschichte des Iran in äußerst undemokratischer Weise beeinflusst haben (siehe Ansari 2000, Sachedina 1991, Chehabi 1990). Bis heute stellt der autoritäre Charakter von islamisch-orthodoxen Regimes wie in Saudi Arabien für westliche Staaten kein Hindernis für gegenseitige Übereinkünfte dar, während die iranische Regierung erst zum „Problem“ wurde, als sie die Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen behinderte. 17 www.zeit.de/online/2009/25/iran-freiheit-demonstrationen (Aufruf 29.07.2010).

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Die Frau rechts im Bild verbirgt Körper und Gesicht vor der Kamera. Dies ist in westlichen Kulturen unüblich und erregt möglicherweise Mitleid (weil die Abgebildete sich verstecken „muss“) oder Misstrauen (weil sie etwas zu verbergen hat). Die Verschleierung bezieht ihren Sinn aus eben dieser Überzeugung, dass nicht zu jeder Zeit für jeden alles sichtbar sein muss bzw. soll. Für westlich geschulte Beobachter, deren Sinn und Ziel des Sehens jedoch ist, Dingen auf den Grund zu gehen und alles offen zu legen, mag diese Praktik dunkel und beunruhigend erscheinen. Dieses Begehren, alles sehen und erforschen zu wollen, wurde bereits von Frantz Fanon (1969) im Zuge der Zwangsentschleierung algerischer Frauen durch die französische Besatzung beschrieben. Demnach erzeugt die Verweigerung des Gegenübers im Beobachter Wut, weil dem Willen zu sehen Grenzen entgegengesetzt werden. Ein amerikanischer Missionar hatte 1914 in Palästina festgestellt, dass islamische Frauen nicht nur ihren Körper vor Außenstehenden, sondern auch ihr Zuhause verschleiern. Die Tatsache, dass dieser „Schleier“ ihm einige Räume der Gesellschaft verschlossen hatte, dämpfte jedoch nicht den Wunsch des Missionars, ihr Geheimnis dahinter zu lüften: „Like plucking the apple from the tree of knowledge, knowing the secret behind the veil would ... expose one to a world of sin and heighten one’s obligation to reform it.“ (Zitiert in Karimi 2005, S. 35) In Zusammenhang mit der Repräsentation minorisierter Positionen gehe ich davon aus, dass Sichtbarkeit ein Produkt diskursiver Prozesse ist, etwas Zu-Sehen-Gegebenes (vgl. Schade u. Wenk 2008). Erhöhte Sichtbarkeit mit erhöhter gesellschaftlicher oder politischer Macht gleichzusetzen würde

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negieren, dass Identitäten und Differenzen historisch hergestellt sind und diese auf „körperlich sichtbare Evidenzen und körperliche Eigenheiten“ reduzieren (Schaffer 2008, S. 52). Die ekstatische Teilnahme an politischen Veranstaltungen (für Präsident Ahmadinejad) im obigen Bild zeigt beispielsweise Begeisterung und emotionale Hingabe, die auch in westlichen Gesellschaften zu beobachten ist (zum Beispiel beim US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf oder bei öffentlichen Auftritten des Papstes). Im iranischen Kontext erscheint sie jedoch als fanatisch und irrational. Die Darstellung von Menschen, die wie auf die oben genannte Art und Weise islamische Politik im Iran oder im gesamten islamischen Raum befürworten, als aufgebrachter Mob oder als verarmtes Proletariat, das aufgrund der unzureichenden Modernisierung in diesen Ländern vermeintlich Ersatzbefriedigung in der Religion sucht, scheint in westlicher Medienberichterstattung allzu geläufig, wenn nicht die Norm zu sein.18 Die Bilder der vom iranischen Regime – und damit vermeintlich auch vom Islam – ernüchterten Zivilgesellschaft hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass die Menschen darauf mit selbstbewusster Offenheit auftreten. Man liest darin den Wunsch ab, dass sie gerne noch viel mehr von sich zeigen würden, wenn es denn erlaubt wäre:

18 Diese Sichtweise ist auch im Iran verbreitet, es handelt sich also nicht um eine einseitig in westlichen Gesellschaften lokalisierbare Perspektive. Die historischideellen Grundlagen dieser Anschauungen, die im säkularen Liberalismus zu verorten sind (siehe Kapitel 3 und Mahmood 2009), gehen zwar von Europa aus, ihre Rezeption wird jedoch kontinuierlich vom gesellschaftlich-kulturellen Kontext Irans geprägt. Darauf werde ich in den Kapiteln 2 und 4 noch zurückkommen.

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Der Text in dem Bilderkatalog unter diesem Foto lautet: „Iranian women walk outside a shopping center northwest of Tehran, 02 June 2005. For the past 26 years, Iran’s ruling clerics have been at pains to keep women under wraps and away from the risk of ,Westoxication‘. Iranian women may be obliged to wear the chador -- literally meaning tent -- or otherwise a long coat and headscarf whenever they head outdoors, but that has not dampened their appetite to pamper themselves.“

Der Hinweis auf den Ort, an dem das Foto aufgenommen wurde, der Nordwesten Teherans, enthüllt, dass es sich dabei um einen sehr wohlhabenden Teil der Stadt handelt. Die Herrschenden werden allein in ihrer Rolle als Geistliche („ruling clerics“) bezeichnet. Ihre Politik, nämlich Frauen zu verhüllen, können sie nur mit Mühe durchsetzen („at pains“). Die Verhüllung – nicht mehr als ein krudes Zelt („tent“) - scheint weiters allein darauf abzuzielen, sie von westlichen Einflüssen (die Dämonisierung des Westens im Iran wird durch das Wort „Westoxication“ herausgestrichen) abzuschirmen. Diese Beschränkungen hätten die Frauen aber nicht davon abgehalten, ihr Äußeres zu pflegen („pamper themselves“). Die Sorge um das Aussehen wird hier als ein Appetit („appetite“) dargestellt, als eine unwillkürliche Reaktion des Körpers, die sich schwer zügeln lässt und dessen vollständige Unterdrückung zum Tod führen könnte. Im Vergleich mit dem zuvor besprochenen Bild, das von tiefer Emotionalität und Chaos zeugt, hebt sich dieses Bild jedoch durch die kühle Distanz und Kontrolliertheit der Protagonistinnen ab. Jedoch noch einmal zurück zu der Differenz zwischen den beiden letzten Bildern: in einem symbolisieren die iranischen Frauen als Verschleierte

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das „Fremde“ und „Unheimliche“, während die „modern“ und „westlich“ gekleideten Iranerinnen in dem zuletzt angeführten Foto den Wunsch nach Westernisierung offenbaren. Der Wunsch oder die Sehnsucht danach, westlich zu sein, wird dabei erotisch aufgeladen, indem die Frauen besonders weiblich und ästhetisiert dargestellt werden und ihr Bedürfnis, sich auf diese Art zu präsentieren, als ein kaum zu zügelnder „Appetit“19 formuliert wird. Die Fantasie, vom Westen eingenommen, bzw. befreit zu werden steht damit in Opposition zum orientalischen Staat, der als despotisch und frauenfeindlich in Erscheinung tritt – eine Imagination, die sich moderner Bilder bedient, aber die Fortführung einer orientalistischen Sichtweise darstellt, von der das westliche Denken in seit Jahrhunderten geprägt ist (Lowe 1991). Vor diesem Hintergrund produziert das Bild mit den schwarz verschleierten Frauen, die sich für Ahmadinejad versammelt haben, eine Differenz, in der alles, was iranisch markiert ist, der Seite des Archaischen zugeordnet wird, und in welcher der unmarkierte Blick der (westlichen) Rezipienten als fortschrittlich, liberal, und in Opposition zu einer ethnisch markierten Irrationalität als rational eingeordnet wird. Das unheimliche Chaos von Emotionalität und Irrationalität wird durch diese Differenzproduktion „aus dem ethnisch unmarkierten kulturellsozialen Raum des Deutschen20 hinaus und hinein in einen anders markierten Raum (verschoben). Weiters lässt sich fragen, ob dadurch nicht eine majoritäre Betrachter_innenposition bereitgestellt wird, die es ermöglicht, moralisch ungefährdet und unreflektiert dennoch genau diese Gewalt ausagiert zu sehen?“ (Schaffer 2008, S. 67) Die Darstellung der jungen Iranerinnen vor dem Einkaufszentrum erfüllt für die Betrachter jedoch eine andere Funktion. Sie lässt sich mit Johanna Schaffers (2008) Konzept der „bedingten Anerkennung“ sehr gut beschreiben, das besagt, dass minorisierten Positionen nur dann Anerkennung zukommt, wenn dabei die „Bestätigung des Souveränitätsgefühls majoritärer Subjektpositionen nicht zur Disposition steht.“ (Ebd., S. 59) Während das Bild von der politischen Veranstaltung im Iran also eine Negativfolie für westliche Betrachter ist, dient das Foto der Frauen vor dem Einkaufs-

19 www.gettyimages.com/detail/93329203/AFP (Aufruf 9.1.2011). 20 Schaffer bezieht sich hier auf das deutsche Filmgenre des „Migrant_innendramas“. Den „Raum des Deutschen“ aus obigem Zitat erweitere ich für den Kontext meiner Untersuchung auf den „westlichen Raum“.

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zentrum der Produktion des Souveränitätsgefühls einer Mehrheitsposition: Letztere treten im Sinne des westlichen Liberalismus ausschließlich als Kämpferinnen für die Konsumgesellschaft und gegen religiöse Herrschaft in Erscheinung. Die stereotype Darstellung iranischer Frauen ist eine Form höchst regulativer Sichtbarkeit, die mit einer diskursiven Auslöschung einhergeht. Das bedeutet, dass „in bestimmten gesellschaftlichen Feldern, besonders im Kultur- und Unterhaltungssektor, nicht-weißen Subjekten durchaus ein Platz bereitgestellt ist – als Spektakel. In anderen Feldern hingegen, vor allem in jenen, in denen es um die politische Verhandlung und Bestimmung gesellschaftlicher Strukturen und die Aufteilung gesellschaftlicher Ressourcen und Güter geht, werden diese Plätze nicht nur nicht bereitgestellt. Darüber hinaus wird der Kampf minorisierter Zusammenhänge und Subjekte um die Etablierung dieser Plätze diskursiv gelöscht, also unsichtbar gemacht.“ (Ebd., S. 54)

Schaffer weiter: „Die Verknappung diskursiver Möglichkeiten – also die Wiederholung einer, und eben nur einer, Darstellungsformel, immer wieder und immer wieder nur so und nicht anders [...] ermöglicht es beispielsweise, nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Repräsentation von Vielfältigkeit und Individualität zu fragen bzw. danach, welchen Identitätskonstruktionen und Subjektpositionen Vielfalt und Individualität im Diskurs zugestanden wird, und welchen eben nicht.“ (Ebd., S. 61)

Die Stereotypisierung betrifft also nicht nur die schwarz verschleierten Frauen, sondern auch die der modernen Konsumgesellschaft zugeneigten und damit angeblich fortschrittlicheren Iranerinnen. Durch ihre Darstellung tritt der iranische Staat mit seiner Kleiderordnung als eine Instanz hervor, die „uns“ mit ihren Verordnungen etwas über ihre Subjekte vorenthält und darüber hinaus den vermeintlich Gleichgesinnten eine Angleichung mit dem Betrachter unmöglich macht. Denn mit dem selbstbewussten Auftreten, das die abgebildete Gruppe junger Frauen zeigt, entsprechen sie dem liberalen Bild des öffentlichen Raumes, in dem sich Frauen wie Männer frei bewegen können. Diese Freiheit wird durch die Strukturen des liberalen Staates abgesichert, die – scheinbar unsichtbar – den Rahmen bieten, in

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dem andere Formen der Kontrolle (wie patriarchale, ethnische oder Statusbezogene) zur Geltung kommen.21 Im Iran ist die Regulation des öffentlichen Raumes hingegen nicht zu übersehen: Schon in der Schah-Zeit war das öffentliche Auftreten – besonders von Frauen – ein Zeichen der sozioökonomischen Trennung Teherans. Die Regeln für das Auftreten in der Öffentlichkeit waren „westlich“ geprägt – ohne islamischen Hejab22 – und die Unterscheidung zwischen traditionellen und westlichen, „modern“ aussehenden Frauen wurde als sehr wichtig angesehen. Die Neudefinition des öffentlichen Raumes nach der Islamischen Revolution beschränkte genau jene Frauen, die in der Ära des Schah in der Öffentlichkeit aktiv gewesen waren, nun durch die neue Kleiderordnung. Anderen Frauen, die aufgrund der (Kleidungs-)Politik des Schah in der Öffentlichkeit bis dahin ein traditionelles und mehr auf Häuslichkeit begrenztes Leben geführt hatten, wurde dadurch währenddessen eine neue Öffentlichkeit geboten. Masserat Amir-Ebrahimi (2000) beschreibt, dass die Funktionen des Hejab direkt nach der Islamischen Revolution darin lagen, die Betonung des individuellen äußeren Auftretens von Frauen zu verringern, die in der vorangegangenen Epoche zu einem wichtigen Merkmal sozialer Distinktion geworden war (siehe unten). Diversität und Unterschiede sollten in den Hintergrund rücken, um soziale Einheit herzustellen. Disziplin wurde durch die generelle Verordnung des Hejab und danach durch Homogenisierung, etwa durch die Begrenzung von Farben, durchgesetzt. Amir-Ebrahimi zufolge hätten die Homogenität, vor allem im äußerlichen Ausdruck der Frauen, und das Unterdrücken einer soziokulturellen Identität jedoch zu einer Verzerrung der Identitäten und zu sozialen Konflikten geführt. Das Fehlen unterschiedlicher äußerer Erscheinungsformen, das hauptsächlich durch die beiden Muster „Verschleierung mit Tschador23“ oder „Mantel mit Schal“ zum Ausdruck kommt (die allerdings jeweils mit verschiedenen Werten versehen sind) und die Restriktionen in Bezug auf die Kleidung haben dazu geführt, dass Frauen ihre Erscheinung je nach Kontext an die äußeren Um-

21 Auf diesen Unterschied in westlichen und islamischen Staaten, das Verhalten der Bevölkerung zu regulieren, werde ich mit Ong (1999) in Kapitel 3 zurückkommen. 22 Kopftuch. 23 Bodenlanger schwarzer Schleier.

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stände anpassen, um sich in bestimmten Plätzen leichter bewegen zu können. Diese Form situativer Identität24 wird im iranischen Kontext oft als pathologisch („kulturelle Schizophrenie“)25 formuliert. Wissenschaftlerinnen wie Asta Vonderau konnten diese Vielzahl an situativen Identitäten jedoch auch für ehemals sozialistische Staaten nachweisen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das flexible, mobile, wählende und sich selbst kontrollierende Individuum, das der freie Markt und die Ideologien liberaler Demokratien verlangen, für „Identitätskrisen“ nicht ebenso anfällig ist: Konsequenz wird in einem Umfeld, in der das Marktprinzip auf alle Lebensbereiche übertragen wird, vom Individuum allein dahin gehend verlangt, dass es alle Aspekte des eigenen Selbst auf dem freien Markt einsetzt (Vonderau 2010, S. 102). Dass in den hier angeführten Beispielbildern ausschließlich Frauen dargestellt sind, liegt daran, dass auch in Berichten über die iranische Gesellschaft bevorzugt Frauen ausgewählt werden. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der weibliche Körper den „nationalen Gemeinschaftskörper“ symbolisiert (von Braun u. Mathes 2007) und am Körper der Frau über Kleidungspolitiken kulturelle Traditionen und nationale Symboliken festgeschrieben werden (Han 2008). Diese Form der Abbildung von Frauen erlaubt daher, sowohl die symbolische Politik der iranischen Regierung, als auch vermeintliche Verstöße dagegen, deutlich zu machen – also eine Grenze zwischen jenen Frauen, die „dem Westen ähnlich“ sind (oder gerne sein würden) und den „Anderen“, vollständig fremden Frauen zu ziehen.

24 Rose (1998) definiert das Selbst anhand von Prozessen der Subjektivierung, das sich durch Verbindungen des Individuums mit anderen Objekten und Handlungen konstituiert. Subjekte sind demnach Knotenpunkte, deren Eigenschaften sich mit der Erweiterung ihrer Verbindungen verändern. Dieser Prozess ist dabei stets an bestimmte Formationen gesellschaftlicher Macht gebunden (Rose 1998, S. 172f). Verdery (1996) definiert das Individuum ebenfalls als einen Ort mit mehreren potenziellen „Selbsten“, die in unterschiedlichen Situationen mit der Umgebung auf verschiedene Art und Weise verankert sind. Für die Unterschiede in der Konstitution des Selbst in kommunistischen und kapitalistischen Gesellschaften siehe Verdery 1996, S. 53f. 25 D. Shayegan (1997): Cultural Shizophrenia: Islamic Societies Confronting the West.

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Obwohl die Rezeption des „Islam“ seit 2001 durchaus auch differenzierter geworden ist, finden sich Bilder wie diese in westlichen Wissenschafts- und Mediendiskursen reichlich und es gestaltet sich schwierig, abweichende Darstellungsformen aufzuspüren. Die konkreten Beispiele habe ich ausgewählt, weil sie die Verknüpfung von Konsum und Freiheit, Unterdrückung und Religion besonders deutlich darstellen und diese Themenpaare gegeneinander positionieren. In den folgenden Kapiteln werde ich den Bedingungen nachgehen, die diese spezifische Verknüpfung hervorgebracht haben und untersuchen, in welcher Form die Alltagsrealitäten im Iran dadurch beeinflusst sind. Damit hoffe ich, die Gefahr zu minimieren, die Achille Mbembe in Bezug auf das postkoloniale Afrika festgestellt hat, nämlich den Iran nur als ein abwesendes Objekt zu verfestigen beim Versuch, ihn zu entziffern: „Our power to state the things is reduced to our capacity to create shadow effects – literally, to lie – so great is the contradiction between the discourse we produce, and experience as one ,fabricates‘ it from day to day. Thus, we must speak of Africa only as a chimera on which we all work blindly, a nightmare we produce and from which we make a living – and which we sometimes enjoy, but which somewhere deeply repels us, to the point that we might evince toward it the kind of disgust we feel when seeing a cadaver.“ (Mbembe 2001, S. 241)

D IE T HEMEN

DER EINZELNEN

K APITEL

Ausgehend von einer kurzen Erörterung des westlichen Verständnisses von Religion und Staat, werde ich im ersten Kapitel der Frage nachgehen, wie sich die Formierung des Nationalstaates auf die Artikulation religiöser Positionen in der Öffentlichkeit ausgewirkt hat. Da der Umgang mit dem Religiösen auch in westlichen Gesellschaften durch eine spezifische historische Vergangenheit geprägt ist, steht der gesellschaftliche Kontext in der darauf folgenden Diskussion von Prozessen der Säkularisierung im Vordergrund. Auf diese Weise kann der dynamische Charakter der Religion freigelegt werden, die sich in einem komplexen Zusammenspiel politischer und ökonomischer Faktoren völlig unterschiedlich verhalten kann. Ein essenzialistischer Diskurs über Religionen, der ihnen inhärente Gewalt oder Unver-

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einbarkeit mit Demokratie zuschreibt, wird durch diese historische Aufarbeitung widerlegt. Auf diese geschichtlichen Hintergründe aufbauend, werde ich zur Entwicklung islamischer Bewegungen im 20. Jahrhundert übergehen. Dabei steht die Beziehung zwischen vom Staat eingeläuteten Modernisierungsprojekten inklusive der Verdrängung des Religiösen aus politischen und sozialen Bereichen im Vordergrund. Wie ich zeigen werde, hat diese Form der „Revolution von oben“ (Ong 1999) ab Mitte des 20. Jahrhunderts im Iran zu einer Nationalisierung und Radikalisierung des Religiösen beigetragen. Das zweite Kapitel beschreibt das Projekt der Modernisierung im Iran, der im Kontext des Kalten Krieges zum Schauplatz widerstreitender Interessen zwischen den USA und der Sowjetunion geworden war. Die sozialen Imaginationen von „Wohlstand“ und „Modernität“, die vor diesem Hintergrund in den 1950er Jahren im Iran eingeführt wurden, bestehen – in abgewandelter Form – bis heute. Ich werde verfolgen, auf welche Art und Weise sich Begriffe und Imaginationen von „Modernität“, in Anbetracht des radikalen Kurswechsels im Zuge der Islamischen Revolution, bis heute gewandelt haben. Diese Analyse erfolgt anhand aktueller iranischer LifestyleMagazine, die unterschiedliche Trends in der Darstellung einer „modernen“ Identität repräsentieren. Die Bilder eines „guten Lebens“, die die LifestyleMagazine vermitteln, verstehe ich in Anlehnung an Arjun Appadurai (2005) als eine Wirkkraft, um Wünsche und Unzufriedenheiten, und in weiterer Folge konkrete politische Handlungen auszulösen. Es handelt sich bei „Stil“ und „Geschmack“ also nicht um politisch bedeutungslose Kleinigkeiten: Das Bild der hübschen und widerständigen Iranerin steht für die Fortdauer eines idealisierten westlichen Lebens im Iran. Des Weiteren beruht meine Herangehensweise auf der Annahme, dass die Ausübung von Herrschaft durch den iranischen Staat sich an bestimmten Punkten mit dem globalen System des modernen Kapitalismus verbindet. Durch diese Betrachtung multipler Herrschaftsformen rückt der Konsum westlicher Waren im Iran als Repräsentation von Widerständigkeit und Subversion in den Hintergrund und erlaubt – in Anlehnung an John Fiske (2000) – der Frage nachzugehen, inwieweit bestimmte Konsumpraktiken Konformität bzw. Disziplinierung in Bezug auf die Strukturen des freien Marktes fördern. Im dritten Kapitel werde ich, anknüpfend an Überlegungen von Karl Polanyi (1977) zur Idee der freien Marktwirtschaft und damit zusammen-

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hängenden Prozessen wie der Verschärfung sozialer Ungleichheit untersuchen, wie sich Strukturen des freien Marktes auf die iranische Gesellschaft niederschlagen. Anhand des politisch-ökonomischen Programms der Islamischen Republik werde ich der Frage nachgehen, in welcher Form sich die Entwicklung wirtschaftlicher Konglomerate auf bestehende staatliche Strukturen auswirkt. Durch eine Untersuchung dieser multiplen Souveränitäten im Iran erschließt sich das zunehmende Nachgeben des Staates an die Anforderungen des liberalen Marktes im Kontext einer national und islamisch definierten Modernität. In der Diskussion der Rolle, die die iranische Mittelschicht als Vermittlungsinstanz zwischen dem Staat und der Bevölkerung einnimmt, wird schließlich die Konstruktion eines modernen islamischen Selbst deutlich, in dem sich ein vom Staat sanktionierter Islam mit Strukturen des freien Marktes zu einer neuen Form der Subjektivität verbindet. Danach wende ich mich im vierten Kapitel dem Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Iran zu. Unterschiedliche Konsumpraktiken bilden hier einen symbolischen Kampf um gesellschaftliche Positionen ab, die nicht anhand der Trennlinien „regimekonform“ und „oppositionell“ verlaufen, sondern weitgehend in sozioökonomischen Differenzen begründet sind. Indem ich Konflikte innerhalb der iranischen Gesellschaft anhand von Faktoren wie dem ökonomischen oder kulturellen Kapital betrachte, lässt sich die Bedeutung eines an westliche Modelle angelehnten Konsums genauer beleuchten. Kapitel 5 behandelt die Konsumgesellschaft als soziales Zeichensystem im Spannungsfeld zwischen der Verstärkung und Einebnung sozialer Differenzen. Zu Beginn werde ich kurz auf die Entwicklung des Massenkonsums in westlichen Ländern eingehen, um danach auf Unterschiede in dieser Entwicklung im Iran überzugehen. Obwohl die Islamische Revolution den Versuch darstellte, soziale Ungleichheiten – vor allem auch im äußeren Auftreten – zu verringern, ist der Konsum im Iran heute weiterhin ein symbolisches Interaktionsmittel, um soziale Differenzen auszudrücken. Vor diesem Hintergrund werde ich zwei unterschiedliche Strukturen des Konsums im Iran, den Bazar und das Einkaufszentrum erörtern. Im sechsten und letzten Kapitel stelle ich die Ergebnisse meiner Studie zum Konsumverhalten der urbanen Mittelschicht im Iran dar. Dadurch können die in den vorangegangenen Kapiteln postulierten Thesen dahingehend überprüft werden, ob religiöse Menschen in größerem Maß als kon-

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sumorientierte zu konservativen Einstellungen tendieren und inwieweit religiöse und politische Einstellungen, darunter auch das Verhältnis zum Staat, vom sozioökonomischen Hintergrund der Befragten abhängig sind. Besondere Aufmerksamkeit kommt den Schnittpunkten zwischen Religion und Konsum im Alltagsleben zu. Den Fokus auf konkrete religiöse und konsumorientierte Einstellungen der iranischen Mittelschicht verstehe ich als einen aktiven Gegensatz zu der Tendenz in westlichen Medien, Identitäten und Differenzen in der iranischen Gesellschaft ausschließlich als „körperlich sichtbare Evidenzen“ (Schaffer 2008, S. 52) darzustellen, während die Bedingungen dieser Existenzweisen entpolitisiert und unsichtbar gemacht werden.

M ATERIAL

UND

M ETHODEN

Das Forschungsgebiet dieser Arbeit umfasst in Anlehnung an die Methode der „Multi-Sited Ethnography“ (Marcus 1995) verschiedene soziale Orte, Akteure und Handlungen, die anhand ethnographischer Beobachtungen, Interviews und Fragebögen und einer Analyse ausgewählter Zeitschriften analysiert werden. Durch die Verknüpfung dieser verschiedenen „Sites“ können die zu untersuchenden Prozesse als dynamisch und interagierend und weniger als unverrückbare kulturelle Entitäten beschrieben werden. Durch diese weitgefächerte Perspektive konstituiert sich ein neues Forschungsfeld, das nicht auf ein geographisch abgegrenztes Gebiet (den Iran) beschränkt, sondern auf einen sozialen und politischen Raum bezogen ist, in dem der „Wandel der Herrschaftsformen sowie Relationen zwischen Individuen und Gesellschaft im spezifischen sozialen und historischen Kontext“ dargestellt werden können (Vonderau 2010, S. 39). Die daraus resultierende transnationale Ausrichtung erlaubt schließlich, globale wirtschaftliche und kulturelle Strukturen mit Veränderungen in der iranischen Gesellschaft in Beziehung zu setzen. Vor dem Hintergrund einer diskursanalytisch26 und postkolonial situierten Vorgehensweise besteht die Materialarbeit weiters aus Methoden qualitativer Sozialforschung (offene Interviews, Bild- und Textanalyse irani-

26 Meine Verortung innerhalb der Diskursanalyse ist durch die Wiener Schule der Kritischen Diskursanalyse geprägt (siehe Wodak 1998).

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scher Zeitschriften), sowie einer Studie über Alltags- und Lebenswelten der iranischen Mittelschicht in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Hintergrund. Qualitative Interviews Meine erste Forschungsreise in den Iran hatte ich im Jahr 2008 mit dem Ziel gemacht, qualitative Interviews anhand eines strukturierten Fragebogens zum Konsumverhalten zu führen. Nach einigen Wochen Aufenthalt musste ich das Konzept dieser Interviews jedoch verwerfen, weil sich meine Vorannahmen nicht auf den gelebten Alltag in Teheran anwenden ließen. Dennoch habe ich Interviews geführt – allerdings ohne vorgefertigten Leitfaden – die den Zweck hatten, Informationen über das Alltagsleben zu sammeln und das Forschungsfeld einzugrenzen. Im Zeitraum von Mai bis Juni 2008 konnte ich ein Gruppeninterview führen, und zwar mit zwei jungen Frauen und zwei jungen Männern, sowie zehn weitere Einzelinterviews mit Personen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund, Alter, Beruf und Geschlecht, die mir Auskunft über ihre Gewohnheiten und ihren Alltag, vor allem in Bezug auf ihr Konsumverhalten, gaben. Ein großer Teil dieser Interviews kreiste um tief greifende Wandlungsprozesse, die die iranische Gesellschaft in der jüngsten Vergangenheit durchlaufen hatte oder gerade zu durchlaufen schien. Einige der insgesamt 14 Interviewten begleitete ich über meinen Aufenthalt in Teheran hinweg und in unseren Gesprächen konnte ich mein Verständnis dieser Entwicklungen verdichten. Die Interviews ermöglichten mir, einzelne Fragen vertiefend zu behandeln und in Hinblick auf das gesamte Forschungsdesign zu konkretisieren. Aufgrund des informellen Charakters dieser Gespräche erfolgt hier jedoch keine systematische Interpretation der Interviews. Stattdessen finden sich Auszüge in Form von Zitaten in den verschiedenen Kapiteln. Begleitend zu den Interviews führte ich in verschiedenen Einkaufszentren der Stadt teilnehmende Beobachtungen durch, indem ich aufzeichnete, welche Angebote die unterschiedlichen Einkaufszentren hatten, was für eine Atmosphäre sie kreierten und welche sozialen Schichten sie frequentierten.

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Zeitschriftenanalyse Das zweite Element der empirischen Forschungsarbeit besteht aus einer qualitativen Analyse zeitgenössischer Lifestyle-Magazine im Iran. Die darin enthaltenen Darstellungen eines „idealen Lebens“ in Verbindung mit bestimmten Waren ermöglichen Rückschlüsse auf die Wünsche und Träume, die an die iranische Gesellschaft vermittelt werden. In diesem Zusammenhang interessiere ich mich sowohl für das Verhältnis des iranischen Staates zur Marketingindustrie als auch für transnationale Einflüsse, die durch Werbung und damit verbundenen sozialen Imaginationen zur Formierung von Lebensstilen und Geschmäckern in der iranischen Bevölkerung beitragen. Methodisch beziehe ich mich dabei auf die Kritische Diskursanalyse (Wodak et al. 1998), die die Verknüpfung detaillierter Analyseergebnisse mit einer Kontextanalyse, also dem sozialen, politischen und historischen Kontext des jeweiligen Diskurses vorsieht. Das Ziel dieser Untersuchung ist herauszufiltern, wer die Zielgruppen dieser Magazine sind und inwieweit Strukturen der freien Marktwirtschaft mit religiösen Einstellungen vereinbar gemacht werden. Die fünf Zeitschriften, die ich untersucht habe heißen: Zendegi-e Ideal (Ideales Leben), Donya-e Zanan (Welt der Frau), Iran Azin (Iran Dekor), Khanevadeh-ye Salem (die gesunde Familie) und Nur-e Banewan (Licht der Dame). Es handelt sich dabei um Hochglanz-Magazine, die im Iran seit 2004 bzw. mindestens seit 2008 erscheinen. Ich habe mich dabei vor allem auf die ersten beiden Magazine konzentriert, weil sie zwei unterschiedliche, aber dominante Strömungen innerhalb der iranischen Gesellschaft repräsentieren. Diese Analyse ist Teil des zweiten Kapitels, das sich mit der Auseinandersetzung der iranischen Gesellschaft mit der Modernisierung von Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute beschäftigt. Studie zum Konsumverhalten Da die von der Marketingindustrie präsentierten Waren und daran geknüpfte Assoziationen von den Konsumenten jedoch nie vollständig übernommen werden, gilt es weiters darauf einzugehen, wie die iranische Gesellschaft auf diese Bilder reagiert bzw. welcher Sinn ihnen im Alltag verliehen wird. Die Konsumgesellschaft bildet dabei als ein soziales Zeichensystem,

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das zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Individuen produziert und reproduziert wird, die Aushandlung sozial relevanter Bedeutungen ab (Zukin u. Maguire 2004). Durch eine Untersuchung von Konsumpraktiken im Alltag kann daher die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Institutionen (wie dem iranischen Staat, den Medien oder der globalen Marketingindustrie) und der iranischen Bevölkerung beleuchtet werden. Zu diesem Zweck sollte eine detaillierte Befragung zu Konsumpraktiken und sozialen Einstellungen der iranischen Mittelschicht durchgeführt werden. Aufgrund der Unruhen nach der Präsidentschaftswahl im Iran 2009 und damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Einreise musste ich jedoch von einer weiteren Reise in den Iran absehen. Ich entschied mich dafür, Informationen über das Konsum- und Freizeitverhalten über das Internet zu erheben. Zu diesem Zweck habe ich einen Fragebogen erstellt, der in persischer Sprache – in einigen wenigen Fällen auf Englisch – über Email verschickt und von über 140 Personen ausgefüllt retourniert wurde. Ausgangspunkt bei der Entwicklung des Fragebogens war die Frage, ob zwischen religiösen und materialistisch-konsumorientierten Personen ein Unterschied in der Ausprägung konservativer Eintsellungen besteht. Da es zum Zeitpunkt der Untersuchung noch keinen standardisierten Fragebogen zu diesem Thema gab, habe ich mich an vorangegangenen Studien wie Erich Fromms „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ sowie Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ orientiert. Bourdieu hat zur Erstellung der Fragen mit seiner Analyse eines schichtspezifischen Geschmacks, durch den sich Konsumieren und Freizeitaktivitäten in Abhängigkeit vom sozialen Status äußern, beigetragen. Die Auswahl der Befragten wurde auf die urbane Mittelschicht eingegrenzt. Diese Schicht gilt als dominante Trägerin der Konsumkultur und stellt darüber hinaus ein Segment dar, dem im Prozess gesellschaftlicher Transformationsbewegungen im Iran eine wichtige Rolle zukommt. Von den Ergebnissen der Studie können weder allgemeingültige Aussagen über die iranische Bevölkerung abgeleitet werden, noch beanspruche ich damit, das vielfältige Spektrum religiöser und konsumistischer Orientierungen zu erfassen. Ziel der Befragung war vielmehr, ein Stück gelebten Alltag abzubilden und den Versuch zu unternehmen, die Rolle von Religion und Konsum im Iran zu kontextualisieren.

1. Religion in der Moderne

Der Islam wird in aktuellen medialen und wissenschaftlichen Debatten in Berufung auf das liberale und aufgeklärte Denken oft als eine Ideologie formuliert, die scheinbar seit Jahrhunderten als willkürliche Gewalt Menschen unterdrückt und in eine mittelalterliche Ära „zurückwirft“.1 Was dieser Diskurs unter anderem zu erfassen versäumt hat, ist, dass die verschiedenen Formen des Politischen Islam, deren Zeugen wir heute sind, kaum Kontinuitäten mit ursprünglichen Formen des Islam aufweisen, auch wenn dies von verschiedenen westlichen als auch islamischen Politikern und Geistlichen gerne so dargestellt wird. Der Politische Islam des 20. und 21. Jahrhunderts ist eine Entwicklung, die – wie ich zeigen werde – durch moderne politische Erscheinungen wie den Nationalstaat und die Säkularisierung entstanden ist und durch diese geformt wurde. Meine Ausgangsthese lautet daher, dass das Religiöse – ob als Faktor der Rückständigkeit und Gewalt, oder des Fortschritts und der sozialen Integration – nicht von anderen gesellschaftlichen Sphären wie dem Politischen und Wirtschaftlichen getrennt und daher auch nicht isoliert als Element der Rückständigkeit oder Unterdrückung analysiert werden kann. Dieses Kapitel beschäftigt sich dementsprechend mit einer kurzen Erörterung des westlichen Verständnisses von Religion und Staat, um danach der Frage nachzugehen, wie die Verbindung zwischen Nationalstaat und einer säkularen öffentlichen Sphäre durch das Aufkommen des Politischen Islam

1

Zum Beispiel: Huntington (1996): „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“ oder Lewis (2003): „What Went Wrong? The Clash Between Islam and Modernity in the Middle East“.

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herausgefordert wurde. Eine solche historische Analyse ermöglicht, sich der Frage anzunähern, ob das Religiöse durch Veränderungsprozesse der Moderne zurückgedrängt wurde oder – in abgewandelter Form – weiter wirkt. Im Anschluss daran werde ich am Beispiel verschiedener islamischer Bewegungen aufzeigen, unter welchen Umständen Religion zu Radikalität gelangen kann. In vielen islamischen Ländern ging dieser Entwicklung eine Form der Modernisierung voraus, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und in der der Staat die Religion als konkurrierende politische Kraft ansah und entmachten wollte. Der Reform der Schari’ah2 und der Entstehung des Politischen Islam kommen in diesem Prozess besondere Aufmerksamkeit zu.

1.1 Z UM V ERHÄLTNIS

VON

R ELIGION

UND

S TAAT

In klassischen Strömungen innerhalb der (Religions-)Soziologie steht das Konzept der Säkularisierung für Formen des sozialen Wandels, durch den religiöse Bedeutungen immer mehr an Gewicht verlieren. Diese These wird zum Beispiel durch das dreigliedrige Modell der Säkularisierung von Charles Dobbelaere (1987) ausgedrückt, das besagt, dass religiöse Organisationen und Individuen auf einen gesellschaftlichen Prozess funktionaler Differenzierung reagieren. Dieser Prozess beinhaltet die Dimensionen Laizisierung, interne Säkularisierung und religiöse Indifferenz. Laizisierung meint die Unabhängigkeit politischer, bildungsbezogener und wissenschaftlicher Institutionen von religiösen Institutionen mit dem Ergebnis, dass religiöse Institutionen eine institutionelle Sphäre neben anderen werden und keinen bevorzugten Status mehr genießen. Interne Säkularisierung wird als die Anpassung religiöser an säkulare Institutionen definiert und religiöse Indifferenz bezieht sich auf die Abnahme religiöser Überzeugungen und Praktiken auf der Ebene der Individuen. Der Säkularisierungsprozess wird anhand dieser Dimensionen gesellschaftlich, institutionell und individuell analysiert.

2

Das islamische Recht, die Schari’ah, basiert auf dem Koran und der Sunna bzw. den Hadithen. Die praktischen Rechtsnormen, die Juristen daraus ableiten, stellen einen kontinuierlichen Prozess der (Neu-)Interpretation dar.

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Die These, dass soziale Differenzierung die Abnahme von Religiosität bedingt, ist jedoch nur begrenzt anwendbar und wird beispielsweise durch das US-amerikanische Beispiel widerlegt: In den Vereinigten Staaten besteht ein struktureller Zusammenhang zwischen einem deinstitutionalisierten, freien, wettbewerbsorientierten und pluralistischen religiösen Markt und hoher individueller Religiosität. Zudem ist in europäischen Ländern wie in Polen oder Irland individuelle Religiosität trotz zunehmender Liberalisierung und staatlicher Deregulation weiterhin hoch. Durch die verstärkte Öffentlichkeit, die religiöse Inhalte in westlichen Gesellschaften seit Beginn des 21. Jahrhunderts einnehmen, werden Modelle der Säkularisierung, die auf einer stetigen Abnahme religiöser Einstellungen in Gesellschaften mit starker sozialer Differenzierung beruhen, daher mittlerweile stark in Frage gestellt. Die Abschwächung und das Erstarken religiöser Bewegungen stellt also weniger einen linearen, als einen dynamischen und flexiblen Prozess dar, der in Abhängigkeit von verschiedenen gesellschaftlichen Faktoren zu analysieren ist. Bevor ich zu der Betrachtung einiger dieser Faktoren übergehe, wende ich mich jedoch kurz der historischen Entwicklung zu, die die Trennung zwischen einer säkularen und religiösen Sphäre in Europa konstituiert hat. Die Unterschiede zwischen westlichen und islamischen Gesellschaften treten dadurch nicht mehr als essenziell und naturalisierbar, sondern als historisch wandelbare Entwicklungen hervor. In diesem Zusammenhang hat Talal Asad (1993) darauf hingewiesen, dass das westlich-liberale Denken keine einheitliche und historisch gleichbleibende Macht sei. Diskurse und Praktiken des Fortschritts und der Modernität, die in der heutigen Zeit dominant sind, seien durch die Epoche der Aufklärung geprägt und damit auch in westlichen Gesellschaften relativ neu. Nichtsdestotrotz hat die westliche Geschichte mit den Ideen der Aufklärung die Weltgeschichte geprägt und somit sind Handlungen oder Ereignisse, die innerhalb dieser Weltsicht als unbedeutend gelten, gar nicht erst Teil dieser Geschichte. In der Folge sei es nahezu unmöglich, Kategorien wie „öffentlich“ und „privat“, „Religion“ oder „Politik“, die sich aus der westlichen Geschichte entwickelt hätten, zu entkommen, wenn man über die Geschichte anderer Gesellschaften schreiben wollte (van der Veer 1995, S. 370). Edward Said hat durch sein einflussreiches Buch „Orientalismus“ dazu beigetragen, das Wissen über die Menschen im Orient als einen Diskurs

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darzustellen, anhand dessen Europa in der Lage war, „die Orientalen“ politisch, soziologisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ zu produzieren und zu kontrollieren. Diese Darstellung, in der westliche Perspektiven eine Realität schufen, in der der Orient existieren musste, hat das Bewusstsein in dieser Auseinandersetzung völlig verändert. Sie wird mittlerweile aber auch kritisiert, weil sie sich allein auf den kolonialen Diskurs konzentriert, die Betroffenen auf ihre hilflose Situation festlegt und die Handlungen der Kolonisierten dadurch vernachlässigt. Peter van der Veer schlägt daher vor, sich mehr mit der Geschichte des Westens auseinanderzusetzen, um die Mechanismen freizulegen, die seit dem 19. Jahrhundert eine politische Moderne erschaffen haben, mit der sich auch nicht-westliche Menschen konfrontiert sehen. Für eine Betrachtung von Veränderungen des Religiösen in Europa ist die Entstehung des modernen Nationalstaates grundlegend. Dieser wird nach Grillo (1980) als das Ergebnis dreier zentralisierender Kräfte definiert: das Aufkommen translokaler Identitäten und Kulturen (die Nation), die Konstitution mächtiger und autoritativer Institutionen der öffentlichen Sphäre (der Staat) und die Entwicklung bestimmter Formen der Organisation von Produktion und Konsum (die Wirtschaft). Die Fragmentierung der Gesellschaft durch die industrielle Arbeitsteilung verlangte nach einer gemeinsamen Kultur, die in Form der nationalen Identität realisiert wurde. Diese Kultur des Nationalismus sei weiter eng mit dem Konzept der Säkularität verbunden, da wirtschaftliches und intellektuelles Wachstum nur möglich seien, „when the absolutist cognitive claims of the literate high cultures of the agrarian (pre-industrial) age are replaced by open scientific inquiry. Nationalism comes thus in a package with individualism and secularism, as required by the industrial transformation of an agrarian world.“ (van der Veer 1998, S. 287)

Van der Veer weist auf verschiedene Problematiken in der Theoretisierung dieser Prozesse hin: So werden zum Beispiel von inter- und intragesellschaftlichen Differenzen isolierte Kriterien postuliert, mit denen eine homogene Entwicklung für alle Gesellschaften vorausgesetzt wird. Durch diese Vereinfachung können Strukturen, die davon abweichen, zum Beispiel der religiöse Nationalismus, jedoch nicht erklärt werden. Während die Handlungen der betroffenen Bevölkerungen ausgespart bleiben, wird

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scheinbar unabhängig davon eine Geschichte siegreicher Entwicklungen, wie jene des Nationalstaats oder des Kapitalismus konstruiert. Talal Asad kritisiert daran aber noch eine viel fundamentalere Ebene, indem er nämlich die Wahrnehmung der säkularen Öffentlichkeit3 als neutralen Raum an sich in Frage stellt. Säkularisierung sei eine moderne Idee, die die heutige Öffentlichkeit dominiert. Die Artikulation des Religiösen sei in der Öffentlichkeit untolerierbar, weil sie einen potenziellen Eintritt von Religion in einen Raum darstellt, der bereits vom Säkularen besetzt ist (Asad 1999, S. 191). Diese Entwicklung ist Asad zufolge auf die Formierung der Nationalstaaten in Europa und der damit einhergehenden staatlichen Souveränität zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, durch die Personen, die keinem solchen staatlichen Gesetz unterstanden, als „inferior on a civilizational scale centred on the emerging political cultures of North-Western Europe“ angesehen wurden (Asad 2003, S. 164). Asad lokalisiert in den religiösen Traditionen des Mittelalters transnationale Formen der Gemeinschaft und gesellschaftlichen Integration sowie den Gedanken eines freien Bewusstseins, die sich mit dem Aufkommen von Nationalstaaten auflösten bzw. in einzelne staatliche Rechtscodes inkorporiert wurden. In diesem Prozess „of building secularity and inscribing it not only into state law but into international law, we see an increasing immanentization and essentialization of religion based on transformed Christian tenets of natural law.“ (Salvatore 2005, S. 433) Die von Asad beschriebene Säkularität baut also auf christlichen Prinzipien sozialer Ordnung und Gemeinschaft auf, die dadurch transformiert und entmachtet wurden. Armando Salvatore beschreibt diesen Prozess am Beispiel Andalusiens im 15. Jahrhundert. Die Muslime in al-Andalus sahen sich dort einer zunehmend von Fanatismus geprägten Partnerschaft zwischen der spanischen Krone und dem Katholizismus gegenüber. Die von der spanischen Krone mit großem Eifer vorangetriebene Staatenbildung war mit religiöser Kompromisslosigkeit verknüpft und ihr Ziel der Homogenisierung wurde ein politisches Gebot. Ethnische Säuberungen, die Konfiszierung von Eigentum und Zentralisierung von Macht stellten eine spezifische Form des religiösen Fanatismus dar, der der Mobilisierung einer neuen Staatsgewalt

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Das Konzept der Öffentlichkeit oder der öffentlichen Sphäre verstehe ich in der folgenden Diskussion als eine imaginierte, universale Öffentlichkeit und Instanz verbindlicher Wahrheit (vgl. Habermas 1990).

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diente. Dieser standen Pluralismus und kultureller Austausch im Weg. Das Spanien des 15. Jahrhunderts beschreibt Salvatore als das erste Beispiel eines religiös homogenisierten Staates in Europa. Die Abspaltungen und Ausläufer der protestantischen Reformation – sowohl moderate als auch radikale Strömungen – und die darauf folgenden Religionskriege in Europa bis zum Westfälischen Frieden 1648 dienten als weitere Grundlage für die Zentralisierung von Macht, durch die unterschiedliche religiöse Überzeugungen und religiöser Aktivismus kontrollierbar werden sollten. Damit gingen Ideen kultureller und sprachlicher Homogenisierung einher, die für die Schaffung der späteren Nationalstaaten grundlegend wurden. Homogenität und Säkularität – als eine neue Form des Regierens – waren die Voraussetzungen für die Neutralisierung religiöser Strömungen. Die primäre Funktion von Säkularität für den modernen europäischen Staat sei laut Salvatore daher nicht, Religion zu marginalisieren und zu privatisieren. Das Säkulare stelle vielmehr eine Kraft dar, die ermögliche, Religion auf eine bestimmte Art zu formen. Das Religiöse, neu definiert durch seine Privatisierung, sei zu einem Ort der Kontrolle durch den Staat geworden, denn die staatliche Domestizierung von Religion wurde zu einer Grundlage für nationale Einheit und damit ein Faktor in der politischen Transformation Europas: „In many ways, modern religion is virtually a ,political religion‘ by default, either in the hands of radical sectarians or of the state that restores the order and guarantees the pact of subjection in exchange for the preservation of the security of the subjects (soon citizens) and the promotion of their prosperity.“ (Salvatore 2005, S. 418)

Eine zunehmend konsequente und selbstbewusste Vorstellung von Säkularität wurde zu einem Kernstück ideologischer Homogenität in Europa, das anhand konfessioneller Zugehörigkeiten neu aufgeteilt wurde. Das Säkulare manifestierte sich in konkreten Formen des Regierens und in der Art, wie Religion auf die private Sphäre beschränkt wurde. Gleichzeitig wurde das Private zu einer Sphäre, deren Unantastbarkeit als vom Staat geschützt galt. Dieser Schutz beruhte auf der Bedingung, dass in ihrem komplementären Gegenstück – der öffentlichen Sphäre – Loyalität dem Staat gegenüber im Sinne nationaler Einheit gewahrt wird. Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Weichen dafür gestellt, dass offen nach außen getragene Religiosität nur mehr unter der Bedingung möglich war, dass sie mit den politischen In-

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teressen des Staates kompatibel war. Persönliche Religiosität, die sich nicht mehr öffentlich kenntlich machen durfte, wurde jedoch nicht verbannt, weil das Subjekt mit seiner Innenwelt als souverän galt. In diesem Prozess verschoben sich die Konzepte von Gesetz und Moral hin zu Kräften, die jeweils außerhalb und innerhalb des Individuums festgemacht waren: der Staat übernahm dabei die Funktion des Außen, indem er Sicherheit und die Einhaltung von Vereinbarungen garantierte. Die Verinnerlichung der moralischen Kraft der Religion wurde währenddessen in zunehmendem Maß durch moderne Methoden des liberalen Regierens abgesichert, die darauf abzielten (selbst-)verantwortliche Personen zu erschaffen (Salvatore 2005, S. 422). Religiöse Neutralität basiert also auf einer vielschichtigen diskursiven und institutionellen Maschinerie, die Religionsfreiheit gleichzeitig garantiert und beschränkt. Denn das Prinzip religiöser Neutralität fußt auf der ihm innewohnenden Spannung zwischen Toleranz gegenüber allen Religionen und der Begrenzung dieser potenziellen Offenheit durch Reglementierungen des Religiösen durch den Staat. Die Vereinheitlichung religiöser Praktiken und Vorstellungen, wie sie durch die spanische Inquisition durchgesetzt worden war, wurde zunehmend politisiert und von der Kirche unabhängig. Für die Garantie der neu formulierten inneren Freiheit wurden von Seiten des Staates währenddessen immer differenziertere Mechanismen notwendig. Die Trennung zwischen Religion und Politik im Zuge der Formation moderner, säkularer Nationalstaaten habe sich Salvatore zufolge jedoch selbst in der europäischen Geschichte nicht so vollständig vollzogen, wie der Diskurs der Säkularisierung dies beansprucht. Die Beziehung zwischen Religion und Staat im modernen Europa repräsentiere vielmehr ein „field of permanent and shifting tensions more than into a stable conguration of institutional and constitutional separation.“ (Ebd., S. 431) In Anlehnung an Salvatore führe ich die Tatsache, dass die Diskussion um den Islam in der europäischen Öffentlichkeit mit solcher Vehemenz geführt wird, auf diese Fragilität der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatem, Religion und Staat in europäischen Staaten selbst zurück. Die Diskussion um das „Bur-

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ka-Verbot“4 veranschaulicht diesen Konflikt sowie die Projektion damit verbundener Ängste auf das kulturell „Fremde“ sehr gut. In einem Artikel der deutschen Tageszeitung „Süddeutsche Zeitung“ wird die Frage des „Burka-Verbots“ so thematisiert: „Als erstes Land in Europa will Belgien muslimische Frauen mit Ganzkörperschleier aus dem öffentlichen Leben verbannen. Wer sich komplett verhüllt, soll beispielsweise nicht mehr in Bussen und Bahnen fahren dürfen. […] Die Abgeordneten sind der Auffassung, jeder Bürger müsse in der Öffentlichkeit jederzeit identifizierbar sein – aus Gründen der öffentlichen Sicherheit (Hervorh. A.S.). Dahinter steht auch die Furcht vor Anschlägen muslimischer Extremisten.“

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Was in westlichen Gesellschaften heute als „soziale Sphäre“ bezeichnet wird, der säkulare Bereich, der konzeptuell von Variablen wie „Religion“, „Staat“ und „nationaler Ökonomie“ usw. unterschieden wird, existierte vor dem 19. Jahrhundert nicht. Dennoch war es genau das Aufkommen der Gesellschaft als organisierbarer säkularer Raum, der es europäischen Staaten ermöglichte, durch die Neudefinierung von Religion als einer vom Staat getrennten, individuellen Angelegenheit die unaufhörlichen Veränderungen in der gesamten Bevölkerung unabhängig von ihren religiösen Zugehörigkeiten zu regulieren. Dieser Prozess brachte laut Asad auch die heutige Wahrnehmung hervor, dass Religion zu einer Quelle der Uneinigkeit wird, wenn sie an die Öffentlichkeit tritt. Aus diesen Darstellungen wird die historische Entwicklung deutlich, die in weiten Teilen Europas dazu geführt hat, dass der Staat Religion definiert – entweder autonom oder in Zusammenarbeit mit religiösen Institutionen, denen der Staat faktische oder rechtliche Privilegien verleiht. Trotz einer essenzialistischen Perspektive auf die Religion ist der Staat dennoch in der Lage, mögliche Lösungen für eine Integration religiöser Ansichten in den öffentlichen Diskurs anzubieten, die mit seinen Gesetzen der Kontrolle und Wahrung öffentlicher Ordnung vereinbar sind. Um dies zu erreichen, müsste Asad zufolge jedoch der institutionelle Kern des Staates – die Staatsbürgerschaft innerhalb eines Nationalstaates, der auf einem europäi-

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Die Burka wird in Europa kaum getragen. Der körperlange Schleier, auf den sich das „Burka-Verbot“ vorrangig bezieht, heißt Niqab.

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www.sueddeutsche.de/politik/38salvato6/507544/text/ (Aufruf 08.04.2010).

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schen, post-christlichen, post-aufklärerischen und post-imperialen kulturellen Selbstverständnis von Mehrheiten aufbaut – transformiert werden (Asad 2003, S. 435). Im folgenden Abschnitt werde ich die Kontextabhängigkeit der Entwicklung des Religiösen in unterschiedlichen Gesellschaften untersuchen. Vor diesem Hintergrund werden die Brüche und Widersprüche innerhalb einzelner Religionen deutlich; eine monolithische Gegenüberstellung verschiedener religiöser Traditionen wird dadurch obsolet. 1.1.1 Religion und Nationalismus Theorien, die Religiosität als eine essenzialistische Variable betrachten verabsäumen, den dynamischen Charakter zu erfassen, der das Religiöse in der Interaktion mit anderen sozialen Faktoren prägt. So bleibt Religion meist ein Synonym für Verblendung und erlaubt in der Folge keine Erkenntnis darüber, in welchem Zusammenspiel es seine sozialen Kräfte entfaltet. Robert Hefner (1998) hat im Gegensatz dazu ein treffendes Bild davon gezeichnet, wie unterschiedlich sich der Einfluss des Religiösen in Abhängigkeit vom Kontext entwickeln kann. Trotz der multiplen Einflüsse und der jeweils spezifischen Entstehungsgeschichte von Gesellschaften stünden Religionen heute oftmals vor ähnlichen strukturellen Dilemmata, nämlich solchen, die mit der globalisierten Massenkultur und dem fragilen Pluralismus der Postmoderne zusammenhängen. Hefner sieht im steigenden Einfluss religiöser Institutionen in der öffentlichen Politik und Kultur (wie zum Beispiel in den USA, in Polen oder in Indonesien) die MainstreamHypothese der Säkularisierungstheorie, nämlich den Rückgang religiöser Traditionen durch die erlangte Unabhängigkeit staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen gänzlich widerlegt. Auch Entwicklungen wie die strukturelle Differenzierung gesellschaftlicher Institutionen, eine technische Spezialisierung der Gesellschaft und die Pluralisierung von Lebensstilen, die als Grund für abnehmende Religiosität gelten, beziehen sich nur auf ein idealisiertes Modell, das selbst der Geschichte der Religionen in westlichen Gesellschaften nicht gerecht wird, weil es zu undifferenziert ist. Das 18. und 19. Jahrhundert waren beispielsweise nicht nur durch eine Entmachtung religiöser Autoritäten geprägt. In dieser Zeit entstanden auch neue, lebendige religiöse Bewegungen wie der Methodismus in England,

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der Chassidismus in Polen, die Pietisten in Deutschland und den Vereinigten Staaten oder protestantische Erweckungsbewegungen. Ihre Führungsschicht bestand aus einer komplexen Zusammensetzung sozialer Klassen und die meisten Gruppen bezogen ihre Mitglieder nicht von den aristokratischen Wächtern der alten Ordnung – von denen sich viele nicht mehr als christlich bezeichneten – sondern aus der neuen urbanisierten Arbeiter- und Mittelklasse. Diesen Menschen boten sich dadurch Möglichkeiten der Mitgestaltung und des sozialen Respekts, die ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Nicht zuletzt stellten diese Bewegungen einen zeitlichen Rahmen und Strategien zur Selbstkontrolle bereit, die zu den disziplinatorischen Ansprüchen der aufsteigenden industriellen Ordnung passten. Dass das republikanische Amerika 1791 gegen eine Staatskirche stimmte, bedeutete in den USA keine Abnahme von Religiosität, sondern eröffnete Möglichkeiten für einen freien Wettbewerb der Bekenntnisse, durch den die Entstehung von Sekten und konfessionellen Rivalitäten begünstigt wurde. Die vorrangigen Profiteure dieser Situation waren dabei nicht die alteingesessene Oberschicht von Episkopalen und Presbyterianern, sondern die populistisch ausgerichteten Methodisten und Baptisten. Wie Islamisten und Evangelikale in nicht-westlichen Gesellschaften heute, waren diese beiden Gruppen erfolgreich, weil sie den sozialen Abstand zwischen Klerus und Volk verringerten, den Kirchengemeinden mehr Autonomie zugestanden und den Zugang zu höheren Positionen innerhalb der Gemeinde öffneten. Der industrielle Kapitalismus, der sich nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) entfaltete, entthronte die Hegemonie der protestantischen Religion, der sie bis dahin unterstanden hatten, durch die Trennung ökonomischer Organisationen von der moralischen Kontrolle. Die Folge war eine Kolonisierung der Öffentlichkeit durch die Eigeninteressen der Führenden des Marktes und des Staats (Bellah et al. 1985). Die Einwanderung vor allem von Juden und Katholiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untergrub die protestantische Vorherrschaft in den USA schließlich weiter und zerstörte alle Hoffnungen konservativer Christen auf eine protestantische Staatsreligion. Währenddessen führten die Bestrebungen von Juden (sowohl säkulare als auch religiöse), Katholiken und Baptisten zu mehr religiöser Offenheit. Die Folge davon war einmal mehr nicht das Verschwinden der Religion aus dem öffentlichen Leben, sondern Pluralisierung und erhöhter Wettbewerb. Das Christentum spielte weiterhin eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit, weil es Allianzen mit der reaktionären

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Führungsschicht vermied und sich für den konfessionellen Wettbewerb anstelle einer staatlichen Religion entschied. Für westliche Länder scheint daher zu gelten, dass Religionen sich am besten durchsetzen konnten, wenn sie keine Wiedervereinigung mit dem Staat anstreben und stattdessen Organisationsformen und Ethiken entwickeln, die der Arbeiter- und Mittelschicht näher sind. Durch ihr Abrücken von der Elite haben sich diese Konfessionen aber auch sozialen Einflüssen ausgesetzt, duch die religiöse Autorität und Traditionen stark herausgefordert sind. Die Fragmentierung religiöser Autorität findet also im Wechselspiel mit der Pluralisierung sozialer Kräfte und einer damit einhergehenden Demokratisierung statt. Aber wo „the contest of carriers has coincided with civil war, economic collapse, ethnic polarization, or severe state violence, however, the struggle has often abetted the ascent of a ,neofundamentalism‘ hostile to pluralism, women’s emancipation, and proponents of an Islamic civil society.“ (Hefner 1998, S. 91) Dass sich radikale religiöse Einstellungen durchsetzen, geht laut Hefner auf radikale Entwicklungen oder Belastungssituationen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zurück. Alle transnationalen Religionen sehen sich laut Hefner ähnlichen Herausforderungen gegenüber, ihre Reaktionen darauf würden aber die Beschaffenheit und Ressourcen, die jeder Religion in ihrem Zusammentreffen mit der Moderne zur Verfügung stehen, sichtbar machen. Diese Analyse trifft zur Zeit vor allem auf die Konversion zum Protestantismus zu, die in Asien, Afrika und Lateinamerika in großem Maß stattfindet. Die Regionen, in denen dies am häufigsten passiert, sind jene, in denen die Verbindung zwischen Religion und Ethnizität nicht ausgeprägt und der soziale Druck durch den Staat, Kapitalismus und Migration hoch ist (ebd., S. 95). Die erfolgreichsten religiösen Konfigurationen bestehen dort, wo sie von Eliten, die ihre Allianzen in der Gesellschaft verloren haben, abgerückt sind und sich auf die Ebene der Massengesellschaft begeben haben. Wie sich zeigt, ist das Schicksal moderner Religionen nie allein durch das Religiöse bestimmt, sondern durch ihre jeweilige kontextuelle Einbettung. Die Bildung religiös-nationalistischer Strömungen hängt also eng mit dem sich modernisierenden Staat zusammen. In Ländern, in denen die Einsetzung des Nationalstaates durch westliche Mächte erfolgte, wie zum Beispiel in Saudi Arabien oder in Ägypten hat nicht das Religiöse per se den Nationalismus hervorgebracht, sondern es war die Schaffung des Nationalstaates, die dem Islamismus einen nationalistischen Einschlag gab (Asad

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2003). Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Abschnitten die These weiter verfolgt, dass der wahre „Konflikt der Zivilisationen“ nicht zwischen dem Westen und einem homogenen Anderen stattfindet, sondern zwischen rivalisierenden Autoritäten und Traditionsträgern innerhalb derselben Nationen und Zivilisationen. Der folgende Teil dieses Kapitels behandelt verschiedene politische Bedingungen, unter denen islamische Bewegungen besondere Anziehungskraft entwickelt haben. Je nachdem, wie sich das konkurrierende Verhältnis zwischen Staat und Religion gestaltet, unterstützen unterschiedliche Konstellationen eine Integration oder Radikalisierung religiöser Bewegungen. Dabei stehen vor allem strukturelle Veränderungen durch die Modernisierung und der Übergang zum Nationalstaat im Vordergrund. Sie lassen sich anhand konkreter gesellschaftlicher Bereiche, wie zum Beispiel dem islamischen Rechtssystem, veranschaulichen.

1.2 D ER I SLAM

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P ROZESS

DER

N ATIONENBILDUNG

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zielen islamische Bewegungen darauf ab, religiöse Inhalte in die politische Sphäre einzuführen und islamischen Aktivismus zu institutionalisieren. Diese Bewegungen, die ich unter dem Begriff des „Politischen Islam“ zusammenfasse, verfolgen in Berufung auf religiöse Schriften und Symbole unterschiedliche politische Ziele, die sowohl Aktivitäten auf staatlicher Ebene als auch jene von sogenannten GrassrootBewegungen umfassen.6 Ein bedeutendes Element für diese Entwicklung war, dass viele islamische Länder Mitte des 20. Jahrhunderts Unabhängigkeit vom europäischen Kolonialismus erlangten und in einen Konflikt um ihre nationale und kulturelle Identität eintraten. In diesem Konflikt bildeten sich Visionen einer modernen, islamischen Gesellschaft heraus, in der in Teilen der Bevölke-

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Letztere sind vor allem Bewegungen, die die Etablierung einer öffentlichen Moral durch kommunitäre Aktivitäten anstreben (wie den Bau von Schulen und Moscheen, Bereitstellung medizinischer Versorgung etc.). Sie fallen unter die politische Sphäre insofern, als sie staatlichen Regeln unterliegen und oft in Konkurrenz mit staatlichen Institutionen stehen.

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rung auch der Ruf nach mehr politischer Partizipation und Demokratisierung lauter wurde. Der Auftrieb islamischer Bewegungen lässt sich jedoch bereits auf die Kontakte zwischen islamischen und westlichen Gesellschaften Ende des 19. Jahrhunderts zurückführen, die in Zusammenhang mit den Ideen der Aufklärung und des Nationalstaates, in verschiedenen Schüben und in unterschiedlicher Form eine fundamentale Veränderung der islamischen Geistlichkeit zur Folge hatten. Die daraus resultierenden Traditionsbrüche stellten die Gesellschaften vor neue Herausforderungen, denen von Seiten der jeweiligen Machthaber unterschiedlich begegnet wurde. Auf diese Beziehungen zwischen Religion und Staat werde ich am Ende dieses Kapitels zu sprechen kommen. Zuvor jedoch möchte ich anhand des islamischen Rechtssystems veranschaulichen, dass eine „von oben“ initiierte Abschaffung bestimmter religiöser Traditionen nicht notwendigerweise zu einer modernen Gesellschaft im Sinn von mehr gesellschaftlichen Freiheiten führt. 1.2.1 Die Neudefinition der Schari’ah Die Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontexts bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung eines Rechtssystems ist in Bezug auf das islamische Recht noch wenig etabliert. Dieses wird in den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit islamischen Gesellschaften beschäftigen, als willkürlich angesehen; Max Webers Begriff der „Kadi-Justiz“7 beispielsweise erfreut sich immer noch großer Beliebtheit und gilt als normativ für Studien der Geschlechterforschung im Islam (Sonbol 2003, S. 228). Im Gegensatz dazu hat Amira Sonbol in archivarischen Recherchen konkretes und detailliertes Wissen über das islamische Rechtssystem im ehemaligen Osmanischen Reich zu Tage gefördert, anhand dessen der Einfluss und die Konsequenzen der Modernisierung sehr gut abgelesen werden können. Die Gerichtsarchive der Türkei etwa weisen zur Zeit des Osmanischen Reiches große Konsistenz in der Anwendung des Rechts und in entsprechenden Entscheidungen auf. Die Bedeutung schriftlicher Verträge

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Der Begriff geht auf Max Webers Schrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ zurück. Gemeinhin versteht man darunter einen Mangel an Berechenbarkeit von Seiten des Richters sowie das Fehlen einer generalisierten Rechtsdoktrin zugunsten der Abwägung von Einzelfällen (Jung, 2002).

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geht der Ausbreitung des Islam in dieser Region voraus und stellt später einen der wichtigsten Grundpfeiler im Islam dar, der im Koran und in der Sunna (überlieferte Handlungen und Aussagen des Propheten Mohammad) wiederholt auftaucht. Ein anderes Basisprinzip des islamischen Rechtssystems ist der Schutz der sozial Schwachen. In besonders gewichtigen Fällen oblag es den Kadis, nach ihrem Ermessen zu urteilen. Die Prinzipien, an denen sich der Kadi orientierte, standen in Abhängigkeit vom soziokulturellen und ökonomischen Kontext der Leute, denen er diente, aber auch staatliche Gesetze in Form von Edikten wurden zum Urteil herangezogen. Anders als in modernen Nationalstaaten etablierte der vormoderne Staat keine Rechtskodizes, die die sozialen Beziehungen bestimmten. Mit diesen Richtlinien und der islamischen Schari’ah als Rahmen, kam der Kadi zu seinen Entscheidungen. Die Zentralisierung und Homogenisierung legaler Richtlinien und Gerichtsvorgänge geschah erst, als aus dem früheren Osmanischen Reich Nationalstaaten geformt wurden. Ägypten, das 1882, während es noch Teil des Osmanischen Reiches war, von den Briten besetzt wurde, entwickelte sein Rechtssystem nach europäischem Beispiel, da die Reformer selbst entweder britische Berater der ägyptischen Regierung waren oder Ägypter, die französische oder britische Rechtsschulen absolviert hatten. Zwischen 1880 und 1897 wurden dort moderne Schari’ah-Gerichte etabliert, die auf das Familien- und Eherecht von Muslimen aber auch Angehöriger anderer Religionen ausgerichtet und von Vertretern der dortigen christlichen Kirchen sowie Synagogen abgesegnet waren. Der Hauptgrund dieser Reformen war, Gerichtsprozesse zu beschleunigen und die Korruption im Bereich der Justiz zu beenden. Die Reformen bestanden darin, Vorgänge zu standardisieren und sie an die Rechtsprinzipien des Nationalstaates anzugleichen. Durch diese Rationalisierung wurden die Gesetze im ganzen Land einheitlicher: Kadis wurden in neu-eröffneten staatlich geführten Schulen ausgebildet und die Staatsraison anhand von standardisierten Gesetzen und Praktiken durchgesetzt. Ein standardisiertes System wurde als gerechter für die ägyptische Bevölkerung angesehen und passte in das Konzept des modernen Nationalstaats (Sonbol 2003, S. 230/231). In der heutigen westlichen öffentlichen Debatte wird angenommen, dass die Schari’ahGesetze, die von modernen islamischen Staaten heute angewandt werden, eine Erweiterung von Gesetzen aus den Anfängen des Islam seien und dass die Schari’ah somit eine Fortführung der Gesetze Gottes sei, wie sie im Koran und in der Sunna festgelegt wurden. Liberalere Aspekte der Scha-

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ri’ah werden dabei als das Ergebnis westlicher Einflüsse angesehen. Anhänger der Modernisierung fordern daher westliche Gesetze, Menschenrechte oder Frauenrechte, als Ersatz für ein dysfunktionales islamisches Rechtssystem. Die Fundamentalisten und jene, die die Errichtung eines islamischen Staates befürworten, verlangen hingegen die Einführung von Gesetzen, die sie als islamisch ansehen, die auf den Schriften mittelalterlicher Theologen basieren und mit den aktuellen Rechtspraktiken in islamischen Gerichten wenig zu tun hätten. Zeitgenössische Gerichte in islamischen Ländern wenden ein Rechtssystem an, das entlang einem Spektrum zwischen diesen beiden Extremen liegt. Viele islamisch geprägte Staaten verlangen heutzutage beispielsweise, dass eine Frau, um einem Beruf nachzugehen, die Erlaubnis ihres Mannes vorlegt. Manche Länder wie Jordanien erlauben einer Frau nur berufstätig zu sein, wenn sie auf ihr Recht auf finanzielle Versorgung durch ihren Ehemann (nafaqa) verzichtet. Diese Praxis hat jedoch wenig mit derjenigen zu tun, die in Schari’ah-Gerichten vor der Rechtsreform im 20. Jahrhundert in weiten Teilen der islamischen Welt üblich war. Unter den alten Gesetzen arbeiteten Frauen und investierten in Handel und Gewerbe und hatten die Möglichkeit, sich ohne die Erlaubnis des Mannes scheiden zu lassen. Anders als in heutigen Gerichten hatten die Kadis weder das Recht eine Frau zu zwingen, bei ihrem Mann zu bleiben, wenn sie eine Scheidung wollte, noch stellten sie ihre Beweggründe für die Scheidung in Frage. Die Rolle des Kadi war mehr die eines Mediators in Bezug auf finanzielle Rechte und Unterstützung in Anbetracht der Scheidung. Das moderne Familienrecht ist im Gegensatz dazu offensichtlich gegen Frauen gerichtet. Einer der Hauptgründe für die Veränderung im Umgang mit Frauen in modernen Schari’ah-Gerichten ist darin zu suchen, dass neue separate Schari’ah-Gerichte gegründet wurden, die sich in keiner Weise auf die Vorgängermodelle bezogen. Die modernen Staaten schufen Rechtsordnungen, die von einem Ausschuss zusammengestellt wurden, und gaben diese an Kadis weiter, die in den neuen Rechtsschulen ausgebildet worden waren. In diesem Prozess wurde die Logik des Gerichtssystems, die Philosophie, die hinter der Schari’ah steht und die Flexibilität, die diese sowohl der Öffentlichkeit als auch den Kadis gewährte, immer weiter gedrosselt:

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„Common practices, at the heart of a system which had been organically linked to the society it served, were replaced by particular laws suitable to nineteenth-century Nation-State patriarchal hegemony. These laws ultimately worked against the weaker members of society (i.e., women and children) even while making the legal system more streamlined, homogenous, and efficient.“ (Ebd., S. 233)

Die Kadis hatten sich an den Traditionen, die den Menschen, mit denen sie zu tun hatten, vertraut waren, orientiert und entsprechend der Rechtsschulen, denen sie angehörten, als auch aufgrund ihres eigenen Urteils entschieden. Dieses System war flexibel und gab der Öffentlichkeit mehr Möglichkeiten, ihr Recht einzufordern und Konflikte zu lösen als die vom Staat formulierte strikte Gesetzesordnung und deren Normen. Frauen hatten eindeutig festgelegte Rechte, um ihre Klagen vor Gericht einzubringen. Sie konnten ihre Eheverträge und die Bedingungen, unter denen sie lebten, bestimmen – weit entfernt von heutigen Gesetzen, die Frauen völlig unter die Kontrolle ihrer Ehemänner stellen. Sonbol vertritt die These, dass die Rechte von Frauen verloren gingen, weil die vormodernen Schari’ah-Gerichte nicht als Modell für ihre modernen Nachfolger verwendet wurden. Dies wird am ägyptischen Beispiel deutlich: Während der osmanischen Herrschaft über Ägypten (1517-1798) hatte der Staat eine schwache politische Präsenz, weil Ägypten von der direkten zentralisierten Administration Istanbuls weit entfernt war. Die aus dieser indirekten Kontrolle entspringende diffuse Natur seiner Administration erlaubte Ägypten eine juristische Mobilität, Freiheit und vor allem eine Verbindung zwischen Rechtssystem und Gesellschaft. Die Kadis hatten gewichtige Autorität in den Gemeinschaften, in denen sie tätig waren. Weil sie ein lebenslanges Amt bekleideten, waren sie mit der Nachbarschaft und ihren Traditionen vertraut. Manche Kadis waren wohlhabend, einflussreich und arbeiteten mit den Eliten zusammen, während andere, die in kleineren Bezirken tätig waren, eher arm waren und keinen entsprechenden Einfluss hatten. Die Beziehung zwischen dem Kadi und seiner Gemeinschaft war daher mehr kommunitär als hierarchisch organisiert. Die lokale Macht der Richter und anderer Beamter hing in erster Linie von ihren Beziehungen zur Gemeinschaft ab und nicht von der Unterstützung einer zentralen Regierung, die sie eingesetzt hatte. Obwohl das Gesetz der Schari’ah befolgt wurde, variierte seine Administration je nach geographischer Lage und Klassenzugehörigkeit der Personen. Die Gerichte waren eine wichtige und vertraute Institution im Leben der

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Menschen. Vor Gericht zu gehen, war einfach: Sie waren leicht zugänglich, verwendeten eine informelle Sprache und standen auch Nicht-Muslimen offen. Nicht-Muslime suchten Schari’ah-Gerichte auch wegen Scheidungen oder erneuter Heirat auf, Handlungen, die mitunter in ihren eigenen Kirchen oder Synagogen verboten waren aber in Schari’ah-Gerichten ausgeführt werden konnten. Auch das änderte sich im 19. Jahrhundert mit der Errichtung der Nationalstaaten. Es erfolgte eine Kategorisierung von Fällen, wie zum Beispiel die separate Aufzeichnung von Verbrechen oder Eheverträgen und anderen geschlechtsspezifischen Bereichen, was zu deren Trennung von anderen Fällen führte (Sonbol 2003, S. 244). Die Aufteilung in ein öffentliches Recht, ein Straf- und Privatrecht strukturierte den bestehenden Corpus der islamischen Rechtsprechung daher entsprechend einer an ein westliches Modell angelehnten Rechtsordnung neu. Obwohl Schari’ah-Gerichte als religiöse Gerichte angesehen werden können, waren sie vor der Modernisierung im frühen 19. Jahrhundert eigentlich staatliche Gerichte, die allen offen standen. Dies änderte sich mit der Rechtsreform Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Rahmen des Religiösen auf Familienangelegenheiten erweitert wurde und diese zu spezifisch religiösen Themen machte. Danach genossen Nicht-Muslime nicht mehr die Freiheit, das Gericht, das ihren Bedürfnissen am besten entsprach, aufzusuchen, sondern sie waren nun gesetzlich dazu verpflichtet, sich dem Gesetz der religiösen Gemeinschaft zu unterwerfen, der sie angehörten. Die Gerichte schienen bei Verbrechen zwischen Frauen und Männern keinen Unterschied zu machen. Vergewaltiger wurden unabhängig vom Geschlecht des Opfers gleich behandelt, sogar im Fall der Vergewaltigung von Jungfrauen – ein Vergehen, das in vielen islamischen Ländern heute als eines der schwersten gilt. In vormodernen Schari’ah-Gerichten waren soziale Beziehungen und der persönliche Ruf sehr wichtig, weil bei umstrittenen Fällen glaubwürdige Zeugen notwendig waren. Mit der Orientierung an der westlichen Rechtsprechung veränderte sich auch die Bereitschaft, vor Gericht aufzutreten: „Criminal codes and legal precedent, particularly from France, became the norm for countries like Egypt, Lebanon, and Syria. These modern courts introduced the issue of intent as part of the formula for proof of rape. According to the new laws, the actions of the victim became a source of scrutiny. This focus on the woman’s actions put victims on the defensive and allowed men to get away with rape. It also made

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families unwilling to come forward with accusations of rape because attacking the victim family member’s morals dishonored the family. The consequences of this legal change in regards to women and children cannot be undermined.“ (Ebd., S. 248)

Wie Männer auch hatten Frauen das Gericht vor der Modernisierung aus allen möglichen Gründen aufgesucht. Die Gerichtsarchive zeigen, dass Frauen sehr aktiv im Handel und Handwerk des Osmanischen Reiches tätig waren und an fast allen Bereichen des Marktes großen Anteil hatten. Eine Berechtigung von ihrem Ehemann für den Besitz eines Geschäftes etwa war, im Gegensatz zu heute, irrelevant. Heutige Gesetze in islamischen Ländern sehen jedoch eher vor, dass der Handlungsspielraum einer Frau von ihrem Mann kontrolliert wird. Während soziale Normen dabei einen ausschlaggebenden Faktor darstellen, wird diese Kontrolle mit der Schari’ah gerechtfertigt, obwohl dies in den Gerichten vor der Einführung des modernen Rechtscodes nicht der Fall war. Dekonstruiert man das historische Bild von Frauen in islamischen Gesellschaften, wird deutlich, dass die Kontrollen, denen sie heute ausgesetzt sind, von Praktiken vor der Modernisierung des Rechts abweichen und eng mit der Etablierung nationalstaatlicher Modelle zusammenhängen. Das soll nicht bedeuten, dass das vormoderne System nicht patriarchal war. Das heutige Recht ist jedoch eine neue Nuance des Patriarchats, die da existiert, wo Staatsgewalt angewandt wird, um patriarchale Gesetze durchzusetzen und die Rechte von Frauen einzuschränken. Mit anderen Worten, das islamische Recht ist keine Frage der Unabänderlichkeit göttlicher Gesetze, sondern es beruht auf einem patriarchalen Staat, der sich weigert, seine Gesetze zu ändern. In Anbetracht der vorangegangenen Diskussionen im Zusammenhang mit dem modernen Nationalstaat und seinem Verhältnis zum Religiösen kann in Bezug auf islamische Gesellschaften davon ausgegangen werden, dass nationale Befreiungs- oder Unabhängigkeitsbewegungen sich eines religiösen Diskurses bedienten, da dieser als ein kulturell autochthones Element in der Konfrontation mit ausländischen Einflüssen angesehen wurde. Dieser Konflikt zwischen säkularen und religiösen Kräften besteht in islamischen Gesellschaften heute, wie sich zeigen wird, auf unterschiedlichste Art weiter. Im abschließenden Teil dieses Kapitels komme ich daher nun auf Entwicklungen im Politischen Islam zu sprechen.

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1.2.2 Politischer Islam Der gesellschaftspolitische Entstehungskontext des Politischen Islam ist, wie oben bereits erwähnt, neben dem Verhältnis zu westlichen Gesellschaften auch durch den Umgang der jeweiligen politischen Systeme mit dem Religiösen geprägt. Der Frage, unter welchen Umständen das Verhältnis zwischen Religion und Staat einen oppositionellen religiösen Diskurs hervorgebracht hat, der sich an einheimischen kulturellen Traditionen zu orientieren sucht, werde ich nun nachgehen. In Ägypten beendete die französische Invasion 1798-1801 unter Napoleon Bonaparte die Herrschaft der Mamluken und initiierte eine vom Staat gelenkte Modernisierung mit einem administrativen Apparat, staatlichen Monopolen und einer modernen Industrie. Viele ausländische Händler besuchten das Land, es gab einen starken Militärapparat, eine florierende Presse und erweiterte Bildungsmöglichkeiten. Mit der Besetzung durch die Briten 1882 und dem Einzug der Evangelikalen wurden in die ägyptische Gesellschaft Kategorien eingeführt, die sich entlang der Dualitäten von menschlichem Verstand und Aberglauben, wissenschaftlicher Rationalität und Tradition, Zivilisation und Barbarei, Gleichberechtigung und männlicher Dominanz, Freiheit und Despotismus, Christlichkeit und Heidentum orientierten (Moaddel 2001, S. 678). Mansoor Moaddel beschreibt, wie britische Missionare in Ägypten Schulen gründeten und Magazine mit einer Leserschaft von mehreren tausend Personen veröffentlichten, von denen viele muslimisch waren. Auf den Treffen, die von den Missionaren organisiert wurden, waren jedoch keine religiösen Diskussionen erlaubt. Die Themen waren Bildung für Frauen, moralische Reinheit und wie Geschichte zu interpretieren sei. Im Jahr 1906 gab es in Ägypten acht Missionsstationen mit über 600 einheimischen Arbeitern. Es gab Grundschulen, Mittelschulen, drei Universitäten, vier Spitäler, zehn Kliniken und eine Kirche mit 62 organisierten Gemeinden (ebd., S. 693). Die gebildeten Muslime begannen, ihr Land als rückständig wahrzunehmen: Ägypten verfügte nur über rudimentäre Technologien, kaum Bildungsmöglichkeiten, despotische politische Institutionen und niedriges ökonomisches Wachstum. Das führte dazu, dass zu bisherigen Konzepten des Islam neue Terminologien gesucht und hinzugefügt wurden. Der Koran und die Hadithen wurden im Sinne von Vernunft und Verwert-

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barkeit neu interpretiert, die Shura (beratende Körperschaften) wurde in parlamentarische Demokratie umgewandelt, und auf Charles Darwins neuen Erkenntnissen beruhende Prinzipien wie natürliche Auslese und das Überleben des Stärksten sollten die ägyptische Gesellschaft mit den aus westlichen Gesellschaften stammenden Normen sozialen Denkens des 19. Jahrhunderts kompatibel machen. Religiöse Ansprüche waren dabei überflüssig geworden. In den 1930er und 40er Jahren war Ägypten durch politische Mäßigung und parlamentarische Politik geprägt. Extremistische Strömungen entstanden erst nach dem Putsch von 1952, als Bewegungen wie die der Muslimbrüder von jeglicher politischer Partizipation ausgeschlossen wurden. Vor diesem Hintergrund versucht Moaddel die Radikalisierung islamischer Bewegungen anhand dreier Thesen zu veranschaulichen: Theoretiker der ersten Strömung beschäftigen sich mit ökonomischen Krisen, sozialer Ungleichheit und Autoritarismus. In der Türkei beispielsweise wurde die Partei der Gerechtigkeit mit der Zeit Teil des Großunternehmertums und verlor damit die Unterstützung in der Bevölkerung. Eine Vielzahl kleinerer Parteien entstand, unter anderem die Nationale Ordnungspartei, die den Islam für sich vereinnahmte. Kunsthandwerker, kleine Händler und niedrige Einkommensgruppen fühlten sich von ihr angesprochen. Dieser Theorie nach gilt der Politische Islam als eine Antwort auf eine kulturelle Invasion des Westens und die damit einhergehende ökonomische Infiltration und politische Dominanz. Im Iran geschah dies aber während einer Phase beachtlichen wirtschaftlichen Wachstums. Von 1925 bis 1978 bestanden dort zwei parallele Machtstrukturen: einerseits der Pahlavi-Staat und andererseits eine organisierte Hierarchie der Ulema (religiöse Gelehrte), die seit der Einführung des Islam als Staatsreligion im Jahr 1501 über institutionelle Autonomie verfügte (Moaddel 2002, S. 372). Diese duale Struktur lässt sich mit dem zweiten Erklärungsansatz, der These der kulturellen Dualität erfassen, die zwei widerstreitende Autoritätssysteme zum Ausgangspunkt nimmt. Darin wird ein islamischer Diskurs postuliert, der in Opposition zu Staatsideologie und Kulturpolitik geformt wird. Der Politische Islam formte sich im Iran unter der Pahlavi-Monarchie in einem Klima politischer Unterdrückung und machte den Weg für eine moderne Konstitution unter der Führung eines islamischen Regimes frei. Durch die Islamische Revolution wurde der Ausschluss des Religiösen in Integration verwandelt – allerdings unter der totalen Kontrolle durch den

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Staat.8 In Jordanien hingegen wurde der Umsturz der Monarchie oder die Errichtung eines islamischen Staats nie eingefordert. Damit bestätigt sich, dass die teilweise politische Integration religiöser Bewegungen einen „praktischen“ Islamismus unterstützt und ideologisch radikale Bewegungen zersplittert. Als Beispiel für die dritte These, die die Auswirkung staatlicher Ideologien auf religiöse Bewegungen zum Gegenstand hat, führt Moaddel den Linksruck in Algerien in den 1970er Jahren an, der die islamische Opposition stärkte. Das algerische Regime wurde angreifbar, weil es durch eine „fremde“ (kommunistische) Ideologie geprägt war. In Ägypten fand sich die Muslimbrüderschaft mit dem Militärputsch 1952 einem autoritären politischen Klima gegenüber, das in der Ermordung ihres Gründers, Hassan alBanna, gipfelte. Auch im Iran wuchs islamischer Aktivismus ab den 1950er Jahren aufgrund der monolithischen kulturellen Ordnung, die „von oben“ durch einen säkular ideologischen Staat aufgezwungen war und die Religion dadurch politisierte. Viele Staaten dieser Region befanden sich im 20. Jahrhundert darüber hinaus in einer Situation, die von starker sozialer Fragmentierung geprägt war: In Algerien stand eine sozial aufsteigende intellektuelle Schicht einem vom Abstieg gefährdeten und deswegen aufgebrachten traditionellen Kleinbürgertum gegenüber. In Ägypten gab es Spannungen zwischen bourgeoisen Intellektuellen (darunter auch Mitglieder der Muslimbrüderschaft), populären Scheichs und Führern nicht-staatlicher Moscheen. Im Iran spalte-

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Arjomands Ausführungen über die Errichtung eines islamischen Staates im Iran veranschaulichen, dass es sich dabei nicht um die „Rückkehr“ zu islamischen Ursprüngen, sondern um ein modernes Phänomen handelte: die Institutionalisierung der Islamischen Republik habe zu einer Überlagerung von fundamentalistischen (im Sinne der wortwörtlichen Auslegung des Korans) mit politischen Elementen geführt. Die Inhalte wurden in Begriffen des modernen politischen Mythos der Revolution formuliert und nicht in ursprünglich islamischen Begriffen. Eine Legitimierung der Revolution auf Grundlage des Korans hatte es bis dahin noch nicht gegeben und ihre Struktur hat keine Vorläufer in traditionellen Strömungen des Politischen Islam. Da dieses politische Konzept auf der Idee des Nationalstaates basiert, entspräche es zwar ideologisch den Grundlagen des Politischen Islam, unterscheide sich davon aber institutionell (Arjomand 1995, S. 185).

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te sich die Gesellschaft zwischen säkularen Intellektuellen und ihrer Privilegien beraubten Klerikern. Die Staatsideologie spielte für viele islamische Bewegungen eine Schlüsselrolle; säkulare Ideologien in Ägypten, Syrien und dem Iran boten einen günstigen Kontext für eine Radikalisierung des Politischen Islam. Der Demokratisierungsprozess, der 1989 von König Hussein in Jordanien initiiert wurde, beförderte hingegen die Mäßigung der islamischen Bewegung. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass radikale Strömungen sich in Abhängigkeit vom Pluralismus und dem Ausmaß ihrer Integration in der Gesellschaft entwickelten. Der Politische Islam hat also viele Facetten, die über das Religiöse weit hinausgehen. Viele Muslime sehen islamische Parteien heute nicht als Alternative zu säkularen, sondern eher als eine von vielen politischen Alternativen, die aufgrund ihrer aktuellen Programme und Effektivität beurteilt werden. Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es keine Debatte, die sich um einen islamischen versus säkularen Staat dreht. Es geht vielmehr darum, welches Regierungssystem die Erreichung grundlegender Werte und Ziele gewährleisten kann. Das Streben nach der Erfüllung des Paradigmas der Trennung von Religion und Staat hat währenddessen in einigen Ländern, in denen die Mehrheit der Bevölkerung islamisch ist, zu einer rigiden Reglementierung öffentlicher Religion geführt. So hat der ägyptische Staat beispielsweise seit dem 19. Jahrhundert eine Bandbreite von Reformen zur Veränderung religiöser Institutionen und Einstellungen eingeführt, die zwar nicht auf die Abschaffung der Religion in politischen und öffentlichen Institutionen ausgerichtet waren, aber darauf, islamische Praktiken zu regulieren und kontrollierbar zu machen. Wenn islamische Praktiken von staatlich unterstützten Formen abweichen, wird ihnen mit der disziplinären Macht des Staatsapparates begegnet (vgl. Asad 2003, Mahmood 2005). 2007 wurden religiöse Parteien in Ägypten durch die Verfassung verboten. Angesichts der Verschärfung politischer Konflikte, die solche Politiken zur Folge haben, wird deutlich, dass statt einer Unterdrückung islamischer Bewegungen in der Politik um jeden Preis eher die Herausarbeitung jener Faktoren wichtig wäre, die sich für die Pluralität und Flexibilität der jeweiligen Gesellschaft bereits bewährt haben oder dafür förderlich sein könnten.

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Vor diesem Hintergrund werde ich im folgenden Kapitel die Entwicklungen zwischen Staat, Religion und Gesellschaft verfolgen, die 1979 zur Errichtung der Islamischen Republik im Iran geführt haben.

2. Der Traum der Moderne im Iran

Auf den vorangegangenen Überlegungen aufbauend, werde ich in diesem Kapitel ausführen, wie der Traum der westlichen Moderne in der iranischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts implementiert wurde. Danach wird diskutiert, welche Auswirkungen diese Prozesse auf das soziale Gefüge Irans bis heute haben. Um zu vermeiden, das Projekt der Modernisierung nur aus der Perspektive der Herrschenden und der politischen Entscheidungsträger darzustellen, kommt den Veränderungen in der Alltagskultur Irans in besondere Aufmerksamkeit zu. In diesem Sinn habe ich mich entschieden, aktuelle Diskurse und Vorstellungen von Modernität anhand einer Untersuchung aktueller iranischer Lifestyle-Zeitschriften vorzustellen. Zu Beginn nun jedoch erst ein Überblick über die wichtigsten historischen Ereignisse, die das Verhältnis des Iran zur Modernität seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Um zu verstehen, wie das Projekt der Modernisierung im Iran umgesetzt wurde, müssen kurz die Hauptakteure vorgestellt werden. Diese sind zum einen England und Russland, die das Land seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit militärischer oder wirtschaftlicher Gewalt kontrollierten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges übernahmen diese Rolle vor allem die Vereinigten Staaten. Zum anderen sind es die „Diktatoren der Modernisierung“ (Sachedina 1991, S. 409), wie die Pahlavi-Dynastie im Iran (1925-1979), die dem Land eine Modernisierung unter Ausschluss der Öffentlichkeit verordneten und den Klerus dabei als Hindernis sahen. Reza Schah Pahlavi (1925-1941) führte im Iran tiefgreifende Modernisierungsmaßnahmen durch und sein Sohn, Mohammad Reza Schah Pahlavi (1941-1979) setzte diese, mit immer weiter abnehmender Unterstützung des Volkes, fort. Abdel Aziz Sachedina

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kritisiert in diesem Zusammenhang die Nachgiebigkeit der jeweiligen Herrscher in ihrer Konfrontation mit den aggressiven Politiken der westlichen Nationen, auch hätten sie es verfehlt, vermittelnde Institutionen zu erschaffen, durch die die Bevölkerung mit den damit verbundenen Herausforderungen hätte fertig werden können. Die Politik von Reza Schah bot der breiten Masse keine angemessenen Möglichkeiten der politischen Partizipation, der Solidarisierung mit dem Herrscher oder der Eigeninitiative. Dies führte dazu, dass nur hohe Staatsbeamte und ökonomisch privilegierte Klassen wie Landbesitzer und Großhändler Nutznießer der neuen politischen Kultur waren. Diese Entwicklungen weisen bereits auf die Konflikte hin, die rund 50 Jahre später aufbrechen und zur Islamischen Revolution führen würden. Die Suche nach eigenen, islamischen oder iranischen Ressourcen für eine neue soziale Ordnung wurde zu einem apologetischen Diskurs mit dem endlosen Versuch, eine Balance zwischen traditionellen (iranischen) und modernen Identifikationen – die mit einer drohenden kulturellen Entfremdung einhergingen – zu erreichen. Eine nationalistische Einstellung nach westlichem Vorbild schien notwendig, um das Land von der Herrschaft des Westens zu befreien. Wie sich diese Entwicklung konkret gestaltete, ist Thema des folgenden Abschnitts.

2.1 D IE M ODERNISIERUNG I RANS 1906-1978 Während der Monarchie der Kadscharen im Iran (1794-1925) waren die Politik und der Klerus zwei voneinander unabhängige Institutionen. Die Konstitutionelle Revolution von 1906-1911 löste die absolutistische Monarchie der Kadscharen auf, indem sie ein Parlament und die erste Verfassung Irans schuf und so das Land in eine konstitutionelle Monarchie überführte. Die konstitutionelle Bewegung geht in großem Maß auf eine Allianz zwischen zwei islamischen Geistlichen, Ayatollah Behbahani und Seyed Mohammad Tabatabai zurück, die beide über eine beachtliche Gefolgschaft in der Bevölkerung Teherans verfügten. Diese Allianz, aus unterschiedlichen Gründen arrangiert und die verschiedenen Strömungen innerhalb des Klerus widerspiegelnd, führte dazu, dass zum ersten Mal große Teile der städtischen Bevölkerung politisch mobilisiert wurden und für die Revolution eintraten (Ansari 2000, S. 28). Im Jahr 1907 wurde der Iran im Vertrag

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von St. Petersburg zwischen England und Russland in zwei Interessensphären aufgeteilt. Aufgrund der beständigen militärischen Invasionen der Sowjetunion, der Zersplitterung der konstitutionellen Bewegung und der Tatsache, dass die Unterstützung in der Bevölkerung doch geringer war, als erwartet, scheiterte diese Bewegung schließlich. Dennoch darf ihr Einfluss in der Geschichte Irans nicht unterschätzt werden, denn die Konstitutionelle Revolution brachte neue soziale und politische Institutionen wie z.B. ein aktives Pressewesen hervor und formte politische Fraktionen, die die politische Landschaft Irans bis heute prägen. Während des Ersten Weltkriegs war der Iran – trotz seiner Neutralität – zu einem Schlachtfeld der Kriegsteilnehmer geworden. Mit Reza Schah Pahlavi kam 1925 ein Herrscher an die Macht, der säkularen Nationalismus und Militarismus nach westlichem Vorbild befürwortete, denn er sah darin ein Modell, mit dem er sein Land zu Stabilität, Wohlstand und Fortschritt führen könnte. In diesem Prozess machte Reza Schah den Klerus zunehmend vom Staat abhängig, indem er die Kürzung ihrer Gehälter veranlasste und ihren Einfluss im Bereich der Bildung und Rechtsprechung verringerte. Die neu entstandene Mittelschicht, die sich vermehrt an der Kultur der westlichen Mittelschicht orientierte, wurde währenddessen durch die prowestliche Politik des Schah unterstützt. Cyrus Shayegh beschreibt beispielsweise, wie bestimmte Mannschaftssportarten wie Fussball oder Handball im Iran zum Ausdruck des Lebensstils der Mittelklasse wurden, und dieser dadurch erlaubten, sich von anderen Klassen zu unterscheiden bzw. diesen als Vorbild zu dienen. In dieser Exemplarität wurde der Sport, neben staatlichen Bildungs- und Hygieneprogrammen, Teil des Versuchs von Seiten der Regierung Reza Schahs, eine gesunde und produktive Nation zu erschaffen. Im Angesicht universeller Wahrheiten der rationalen Wissenschaft und der Disziplin, die für die Überlegenheit des Westens verantwortlich gemacht wurden, musste der moderne Sport nun in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Prinzipien und Methoden perfektioniert werden: „Rational science or health which were the essence of the modern middle class’s political, outward-looking mission civilisatrice, fought out in cooperation with the state and aimed towards pushing Iran into the modern industrial age.“ (Shayegh 2002, S. 367) Gruppensportarten sollten zur Formung von Individuen beitragen, die sich nicht nur durch persönlichen Mut und Selbstdisziplin auszeichneten,

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sondern auch durch Fairness und die Fähigkeit, sich in eine Gruppe zu integrieren. Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten, wo diese Maßnahmen der Modernisierung auch der Unterschicht zugute kommen sollten, waren Hygiene, Gesundheitsvorsorge oder sportliche Aktivitäten im damaligen Iran jedoch nicht als ein universalistisches Projekt angelegt, das zu einem Ausgleich von Klassenunterschieden beitrug. Es war eher der Versuch, den Lebensstil der europäischen Mittelklasse in die iranische Mittelklasse einzuführen. Letztere wurde von einer in Europa bekannten Sorge erfasst, die mit der neuen industrialisierten Nation und den entwurzelten Massen in Verbindung stand, und zwar: „the panic about potential social and individual pathologies which would undermine or even annihilate modernist visions of a progressive, disciplined, productive society. It was addressed in numerous articles and books which advocated a host of preventive strategies for the improvement of moral, mental, and physical health, without however paying attention to the social situation of each professional group or class.“ (Ebd., S. 347)

Die Situation der iranischen Arbeiter war im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung von extremer Armut geprägt und bedrohte durch daraus möglicherweise resultierende Aufstände das große Projekt der Nation. Dieser latenten Bedrohung suchte man zum Beispiel durch den Bau von Krankenhäusern und Schulen für Arme zu begegnen. Von anderen Aspekten der Modernisierung blieben die Unterschichten hingegen ausgeschlossen. Dass diese neuen Politiken hauptsächlich im Interesse der Oberschicht standen, wurde auch dadurch deutlich, dass eine Strategie von Recht und Ordnung – vor allem durch härtere Strafen in den Armenvierteln – etabliert wurde. Damit die moderne iranische Nation in dem für sie damals ganz neuen Kontext der Weltwirtschaft erfolgreich bestehen konnte, wurde in den frühen 1930er Jahren außerdem ein Zuwachs an Bevölkerung durch Gesundheitsmaßnahmen angestrebt. Für Frauen galt das Credo, als Mütter und Ehefrauen reproduktiv und erzieherisch zu Hause für die Nation zu arbeiten. Andererseits war es für eine moderne Nation aber auch notwendig, die Frauen der urbanen Mittel- und Oberschicht aus ihrer vormodernen Abgeschiedenheit zu holen und sie bei der Schaffung des Nationalstaats in wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bereiche einzubinden.

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1941 wurde der Schah von britischen und sowjetischen Truppen abgesetzt und durch seinen 21-jährigen Sohn Mohammad Reza Schah Pahlavi ersetzt, der die Politik und Gesellschaft Irans durch seine pro-westliche Haltung bis zur Revolution 1978 prägen sollte. Der nächste einschneidende politische Konflikt mit dem Westen ereignete sich rund zehn Jahre nach der Absetzung, als Mohammad Mossadegh 1953 als demokratisch gewählter Premierminister (1951-1953) die Ölressourcen Irans zum ersten Mal in den Besitz des Landes bringen konnte. Daraufhin verhängte Großbritannien über den Iran einen verheerenden Boykott und drohte mit einer Invasion. Der Schah verließ vorübergehend das Land, während Großbritannien und die USA begannen, den Sturz Mossadeghs vorzubereiten. Die angeschlagene Wirtschaft und die Suche nach weiteren Verbündeten ließen Mossadegh immer autoritärer auftreten. Dies und seine Sympathie für die kommunistische Partei empfanden viele im politischen Establishment Irans beunruhigend und er verlor an Rückhalt. Man sah sich in diesen einflussreichen Kreisen nach Alternativen um. Der politisch geschwächte Mohammad Reza Schah und die Institution der Monarchie schienen den religiös-traditionellen Rivalen Mossadeghs für die Umsetzung ihrer Ziele geeignet. Die Abspaltung dieser Gruppe von Mossadeghs Nationaler Front ermöglichte den von den Briten und den USA 1953 ausgeführten Coup gegen Mossadegh und die Wiedereinsetzung des Schah. Mossadegh wurde danach vom Volk als nationaler Held gefeiert, der von ausländischen Kräften und dem Verrat einiger Landsleute gestürzt worden war. Der Schah hingegen „was marked with the stigma of having been restored to power by a foreign government; and this proved impossible to shake off.“ (Ansari 2000, S. 34) Dieser Eingriff beendete die demokratische Periode, die die vorangegangenen Jahre geprägt hatte und zerstörte sowohl die säkularnationalistischen als auch die mit ihnen sympathisierenden kommunistischen Bewegungen im Iran. Die USA, die bis dahin als potenzielle Verbündete gegolten hatten, hatten ihren Ruf in der Bevölkerung massiv beschädigt und der Schah verlor durch seine offensichtliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten jegliche Glaubwürdigkeit im iranischen Volk.

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2.1.1 Die Moderne konsumieren Im Kontext des Kalten Krieges beschlossen die USA weitere Maßnahmen, um den Iran vom Einfluss der Sowjetunion abzuschirmen. Eine ihrer Strategien war nicht unmittelbar politisch, aber nicht weniger wirkungsvoll: Amerikanisches Know-how, vor allem in Bezug auf Bildung, Sauberkeit und Konsum sollte in den Mittleren Osten exportiert werden. Realisiert wurde dies durch das Vier-Punkte-Programm der Truman-Administration, ein Aufbauprogramm für „Entwicklungsländer“. Es beinhaltete Veränderungen in der Familienstruktur, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau und die Anregung einer Konsumkultur inklusive der Erziehung zum „richtigen“ Konsumieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach sollte es Entwicklungen in der iranischen Gesellschaft verhindern, die zu einer kommunistischen Bewegung ähnlich jener in der UdSSR führen könnten. William O. Douglas, Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA, drückte in einer seiner Reisen in den Iran 1950 seine Hoffnung aus: „we (the U.S.) will write their (Middle Easterners) history instead of letting Soviet Russia do it.“ (Zitiert in Karimi 2005, S. 29) Um keinen offenen Konflikt mit der Sowjetunion heraufzubeschwören, sollte das Programm im Sinne einer „quiet diplomacy“ fungieren. Schließlich wurde der Wiederaufbau in Westeuropa mit billigem Öl aus dem Mittleren Osten finanziert, von dem ein wesentlicher Teil aus dem Iran kam. Jedes Jahr wurde also ca. ein Achtel des Betrags, der westeuropäischen Ländern als Teil des Marshall-Plans zukam, dem Iran für Wohn- und Erziehungsprogramme gewidmet. In einigen großen Städten Irans wurden zum Beispiel Haushaltsschulen eingerichtet, die erzieherische Programme im Bereich der Haushaltsführung anboten. Die Aktivitäten dieser Abteilung wurden von der amerikanischen Einheit für Erziehung und Bildung geleitet und waren Teil eines Vier-Punkte-Programms. Es sollte helfen, die Fähigkeiten von jungen Iranerinnen im Haushalt zu verfeinern, ihre Koch- und Essmethoden zu verbessern, die Gesundheit und Hygiene der Familie zu berücksichtigen und ihnen helfen, einen „guten Geschmack“ in der Dekoration und Einrichtung ihrer Häuser zu entwickeln.

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Haushaltsschule in Teheran

1962 stellte US-Präsident Lyndon B. Johnson fest: „What is going on in Iran, is about the best thing going on anywhere in the world“ und Armin Mayer, der Botschafter in Teheran zu dieser Zeit, bestätigte, dass „the Shah is making Iran (a) show-case of modernization in this part of the world.“ (Zitiert in Karimi 2005, S. 29)

Washington Post 1954: „Vier-Punkte-Programm zur Hoffnung Nr. 1 für Frieden erklärt“

Die „Abteilung für Erziehung und Bildung“ begann ihre Arbeit, indem sie ein Programm für Haushaltsführung in einer Mädchenschule in Teheran implementierte. In den USA selbst war die Schulung häuslicher Aktivitäten ein Phänomen, das nach dem Bürgerkrieg entstanden war und die Standardisierung von Haushalten zu einem Symbol demokratischer Gleichheit machte. Man ging davon aus, dass größere Ähnlichkeit zwischen den individuellen Wohneinheiten eine homogenere Gemeinschaft schaffen würde

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(Karimi 2005, S. 31). Die Veränderungen in Methoden des Kochens, der Sauberkeit und anderen häuslichen Aktivitäten, die in diesen Schulen gelehrt wurden, schufen unter den jungen Iranerinnen ein neues Begehren für westliche Produkte, die in ihren fortschrittlichen Küchen und Häusern verwendet werden sollten. Sie beeinflussten aber auch das männliche Begehren dahingehend, dass Frauen, die diese Erziehung nicht genossen hatten, weniger attraktiv schienen. Das Haushaltsprogramm zielte also in erster Linie auf das Management des Haushaltsbudgets und Gesundheitsthemen ab, später schuf es jedoch Bedürfnisse und Trends, die in einer Veränderung der Gesellschaft als Ganzes resultierten. In dem Programm spielte die disziplinierte Figur der Frau eine wesentliche Rolle. Das Curriculum für Hauswirtschaft im Iran zeigt Abbildungen von Frauen als Metaphern für den modernen Haushalt, die mit der Tradition des iranischen Hauses als kommunaler Einheit brechen. Die Frauen sind darin paradoxe Figuren, die sowohl eine enge Verbindung zu dem haben, was im Raum passiert, davon aber gleichzeitig auch entfremdet sind. Der Körper der Frau ist auf diesen Abbildungen ein Ort der Disziplin, Kontrolle und Regulation. Diese neue Beziehung zwischen der Frau und dem Haus, die diese Fotos illustrieren, zielte darauf ab, das traditionelle Haus von einer selbstverwalteten Einheit in eine Konsumeinheit zu verwandeln: „In the traditional house, most of the food was prepared, and some herbs and vegetables even grown in the courtyard. The introduction of a variety of table design and food preparation (packaging, preserving, etc.) transformed everyday domestic Iranian life and turned it into an American way of life, one that included mass consumption.“ (Ebd., S. 32)

Die Schulung von Frauen im häuslichen Bereich war nichts Neues für die iranischen Frauen, die die Projekte der „Verwestlichung“ Reza Schahs durchlebt hatten.1 Die Aktivitäten von Frauen in den Jahren 1936-41 beispielsweise waren durch ein staatliches Projekt beeinflusst, das einigen iranischen Frauen neue Möglichkeiten in Ausbildung und Beruf bot, im Aus-

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„Westlich“ meinte in der Schah-Zeit vor allem europäisch, aber auch die Amerikaner waren in der Gesellschaftspolitik Irans schon früh einflussreich: Die ersten US-amerikanischen Missionen gab es im Iran bereits 1838.

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tausch dafür, dass sie in der Öffentlichkeit von ihren Schleiern abließen. In der Vergangenheit hatten solche Veränderungen aber zumeist nur eine begrenzte Gruppe von Familien der Oberschicht betroffen. Während „guter Geschmack“ früher das Unterscheidungsmerkmal bestimmter Klassen war, beinhaltete der Diskurs darüber, was „guten Geschmack“ definierte, nach dem US-amerikanischen Nachkriegsprojekt alle Gruppen der Gesellschaft – mit anderen Worten, die Nation als Ganzes. Der Nachkriegsdiskurs über den Haushalt führte also eine spezifische Progressivität mit sich, weil er auch auf die Massen abzielte. Zwei Jahrzehnte lang wuchsen die US-Exporte in den Iran so stark, dass der iranische Markt in den 1970er Jahren mit amerikanischen Produkten überschwemmt war, von Fast Food wie Kentucky Fried Chicken bis zu Kühlschränken von Westinghouse. Diese Produkte wurden in der Populärpresse Irans und in Frauenmagazinen angepriesen. Abbildungen, die entweder Kopien der Original-Werbung oder Imitationen davon waren, fanden in das visuelle Vokabular der Nation Eingang. In den 1950er Jahren waren diese Magazine auch voll von westlichen Models, deren ästhetisierte Gesichter für die iranischen Frauen ein zu erreichendes Ideal darstellten. Die glamouröse Schönheit der Hollywood-Filmindustrie durchdrang die iranische (Magazin-)Presse, und die Kommerzialisierung bestimmte die meisten Aspekte des Alltagslebens, darunter auch private Bereiche wie den Haushalt. Die Diskrepanz zwischen Bildern der Presse und der Fernsehwerbung einerseits und dem Alltagsleben der meisten Iraner andererseits führte zu einer Bandbreite von Formen, durch die Iraner diesen „American Dream“ auf ihre Art importierten. Appadurai bezeichnet dieses kollektive Erleben von Massenmedien über nationale Grenzen hinaus als ein Mittel, „solidarities of worship and charisma“ zu kreieren (Appadurai 2005, S. 8). Durch Fragen des Geschmacks und Formen des Vergnügens entstanden so Übereinstimmungen in den sozialen Handlungen von Menschen im Iran und westlichen Ländern, die vor allem durch einen US-amerikanischen Konsumstil geprägt waren. Zur gleichen Zeit, im Jahr 1963, leitete Mohammad Reza Schah die Weiße Revolution ein, die eine bürokratisch-administrative und militärische Re-Organisation des Staates und die Integration der einheimischen Wirtschaft in die globale kapitalistische Struktur zum Inhalt hatte. Neben starkem industriellem Wachstum führte dieses umfassende Umstrukturierungs-

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programm jedoch auch zu einer Entwurzelung verschiedener sozialer Gruppen und es fand statt, ohne die entsprechenden politischen Strukturen der Mitbestimmung zu fördern. Ein Beispiel dafür ist die Bildungsoffensive, durch die die Anzahl der Studenten von 17.000 im Jahr 1961 auf das Fünffache im Jahr 1976 wuchs. Der Staat förderte Auslandsaufenthalte für Studenten, aber „education to serve the state really meant serving the dynastic state, and he (der Schah, A.S.) warned students being dispatched abroad not to come back with curious ideas about ,democracy‘.“ (Ansari 2000, S. 31)

Junge Frauen nach ihrer Ausbildung für die „Gesundheitsarmee“, Iran 1964. Ein weiterer Aspekt der Weißen Revolution bestand darin, die Autorität des Klerus im Bildungsbereich zu schwächen. Zu diesem Zweck wurden staatliche Bildungskorps ins Leben gerufen, die für die Alphabetisierung der Landbevölkerung zuständig waren. All diese Veränderungen führten zu Spaltungen in der iranischen Gesellschaft, die ein britischer Diplomat 1957 so beschrieb: „The Tehran we saw […] is a different world, centuries and civilizations apart from the gawdy superficial botch of cadillacs, hotels, antique shops, villas, tourists and diplomats, where we run our daily round ... But it is not only poverty, ignorance and dirt that distinguish the old south of the city from the parvenu north. The slums have a compact self-conscious unity and communal sense that is totally lacking in the

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smart districts of chlorinated water, macadamed roads and (fitful) street lighting. The bourgeois does not know his neighbor: the slum-dweller is intensely conscious of his. And in the slums the spurious blessings of Pepsi Cola civilisation have not yet destroyed the old way of life, where every man’s comfort and security depend on the spontaneous, un-policed observation of a traditional code.“ (Zit. in Ansari 2000, S. 39)

2.1.2 Islam als Politik der Emanzipation 1965 löste der Schah nach jahrelanger, durch Repressionen geprägte Politik, das Parlament schließlich auf und nahm alle Fäden alleine in die Hand. Die Regierung kontrollierte alle Medien und keine politische Partei hatte die Möglichkeit, unabhängig zu agieren. Der Schah baute eine mächtige Armee auf und benutzte die Geheimpolizei SAVAK, die mit maßgeblicher Hilfe des CIA entstanden war, um politisch Aufsässige oder Andersdenkende unter Kontrolle zu halten. Durch starke Einnahmen aus der Ölförderung gestützt, mit dem Militär und den Vereinigten Staaten im Rücken, war der Schah kaum auf interne Unterstützung angewiesen. Der Staat wurde gleichzeitig der größte Bankier, Industrielle, Arbeitgeber und Grundbesitzer des Landes. Die Oberschicht umfasste 20% der städtischen Haushalte und war für 56% der Ausgaben verantwortlich, während die untersten 40% der Bevölkerung nur 11% der Ausgaben machten. Anders als in den 1940er Jahren, als kommunistische, nationalistische und intellektuelle Bewegungen sich in verschiedenen Institutionen wie Gewerkschaften, einer freien Presse, Studentenvereinigungen etc. manifestierten, entzog die Diktatur des Schah in den 1970er Jahren der Gesellschaft vergleichbare Institutionen. Stattdessen gab es einen beachtlichen Boom in der Produktion und im Konsum von Kinos, Popmusik, Jungendzentren, Bars mit alkoholischen Getränken, Urlaubsreisen und eine besonders große Popularität im Westen produzierter Fernsehprogramme. Die Anzahl von Filmkonsumenten wuchs zwischen 1969 und 1975 um über 50%, das war beinahe doppelt so viel wie das Wachstum der städtischen Bevölkerung in derselben Zeit (Bayat, 1998, S. 154). In den 1970er Jahren war von über 500 ausländischen Filmen, die pro Jahr in iranischen Kinos gezeigt wurden, ein Viertel amerikanisch. 1975 hatten ca. 50% aller städtischen Familien einen Fernseher, verglichen mit 4% im Jahr 1960. Durch diese Medien wurde in den 1970er Jahren eine säkulare Pop-Kultur geformt.

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Zu dieser Zeit begannen konservativ gesinnte Menschen Institutionen wie Kino, Radio und Fernsehen zu kritisieren, die wie Ayatollah Khomeini davon überzeugt waren, dass diese Medien die Jugend korrumpieren würden. Sie beriefen sich auf einen neuen, religiösen Nationalismus, der in den 1960er Jahren aufgekommen war und für einen aktivistischen Schiismus stand, der im Gegensatz zu den traditionell durch Erdulden und Unterwerfung geprägten Interpretationen des Islam, die Schiiten dazu bewegen sollte, politisch durchsetzungsfähig zu werden, ohne dabei ihre religiöse Identität zu opfern (Sachedina 1991, S. 450). Die Islamische Revolution von 1978/1979, die von weiten Teilen der iranischen Bevölkerung aus unterschiedlichen Motivationen mitgetragen wurde und in dem Ziel, die Herrschaft des Schah zu beenden vereint war, 2 stellte einen radikalen Bruch mit den oben beschriebenen Entwicklungen dar. Gleichwohl bestehen einige Kontinuitäten zwischen der vorrevolutionären Zeit und heute, seit der revolutionäre Staat an Routine gewonnen hat. Im folgenden Abschnitt werde ich daher anhand aktueller Lifestyle-Magazine im Iran untersuchen, inwieweit die Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Vorstellungen von Modernität trotz dieses radikalen Bruchs bis heute existieren und wie sich die Existenz dieser Vorstellungen in einem politischen Umfeld, in dem eine westlich geprägte Moderne explizit abgelehnt wird, gestaltet.

2.2 P OPULÄRE K ULTUR ZWISCHEN S UBVERSIVITÄT UND K ONFORMISMUS Lifestyle-Magazine sind Teil der Populärkultur, da sie Lebenswünsche und -stile mitformen und durch den symbolischen Konsum von Werbung die Sozialisation zu einer Konsumgesellschaft begünstigen, in der die Menschen auf verschiedene Arten gebildet werden (Zukin u. Maguire 2004, S. 191). Konkret werde ich dies veranschaulichen, indem ich im Vorfeld der Zeitschriften-Analyse einige theoretische Überlegungen anführe, anhand derer eine Unterscheidung zwischen subversiven und hegemonialen Formen kulturellen Konsums deutlich wird.

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Eine detaillierte Analyse der Islamischen Revolution erfolgt in Kapitel 3.

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John Fiske definiert populäre Kultur in Anlehnung an Michel de Certau (1984) als die Kunst, mit dem zurechtzukommen, was das System zur Verfügung stellt. Populäre Kultur muss für die unmittelbare soziale Situation der Menschen relevant sein und beinhaltet daher sowohl Kräfte der Herrschaft, als auch die Möglichkeiten, gegen sie aufzubegehren oder ihnen auszuweichen – allerdings nicht von vollständig entmachteten Positionen aus. Um populär zu sein, müssen kulturelle Güter daher widersprüchliche Bedürfnisse erfüllen können. Im Angesicht der zentralisierenden und homogenisierenden Kräfte des modernen Kapitalismus müssen sie ansprechen, was die Menschen gemeinsam haben: in kapitalistischen Gesellschaften sei dies laut Fiske „the dominant ideology and experience of subordination or disempowerment.“ (Fiske 2000, S. 28) Über populäre Kultur wird ausgehandelt, wie wir uns selbst und unsere Beziehungen zur sozialen Ordnung, sowie den Texten 3 und Waren dieser Ordnung wahrnehmen. Die relative Autonomie der Kulturökonomie von der Finanzökonomie öffnet kulturelle Güter für widerständige oder ausweichende Möglichkeiten des Gebrauchs, während Institutionen wie die Werbeindustrie versuchen, die kulturellen Bedeutungen von Waren zu kontrollieren, indem sie sie so eng wie möglich an die Mechanismen der Finanzökonomie binden. Warenmärkte sind durch soziale Variablen in der Marktforschung unterteilt und die Differenzierung von Produkten wird diesen Nischen entsprechend angeglichen. Die Werbung verfolgt dabei das Ziel, soziale Diversität innerhalb der Bedürfnisse des Kapitalismus zu begrenzen, also nicht nur das zu kontrollieren, was die Leute kaufen, sondern auch, welche kulturelle Verwendung sie den Dingen zuschreiben. Die Werbeindustrie arbeitet deshalb laut Fiske daran, soziale Differenz mit kulturellen Differenzen und diese mit unterschiedlichen Produkten gleichzusetzen – denn der Kapitalismus benötigt zwar die Diversität, aber eine kontrollierte. Die mehrdeutige Offenheit populärer Texte ist daher auch eine Notwendigkeit sozialer Differenzen und wird dazu gebraucht, diese Differenzen aufrecht zu erhalten, sie in Frage zu stellen oder durch sie zu denken. Hier hat bereits ein Anpassungsprozess von Seiten des Kapitalismus stattgefunden: Viele junge Menschen, die in Einkaufszentren „herumhängen“ ohne etwas zu kaufen, konsumieren zwar den Ort und die Bilder, aber nicht

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Als „Text“ bezeichnet Fiske alles was eine Geschichte erzählt, dabei kann es sich um Gegenstände, Medien, Bilder, etc. handeln.

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die Waren. Für solchen „Missbrauch“ bleibt der Kapitalismus offen, um seine Macht aufrecht erhalten zu können: „So the place that is the strategy of commerce represses its organizing strategy: it has been forced to know that the popular uses will not conform to its strategic plan, so it becomes formless, open. People use it as they will.“ (Fiske 2000, S. 41) Eine weitere Strategie des modernen Kapitalismus ist, Elemente aus Subkulturen für seine Zwecke zu vereinnahmen. Dies lässt sich mit einem Beispiel aus den 1960er Jahren anhand der Entwicklung von Verkaufsstrategien veranschaulichen: Die Bekleidungsindustrie für Männer sah sich damals einem wachsenden Desinteresse der Männer an Mode gegenüber. Hersteller und Geschäftsinhaber passten sich daher dem neuen Wunsch, vor allem unter Jugendlichen, nach mehr kreativem Selbstausdruck an. Während die Verkaufspresse die Hersteller drängte, einen schnelleren Wechsel von Waren durch eine schnellere Kreation von Stilen einzuleiten, investierte die Werbung in Ängste vor Konformität und huldigte der Kreativität. Kleidung (in diesem Fall Jeans), Getränke und Autos wurden als eine Wahl der Jungen, Wilden und Kreativen angepriesen (Steele 1993, in Zukin u. Maguire 2004, S. 177). Durch Werbung, Medien und Techniken der Präsentation wurde in diesem Fall die ursprüngliche Wahrnehmung und der Gebrauch bestimmter Waren destabilisiert und mit neuen Bildern und Symbolen verbunden, die eine Bandbreite von Gefühlen und Wünschen aufbieten.4 In modernen Konsumgesellschaften werden Individuen dazu ermutigt, eine nicht-utilitaristische Einstellung gegenüber Waren anzunehmen und sie sorgfältig zu wählen, arrangieren und darzustellen – ob Möbel, Haus, Auto, Kleidung, der Körper oder Freizeitvergnügungen. Dieses geschmackliche Statement soll die Individualität des Eigentümers ausdrücken. Individualität bedeutet in dem Sinn, dass sich die Identität von festen Charakteristika, die durch Geburt und Zuschreibungen festgelegt sind, zu einem reflexiven, andauernden und individuellen Projekt wandelt, das durch Darstellung und Auftreten geformt ist (Featherstone 2010).

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Ein zeitgenössisches Pendant dazu ist z.B. die aktuelle Kino-Werbung der Allianz-Versicherung, in der eine junge Berliner Punk-Musikerin dafür wirbt, Musikinstrumente versichern zu lassen. Die Protagonistin ist eine „politische Aktivistin, eine bekannte Figur der Veganer- und ,Animal Liberation‘-Szene.“ (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/35030/) (Aufruf 14.3.2011).

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Historische Inhaltsanalysen von Werbung im frühen 20. Jahrhundert berichten in diesem Sinn von einer steigenden Betonung von Selbstverwirklichung, der Bedeutung des ersten Eindrucks und der Möglichkeit, sich durch Konsum zu verbessern (Zukin u. Maguire 2004, S. 181). Dies weist auf einen Zusammenhang zwischen den Strukturen des freien Marktes und dem Entstehen eines „idealen“ Bürgers hin, der durch Selbst-Management, Unternehmergeist und ein wählendes Selbst gekennzeichnet ist. Durch die Förderung solcher Individuen kann die Verantwortung für die Gewährleistung einer sozialen Ordnung in modernen kapitalistischen Gesellschaften auf die die „richtige“ Wahl Einzelner abgewälzt werden. Hinzu kommt die besorgniserregende Kapazität der Konsumentenindustrie „to commodify — and disarm — dissenting voices, […] thus reducing social justice to the freedom to choose between products.“ (Ebd., S. 183) Angesichts der Vereinnahmung von sowohl subkulturellen Inhalten als auch Diskursen der Selbstverwirklichung und Authentizität durch einen kommerziellen Kontext ist die Unterscheidung der Lesarten von Kulturgütern in subversiv oder systemerhaltend für die nachfolgende Untersuchung grundlegend: Verabsäumen die betreffenden Güter, Widersprüchlichkeiten zu aktivieren und tragen sie damit zu hegemonialen Strategien bei, können sie nicht als Teil der Populärkultur gesehen werden (Hall 1981). USamerikanische populäre Kulturgüter werden in anderen Nationen oft als Widerstand gegen die Herrschaft in diesen Gesellschaften verwendet. Ein kultureller Gegenstand kann aber nicht in seiner Essenz widerständig oder konformistisch sein: es kommt auf den sozialen Hintergrund des Lesers an, der seine Verwendung bestimmt. Ein zentrales Element des Aufbegehrens gegen soziale Differenzen ist beispielsweise, dass die Marginalisierten ihrer Unterworfenheit einen eigenen Sinn zuschreiben, „not in accepting the dominant sense of it or in making a sense with no relationship to domination.“ (Fiske 2000, S. 58) Diese Formen von Subversivität können sich in dem, was Fiske als „populärer Genuss“ bezeichnet, auf verschiedene Arten zeigen. Populäre Vergnügungen, vor allem unter Jugendlichen, können sich etwa in ein exzessives Bewusstsein dem Körper gegenüber verwandeln, um normativen Ordnungen auszuweichen. Der Widerstand des Körpers ist dann eine Verweigerung, die keine direkten politischen Auswirkungen haben mag. Ihre Effektivität liegt aber darin, dass dadurch eine soziale Identität etabliert wird, die von einer vorgegebenen sozialen Disziplin abweicht oder ihr entgegensteht.

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Im Gegensatz dazu gibt es Formen des Genusses, dessen Wurzeln innerhalb der dominanten Ideologie liegen, weil er auf die Anerkennung sozialer Identität abzielt. Macht über sich selbst auszuüben, sich zu disziplinieren und das Vergnügen der Konformität, all das kann eine reale Befriedigung darstellen, die von einer breiten Ebene der Bevölkerung erfahren wird. Diese Form des Genusses, durch den gesellschaftliche Machtstrukturen und ihr disziplinierender Druck internalisiert werden, ist jedoch nicht populär, sondern hegemonial: Während der populäre Genuss der sozialen Ordnung zu entfliehen versucht, bezieht sich hegemonialer Genuss genau auf diese Ordnung. Liberale Gesellschaften verlassen sich auf solche Kapazitäten des Selbst-Managements von Individuen und halten diese dazu an, frei, verantwortungsvoll und mit rationalem Weitblick zu handeln. Diese Praktiken erlauben dem Individuum, Handlungen am eigenen Körper, dem Geist, den Gedanken, dem Benehmen und dem Lebensstil durchzuführen, um sich immer weiter zu verbessern. Die Konsumkultur erhöht dabei aber auch das Risiko des Einzelnen, die falsche Wahl zu treffen, indem sie immer mehr Bilder und Möglichkeiten der Wahl anbietet. Selbsthilfebücher, Kurse, Programme und Therapien etc. unterstützen das Individuum darin, das „Projekt des Selbst“5 durchzuführen. Die Anleitungen und Fertigkeiten, die dazu notwendig sind, werden wiederum in Form von Waren verkauft (Slater 2006, S. 86). Auf diese Art ersetzt Werbung traditionelle Autoritäten in Bezug auf Sinnfragen mit einem modernen Informationssystem. Die von Fiske vorgenommene Unterscheidung in subversive und systemerhaltende Praktiken zeigt, dass die Menschen keine hilflosen Subjekte eines ideologischen Systems sind, aber auch nicht völlig selbstbestimmt. Wie sich diese Prozesse in dem urbanen Milieu der Teheraner Mittelschicht gestalten, werde ich nun anhand zweier iranischer Zeitschriften erörtern.

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Das „Projekt des Selbst“ verstehe ich als das Bestreben von Individuen in modernen kapitalistischen Gesellschaften, ihr Auftreten und ihre innere Einstellung mithilfe verschiedener Techniken (wie z.B. Selbsthilfeprogrammen oder Diäten) beständig zu verbessern und zu regulieren (vgl. Smith Maguire 2008, Rose et al. 2006).

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2.3 I DEALES L EBEN UND W ELT DER F RAU : Z WEI K ONZEPTE VON M ODERNITÄT IN DER I SLAMISCHEN R EPUBLIK I RAN Die Analyse von Werbungen und Themensetzungen in den folgenden Magazinen gibt Aufschluss über Trends und Ideale, die der iranischen Mittelund Oberschicht in Bezug auf „Modernität“ vermittelt werden, als auch darüber, welche Rolle der Staat in diesem Prozess spielt. Die Zeitschriften „empfehlen Geschmacksrichtungen und zeigen, welche Lebensstile, Körperbilder und Karrierestrategien als Ergebnis der richtigen Wahl und des guten Geschmacks zu erwarten sind. Sie sind Lebensrezept und Werbung zugleich.“ (Vonderau 2010, S. 151) Der Anspruch der folgenden Darstellung ist dabei jedoch nicht, eine vollständige Untersuchung der iranischen Medienlandschaft in diesem Bereich darzulegen. Vielmehr konzentriere ich mich auf zwei Zeitschriften, die unterschiedliche soziale Schichten ansprechen und in ihrer Ausrichtung zwei verschiedene Zugänge zu Modernität innerhalb der iranischen Gesellschaft repräsentieren. Die beiden Hochglanz-Magazine heißen Zendegi-e Ideal (Ideales Leben) und Donya-e Zanan (Welt der Frau). Zendegi-e Ideal ist ein LifestyleMagazin mit einer Auflage von 75.000 Stück pro Ausgabe. Donya-e Zanan beschäftigt sich währenddessen explizit mit „Frauenthemen“, wendet sich damit also vornehmlich an eine weibliche Leserschaft. Die Anzahl der Auflagen beträgt 50.000 Stück pro Ausgabe. Durch ihre Gegenüberstellung lassen sich zwei für meine Fragestellung grundlegende Punkte herausarbeiten: der erste Punkt bezieht sich auf die unterschiedlichen Mechanismen, anhand derer die beiden Zeitschriften „westliche“ und „iranisch-islamische“ Aspekte miteinander kombinieren. Der zweite Punkt bezieht sich darauf, wie sich die Zeitschriften in Bezug auf Strukturen des liberalen Marktes verorten und inwieweit eine solche Verortung mit einer islamischen Identität vereinbar ist. Durch die folgende Untersuchung kann also festgestellt werden, welche Rolle der offizielle islamische Diskurs6 in diesen Zeitschriften einnimmt:

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Mit dem „offiziellen islamischen Diskurs“ bezeichne ich die vom iranischen Staat vorgegebene islamische Lebensführung, auf die er das alleinige Interpreta-

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verstärkt er die gesellschaftliche Disziplinierung, die von Strukturen des freien Marktes ausgeht? An welchen Punkten verhält er sich zu diesen widersprüchlich? Durch die Beantwortung dieser Fragen können Aussagen darüber gemacht werden, welche Politik der iranische Staat verfolgt, um eine moderne islamische Identität zu schaffen, wie dieses Ziel von den Medien unterschiedlich erfüllt wird und was dies über das ambivalente Verhältnis des Iran zur Modernität in westlichen Gesellschaften aussagt. Ich beginne mit der Analyse des Frauenmagazins Donya-e Zanan, das ich danach mit Zendegi-e Ideal kontrastiere. Auf dem Cover der 60. Ausgabe von Donya-e Zanan, die seit 2004 monatlich erscheint und umgerechnet einen Euro kostet, befinden sich zwei Frauen in folkloristischer Kleidung, das Titelthema ist islamische Mode. Auffallend an der Zeitschrift ist die Typographie, die sich vom Deckblatt ins Innere des Hefts weiterzieht: Der Schriftstil ist an westlichen Modellen orientiert, durch die religiösen Inhalte, auf die er angewandt wird, positioniert sich die Zeitschrift als modern-islamisch.

tionsrecht beansprucht. Die Umsetzung dieser offiziellen Richtlinien in der Bevölkerung variiert stark. Dieser offizielle Diskurs ist darüber hinaus von informellen, persönlichen oder mystischen Formen des Religiösen abzugrenzen.

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Mit dieser Typographie wird zum Beispiel auch zu Beginn des Heftes eine moderne Kalligraphie über den 12. Imam7 dargestellt. Weiters findet sich im Impressum ein Brief der Chefredakteurin, den sie mit „Ihre kleine Schwester“ unterschreibt. Im Iran ist das eine Höflichkeitsform, die eine gewisse Bescheidenheit und Respekt dem Anderen gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Damit werden traditionell-islamische Werte eingeführt, um Zielgruppen anzusprechen, die diese Sprache verstehen und damit verbundene Werte teilen. In dem Einführungstext über den Monat Shaban, in dem der 12. Imam geboren wurde, zitiert die Chefredakteurin mehrmals verschiedene Imame und den Koran (insgesamt 15-mal auf einer Seite). Der Text ist außerdem mit arabischen Wörtern gespickt – weitere Hinweise auf eine islamische Orientierung. Es folgt die Titelstory darüber, wie traditionelle iranische Kleidung selber hergestellt werden kann. Der Beitrag läuft unter dem Motto, einen traditionellen mit einem modernen Stil zu mischen. Die Werbungen in der Zeitschrift beginnen mit Themen des Haushalts: Die Kochtöpfe sind italienisch; Haushaltsgeräte einer türkischen Firma wie Waschmaschine, Geschirrspüler und Kühlschrank werden in einer Küche gezeigt, in der ein u.a. auch mit Wein- und Sektgläsern gedeckter Tisch steht. Obwohl sich die Zeitschrift als eindeutig islamisch positioniert und damit sicher nicht zum Alkoholkonsum aufrufen will, gilt ein nach westlichem Stil gedeckter Tisch hier als ästhetisches Ideal. Die Küchengeräte werden damit beworben, dass sie „europäischen Standards“ entsprechen. Dieser Hinweis weist auf Gütekriterien hin, die auf Normen, Sicherheit, Ordnung und geprüfter Qualität basieren. In der Zeitschrift befindet sich jedoch auch Werbung für ein einheimisches Produkt (Süßigkeiten), außerdem Werbung für pflanzliche Heilmethoden sowie für Bücher und CDs für Englisch-Kurse wie der international standardisierte TOEFL-Test für Erwachsene und Kinder. Die Zeitschrift spricht also auch Personen an, die eine (weiterführende) Ausbildung im englischsprachigen Ausland anstreben. Die Reportagen in Donya-e Zanan handeln von Gesundheitstipps, viele in Bezug auf die Ernährung, und berichten über Eheschließungen über

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Der 12. Imam stellt für die 12er-Schiiten eine ähnliche Figur wie der Messias im Christentum dar. Er befindet sich seit dem Jahr 869 in Verborgenheit und seine Wiederkehr als letzter der 12 Imame wird auf Erden erwartet, damit Frieden und Gerechtigkeit eintreten.

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SMS. Letzteres Thema zeigt die Absicht der Zeitschrift, auch junge Menschen anzusprechen und Offenheit gegenüber moderner Technik im (emotionalen) Alltag zu zeigen. Ein Bericht beschreibt eine karitative Veranstaltung zugunsten von Leukämiekranken. Die Veranstaltung wurde zur Feier der heiligen Fatima Zahra (der Tochter des Propheten Mohammad) begangen und ein Foto des Publikums lässt – vor allem aufgrund der Kleidung der abgebildeten Personen – darauf schließen, dass es eine staatliche oder staatlich unterstützte Veranstaltung ist. Danach folgt ein Artikel darüber, wie man als Frau Angst vor dem Autofahren in den Griff bekommen kann, was mit dem Beispiel einer weiblichen Taxifahrerin belegt wird. Auch die Rolle der Freizeit im Leben von Frauen wird in einer eigenen Reportage behandelt. Abgebildet sind Frauen beim Reiten, Schießen (mit Jagdgewehr), Fußball, Folklore-Tanzen. In diesem Artikel äußern sich eine Hausfrau, eine Beamtin und die Managerin eines Fitnessstudios zum Thema Freizeit: das Spektrum reicht von Handarbeiten, Kino, und Sprachunterricht bis hin zur Jalazeh (religiöse Lesekreise für Frauen). Konsens herrscht darüber, wie wichtig Freizeit ist, weil man sich gerade darin selbst verwirklichen kann. Am Ende spricht sich eine Soziologin für einen aktiven, unternehmerischen Umgang mit dem Leben aus: egal, ob man berufstätig sei oder Hausfrau, man müsse sich Problemen nicht unterwerfen. In jedem Fall sei es wichtig, so die Wissenschaftlerin, Zeit für sich selbst zu haben. Dieser auf steigende Selbstverantwortung und Initiative hinweisende Aspekt unterscheidet sich von traditionellen Vorstellungen im schiitischen Islam, in denen man sich seinem vorgegebenen Schicksal fügt. In der Kolumne „Frauen, die die Welt bewegt haben“ wird die christliche Heldin Jeanne d’Arc vorgestellt. Eine weitere Reportage, die sich in diesen Themenkomplex einreihen lässt, beinhaltet den Umgang mit psychischer Apathie. Dazu gibt es einige Tipps, wie man sich selber motivieren kann und den Verweis auf eine Website mit dem Namen „der Erfolg ist nahe“. Auch die auf der letzten Seite angeführten Zitate von internationalen Persönlichkeiten wie Mutter Theresa oder Fjodor Dostojewski befassen sich mit allgemeinen Lebensweisheiten im Sinne des positiven Denkens. Die Methode des „Positiven Denkens“, ein Selbsthilfeprogramm aus den USA, ist im Iran seit ca. 15 Jahren in Mode und stellt ebenfalls einen Aspekt der Arbeit am Selbst dar, die darauf abzielt, die innere Einstellung zu

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verändern, um das Selbstbewusstsein zu erhöhen, sowie die Gesundheit, Vitalität und Entspannung zu fördern.

Die Szenenfotos von iranischen Schauspielerinnen (Abbildung oben), die in einem Bericht über berühmte iranische Persönlichkeiten folgen, reihen sich in die Ästhetik des Magazins insofern ein, als sie überhaupt nicht glamourös sind, wie man es gemeinhin mit Filmstars in Verbindung bringt, sondern Charakterdarstellerinnen zeigen. Die Fotos setzen nicht den gesamten Körper in Szene, sondern bilden eher Portraits ab, die Filmszenen entnommen sind. Der letzte Kommentar befasst sich mit dem Thema „Schönheit ohne Maske“. Dabei geht es um maßvolles Make-up, demgegenüber das Auftragen von zuviel Make-up im Vergleich als unnatürlich und aufdringlich beurteilt wird. Abschließend gibt es Kochrezepte, die von iranischen Desserts über Doughnuts zu Marmorkuchen reichen. Die Zeitschrift enthält keinen „Klatsch“ wie zum Beispiel über das Privatleben berühmter Persönlichkeiten und beinhaltet relativ wenig Werbung. Sie beschäftigt sich weniger mit Äußerlichkeiten oder dem Körper als vielmehr mit dem inneren Wohlbefinden und einer großen Bandbreite gesellschaftlicher Themen in Bezug auf Frauen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es „Heldinnen“ der christlichen oder islamischen Welt sind – zentral ist jedoch das Konzept einer selbstbewussten Religiosität.

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Das heißt, Donya-e Zanan wählt bewusst jene Elemente aus einem westlichen Kontext aus, die mit dem islamischen Ansatz, den die Zeitschrift als Grundlage hat, vereinbar sind. Darüber hinaus ist auffällig, wie viele Abbildungen von Frauen in der Zeitschrift gezeigt werden. Im Iran ist die Darstellung von Frauen ohne Kopftuch verboten. Viele Zeitschriften verzichten daher ganz auf die Abbildungen von Frauen, während Donya-e Zanan Frauen mit Kopftuch in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zeigt. Diese modernen islamischen Frauen führen einen Haushalt mit moderner Technik, sie sind – ob berufstätig oder nicht – unabhängig und, wie aus der Anzeige zu englischen Sprachkursen und Sprachtests (TOEFL) zu entnehmen ist, mit gehobenen Standards des internationalen Bildungssystems vertraut. Die Zeitschrift Zendegi-e Ideal, die seit 2007 alle zwei Wochen erscheint, unterscheidet sich von Donya-e Zanan in vielerlei Hinsicht. Sie beinhaltet viel mehr Werbung, von der der Großteil explizit „westlich“ orientiert ist. Das Magazin kostet ca. 1,50 Euro und entspricht damit der Kaufkraft der gehobenen Mittel- und Oberschicht. Die jeweilige Kategorie im Heft ist auf jeder Seite rechts oben unter dem persischen Titel auch auf englisch abgedruckt. Die Sparten heißen: „Cover Story“, „Life Style“, „Health“ (inkl. der „Ideal Clinic“), dazwischen mehrmals „Advertisement“, „Beauty“, „Amazing World“ (Skuriles und kuriose Entdeckungen aus aller Welt), „Ideallife“ (Berichte über Schauspieler, Fernsehserien, Autos, Haushaltsgeräte und Salatdressings), „Faces“ (iranische Stars), „Appearance“ (Kleidung, Parfums und Accessoires), „Mobile“ (Mobiltelefone), „Real Simple“ (Inneneinrichtung zum Selbermachen), „Decoration“, „Fitness“ und „Kitchen“ (Rezepte). Die Vorschau auf den Inhalt von Zendegi-e Ideal Nr. 30 (2009) zeigt einen Hollywood-Star mit der Überschrift „Anleitung zum Uhren-Kauf“, ein blondes Kind, das sagt: „Herr Doktor, ich bin erkältet“ und einen weiteren Gesundheitsbeitrag, der von einem Foto der US-amerikanischen Arztserie „Scrubs“ eingerahmt wird:

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Die Idealisierung eines westlichen Lebensstils wird in dieser Zeitschrift besonders anhand der Werbungen deutlich. Auf der ersten Seite findet sich eine Werbung mit der persischen Überschrift „WMF Deutschland“. Der Slogan „ein geschmackvolles Leben“ ist leicht abgewandelte Übersetzung der Werbung des deutschen Unternehmens für Küchengeräte, WMF, die im Original lautet: „Das Leben schmeckt schön“.8 Im Iran werden Design und Slogans von ausländischen Werbeanzeigen zumeist unverändert übernommen und nur die Aufschriften ins Persische übersetzt. Dies liegt einerseits daran, dass die Werbeindustrie im Iran nicht sehr groß ist und Investitionen in Werbung gering sind. Andererseits steht europäischer Standard für einen Wert an sich und Abbildungen, die einen europäischen Kontext suggerieren oder imitieren, sind attraktiv. Auf einer Werbeseite sieht man WMF Küchengeräte, mit und in denen breite Bandnudeln mit Zucchini und Shrimps zubereitet werden. Traditionelles iranisches Essen beinhaltet keine dieser Komponenten. Wieder findet sich auf Werbungen der Hinweis auf „europäischen Standard“ oder schlicht der Name des europäischen Herkunftslandes. Auch die Werbung für Bosch-Waschmaschinen in Ausgabe Nr. 39/2009 von Zendegi-e Ideal ist direkt vom Original übernommen und

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www.wmf.de/symposium-2006/botschaften-fuer-die-sinne_1827.html?sid=265 B1255-FCEB-4D95-9742-13FDE261C192 (Aufruf 16.3.2011).

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FREEDOM

spricht eine gehobene Schicht an, die sich über Wasser- und Energiesparmaßnahmen Gedanken macht. Der Stoffhund ist ungewöhnlich, da Hunde im Iran (vor allem in unteren Schichten) als nicht sauber gelten und selten als Kuscheltiere benutzt werden. Trotzdem wird die Darstellung eines westlichen Kindes beibehalten, denn helle Haut und helle Haare gelten als ein weit verbreitetes Schönheitsideal.9

Die Werbung des Unternehmens für Hochzeitsplanung Adam & Eve weist ebenfalls eine westliche Ästhetik auf. Die Inanspruchnahme einer Hochzeitsplanung ist im Iran eine Frage des Prestiges. Solche Unternehmen existieren ca. seit dem Jahr 2000 und richten sich an die gehobene Mittel- und Oberschicht. Adam & Eve organisiert für die Hochzeit alles von der Dekoration bis hin zum Schmuck der Braut, Hochzeitskleid und Torte. Auf der Abbildung ist eine Hochzeitstafel zu sehen, die für iranische Festlichkeiten

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Featherstone hat festgestellt, dass Vorstellungen von Jugend, Fitness und Schönheit, die auf westlichen Idealen basieren, sich weltweit ausbreiten. So gäbe es einen Trend unter ethnischen Minderheiten in den USA, kosmetische Produkte zur Aufhellung der Haut als auch Schönheitsoperationen anzuwenden, um als „Weiße“ angesehen zu werden (Featherstone 2010, S.215). Werbungen für Haut-Aufhellungscremes wie sie z.B. in der Frauenzeitschrift Zanan (die Anfang 2008 verboten wurde) zu finden waren, sind dafür exemplarisch.

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untypisch ist, denn üblicherweise finden Hochzeiten im Iran nicht im Garten statt. Die Schirme, die Tafel und der weiße Zaun weisen eine, vor allem aus US-amerikanischen Kontexten bekannte Ästhetik von Garten- oder Cocktailpartys auf und der Besitz eines Gartens dieser Größe lässt auf einen sehr wohlhabenden Hintergrund schließen. Die Werbeästhetik von Adam & Eve zeichnet sich durch Perfektion des dargestellten Arrangements aus, das in Kombination mit der hellen Farbe einen Eindruck von Sauberkeit und Ordnung vermittelt. Die Annonce erstreckt sich auf eine Doppelseite: neben dieser Outdoor-Szenerie ist ein gedeckter Tisch mit Espresso-Tassen und Weingläsern im Hintergrund zu sehen – in einem Land mit traditioneller Teekultur und Alkoholverbot. In einer anderen Ausgabe von Zendegi-e Ideal (Nr. 30/2009) findet sich ein zweiseitiger Bericht über das Unternehmen Adam & Eve, das am Seitenrand als Werbung deklariert ist. In vielen Fällen, so auch in diesem, ist der Unterschied zwischen Werbung und einem redaktionellen Bericht nicht so einfach zu erkennen. Die „Anleitung zum Uhrenkauf“ beispielsweise, die ich in der Vorschau auf das Heft bereits weiter oben erwähnt hatte, bildet unter der Rubrik „Was Sie schon immer über Uhren wissen wollten“ auf vier Seiten männliche Hollywood-Stars und amerikanische Sportler ab, an denen die Uhr als auffälliges Accessoire zu sehen ist. Einige dieser Fotos wirken eindeutig wie Werbefotos einer Uhrenfirma, bei anderen Abbildungen bleibt offen, ob sie explizit für Werbezwecke gemacht wurden. Der Text zu den Fotos stellt unterschiedliche Modelle exklusiver Uhrenmarken für verschiedene Anlässe vor. Dies ist ein exemplarisches Beispiel für die Verwendung einer vollständig aus einem westlichen Kontext übernommenen Werbeästhetik in einem redaktionellen Beitrag. Eine weitere große Sparte in Zendegi-e Ideal-Heften sind die Werbeanzeigen für Schönheitsinstitute. Die meisten davon befinden sich in der Stadtmitte oder im Norden Teherans, wo die Mittel- und Oberschicht wohnt. Ein Schönheitssalon wirbt damit, einen Make-up-Artist aus Hollywood zu beschäftigen sowie eine Expertin mit „internationalem Zertifikat aus Frankreich“ und endet mit dem Satz: „Wir machen alles auf europäische Art und mit der gerade angesagten Methode“ (method-e ruz). Fast alle Schönheitssalons geben an, mit Peggy Sage (einer Kosmetikmarke aus den USA) zu arbeiten. Ein weiterer Salon wirbt damit, dass er Mitarbeiter aus Italien, Frankreich und Kanada beschäftigt. Was alle Werbungen gemeinsam haben, ist, dass darauf keine (verschönerten) Kundinnen zu sehen sind,

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weil die Abbildung von Frauen nur mit Kopftuch erlaubt ist und dies der Werbeästhetik von Schönheitsinstituten anscheinend widerspricht. Gezeigt werden stattdessen entweder die menschenleere Innenausstattung der Salons, Fotos von den Ärzten oder Blumen. Neben Schönheitssalons werden in diesem Magazin Wellness-Center beworben, ein Gel, das wie Botox wirkt, Mittel gegen Haarausfall und zur Aufhellung der Zähne, Kosmetika und Cremes (von Givenchy bis Nivea), Fettabsaugung, Haarentfernungen mit Laser und Haarimplantate, Schönheitschirurgie für Nase oder Augenlider, die operative Einpflanzung eines Ballons zur Verkleinerung des Magens, künstliche Befruchtung und mehrere Schlankheitsinstitute. Unter der Abbildung eines Burgers wird für ein Beratungsinstitut geworben, das unter anderem erklärt, wie man richtig Diät macht. Diese Ausrichtung des Magazins definiert den Körper als eine Form des Kapitals, die ständig dekoriert, verbessert und gezeigt werden muss. In diesem Zusammenhang haben Forscherinnen wie Jennifer Smith Maguire (2008) die Freizeit als einen Ort untersucht, an dem die Arbeit am Selbst im Sinne der dominanten Ideologie des freien Marktes etabliert wurde. Freizeit, als das Gegenstück zur Arbeit, ist demnach ein Produkt des industriellen Kapitalismus, das sich die Marketingindustrie zu eigen gemacht hat, denn sie beruht auf dem Einkommen durch Erwerbstätigkeit, das in der Freizeit ausgegeben werden soll. Bekleidung, Kosmetika, Diäten oder verschiedene Sportarten können dabei Mittel darstellen, sich die Regeln der sozialen Ordnung einzuverleiben und sie in den Körper einzuschreiben. Smith Maguire führt aus, wie in Frauen- und Lifestylemagazinen, die ständig dazu anregen, den Körper zu verändern, die Gewichtsreduktion für Zielgruppen aus unteren sozialen Schichten eher aufgrund von gesundheitlichen Gründen und damit verbundenen Vorteilen beworben wird. In Mittelklasse-orientierten Magazinen wird hingegen der Aspekt der physischen Gesundheit mit sozialen Bedeutungen versehen: man sei bei der Arbeit effektiver. Joggen, Fitness und Diäten sind Beispiele für die Einverleibung der Arbeitsethik in den Körper des Individuums, wie Smith Maguire am Beispiel der Fitness-Industrie in den USA zeigen konnte. In diesem Kontext dienen Fitness-Studios als „manifestations of the long-term pacification of leisure, the equipment in health clubs replacing – and at times mimicking – the brute exertion and physical hardship of manual labour, within the safe confines of a leisure-time workout.“ (Smith Maguire 2008, S. 63)

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Fitnessübungen gelten dabei als der Freizeit zugehörig, weil sie in der Zeit geschehen, über die das Individuum frei verfügen kann. Dabei ist die Freizeit gerade für die Mittelklasse jene Zeit, in der Distinktion, Status und Prestige produziert werden müssen. Artikel und Werbung zu den Themen Literatur, Reisen sowie „Positives Denken“ in der Zeitschrift passen dazu: Durch Hypnose, Selbsthypnose oder Meditation sei ein glückliches Leben zu erreichen. In der Sparte „Erfolg und Leistung“ beschreibt ein Artikel das Leben eines erfolgreichen Leistungsträgers. Hier wird eine Zielgruppe bedient, die auf der Suche nach sozialem Aufstieg und Zufriedenheit ist und dies mit einer Modifikation der inneren Einstellung zu erreichen sucht. Diese Methoden der Selbsthilfe befinden sich vor allem im Bereich des Träumerischen (Romane) oder Romantisch-Luxuriösen (wie „Lach-Touren“ nach Armenien). Sie versprechen, wie Micki McGee (2005) festgestellt hat, Befreiung und Selbstkontrolle, während sie ihre Anhänger in einen endlosen Zyklus der Arbeit an sich selbst treiben. Was in den Werbungen beider Zeitschriften auffällt, ist, dass sehr viel Wert auf einen gehobenen Lebensstil, Körperpflege und Kleidung gelegt wird. Vor allem in Zendegi-e Ideal ist die steigende Tendenz zu Strategien, den Körper zu verändern, als Transformation des Individuums zum modernen Konsumenten und unternehmerischen Selbst zu sehen. An materiellem Wohlstand und damit an westlichen Waren orientierte Werbung und Presse schaffen für diejenigen, die es sich leisten können, „eine neoliberale Ikonologie des guten Lebens, die […] den physischen wie sozialen Raum neu organisiert. Ebenso ist der individuelle und kollektive Leib der sozialen Akteure vom Wandel betroffen, nicht nur durch wohltuende Konsum- und Pflegepraktiken, sondern auch durch schmerzhafte Operationen und mühevolles Training.“ (Vonderau 2010, S. 215)

In diesem Sinn sind Körperpraktiken der sozial Erfolgreichen wie Diäten, Schönheitsoperationen10 oder Sportaktivitäten Übergangsriten zu einer disziplinierten und modernen Gesellschaft – Ideale, durch die mit der eigenen Kultur assoziierte Aspekte wie Intransparenz, Ineffizienz, Rückständigkeit und Chaos überkommen werden sollen.

10 Vgl. dazu auch die häufigen Berichte über Nasenoperationen im Iran.

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Auffallend ist außerdem, dass Medizin und Schönheit in den Magazinen eine enge Verbindung aufweisen. Beispielsweise verschmelzen Werbeannoncen von Schönheitschirurgen mit Gesundheitstipps der/des betreffenden Ärztin/Arztes und einer Spalte für Fragen und Antworten. Die Zeitschrift Zendegi-e Ideal hat hierfür eine eigene Kategorie, die „Ideale Klinik“: hier können LeserInnen Fragen an die Ärzte stellen. Dadurch werden Werbungen für Praxen plastischer Chirurgen oder für Kosmetikprodukte von der Redaktion um scheinbar wissenschaftliche Beiträge ergänzt. Diese Form der Präsentation positioniert medizinische Wissenschaft als einen Faktor von Modernität und Fortschritt. In der Ausgabe Ideales Leben Nr. 29/2008 findet sich eine mehrseitige Werbung eines online Buchversands, der unter anderem den iranischen Roman („Cafe Piano“) im Sortiment hat. Dieser Roman, der im Iran große Beliebtheit erlangt hat, handelt von einem geschiedenen Mann mit Kind und beschreibt in moderner Umgangssprache dessen Alltagsleben. Durch diese Thematik dürfte Lesern, die sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden, vermittelt werden, dass sie nicht alleine sind. Gleichzeitig stellt eine solche Erzählung die Brücke zu einer liberaleren Gesellschaft dar, in der soziale Kontrolle und Konventionen eine geringere Rolle spielen. Jede mir vorliegende Ausgabe von Zendegi-e Ideal enthält Werbung der Firma Iran Sofal Masoud für dekorative Einrichtungsgegenstände wie Vasen oder Uhren in exklusiver iranisch-islamischer (seltener auch fernöstlicher) Ästhetik. Diese Annoncen werben mit Slogans wie „Connecting to the Past“ (Zendegi-e Ideal Nr. 30) oder „We create a charming sense of an antique affection“ (Nr. 29). Dabei handelt es sich um qualitativ hochwertige Gegenstände, die die Ästhetik von orientalischen Antiquitäten imitieren:

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Auf den beiden Vasen (im linken Bild oben) sind arabische Schriftmuster eingraviert. Die Tür im Hintergrund mit den zwei Eisenringen auf jeder Seite stellt eine historische Form iranischer Türen dar, die im urbanen Gebiet kaum mehr existieren. Damit wird eine ruhmreiche und prachtvolle altiranische Vergangenheit konstruiert. Alternativ dazu werden auch Standuhren und Porzellanfiguren im Stil europäischer Königshäuser beworben. Darunter fällt auch die Werbung von „Tehran Luster“ mit Lampen, die mit Schleifen und barocken Engeln dekoriert sind. Auf dieser Abbildung ist auch die Figur eines Jägers mit Hund an der Leine – eine im Iran nicht existierende Figur. Über Waren wie diese kann die Verbindung mit einem westlichen Lebensstil (wie z.B. über mit der Figur assoziierten Eigenschaften wie Disziplin und Kontrolle über die Natur) hergestellt werden. Die Zeitschrift wendet sich damit durch teurere Werbung nicht nur an eine gehobenere Schicht als Donya-e Zanan, sondern bietet auch viel weniger „einheimische“ Alternativen an. Zendegi-e Ideal will vor allem Zielgruppen ansprechen, die – ob islamisch oder westlich orientiert – Wert auf qualitativ hochwertige und teure Waren legen. Darunter fallen auch sozial konservativ eingestellte LeserInnen, für die westliche Waren attraktiv sind, weil sie für hohe Qualität und hohe Preise stehen. Die Vermarktung von Modernität und Luxus greift also auf die Wünsche und Ideale verschiedener Zielgruppen zurück.

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FREEDOM

So bringt Ausgabe Nr. 29/2008 etwa eine Kurzreportage mit dem Untertitel „Dieses Einkaufszentrum führt sowohl hochwertige als auch schicke Marken“ (S. 99).

Man sieht den Eingang einer Passage mit dem Schaufenster eines extravaganten Taschengeschäfts und einer Parfumerie, deren Waren auf eine hohe Preisklasse schließen lassen. Im Vordergrund sind zwei Personen von hinten zu sehen: eine Frau mit schwarzem Tschador, die von einem Mädchen mit Schultasche begleitet wird, das ein weißes Kopftuch (diese Form des Kopftuchs, Maghnaeh, ist in Institutionen wie Schulen und Behörden Standard) und Jeans trägt. Da die Frau das schwarze Tuch um den gesamten Körper hüllt, kann man keine Schlüsse auf ihr Aussehen, Alter oder Ähnliches ziehen. Die Situation stellt die Vereinbarkeit einer wohlhabenden Frau, die Wert auf modische und teure Waren legt und sich in den entsprechenden Orten (moderne Einkaufspassagen) bewegt, mit dem Bekenntnis zu konservativen sozialen Praktiken des Islam dar. Gleichzeitig versteht sich der iranische Staat – im Gegensatz zu Ländern mit freier Marktwirtschaft – als eine Instanz, die dem Konsum eine ethische, in diesem Fall islamische, Form zu verleihen hat. Werte wie Maßlosigkeit, Eigennutz oder Verschwendung sind dabei verpönt. Ein interessantes Beispiel dafür findet sich in Zendegi-e Ideal Nr. 39, wo in einem Dossier das Thema erläutert wird, wie man richtig konsumiert bzw. Geld ausgibt. Der Beitrag, den ich im Folgenden analysiere, wirkt, als wäre er von der iranischen Regierung gesponsert oder zumindest angeregt worden. Dies schließe ich einerseits daraus, dass die restlichen Inhalte in der Zeit-

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schrift von einer Einschaltung dieser Art stark abweichen. Andererseits wurde Zendegi-e Ideal im Jahr 2010 ein Verbot weiterer Auflagen angedroht,11 weswegen Beiträge wie dieser einen Kompromiss der Zeitschrift mit dem Regime darstellen könnten: Jedes Jahr zu Neujahr, am 21. März, gibt das geistliche Oberhaupt ein Motto für das kommende Jahr aus. Im Jahr 2008 war es die „Verbesserung des Konsumvorbilds“. Während der dreizehn Tage, die das Neujahresfest dauert, läuft das jeweils aktuelle Motto in so gut wie allen Fernsehsendern am unteren Bildschirmrand in einer Leiste durch. 2008 stand dieses Motto in direktem Bezug zu der politischen Entscheidung, das Benzin zu rationieren, was in der Bevölkerung große Unzufriedenheit ausgelöst hatte. Dementsprechend sind auf den Abbildungen zum Text Autoschlangen und eine Person beim Tanken zu sehen. Im Text dazu steht, weniger Tanken führe zu besserer Luft. Mit Zitaten des Propheten Mohammad, Ali (Schwiegersohn und Cousin des Propheten) und Hossein (ein Enkel des Propheten) wird außerdem begründet, warum Verschwendung schlecht ist. Hier zeigt sich, dass der Staat anhand ethischer Argumente versucht, den Konsum der Bevölkerung in seinem Sinn zu beeinflussen. Dadurch wird aber auch seine Position als „prisoner of simultaneity“ (Verdery 1996, S. 36) deutlich: Es wird zunehmend schwerer, das Konsumverhalten der Bevölkerung zu regulieren, während immer mehr Einflüsse von außen in den Iran kommen, die eine völlig unterschiedliche Welt des Konsums abbilden. Diese Form der „Werbung“ unterscheidet sich schließlich durchweg von jener in kapitalistischen Ländern, wo das Konsumieren um jeden Preis angeregt wird. Während die islamische Ethik in der Zeitschrift Donya-e Zanan Fortschrittlichkeit und Erfolg weniger in materiellen Zeichen misst, werden diese Werte in Zendegi-e Ideal als das Ergebnis verantwortungsvollen Konsums und kontinuierlicher Körpergestaltung konstruiert. Zendegi-e Ideal transportiert auch ethische und immaterielle Werte wie Bescheidenheit und Selbstsicherheit, wie z.B. in einem Ratgeber zum „ersten Date“. Inhalte wie das Motto der Sparsamkeit wirken jedoch aufgesetzt und oberflächlich. Diese Art der Präsentation deutet darauf hin, dass den Versuchen, eine islamische Ethik mit der Konsumgesellschaft zu vereinen, stets der Siegel des iranischen Staates aufgedrückt wird.

11 http://en.trend.az/regions/iran/1651274.html (Aufruf 16.02.2010).

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2.3.1 Zusammenfassung der Zeitschriftenanalyse Die beiden Zeitschriften stehen für unterschiedliche Zugänge zur Moderne im Iran: Donya-e Zanan (Welt der Frau) versucht eine moderne islamische Lebensweise zu kreieren, die auf Bescheidenheit, Wohltätigkeit, Disziplin, innerer Ausgeglichenheit und Selbstsicherheit beruht. Zendegi-e Ideal hingegen bringt einen modernen islamischen Lebensstil mit Reichtum in Verbindung: Modern ist, wer sich Teures leisten kann. Gleichzeitig macht diese, vermehrt an Konsum und materiellem Wohlstand orientierte Zeitschrift weniger Unterschiede zwischen einer „islamischen“ oder „westlichen“ Identität. Ab einer bestimmten Einkommensgrenze scheinen sich diese Unterscheidungen zu verwischen. Donya-e Zanan hingegen bezieht hier eine klare inhaltliche Position: die Integration westlicher Elemente erfolgt vor einem islamischen Hintergrund. Eine meiner Interviewpartnerinnen, Professorin für Soziologie und Frauenstudien an der Universität Teheran, äußerte sich dazu so: „Die westliche Gesellschaft hat positive und negative Seiten. Du musst sehr, sehr genau auswählen. Die Wissenschaft, sogar auch manche Lebensstile, sie haben so viele Sachen, die wir von ihnen lernen können. Aber die Werte, da müssen wir an unseren eigenen festhalten […] Wir sollten versuchen, die positiven Dinge zu übernehmen und die negativen abzulehnen.“ (Saghar)

Diese Haltung entspricht dem offiziellen Diskurs in der Islamischen Republik, der auf dem Schutz einer autochthonen nationalen Identität, vor den Einflüssen der westlichen Moderne basiert. Naturwissenschaften und Technik zählen dabei zu den erstrebenswerten Aspekten der westlichen Kultur. In Bezug auf weibliche Rollenbilder kann festgehalten werden, dass die „islamische Frau“, wie sie den Vorgaben der Islamischen Republik entspricht, in der Zeitschrift Zendegi-e Ideal nicht vorkommt. Es gibt lediglich ein bis zwei Abbildungen von europäischen oder US-amerikanischen Frauen, die in kleinem Format neben Berichten platziert sind, die in keinerlei Zusammenhang mit den sonst so prominenten Themen der Zeitschrift wie Schönheit, Mode oder Luxus stehen. In Donya-e Zanan nimmt die „islamische Frau“ hingegen einen prominenten Stellenwert ein: sie tritt in verschiedensten Formen (als Hausfrau, Sportlerin, Künstlerin, Taxifahrerin) in Erscheinung – natürlich immer mit

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Kopftuch. Sie wird als selbstbewusste Frau präsentiert, die auch den öffentlichen Raum aktiv für sich einnimmt. Damit affirmiert Donya-e Zanan die offiziellen Vorgaben einer weiblich-islamischen Identität, während Zendegi-e Ideal diese mit einer Leerstelle quittiert. Während in beiden Zeitschriften die Arbeit am Selbst ein wichtiges Thema ist, konzentriert sich Zendegi-e Ideal (Ideales Leben) vor allem auf Methoden und Angebote, den Körper zu verändern bzw. zu verbessern. Beide Magazine zeigen also eine steigende Tendenz zum „Selbstmanagement“: Selbstmedikationen, Schönheit, Sport und Bodybuilding zeugen davon, dass dem eigenen Auftreten viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dabei geht es in Donya-e Zanan aber eher um Weiterbildung, den Abbau von Ängsten und ein sichereres Auftreten, mit anderen Worten eher um eine innere Einstellung. Zendegi-e Ideal hingegen konzentriert sich vor allem auf das Aussehen. Dieser Wunsch nach Veränderung ist nicht nur zentraler Bestandteil der Konsumkultur, sondern der westlichen Moderne an sich: in ihr hat sich das Konzept der inneren Wandlung von Authentizität und Beständigkeit auf die Neuerfindung, Diskontinuität und Suche nach neuen Erfahrungen und Lebensentwürfen verlagert. Die Ursprünge dieser Arbeit am Selbst liegen Featherstone (2010) zufolge jedoch in verschiedenen religiösen Traditionen.12 Dies ist möglicherweise ein Grund dafür, dass sich sowohl psychologische als auch körperliche Techniken der Selbstverbesserung in verschiedenen Teilen der iranischen Gesellschaft, in der religiöse Inhalte sehr präsent sind, großer Beliebtheit erfreuen. Das Mehr an Werbung in Zendegi-e Ideal könnte schließlich darauf zurückzuführen sein, dass die Zeitschrift nicht – wie Donya-e Zanan direkt oder indirekt – staatlich unterstützt wird und sich durch Werbung finanzieren muss. Gleichzeitig ist die Unterscheidung zwischen Werbungen und redaktionellen Beiträgen und Berichten in Donya-e Zanan auch viel klarer als in Zendegi-e Ideal. Eine Übereinstimmung besteht jedoch im Bereich der Haushalts- und vor allem der Kücheneinrichtung: Hier gilt ein westliches Modell sowohl

12 Featherstone (2010) weist darauf hin, dass religiös begründete Konzepte der Selbstverbesserung in der Moderne eine Erweiterung von ihrem ursprünglichen Bezug auf das Göttliche auf unterschiedliche Lebensbereiche erfahren haben.

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ästhetisch (gedeckte Tafel) als auch in Bezug auf die Qualität (europäischer Standard) als Vorbild. Vor allem in Ideales Leben dient der „Westen“ als eine Projektionsfläche für eine idealisierte Welt des Wohlstands, was auch die Leichtfertigkeit erklärt, mit der eine aus westlichen Kontexten übernommene Werbeästhetik für Reportagen und Berichte verwendet wird: Die Integration von Werbebildern von Hollywoodstars13 ins Alltagsleben schafft so die Vorstellung einer europäischen oder amerikanischen Traumwelt. Trotz der unterschiedlichen Zielgruppen, die beide Zeitschriften ansprechen, haben die Magazine einen gemeinsamen Nenner: sie propagieren ein Individuum, das mit den Strukturen des liberalen Marktes kompatibel ist. Diese Ausrichtung wird durch den Schwerpunkt der Arbeit am Selbst (im Sinne von Selbstmanagement und Eigenverantwortlichkeit) und die Betonung einer individuellen, unternehmerischen und aktiven Persönlichkeit deutlich, der beide Zeitschriften durchzieht, aber in einem unterschiedlichen Kontext präsentiert wird. Gerade die Welt der Frau ist ein interessantes Beispiel für die Vereinbarkeit von (staatlich befürwortetem) Islam und Ideologien des liberalen Marktes, denn sie vertritt ein modernes, weibliches islamisches Individuum, das sich selbstbewusst innerhalb der Strukturen des freien Marktes bewegt. Zeitschriften wie das Ideale Leben sind dem iranischen Regime hingegen ein Dorn im Auge: sie vernachlässigen einen spezifisch islamischen Bezugsrahmen zugunsten des Glamours. Deswegen ist das Ideale Leben aber nicht als subversiv oder „populär“ im Sinne Fiskes (2000) zu verstehen, denn es repräsentiert keine Form des Genusses, die von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen ausgeht und dadurch die herrschende soziale Ordnung gefährdet, also von „unten“ nach „oben“ in der Gesellschaft wirkt. Obwohl die in der Zeitschrift Ideales Leben dargestellten Inhalte die rigiden Vorstellungen der iranischen Regierung herausfordern, wirken sie gleichzeitig auch disziplinierend in Bezug auf eine andere hegemoniale Ordnung als jener des iranischen Staates, nämlich die der globalen Marktwirtschaft.

13 Diese Strategie wird auch dementsprechenden westlichen Magazinen praktiziert; in iranischen Kinos laufen jedoch keine Hollywood-Filme (eine Ausnahme war 2008 der Film „Sicko“ von Michael Moore, in dem das US-amerikanische Gesundheitssystem angeprangert wird). Hollywood-Filme (auch die neuesten) werden jedoch überall als DVDs unter der Hand verkauft.

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Diese Disziplinierung vollzieht sich neben Praktiken und Handlungsanweisungen, in deren Mittelpunkt die Arbeit am Selbst steht, durch die Bewerbung exklusiver Waren für die gehobenen Schichten. Das für die Konsumenten dieser Zeitschrift produzierte Ideal ist nur für jene erreichbar, die von den Strukturen und Instrumenten des freien Marktes erfolgreich profitieren. Trotz der Maßnahmen im Zuge der Islamischen Revolution, Homogenität in der Gesellschaft herzustellen, setzt sich eine bestimmte Form sozialer Fragmentierung im Iran fort, die sich anhand der Konkurrenz zwischen islamischen und westlichen Imaginationen von Modernität festmachen lässt. Dabei lassen sich Unterschiede in der Orientierung am Westen weder entlang der Kategorien „arm“ und „reich“, noch „konservativ“ oder „liberal“ festmachen. Viele reiche Menschen im Iran widmen sich heute Konsumpraktiken, die eine ausgesuchte islamische Ästhetik haben, während sich ein westlicher Lebensstil auf verschiedene soziale Schichten ausgebreitet hat und nicht mehr nur ein Merkmal der Oberschicht ist. Eine meiner Interviewpartnerinnen, die 24-jährige Englischlehrerin einer privaten Sprachschule, bemerkt dazu: „Sehr viele religiöse Leute sind sehr reich hier jetzt. Da kann man wirklich nicht unterscheiden zwischen den sozialen Klassen, was ihre Attraktion zum Westen betrifft. Die Unterschicht, manche sparen ihr Geld, nur um weggehen zu können. Sie sparen sich das Essen vom Mund ab. Aber sie finden trotzdem einen Weg, um das zu bekommen, was sie wollen.“ (Neshat)

Shahram Khosravi stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Art, wie sich vor allem junge Teheraner sich selbst und ihr Land vorstellen, stark vom Zugang und Gebrauch von Medien beeinflusst ist: „Being ‚modern‘ among young Tehranis seems to be a state of mind, rather than a matter of materiality. It is about what one wants or wishes to be: it is imagined.“ (Khosravi 2008, S. 174) Das Beispiel der Bäckerei, die ausschließlich westliches Brot führt und den Namen „nan-e fantazi“ („Fantasie-Brot“) trägt, ist nur eines von vielen, das zeigt, wie das soziale Imaginäre im Iran vom Westen durchdrungen ist. Dieses idealisierte Bild vom Westen führt dazu, dass sich für viele Iraner Europa oder die USA als eine unerreichte Wahrheit darstellen, während der Iran selbst nur ein Trugbild zu sein scheint. Der Einsatz von Idealvorstellungen und Fantasien von Seiten der Marketingin-

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dustrie ist zwar weltweit zu beobachten, die Diskrepanz zwischen Realität und Imaginiertem ist im Iran allerdings so groß, dass sie Unzufriedenheit und Frustration in der Bevölkerung verstärkt. Arjun Appadurai (2005) bezeichnet solche Imaginationen deswegen als soziale Praktiken, da sie Wirkkraft entwickeln, zum Handeln aktivieren und dadurch die Gesellschaft als Ganzes beeinflussen. Asta Vonderau (2010) konnte zeigen, wie mit westlichen Konsumbildern verbundene soziale Imaginationen eines „guten Lebens“ eine entscheidende Kraft in Osteuropa waren, die zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes beigetragen haben. Als sich die Menschen mit ihren Konsummöglichkeiten und ihrem Lebensstandard im Real-Sozialismus unzufrieden zeigten, entstanden westlich orientierte Alternativvorstellungen von Wohlstand und Modernität, die im Laufe der Zeit zu einer gewaltigen sozialen Imagination wurden und systemsprengende Kraft erlangten. Darauf bezieht sich Achille Mbembe (2001), wenn er feststellt, dass Herrschaft – für die Herrscher und alle anderen – darin besteht, dieselben Phantasmen zu teilen. In diesem Sinn werden in Darstellungen des Westens individualistische und auf materiellem Wert basierende, mit westlichen Lebensstilen assoziierte Werte als dominant oder erstrebenswert formuliert. Damit reiht sich zu der autoritären Herrschaft des Staates im Iran eine konkurrierende Ideologie, die sich als Befreiung von eben dieser Herrschaft konstruiert. Diese Form der Einflussnahme bietet indes keine politischen oder sozialen Alternativen, sondern eröffnet eine Traumwelt eines „besseren“ Lebens, die auf den Strukturen des liberalen Marktes beruht. Die Vorstellungen eines besseren, westlichen Lebens beruhen damit auf einer abstrakten Vision, die sich aus Konsumbildern speist und nur scheinbar apolitischer Natur ist. Die spezifische Darstellung und Verbreitung westlicher Konsumgüter und die zugehörigen Assoziationen im Iran sind jedoch keine Nebensache des Alltags, sondern durchaus politisch – mit weitreichenden Konsequenzen für die Gesellschaft. Wie sich diese Verknüpfung zwischen politischer und ökonomischer Ebene im Iran auswirkt, werde ich im folgenden Kapitel untersuchen.

3. Der moderne kapitalistische Staat

Ähnlich wie in Kapitel 1 in Bezug auf die religiöse Sphäre argumentiert wurde, kann auch die ökonomische Sphäre nicht als unabhängig von anderen gesellschaftlichen Bereichen gesehen werden; sie folgt nicht frei ihrer eigenen, rein ökonomischen Logik. Die Anthropologie des 19. Jahrhunderts ging davon aus, dass westliche Kulturen die moderne Wirtschaft in unberührte und isolierte Gesellschaften trugen. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert beruhte jedoch auf einem Prozess intensiver Interaktionen zwischen dem europäischen Kern und den afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Peripherien. Viele einfache Bauern und Arbeiter aus entlegenen Gebieten beispielsweise haben schon auf europäische Einflüsse reagiert, lange bevor ihr erster direkter Kontakt stattgefunden hatte. Große Migrationen und kulturelle Veränderungen passierten aufgrund von Handel und Kriegsführung, die von Europa ausgingen. Das ökonomische Ungleichgewicht, das zwischen den Staaten dieser Erde besteht, beruht nicht auf dem Ausschluss der sogenannten Peripherien aus der globalen Ökonomie, sondern auf ihrer direkten Beteiligung daran. Dazu schreibt Marshall D. Sahlins: „The social and cultural matrix of our own economic behaviour is transparent to us so that, for example, heightened retail sales at Christmas seem ,just‘ economic, not religious. But the cultural context of economic behaviour in exotic societies is blatantly obvious.“ (Sahlins 1972, S. 11)

So kann ökonomisches Verhalten in einer islamischen Gesellschaft wie dem Iran nicht primär religiös (oder anti-religiös) gedeutet werden, sondern muss in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet werden.

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Die zeitgenössische Anthropologie wurde diesbezüglich stark von den Theorien Arjun Appadurais (1996) beeinflusst, der die globale Ökonomie als eine komplexe und sich überlagernde Ordnung sieht, die nicht länger in Begriffen von Zentrum und Peripherie oder Produzenten und Konsumenten verstanden werden kann. Sein Konzept verschiedener „scapes“ im Bereich der Medien, Migration, Finanz, Technologie und Ideenwelt steht für das unregulierte und dynamische Aufeinandertreffen dieser Sphären durch das – in Anlehnung an Benedict Anderson – imaginierte Gemeinschaften entstehen, die konventionelle politische und soziale Grenzen überschreiten. Diese Theorie kultureller Ströme lässt jedoch die schichtspezifischen Unterschiede außer Acht, die das globale System beinhaltet und „gives the misleading impression that everyone can take equal advantage of mobility and modern communications and that transnationality has been liberatory, in both a spatial and a political sense, for all peoples.“ (Ong 1999, S. 11) Ich analysiere transnationale Entwicklungen wie die Ausweitung von Strukturen der freien Marktwirtschaft und die kulturelle Globalisierung im Iran daher im Kontext der jeweiligen Machtstrukturen, die durch eine spezifische Interaktion lokaler und globaler Konstellationen zustande kommen. Zu Beginn dieses Kapitels werde ich in einem kurzen Überblick nachzeichnen, wie sich im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts die Idee der freien Marktwirtschaft als dominantes Wirtschaftssystem entwickelte und in welcher Verbindung diese zu der Vorstellung einer freien Gesellschaft steht. Am Beispiel der Veränderungen in der politischen Ökonomie Irans seit 1979 wird daraufhin die Totalität des iranischen Staates, im Sinne eines absoluten Machtmonopols, widerlegt. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Rolle Ayatollah Khomeinis und der städtischen Unterschicht zu, um der Verknüpfung von Armut und Religiosität auf den Grund zu gehen. Die weitere Untersuchung erfolgt in Hinblick auf die Position, die der Iran im internationalen System der Staaten dieser Welt einnimmt. Anschließend werde ich zeigen, dass auch innerhalb der iranischen Gesellschaft Strukturen entstanden sind, die die Autorität des Staates gleichzeitig herausfordern, aber auch legitimieren. Wie Shalini Randeria in diesem Zusammenhang feststellt, „the capacity of subordinate states in the international system to make and enforce rules, as well as to set and achieve policy agendas, is being limited from without and contested from within.“ (Randeria 2007, S. 2)

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3.1 D EMOKRATIE

UND

K APITALISMUS

Im Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelte sich aus der Wissenschaft als Inbegriff aufgeklärter Vernunft auch die Idee des fortschrittlichen Staates, mit dem eine effizientere Landwirtschaft, der Rückgang von Krankheiten und die Befreiung der Bevölkerung von Ignoranz und Aberglauben ermöglicht werden sollte (Hamilton 2005, S. 37). Die Konsumenten dieser neuen Ideenwelt waren hauptsächlich Adelige und Vertreter der Bourgeoisie, also Mitglieder der traditionellen Ordnung. Die neue, „moderne“ Mittelklasse von Kaufleuten und Handwerkern schien an dieser intellektuellen Kultur nicht sonderlich interessiert. Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Nationalstaaten aber auf eine neue Art der Legitimation durch die Bevölkerung angewiesen zu sein, die statt göttlichem Recht und dem Recht des Staates nun Individuen und Völker in den Mittelpunkt stellte (Held 2005, S. 71). Unterschiede in der Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen lassen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Konzentration von Kapital in verschiedenen Regionen feststellen. So beschreibt Held, wie in sogenannten „capital intensive regions“ das Bemühen um eine erweiterte Repräsentation des Volkes vorangetrieben wurde, weil die Interessen des Bürgertums vertreten sein sollten. In anderen Regionen, die Held als „coercion intensive areas“ bezeichnet, wurden repräsentative Körperschaften hingegen eher unterdrückt (ebd., S. 77). Das Verhältnis zwischen politischer Hierarchie und der neu entstehenden kapitalistischen Klasse Europas ist auch für die ideelle Verbindung von Kapitalismus und Liberalismus aufschlussreich. Die Fusion dieser beiden bis dahin autonomen Kräfte entwickelte sich aus der Überlagerung ihrer Interessen über einen konkreten Zeitraum hinweg (Poggi 1990, S. 95f). Die politischen Führungskräfte wollten politische und fiskale Macht zentralisieren, was zu einer Veränderung in der Struktur der Eliten, also vor allem des Adels und der Kirche führte. Die zweite Kraft bildete die aufsteigende bourgeoise Klasse, die gegen die Beschränkungen kämpfte, die dem sich ausbreitenden Markt durch mächtige soziale Netzwerke am Land (durch Aristokratie und Grundbesitzer) und in der Stadt (durch Stände und Gilden) auferlegt worden waren. Diese „Allianz“ veränderte und verfestigte sich mit der Zeit und es wird angenommen, dass diese Dynamik sowohl zur Ausweitung des Handels als auch zur Industrialisierung der Ökonomie bei-

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getragen hat (Held 2005, S. 83). Das Streben von Interessensgruppen wie dem liberalen, nationalen oder demokratischen Bürgertum, zivile und politische Rechte einzuführen, um die „Wahlfreiheit“ in Bereichen des persönlichen, familiären, geschäftlichen und politischen Lebens zu gewährleisten, hat den Staat in Richtung liberaler demokratischer Politik geführt und die Wirtschaft zum System des kapitalistischen Marktes (ebd., S. 83). Richard Lachmann (1990) betont in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich gesellschaftliche Dynamiken und Interessen weniger durch die Kategorie der sozialen Klasse erklären lassen, sondern durch Zusammenschlüsse von Eliten. Am Beispiel der englischen Revolution von 1640 und der Französischen Revolution von 1789 zeigt er auf, dass die Aristokratie am Aufbau kapitalistischer Strukturen durchaus auch interessiert und beteiligt war. Dieser Theorie zufolge verlieren Eliten ihre privilegierten Positionen eher im Konflikt mit anderen Eliten als durch den Druck, der von benachteiligten Klassen ausgeht. Diese Konflikte verändern Produktionsverhältnisse und -prozesse und ermöglichen dann neue Allianzen zwischen jenen, die zuvor unter der Herrschaft aufgeteilter Interessensgruppen standen. Dies weist bereits darauf hin, dass die Transformation der Gesellschaft zu einer freien Marktwirtschaft nicht so reibungslos verlief, wie oftmals angenommen wird. Karl Polanyi (1977) hat diese konfliktreiche Entwicklung anschaulich beschrieben. Er erklärt, wie die Hochfinanz im 19. Jahrhundert zu neuer Bedeutung gelangte: sie wurde zur Trägerin des politischen Gleichgewichts, da sie als Bindeglied zwischen politischer und wirtschaftlicher Struktur sowohl das Vertrauen einzelner Staatsmänner als auch internationaler Investoren genoss. Die Strukturen der großen Bankiers waren international, aber von nationalen Organisationen nicht unabhängig. Da ihre Geschäfte von Kriegen beeinträchtigt worden wären, waren sie – wenn auch nicht vorwiegend aus moralischen Beweggründen – bestrebt, den allgemeinen Frieden aufrecht zu erhalten. Neben dieser neuen Rolle des Finanzsystems ereigneten sich durch die Industrielle Revolution tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur Europas, die laut Polanyi den Beginn der freien Marktwirtschaft markieren: Der zunehmende Einsatz von Maschinen und die Herstellung größerer Warenmengen gingen mit einer Entwicklung einher, durch die schrittweise alle Faktoren, die am Produktionsprozess beteiligt waren, käuflich wurden. In der Landwirtschaft musste das Motiv des Lebensunterhalts durch jenes des Gewinns ersetzt werden. Der

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Beginn der Marktwirtschaft steht also für die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren. Klassische Ökonomen versuchten währenddessen, das Marktgesetz auf die angeblichen Neigungen des Menschen im Naturzustand zurückzuführen. Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen gelte Polanyi zufolge jedoch nicht nur der Sicherung seines individuellen materiellen Besitzes, sondern auch seines gesellschaftlichen Ranges, gesellschaftlicher Ansprüche und Wertvorstellungen. Sie sei sozial, nicht individuell motiviert. Die große Veränderung, die die Gesellschaften Europas durch die Entwicklung des Marktwesens durchlief, war jedoch, dass die Wirtschaft nicht mehr in soziale Beziehungen eingebettet war, sondern umgekehrt die sozialen Beziehungen in das Wirtschaftssystem eingegliedert wurden: „Man erkannte nicht, dass die Verwandlung der Märkte in ein selbstregulierendes System von ungeheurer Machtfülle nicht das Ergebnis einer den Märkten innewohnenden, natürlichen Tendenz zur Ausuferung war, sondern vielmehr die Auswirkung der durchaus künstlichen Anreize, die dem Gesellschaftskörper appliziert wurden.“ (Polanyi 1977, S. 81)

Ein weiteres Prinzip war der Wettbewerb, der mit der Entwicklung des Binnenhandels entstand. Bis zur kommerziellen Revolution im Spätmittelalter war der Handel auf organisierte Stadtgemeinden, die ihn lokal oder als Fernhandel betrieben, beschränkt gewesen. Durch die Nationalisierung des Handels zerstörte der Merkantilismus den örtlichen und interurbanen Handel und bereitete den Weg für den nationalen Markt, der keine Unterschiede mehr zwischen Stadt und Land und den verschiedenen Regionen kannte. Die Wirtschaftspolitik wurde von der Stadt auf den Staat ausgedehnt. Das Eingreifen des Staates, das den Handel von der Beschränktheit der privilegierten Städte befreit hatte, musste nun auch die Frage der Monopole und der Konkurrenz regeln. Da in die Bildung von Preisen nicht eingegriffen werden sollte, wurden Arbeitskraft und Boden den Gesetzen des Marktes untergeordnet, was – da diese die Lebensformen des einfachen Volkes betrafen – auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung erforderte. In jener Zeit formte sich laut Polanyi auch das Sozialbewusstsein, mit dem die Arbeiter als Klasse gegen die Maschinisierung der Gesellschaft auftraten. Auf ideeller Ebene wurden die Umstrukturierungen mit den vermeintlichen Realitäten der Natur gerechtfertigt: die Wettbewerbsgesellschaft stand

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unter dem Gesetz der Wildnis. Das quälende Problem der Armut schien nur dadurch erklärbar, dass die ökonomische Gesellschaft Gesetzen unterworfen war, die nicht vom Menschen gemacht waren. Verschärfungen in den Armengesetzen (1832-34) und der drohende Hunger wurden unter dem Vorwand der Emanzipierung von Armen und Erwerbslosen wirksam gemacht. Gleichzeitig war in den meisten Ländern Europas der Arbeiterklasse das Stimmrecht verweigert worden bzw. war es vom Einkommen abhängig. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als eine Generation herangewachsen war, die sich in die Strukturen des kapitalistischen Marktes einfügte, wurden Gewerkschaften geschaffen, und den besser Bezahlten der Arbeiterschicht wurde ein gewisses Mitbestimmungsrecht zugestanden. Das heißt, den Mittellosen und einfachen Arbeitern wurden erst Rechte zugestanden, als die Anpassung bereits vollzogen war. Auch die liberalsten Politiker dieser Zeit waren überzeugt davon, dass die Volksherrschaft eine Gefahr für den Kapitalismus darstellte, da jede Intervention, die Arbeitenden Schutz böte, den selbstregulierenden Markt behindere und den Fundus an Konsumgütern verringere, der sie mit Lohn versorge (ebd., S. 281). Die Armut war jedoch nur der ökonomische Aspekt der großen Umschichtungen durch die Industrielle Revolution. Die Entwicklungen im Zuge der Industriellen Revolution waren gleichzeitig auch von einer Gegenbewegung begleitet, die von konservativen Kräften wie Kirche und Armee getragen wurde und die Einschränkung der Freiheit des Marktes in Bezug auf Produktionsfaktoren wie Arbeit und Boden anstrebte. Durch den Widerstand gegen die Eingliederung des Bodens in das Marktsystem formierten sich diese konservativen Kräfte gegen die Liberalen und wurden Teil der protektionistischen Bewegung, die schließlich auch zur Einführung von Sozial- und Fabriksgesetzen, Agrarzöllen und Bodengesetzen beitrug. Solche sozialen Schutzmaßnahmen sind laut Polanyi Begleiterscheinungen eines sich angeblich selbstregulierenden Marktes. Nach dem politischen Sieg des Bürgertums 1832 wurde der wirtschaftliche Liberalismus in England zu einem militanten Glaubensbekenntnis. Doch Polanyi schreibt: „Nichts war natürlich an der Praxis des Laissez-faire; freie Märkte waren niemals bloß dadurch entstanden, dass man den Dingen ihren Lauf ließ. So wie die Baumwollfabriken – die führende Freihandelsindustrie – mit Hilfe von Schutzzöllen, Exportprämien und indirekten Lohnsubventionen geschaffen wurden, wurde sogar der

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Grundsatz des Laissez-faire selbst vom Staat durchgesetzt. Die dreißiger und vierziger Jahre (des 19. Jahrhunderts, A.S.) brachten nicht nur zahlreiche Gesetze mit sich, durch die restriktive Vorschriften aufgehoben wurden, sondern auch eine enorm ansteigende Verwaltungstätigkeit des Staates, der nun mit einer Zentralbürokratie ausgestattet wurde, um die von den Liberalen gestellten Aufgaben bewältigen zu können.“ (Ebd., S. 179)

Staatlicher Interventionismus sollte dem freien Markt Geltung verschaffen und führte daher keineswegs zur Abschaffung von Kontrollen, Reglementierungen und Interventionen sondern zu deren Ausweitung. Der neue Typ staatlicher Souveränität manifestierte sich in Form von Schutzzöllen, Sozialgesetzen und Geldpolitik. Europaweit wurden ähnliche Institutionen errichtet, die die Übereinstimmung in der Verwendung von Banknoten und Münzgeld gewährleisteten. Die Welt umfasste schließlich eine begrenzte Anzahl von kreditgebenden und kreditnehmenden Ländern. Eine Selbstregulierung in solch einer Struktur hätte zur Voraussetzung haben müssen, dass die Länder mehr oder weniger gleichwertige Partner in einem System weltweiter Arbeitsteilung gewesen wären. Das war jedoch nicht der Fall: „Der Weltmarktmechanismus konnte sich solche Risiken nicht leisten. Also wurden auf der Stelle Kanonenboote entsandt, und die säumige Regierung, ob betrügerisch oder nicht, vor die Wahl gestellt, zu zahlen oder beschossen zu werden. Es gab keine andere Methode, um das System in Betrieb zu halten. Ähnliche Praktiken wurden verwendet, um Kolonialvölker von den Vorteilen des Handels zu überzeugen, wenn das theoretisch unfehlbare Argument des gegenseitigen Vorteils von den Eingeborenen nicht sofort oder vielleicht überhaupt nicht verstanden wurde. Noch offensichtlicher war die Notwendigkeit interventionistischer Methoden, wenn die betreffende Region über reiche Rohstoffvorkommen verfügte, die von den europäischen Fabrikanten benötigt wurden, und keine prästabilisierte Harmonie dafür sorgte, dass die Eingeborenen, deren natürliche Bedürfnisse bis dahin völlig anders ausgesehen hatten, plötzlich eine heftige Sehnsucht nach europäischen Waren verspürten.“ (Ebd., S. 261)

Solche Schwierigkeiten hätten sich in einem selbstregulierenden System nicht ergeben dürfen, aber je öfter Rückzahlungen und Handelsrouten nur unter Androhung bewaffneter Intervention gesichert wurden, um so häufiger folgte Handel militärischen Einsätzen bzw. das Militär ökonomischen

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Interessen der befehlenden Regierungen. Dadurch wurde umso offensichtlicher, dass zur Aufrechterhaltung der Weltwirtschaft politische Mittel eingesetzt werden mussten. Diese Form der Verbindung von Politik und Ökonomie hat im Zeitalter der Globalisierung eine neue Qualität erlangt. Darauf, wie sich Machtverhältnisse durch die Verlagerung auf transnationale Strukturen gewandelt und neu verteilt haben und welche Einschränkungen und Möglichkeiten sich für einzelne Staaten wie dem Iran daraus ergeben, werde ich in den folgendenden Abschnitten eingehen.

3.2 D IE H ERRSCHAFT

DES FREIEN

M ARKTES

Shalini Randeria (2007) weist darauf hin, dass in der Analyse postkolonialer Gesellschaften – ausgehend von einer radikalen Diskontinuität zwischen dem zeitgenössischen sozialen Leben und der Vergangenheit – aktuelle Entwicklungen oft als eine Re-Feudalisierung oder ein Rückfall ins Mittelalter beschrieben werden. In Bezug auf den Iran wird die Pahlavi-Ära in der westlichen Öffentlichkeit oft als eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Freiheit und des Wohlstands dargestellt, während die aktuelle Situation im Iran mit wirtschaftlicher Stagnation, Rückschrittlichkeit und Unterdrückung in Verbindung gebracht wird, die zumeist auf die „islamische“ Ausrichtung der Regierung zurückgeführt werden. Bei näherer Betrachtung weist die Entwicklung nach der Revolution jedoch auch viele Übereinstimmungen mit vorangegangenen Formen der Herrschaft im Iran auf. In diesem Zusammenhang ist Achille Mbembes Analyse (2001) der politischen Struktur in afrikanischen Ländern nach der Kolonialzeit für die Situation im Iran maßgeblich. Mbembe beschreibt, wie die Unabhängigkeit ehemals kolonisierter Länder in eine Übernahme kolonialer Rationalität durch die einheimische Bevölkerung bzw. Eliten und Mittelsmänner mündete. Als der kolonialen Herrschaft die Macht entglitt, war dies keine Folge oder Wegbereiterin einer Revolution, sondern der Auslöser von Armut und politischer Instabilität. Der postkoloniale Staat reproduzierte eine Herrschaftsform, die in Kontinuität zu vorangegangenen Strukturen kolonialer Herrschaft steht. Darüber hinaus wurde der Staat aufgrund der teilweisen oder vollständigen Übernahme durch den Markt zu einer Maschinerie, die

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weiter Ungleichheiten hervorbrachte. Dabei ging es jedoch nicht vorrangig darum, Profite zu erwirtschaften oder um Wettbewerb, sondern darum, durch Protektion und Umverteilung Vorteile für Mitglieder eines Staates zu erwirken, dessen Weiterbestehen unsicher war. Diese von Mbembe als „Gangster-Modus“ beschriebene Funktionsweise von Wirtschaft und Politik baut auch im Iran auf einer Administration auf, die maßgeblich von Großbritannien und später den USA beeinflusst war und unter der Regentschaft des Schah nur einer kleinen einheimischen Elite zugänglich war. Diese Strukturen schufen eine gespaltene Zivilgesellschaft mit unterschiedlichen Verbindungen zu politischen Institutionen. Nachdem die Entmachtung der Eliten durch die Revolution im Iran mit großer Euphorie begrüßt worden war, zeigte sich jedoch immer mehr, dass die Schere zwischen Arm und Reich kaum verkleinert werden konnte und die ökonomische Abhängigkeit von externen Märkten sich wenig veränderte. Die Basis staatlicher Macht im Iran beruht in großen Teilen auf dem Export von Rohöl und damit auf Devisen und steht dadurch in Kontinuität zu den kolonialen oder semi-kolonialen Strukturen, die der aktuelle Staat ersetzen sollte. Der Fortführung dieser spezifischen Herrschaftsstruktur in der Islamischen Republik wende ich mich im Folgenden genauer zu. Die heutigen Staaten des Nahen und Mittleren Osten waren zwar nie Kolonien, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches bestimmten jedoch die westlichen Siegermächte weitgehend die jeweiligen Staatsgrenzen und ließen die betreffenden Gebiete durch Mandate regieren, die den direkten Einfluss vor allem Großbritanniens und Frankreichs in dieser Region bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges sicherten. Der Iran stand seinerseits nie unter einer Mandatsregierung, und seine heutigen Grenzen haben sich seit 1828 nicht verändert. Dies hielt die Großmächte im 20. Jahrhundert jedoch nicht davon ab, ihre Interessen in diesem Gebiet mit militärischer Gewalt zu sichern. Ali Ansari (2000) beschreibt bereits die Politik der KadscharenMonarchie (1794-1925) als Ausgangspunkt für die Konflikte, die im Zuge der Interventionen durch das Ausland entstanden sind. Der Staat hatte verschiedene Konzessionen an ausländische Unternehmer vergeben, unter anderem hatte Baron Julius de Reuter die Erlaubnis zur Gründung der British Imperial Bank of Persia erhalten, die die Finanzpolitik Irans bis in die 1930er Jahre dominierte, bis daraus die Bank Melli (Nationalbank) geformt

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wurde. Eine weitere Konzession war 1901 an William Knox d’Arcy für Ölbohrungen verliehen worden, woraus die Anglo-Persian Oil Company1 hervorging, die die iranische Ölindustrie bis 1951 dominierte. Die nahezu laufenden Interventionen durch das Ausland, denen sich religiöse wie auch säkulare Herrscher in der gesamten islamischen Welt des 19. Jahrhunderts gegenübersahen, destabilisierten die politische Ordnung in diesen Ländern grundlegend. Gleichzeitig war die fehlende Autorität dieses Staates aber auch Motor für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft im Iran. Obwohl diese Interventionen des Auslands oft auch mit der Kollaboration einheimischer Interessensgruppen durchgeführt wurden, stellt die Islamische Revolution 1979 die erste Loslösung von diesen Formen der Fremdbestimmung und Betonung der Eigenständigkeit dar. In diesem Sinn ist die Revolution eine populäre Bewegung gewesen, die den Willen des unterdrückten Volkes verkörperte und auf nationalistische Elemente setze.

3.3 D IE I SLAMISCHE R EVOLUTION UND DIE POLITISCHE Ö KONOMIE I RANS SEIT 1979 Die Islamische Revolution wird zumeist als eine Transformation der Gesellschaft nach islamischen (im Sinn von ideologischen) Gesichtspunkten dargestellt – eine Perspektive, die auch von den Autoritäten im Iran vertreten wird. Ayatollah Ruhollah Khomeini selbst strich diesen Aspekt heraus, als er sagte: „I cannot and I do not accept that any prudent individual can believe that the purpose of all these sacrifices was to have less expensive melons, that we sacrificed our young men to have less expensive housing... No one would give his life for better agriculture. Dignity is better than full bellies. Iranian masses have fought only for God not worldly affairs.“ (Zitiert in Foran 1993, S. 358)

Verschiedene Gruppen traten der revolutionären Bewegung jedoch mit unterschiedlichen Forderungen und zu verschiedenen Zeiten bei und verwendeten unterschiedliche Repertoires kollektiven Handelns. So waren die

1

Dabei handelt es sich um die Ursprungs- bzw. Vorgängerorganisation von British Petrol (BP).

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Forderungen der Arbeiter vor allem wirtschaftlich und weniger „islamisch“: Sie verlangten höhere Löhne, Wohnkredite und eine Gesundheitsversicherung. Was die Rolle der städtischen Armen in der Revolution betrifft, hatten die vom Schah breit angelegten Veränderungen im Zuge der Weißen Revolution die Solidaritätsstrukturen der neu urbanisierten Gruppen eher unterminiert. Die Möglichkeiten kollektiven Handelns für die städtische Unterschicht waren daher reduziert. Das Verhältnis der einflussreichen Bazarhändler zum Schah war wiederum aufgrund ihres mangelnden Zugangs zu staatlichen Ressourcen angespannt (siehe Kapitel 5). Wie die folgende Analyse zeigen wird, ging es im Zuge der Revolution vor allem um einen Kampf um Ressourcen und um Aufspaltungen innerhalb der Eliten. Dennoch überwiegt in westlichen Perspektiven auf die Revolution zumeist der islamische Charakters der Bewegung. Ali Ansari fasst dies wie folgt zusammen: „All other facets of the revolution became gradually subsumed within this overtly ,Islamic‘ construction borne of a quintessentially orientalist imagination. It was a powerful myth, founded in reality, but pandering to Western prejudice, indeed conforming and extending it. It was, of course, encouraged by the revolutionaries themselves, whose very rebelliousness and rejection of what had come before was held as a virtue to be cherished. Yet already the language of political discourse was different and differentiating. Within Iran, while the concept of ‚Islam‘ was undoubtedly contested, for most Iranians it remained essentially a positive force, while in the West, Islam as a religion was deemed both anachronistic and reactionary. Thus two intellectual schools of thought emerged which used the same words but to mean different things.“ (Ansari 2000, S. 8)

In der Rezeption der Islamischen Revolution nehmen die Rolle des „Revolutionsführers“ Ayatollah Khomeini und jene der städtischen Unterschicht einen besonderen Stellenwert ein, denn Khomeini scheint die breite Masse der Armen für seine Zwecke mobilisiert zu haben. Der Anziehungskraft Khomeinis, ebenso wie dem vermeintlich revolutionären Eifer der städtischen Armen, widmet sich nun der folgende Abschnitt.

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3.3.1 Khomeini – Führer der Armen und Entrechteten? Im Gegensatz zu Bewegungen wie der Befreiungstheologie in Lateinamerika, für die die Sorge um die Armen ein Ziel an sich, sogar eine Doktrin war, hatte die Mobilisierung der Armen durch den Politischen Islam in den 1970er Jahren vor allem den politischen Zweck, eine in Bereichen der Sittlichkeit und Ethik auf islamischen Gesichtspunkten basierende Gesellschaftsordnung zu schaffen. Der Politische Islam, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben dem Iran auch in Indonesien, Ägypten, Pakistan oder dem Libanon an Macht gewann, stellte eine Sprache der Selbstbehauptung für jene – vor allem in der Mittelklasse – dar, die sich durch die politischen, ökonomischen oder wirtschaftlichen Prozesse marginalisiert fühlten. Für sie boten die Religion und Moral in politischer Hinsicht einen Ersatz für das Scheitern sowohl der kapitalistischen Moderne als auch einer sozialistischen Utopie. Im Gegensatz dazu folgten Angehörige der Unterschicht eher ihrer eigenen Volksreligiosität, einem relativ autonomen, informellen Leben und einer Politik des Alltags und weniger den Konzepten des Politischen Islam. In den urbanen Gebieten Irans orientieren sie sich damals wie heute an Strategien und Netzwerken, die für ihren Alltag unmittelbare Bedeutung haben und damit überschaubar sind. Laut Asef Bayat gibt es daher keine bestimmte Kultur der Armen, die sie für islamistische Politik besonders anfällig macht, sondern ihre durch ökonomische Umstände geprägte informelle Lebensweise bestimmt das Leben der städtischen Unterschicht. Diese informelle Lebensführung ist durch eine pragmatische Haltung zu verschiedenen politischen Trends und Bewegungen bestimmt, die sowohl staatlich als auch oppositionell sein können (Bayat 2007, S. 580). Gleichwohl lehnen sie ideologische Gefolgschaft sowohl dem Staat, als auch dem Islamismus gegenüber ab, denn die bewährte Taktik sei eher, sich auf sich selbst zu verlassen, um zu überleben oder die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern: „[…] they might opt for self-employment or resort to informal dispute-resolution rather than report to the police; they might be married by a local sheikh rather than at government ofces; or they might borrow money from informal credit associations rather than from banks. This is the case not because these people are essentially non- or anti-modern but because the conditions of their existence compel them to

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seek an informal way of life. That is so because modernity is a costly enterprise. It requires a capacity to conform to the types of behavior (adherence to strict disciplines of time, space, contract and so on) that most poor people simply cannot afford.“ (Ebd., S. 587)

Radikale Formen des Politischen Islam haben weder ein politisches oder moralisches Interesse an den Armen, noch zeigen diese eine besondere Hingabe zu Ideologien des Politischen Islam, der, Bayat zufolge, von den täglichen Sorgen des einfachen Volkes wenig weiß.2 Im Iran ist – wie auch in den meisten anderen islamisch geprägten Gesellschaften – die politische Klasse par excellence die gebildete Mittelschicht, die sowohl von islamischen als auch säkularen Bewegungen umworben wird. Der Politische Islam, hauptsächlich mit moralischer Politik und ideologischen Kämpfen beschäftigt, versäumte damit zu einer sozialen Bewegung der Entrechteten zu werden. Die Vorstellung, dass die Islamische Revolution hauptsächlich von der städtischen Unterschicht ausging und von dieser getragen wurde, ist daher nicht zutreffend. Was breite Teile der Bevölkerung, vor allem die städtische Mittelklasse, Studenten, Staatsangestellte, Händler des Bazars, Geschäftsleute und Industriearbeiter, aber auch die wichtigsten Kleriker Ende der 1970er Jahre im Zuge der Revolution vereinte, war der Widerstand gegen steigende soziale Ungleichheit und die zunehmend autoritäre Politik des Schah. Die Hauptkritik von Seiten der revolutionären Bewegung war, dass das PahlaviRegime ein westliches Entwicklungsmodell übernommen hatte, das nationale Interessen vernachlässigte, den Iran abhängig von westlicher Technologie, Know-How, Industrie und Kapital machte und Ölreserven zu schnell

2

Dass religiöse Praktiken und Glaubensinhalte für die Unterschicht tendenziell eine wichtige Bedeutung haben (vgl. z.B. Coreno 2002), liegt nicht etwa daran, dass diese eher zu Radikalität neigen würde bzw. die Komplexität des modernen Lebens weniger gut bewältigen könnte. Chavez weist darauf hin, dass vermögende Menschen eher in der Lage seien, sich im Austausch für materielle Mittel sowohl dies- als auch jenseitige Kompensation zu verschaffen. Bei armen Menschen hingegen trete in Ermangelung materieller Ressourcen religiöse Frömmigkeit als Quelle für Kompensationen in den Vordergrund. In der Folge bedinge aufsteigende soziale Mobilität auch die Entmachtung religiöser Organisationen, übernatürlicher Praktiken und Symbole (Chavez 1994, S. 757).

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ausbeutete. Vor allem die im Handel tätigen Kaufleute wehrten sich gegen Strukturanpassungen, die den Iran einem ausländischen Diktat unterwerfen würden. Dazu gehörte auch, sich auf den unberechenbaren Ölmarkt, Ölkartelle und multinationale Firmen zu verlassen. Nach der Repression des Pahlavi-Staates waren also der imperialistische Einfluss und die Abhängigkeit der Regierung von ausländischen Mächten die Hauptpunkte, über deren Bekämpfung in der Bevölkerung breiter Konsens herrschte. Die Unterdrückung des Klerus nahm dabei – historisch gesehen – einen speziellen Stellenwert ein. Die Säkularisierung des öffentlichen Lebens war Teil des Modernisierungsprogramms gewesen und hatte die gesellschaftlichen Funktionen des Klerus unter staatlicher Kontrolle zentralisiert. Die Geistlichkeit war traditionell die größte organisierte Gruppe gewesen, die die Macht des Staates vermittelte. Durch ihre finanzielle Unabhängigkeit, soziale Verwurzelung und religiöse Autorität stellte die Beschränkung der Ulema unter dem Pahlavi-Regime gleichzeitig auch eine Marginalisierung der Zivilgesellschaft dar. Aufgrund dessen wurde die Geistlichkeit nun zu einer oppositionellen Kraft im Sinne des Volkes. Dabei hatte die Monarchie auch lange Zeit die Unterstützung des Klerus genossen; es gab Allianzen mit zumindest einem Teil der politischen Hierarchie. Die semi-koloniale Situation im Iran hatte außerdem dazu geführt, dass die von der politischen Elite unabhängige Mittelschicht weniger liberal als nationalistisch orientiert war; Westmächte wie die USA und Großbritannien ließen den Elementen der Gesellschaft, die Träger liberaler Ideen waren, keine Unterstützung angedeihen, ebenso wurde die Entwicklung einer politisch aktiven Zivilgesellschaft vom Schah unterdrückt. In diesem Klima konnten sich laut Houchang Chehabi (1990) durch die Absetzung traditioneller Autorität keine rational-legalen Gesellschaftsstrukturen entwickeln; sie wurden von einer neuen charismatischen Autorität abgelöst, in der Person Ayatollah Khomeinis. Der Aufstieg Khomeinis zur führenden Figur der Islamischen Revolution ist sowohl seinem charismatischen als auch seinem autoritären Charakter geschuldet. Doch die iranische Gesellschaft war nicht leicht zu lenken, und Khomeini war – im Unterschied zu gängigen Auffassungen – nicht immer Herr des Geschehens.

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Die Einführung der Position des Obersten Rechtsgelehrten3, die Khomeini von 1979-1989 einnahm, wird oft als der erste große Coup der Konservativ-Religiösen gegenüber den Säkularen gesehen. Viele Mitglieder der Ulema bevorzugten durchaus eine autoritäre politische Struktur und wurden in ihrer Sichtweise durch die anhaltende soziale Anarchie bestärkt. Das Konzept des Obersten Rechtsgelehrten war aber Thema einer bereits jahrhundertealten Debatte unter schiitischen Theologen, die sich in ihrem Kern darum drehte, dass in einer Nation, in der zunehmend anti-religiöse Könige herrschten, die oberste Autorität im Staat bei einem juristischen Gremium liegen sollte. Khomeinis unorthodoxer Vorschlag war es, diese Autorität einer einzigen Person zu verleihen. Durch seinen offenen Populismus und seinen theokratischen Autoritarismus konnte Khomeini ein breites Spektrum von Ansichten vereinen. Obwohl der letztere dieser beiden Aspekte in Khomeinis Rezeption dominant war, ist es wichtig anzuerkennen, dass seine Anziehungskraft – vor allem für die Jungen – nicht in deren Naivität oder besonders ausgeprägtem Willen zum Gehorsam lag. Khomeini war ein unorthodoxer Mullah, der oft mit seinen strengeren Kollegen in Konflikt kam. Er kritisierte seine Kollegen oft dafür, dass sie – in seinen Augen – in Rückständigkeit verharrten: „This old father of yours had suffered more from stupid reactionary mollahs than anyone else. […] You were considered more pious if you walked in a clumsy way. Learning foreign languages was a blasphemy, philosophy and mysticism were considered to be a sin and infidelity. In the Feizieh my young son Mustafa drank wa-

3

Das politische System der Islamischen Republik Iran beruht auf der Herrschaft des „Obersten Rechtsgelehrten“ oder „Geistigen Oberhaupts“. Neben dem Obersten Rechtsgelehrten besteht das politische System aus den religiösen Aufsichtsorganen, republikanischen Institutionen und religiösen Stiftungen, wobei der Oberste Rechtsgelehrte die letztgültigen Entscheidungen trifft. Die religiösen Aufsichtsorgane bestehen aus: „(1) drei entscheidungstreffenden und ratgebenden Institutionen (Wächterrat, Expertenrat und Schlichtungsrat) und (2) Institutionen, die als der verlängerte Arm des Geistigen Oberhauptes gelten, aber keinen legalen Status haben. Die republikanischen Institutionen bestehen aus der Exekutive, der Judikative und der Legislative. Das Geistige Oberhaupt und die religiösen Aufsichtsorgane stehen gemeinsam den republikanischen Institutionen vor.“ (Rakel 2009, S. 108/109)

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ter from a jar. Since I was teaching philosophy, my son was considered to be religious impure, so they washed the jar to purify it afterwards. Had this trend continued, I have no doubt the clergy and seminaries would have trotten the same path as the Christian Church in the Middle Ages.“ (Zitiert in Moin 2000, S. 276)

Dieser neue Diskurs sagte nicht nur denjenigen zu, die eine Wiederherstellung des Autoritarismus suchten, sondern auch jungen Sozialisten.4 Die populistische Politik, nach der die neue islamische Ordnung vor allem den gesellschaftlich Unterdrückten (mustaz’an) zugute kommen sollte, wurde jedoch erst nach der Revolution dominant, als die Mobilisierung der Armen zum Thema der Konkurrenz zwischen den verschiedenen politischen Gruppen wurde, die in der provisorischen revolutionären Regierung vertreten waren. Unter diesen waren sowohl säkular und religiös geprägte Nationalisten, als auch konservative bis gemäßigte Kleriker. Führende Politiker aus diesen Lagern mussten die Unterschichten als ihre soziale Basis in ihrem Kampf gegen die Linken und Verbliebene des vorherigen Regimes gewinnen (vgl. Bayat 1998). Als sich kurz nach der Institutionalisierung der Revolution jedoch zeigte, dass die neuen Staatsfunktionäre ihren Versprechungen, den Armen zu helfen, nicht nachkommen konnten, kam es zu einer Polarisierung. Teile der neuen revolutionären Führung (darunter neu etablierte Institutionen wie die Pasdaran und Basij5) wurden der Staatsstruktur einverleibt, andere blieben außerhalb des Systems und kamen dabei mit dem Staat in Konflikt, obwohl sie eine ideologische Affinität zur islamischen Regierung hatten.

4

Der ideologische Machtkampf zwischen diesen beiden Gruppen ist bis heute nicht gelöst, auch wenn die konservativ-religiösen Parteien politische Dominanz erreicht haben mögen.

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Die Pasdaran oder Revolutionsgarden und die Basij wurden mit der Gründung der Islamischen Republik ins Leben gerufen. Die Pasdaran umfassen ungefähr 150.000 Männer, ca. ein Drittel des regulären Militärs des Iran, zu dem sie seit ihrer Gründung ein gespanntes Verhältnis haben. Der Oberbefehlshaber der Garden untersteht dem Geistigen Oberhaupt, während die Basij eine paramilitärische Einheit sind, die den Revolutionsgarden unterstehen. Die staatlichen Ausgaben für das Militär im Iran betrugen 2009 allerdings nur knapp 3% des BIP – das ist weniger als ein Fünftel des Anteils vor der Revolution (Nasr 2009, S. 9).

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Diese Dynamik stellt nur eine von vielen Bruchlinien dar, die die revolutionäre Bewegung zu spalten drohte. Die unterschiedlichen Fraktionen und damit verbundene Interessen machten sich auch beim Versuch der Institutionalisierung einer „islamischen Ökonomie“ bemerkbar. 3.3.2 Das ökonomische Programm der Islamischen Republik Im Gegensatz zum Pahlavi-Staat, der in erster Linie auf wirtschaftliche Expansion setzte, basiert das ökonomische Programm der Islamischen Republik auf wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Umverteilung (Saeidi 2004). Ausgaben für Bildung und Gesundheit betragen ca. ein Viertel des gesamten Budgets, und Gewinne aus dem Ölgeschäft werden in Form von Subventionen an die Verbraucher verteilt. Durch die aus den Öleinnahmen finanzierten Subventionen verteilt der Staat jährlich zwischen 11 und 13 Milliarden US-Dollar an die Bevölkerung (Karbassian 2000, S. 629). Entgegen anfänglicher Bemühungen, sich von ausländischer Einflussnahme unabhängig zu machen, stellen Öl- und Gaseinkommen jedoch weiterhin zwischen 70 und 80% des Staatsbudgets und damit auch den Großteil aller Deviseneinnahmen dar. Die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern sind also – vor allem aufgrund des Ölvorkommens – durch ein Netzwerk direkter und indirekter staatlicher Subventionen reguliert. Dies bedeutet auch, dass der Staat von Steuern und damit vom Einfluss der Bevölkerung weitgehend unabhängig ist.6 Obwohl die politische Ökonomie Irans von dem Faktor Öl stark geprägt ist, verhandeln seit der Gründung der Islamischen Republik unterschiedliche politische Fraktionen über eine wirtschaftliche Agenda, die islamische – im Sinn von ethischen – und wirtschaftliche Gesichtspunkte vereinen soll. Kurz nach der Revolution und bevor die religiöse Fraktion in der Regierung triumphieren konnte, gab es zum Beispiel viele linke Bewegungen im Iran, die Visionen wie diese vertraten:

6

Diese Struktur in Staaten mit reichem Ölvorkommen wird als Rentier-Staat oder Rentier-Ökonomie bezeichnet. Vgl. Najmabadi (1987): Depoliticization of a Rentier State: the Case of Pahlavi Iran.

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„An ‚ideal‘ society (where food, clothing, housing, health and education were to be free) was contemplated by the followers of the divine harmony economists; to be established through rejecting consumerism, decentralizing all decisions into Soviettype units, and distributing oil revenues in inverse proportion to the population density in regions.“ (Amuzegar 1993, S. 16/17)

Sie waren durch intellektuelle Wegbereiter der Revolution wie Ali Shariati (gest. 1977) oder Mahmoud Taleqani (gest. 1979) beeinflusst, die den Ansatz ökonomischer Unabhängigkeit vertraten, in der imperialistischem Druck nur widerstanden werden konnte, indem man sich auf interne Ressourcen verließ. Die Verfassung der Islamischen Republik von 1979 wurde von mehrheitlich in Frankreich ausgebildeten iranischen Anwälten zusammengestellt und ist an die Verfassung der fünften französischen Republik angelehnt. Die darin festgelegten sozioökonomischen Prinzipien der Islamischen Republik orientieren sich an einem Mittelweg zwischen Kapitalismus und Marxismus. So beinhalten sie etwa das Recht auf Privateigentum – allerdings ist es in der Verfassung durch Notwendigkeit und Bescheidenheit, sowie durch soziale Verpflichtungen beschränkt. Amuzegar erklärt die in der iranischen Verfassung festgelegten Prinzipien so: „In the Islamic culture, private enterprises based on private ownership cannot engage in a free-wheeling, caveat emptor, type of operation. Private business activity has to be healthy, humane, self-sacrificing, and in conformity with the Islamic criterion of social justice. In a word, it has to be responsible.“ (Amuzegar 1993, S. 20)

Artikel 3 der Konstitution verspricht unter anderem eine universelle Versicherung für die gesamte Bevölkerung sowie Autarkie in Bereichen industrieller, landwirtschaftlicher und militärischer Wissenschaft und Technologie. Dieser Artikel enthält auch das Bekenntnis zur Vollbeschäftigung, ein Verbot von Monopolen und das Recht für jeden Iraner, seine eigene Arbeit zu wählen, sowie die finanzielle Garantie dafür, eine Familie gründen zu können. Er hält außerdem fest, dass die Regierung selber als Arbeitgeber nicht dominant werden darf. Einige Klauseln der Konstitution stehen mit ihrem populistischen und egalitären Anstrich in starkem Kontrast zu konservativen Konzepten des Islam, die Eigentum und freies Unternehmertum eher fördern. Darin zeigt

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sich sowohl der Einfluss linksgerichteter Politik als auch, dass der konservative Klerus es nicht wagte, das politische Umfeld, das Khomeini mit seiner eigenen populistischen Haltung erschaffen hatte, herauszufordern. Einige Fraktionen7 befürworteten die Verstaatlichung aller Ressourcen, staatliche Kontrolle und maximale ökonomische Selbstversorgung. Andere, wirtschaftlich eher konservative Gruppierungen setzten sich für Privateigentum, freie Unternehmen, weniger staatlichen Eingriff und starke internationale Beziehungen ein. Die dritte Gruppe wird oft als pragmatistisch bezeichnet, weil sich darin viele Interventionisten der frühen revolutionären Phase befinden. Ursprünglich hatten sie eine militante islamistische Position vertreten, aber „having risen to positions of power and responsibility, and witnessed the deteriorating state of the economy over time, this faction has […] become a reluctant convert to the value of an eclectic path between the other two tendencies.“ (Ebd., S. 31)

Alle diese Gruppen bezeichnen sich und ihre Ansichten jedoch bis heute als islamisch und ziehen Prinzipien der islamischen Rechtsprechung für die Belegung ihrer Argumente, Ziele und Vorgehensweisen – auch im wirtschaftlichen Bereich – heran. Je nachdem ob ein bestimmtes Thema für sie von besonderer Bedeutung ist, formen sie Allianzen oder gehen unterschiedliche Wege. Die Stellungen, die sie beziehen, sind daher nicht konsistent und ausschließlich. In einer post-revolutionären Gesellschaft, in der sich Ideen neu formulieren und Positionen neu erkämpft werden müssen, ist dies nicht ungewöhnlich. Ideologische Differenzen in der Politik sind jedoch auch stark durch Unterschiede zwischen ökonomischen Klassen begründet. Die Fraktion der Konservativen beispielsweise hat traditionell starke Verbindungen zum Bazar, zu Grundbesitzern und der urbanen Bourgeoisie (darunter fallen auch rechte und militante islamische Vereinigungen wie die Hojatieh, die Verbindungen zu wohlhabenden Schichten der iranischen Gesellschaft pfle-

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Die vier Hauptgruppen innerhalb der politischen Landschaft Irans werden meistens als „Hardliner“, „Radikale“, „Gemäßigte“ und „Pragmatisten“ bezeichnet. Iranische Politiker verwenden allerdings diese, in Europa gängigen Terminologien nicht, um ihre ideologischen oder politischen Positionen zu beschreiben. Für eine bessere Übersichtlichkeit behalte ich diese Begriffe hier jedoch bei.

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gen). Pragmatisten und Gemäßigte stehen den Wohlhabenden ebenfalls nahe, sie werden aber eher als die Verwalter von Reichtümern bezeichnet. Khomeinis Rolle in dieser heterogenen Dynamik war dabei vorrangig, das religiöse Grundgerüst der Revolution aufrecht zu erhalten. Um die unterschiedlichen Fraktionen vor einer Zersplitterung zu bewahren, gab er oft in verschiedene Richtungen nach. In verschiedenen Konfliktsituationen hat er diejenigen Gruppen unterstützt, die gerade in der Defensive waren, um die Balance aufrecht zu erhalten und eine Fraktion davon abzuhalten, die Revolution aufs Spiel zu setzen. Kurze Zeit nach ihrer Gründung genoss die provisorische Regierung der Islamischen Republik sogar die aktive Kooperation des Westens, die Vereinigten Staaten mit eingeschlossen (Ansari 2000, S. 35). Sowohl WestEuropa als auch die USA waren offensichtlich daran interessiert, die alten Beziehungen mit dem Iran wieder aufzunehmen. Sie demonstrierten, dass sie die Islamische Revolution akzeptierten und dass sie keine Absichten hegten, dem Pahlavi-Regime – weder zu Hause noch im Exil – wieder an die Macht zu verhelfen. Viele Diplomaten und Analysten waren überzeugt, dass die Menschen, wenn die Islamische Regierung scheitert, der marxistischen Minderheit folgen würden. Unter den Linken waren die Tudeh-Partei, die Mojahedin und die Fedai’yan die wichtigsten Gruppen im Iran, die auf einen solchen Moment warteten. Tatsächlich war die Wirtschaftslage, der sich die neuen Herrscher gegenüber sahen, verheerend. Die massive Kapitalflucht infolge der Revolution führte beinahe zu einem Zusammenbruch des Bank- und Finanzwesens. Die bereits angeschlagene iranische Wirtschaft sah sich außerdem mit der drohenden Einfrierung im Ausland positionierter iranischer Guthaben, wirtschaftlichen Sanktionen, Einbrüchen in der Produktion, fast zwei Millionen afghanischen Flüchtlingen und einem drastischen Rückgang der Öleinkünfte konfrontiert. Die Inflation betrug 30%, es gab zwei bis drei Millionen Arbeitslose und im Westen zweifelte man an der Kompetenz der Kleriker, trotz der kollabierenden Ökonomie ihre spirituelle Autorität und damit ihre Basis aufrecht erhalten zu können. Ökonomische Unzufriedenheit – so wurde erwartet – würde Armee und nicht-klerikale Revolutionäre vereinen, und ziviler Widerstand würde sich bemerkbar machen. Aber nach einer zweijährigen Periode, die durch Machtkämpfe der verschiedenen Fraktionen geprägt war, begann 1980 der Krieg mit dem Irak (Erster Golfkrieg: 1980-1988).

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Der Krieg sorgte für wirtschaftliche Isolation des Iran und brachte eine Tendenz zur Selbstversorgung mit sich, was die Lösung vieler Konflikte in der politischen Struktur verhinderte. Der Golfkrieg veränderte längerfristig jedoch auch die Wahrnehmung der politischen Autoritäten durch die Bevölkerung. Denn dass Khomeini im Jahr 1988 letztlich die UN-Resolution für einen Waffenstillstand mit dem Irak akzeptierte, war für viele ein Beweis der Fehlbarkeit des Imam, der seit Beginn des Krieges die Kampfrhetorik angeheizt hatte. Darüber hinaus leitete der Krieg laut Ansari (2000) die Transformation der iranischen Bevölkerung von „Subjekten“ hin zu „Bürgern“ ein: Die vielen, die für ihr Land gekämpft hatten, erwarteten vom Staat nun Entschädigungen und traten der Regierung mit ihren Forderungen als Bürger entgegen. Obwohl für die Veteranen und Familien der „Märtyrer“ verschiedene Institutionen eingerichtet wurden, hinterließ der Krieg eine völlig zerrüttete Wirtschaft und erlaubte der Gesellschaft keine Entmilitarisierung. Die Armee der Basij, die Khomeini als Freiwillige zusätzlich zum Heer für Kriegszwecke ins Leben gerufen hatte, blieb „mobilisiert“ aus dem einfachen Grund, dass es für sie keine Arbeitsplätze gab. Die Basij absorbierten eine große Anzahl der jungen Männer, deren Zahl durch das Bevölkerungswachstum stark angewachsen war. Sie entwickelten sich dadurch zu einer unüberschaubaren paramilitärischen Miliz und sind ein exemplarisches Beispiel dafür, dass der postrevolutionäre Staat niemals ein wirkliches Gewaltmonopol hatte. Was schließlich auch psychologisch vom Krieg übrig blieb, war das Gefühl, einen Eindringling besiegt zu haben, der von der größten Weltmacht unterstützt worden war.8 Als Ali Akbar Hashemi Rafsanjani 1989 zum Präsidenten gewählt wurde, begründete er die Hegemonie einer Handelsbourgeoisie, die als Kompensation für das Fehlen charismatischer Autorität nach Khomeinis Tod im selben Jahr dienen sollte. Er entwickelte eine politische Struktur, die auf der Handelsmacht des Bazars basierte – eine Allianz mit traditionellen

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Der Irak hatte im Vorfeld und während des Krieges erhebliche diplomatische, militärische und wirtschaftliche Unterstützung von westlichen Ländern bekommen, darunter vor allem aus Frankreich und den USA. Stockholm International Peace Research Institute: www.sipri.org/databases/armstransfers/armstransfers_ holding_page (Aufruf 9.3.2011).

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Händlern, die durch eine große Bürokratie administriert wurde und der er selbst vorstand. Schon zuvor hatte die traditionelle Bourgeoisie versucht, ihre alte Position zurückzugewinnen, die sie durch den Schah und seine Reformen bedroht gesehen hatte. Khomeinei mochte Privateigentum und die Rechte des Bazars befürwortet haben, doch erst mit seinem Tod und dem Wegfall jeglicher Beschränkungen für die Akkumulation von Kapital konnten diese Veränderungen ohne Einmischungen des Staates vollzogen werden. Vor diesem Hintergrund enstanden halbstaatliche Organisationen wie die religiösen Stiftungen (siehe nächsten Abschnitt), durch die der Bazar und die politische Elite Zugang zu Ressourcen des Landes gewannen, die ihnen unter Khomeini verwehrt gewesen waren, denn Khomeini war mit seinem puritanischen Populismus ein offener Gegner der Profitgier und privaten Bereicherung gewesen. Die Kommerzialisierung, die die Gesellschaft in den 1990er Jahren erfasste, setzte alle anderen Tendenzen in einer pluralistischen Gesellschaft außer Kraft: „The accumulation of capital driven by the merchants has indeed become the dominant motif of Iranian society […]. Certainly there exists a curious interdependence between patrimonial insecurity and mercantile capitalism. The traditional networks of patrimonialism and the absence of a rational/legal framework allow the informality of mercantile capitalism to flourish without fear of accountability.“ (Ansari 2000, S. 55)

Die politische Struktur Irans nach Khomeini wurde von einer Handelsbourgeoisie geprägt, in der alle Macht von einem Führer ausging. Rafsanjani, der Alleinherrscher, benötigte die Unterstützung der Handelsbourgeoisie, und diese brauchte seine politische Protektion, um sich ungestört entfalten zu können. Er präsentierte sich als umgänglich und locker, und seine politische Philosophie beruhte auf bürokratischem Zentralismus. Rafsanjani sah politische Repression mit wirtschaftlicher Entwicklung unvereinbar, doch sein politischer Wille geriet vor allem auch gegenüber seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen ins Hintertreffen. Während seiner ersten Amtsperiode (1989-1994) führte er die Liberalisierung des Handels ein und ersetzte linksgerichtete Parlamentarier durch eine Gruppe rechts-konservativer, wirtschaftlich liberaler Politiker, um seine Reformen voran zu treiben. Für

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viele war diese Strategie eine Wiederkehr der Pahlavi-Monarchie, nur diesmal mit einer durchgängig einheimischen Bourgeoisie. Da der Bazar den Wahlkampf des rechten Flügels in den Wahlen von 1992 großenteils finanziert hatte, verlangte diese Gruppe nun mehr „Freiheiten“, mit anderen Worten, mehr Kontrolle über den Markt. Rafsanjani hatte außerdem Schwierigkeiten, der Entwicklung von monopolistischen Tendenzen einen Riegel vorzuschieben, weil er selbst ein Teil davon war – was alle wussten. Die Einkommensunterschiede in der Bevölkerung vergrößerten sich, und Korruption wurde immer offensichtlicher. Materielle Gier und eine dogmatische und autoritäre Interpretation des Islam waren die Pfeiler, die diese Struktur aufrecht erhielten. Die Freiheiten, die die Rafsanjani-Regierung Exporttreibenden außerhalb des Ölsektors gewährte, führten zwar zu einem Anstieg des Handels mit dem Ausland; diese Strukturen, von der Regulation des Staates befreit, wurden jedoch hauptsächlich dazu benutzt, Luxusgüter statt Kapital und Investment-Güter zu importieren. Die Bemühungen der Regierung für die stark benötigten Kredite und Technologien aus dem Ausland wurden schließlich auch durch Irans militärische Aufrüstung und die ausländische Presse zerstört:

 „Accusing Iran of the supply of arms and funds to Islamic militants in Lebanon, Sudan, Algeria, Egypt and elsewhere, a US-Arab campaign was launched to isolate and contain it. The US Congress passed a bill in October 1992 banning exports of advanced weapons and technology to Iran, and urging other industrialized countries to follow suit. Faced with the rather bleak prospect of obtaining needed foreign exchange, renewed inflationary pressures and opposition, Rafsanjanis reform program has reached more instability.“ (Amuzegar 1993, S. 336)

Dem auf Rafsanjani folgenden Präsidenten Seyed Mohammad Khatami (1997-2005) wurde oft nachgesagt, dass er sich gegen das konservative Establishment nicht behaupten konnte. Die Reformer, denen er angehörte, hatten allerdings eine schwache Wirtschaft „geerbt“: Der Ölpreis war niedrig, und die Konservativen bekleideten viele Schlüsselpositionen und wollten die Reformer schwächen. Khatamis Sieg stellte einen Bruch mit der Islamischen Revolution dar, weil vielen bis dahin unterdrückten Stimmen der iranischen Gesellschaft nun die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu äußern.

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Dennoch wünschten sich die meisten Wähler der Reformisten eine Reform des bestehenden Systems, innerhalb dessen sie die autoritäre Tendenz ablehnten, aber nicht seine vollständige Abschaffung. In den Augen der meisten Reformer war die Revolution eine legitime Entwicklung gewesen, die aufgrund des Kriegs mit dem Irak die Möglichkeit verpasst hatte, die Teilnahme des Volkes zu institutionalisieren. Da die bourgeoise Republik unter Rafsanjani viele der Werte, die zu Beginn der Islamischen Republik vor allem durch Ayatollah Khomeini verkörpert waren, diskreditiert hatte, sollte die Islamische Republik nun demokratisiert werden, vor allem durch Veränderungen in politischen und sozialen Einstellungen der Bevölkerung. Die Reformen hatten daher eine Verkleinerung des Staatsapparates und eine verstärkte Anwendung des geltenden Rechts auf alle Staatsbürger zum Ziel; auch die Zivilgesellschaft und die Majlis (Parlament) sollten gestärkt werden. Auf kultureller Ebene strebten die Reformer eine Neudefinition und Wiederbelebung des Islam an, um den sozialen und kulturellen Zusammenhalt zu gewährleisten und eine Basis für ein Wertesystem in Anlehnung an einen religiösen Nationalismus herzustellen. Ein industrieller Kapitalismus wurde dabei unter der Bedingung sozialer Gerechtigkeit propagiert und von der Überzeugung geleitet, dass wirtschaftlicher und politischer Pluralismus sich gegenseitig bedingen. Während Khatamis Regierungszeit gab es – mit Unterstützung durch das geistige Oberhaupt Ali Khamenei – verschiedene Versuche von Seiten der Konservativen, ihre Macht wiederherzustellen. Dazu gehörte die Inhaftierung politischer Gegner, die Einschränkung der Pressefreiheit, gewalttätige Übergriffe von radikalen Gruppen vor allem vor den Wahlen und schließlich auch das Verbot vieler Kandidaten durch den Wächterrat. Die Wiederwahl Khatamis im Jahr 2000 stellte für das konservative Lager einen großen Rückschlag dar und bedrohte seine Machtposition, weil eine Konsolidierung der Reformen bevorstand. Die Konservativen realisierten, dass sie ihre Kräfte konzentrieren mussten, um im Angesicht interner – und seit 2001 auch externer – Gefahren zu überleben. In ihrem Weltbild sollte eine liberale Wirtschaftspolitik ohne politische Veränderungen, das heißt unter Beibehaltung einer autoritären Politik, herbeigeführt werden.

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Die Öffnung der iranischen Wirtschaft während der Regierungszeit Khatamis ging jedoch – auch wenn es Oligarchen9 wie Rafsanjani stärken mochte – mit einer Festigung sozialer Institutionen und der Zivilgesellschaft einher. Die Infrastruktur blühte auf, europäische ebenso wie koreanische Handelsgüter kamen auf den Markt und füllten das Stadtbild Teherans mit Werbung. In dieser Situation schien in den Augen des konservativen Establishments Mahmoud Ahmadinejad10 der richtige Mann zu sein, um die große Gruppe der Mittellosen, die unzufrieden darüber waren, dass von den Reformen nichts bei ihnen angekommen war, zu mobilisieren. Ahmadinejads Beliebtheit beim traditionellen Kleinbürgertum und der armen Bevölkerung, vor allem auf dem Land, beruht vor allem auf seiner populistischen Einstellung zu sozialer Gerechtigkeit. Diese Schichten gaben ihm ihre Stimme aufgrund der Versprechungen, gegen Korruption anzukämpfen und für eine direkte Verteilung der Öleinkommen zu sorgen. Ahmadinejad stammt aus einer einfachen Familie aus dem Südosten Irans und verkörpert das Anti-Elitäre. Die Machtelite blickt aufgrund seiner Herkunft auf ihn herab und der Klerus hat sich wegen seiner messianischen Reden und Einmischung in religiöse Themen von ihm distanziert. Vali Nasr (2009) beschreibt ihn als einen Politiker, der sich wenig darum kümmert, was Eliten und Experten von ihm denken, denn er weiß, dass die breite

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„Oligarchen“ sind Wirtschaftsmagnaten, die durch ihren Reichtum über ein Land oder eine Institution weitgehende Macht ausüben und dabei vor allem an Eigennutz interessiert ist. Abrahamian (2008) bezeichnet den Iran in diesem Sinn weniger als Autokratie, sondern als eine religiöse Oligarchie: www.iranbulletin.org/book review/Abrahamian book review.htm (Aufruf 23.3. 2012). Siehe auch den folgenden Abschnitt zu den religiösen Stiftungen.

10 Mahmoud Ahmadinejad gehörte bereits unter dem Schah der konservativreligiösen Opposition an. Nach Ende des Iran-Irak Krieges 1989 wurde er Gouverneur in zwei Städten der Provinz West-Aserbaidschan. Seine darauffolgende Gouverneurschaft in Ardabil wurde 1997 durch die Wahl Mohammad Khatamis zum Präsidenten Irans beendet, woraufhin sich Ahmadinejad der Lehrtätigkeit an der Universität für Industrie und Technik in Teheran zuwandte. 2003 wurde er zum Bürgermeister von Teheran gewählt; 2005 entschied er den Präsidentschaftswahlkampf nach einer Stichwahl für sich. Seine Wiederwahl 2009 ist international umstritten und löste in Teilen Irans heftige Proteste aus.

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Masse der Bevölkerung seinen umgänglichen und volkstümlichen Stil schätzt. Die Wahl-Stimme für Ahmadinejad war auch eine Stimme gegen die Liberalisierungspolitik im Stil Rafsanjanis und damit ein Widerstand gegen die unmäßige Bereicherung elitärer Gruppen. Die Liberalisierung, die seit Ende der 1980er Jahre von vielen Unternehmern im privaten Sektor vorangetrieben wurde, hat viele kleine Firmen gefährdet. Sie suchten nun verstärkt Schutz vor der Wettbewerbssituation, da ihre Unternehmensstruktur auf Subventionen des Staates und seiner Preiskontrolle ausgerichtet war. Vor allem das Kleinbürgertum und die Arbeiterschicht fordern bis heute von der Islamischen Republik ihre revolutionären Versprechen ein, nämlich jedem Bürger zu ermöglichen, kleine Unternehmen zu gründen und diese sodann vor der Konkurrenz der großen inländischen und ausländischen Kapitalisten zu schützen (Behdad u. Nomani 2002, S. 684f). Obwohl sich Ahmadinejad mit dieser Politik gegen die ökonomische Liberalisierungspolitik des rivalisierenden Lagers mit Rafsanjani an der Spitze positioniert hat, wird unter seiner derzeitigen Regierung eine Politik der Bereicherung von Eliten fortgesetzt, die sich hinter einem populistischen Diskurs für die Armen und Entrechteten verbirgt. Die religiösen Stiftungen sind ein wichtiges Instrument in dieser ungleichen Verteilungspolitik; gleichzeitig stellen sie die Macht des Staates jedoch auch vor Herausforderungen. 3.3.3 Die religiösen Stiftungen Reza Schah Pahlavi hatte im Zuge seines Modernisierungsprogramms die traditionsreichen karitativen islamischen Stiftungen aufgelöst und in die „Pahlavi Foundation“ verwandelt. Vor der Revolution war sie die größte Stiftung Irans und erhielt ihre meisten finanziellen Ressourcen vom Staat. Sie investierte in Unternehmen, war die Hauptquelle für Löhne und Pensionen der politischen Elite und finanzierte die Ausbildung von Studenten im Ausland sowie verschiedene Programme für Jugendliche, Gesundheit und Alphabetisierung (Rakel 2009, S. 114).

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Nach der Revolution wurden die gesamte Pahlavi-Stiftung, sowie die größten privaten Industrien verstaatlicht.11 Aus diesen Geldern wurden neue Stiftungen geschaffen, die den sozial Bedürftigen und Kriegsveteranen zugute kommen und bei der Institutionalisierung der revolutionären Ideologien mitwirken sollten, da das neue Regime dem bürokratischen Apparat des vorangegangenen Regimes nicht vertrauen konnte. Diese Stiftungen trugen zu der Erhöhung der sozialen Mobilität der Unterschichten und revolutionären Gruppen bei, wodurch die revolutionäre Ideologie auf die gesamte Gesellschaft ausgebreitet wurde: Sie halfen Personen aus niedrigen sozialen Schichten in neue wirtschaftliche, soziale und berufliche Postitionen und erschufen dadurch eine neue kulturelle Elite. Darüber hinaus begründeten sie eine Bandbreite kultureller Aktivitäten, die von Schulen, Universitäten und Forschungszentren, bis hin zur Veröffentlichung von Büchern, zur Filmproduktion, Organisation von Kunstfestivals und der Eröffnung ideologisch eingefärbter Museen reicht. Mittlerweile haben die Stiftungen sich allerdings auch zu wirtschaftlichen Konglomeraten entwickelt, die insbesondere auf die Akkumulation von Kapital ausgerichtet und sich von dem traditionellen islamischen System gemeinnütziger Stiftungsgelder (Awqaf)12 stark unterscheiden. Ihre Investitionen und Ersparnisse sind steuerfrei, was die religiöse Hierarchie von der staatlichen Finanzkontrolle unabhängig macht. Die Stiftungen sind teilweise mit Ministerien vereint oder arbeiten als unabhängige Regierungsstellen. Viele sind mit einer Moschee, wie z.B. der Imam Reza-Moschee in Mashad, verbunden oder fungieren als Dachorganisationen wie die Stiftung der Unterdrückten und Kriegsveteranen (Bonyad-e Mostazafan va Janba-

11 Zwei Tage nach der Verstaatlichung der größten Firmen des Landes versuchte Ayatollah Khomeini die Händler des Bazars davon zu überzeugen, dass privates Eigentum sicher sei. Er wies darauf hin, dass die islamische Ökonomie – im Gegensatz zum kommunistischen Staat – nicht darauf abziele, die Privatwirtschaft auszulöschen (Saeidi 2004, S. 484). 12 Diese populären Stiftungen wurden von religiösen Gelehrten und lokalen religiösen Führern geleitet, die unabhängig vom Staat agierten und keinen Bezug zur Politik hatten. Die karitative Institution der Awqaf spielte in islamischen Gesellschaft seit Jahrhunderten allerdings eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Wirtschaft und der Akkumulation von Grundbesitz, da sie als ein Mechanismus für steuerfreie Anlagen und Investitionen diente (Saeidi 2004, S. 483).

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zan), oder die Stiftung der Märtyrer (Bonyad-e Shahid), die große finanzielle Unternehmen im privaten als auch im öffentlichen Sektor führen (Nasr u. Gheissari 2005, S. 180). Ali Saeidi beschreibt den Ursprung des ambivalenten Verhältnisses zwischen den Stiftungen und dem iranischen Staat so: „The establishment of the Islamic Republic led to the integration of religion and state with the ulama as the sole rulers and arbiters of the political order, including the enforcement of the Islamic penal code. Nevertheless, the new government did not integrate some of the other important religious injunctions, such as collecting the alms-tax and administration of awqaf, and let the religious institutions responsible for these nancial practices function separately from the state organizations.“ (Saeidi 2004, S. 484)

Ende der 1980er Jahre, nach dem Tod Khomeinis, konnten sich die Stiftungen mit dem Staat bezüglich wirtschaftlicher Reformen nicht mehr einigen. Sie nahmen weder an den Anpassungsprogrammen teil, die dem Iran vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank verschrieben worden waren, noch an dem Stabilitätsprogramm, das von der iranischen Regierung 1992 aufgrund des Scheiterns der vorherigen Agenda eingeführt wurde. Während der vierten Legislaturperiode des iranischen Parlaments (19921996) aktivierten sie ihre Vertreter in der Politik und leiteten den Wechsel zu einer wirtschaftlichen Struktur ein, in der die Privatisierung von staatlichen Unternehmen vom Privatsektor auf halbstaatliche Organisationen überging. Infolge des 1992 gefassten Beschlusses der Regierung, die Zinsen auf Kredite, die die Stiftungen von iranischen Banken geliehen hatten, zu erhöhen, setzten die Stiftungsvorstände abermals erfolgreich politischen Druck ein, um Förderungen und Kredite aus dem staatlichen Budget zu erhalten. 1994 etablierte die Stiftung der Märtyrer die Shahid Investment Company, um die Ersparnisse von Überlebenden und Familien von Gefallenen des Iran-Irak-Krieges in verschiedene Bereiche zu investieren. Dieses Unternehmen erweiterte seine wirtschaftlichen Aktivitäten in den folgenden Jahren auf fünfzig Firmen „with several branches in Asian and Western countries. Nevertheless, according to an open letter by the shareholders published in Iranian newspapers, they never disclosed their accounts even to their shareholders.“ (Saeidi 2004, S. 488)

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Die Stiftung der Unterdrückten und Kriegsveteranen (Bonyad-e Mostazafan va Janbazan), die aus der Pahlavi-Stiftung hervorgegangen ist, ist nach der nationalen Ölgesellschaft das zweitgrößte Unternehmen des Landes. Zu ihrem Besitz zählen private Banken, Versicherungsfirmen, die Schwerindustrie, die Schifffahrt, die nationale Fluggesellschaft, die Autoherstellung und alle verschuldeten Firmen und Organisationen. Sie exportiert anti-alkoholisches Bier, besitzt einen Disneyland-ähnlichen Themenpark außerhalb Teherans und ist dominant im einheimischen Getränkemarkt (Maloney 2000, S. 155f). Die Geschäfte dieser Stiftung mit westlichen Ländern beschäftigen sich mit dem Handel mit Rohöl mit Großbritannien, sie importiert japanische Autos und besitzt deutsche Holding-Firmen. Einflussreiche Stiftungen wie diese haben darüber hinaus enge Verbindungen zu den Revolutionsgarden. Mit ihnen gibt es Kooperationen in der Waffenbeschaffung und –produktion. Die Garden verfügen über Geheimdienste und die paramilitärischen Kräfte der Basij, sie besitzen Piers am Persischen Golf, ihnen untersteht die Polizei, das nationale Radio und Fernsehen, die Ministerien der Verteidigung und des Geheimdienstes, und sie sind für die persönliche Sicherheit der klerikalen Führung verantwortlich. Ehemalige Mitglieder der Garden machen ein Drittel der Mitglieder des konservativen Parlaments aus und die Spannweite ihres Einflusses in politischen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Belangen ist so groß, dass „it is fair to speculate as to whether the clerical leadership is not fast becoming a captive of its Praetorian Guard.“ (Maloney 2000, S. 181) Die halbstaatliche oder informelle Wirtschaft, wie sie von den religiösen Stiftungen ausgeübt wird, basiert auf dem Import verschiedener Konsum- und Industriegüter und ist daher auch eine wichtige Einkommensquelle für die Herrschenden und Oligarchen. Sie wurde durch das wirtschaftliche Embargo, das über den Iran verhängt wurde, in eine Geldquelle für jene verwandelt, die dieses eigentlich treffen sollte, indem der Einfluss der herrschenden Kreise sich dadurch auf die gesamte Wirtschaft – sowohl auf die offiziell erfasste, als auch auf die Schattenwirtschaft – ausdehnte. Einige der größten Oligarchen sind einflussreiche Kleriker wie Hashemi Rafsanjani und Ayatollah Abbas Vaez-Tabasi, der Vorstand der Stiftung des Imam Reza-Schreins in Mashad und Mitglied des Expertenrates ist. Diese Elite besitzt große Unternehmen in der Ölindustrie, in der Telekommunikationsbranche, in Finanzdienstleistungen, Tourismus, Außenhandel und Einzelhandel und arbeitet sowohl eng mit den Stiftungen als auch mit

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multinationalen Unternehmen zusammen. Europäische, russische und ostasiatische Firmen sind ihre Geschäftspartner, zum Beispiel Royal Dutch Shell, BP, Total und Statoil im Bereich der Ölindustrie, Turkcell, Alcatel, Siemens und Nokia in der Telekommunikation, HSBC, Standard Chartered Bank und Deutsche Bank im Bankwesen, Peugeot und Daewoo Motors in der Autoindustrie und Mitsubishi, LG Electronics und Samsung im Bereich der elektronischen Konsumgüter. Ihre Partnerschaften mit der iranischen Regierung schaffen enge Verbindungen zwischen nationalen und ausländischen Geschäftsinteressen und stärken die Verbindungen führender Politiker zum Handel. Während die fehlende Transparenz der iranischen Wirtschaft von der internationalen Gemeinschaft vor allem auf die islamische Ideologie der Regierung zurückgeführt wird, bleiben die von globalen Wirtschaftsorganisationen angeregten Strategien im Dunkeln, die die Politik zum Erfüllungsgehilfen der Märkte degradieren und soziale Probleme damit verschärfen. Private Firmen, die über die Stiftungen an staatliche Ministerien angeschlossen sind, nutzen die Ressourcen des Staates, durch die sich aber ausschließlich privaten Gruppen oder Einzelpersonen bereichern. Von den Privatisierungen profitieren also vor allem die derzeitigen Eliten der iranischen Gesellschaft (Maloney 2000, S. 165). Dies bedeutet aber auch, dass der vor allem aus Eigeninteresse betriebene Druck auf die Regierung deren staatliche Autorität begrenzt: Die Islamische Republik verfügt bei weitem nicht über das totalitäre Machtmonopol, das ihr von außen oft zugeschrieben wird. Verschiedene MetaRegierungen tragen dazu bei, die Islamische Republik zu erhalten und zu legitimieren. Die Kluft zwischen staatlichen und informellen oder halbstaatlichen Wirtschaftsräumen ist dabei nicht unüberwindbar: Viele Bürger sind innerhalb beider Wirtschaftssysteme aktiv und wechseln zwischen diesen hin und her. Beide Welten sind damit eng miteinander verbunden und voneinander abhängig.

3.4 I RANISCHE W IRTSCHAFT UND P OLITIK TRANSNATIONALEN K ONTEXT

IM

Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Dynamik enthüllt pragmatische, interessenbasierte Allianzen zwischen staatlichen und nicht-

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staatlichen Strukturen. Diese Konstellation wird von den Anforderungen der Weltwirtschaft beeinflusst, die vom iranischen Staat im Austausch für Kredite13 eine Zunahme der Produktivität fordert, das heißt, den Forderungen aus der Bevölkerung (nach Gesundheitsversorgung, Bildung und Umverteilung jeglicher Art) nicht nachzugeben und stattdessen die Kräfte des Marktes frei walten zu lassen. Interventionen durch die Kreditgeber, wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfond werden dabei als ein „Vertrag“ beschrieben, der mit Zustimmung der abhängigen Staaten zustande kam. Ugo Mattei (2003) nennt diese Vorgehensweise „construct of presumed consent“: Die Abgabe der Verantwortung für Politiken internationaler Institutionen an untergeordnete Staaten ist dabei Teil einer Rhetorik von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die eine höchst asymmetrische Struktur globalen Regierens legitimiert und führt dazu, dass eine Form dezentralisierten Rechts – mehr oder weniger konfliktfrei – neben dem jeweiligen Staatsrecht existiert (Randeria 2007, S. 5). Der Transfer öffentlichen Besitzes in private Hände und der Abbau von Sozialleistungen, die im Iran im Gegenzug für Kredite stattfindet, hat zudem zu einer Privatisierung staatlicher Souveränität geführt. Mbembe zeigt den direkten Zusammenhang zwischen der Deregulierung und dem Vorrang des Marktes auf der einen Seite und dem Anstieg von Gewalt, der Schaffung privater Milizen oder paramilitärischer Einheiten auf der anderen Seite auf (Mbembe 2001, S. 79). Ähnlich wie in vielen Ländern des globalen Südens besteht auch im Iran eine enge Verbindung zwischen Handel und dem

13 Vor 1979 war der Iran ein aktiver Kreditnehmer der Weltbank. Nach der Revolution gab es bis 1991 keine Kredite mehr. Zwischen 1991 und 1993 wurden sieben Projekte der Weltbank genehmigt, obwohl die Vereinigten Staaten dagegen gestimmt hatten. Von 1993 bis 2000 konnten die USA eine Koalition von G7 Ländern aufrecht erhalten, die gegen Kredite an den Iran stimmte. 2007 wurden knapp 200 Millionen Dollar an den Iran ausbezahlt, die größte Summe seit zehn Jahren. Das Anfang 2008 genehmigte Portfolio mit 847,4 Millionen Dollar beinhaltet dem amerikanischen Kongress zufolge Projekte für Gesundheit, Wiederaufbau nach Erdbeben, Be- und Entwässerung, sowie Verbesserungen des Stromnetzes. Seit 2008 wurden trotz gestellter Ersuchen keine neuen Kredite mehr an den Iran vergeben. Siehe Weiss und Sanford, Foreign Affairs, Defence, and Trade Division: CRS Report for Congress: The World Bank and Iran, 28.1.2008, www.fas.org (Aufruf 9.1.2011).

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Staatsapparat, während Stellen, die für die Administration staatlicher Gewalt zuständig sind, zunehmend an Autonomie gewinnen. Steuerfreiheit und rechtliche Immunität werden jenen gewährt, die als langjährige Mitglieder des Staates dessen Mechanismen in Quellen des Reichtums für die nationalen, regionalen und internationalen Kanäle der Schattenwirtschaft verwandeln. Dieselben Privilegien erhalten ausländische Mittelsmänner, religiöse und geheime Lobbies sowie Wohltätigkeitsorganisationen wie die religiösen Stiftungen. Dieser Prozess genießt internationale Unterstützung, denn in privaten Netzwerken und Lobbies werden nicht nur einheimische Machthaber bezahlt, sondern auch ausländische Handelstreibende mit Verbindungen zu Geheimdiensten oder Armeen. In einem Klima von Privatisierungen und struktureller Anpassung wächst daher eine Wirtschaft, die auf lukrativen Monopolen, geheimen Verträgen und Privilegien basiert. Die Vielfalt sich überschneidender Autoritätsbereiche und die daraus folgende Fragmentierung staatlicher Handlungen ist dabei weder iran-spezifisch, noch auf Staaten beschränkt, die Kreditnehmer transnationaler Körperschaften wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sind.14 Die uneindeutigen Konsequenzen und Widersprüchlichkeiten dieser Entwicklungen sind in den sogenannten Entwicklungsländern wie dem Iran allerdings am stärksten spürbar. Entgegen der Annahme, dass die Strukturen des Staates durch diese Prozesse der Transnationalisierung ausgehöhlt werden, vertreten Aihwa Ong (1999) und Shalini Randeria (2007) die Ansicht, dass staatliche Strukturen ein unverzichtbares Instrument für diese Art der Interessenspolitik sind. Der iranische Staat befindet sich dadurch in einer Position, für die Randeria den Begriff des „cunning state“ geprägt hat (Randeria 2007, S. 2). Durch den Begriff des „gefinkelten Staates“ überwindet sie die binäre Aufteilung von Staaten in schwache und starke Staaten und versucht stattdessen, die beschränkte Handlungsfähigkeit, die Entscheidungen und die Spielräume von

14 Randeria zufolge haben Konflikte über staatliche Souveränität sowie der Wettstreit verschiedener Autoritäten in der Rechtsprechung in post-kolonialen Gesellschaften eine weitreichende Geschichte. Denn im Gegensatz zu den gesetzten Hierarchien des mittelalterlichen Europa regieren hier keine auf etablierten Hierarchien gewachsenen Souveränitäten, sondern multiple Autoritätsformen.

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Staaten zu beleuchten, die im internationalen System eine untergeordnete Rolle einnehmen: „Whereas weak states lack the capacity to protect the interests of vulnerable citizens, cunning states show strength or weakness depending on the domestic interests at stake. ,Cunning‘ is a weapon of weak states, or, more precisely, of the stronger among subordinate states in the international system. It does not describe a characteristic of state structure or capacities but the changing nature of the relationship of national elites (very often in concert with international institutions) to citizens.“ (Ebd., S. 3)

Der Iran wird von politischen Entscheidungsträgern in den USA und Europa (z.B. Nasr 2009) beispielsweise dafür kritisiert, den iranischen Arbeitern zu viele Rechte zuzugestehen. Die Kritik bezieht sich auf einen in der Verfassung verankerten Arbeitnehmerschutz, aufgrund dessen es schwierig sei, einmal eingestellte Arbeiter wieder zu kündigen. Der Staat beschäftige in seinem aufgeblähten bürokratischen Apparat darüber hinaus viel zu viele Menschen, mit dem Ziel, das Problem der Arbeitslosigkeit zu kaschieren. Die Zahl von Zeitarbeits-Verträgen und die prekären Arbeitsbedingungen, die durch die Interessen (inter-)nationaler Firmen auf der Suche nach billigen Arbeitskräften entstehen, stiegen jedoch bereits während der zweiten Amtsperiode von Präsident Mohammad Khatami.15 Im Juli 2006 wurde zudem jener Teil der iranischen Konstitution neu formuliert, der die Privatisierung von Firmen bisher eingeschränkt hatte. Ausländische Firmen können sich nun leichter in iranische Unternehmen einkaufen16, was beispielsweise beim Zusammenschluss von Renault und Iran Khodro, einem der größten Autohersteller Irans, im selben Jahr eingetreten war. Renault und andere europäische und japanische Autohersteller zielen auf eine Massenproduktion in Ländern wie dem Iran ab, da Arbeitskräfte dort günstiger und die Produktionskosten niedriger sind. Damit sollen für den Absatz dementsprechend billiger Autos „neue Märkte“ geschaffen

15 Der ehemalige Präsident Khatami vertrat die Ansicht, dass für eine Stärkung der Privatwirtschaft auch Transparenz und Rechenschaftspflicht der zugehörigen Strukturen notwendig seien. (Vgl. Keshavarzian 2007) 16 Die Ölindustrie ist von dieser Regelung ausgenommen.

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werden. In den Verhandlungen mit Renault haben sich Vetreter der Regierung Ahmadinejads hervorgetan, indem sie forderten, dass mehr Autoteile als bisher vereinbart im Iran hergestellt werden. Der Iran wollte zudem den Export von Renault in traditionelle Märkte der Region übernehmen. Diese Forderungen wurden von der Regierung Ahmadinejad effektiv im Sinne nationaler Interessen inszeniert, konnten letztlich aber nicht durchgesetzt werden (Mather et al. 2007, S. 13). Dies zeigt, dass trotz der antikapitalistischen und anti-imperialistischen Rhetorik des Regimes die Tendenz, dem Druck internationaler Firmen nachzugeben, überwiegt.

Werbetafel auf einem Boulevard in Nord-Teheran.17

Der iranische Staat beansprucht dabei ganz im Sinne des „gefinkelten Staates“ (Randeria 2007) für sich, sowohl gegenüber internationalen Institutionen, als auch gegenüber der Bevölkerung keine Verantwortung zu tragen. Er vermeidet die Verantwortung für die Festsetzung von Politiken und ihre selektive Anwendung, um seinen Handlungsspielraum ausschöpfen und internationale Abkommen und Bedingungen von Geldgebern im Sinne einer nationalen Elite bestmöglich umsetzen zu können.

17 Die deutsche Getränkefirma Sinalco beschreibt auf ihrer Website den Mittleren Osten als einen ihrer stärksten Märkte: „More products are poised to conquer the Arab markets in 2010 and to reinforce the position of the German brand in this geographic region. The Middle East is a key market for Sinalco International Brands. The beverage manufacturer is systematically expanding its franchising network in 2010 to carry forward the brand’s strong position to other countries in this part of the world.“ http://sinalco.com/web/cms_de/front_content.php? idcat=30&idart=340&lang=2 (Aufruf 9.1.2011)

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Die Rolle des Staates ist in diesem Prozess also unersetzlich: Seine Gesetze und Politiken spielen eine Schlüsselrolle dabei, Zielsetzungen der liberalen Marktwirtschaft auf nationaler und lokaler Ebene umzusetzen. Da die Struktur des Staates mit seinem Rechtssystem und den zugehörigen Praktiken für das Funktionieren internationaler Institutionen entscheidend ist, sind nationale und internationale Strukturen eher als gegenseitig konstitutiv denn als gegensätzlich aufzufassen.18 3.4.1 Die Neureichen der Islamischen Republik Die oben beschriebenen Entwicklungen haben auf individueller Ebene eine neue Subjektivität begründet, die islamische mit kapitalistischen Prinzipien vereint. Träger dieses neuen islamischen Selbst sind in erster Linie Angehörige der gehobenen Mittelschicht, die erst durch die Nachwehen der Revolution zu Geld gekommen sind. Mit Aihwa Ong (1999) lässt sich nachweisen, dass Prinzipien der liberalen Marktwirtschaft in viele nicht-westliche Länder Eingang gefunden und neue, spezifische Formen der Herrschaft hervorgebracht haben. Die gesellschaftliche Struktur des Liberalismus19 und kulturspezifische Kontexte als getrennt voneinander zu betrachten erlaube, so Ong, soziale Ungleichheiten, die der moderne Kapitalismus20 verursacht, auf kulturelle (z.B. islamische) Werte abzuwälzen.

18 Fernandes (2000) und Rajagopal (1998) haben am Beispiel Indiens gezeigt, dass der Markt in der Ära wirtschaftlicher Liberalisierung die pädagogische Funktion übernimmt, aus Subjekten „Bürger“ zu machen: identitätsstiftende nationale Rituale werden zunehmend durch Praktiken des Konsums ersetzt. Diese Veränderung von politischen hin zu kommerziellen Ritualen zeige, dass der Staat durch den Markt als Referenzpunkt für nationale Zugehörigkeit vereinnahmt wird. Vor allem in politisch geschwächten und von starken Umstrukturierungen betroffenen Staaten scheint diese Wirkmacht des Marktes zu einer dominanten Orientierungsform der Gesellschaft zu werden. 19 Ich verwende den Begriff „Liberalismus“ nicht als eine politische Philosophie, sondern in Anlehnung an Ong (1999) als eine Form des Regierens, die vorrangig durch wirtschaftliche Interessen geleitet ist. 20 Castells grenzt den modernen Kapitalismus zu früheren Formen der Weltwirtschaft folgendermaßen ab: „Während der Kapitalismus durch seine unablässige

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Ong beschreibt am Beispiel jener südostasiatischen Staaten, die als aufsteigende Wirtschaftsmächte gelten (im Besonderen Singapur und Malaysia), wie der Staat Einstellungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung prägt, die an den sozialen Wettbewerb in liberalen Ökonomien angepasst sind. Einige dieser Entwicklungen zwischen Staat und Ökonomie lassen sich auch auf den Iran anwenden. Zu Beginn gehe jedoch noch auf den von Ong vollzogenen Vergleich verschiedener Formen liberaler Herrschaft in westlichen und asiatischen Ländern ein. Während in liberalen Demokratien des Westens soziale Regulation eher indirekt ausgeübt wird, also anhand von Strategien, Programmen und Techniken, die ökonomische, familiäre und soziale Strukturen regulieren, sei diese Form sozialer Regulation in Asien Ong zufolge nicht auf eine Bandbreite verschiedener Institutionen verteilt, sondern im Staatsapparat vereint. Die in der neoliberalen Kultur westlicher Staaten etablierten Strategien der Selbst-Regulation, wie privatisiertes Risikomanagement und individuelle Selbstverantwortung, würden sich von jenen in südostasiatischen Staaten dahingehend unterscheiden, dass letztere selbstverantwortliche Subjekte hervorbringen, die jedoch auch von einer staatlich sanktionierten kulturellen Kollektivität abhängig sind. Diese Länder seien daher „fürsorgende Gesellschaften“, denn der Staat kümmert sich nicht nur um das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern auch um ihre kulturellen Traditionen, „thus wedding its goal of attaining economic competitiveness to the political disciplining of the population.“ (Ong 1999, S. 204) Diese Strategie sieht statt politischer Repression zunehmend vor, mit der Mittelklasse über politische und wirtschaftliche Bedingungen zu verhandeln, um eine Vielfalt an Verbindungen mit globalem Kapital herzustellen. Während sich im Westen in Form des Wohlfahrtsstaates eine „bürokra-

Expansion, in der er ständig versucht, die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden, gekennzeichnet ist, erlangte die Weltwirtschaft erst Ende des 20. Jahrhunderts die Fähigkeit, wahrhaft global zu warden.“ (Castells 2004, S. 108) Die Grundlagen für diese Form der Globalisierung waren vor allem die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Nicht alle Prozesse in der Wirtschaft seien jedoch global, sondern ihre Kernkomponenten, die „die institutionelle, organisatorische und technische Fähigkeit besitzen, als Einheit in Echtzeit oder gewählter Zeit auf globaler Ebene zu funktionieren.“ (Ebd., S. 109)

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tische Wohltätigkeit“ etabliert hat, um Klassenkonflikte zu kanalisieren, entwickelt sich in einigen südostasiatischen Staaten ein Bürgertum, das in erster Linie das für das globale Kapital attraktiv ist. In Europa ging die Konfrontation mit sich ausweitenden Marktstrukturen zudem schrittweise vonstatten, während nicht-westliche Länder im Zuge der Globalisierung mit vielen damit einhergehenden Entwicklungen auf einmal konfrontiert sind. Ong führt weiter aus, wie mit den neu entstandenen Verbindungen zwischen dem Staat und dem internationalen Kapital in Südostasien Formen sozialer Regulation an Aufwind gewonnen haben, die in religiöse Begriffe eingebettet sind: Das neue Individuum der asiatischen Mittelklasse ist diszipliniert, leistungsfähig und akkumuliert Reichtum, aber in einer Form, die mit dem Islam kompatibel ist. Malaysische Politiker würden die spirituelle Vereinbarkeit zwischen malaysischem Arbeitseifer und einer islamischen Modernität verkünden, während die neue Mittelklasse in den westlichen Zentren der Wissenschaft und des Kapitals studiert, in islamische Banken investiert und mit ausländischen Firmen Geschäfte macht – alles innerhalb der Prinzipien eines offiziellen Islam. Darüber hinaus bekräftige dieser Diskurs, dass „asiatisch“-kulturellen Werten ein „asiatisches“ Modell des Kapitalismus zugrunde liege (ebd., S. 196). Gleichzeitig bekämpfe die malaysische Regierung unpolitische islamische Gruppen, die der Vermischung von Ritualen und Diskursen eines staatlich sanktionierten Islam mit jenen des Kapitalismus entgegentreten. Im Iran wurde das moderne bürgerliche Subjekt vor allem durch die Bildungsoffensive erzeugt, die kurz nach der Revolution eingeleitet wurde und innerhalb derer eine technische Ausbildung und der Umgang mit modernen technischen Geräten als Sinnbilder des Fortschritts angesehen wurden. Diese Formen höherer Bildung wurden seit der Revolution vor allem auch Personen aus niedrigen sozialen Schichten zugänglich gemacht. Die daraus entstandene Bildungsschicht ist zwar in der Nutzung moderner Technologien und Medien versiert, bekommt aber im Gegensatz zum asiatischen Modell vom iranischen Staat kaum Arbeits- und Entlohnungsmöglichkeiten geboten. Dieser ist aufgrund der Ölvorkommen nicht darauf angewiesen, eine Mittelschicht zu fördern, die internationales Kapital akquiriert und hat daher kein Interesse, dementsprechende Investitionen zu tätigen. In der Zwischenzeit haben staatliche und halbstaatliche Eliten (siehe oben) den Kontakt mit dem internationalen Kapital monopolisiert. Im Gegensatz zu

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den „Tiger-Staaten“ ist der iranische Staat nicht an der Herausbildung einer wirtschaftlich und politisch unabhängigen Mittelschicht interessiert. Die Fusion zwischen staatlich sanktioniertem Islam und globalem Kapitalismus beschränkt sich im Iran daher vor allem auf eine eingegrenzte Elite. Doch auch in den von Ong beschriebenen Staaten Südostasiens ist die Beziehung zwischen der Bevölkerung und den Regierungen kaum auf demokratische Repräsentation ausgerichtet. Durch die Vereinigung eines islamischen mit einem kapitalistischen Diskurs wird die Unterordnung unter den Staat als die Unterordnung unter göttliche Prinzipien angesehen und nicht als das Produkt von Technologien und Abwägungen, die der Logik liberaler Ökonomien entstammen. Ältere Formen religiöser Ordnung 21 werden durch die Auferlegung eines reformierten Islams von oben deinstitutionalisiert und „a moderate and reasonable Islam helps to strengthen the state by working and meshing smoothly with global capitalism.“ (Ong 1999, S. 227) Auf der Suche nach optimalem wirtschaftlichem Wachstum habe der asiatische Staat neue, oberflächlich westernisierte, technische, fachspezifische und bürokratische Eliten gefördert, die den Staat nach amerikanischen Management-Prinzipien führen und enge Verbindungen mit globalem Firmenkapital aufweisen. Durch drastische Maßnahmen gegen Arbeitskräfte im Dienst transnationaler Firmen sind diese Staaten Ong zufolge sowohl im politischen („autoritär“) als auch wirtschaftlichen Sinn („industrialisiert“) zu „starken Staaten“ geworden (ebd., S. 199). Im Iran haben die Auswirkungen der politischen Instabilität auf die ökonomische Leistung dazu geführt, dass der Staat kontinuierlich von seiner „beschützenden“ Funktion und seiner Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Der Privatsektor, der im Idealfall sozialen Aufstieg unabhängig vom Staat erlaubt, ist jedoch durch staatliche Beschränkungen im Zugang zu Finanzmitteln stark limitiert. In Anbetracht dieser Bedingungen hat sich die Privatwirtschaft verstärkt auf den Bereich informeller Beziehungen verlagert: „The private sector preferred to remain in the informal economic sector rather than run high risks arising from state action. Therefore, the private sector agents avoided relying on resources that might be expropriated by the state. Only a limited number

21 Ong erwähnt beispielweise die Entmachtung der Sultane und islamischen Gerichte in Malaysia, sowie die Positionierung von Staat und Nation als islamischen Prinzipien vorangestellt (Ong 1999, S. 226f).

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of privileged entrepreneurs have tried to associate themselves with the state and have made use of the government’s powers.“ (Saeidi 2004, S. 492)

Der Privatsektor im Iran hat in den letzten Jahren durch den steigenden Ölpreis, neue Investitionen und wachsenden Konsum jedoch auch an Wichtigkeit gewonnen und ist zu einer Brücke zwischen den herrschenden Kreisen und dem breiteren Spektrum der Mittelklasse geworden. Die Mittelklasse und der Privatsektor sind von der Regierung als Quelle von Kapital und Handelsverträgen zwar abhängig, deswegen aber nicht ideologisch verbunden. Im sechsten und letzten Kapitel werde ich auf die unterschiedlichen Lebenswelten von Personen der Mittelschicht, die durch die Privatwirtschaft zu Geld gekommen sind, und jenen, die gehobene Posten des Regierungsapparates besetzen, zurückkommen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich politische Allianzen im Iran nicht allein entlang der Achse „säkular“ versus „religiös“ formieren, sondern vor allem nach sozial bzw. wirtschaftlich konservativen oder liberalen Interessen. Dass sich im Rahmen der Revolution letztlich ein Autoritarismus durchsetzen konnte, ist – in Anlehnung an Hefner (1998) und Moaddel (2002) – auf verschiedene Entwicklungen, vor allem auf den Iran-IrakKrieg und die wirtschaftliche Instabilität, zurückzuführen, die die politische Partizipation breiter Bevölkerungsschichten verhindert haben. Das Ziel dieses Kapitels war, die Vernetzung gesellschaftlicher, politischer, religiöser und wirtschaftlicher Segmente aufzuzeigen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, in welcher Form sie von transnationalen Prozessen beeinflusst ist. Durch diese Vorgehensweise ist deutlich geworden, dass die Struktur des iranischen Staates weniger durch eine monolithische Herrschaftsinstanz als durch multiple und sich teilweise auch widersprechende Souveränitäten begründet ist. Wie sich durch diese Betrachtung weiters zeigt, stellt die Zivilgesellschaft dabei weder eine vom Staat unabhängige noch unterworfene Struktur dar, sondern ist Teil der oben beschriebenen Konflikte. Die iranische Bevölkerung als deren Lösung zu konstruieren, würde – wie Gholam Khiabany feststellt – bedeuten, sie zu romantisieren, während undemokratische Beschränkungen der Gesellschaft durch die Mechanismen des Marktes beiseite geschoben würden (Khiabany 2008, S. 32). Im folgenden Kapitel gehe ich daher auf das Spannungsfeld zwischen Zivilgesellschaft und Staat im Iran ein, wobei dem Ausdruck so-

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zialer Differenzen durch das Konsumverhalten besondere Aufmerksamkeit zukommen wird.

4. Religion, Konsum und die Frage der Selbstbestimmung

In diesem Kapitel wird der in Bezug auf den Iran oftmals formulierte Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft zur Diskussion gestellt. Auf Kritiken der im liberalen Denken verorteten Vorstellung einer Trennung von Staat und Bevölkerung aufbauend, werde ich Konzepte von Individualität und Autonomie untersuchen. Es werden Fragen danach gestellt, inwieweit religiöse Praktiken als Instrumente der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung angewandt werden können. Daran anschließend erfolgt die Betrachtung sozialer Konflikte in der iranischen Bevölkerung unter Einbeziehung unterschiedlicher sozialer Schichten, um über die oft praktizierte Etikettierung von Konfliktparteien in „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ hinauszugehen. Ich werde zeigen, wie der sozioökonomische Hintergrund einzelner Personen oder Gruppen den Status, Habitus und ästhetischen Geschmack beeinflusst und wie darüber gesellschaftliche Positionen ausgehandelt werden. Diese Darstellung ermöglicht eine Annäherung an Fragen der Konformität, Dominanz und Widerständigkeit im Kontext der iranischen Konsumgesellschaft. Michel Foucault (1997) hat sich mit dem historischen Kontext beschäftigt, in dem Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa die Idee der Bevölkerung als einer selbstständigen und natürlichen Kollektivität von Menschen aufkam. Die so definierte Bevölkerung hatte ihre eigenen Charakteristika, die sich vom Willen einzelner Individuen unterschieden. Auf dieser historischen Entwicklung baut die politische Idee des Liberalismus auf, der sich darauf beruft, menschliches Verhalten im Interesse der Gesellschaft (und nicht im

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Interesse des Staates) zu lenken und die damit einhergehende Vorstellung hegt, die Gesellschaft sei eine Sphäre außerhalb des Staates. Durch seine Befugnis Gesetze zu machen und Ausgaben, Steuern, Beschäftigung, Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit zu regulieren, ist der Staat jedoch tief in die Institutionen und Prozesse der Zivilgesellschaft involviert. Durch seine getätigten oder unterlassenen Handlungen schafft der Staat effektiv die Formen und Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft. Timothy Mitchell geht der Frage nach, warum diese spezielle Staats-Konstellation – mit ihrer Basis in einem abstrakten Rechtssystem und den transzendental anmutenden Vorstellungen der Nation als fundamentaler politischer Gemeinschaft – das dominante politische Arrangement der Moderne wurde. Mitchell zufolge beruht eben diese Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft auf komplexen Machtbeziehungen, die im Zuge einer neuen sozialen Ordnung entstanden sind und mit der Entwicklung technischer Innovationen, wie zum Beispiel dem Militärwesen in Zusammenhang stehen. Diese Methoden der Organisation und Kontrolle generieren ein Konstrukt (den Staat), das eben diesen Prozessen als außenstehend erscheint (Mitchell 1991, S. 77). Mitchell bezieht sich dabei auf Michel Foucault (1997), der zeigen konnte, dass gesellschaftliche Reformen im 18. und 19. Jahrhundert, vom Militärwesen bis hin zu alltäglichen Bereichen des Lebens die Systematisierung von Überwachung und Kontrolle, die Aufgliederung von Aufgaben in streng eingeübte Bewegungsabläufe und die Kombination von unabhängigen Funktionen in größere Formationen beinhalteten. Diese etablierten sich mit der Zeit in Fabriken, Schulen, Gefängnissen, Krankenhäusern und im Staatsdienst. Die Verbreitung dieser Methoden repräsentierte eine neue Form der Macht, die die Vorstellung von (staatlicher) Macht als einem essenziellen und singulären System der Autorität widerlegen. Die disziplinierende Macht, die er beschreibt, wirkt nicht von außen auf das Individuum oder die Gesellschaft ein, sondern generiert eine internalisierte, produktive Macht: „Disciplines work within local domains and institutions, entering into particular social processes, breaking them down into separate functions, rearranging the parts, increasing their efficiency and precision, and reassembling them into more productive and powerful combinations. These methods produce the organized power of armies, schools and factories, and other distinctive institutions of modern nation states.“ (Mitchell 1991, S. 93)

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Schließlich nehmen diese Machtbeziehungen gleichzeitig mit ihrer Verinnerlichung den Anschein äußerer Strukturen an. Die moderne Vorstellung von Staat und Gesellschaft ist daher ein zentrales Produkt dieser Technologien: „The essence of modern politics is not policies formed on one side of this division being applied to or shaped by the other, but the producing and reproducing of this line of difference.“ (Ebd., S. 95) Innerhalb der beschriebenen Institutionen entstand auch das moderne Individuum, das als ein autonomes, diszipliniertes, strebsames und aufnahmefähiges politisches Subjekt konstruiert wurde. Die Verinnerlichung komplexer gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen entstand, als die politischen Autoritäten erkannten, dass die Bevölkerung eine eigene Realität mit eigenen Regeln von Geburt, Krankheit und Tod hatte, die zwar von der Ebene politischer Herrschaft unabhängig waren, aber ihr Eingreifen benötigten (Rose et al. 2006, S. 86). In diesem Prozess begannen sich Strukturen des Staates mit verschiedenen Kräften und Gruppen zu verbinden, die bereits seit Langem versuchten, die Lebensumstände von Individuen zu gestalten und zu verwalten, was dazu führte, dass sich Herrschaft, im Sinne einer Regulierung der Gesellschaft, auf eine Vielfalt von Instanzen aufspaltete. Die Governmentality-Studien (Foucault 1978) definieren das Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung als Handlungen, die auf innerhalb dieser neuen sozialen Ordnung verinnerlichte Regulationsmechanismen zurückgehen. Die Erschaffung von Subjekten, die sich selbst als autonom, selbstbestimmt und aktiv handelnd wahrnehmen, war schließlich auch ein entscheidender Aspekt für die Entwicklung einer an Wettbewerb und Gewinnmaximierung orientierten Gesellschaft. Diese Form der gesellschaftlichen Organisation bezeichnet Nicolas Rose (2006) als fortgeschrittene liberale Herrschaft. In dieser Struktur wird die für das Individuum begrenzende und äußerliche Funktion des Staates durch ein regulatorisches inneres Prinzip ersetzt; die Form des Marktes wird zum Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft. Elizabeth Dunn (2004) beschreibt damit einhergehende Veränderungen von Selbstkonzepten, innerhalb derer individuelle Lebensentwürfe mit der sozialen Ordnung in Übereinstimmung zu bringen waren, weil damit die Wahrscheinlichkeit stieg, die Vision eines „guten Lebens“ verwirklichen zu können. Diese erhöhte Selbstverantwortlichkeit ging mit einer Ethik von

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Technologien des Selbst einher, die darauf basiert, kontinuierlich an sich selbst zu arbeiten, um sich zu verbessern. Moderne Subjekte werden also dazu angehalten, als autonome Individuen für ihr Leben volle Verantwortung zu tragen. Freiheit und Herrschaft sind damit keine entgegengesetzten Pole, sondern Freiheit definiert sich neben Autonomie, Selbstverantwortung und freier Wahl als Pflicht, sein Leben ähnlich einem Unternehmen zu rationalisieren. Im Konzept der Governmentalität wird die Vorstellung eines Widerstands, der auf einem Rahmen von Handlung versus Struktur beruht, daher abgelehnt: Wenn Freiheit nicht die Abwesenheit von Beschränkungen bedeutet, sondern vielmehr eine variierende Anordnung von Selbsttechnologien, ist eine solche Gegenüberstellung hinfällig. In diesem Sinn werde ich nun mit Saba Mahmood (2005) auf die Grenzen der im liberalen Denken verankerten Vorstellung des von seiner Umgebung unabhängig handelnden Individuums eingehen. Da die im religiösen Weltbild enthaltenen Formen der Unterwerfung unter eine übergeordnete Instanz darin keinen Platz finden, wird im folgenden Abschnitt die Frage der Selbstbestimmung in Bezug auf religiöse Praktiken beleuchtet.

4.1 D ISZIPLIN

UND

A UTONOMIE 1: R ELIGION

Gerade in Bezug auf islamische Gesellschaften wird die Religion, vor allem in Zusammenhang mit der Rolle der Frau, immer wieder als ein Instrument der Unterdrückung dargestellt. Diese Annahme spiegelt eine spezifische Vorstellung von Selbstbestimmung wider, die Begriffe wie Freiheit oder Individualität ausschließlich aus der Perspektive des säkularen Liberalismus definiert. Auf diese Tatsache ist es zurückzuführen, dass in den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen über islamische Gesellschaften weibliche Akteurinnen entweder für ein unterdrücktes oder für ein aktives feministisches Bewusstsein stehen, das gegen die hegemoniale männliche Norm islamischer Länder artikuliert wird. Sogar in Fällen, wo eine explizit feministische Haltung schwer auszumachen sei, gäbe es laut Saba Mahmood (2005) unter Wissenschaftlern eine Tendenz, nach und Momenten des Widerstands zu suchen, die eine Herausforderung männlicher Dominanz darstellen könnten. Handlungen gelten in diesen Analysen als die Fähigkeit, seine ei-

R ELIGION , K ONSUM UND DIE F RAGE DER S ELBSTBESTIMMUNG | 139

genen Interessen gegen Bräuche, Traditionen, eine transzendentale Bestimmung oder andere Hindernisse durchzusetzen. Dieser Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung ist die Grundlage des widerständigen Aktes. Mahmood stellt jedoch in Frage, ob eine universelle Kategorie von widerständigen Handlungen außerhalb der spezifischen ethischen und politischen Bedingungen festgemacht werden kann, aus denen bzw. innerhalb derer sie ihre Bedeutung beziehen. Sie problematisiert die Universalität des Begehrens im liberalen Denken, die Widerständigkeit als Freiheit von Unterordnung definiert und für Frauen die Freiheit von männlicher Herrschaft voraussetzt (Mahmood 2005, S. 10). Dabei beruft sich das liberale Denken, dem diese Form des Feminismus zugehörig ist, auf die Konzepte von positiver und negativer Freiheit. Das Konzept der Selbstverwirklichung existiert aber auch in einer Vielzahl anderer Formen, darunter auch in mystischen Traditionen des Christentums und des Islam. Das Besondere des Liberalismus ist es, den Begriff der Selbstverwirklichung mit individueller Autonomie zu verbinden wobei Selbstverwirklichung mit der Fähigkeit gleichgesetzt wird, die eigenen Wünsche als Ausdruck des eigenen Willens zu verwirklichen. Im Gegensatz dazu wurde von Vertretern der politischen Philosophie das Argument entwickelt, demzufolge nicht der Inhalt des Begehrens (Unterwerfung) für die Beurteilung von Autonomie ausschlaggebend sei, sondern die Motivation dieses Begehrens (der Wunsch, sich zu unterwerfen) (vgl. Christman 1991, in Mahmood 2005, S. 12). Innerhalb der poststrukturalistischen Theorie hat sich zudem Kritik am Konzept der Autonomie formiert, die das rationale, selbstbestimmte, transzendentale Subjekt der Aufklärung und des Liberalismus im Speziellen als illusorisch betrachtet. Die Kritik bezieht sich unter anderem darauf, dass rationales Denken sich seinen universellen Anspruch und seine Autorität sichert, indem es alles ausschließt, was mit Körperlichkeit, Emotion, NichtRationalem und Intersubjektivität zu tun hat (Butler 1999). Mahmood ist mit ihrer Forschung gelungen, das Konzept der Selbstverwirklichung vom autonomen Willen zu entkoppeln. Sie positioniert sich damit gegen die Tendenz in feministischen Theorien, feministisches Handeln in Begriffen der Subversion oder Resignation gegenüber sozialen Normen zu verorten und jedes Handeln als widerständige Operation gegen dominierende und unterdrückende Formen der Macht zu formulieren. Indem das normative politische Subjekt befreiend sein muss und sein Han-

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deln innerhalb eines binären Modells von Unterwerfung und Subversion liegt, umgeht dieses Konzept menschliches Handeln, dessen ethischer und politischer Status sich nicht in die Logik von Repression und Widerstand einfügt. Von der Annahme ausgehend, dass sich jedes Begehren durch soziale Umstände, die es beeinflussen, organisiert, gibt es daher auch Bedingungen, unter denen ein Begehren zur Unterwerfung unter anerkannte Autoritäten entstehen kann. Nur jenes Begehren als natürlich und wünschenswert anzuerkennen, das feministischen Auffassungen entspricht, engt den Analyserahmen rigide ein. Studien über die wachsende Beliebtheit der Verschleierung in Ägypten sind für diese Problematik ein gutes Beispiel. Viele Untersuchungen bieten entweder funktionalistische Erklärungen für die Verschleierung an (wie die Aussicht auf bessere Behandlung am Arbeitsplatz oder weniger Ausgaben für Kleidung), oder interpretieren den Schleier als Symbol des Widerstandes und gegen die Kommodifizierung des weiblichen Körpers in westlichen Medien und westlichen Wertvorstellungen. Es ist erstaunlich, dass die Autoren religiösen Einstellungen wie Bescheidenheit und Frömmigkeit so wenig Aufmerksamkeit beimessen, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass viele der Frauen ihre Entscheidung für den Schleier in diesen Begriffen formulieren. Stattdessen erklären die Wissenschaftler die Motivationen verschleierter Frauen mit Modellen soziologischer Kausalität (sozialer Protest, ökonomische Notwendigkeit, utilitaristische Strategie, etc.), während Kategorien wie Moral, Transzendenz oder Tugendhaftigkeit den „Phantomvorstellungen der Hegemonisierten“ (Mahmood 2005, S. 16) zugeschrieben werden. Mahmood zitiert beispielsweise eine soziologische Studie über Ägypten aus dem Jahr 1992, in der die Mehrheit der Befragten Frömmigkeit als primäre Motivation angegeben hatte. In der Interpretation der Ergebnisse argumentierte die ausführende Soziologin dahingehend, dass die wahren Motivationen für die Verschleierung nicht in einer neu entdeckten Frömmigkeit lägen, die ihre Informantinnen angegeben hätten, sondern in sozioökonomischen Vorteilen, die verschleierte Frauen in der ägyptischen Gesellschaft genießen würden (Zuhur 1992, zitiert ebd., S. 16). Diese Beispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, ein kritisches Bewusstsein für die Auslassungen im kulturellen Übersetzungsprozess zu entwickeln – besonders in den Sozialwissenschaften, die für sich beanspruchen, universell transparent zu sein, während sie die Sprache des „gemei-

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nen Volkes“ nur als eine dürftige Annäherung an ihre Realität betrachten. Eine Reaktion darauf stellt auch diese Nachricht in einem Blog dar, der sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzt: „Muslim cultures (Not Islamic Cultures) have limited women to gender based roles, denied them many rights that Islam and the Prophet Mohammad had given them, and oppressed them to a degree that is unforgivable. […] These cultures are driven by non-religious ideologies that use the religion of Islam to justify their crimes. As a Muslim feminist, I wish western feminists would first learn about Islam to understand Muslim women better. They don’t need to liberate us from Islam, because Islam is very precious to us and has supported our cause for over a thousand years. Instead, they should help liberate us from our man-made cultures that oppress us, limit our capabilities, and refuse us the rights that Islam itself gave us.“

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In Anlehnung an Foucault definiert Mahmood Subjektivität nicht als privaten Raum der Kultivierung des Selbst, sondern als ein Ergebnis von Herrschaftsformen, die durch eine Kombination moralischer Codes ein Subjekt schaffen. Dazu zählen verschiedene Formen der Beziehung zu sich selbst, wie Selbstreflexion, Selbsterkenntnis, Selbstüberprüfung und die Veränderungen, die man an seinem Selbst zu erreichen wünscht (Foucault 1990, S. 29). Die Frauen, mit denen sich Mahmood in ihren Untersuchungen beschäftigt, gehören einer konservativ-islamischen Bewegung in Ägypten an, die sie als „piety-movement“ oder „mosque-movement“ bezeichnet. Sie setzen körperliche und geistige Handlungen bewusst ein, um innere Zustände wie Absichten, Wünsche und Gedanken mit ihrem äußerlichen Verhalten (z.B. Gestik, Handlungen, Sprache) zu koordinieren. Dabei praktizieren sie nicht die Nachahmung vorgeschriebener Verhaltensweisen im Sinn eines äußeren sozialen Zwanges, sondern verwenden diese Praktiken als Möglichkeit, ihr Selbst zu entwickeln oder zu realisieren. Die Unterwerfung unter bestimmte Formen der Autorität stellt dabei eine Bedingung für die Erreichung der eigenen Potenziale dar (Mahmood 2005, S. 31). Die Wahrnehmung des Selbst durch körperliche Praktiken kehrt die gängigen

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http://alfin2100.blogspot.com/2007/02/why-are-radical-feminists-as-helpful-to. html (Aufruf 9.1.2011).

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Beziehungen zwischen Innerem und Äußerem um, in denen sich das Unbewusste im Körper manifestiert. Denn hier sind spirituelle Übungen „practices which could be physical, as in dietary regimes, or discursive, as in dialogue and meditation, or intuitive, as in contemplation, but which were all intended to effect a modification and transformation in the subject who practiced them.“ (Hadot 2002, zitiert in Mahmood 2005, S. 6)

Die ritualisierte Handlung wird als Instrument zur Formung des Selbst angesehen. Moralische und praktische Fähigkeiten werden durch wiederholtes Üben erlernt, bis diese Praktik eine dauerhafte Spur im Charakter einer Person hinterlässt: „Moral virtues such as modesty, honesty, fortitude, are acquired through a coordination of outward behaviours (bodily acts, social demeanor) with inward dispositions (emotional states, thoughts, intentions) through the repeated performance of acts that entail those particular virtues.“ (Ebd., S. 136)

Im Gegensatz zu Pierre Bourdieu (1999), dessen Definition des Habitus sich um die unbewusste Macht dreht, die objektive soziale Strukturen reproduziert, untersucht Mahmood die Absichten und Gefühle, die hinter tugendhaftem Verhalten stehen. Das Erlernen einer körperlichen Haltung und ihre Beziehung zu unbewussten Seinszuständen ist keine Folge innerer Zustände, sondern stellt umgekehrt, die Modifikation des Inneren durch äußere Ausdrucksformen dar und bietet dem Subjekt damit die Möglichkeit, sich zu entfalten. Der selbst gewählte Gehorsam gegenüber religiös vorgeschriebenen sozialen Konventionen wird oft als blinde und unkritische Nachahmung und Reproduktion einer existierenden patriarchalen Ordnung kritisiert. Diese Annahme beruht auf einem Modell menschlichen Handelns, das von einer natürlichen Trennung zwischen den „wahren“ Wünschen einer Person und solchen, die sozial verordnet sind, ausgeht. Von Auffassungen wie diesen, die Konzepte des Individuums als vom sozialen Milieu abhängig sehen, weichen diese Beschreibungen ab, weil sie diese Trennung zwischen Individuum und sozialem Umfeld selbst in Frage stellen. Für Bewegungen wie das „piety movement“ sind sozial vorgeschriebene Verhaltensformen eine

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Bedingung für die Entwicklung des Selbst und für seine Verwirklichung wesentlich. Das Aufkommen von Bewegungen wie dem „piety movement“ entspringt zu einem großen Teil dem erweiterten Zugang zu Bildung, Medienkonsum und anderen Formen politischer Zusammenschlüsse in der Zivilgesellschaft. Letztere sind Elemente des säkularen Liberalismus, der Bedingungen solcher Art geschaffen hat, dass jede gesellschaftliche Bewegung heute (sei sie spirituell oder nicht) sich mit den Institutionen und Strukturen moderner Herrschaft auseinandersetzen muss, um effektiv zu sein – und zwar unabhängig davon, ob sie staatliche Macht anstrebt oder nicht. Daran sieht man, dass auch ethische Praktiken und damit in Zusammenhang stehende Praktiken der Unterwerfung von modernen Formen säkular-liberaler Herrschaft geprägt sind. Sie in die starre Aufteilung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zu pressen, erlaubt es dem Beobachter nicht, das wahrzunehmen, was von dieser Struktur abweicht oder diese herausfordern könnte. Wie Mahmood es formuliert, „to render unfamiliar lifeworlds into conceptual or communicable form is to domesticate that which exceeds hegemonic protocols of intelligibility.“ (Mahmood 2005, S. 199) Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass es sich bei dem hier beschriebenen Phänomen um Praktiken einer spezifischen Gruppe handelt, deren Handlungen und Einstellungen nicht auf islamische Gesellschaften im Allgemeinen anwendbar sind. Diese Beschreibungen sind jedoch fruchtbar, um zu verstehen, dass Praktiken der Disziplinierung in Bezug auf das Religiöse in bestimmten Kontexten durchaus eine Politik der Selbstbestimmung verfolgen, und daher nicht als eine islamspezifische Affinität zur Unterwerfung gedeutet werden können. Es ist notwendig, diese „hegemonialen Ordnungen von Sinnhaftigkeit“ flexibler zu machen, will man sich dem Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft im Iran abseits der eingetretenen Pfade zwischen Unterdrückung und Widerstand annähern.

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4.1.1 The Iranian Mass: Joining the Madness? 2 In Anlehnung an Mbembes Analyse (2001) des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft im postkolonialen Afrika lässt sich auch die iranische Politik als eine dramatische Bühne beschreiben, auf der Unterwerfung und Disziplin ausgeführt werden. Um diese „Performance“ zu bewerkstelligen, erschafft die Staatsmacht eine eigene Welt von Bedeutungen durch administrative und bürokratische Praktiken und institutionalisiert diese im Bewusstsein ihrer Bürger. Anhand dieser Inszenierungen konnte Mbembe aufzeigen, dass die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Subjekten nicht nur auf Widerstand oder Konformität beruht, sondern auch eine Art der Vertrautheit darstellt – in der jedoch alle Beziehungen mit Herrschaft befrachtet sind. Diese Logik des Vertrauten und Familiären – und weniger die Angst vor Strafe und Unterdrückung – bedingt, dass Menschen bestehende Strukturen akzeptieren und ihren Widerstand zähmen. Während der iranische Staat zwar ideologisch, kulturell und ethnisch fragmentiert ist, haben die offiziellen Autoritäten und das Volk dennoch viele Referenzen gemeinsam. Fariba Adelkhah beschreibt beispielsweise, wie sich Formen des Ausdrucks, Gewohnheiten, rituelle Handlungen und symbolische Praktiken zu vermischen begannen, nachdem die Homogenisierung des öffentlichen Auftretens nach der Revolution an Routine gewonnen hatte. Vereinheitlichende Aspekte kommen laut Adelkhah daher auch von „unten“. An religiösen Festen wie dem Opferfest beispielsweise, das seit der Revolution in zunehmendem Maß öffentlich gefeiert wird, vermengen sich Tendenzen der Differenzierung und Vereinheitlichung, sodass im Prozess kultureller Homogenisierung nicht mehr unterschieden werden kann, was von „oben“ und was von „unten“ kommt (Adelkhah 1999, S. 111). Moderne Praktiken stellen also eine Kombination von Effek-

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Das Zitat von Achille Mbembe, aus dem dieses Fragment entnommen ist, lautet vollständig: „In their desire, the masses join in the madness and clothe themselves in cheap imitations of power to reproduce its epistemology.“ (Mbembe 2001, S. 133) Damit beschreibt Mbembe das Begehren der Menschen nach Majestät, das mit dementsprechenden Machtinszenierungen des Staates korrespondiert. Darüber hinaus weist der Autor damit auch auf den Mechanismus der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse durch die gesamte Gesellschaft bzw. einzelne Individuen hin.

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ten einer Massengesellschaft (wie in den Bereichen Konsum und Kommunikation) und spezifischen Impulsen der Islamisierung von Seiten der Republik dar. Diese Sphäre der geteilten Lebenswelt rückt in den meisten Beschreibungen über den Iran zugunsten eines rigiden Antagonismus zwischen Staat und Bevölkerung in den Hintergrund. Beispielsweise wird mit Verwunderung festgestellt, dass die Iraner dem Regime gegenüber trotz widriger Bedingungen immer wieder eine humorvolle Haltung entgegenbringen (z.B. bei Khosravi 2008). Dieses Verhalten, das nicht selten auch in Zynismus umschlägt, lässt sich darauf zurückführen, dass die Iraner sich darüber bewusst sind, dass die Staatsmacht hauptsächlich auf einer Inszenierung beruht. Dies erlaubt es ihnen, ihre Zugehörigkeit zum Regime mittels der zahlreichen offiziellen Rituale, die es verlangt, unter Beweis zu stellen, und sich gleichzeitig darüber lustig zu machen. Dabei geht im kulturellen Übersetzungsprozess oft die Ironie verloren, mit der viele Iraner die Herrschaftsstrukturen betrachten, während westliche oder im Westen tätige Wissenschaftler diese ausschließlich in ihrer Absolutheit wahrnehmen. In Shahram Khosravis Buch „Young and Defiant in Iran“ („Jung und aufsässig im Iran“) werden beispielsweise – zur Einführung – verschiedene Absätze aus dem iranischen Strafrecht zitiert, die zeigen sollen, wie totalitär die staatliche Kontrolle im Iran ist. Diese Horrorszenarien sind mit Überschriften wie „kulturelle Verbrechen“, „das Auge der Macht“ oder „die Ästhetik der Autorität“ versehen. Obwohl Khosravi, der selbst im Iran aufgewachsen ist, Feinheiten und Widersprüche im Alltag seiner Interviewpartner aufzuspüren vermag, ist er nicht in der Lage, sich von diesem Rahmen des Totalitarismus, in die er seine Untersuchung einbettet, zu lösen. So erscheint jede Handlung seiner Protagonisten als ein Aufbegehren oder tapferes Erdulden gegenüber einer unheimlichen, allumfassenden Macht. Fallen bestimmte Verhaltensweisen aus diesem Rahmen, bleiben sie ohne weiteren Kommentar. Tatsächlich ist es jedoch so, dass der Alltag aufgrund personen- und situationsspezifischer Kontexte verhandelt wird – auch in Situationen, in denen klare Regeln für das Verhalten bestehen. Die Frage ist dabei nicht, ob die Menschen Gehorsam leisten oder nicht. Die Konflikte ergeben sich vielmehr aus der Tatsache, dass Gesellschaften wie der Iran ein pluralistisches Chaos aufweisen, in dem es schwierig ist, ein einziges, permanentes, stabiles System aus den Zeichen, Bildern und

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Praktiken auszumachen, die darin enthalten sind. Sie werden sowohl von den Herrschenden als auch von den Beherrschten ständig neu geformt. Diese Situation bestätigte sich während meines Aufenthalts in Teheran, bei dem ich mich mehrmals in Situationen wiederfand, in denen sich meine neuen Bekannten und Kollegen über mein Verhalten lustig machten, weil ich in vorauseilendem Gehorsam Regeln zu befolgen meinte, die die Einheimischen längst nicht so ernst nahmen wie ich. In einem Alltag, der ebenso von Regeln wie von Uneindeutigkeiten geprägt ist, wussten sie genau, in welcher Situation welches Verhalten angebracht war und wann die Zügel lockerer waren, als sie schienen.

4.2 D ISZIPLIN

UND

A UTONOMIE 2: K ONSUM

Ein anschauliches Beispiel für die Auseinandersetzung mit staatlicher Macht, der gängige Auffassungen von Widerständigkeit im Iran nicht gerecht werden, ist das Golestan-Einkaufszentrum in einem wohlhabenden Stadtteil im Nordwesten Teherans. Jedes Wochenende versammeln sich dort Jugendliche, um zu flanieren, zu essen, zu trinken, um zu sehen und gesehen zu werden. Das Flanieren im Einkaufszentrum hat im Iran jedoch noch eine weitere Bedeutung, wie eine meiner Interviewpartnerinnen, die 24-jährige Software-Technikerin Mahtab, bemerkt: „Ich will nicht urteilen, aber die Leute, die in diese Shopping-Malls gehen, die tragen viel Make-up auf und ziehen so bestimmte Schuhe an, aber wir sind nicht so reich, dass wir Benetton anziehen können. Sie tun so, als ob sie reich wären oder was weiß ich was. Wir wachsen getrennt auf, Jungs und Mädchen, das ist nicht so wie bei euch, wir sind in getrennten Schulen und im Shoppingcenter gibt es die Möglichkeit, Anschluss zu finden (,to connect‘).“ (Mahtab)

Der halböffentliche Raum des Einkaufszentrums erlaubt zwischenmenschliche Begegnungen, die in anderen öffentlichen Sphären aufgrund der staatlichen Regulation nicht so einfach möglich sind. Junge Menschen nutzen diesen Raum daher, um miteinander in Kontakt zu treten. Mein Interviewpartner Nasser, der mittlerweile in den USA promoviert, beschreibt die Situation im Golestan-Einkaufszentrum als „die reinste Modenschau, vor

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allem am Donnerstagabend (Beginn des Wochenendes, A.S.).“ Die Besucher dieses Einkaufszentrums sind also für ihren Prestigekonsum bekannt. An den Wochenenden patrouilliert die Polizei die Zufahrten zum Golestan-Einkaufszentrum und hält mit Vorliebe moderne, luxuriöse Autos an. Die Fahrer werden nach ihren Papieren gefragt und, wenn sie in Begleitung sind, ob sie verheiratet oder verwandt sind. Wegen der Kontrollen bilden sich lange Warteschlangen. Die Polizei spricht Warnungen bezüglich bestimmter Bekleidungsformen aus oder schickt Besucher wieder weg. Manche werden verhaftet, andere verhandeln mit den Polizisten und bitten um Milde. Trotz dieser Widrigkeiten scheint die Jugendlichen dieses Spiel zu amüsieren. Zuschauer am Straßenrand beobachten mit Vergnügen, wenn in einem Auto die Musik laut gedreht wird, um die Polizisten zu irritieren. Diese Situation ist von dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer Schichten gekennzeichnet, denn bei den Besuchern des GolestanEinkaufszentrums handelt es sich nicht um eine sozial marginalisierte Gruppe, sondern um eine wohlhabende Oberschicht. Die Basij, die neben der regulären Polizei hier die Aufgabe der Kontrolle und Aufsicht übernehmen, stammen hingegen zumeist aus einer niedrigen sozialen Schicht oder vom Land und aufgrund ihres einfachen Lebensstils werden sie von ihren wohlhabenderen Mitbürgern missachtet oder verlacht. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage einer jungen Iranerin zu verstehen, die sich beschwert, dass bei dem Fest, das sie mit einigen Freunden zum iranischen Neujahr veranstaltet hatte, diesmal kaum etwas los gewesen sei und „nur“ ein Basij verprügelt wurde: „there were not so many basijs on the streets this year. So we just jumped over fires. Without basijs there was nothing amusing about chahrshanbe souri.“3 (Khosravi 2008, S. 144) Diese Aussage verdeutlicht, dass es sich bei den Auseinandersetzungen weniger um Unterdrücker gegen Unterdrückte handelt, sondern um zwei Seiten, die ihre Legitimation und Überlegenheit aus unterschiedlichen Quellen beziehen: Die jungen Reichen sehen sich als die kultivierte Elite des Landes, die sich dem ungehobelten Mob von Milizen als überlegen ansieht, während die Basij sich, mit staatlicher Legitimation im Rücken, als die Verteidiger gegen eine scheinbar drohende Dekadenz sehen.

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Chahrshanbe Souri ist ein Fest aus vor-islamischer Zeit und wird im Iran in der Nacht des letzten Dienstags im Jahr gefeiert. Das iranische Jahr beginnt am 21. März.

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Den Konsumenten des Golestan-Einkaufszentrum geht es in diesen Auseinandersetzungen vor allem darum, ihrem Status (z.B. durch teure Markenwaren) unbehindert Ausdruck verleihen zu können. Die starke Reglementierung des Alltags von Seiten des iranischen Regimes bewirkt, dass man durch alltägliche Handlungen wie diese sehr schnell in Opposition zu den offiziellen Autoritäten steht und unbedeutende Alltagshandlungen dadurch politisiert werden. Der Widerstand gegen die iranische Politik ist jedoch vielfältig und sollte nicht auf Symbole der westlichen Konsumgesellschaft reduziert werden, die im Iran ein Merkmal sozialer Distinktion sind. Für die Analyse dieses Konflikts um gesellschaftliche Positionen und damit verbundene Abgrenzungsmechanismen ist Pierre Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“ weiterführend. In seinem umfangreichen Werk kritisiert Bourdieu die Kategorisierungen von „gutem“ und „schlechtem“ Geschmack, weil sie eine Freiheit der Wahl unterstellen. Innerhalb dieser Wahrnehmung haben die unteren Schichten Geschmack dafür, wozu sie ohnehin verdammt sind, „oder aber er wird zu einem aus freier Wahl geborenen Geschmack stilisiert, womit die Konditionierungen unterschlagen werden, deren Resultat er ist, wird zu einer krankhaften oder morbiden Vorliebe für Lebensnotwendiges, eine Art angeborene Armut, Aufhänger für Klassenrassismus, im ‚Volk‘ mit dick, fett, gemein, grob assoziiert. Der Geschmack ist eine unfreiwillige Wahl, alles außer das Notwendige eine pure Träumerei.“ (Bourdieu 1999, S. 290)

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4

Die von Bourdieu vorgenommene Festlegung sozialer Schichten auf eine Position, zu der sie verdammt sind und der sie nicht entkommen können, wurde u.a. von Gartman (1991) kritisiert. Er führt aus, dass sich Klassenunterschiede eher im Bereich nicht-materieller Kultur wie visueller Kunst, Musik und Literatur manifestieren als im Bereich materieller Kultur wie Lebensmittel, Kleidung und Einrichtung. Hochkultur und Bildung tragen demnach zur Abgrenzung von Klassenunterschieden bei, während im Bereich der materiellen Güter jedoch eine qualitativ gleichförmige Massenkultur besteht, die Klassenunterschiede hinter einer Masse materieller Güter verschwimmen lässt und die Individuen allein nach ihrer Kaufkraft unterscheidet. Soziale Unterschiede tauchen erst wieder in der Anwendung von kulturellem Kapital bei Entscheidungen für und der Wertschätzung von Konsumgütern auf. Gartman schließt daraus, dass sich Klassen-

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Eine meiner Interviewpartnerinnen, eine 23-jährige Studentin, äußert sich über die Personen, die keinen Geschmack haben bzw. durch die Offensichtlichkeit ihrer Imitation scheitern, so: „Die mit den auftoupierten Haaren..., je mehr sie auftoupiert sind, desto weniger sind sie bei sich selbst, denke ich. Und die Jungs mit den stacheligen Frisuren, die sind lustig. Wir amüsieren uns darüber.“ (Azar) Die Wahl der „richtigen“ Kleidung und ein distinguiertes Aussehen repräsentiert das Wissen darüber, was „angesagt“ ist, während die Unwissenheit oder falsche Anwendung dieses Wissens einen der Lächerlichkeit preisgibt. Es handelt sich also um kulturelles Kapital5 (und nicht subkulturelles!), das jungen Menschen die Autorität über die Bedeutung von Dingen verleiht, und somit auch darüber, sich als modern zu präsentieren – egal ob man tatsächlich wohlhabend ist oder nicht. Laut Bourdieu werden die auf ökonomischen Strukturen basierenden Positionen in der Gesellschaft in kulturelle Symbole und Lebensstile übersetzt und drücken sich, als solche missverstanden, im Habitus aus. Der Habitus, der sich im Prozess der Sozialisation als eine spezielle Form der Wahrnehmung und gesellschaftlichen Positionierung herausbildet, manifestiert sich in bestimmten Geschmäckern beim Essen, der Kleidung, Kunst oder Einrichtung. Der bourgeoise Geschmack ist beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass er natürliche Funktionen stilisiert und formalisiert, um ihre Distanz von der Ebene der Notwendigkeiten darzustellen – denn nichts hebt einen stärker von der Masse ab, als das Vermögen, in den gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags die Prinzipien einer „reinen“ Ästhetik spielen zu lassen. Die Ästhetik stellt eine frei gewählte Distanz zu Zwängen der natürlichen und sozialen Umwelt (z.B. durch Klimaanlagen oder Sauberkeit) dar: Luxus ist die Verleugnung der Funktion. Die gehobene Mittelschicht legt währenddessen Wert auf den autonomen und kreativen Selbstausdruck, der sich unabhängig von den vom

kultur und Massenkultur in der globalen Konsumgesellschaft ergänzen und die Aufteilung der Gesellschaft umso effizienter gestalten. Ich schließe mich seiner Analyse dahingehend an, dass die Homogenität der konsumierten Produkte Klassenverhältnisse zwar nicht aufhebt, sie jedoch in eine gemeinsame Sprache konsumorientierter Solidarität übersetzt und darin verbirgt. 5

Die Begriffe „kulturelles“ und „symbolisches Kapital“ gehen ebenfalls auf Bourdieu (1999) zurück.

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Markt zur Verfügung gestellten Gütern vollzieht. Das „echte“, verborgene Ich wird durch den kreativen Umgang mit den Waren des Massenmarktes zum Ausdruck gebracht (Illouz 2003, S. 241). Auch John Fiske (2000) hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass Menschen aus unteren sozialen Schichten eher dazu neigen, sich emotional und auf partizipatorische Weise mit kulturellen Produkten zu identifizieren, während gebildete Klassen Distanz pflegen, indem sie kulturelle Produkte – besonders des Massenkonsums – gering schätzen oder sich auf formale, ästhetische Eigenschaften konzentrieren. Meiner Interviewpartnerin zufolge versuchen die jungen Männer mit den „stacheligen Frisuren“ zu offensichtlich, modisch zu sein; ihr Stil wird als unfein und als eine Karikatur des Originals wahrgenommen. Dieses nicht gelungene Kopieren eines Stils zeugt schließlich auch davon, nicht „bei sich selbst“ zu sein. Diejenigen hingegen, die über das kulturelle Kapital verfügen, sich zu informieren, welche Mode und welcher Stil (in Europa oder den USA) gerade angesagt ist, beherrschen diese Kunst hingegen und blamieren sich daher nicht mit „fehlerhaftem“ oder ungeübtem Auftreten. Dadurch erfolgt eine Zuweisung zu Kategorien der In-/Authentizität entlang der sozialen Schicht. Dieser Konflikt beinhaltet neben dem kulturellen Kapital, das einem die Autorität darüber verleiht zu bestimmen, was „authentisch“ ist, auch das Spannungsfeld zwischen iranischer und westlicher Kultur und Fragen der Dominanz, Nachahmung und Autonomie, die damit verbunden sind. Hier dehnt sich die Frage nach Herrschaftsstrukturen auf eine globale Ebene aus, deren Einfluss durch die (Neu-)Angliederung Irans an die internationale Ökonomie seit den 1990er Jahren im Anwachsen begriffen ist. Diese Auswirkung der Globalisierung auf Strukturen der Herrschaft und Unterwerfung wurde von Lila Abu-Lughod in Bezug auf eine Gruppe von Beduinenfrauen in Ägypten untersucht. Die Anthropologin Abu-Lughod stellte beispielsweise fest, dass die jüngere Generation von Frauen des Beduinenstammes begann, sich Dessous zu kaufen, die bis dahin in der Gemeinschaft nicht vorgekommen waren. Vor allem bei den älteren Frauen stieß das auf Ablehnung, aber nicht aufgrund einer wahrgenommenen Geldverschwendung, sondern aufgrund der Aneignung einer Technologie sexualisierter Weiblichkeit, die zur Gefälligkeit der Ehemänner ausgeführt wurde. Abu-Lughod schreibt:

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„They (die Älteren, A.S.) had gained their right to support through their status as kinswomen or mothers and through the work they contributed to the extended household. What wealth women would get they got at marriage and after that, everyone had much the same things, grown, raised, or made in the household […] Young women, in resisting for themselves the older women’s coarseness by buying moisturizing creams and frilly nylon negligees are, it could be argued, chafing against expectations that do not take account of the new set of socioeconomic circumstances into which they are moving. What they say they want, are husbands who are rich (or at least wage-earning) and educated (or at least familiar with a more Egyptian way of life), husbands who will buy them the things they want.“ (AbuLughod 1990, S. 49)

Durch strukturelle Veränderungen gesellschaftlich isolierter als früher, strebt diese jüngere Generation von Frauen eine neue Rolle an, in der ihr Wohlergehen und ihr Lebensstandard in großem Maß von der Gunst ihrer Ehemänner abhängt, und in der sie sich in einer Welt wiederfinden, in der alles Geld kostet und zu der Frauen fast keinen unabhängigen Zugang haben. Während die Frauen über Jahrhunderte hinweg Strategien entwickelt haben, um ihren Rechten Geltung zu verschaffen, kommen nun neue Bedürfnisse hinzu, für deren Erfüllung weder Männer noch Frauen vorbereitet sind. Die Männer müssen nun das nötige Geld heranschaffen, damit die Bedürfnisse der Frauen erfüllt werden können. Die Frauen involvieren sich dadurch immer mehr in Formen sexualisierter Weiblichkeit, die mit der Welt des Konsums assoziiert werden: „even if it is only the comparatively small-time world of five-dollar nightgowns and 15-cent nail polish – they are becoming increasingly enmeshed in new sets of power relations of which they are scarcely aware.“ (Ebd., S. 50) Abu-Lughod kommt zu dem Schluss, dass die Frauen das herrschende Machtsystem in ihrer Gemeinschaft sowohl unterstützten als auch untergruben. Denn die oben beschriebene Entwicklung ist auch eine Form des Widerstandes gegen die ältere Generation von Frauen und Männern, die versuchen, alte Formen familiär-basierter Autorität aufrecht zu erhalten, die vom moralischen Code sexuellen Anstandes gestützt wurden. Diese Form des Widerstandes der jungen Frauen ist kulturell geprägt, aber nicht durch die Beduinenkultur, sondern durch die Nachahmung und das Borgen (bzw. Kaufen) aus der ägyptischen Kultur. Sie ist nicht außerhalb oder unabhängig von den entsprechenden Machstrukturen zu analysieren: Neben den

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Dessous und Kosmetika gibt es auch eine Vorliebe für ägyptische statt beduinischer Musik, für ägyptische Seifenopern im Radio und ägyptisches Fernsehen. Die ägyptischen Lieder und Geschichten sind für die jungen Beduinenfrauen, wie die Dessous, eine Form der Opposition. Aber anders als die alten beduinischen Gedichte oder Volksmärchen sind dies keine oppositionellen Diskurse innerhalb ihres ursprünglichen sozialen Kontextes: Der urbane ägyptische Mittelklasse-Lifestyle, aus dem sie entnommen sind, ist ein Lebensstil, dessen „debts to the West are manifold and whose penetration by the state is pervasive.“ (Ebd., S. 51) Es handelt sich dabei also um einen hegemonialen Stil, der im spezifischen Kontext der Beduinenkultur sowohl widerständigen Handlungen Ausdruck verleiht – im Sinne einer Rebellion gegen die ältere Generation –, gleichzeitig die Akteure und Akteurinnen jedoch auch in neue, hegemoniale Strukturen involviert. Während ältere Generationen vielen dieser Entwicklungen misstrauisch gegenüber stehen, scheinen die jungen Frauen (und Männer) nicht zu ahnen, wie diese Formen der Rebellion sie in eine größere und wieder andere Struktur der Autorität befördern oder wie ihr Verlangen nach bestimmten Waren und nach der Loslösung aus familiären Strukturen Konformität in Bezug auf eine andere Bedürfnispalette produzieren könnte. Sie befinden sich dadurch in neuen Formen der Unterwerfung, in denen unter der Vorgabe freier Wahlmöglichkeiten und romantischer Liebe ein Wettbewerb entfacht ist, in der die Attraktivität und Individualität von Frauen eine zentrale Rolle spielt. Diese neuen Formen der Sexualisierung und Kommerzialisierung von Liebe ersetzen nicht unbedingt die alten Rollenverteilungen. Manchmal verlaufen sie gleichzeitig oder sie befördern die alten Strukturen in größere, überregionale Netzwerke ökonomischer und institutioneller Macht. Die Durchdringung der Gesellschaft durch die Konsumkultur und andere staatliche Institutionen sowie die damit einhergehende Privatisierung des Individuums und der Familie sind jedoch ein neues Phänomen und reihen sich in die komplexen Formen der Involvierung in Machtstrukturen ein. Eine 31-jährige Journalistin in Teheran formuliert dies so: „Die Reichen sagen, Modernität dreht sich um offene Beziehungen mit Mädchen. Sie denken, es ist modern, möglichst viel Kontakt zu Mädchen zu haben und viele verschiedene. Die sind aber überhaupt nicht offen meiner Meinung nach. […] Die Männer sagen über die Frauen hier viel Schlechtes. Sie sagen, die Frauen hier sind verrückt, denen geht es nur um mein Geld, die wollen mich nur ausnützen, damit sie

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zu Geld kommen. Und die Frauen glauben nicht mehr an die Männer, sie sagen, der will mich nur wegen meiner Jungfräulichkeit usw. […] Aber die Frauen, sie machen Sprachkurse und setzen sich für Wohltätigkeitsorganisationen ein, usw. usf. Und alle reden hier über die Frauen. Aber die Männer sind vielleicht noch verlorener als die Frauen.“ (Katajun)

Die von der Marketingindustrie postulierte Verbindung zwischen der Konsumkultur und erweiterten Wahlmöglichkeiten birgt also auch neue Formen der Abhängigkeit in sich. Im Fall der iranischen Gesellschaft spielt dabei die Referenz auf die westliche Kultur eine entscheidende Rolle. Dies rührt, in Übereinstimmung mit den in Kapitel 2 angeführten Ergebnissen daher, dass sich Vorstellungen über einen westlichen Lifestyle in erster Linie aus Äußerlichkeiten speisen: welches Essen man isst, wie man sich kleidet, wie man sich gibt – all dies sind Indikatoren für ein westliches, und damit vermeintlich modernes und fortschrittliches Selbstbild. Bereits 1972 stellte jedoch Pier Paolo Pasolini bei seiner Reise in den Iran den Zusammenhang zwischen einem westlichen Auftreten und einem elitären Bewusstsein fest: „Als ich nun eines Abends die Hauptstraße der Stadt (Isfahan, A.S.) entlang ging, sah ich unter all diesen jungen Männern in ihrer antiken Schönheit und Menschenwürde zwei monströse Gestalten: Es waren keine richtigen Langhaarigen, aber ihre Haare waren europäisch zurechtgeschnitten, hinten lang, vorne kurz, strohig vom vielen Frisieren, mit zwei widerlichen Seitensträhnen über den Ohren. Was sagten die Haare dieser beiden? Sie sagten: ,Wir gehören nicht zu diesen Hungerleidern, diesen unterentwickelten Habenichtsen, diesen zurückgebliebenen Barbaren! Wir sind Bankangestellte, Studenten, Söhne der Neureichen, die bei den ErdölKonzernen arbeiten; Wir kennen Europa, wir haben Bücher gelesen. Wir sind Bürger: Unsere langen Haare beweisen, dass wir Privilegierte, dass wir auf der Höhe der modernen Zeit sind!‘ Der Kreis hat sich geschlossen. Die herrschende Subkultur hat die oppositionelle Subkultur aufgesogen und sich angeeignet: Mit diabolischem Geschick hat sie aus ihr eine Mode gemacht, die man nicht gerade faschistisch im klassischen Wortsinn nennen kann, die jedoch eine ,extrem rechte‘ Realität verkörpert.“ (Pasolini 1998, S. 26)

In der westlichen Medienöffentlichkeit wird eine individualisierte, feminisierte und sexualisierte äußere Erscheinung (loses Kopftuch, enganliegen-

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de, bunte Kleidung, teures Make-up, etc.) gegenüber anderen in der iranischen Öffentlichkeit vertretenen Formen des Auftretens als fortschrittlicher, rationaler und zivilisierter konstruiert. Diese Art der Beschäftigung mit nach außen getragenen Eigenschaften der Persönlichkeit (ein charmantes und einladendes Auftreten), in Kontrast zum „Charakter“ ist Mike Featherstone (2010) zufolge eine zentrale Eigenschaft der modernen Konsumkultur. Der Körper stellt darin durch Techniken seiner Behandlung und Pflege einen Ort des Ausdrucks und der Kontrolle dar. Tatsächlich kann ein islamischer Dresscode jedoch von Personen getragen werden, die gläubig sind, aber die Interpretationen des Islam durch die Regierung ablehnen, also keineswegs als „regimekonform“ anzusehen sind. Gleichzeitig schließt eine, mit einem ausschweifenden Konsumstil einhergehende, ablehnende Haltung dem Regime gegenüber keineswegs aus, persönlich einen „kulturellen Puritanismus“ (Khosravi 2008) zu pflegen. Die Verbindung von westlichem Aussehen mit liberalen, und islamischem Aussehen mit konservativen Einstellungen ist also nicht nur nicht zutreffend: Das Spektrum sozialer Einstellungen ist weitaus komplexer, als durch zwei unterschiedliche Arten des Auftretens („islamisch“ oder „westlich“) abgebildet werden kann. Dennoch dient das äußere Auftreten sehr wohl als Kriterium für soziale Distinktion und wird sowohl von den Trägern als auch von der Umgebung als solches gedeutet. Die daraus erwachsenden Konflikte stehen jedoch mehr mit dem sozialen Status einzelner Gruppen oder Individuen in Verbindung, als mit bestimmten Ideologien oder Einstellungen (siehe dazu Kapitel 6). Darüber hinaus stellen westlich orientierte Konsumpraktiken nur insoweit eine Herausforderung für herrschende Strukturen dar, als der iranische Staat Luxus- und Prestigekonsum in Anlehnung an westliche Modelle untersagt. Die Hinwendung zu Reichtum und gegebenenfalls auch Luxus innerhalb eines islamischen Weltbildes ist demgegenüber besser akzeptiert. Diese explizite Ablehnung eines westlich orientierten Konsumstils hat, wie ich in den vorangegangen Abschnitten immer wieder aufgezeigt habe, historische Wurzeln und steht mit einer autoritären Politik der Distinktion in Zusammenhang, die die iranische Gesellschaft im 20. Jahrhundert geprägt hat. Das islamische Regime bezieht eine seiner Hauptlegitimationsquellen aus der Opposition gegen diese Vergangenheit. Die Darstellung von westlichen Praktiken des Konsums als subversiv – als Verkörperung eines Widerstandes gegen gesellschaftliche Unterdrückung – stellt daher eine einseitige

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Parteinahme der westlichen Öffentlichkeit im Sinne dieser Vergangenheit dar. Diese Art der Parteinahme ist vor allem deshalb problematisch, weil sie tatsächliche Formen der Widerständigkeit gegen hegemoniale Strukturen in der iranischen Gesellschaft, wie solche, die sich eines islamischen Diskurses bedienen oder kapitalistischen Strukturen und der Kommerzialisierung der Gesellschaft kritisch gegenüberstehen, nahezu vollständig ausspart. Verschiedene Wissenschaftler (z.B. Khosravi 2008, Mather et al. 2007) haben beispielsweise darauf hingewiesen, dass westliche Journalisten im Iran iranische Jugendliche oder Demonstranten wiederholt als Oppositionelle gegenüber dem Regime darstellten, obwohl deren Anliegen anders gelagert waren.6 Solche Darstellungen fördern in der westlichen Öffentlichkeit eine Wahrnehmung des Iran anhand von Binaritäten. Aufgrund ihrer Ästhetik von Freiheit und Rebellion verfügen sie über eine starke Wirkkraft als soziale Imaginationen und können so, indem sie vor allem über die modernen Medien in den Iran gelangen, zu einer Polarisierung verschiedener Gruppen innerhalb der iranischen Gesellschaft beitragen. 4.2.1 Jenseits des Spektakels: Die Politik der Indistinktion Innerhalb der oben beschriebenen Auseinandersetzungen im iranischen Alltag ist die Durchschnittsbevölkerung (die ich hier in dem Sinn als „durchschnittlich“ bezeichne, da es sich um eine Mehrheit handelt, die weder besonders politisch interessiert noch aktiv ist), vorrangig daran interessiert, ein „gutes Leben“ zu führen. Eine 27-jährige Studentin äußerte mir gegenüber dazu folgende Meinung: „Die Regierung... Die Art, wie sie kontrolliert, sie drangsaliert die Menschen nicht mehr wegen persönlichen Dingen, individuellen Dingen. Sie beschränkt nur das politische System, legt den Leuten in der Politik Beschränkungen auf, aber nicht den normalen Leuten auf der Straße. Deswegen sind die meisten Leute glücklich wie es

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Khosravi (2008) beschreibt, wie Jugendliche im Golestan-Einkaufszentrum ohne ihr Wissen von französischen Journalisten als Widerständige gegen das iranische Regime portraitiert wurden. Die entsprechende Publikation erschien iranweit. Mather et al. (2007) beschreiben eine ähnliche Situation während eines Gewerkschafts-Streiks.

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ist, nicht jeder sucht politische Freiheit, es ist nur die Elite, die politische Freiheit sucht. Die Leute auf der Straße sind glücklich, wenn sie ihre Satellitenschüsseln haben und auf ihre Parties gehen können und ihren eigenen Geschäften nachgehen können.“ (Tabea)

Abgesehen von einer der Konsumkultur zugeneigten Bevölkerungsmehrheit sind im Iran auch alternative Selbst- und Lebensentwürfe weit verbreitet, vor allem in urbanen intellektuellen und künstlerischen Gruppen. Für die Diskussion dieser informellen Gruppen im Iran beziehe ich mich auf Alexei Yurchaks Konzept der „politics of indistinction“ (Yurchak 2008), der damit eine Gruppe junger Künstler im Russland der 1980er Jahre beschrieben hat, die durch explizit unpolitische Einstellungen eine Subjektivität schufen, anhand derer eine Zuordnung zu den vom sowjetischen Regime formulierten Kategorien von „pro-“ oder „anti-“ Regime unmöglich wurde. Durch diese Strategie verweigerten sie dem sowjetischen Staat, sie einordnen und damit auch, sie kontrollieren zu können. Im Iran handelt es sich dabei eher um informelle Zusammenschlüsse junger Menschen im urbanen Raum, die dadurch charakterisiert sind, dass sie an allem Politischen explizit uninteressiert sind und sich in erster Linie von allen anderen Bürgern der Islamischen Republik, seien diese für oder gegen das Regime, abgrenzen wollen. Sie können Angehörige von Subkulturen wie z.B. Underground-Musiker oder Künstler sein, sind jedoch nicht auf diese Form der Organisation begrenzt, da sie nicht notwendigerweise Verbindlichkeiten oder die Festlegung in eine bestimmte Richtung pflegen. Darüber hinaus lehnen sie nicht nur den Staat, sondern auch die Kulturindustrie weitgehend ab und können daher nicht als oppositionelle Subkultur im klassischen Sinn angesehen werden; ich bezeichne sie im Folgenden daher eher als „informelle Gruppen“. Was sie charakterisiert, ist, dass sie es unwichtig finden, ob die ideologischen Inhalte der Regierung wahr oder falsch sind. Sie beschäftigen sich stattdessen mit Interessen, Ideen und Hobbies, die dieser Ideologie weder entgegenstehen, noch sie unterstützen. Metaphern, die dabei oft eine Rolle spielen, basieren zum Teil auf mystisch-spirituellen Quellen wie dem Sufismus oder dem Zoroastrismus, oder kreisen um existenzielle Fragen der Identität. Innerhalb dieses Trends sind politische Fragen irrelevant, man konzentriert sich dafür auf „tiefere, universelle Wahrheiten“ (vgl. Yurchak 2008), auf Probleme und Fragen, die jenseits bestimmter sozialer Umstände

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und historischer Zeiträume betrachtet werden, oft auch im Zusammenhang mit anderen historischen Epochen und Orten als den gegenwärtigen. Viele Angehörige dieser informellen Gruppen gehen kreativen Tätigkeiten nach, die mit unterbezahlten Jobs einhergehen, die das Wichtigste zum Leben einbringen und den Anforderungen des Staates nach Beschäftigung gerecht werden. Dieses Leben ermöglicht ihnen viel Freizeit und eine minimale politische Auseinandersetzung mit dem Staat. Diese Art der Verweigerung eines politischen Selbst stellt jedoch durchaus eine politische Handlung dar: In einer Situation, in der der Staat bis in kleine Details des Alltags die Kontrolle darüber hat, welches Verhalten und welche Handlungen legal und politisch korrekt sind, besteht diese alternative Verhaltensweise paradoxerweise darin, zu verweigern, sich überhaupt in politischen Begriffen zu definieren. Yurchak schreibt dazu: „Instead of challenging the state by occupying an oppositional subject position, these people carved out a subject position that the state could not recognize in ,political‘ terms and therefore could not easily dene, understand, and control. This was a challenge to the state’s sovereign powers of dening and imposing political subjectivities. […] This peculiar form of subversive politics is different from what is usually described as the politics of opposition or resistance and challenges us to broaden our understandings of what politics is, what forms it may take, what effects it may produce, and in what terms we must describe it.“ (Yurchak 2008, S. 200/201)

Während diese jungen Menschen zwar kaum finanziellen Komfort und auch sonst keine Privilegien, die der Staat anderen Gruppen zugesteht, genießen, verfügen sie jedoch über legale Arbeit und Papiere. Obwohl sie nicht an der Verteilung subversiven politischen Materials oder Ähnlichem beteiligt sind, unterminieren sie die symbolische Ordnung des Staates von innen heraus: sie entziehen sich seiner Kontrolle, ohne dass sie den Staat in seinen eigenen politischen Begrifflichkeiten angreifen. Yurchak weist darauf hin, dass das Konzept politischen Widerstandes (als eine Reaktion auf die Macht, der er sich entgegenstellt) für diese alternative Form subversiver Politik unpassend ist, denn sie übt keine direkte moralische Kritik und konzentriert sich indes viel eher auf eine Ästhetik des Existenziellen im Alltag. Ich habe in diesem Kapitel Beobachtungen versammelt, die deutlich machen, dass sich die vielfältigen Formen von Komplizenschaft und Wider-

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ständigkeit in einer Gesellschaft nicht auf äußerliche Erscheinungen reduzieren lassen. Mit Saba Mahmood (2005) wurde vorgeschlagen, religiöse Praktiken als ein Mittel der Selbstbestimmung zu verstehen, während die Konsumgesellschaft im iranischen Kontext auch für einen Lebensstil stehen kann, der ein hegemoniales Bewusstsein ausdrückt. Im Iran hat sich der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und westlichen Konsumpraktiken seit der Revolution zwar stark verändert, mit bestimmten Waren verbundene Vorstellungen bilden jedoch weiterhin einen Teil des gesellschaftlich Imaginären und werden zur Aushandlung gesellschaftlicher Machtkämpfe eingesetzt. In diesem Kapitel wurden einige Aspekte dieses in den letzten 30 Jahren erfolgten Transformationsprozesses sowie die Entstehung neuer Bedeutungsebenen in Bezug auf ein „westliches“ oder „islamisches“ Auftreten ausgeführt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ästhetisierung eines an der westlichen Konsumkultur orientierten Auftretens nicht nur auf einem konstruierten Zusammenhang zwischen dem Westen und vermeintlich liberalen und fortschrittlichen Einstellungen basiert, sondern vor allem auch die auf gravierenden kulturellen und ökonomischen Differenzen beruhenden Konflikte in der iranischen Gesellschaft verschleiert.

5. „Westlicher“ und „islamischer“ Konsum

Als ich 2008 zum ersten Mal in den Iran reiste, war ich überrascht, dass Konsum im öffentlichen Leben Teherans eine so große Rolle zu spielen schien: Die größeren Plätze der Stadt waren von jungen Frauen und Männern bevölkert, die eifrig Geschäfte aufsuchten. Es erstaunte mich, dass die Menschen scheinbar so unbeschwert einkaufen gingen wie ich es von europäischen oder US-amerikanischen Städten kannte. Als ich das Land dann besser kennengelernt hatte, begann ich mich zu fragen, wie viel die Iraner, angesichts der hohen Inflation und vergleichsweise niedrigen Einkommen überhaupt konsumieren können. Dieses Kapitel geht anhand dieser Beobachtungen der Frage nach, inwieweit an der Konsumkultur Prozesse der Demokratisierung und Hierarchisierung in der iranischen Gesellschaft abgelesen werden können. Die Dynamiken, die sich im Iran seit der Islamischen Revolution entfaltet haben – die Neuordnung der Gesellschaft, die Entmachtung und Neueinsetzung von Eliten, die Unsicherheit in Bezug auf den eigenen Platz des Individuums im neuen System – sind im System des Konsums zu erkennen, weil der Konsum dazu beiträgt, soziale Identitäten auszudrücken und zu schaffen. Dieser Eigenschaft des Konsums, Hierarchien zu schaffen und einzuebnen, nähere ich mich zu Beginn dieses Kapitels mit einer historischen Darstellung der Entwicklung moderner Konsumpraktiken in Europa an, um dann zu erörtern, inwieweit sich diese Entwicklung im Iran widerspiegelt. Der Abschnitt über die Zentren des Konsums im Iran stellt das die Struktur der Bazar-Ökonomie (Geertz 1978) vor, die mit den modernen urbanen Einkaufszentren im Iran kontrastiert wird.

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Konsum ist ein breites Thema, das in verschiedenen institutionellen Bereichen, sowie zwischen Öffentlichem und Privatem angesiedelt ist. Die meisten soziologischen Untersuchungen des Konsums beziehen sich entweder auf strukturelle Veränderungen in Ökonomie, Infrastruktur und Gesellschaft, die ein System von Massenkonsum hervorgebracht haben, oder auf individuelle Veränderungen in Werten, Einstellungen und Verhalten, die das erschaffen haben, was wir als Konsumkultur bezeichnen. Durch die Überschneidung von individuellen und strukturellen Elementen kann anhand des Konsums genau diese Wechselbeziehung untersucht werden: „Consumer culture is produced, as well, by agents who work directly in the corporate economy as managers, marketers, and advertising ,creatives‘; by independent ,brokers‘ who analyze and criticize consumer products; and by dissidents who initiate alternative responses to the mass consumption system. This broad framework allows us to consider consumption as an institutional eld, i.e., a set of interconnected economic and cultural institutions centered on the production of commodities for individual demand.“ (Zukin u. Maguire 2004, S. 175)

In Bezug auf die Entstehung des Massenkonsums seit Ende des 19. Jahrhunderts belegen wissenschaftliche Untersuchungen die schrittweise Entwicklung eines institutionellen Feldes aus Produkten, Texten und Orten des Konsums, die darauf abzielen, die Rolle der Konsumenten zu einem einflussreichen gesellschaftlichen Vorbild zu machen. Soweit man aus diesen Untersuchungen schließen kann, wurde „mass consumption (was) produced by manipulating consumers’ desires to be well dressed, good looking, and beloved; to surround themselves with visions of beauty; and to surrender common sense and sobriety to individual dreams of selfenhancement.“ (Ebd., S. 176)

Indem standardisierte Konsumprodukte für alle sichtbar angeboten wurden, haben Warenhäuser das Begehren demokratisiert und die Menschen gleichzeitig zum Kaufen animiert. Durch die zunehmende Kapazität der Massenproduktion wurden Firmen dazu bewogen, sich der Werbung zu bedienen, um ihre Waren noch besser zu verkaufen. Die Ausweitung von Konsummöglichkeiten reflektiert jedoch auch demographische Veränderungen, neue soziale und geographische Mobilität und die zunehmende Attraktivität

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von standardisierten Waren als Banner für sowohl gesellschaftliche Demokratisierung als auch individuellen sozialen Status. Der Attraktivität des Massenkonsums liegt also auch das Potenzial einer (vermeintlichen) Neutralisierung sozialer Differenzen zugrunde. Aufgrund dieser Bedeutungsoffenheit ist die Konsumkultur zu einer Schaltstelle geworden, an der Bedeutungen ausgehandelt und neu definiert werden und an der eine wechselseitige Beziehung zwischen den Praktiken der Konsumenten und der Marketingindustrie besteht. Zu Beginn dieses Kapitels widme ich mich zwei Aspekten des Massenkonsums, die exemplarisch für die tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen in Europa sind, welche mit den Anfängen des modernen Konsums einhergingen. Der erste Aspekt behandelt Konsumpraktiken am englischen Hof ab dem 16. Jahrhundert als ein Mittel des Regierens und die soziale Bedeutung von Statussymbolen. Der zweite Aspekt beschäftigt sich mit der Entwicklung imaginativer Welten am Beispiel der Weltausstellungen im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Diese beiden Entwicklungen erscheinen mir relevant, weil dadurch die Gleichzeitigkeit von Prozessen der Demokratisierung und der Hierarchisierung, die beide dem Konsum innewohnen, gut veranschaulicht werden können. Auf dieser Grundlage werden dann die Unterschiede zu der Situation im Iran analysiert.

5.1 K ONSUM

ALS SOZIALES

Z EICHENSYSTEM

Grant McCracken sieht in den Anfängen des modernen Konsums ein Mittel, das der englische Hof zur Regulierung und Festigung seiner Macht einsetzte und das sich von dort aus auf die gesamte englische Gesellschaft ausbreitete. Er setzt den Beginn des Konsum-Booms im England des 16. Jahrhunderts an, wo die Politik Elizabeths I. – inspiriert durch die Renaissance-Höfe Italiens – ihren Hof zu einem theatralischen Spektakel machen sollte. Während sich ihr Königreich innerhalb und außerhalb schweren Problemen gegenüber sah, nutzte Elizabeth die „expressive hegemonic power of things that has been used by English rulers ever since.“ (McCracken 1990, S.11)

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Konsumobjekte, besonders im Kontext des zeremoniellen Hofes dienten dazu, die Legitimität der Herrschaft des Königs oder der Königin sichtbar zu machen. Der hoch aufgeladene Symbolismus des Hofes, die Etikette und Kleidung wurden zu einem Instrument des Regierens, eine Möglichkeit für politische Führung und Macht. McCracken beschreibt damit eine neue Art der Differenzierung bzw. Diskriminierung: Elizabeth war nur jenen wohlwollend gesinnt, die ihre Loyalität und Ehrerbietung durch aktive Teilnahme an der zeremoniellen Ordnung ihres Hofes zeigten. Die Kosten waren für die Adeligen ruinös und erhöhten deren Abhängigkeit von der erforderlichen Warenwelt und von ihrer Königin. Ein mit der oben beschriebenen Situation in Zusammenhang stehender Faktor für den Boom der Konsumgesellschaft zu dieser Zeit war der soziale Wettbewerb, der sich unter den Adeligen auszubreiten begann. Mehr und mehr aus ihren lokalen Einflussbereichen an den Hof in London abgezogen, fanden sich die adeligen Herren in der Gesellschaft vieler Gleichgestellter wieder. Diese neue Gruppe der Status-Suchenden sorgte sich um ihre Ehre, ihren sozialen Stand und ihre Beziehung zum Monarchen. Die Adeligen begannen daher, mehr für sich selbst auszugeben als für die Gemeinschaft, der sie vorstanden (McCracken 1990, S. 12). Die adeligen Gutsherren, die – nunmehr unter dem urbanen und kosmopolitischen Einfluss bei Hof – dem neuen Trend zu entsprechen suchten, nahmen damit eine Kluft zwischen ihnen und den lokalen Gemeinden auf dem Land in Kauf, was in der Folge zur Veränderung ihrer Beziehungsstruktur führte. Sowohl die Beschaffenheit von Konsumgütern als auch der Kaufentscheidungsprozess veränderte sich, denn Waren wurden für den sofortigen Gebrauch im Status-Wettbewerb benötigt und nicht mehr für den Langzeitgebrauch durch die Familie. Auf diese Weise entstand eine Bedeutungsverschiebung von der „Patina“, also der Wertsteigerung eines Gegenstandes über Generationen hinweg, zur „Mode“. Auch in England durchlief die gesellschaftliche Bedeutung des Konsum und im Besonderen des Luxuskonsums während des 18. und 19. Jahrhunderts eine grundlegende Veränderung. Neil McKendrick beschreibt, wie der Begriff des Konsums im 18. Jahrhundert aus politischer und ökonomischer Perspektive noch einen Verlust darstellte, ein Abweichen von der sozialen Ordnung statt ihrer Reproduktion, geschweige denn ihrer Erweiterung. Das merkantilistische Denken, das bis Ende des 17. Jahrhunderts die europäi-

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sche Wirtschaft dominierte, definierte den Reichtum eines Landes anhand der „Goldbarren in den Truhen des Monarchen.“ (Slater 2006, S. 176) Das Luxusstreben wurde als gleichbedeutend mit der verstärkten Einfuhr exotischer Raritäten angesehen und drohte damit die nationale Handelsbilanz aus dem Gleichgewicht bringen. Die zunehmende Nachfrage an solchen Waren galt als ein sich aus dem Bevölkerungswachstum ergebendes Übel. Die Entstehung neuer Verbrauchergewohnheiten war demnach ein „unerhörter, undenkbarer Gedanke“ (McKendrick 1997, S.90). Die Auffassung, dass ungewohnter Wohlstand Schwäche, Dekadenz und Verweichlichung nach sich zieht und sozialer Nachahmungsdrang eine Bedrohung des sozialen und politischen Status quo darstellt, war weit verbreitet. Klassenspezifische Moralvorstellungen wurden mit der fortschreitenden Demokratisierung des Konsums konfrontiert: Die Gegner der Ausweitung des Gütermarktes verwendeten Metaphern von „einem Fieber, einer Krankheit, einer Infektion, einer heimtückischen Seuche, einer Epidemie – ja, einer Pest.“ (Ebd., S.88) In den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurde Luxus vor allem mit Modewahn und verschwenderischem Geldausgeben assoziiert. Derartige Ausgaben waren verpönt, da sie allein aus dem Grund der Aufrechterhaltung eines sozialen Status getätigt wurden, der jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die diese Ausgaben tätigten, vermeintlich gar nicht zustand. Die Neureichen und alle, die sozial höher stehende Kreise nachahmten, wurden der Extravaganz und der Aufmüpfigkeit bezichtigt – Letztere galt als die gefährlichste Begleiterscheinung des Luxus. Der Luxuskonsum war es jedoch, der untere Gesellschaftsschichten nach oben ließ, in Ränge, die ihnen die Mehrheit der etablierten Gesellschaft nicht zubilligte. Die Veränderungen in diesem Denken, die in England Ende des 17. Jahrhunderts einsetzten, führt McKendrick auf die plötzliche Erschwinglichkeit von Waren (v.a. Stoffe) aus Indien zurück, durch die die Vorteile eines größeren Warenkonsums für die Wirtschaft und die Nation offensichtlich wurden. Nachahmungsdrang und Klassenrivalitäten fanden jetzt klare Formulierungen als wirtschaftlicher Nutzen: Neid sei die treibende Kraft der Wirtschaft; es hieß: Auch wenn sich ein kleiner Mann aus Eitelkeit in Nachahmung der Reichen in den Bankrott wirtschafte, habe er zum Wohl des Landes beigetragen (ebd., S. 91). Geringe Abstände zwischen sozialen Schichten, vertikale Mobilitätsorientierung, durch symbolische Imitation forcierter Konsum und durch sozia-

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le Rivalitäten diktierte Mode wurden zunehmend als natürliche Bestandteile regulärer ökonomischer Prozesse angesehen. Damit ging die Erkenntnis einher, dass nicht alleine die passive Nachfrage nach Konsumgütern den Verkauf stimulieren würde, sondern dass auch aktive Maßnahmen wie Werbung, Marketing und die Einrichtung effizienter Vertriebsstrukturen dafür notwendig waren. In Zusammenhang mit diesen Entwicklungen steht auch die Bedeutung höherer Löhne, die der Bevölkerung erlauben sollten, die Produktivität durch steigende Ausgaben anzukurbeln.1 Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Zweckmäßigkeit des Güterkonsums (doctrine of utility of beneficial luxury) die Zweckmäßigkeit der Armut (doctrine of utility of poverty) abgelöst: Es galt als grausam und ungerecht, Menschen über Generationen hinweg zur Armut zu verurteilen. Zudem widerspreche dies auch gänzlich den Leitsätzen einer sich auf Handel stützenden Nation (McKendrick 1985, S. 97). Der Ökonom Adam Smith (17231790) etablierte den Konsum schließlich als übergeordneten Zweck der Produktion. Diese Veränderungen brachten eine Situation der Status-Instabilität hervor, die von Ängsten vor allem der gehobenen Klassen, ihre soziale Position zu verlieren, begleitet war. Aber nicht nur der Status der Personen hatte sich verändert, auch die Bedeutungen, mittels derer man den Status festlegen und identifizieren konnte, begannen sich zu verändern: „in the old world did those appearances have reliable meanings, were they fixed items in a fixed code.“ (Slater 2006, S. 30) Demgegenüber wurden sowohl die Struktur des Status als auch die dafür relevanten Bedeutungsstrukturen nun flexibel und verhandelbar. Die Grenzen, die das bürgerliche Leben eingerahmt hatten, wurden aufgeweicht, und statt sich nur an einer Gruppe in der Gesellschaft zu orientieren, begannen sich die Menschen im Sinne horizontaler Konkurrenz, vermehrt aneinander zu messen und zu orientieren. Durch die Konsumkultur können Gesellschaften sowohl Wandlung erfahren als auch aushalten, denn Waren bilden auch den dynamischen Charakter der modernen Welt ab: In Gesellschaften, die starkem und fortwährendem sozialem Wandel unterworfen sind, dienen Waren als ein Medium,

1

Die gesellschaftlichen Kämpfe für bessere Arbeits- und Lohnverhältnisse und die „schädlichen Folgen der Güterproduktion“ lokalisiert McKendrick im 19. Jahrhundert, dem die Idee der Armut ebenso zentral gewesen sei, wie dem 18. Jahrhundert die Idee des Luxus (McKendrick 1997, S. 86).

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anhand dessen kulturelle Bedeutungen ausgedrückt und reflektiert werden können. Sie unterstützen damit sowohl die Veränderung als auch die Aufrechterhaltung dieser Bedeutungen. McCracken zufolge drückt sich die Konkretisierung der Kultur in Konsumobjekten aus, die als eine Art „Ballast“ dem kulturellen Wandel stabilisierend entgegenwirken (McCracken 1990, S. 131). In diesem Sinn sei die Konsumrevolution2 auch als kulturelle Ressource zu verstehen, die notwendig war, um mit der sozialen Entwurzelung, die die industrielle Revolution ausgelöst hatte, fertig zu werden. Durch die wachsende Instabilität und Veränderung in der Gesellschaft, die zu einem gewissen Maß auch auf die Konsumrevolution selbst zurückzuführen war, wurde es notwendig, die kulturell-konstitutiven Kräfte des Konsums zu gebrauchen, um sich auszudrücken oder zu positionieren. Warenhäuser waren dabei die Agenten der Verbreitung, sie dienten als große Schulungsräume, in denen die Bürger des 19. Jahrhunderts die Künste und Fertigkeiten ihrer neuen Rolle als Konsumenten lernen konnten. 5.1.1 Demokratisierung von Traumwelten Rosalind Williams (1991) vertritt die Ansicht, dass die Konsumrevolution in Frankreich im 19. Jahrhundert Teil eines Zivilisationsprozesses war, durch den sich ein Übergang von einem unmittelbaren Ausdruck persönlicher Gefühle zum Ausdruck des Inneren durch unpersönliche Objekte vollzogen hat. Williams steht damit in Opposition zu jenen Theorien, die Kommerzialisierung mit der Epoche der Romantik und der Verwirklichung des Selbst aufgrund individualisierter Wahlmöglichkeiten verknüpfen. Die romantische Schule sah den Menschen als ein unendliches Reservoir an Möglichkeiten, die „natürlich“ realisiert werden konnten, wenn die unterdrückende Ordnung der Gesellschaft abgeschüttelt würde. Anstelle der Einhaltung von Regeln und Normen, die als einschränkend kritisiert wurden, sollte das Individuum sich durch den Ausdruck von Gefühlen und

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Der Begriff „Konsumrevolution“ bezeichnet eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderung, „die sehr viel direkter dem Allgemeinwohl, dem Fortschritt und dem Individuum dient, als die oft mit Gewalt, Schmerz und Zwang verbundenen politischen und institutionell-rechtlichen Revolutionen.“ (Siegrist 1997, S. 42)

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durch intensive Erfahrungen verwirklichen. Der Konsum sollte also neben der Möglichkeit sozialer Mobilität vor allem auch der Verbesserung des Selbst dienen. Williams stellt hingegen – in Anlehnung an Norbert Elias (1978) – einen Zusammenhang zwischen vermehrter Selbstkontrolle und der Komplexität und Verbreitung von Konsumgütern her. Diese Entwicklung lässt sich anhand der großen Messen und Weltausstellungen gut veranschaulichen: Nachdem diese zunächst etabliert worden waren, um die Menschen über die Dinge und ihren Gebrauch zu unterrichten, verschob sich der Hauptfokus allmählich immer mehr auf den Verkauf. Die Pariser Weltausstellung von 1889 war die erste, auf der die ausgestellten Objekte mit Preisschildern versehen waren. Die Fusion von Traumwelten und konkreten Objekten, die hier stattfand, war Williams zufolge der entscheidende Moment in der Veränderung des kollektiven Imaginären der französischen Gesellschaft und breitete sich von da aus auf andere Gesellschaften aus. Die Verschiebung gesellschaftlicher Wünsche und Ideale auf eine imaginative Ebene geschieht häufig, wenn die gesellschaftliche Realität für diese Ideale und Wünsche undurchlässig ist. Gesellschaftlichen Konflikten, die aus dieser Diskrepanz resultieren, kann auf diese Weise aus dem Weg gegangen werden. Konsum ist ein Mittel des Zugangs zu diesen Universen – beim Einkaufen erlauben die Waren den Käufern, an ihren Bedeutungen teilzuhaben. Obwohl sie die Bedeutung der imaginierten Ideale zwar nicht ins reale Leben bringen können, sind die Waren jedoch Brücken dazu oder der Beweis, dass es dieses Leben gibt und dass das Individuum es beanspruchen kann. Williams stellt fest, dass Träume jedoch ihr befreiendes Potenzial als Alternative zur Realität verlieren, wenn diese Fantasien eine konkrete Form annehmen und die Maskerade zu einem objektiven Fakt wird. Für Williams ist die Weltausstellung von 1900 in Paris exemplarisch für diese neue Verbindung zwischen imaginativen und materiellen Wünschen, zwischen Traum und Kommerz, zwischen kollektivem Ereignis und ökonomischer Tatsache. Die Präsentation neuer Technologien und der Kontakt mit verschiedenen Ländern auf den Weltausstellungen erlaubte Menschen, die es sich zuvor niemals hätten leisten können, zu verreisen und damit auch ihre Neugier zu befriedigen. Dadurch wurden diese Ausstellungen auch zu einer Welle der Demokratisierung, indem sie den Massen wertvolle Genüsse erlaubten, die bis dahin nur einer Minderheit vorbehalten gewesen waren.

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Aus diesen Betrachtungen geht hervor, dass die Status-Mobilität und die starken gesellschaftlichen Widerstände, mit denen diese einherging, durch konkrete Konsumpraktiken Ausdruck fanden. Auf diese strukturelle und symbolische Bedeutung des Konsums komme ich nun im iranischen Kontext zu sprechen.

5.2 Z ENTREN

DES

K ONSUMS

IM I RAN

In den 1960er und 70er Jahren wurden durch die Orientierung an europäischen und US-amerikanischen Modellen im Iran neue Institutionen, Waren und Dienstleistungen geschaffen. Dies geschah vor allem mit Hilfe von Öleinnahmen, die wie ein Geschenk vom Himmel in den Schoß des Staates fielen, der diese relativ willkürlich verteilte. Aber das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft veränderte sich dadurch kaum. Westliche Mode- und Konsumpraktiken durchdrangen die iranische Gesellschaft zwar zunehmend auf einer Ebene der Massen, in einem politisch autoritären Klima provozierten sie jedoch unter national und konservativ eingestellten Gruppen einen Gegendiskurs, der eine autochtone oder einheimische Lebensführung befürwortete. Ein westlich orientierter Stil wies auf einen gehobenen sozioökonomischen Hintergrund, auf Prestige und Fortschrittlichkeit hin. Traditionell orientierte Gruppen der iranischen Gesellschaft beklagten demgegenüber den Ausverkauf einheimischer Werte zugunsten einer oberflächlichen Kopie gesellschaftlichen Wohlstandes, unter der ein gravierendes soziales Ungleichgewicht brodelte. Diese Formen der Distinktion und sozialen Ungleichheit sollten nach der Islamischen Revolution unter anderen auch durch die Homogenisierung des äußeren Auftretens (vor allem durch die neue Kleiderordnung) neutralisiert werden. Von diesem Versuch ist heute kaum noch etwas zu erkennen, denn selbst in den vorgeschriebenen Bekleidungsformen gibt es mittlerweile so viele Unterscheidungen (Form, Schnitt, Farbe und Kombination von Mantel und Schal, oder schwarzer Tschador), dass nicht mehr von einer Vereinheitlichung gesprochen werden kann. Der flexible und dynamische Charakter, der den sozialen Status im Iran bis heute kennzeichnet, kann auf die tiefgreifende Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und die Entwurzelung von Eliten seit der Revolution zurückgeführt werden:

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„In the post-revolutionary period, […] at any given moment an individual’s possessions were subject to expropriation by the government and some para-governmental organizations. The situation was so unstable that people could not show off their wealth, for instance, by using expensive cars. It was a common rumor that such cars belonged to members of SAVAK, the shah’s intelligence organization.“ (Saeidi 2004, S. 491)

Auf diese Instabilität ist zurückzuführen, dass äußere Merkmale wie Kleidung oder Accessoires, die den Status ihres Trägers oder ihrer Trägerin anzeigen, im Iran heute immer noch bzw. wieder von besonderer Bedeutung sind. Auch der Ort, an dem man Einkäufe tätigt, stellt dabei ein Merkmal der Distinktion dar: Farhad, ein ehemaliger Mitarbeiter der Regierung Mohammad Reza Schahs, antwortete auf meine Frage, welche sozialen Gruppen im Bazar einkaufen gingen, dass dies vor allem die Mittelschicht sei. Die Oberschicht kaufe nicht im Bazar ein – das wäre schon vor der Revolution so gewesen. Nassim, eine weitere Interviewpartnerin, bestätigte dies, indem sie sagte, dass Menschen aus der Oberschicht nur zu bestimmten Anlässen im Bazar einkaufen würden, etwa für Großeinkäufe oder für Hochzeiten. Sie würden die modernen, mehrstöckigen Einkaufszentren bevorzugen, die es in Teheran seit den 1990er Jahren gibt. Solche Einkaufszentren befinden sich in verschiedenen Teilen der Stadt, vor allem die im wohlhabenden Norden sind jedoch besonders luxuriös. Diese beiden unterschiedlichen Orte des Konsums, den Bazar und das Einkaufszentrum, werde ich nun in ihrer Rolle als Vermittler von Modernität und Tradition einer genaueren Betrachtung unterziehen. 5.2.1 Der Bazar Der Bazar hat mit seinen vielschichtigen Verbindungen zu den Regierenden als auch zur Bevölkerung seit Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere tiefgreifende Veränderungen erfahren. Ungeachtet dessen stellt er immer noch einen ökonomischen Knotenpunkt dar, der vor allem seit der Islamischen Revolution auch zunehmend politisiert wurde. Historisch gesehen ist das Bazarsystem der älteste und größte kommerzielle Sektor und das größte Handels- und Finanznetzwerk des Landes. Als die Strukturen des Bazars sich Ende des 19. Jahrhunderts ausdehnten, spal-

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teten sich einige der Geschäftsleute aus den oberen Schichten, die Teil des traditionellen kommerziellen Systems waren, ab und verbanden sich mit der vom Bazar separaten Bourgeoisie. Der Begriff „Bazari“ umfasst heute die Handelstreibenden innerhalb des Bazars, also soziale und professionelle Schichten wie die Gilden, Kunsthandwerker, kleine Ladenbesitzer, Großhändler, Geldwechsler und Aktienhändler, sowie einige große Geschäftsleute, die Teil des traditionellen Bazarsystems geblieben sind (Mozaffari 1991, S. 378). Der Teheraner Bazar befindet sich, wie es für die meisten Bazare charakteristisch ist, im traditionellen Zentrum der Stadt, eine große Moschee ist in unmittelbarer Nähe, genauso wie wichtige Ministerien und Regierungsgebäude. Diese geographische Lage des Bazars unterstreicht seine spezielle Position und Autonomie. Die Beziehungen zwischen dem Bazar und der Moschee waren und sind „close, constant, and organic. Never in competition, they cooperate and coordinate their common actions.“ (Ebd., S. 379) Die Verbindung zwischen dem religiösen und dem ökonomischen Zentrum in Form der Moschee und des Bazars ist bis heute in der architektonischen Anordnung und Nähe dieser Bauten zueinander zu erkennen. Bereits vor der Revolution garantierten die Bazaris durch finanzielle Beiträge an die Geistlichkeit deren finanzielle Unabhängigkeit vom Staat. Im Gegenzug interpretierten die Geistlichen islamische Gesetze in Konformität mit den Interessen des Bazars: Privates Eigentum wurde vom Klerus beispielsweise als unantastbar und die staatliche Administration als ungerecht deklariert, und so konnten die Bazaris der Zahlung von Steuern und Beiträgen entgehen. Mohammad Reza Pahlavi sah es jedoch als Teil seines Modernisierungsprogrammes, den Bazar stillzulegen. So schreibt er in seiner Autobiographie: „I could not stop building supermarkets. I wanted a modern country. Moving against the bazaars was typical of the political and social risks I had to take in my drive to modernization.“ (Zitiert in Keshavarzian 2007, S. 134) Nachdem der Schah 1953 seine Macht wiedererlangt hatte3, sollte jegliche politische Opposition endgültig ausgeschaltet werden. Eine der ersten

3

Für die politischen Umwälzungen, die im Iran 1953/1954 stattfanden, siehe Abschnitt 2.1.

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Maßnahmen diesbezüglich war, den Bazar in Teheran abzureißen. Starke Proteste in verschiedenen Stadtteilen verhinderten dies jedoch. Die Reformen im Zuge der Weißen Revolution, die daraufhin folgten, führten dazu, dass das Bruttosozialprodukt zwischen 1963 und 1968 eine Wachstumsrate von 9,8% aufwies.4 Tatsächlich ist die industrielle Landschaft außerhalb des Ölsektors im Iran heute zum Großteil auf die Errungenschaften im Zuge der Weißen Revolution zurückzuführen. Diese Jahre repräsentieren einen Boom des Privatsektors, dessen Anteile an der industriellen Produktion Mitte der 1970er Jahre 75% erreicht hatten (Mazaheri 2008, S. 589). Die ganze Zeit über blieb der iranische Staat jedoch Eigentümer von rund drei Vierteln der gesamten Bankeinlagen, während der Privatsektor nur über einen Anteil von einem Prozent verfügte. Dadurch hatte der Staat Kontrolle über die Geldmittel und konnte alleine bestimmen, wie und an wen Kredite vergeben werden sollten. Diese Struktur eines vom Staat wirtschaftlich bevorzugten aber politisch schwachen Privatsektors gilt als bezeichnend für den Iran der vorrevolutionären Zeit. Historisch wurde der Handel im Bazar durch Bräuche und das Gesetz der Schari’ah bestimmt. Reza Schah führte jedoch in seinem Bemühen, den Bazar zu säkularisieren, einen modernen Handel und eine Reihe von Gesetzen ein, die Kredite und Steuern regulieren sollten. Diese Maßnahmen, die von seinem Sohn Mohammad Reza Schah fortgeführt wurden, konnten nur begrenzt auf den Bazar angewandt werden. Der Bazar tat alles, um diesem Rechtssystem zu entgehen; nicht zuletzt auch, weil die Bazaris erkannten, dass sie aus diesen neuen Strukturen ausgeschlossen waren: Die ökonomischen Aktivitäten von ungefähr 500.000 Unternehmern und Arbeitern von hauptsächlich kleinen und mittleren Betrieben, die am heimischen Markt tätig waren, wurden von den Reformen marginalisiert, weil sie als eine zu informelle Gruppe angesehen wurden, um in der industriellen Expansion eine aktive Rolle zu spielen. Im Jahr 1963, zu Beginn der Weißen Revolution, hatte sich der Bazar als das Zentrum der handwerklichen Produktion und Beschäftigung etabliert: Seine kleinen Firmen machten knapp 97% der gesamten Herstellungsindustrie aus und sorgten für 67,6% der Beschäftigung in diesem Bereich. Die meisten Unternehmer des Landes waren jedoch nicht in der Lage, an dem großen Kreditprogramm teilzunehmen, vor allem

4

Dieser Wert wurde zum damaligen Zeitpunkt weltweit nur von drei anderen Ländern übertroffen (Mazaheri 2008, S. 589).

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diejenigen, deren Geschäfte sich innerhalb des Bazars befanden oder mit diesem direkt verbunden waren. Die neuen institutionellen Normen, die der Schah etablierte, unterschieden sich nämlich stark von jenen der kreditgebenden Institutionen, die bereits seit Jahrhunderten bestanden hatten. Es war daher nicht nur die Kreditvergabe, die unfair und diskriminierend erschien: Der Staat hatte sowohl die Art, wie institutionelle Normen operierten, als auch die Regeln, die bestimmten, wie ein Unternehmer seine eigene Kreditwürdigkeit unter Beweis stellen konnte, verändert. Ein Kriterium bei der Kreditvergabe war zum Beispiel, dass der Staat die Reputation eines Individuums als Verbündeter des Regimes beurteilte. Die Kriterien, die es in früheren Zeiten zu erfüllen galt, waren hingegen ein führendes Mitglied in einem großen Bereich des entsprechenden Marktes und sozial aktiv in den Vereinigungen des Bazars zu sein, einen hohen Grad an Religiosität aufzuweisen und aus einer Familie zu stammen, die seit Generationen einen guten Ruf im Bazar genoss. Genau diese Personen bekamen nun mit geringster Wahrscheinlichkeit einen Kredit im Zuge der großen Industrialisierung des Landes. Nimah Mazaheri schreibt dazu jedoch: „Yet if depersonalization is a main characteristic of formal credit lending institutions, one can safely conclude that the Shah’s Iran was quite far from achieving this. Thus, in one way, the new credit lending institutions in Iran stand as a prime example of how economic modernization, industrialization, and even the introduction of a Western-inspired banking system does not necessarily bring about actual informalto-formal institutional change. In fact, it is more an example of the endurance of reputational norms among economic institutions.“ (Mazaheri 2008, S. 594)

Während die Abhängigkeit vom Staat beim Zugang zu Ressourcen historische Kontinuität aufweist, hat sich die interne Organisationsstruktur des Bazars durch die Revolution jedoch stark verändert. Die Ökonomie des Bazars im Iran verfügte vor der Revolution über eine spezifische Organisationsform, die Arang Keshavarzian (2007) als „communal governance“ oder „cooperative hierarchy“ bezeichnet. Damit sind persönliche Beziehungen gemeint, die sich über verschiedene soziale Dimensionen (berufliche, soziale, politische, religiöse, familiäre) hinweg erstrecken. Anhand dieser Interaktionen wurden Kriterien von der Qualität

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des Produkts bis hin zur Festsetzung von Preisen determiniert. Sie boten zudem Sicherheit, denn durch einen bestimmten Handel erlittene Verluste konnten durch ein erfolgreiches Geschäft an einer anderen „Front“ reduziert werden. Diese Funktionsweise beruhte vorrangig auf einer Kaufmannsethik, die den guten Ruf als oberstes Gebot beinhaltete. Das heißt, die am Bazar repräsentierten Verkäufer wussten, dass unkooperatives Verhalten ihrem Geschäft langfristig schaden würde. Anstelle eines objektiven Preisvergleiches, der aufgrund des großen Warenangebots im Bazar unmöglich ist, trat das Vertrauensverhältnis zwischen verschiedenen Verkäufern in den Vordergrund, das über die Zeit gewachsen war. Der Aufbau von Stammkundschaft galt als ein Regulativ zu der Komplexität, dem Fehlen regulärer Preise und der Uneindeutigkeit, Ungenauigkeit, Verstreutheit und ungleichen Verteilung von Wissen über wirtschaftliche Tatsachen im Bazar. Indem Ausmaß und Qualität von Informationen über persönliche Beziehungen innerhalb des Bazars getragen wurden, konnte aus dieser Struktur persönlicher Beziehungen profitiert werden. Der zweite Aspekt, durch den die Strukturen des Bazars charakterisiert sind, ist das Feilschen. Aufgrund der Schwierigkeit, einen Überblick über das gesamte Warenangebot zu bekommmen, erfolgt stattdessen die Wahl eines speziellen Standes, die detaillierte Erforschung der Ware und ein Aushandlungsprozess über die Qualität und die Kosten derselben. Diese Art der Befragung, die Nuancen erforscht, stellt eine Kommunikation zwischen zwei Personen dar, die zugleich Partner und Kontrahenten sind. Fuad Khuri stellt diesbezüglich fest, dass das Feilschen sowohl Elemente des Konflikts als auch der Kooperation beinhaltet. Da der Preis, der für eine Ware festgesetzt wird, gleichzeitig auch das Prestige des Verkäufers anzeigt, ist das Feilschen als eine Prozedur der Preisfestsetzung eigentlich unangebracht. Das Feilschen dient jedoch dazu, ein fehlendes Gleichgewicht zwischen der Ware und ihrem Preis am Markt zu regulieren. Dies geschieht durch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Käufer und Verkäufer und den Verlust oder Gewinn von Prestige (Khuri 1968, S. 699). Das Feilschen dient einem wirtschaftlichen Zweck, nämlich Preise in Gesellschaften zu regulieren, in denen Misstrauen und Unsicherheit den Wert von Waren dominieren. Aber genau die Tricks des Feilschens können nicht ohne die grundlegende Etablierung von Vetrauen durchgeführt werden. Diese Herstellung von Vertrauen äußert sich darin, dass Kunden in

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Verwandtschaftsbegriffen oder besonders höflichen Formeln angesprochen werden. Das Motiv des Vertrauens überwiegt dabei gegenüber jenem des Profits. Denn da Profit, der durch den Prozess des Feilschens erlangt wird, für soziale Anerkennung steht, aktivieren die Handelspartner im Bazar verschiedene Höflichkeits-Codes, um die ökonomischen Entscheidungen ihrer Partner zu beeinflussen. Diese traditionellen, auf informellen persönlichen Beziehungen basierenden Struktren haben sich seit der Islamischen Revolution jedoch stark gewandelt, denn durch den politischen Machtwechsel wurde der Bazar den Strukturen des Staates einverleibt. Während der Bazar unter dem Schah aufgrund seiner traditionellen Struktur eine Außenseiterposition hatte, sind die Allianzen zwischen Politik und Bazar heute wieder aktiv und vielfältig. Dadurch wurden in den letzten 30 Jahren jedoch auch historisch gewachsene Netzwerke und ethische Normen der Kaufleute wie die oben beschriebenen zerstört und durch zentralistische, staatlich vorgegebene ersetzt. Dies geschah in erster Linie durch die Zurückdrängung der traditionellen Kaufmannsehre durch politische und interessensbasierte Allianzen. Letztere haben die kommunale Struktur des Bazars durch eine hierarchische ersetzt, die durch vorgeschriebene Handelsaktivitäten von Seiten einer einzigen Autorität gekennzeichnet ist. Beziehungen innerhalb des Bazars sind nun sporadisch, finden ohne Verbindlichkeiten und ohne Erwartungen für zukünftige Interaktionen statt, zudem sind sie auf ökonomische Aspekte beschränkt. Die Mehrzahl von sozialen Verbindungen läuft bei einem Akteur oder einer Institution zusammen. Die lokale Gemeinschaft wurde so zurückgedrängt und den Bazaris wird in erster Linie als isolierten Individuen begegnet, die somit wenig Spielraum haben, ihre Beziehungen mit ihren Vorgesetzen zu verhandeln. Diese Veränderung hat zu tiefgreifenden Spaltungen innerhalb des Bazars geführt. Dadurch, dass die Regierung zwischen „revolutionären“ Bazaris und solchen, die es nicht sind, unterscheidet, haben nur Erstere Zugang zu den vom Staat kontrollierten Ressourcen. Eine Folge davon sei laut Keshavarzian, dass der Bazar mit illegalen und geschmuggelten Waren überschwemmt werde (Keshavarzian 2007, S. 170). Der politische Einfluss, der dem Bazar seit der Revolution zugeschrieben wird, wird also nur von spezifischen Gruppen ausgeübt; betrachtet man seine Gesamtstruktur, wurde der Bazar jedoch politisch und ökonomisch geschwächt.

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5.2.2 Shopping Malls In Tajrish, einem Stadtteil im Norden Teherans wurde direkt an den historischen Bazar ein sechsstöckiges Einkaufszentrum angebaut. Im Erdgeschoss befinden sich Läden, die Gold- und Silberschmuck verkaufen, in den fünf Stöcken darüber gibt es so gut wie alles von Kleidung, Schuhen, Spielwaren, Küchengeräten, Dessous, Parfum, Hi-Fi-Geräten bis hin zu Gemälden. Die Marken, die hier verkauft werden, sind vor allem iranische oder türkische, es gibt aber auch vereinzelt westliche wie Nike oder Clark’s. Während im Bazar sowohl eher ältere Frauen, meist im Tschador, als auch tendenziell etwas jüngere Frauen mit bunten Kopftüchern einkaufen, konnte ich in dem angeschlossenen Einkaufszentrum weniger ältere Menschen beobachten; vor allem ältere Männer fehlten hier. Auffallend war zudem, dass in diesem Einkaufszentrum auch einige junge Frauen einen Tschador trugen. Dieses Einkaufszentum stellt meinen Beobachtungen zufolge daher eine moderne Version des Bazars dar, indem es hauptsächlich von der Mittelschicht frequentiert wird, die in Bezug auf das Alter und das äußere Auftreten relativ heterogen ist. Dadurch, dass das Einkaufszentrum vor allem einheimische und erschwingliche importierte Marken führt, vereint es einen modernen Ort des Konsums mit einem islamischen Lebensstil: Besonders die jungen Frauen im Tschador repräsentieren diese spezifische, von der iranischen Regierung befürwortete Fusion islamischer Identität mit modernem Konsum. Einige hundert Meter weiter hat im Jahr 2004 das exklusive Einkaufszentrum „Tandis“ eröffnet, das vor allem teure westliche Marken führt (z. B.: Givenchy, Armani, Replay, Levi’s, Zara). In Einkaufszentren wie diesem gibt es Rolltreppen und Aufzüge in lichtgetränkter Atmosphäre, alle Oberflächen sind aus glattem, kaltem Material, wie Fliesen oder Stein, und die Geschäfte haben große Schaufenster. Im Gegensatz zum Bazar, wo man sich teilweise dicht gedrängt die unüberschaubaren Gänge entlang schiebt, von Zurufen der Verkäufer und einer konstanten Geräuschkulisse aus unzähligen Stimmen umgeben ist, sind die Gänge der modernen Einkaufszentren weitläufig und folgen in jeder Etage derselben Symmetrie. Diese Struktur fördert eine Atmosphäre der gedämpften Ruhe und Ordnung. Die Moschee sowie das traditionelle Kaffeehaus des Bazars fehlen hier.

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Die Cafés in „Tandis“ sind sowohl vom Angebot als auch von der Inneneinrichtung her im europäischen Stil gehalten (ein Café heißt, in Anlehnung an die amerikanische Kaffehaus-Kette Starbucks, „Star-Cups“), weiters befinden sich in dem Gebäude ein Kosmetikstudio und im obersten Stock ein Food-Court. Diese Kombination von Freizeit-, Einkaufs- und Genussmöglichkeiten ist typisch für die luxuriösen Einkaufszentren in Teheran. Die Besucher dieser exklusiven Orte gehören hauptsächlich der Oberschicht an und Frauen mit Tschador sind hier kaum zu sehen. Die meisten der hier einkaufenden Frauen tragen bunte Schals und Kopftücher kombiniert mit einem passenden Mantel. Viele Besucherinnen sind sehr auf elegantes und modisches Aussehen bedacht, was sich unter anderem darin äußert, dass sie statt eines auffallenden Make-ups einen dezenten Chic zu bevorzugen scheinen. In diesen exklusiven Einkaufszentren käme es einem fehl am Platz vor, über den Preis oder die Menge der Ware zu handeln. Die Preise sind – außer bei besonders wertvollen Stücken – angeschrieben und in keinem Fall verhandelbar. In anderen, etwas weniger noblen Einkaufszentren gibt es kleine Läden, die Videospiele, DVDs und Musik verkaufen, in denen man auch die Hitliste der neuesten iranischen Songs aus Los Angeles kaufen kann. Diese Musik ist offiziell verboten, die CDs werden nur unter der Hand verkauft, der Verkäufer holt sie auf Anfrage umgehend, ohne weitere Heimlichkeiten, aus einem Hinterzimmer. Über die ganze Stadt verteilt – auch in den wohlhabendsten Gegenden – finden sich zudem kleine Eckläden, die vor allem Lebensmittel und die wichtigsten Dinge des täglichen Gebrauchs führen, in denen weiterhin traditionelle soziale Höflichkeitsformen zwischen Käufer und Verkäufer gelten: Auf die Frage nach dem Preis folgt die Standardantwort: „Für Sie ist es nicht wertvoll genug“ (ghabel nadarad) – man gibt vor, dem Kunden ein Geschenk machen zu wollen. Nach kurzem obligatorischem Drängen wird jedoch ein fester Preis genannt. Es geht hier also nicht ums Feilschen, sondern um Höflichkeitsformeln wie einem gewissen Zögern, eine direkte „Gegenleistung“ für eine Ware zu fordern. Durch diesen Ausdruck der Bescheidenheit von Seiten des Verkäufers wird der Ehre des Käufers oder der Käuferin Anerkennung gezollt. In den urbanen Zentren Irans besteht also eine Bandbreite verschiedener Orte des Konsums mit jeweils unterschiedlichem Publikum. Im Gegensatz zu vielen westlichen Industrieländern, in denen das Warenhaus bzw. das

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moderne Einkaufszentrum für die Ausweitung des Konsums auf verschiedene soziale Schichten steht, wird anhand der Einkaufszentren im Iran die Stratifizierung der Gesellschaft sichtbar: Exklusive Einkaufszentren referenzieren dabei sowohl symbolisch (durch das Interieur) als auch durch das Warenangebot ausschließlich auf den Westen, während der Bazar oder Einkaufszentren, die eher der Mittel- und Unterschicht zugänglich sind, diese Ausrichtung nicht aufweisen.5 Die Tatsache, dass Luxuskonsum und dem Kauf westlicher Waren nur von einer begrenzten, wohlhabenden Schicht nachgegangen werden kann, ist im Stadtbild Teherans also viel offensichtlicher zu erkennen, als es in den meisten westeuropäischen und US-amerikanischen Städten der Fall ist. Diese Form des Konsums ist widerständig in dem Sinn, dass sie sich den Versuchen der iranischen Autoritäten, private (Kauf-)Entscheidungen bis ins kleinste Detail zu kontrollieren, widersetzt. Sie ist jedoch keine Form des Widerstands, die strukturell Unterprivilegierten zu mehr Rechten verhilft. Vielmehr bildet sie ein soziales Ungleichgewicht ab, das innerhalb eines undemokratischen wirtschaftlichen und politischen Gefüges für eine immer weiter anwachsende Schere zwischen Arm und Reich steht. Schließlich befinden sich solche „Inseln“ des (Luxus-)Konsums wie oben beschrieben innerhalb der Strukturen des iranischen Staates: Solange Formen des kapitalistischen Konsums nicht zu offensichtlich auf westliche Lebensstile referenzieren, werden sie von den Islamischen Republik auch gefördert bzw. sind ihr dienlich.

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Der Iran importiert beispielsweise auch Stoffe aus Dubai, Kleidung aus der Türkei und Porzellan aus China.

6. Alltag in Teheran

Im Zeitraum von April bis September 2010 wurden über 140 Personen in Teheran mittels eines online-Fragebogens zu ihrem Konsumverhalten und sozialen Einstellungen befragt. Dem Fragebogen liegen die Dimensionen „Konsumorientierung“ und „Religiosität“ als zwei soziale Ordnungssysteme zugrunde, anhand derer sichtbar wird, wie gesellschaftliche Positionen verhandelt werden und wie sich das Verhältnis verschiedener sozialer Gruppen zum Staat gestaltet. Die Fragen des Fragebogens bestehen aus zwei Abschnitten: Im ersten Teil werden soziale Einstellungen wie die Einschätzung der eigenen Position in der Gesellschaft und die Zufriedenheit damit, sowie das Verhältnis zu Personen aus anderen sozialen Schichten und religiöse Einstellungen erfragt. Der zweite Abschnitt erfasst konkrete sozioökonomische Fakten wie Haushaltsausgaben, Bildungsgrad (auch der Eltern) und die Arten des kulturellen Konsums (die Art der Freizeitgestaltung, Zeit, die mit Einkaufen verbracht wird, etc.). Dadurch, dass diese Fragen zu der Höhe des Einkommens in Bezug gesetzt werden, kann der Einfluss der sozialen Schicht auf Einstellungen im Sinne eines hierarchischen Glaubens an Eliten und Autoritäten bzw. auf den Grad der Partizipation in und die Solidarisierung mit der Gesellschaft erfasst werden. Diese Schwerpunktsetzung entspricht der Ausrichtung dieses Buches, das sich weniger mit Formen der Subversion oder des Widerstands gegen den iranischen Staat beschäftigt, als damit, welche Faktoren den Zusammenhalt bzw. die Fragmentierung der iranischen Gesellschaft begünstigen. Obwohl im Folgenden oft von „Konsumorientierung“ und „Religiosität“ die Rede sein wird und materialistisch-konsumistische Einstellungen zuweilen mit religiösen Einstellungen konkurrieren, ist bei der Lektüre die-

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ses Kapitels wichtig, im Auge zu behalten, dass die beiden Dimensionen, Konsumverhalten und Religiosität, nicht als Gegensatzpaare zu verstehen sind. Im Gegenteil – durch eine detaillierte Analyse dessen, wie Religiosität im Alltag gelebt wird und welche Allianzen sie mit dem Konsum eingeht, soll eine differenzierte Sichtweise auf unterschiedliche soziale Gruppen im Iran möglich werden. So hat Hossein Godazgar in seiner Untersuchung über die Vereinbarkeit von Religiosität und Konsumpraktiken im Iran bereits herausgefunden, dass der Islam nur einen Einflussfaktor neben Ethnizität, Geschlecht, Alter, Ausbildung, Familienstand, Beruf, dem Einkommen, Stadt-Land-Gefälle, sozialer Klasse und dem Zugang zu Medien (Satellitenfernsehen oder Internet) darstellt. Godazgars Studie zeigte, dass Frauen und Singles konsumorientierter waren als andere gesellschaftliche Gruppen. Die Generation der prä-revolutionären Periode (heute älter als 45 Jahre), hatte die höchsten Werte an Religiosität und die niedrigsten in der Kategorie Konsumismus. Die post-revolutionäre Generation (30 Jahre und jünger) zeigte die genau gegenteilige Beziehung auf (Godazgar 2007, S. 408). Die Lebenseinstellung und die Einstellung zur Islamischen Republik ist also vor allem auch eine Generationen-Frage.

6.1 D IE S TICHPROBE Befragt wurden Personen, die ihrem Einkommen nach der Teheraner Mittelschicht zuzurechnen sind. Auswahlkriterien waren neben der Ausbildung, dem Beruf und Einkommen auch das Alter und Geschlecht. Die Verteilung innerhalb dieser Kategorien entspricht der iranischen Volkszählung von 2007 (vgl. Statistical Center of Iran, 2008). Die Stichprobe ist in fünf Einkommenskategorien aufgeteilt, wobei die Niedrigverdiener (180 Euro und weniger) die untere Mittelschicht und die Höchstverdiener (880 Euro und mehr) die gehobene Mittelschicht repräsentieren. Davon sind in der niedrigsten Einkommensgruppe beispielsweise ärztliches Personal, Lehrer, Kindergärtner und Verkäufer im Kleinhandel vertreten. In der zweitniedrigsten Gruppe befinden sich Übersetzer, ein Archäologe, Krankenschwestern, Journalisten, Buchhalter, Universitäts-, Bank- und Bazarangestellte. Die nächsthöhere Einkommensgruppe setzt sich aus Kulturschaffenden, Bediensteten in Finanzbereich, Staatsdienst

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und Tourismus, Immobilienmaklern, Designern und Doktorats-Studenten zusammen. In der vierten Einkommenskategorie sind leitende Angestellte und Manager aus Industrie, Handel und dem IT-Bereich, sowie Regierungsangestellte und Ärzte vertreten und die Gruppe der Höchstverdiener besteht aus Führungspersonen im Bereich des Ingenieur- und Bauwesens, Universitätsprofessoren, Großhändlern und leitenden Angestellten der Regierung.

6.2 K ONSUMORIENTIERUNG Die Kategorie Konsumorientierung besteht aus Fragen danach, ob man gerne einkaufen geht und wieviel Geld für bestimmte Waren wir Handys, Kleidung oder Makeup ausgegeben wird. Weitere Fragen zu diesem Themenbereich sind zum Beispiel: „In meinem Freundeskreis sind Markenartikel wichtig“, „Personen aus der Oberschicht haben einen distinguierten Geschmack und kleiden sich nie vulgär oder zu extravagant“, „Ich fühle mich gut, wenn ich teure Kleidung trage“, oder „Bei meiner Arbeit ist mir die Höhe des Gehalts wichtiger als die Selbstverwirklichung“. Es geht hier also neben einer Vorliebe für das Konsumieren auch um die Bedeutung materieller Werte und Fragen des Prestiges. Die Ergebnisse zeigen an, dass Sehnsüchte nach mehr Wohlstand und mehr Konsummöglichkeiten über die verschiedenen Einkommensgruppen hinweg in starkem Ausmaß vorhanden sind. Gleichzeitig geben aber auch 85% aller Befragten an, dass es „gesund“ sei, von Zeit zu Zeit auf etwas zu verzichten. Werte wie Verzicht und Bescheidenheit sind – unabhängig vom sozialen Status – in weiten Teilen der iranischen Gesellschaft anerkannt. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass im Koran festgehalten ist, sozial schwächeren Mitgliedern der Gemeinschaft gegenüber Solidarität zu zeigen (Saeidi 2004, S. 481). Der Wunsch nach einer größeren Auswahl an Waren wurde allerdings besonders oft von Personen geäußert, die angaben, ihr sozialer Status stagniere bzw. habe sich verschlechtert. Dies legt nahe, dass sich die Unzufriedenheit, die mit dem wahrgenommenen Fehlen von Aufstiegsmöglichkeiten einhergeht, auf die Marktteilnahme überträgt. Diese Hoffnungen auf sozialen Aufstieg und Wohlstand in Verbindung mit Konsum sind das zentrale

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Element, auf das die weltweite Marketingindustrie setzt, um ihre Produkte in den sogenannten „ungesättigten“ Märkten zu verkaufen (vgl. Zukin u. Maguire 2004). In weiten Teilen der iranischen Gesellschaft sind die Art des öffentlichen Auftretens und die soziale Anerkennung von großer Bedeutung. Wie sich in der Studie zeigte, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Tragen von Markenkleidung und der Fähigkeit, die individuelle Persönlichkeit auszudrücken. Bei diesen Befragten war die soziale Anerkennung reicher Menschen stark ausgeprägt, während die Unterstützung sozial schwacher Personen gering war. Darüber hinaus teilen sie die Überzeugung, dass die Gesellschaft eine führende Elite brauche, um Ordnung zu gewährleisten. Die Bedeutung von materiellem Prestige korrespondiert also mit der Befürwortung sozialer Hierarchien, die sich durch eine Anerkennung der Oberschicht und Legitimierung ihres gesellschaftlichen Status ausdrückt. Diese Ergebnisse sprechen gegen einen Zusammenhang zwischen materialistischkonsumorientierten Einstellungen und sozial-liberalen Einstellungen im Sinne von Egalität und sozialer Verantwortung. Die Überzeugung, dass eine Abnahme von Religiosität gesellschaftliches Chaos mit sich bringen könnte, zeigt sich hingegen vor allem bei Menschen, die Markenwaren in ihrem Freundeskreis eher unwichtig finden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Definition gesellschaftlicher Ordnungsfunktionen über Waren und die äußere Erscheinung zugunsten der Religion in den Hintergrund rückt. Steht die Akzeptanz gesellschaftlicher Hierarchien in Übereinstimmung mit religiösen Überzeugungen, ist der Ausdruck des eigenen Status durch Konsumgüter eher bedeutungslos. Diese Feststellung korrespondiert mit Ergebnissen der oben erwähnten Studie von Godazgar (2007), die bei religiösen Menschen ein zurückhaltenderes Konsumverhalten feststellt und bei konsumorientierten Personen niedrige religiöse Ausprägungen. Was aus diesen Daten jedoch nicht hervorgeht, sind, wie ich im Laufe dieses Kapitels noch zeigen werde, die unterschiedlichen Arten der Religiosität, von denen einige mit der Konsumgesellschaft durchaus kompatibel sind.

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6.3 R ELIGIOSITÄT Houchang Chehabi (1990) spricht in Zusammenhang mit der iranischen Gesellschaft von einer modernen und einer traditionellen Religiosität, wobei die Orientierung am Westen eine unabhängige Variable darstellt. Modernisten seien nicht notwendigerweise Atheisten oder Agnostiker, sondern praktizieren einen ethisch-mystischen Islam, in dem religiöse Rituale als rückständig angesehen wurden. Traditionell orientierte Iraner sehen Religion demgegenüber als etwas an, das dem Alltag Sinn verleiht und versuchen daher in Einklang mit religiösen Regeln zu leben. Historisch gesehen vereinte der Klerus die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die aber nicht hermetisch voneinander getrennt waren: Viele religiöse Reformer stellen zum Beispiel eine Mischform zwischen traditionellen und modernen Formen von Religiosität dar (Chehabi 1990, S. 22f). Während die traditionelle Form der Religiosität, die man auch als Volksreligiosität bezeichnen könnte, den Vorstellungen des Staates eher entspricht, lehnt dieser mystische und emotionale Formen religiösen Erlebens aufgrund ihres individualisierenden Charakters und ihrer Unkontrollierbarkeit ab. Fariba Adelkhah (1999) unterscheidet religiöse Aktivitäten im Iran weiter wie folgt: Zum einen gibt es populäre Aktivitäten, die in vielen verschiedenen Ebenen der Gesellschaft verankert sind. Dazu zählen beispielsweise nachbarschaftliche Treffen und Diskussionsrunden (jalazeh oder hey’at), in denen für gemeinnützige Projekte Geld gesammelt und durch Vorträge oder Lesekreise ein persönlicher Zugang zu Religiosität gepflegt wird. Die zweite von Adelkhah definierte Form, erlernte Religiosität, hat mit den nach der Revolution unerlässlich gewordenen Umgangsformen vor allem in der Öffentlichkeit zu tun. Die dritte Variante, politische Religiosität schließlich, steht in Zusammenhang mit den Interessen des iranischen Staates. Obwohl diese Unterscheidungen im Groben zutreffen, lässt sich die Vielfalt religiöser Orientierungen im Iran nicht auf die erwähnten Kategorien reduzieren. Vor allem ist es wichtig im Auge zu behalten, dass die im Zuge der Islamischen Revolution etablierten Regeln auf keine der im Iran bestehenden religiösen Traditionen zurückzuführen sind, sondern eine zwar konservative, aber dennoch neuartige Form des Religiösen verkörpern. Auch handelt es sich bei dieser staatlich sanktionierten Religiosität nicht um ein fest-

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stehendes Set von Regeln. Die vom Staat propagierte Form des Religiösen weist viele Uneindeutigkeiten und Interpretationsmöglichkeiten auf, die – je nach sozialer Situiertheit der Personen – auch verschieden ausgehandelt werden. In der Befragung unterscheide ich zwischen einer eher persönlichemotional orientierten Religiosität (Fragen dazu waren z.B.: „Persönliche und emotionale religiöse Erfahrungen sind mir wichtig“, „Ich bevorzuge gelebte Religiosität gegenüber religiösen Bürokraten“) und einer instrumentellen Orientierung (erfasst durch Fragen wie: „Harte Arbeit wird von Gott belohnt“ oder „Die Befolgung religiöser Prinzipien hat mich zu beruflichem Erfolg geführt“). Der zweckmäßige Einsatz von Religiosität, den die instrumentelle Orientierung erfasst, ist für die vorliegende Untersuchung von Interesse, denn er repräsentiert eine spezifische Verbindung von transzendenten (islamischen) und ökonomischen Prinzipien: Religiöses Handeln wird auch mit der Absicht ausgeführt, individuelle und materielle Ziele zu erreichen. Darauf werde ich im Folgenden noch zurückkommen. Die meisten der von mir befragten Personen bewerten Religion in ihrem Leben als wichtig, wobei es natürlich Abstufungen im Grad der Religiosität gibt. Personen, die sich als religiös beschreiben, tendieren auch zu der Überzeugung, dass die Gesellschaft eine führende Elite benötige, um Ordnung sicher zu stellen. Darüber hinaus geben sie zwar auch oft an, dass arme Menschen selbst verantwortlich für ihre Situation seien, gleichzeitig sind sie in der Unterstützung gesellschaftlich unterprivilegierter Personen engagiert. Die Notwendigkeit von Hierarchien und sozialer Ordnung ist also sowohl bei religiösen als auch konsumorientierten Personen vorhanden und kann auf die autoritäre und instabile Politik zurückgeführt werden, die im Iran eine lange Geschichte hat. Ich gehe daher davon aus, dass die Anerkennung von Hierarchien und sozialer Ordnung eine Form des sozialen, kulturellen und politischen Weltbildes im Iran darstellen. Befragte, die religiösen Werten zugeneigt sind, bewerten – genau wie die Konsumorientierten – individuellen Selbstausdruck hoch. Der soziale Wert „Individualität“ wird aber unterschiedlich definiert: von religiösen Personen eher durch das Ausmaß, in dem man sich in die Gesellschaft ein-

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bringt und diese gestaltet; von konsumorientierten Personen vor allem durch bestimmte Waren und das äußere Auftreten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass religiös eingestellte Personen auf das Äußere keinen Wert legen: Eine Mehrheit der weiblichen Befragten fühlt sich besser, wenn sie Make-up verwenden. Dieses positive Gefühl durch das Tragen von Make-up wurde vor allem von Personen ausgedrückt, die die Überzeugung teilen, dass die Beachtung religiöser Prinzipien zu beruflichem Erfolg führe. Personen mit einer instrumentellen religiösen Einstellung scheinen also besonderen Wert auf ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild zu legen. Der auf eine bestimmte Art disziplinierte Körper und seine äußere Erscheinung vereinigen sich hier mit islamischen Prinzipien von beruflichem Erfolg. Diese Fusion deutet auf das bereits mehrfach besprochene, moderne islamische Selbst hin, in dem sich Strukturen des liberalen Marktes wie die Disziplinierung und Optimierung des äußeren Auftretens mit entsprechenden religiösen Prinzipien der Selbstverbesserung verbinden (vgl. dazu auch Krämer 2011).

6.4 D IE T EHERANER M ITTELSCHICHT Durch die Befragung konnte bestätigt werden, dass das Religiöse in der iranischen Gesellschaft nicht als dominanter Einflussfaktor auf das Alltagsleben wahrgenommen wird: Die Frage nach den subjektiv wahrgenommenen Faktoren, die den Lebensstil der Befragten am stärksten beeinflussen, ergab, dass der Einfluss der Familie, die Wirtschaft und der soziale Hintergrund als am wichtigsten eingestuft wurden. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Medien als Hauptkanäle für die Verbreitung ausländischer Lebensstile im Iran gelten. Dieses Ergebnis bestätigt meine in Kapitel 2 angeführten Überlegungen, dass Informationen über den Westen im Iran ausschließlich über bestimmte Kanäle wie Lifestyle-Zeitschriften oder das Internet zugänglich sind. Dadurch dass viele der Möglichkeiten des Medienkonsums, wie Satellitenfernsehen oder bestimmte Internetseiten stark eingeschränkt sind und sich dadurch abseits öffentlicher Diskussionen bewegen, wird verstärkt, dass viele der Eindrücke über den Westen alleine auf äußeren Erscheinungen in Form von Medienbildern basieren. Darüber hinaus ist der Umgang mit modernen Medien im Iran für viele Menschen mit geringem Einkommen nicht möglich. Der Iran

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unterscheidet sich von westlichen Kulturen, in denen die Medien ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von Wissen über andere Kulturen spielen, also vor allem dadurch, dass die iranische Gesellschaft von der modernen Konsumkultur zwar geprägt ist, ihre Mitgestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten an dieser globalen Kultur jedoch – sowohl aufgrund autoritärer Strukturen als auch aufgrund des Ungleichgewichts im internationalen Staatensystem – eingeschränkter sind. 6.4.1 Sozioökonomische Unterschiede im Freizeitverhalten Von den fünf Einkommensgruppen meiner Befragung werde ich mich in der folgenden Diskussion auf die Geringverdiener (monatliches Einkommen 180 Euro und weniger) und die beiden höchsten Einkommensgruppen (monatliches Einkommen 600 Euro und mehr) konzentrieren. Diese Schwerpunktsetzung erfolgte aufgrund der auffallenden Unterschiede zwischen diesen Gruppen, bei denen Variationen in der religiösen Ausrichtung, Konsumorientierung und dem Verhältnis zum Staat besonders deutlich hervortreten. Es ist anzumerken, dass die Geringverdiener nicht der „klassischen“ unteren Mittelschicht entsprechen. Man könnte sie als „Bohemiens“ beschreiben, handelt es sich bei dieser Gruppe doch vorrangig um Personen aus relativ wohlsituierten Familien, die (noch) über kein eigenes Einkommen verfügen und es sich „leisten“ können, sich verstärkt der Aneignung von kulturellem statt ökonomischem Kapital zu widmen. Wie sich gezeigt hat, verfügen sie größtenteils über keinen eigenen Haushalt und wohnen oft noch bei ihren Eltern, da die Mieten in Teheran kaum leistbar sind. Die materiellen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, geben sie vor allem für den Konsum kultureller Güter aus. Diese Art der Beschäftigung mit Bildung und Kultiviertheit ist Bourdieu zufolge typisch für das Kleinbürgertum, weil dieses ständig danach strebt, seinen sozialen Status zu erhöhen. Im Hinblick auf den Iran kommt hinzu, dass bestimmte Teile der Mittelschicht durch die postrevolutionäre Politik stark an gesellschaftlichem Prestige eingebüßt haben, weil sie die „islamischen“ Vorgaben in Bezug auf das äußere Auftreten und Verhalten nicht übernommen haben. Der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch ökonomische Kriterien weitgehend beraubt, haben sie die Generierung sozialen Prestiges daher auf eine andere Quelle verlegt, nämlich auf die Akkumulation von Wis-

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sen über Kultur und einen damit verbundenen Lebensstil („Kultiviertheit“). Diese Form des kulturellen Kapitals schöpft vorrangig aus persischen und europäischen bzw. US-amerikanischen Quellen. Personen mit hohem Einkommen verbringen ihre Freizeit dagegen vor allem privat zu Hause oder in der Natur und gehen damit kaum Beschäftigungen im öffentlichen Raum nach, bei denen etwas konsumiert werden muss. Viele Befragte der beiden höchsten Einkommensstufen verbringen ihre Freizeit auch gerne im Park. Die vor allem in den 1990er Jahren geschaffenen städtischen Gärten und Parks stellen einen wichtigen sozialen Knotenpunkt dar, indem sie verschiedene Arten der Alltagsgestaltung beherbergen: Manche gehen im Park angesagten Sportarten wie Badminton oder Tischtennis nach, essen Pizza oder Hamburger. Andere spielen Schach, oder rollen ihren Teppich aus, um zu beten. In den Parks werden Familienpicknicks abgehalten oder geschäftliche Verabredungen getroffen. Sie stehen damit für eine heterogene und individuelle Nutzung des öffentlichen Raumes. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Parks am beliebtesten. Die Metropole Teheran verfügt über keine öffentlichen Bars oder Diskotheken. Abendliche Freizeitgestaltung im öffentlichen Raum konzentriert sich daher vor allem auf Parks und Fast Food-Restaurants, die beide von einer Bandbreite von Altersgruppen wie Familien, jungen Pärchen und Jugendlichen frequentiert werden (siehe nächsten Abschnitt). Wie die Freizeitgestaltung sind auch die Ausgaben1 der Höchstverdiener nicht verschwenderisch, sondern auf pragmatische Bereiche Auto, Haushalt und Kinder beschränkt. Die zweithöchste Einkommenskategorie unterscheidet sich von diesem Muster jedoch auffallend: Sie stufen Schönheit, Sport und Kreativität als wichtige Motive für Freizeitaktivitäten ein. Neben ihrer Orientierung an hedonistischen und ästhetischen Tätigkeiten weist diese Einkommensgruppe – obwohl durchaus religiös – eine Betonung materieller Werte auf und entspricht damit eher der gehobenen Mittelschicht in westlichen Gesellschaften als ihre wohlhabenderen Mitbürger. Die Freizeitaktivitäten und Ausgaben der reichsten Befragten legen hingegen den Schluss nahe, dass diese Gruppe eher „offiziell-islamische“ (im Sinn von mit staatlichen Vorgaben konforme) Beschäftigungen praktiziert, innerhalb derer Produkte (westlicher) Konsum- und

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Erfragt wurden die Ausgaben in Relation zum monatlichen Einkommen.

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Unterhaltungsindustrie abgelehnt werden. Bei ihnen spielen ideelle, also immaterielle oder transzendente Motive eine wichtige Rolle: Beispielsweise geben sie an, dass ihnen in ihrem Beruf wichtiger sei, sich selbst zu verwirklichen, als wieviel sie verdienen. Sie lehnen sozialen Wettbewerb ab und sind aktiv in der Unterstützung sozial schwacher Personen. Viele der hier befragten ökonomisch Bessergestellten stammen aus einer niedrigen sozialen Schicht, die wahrscheinlich erst durch die Auswirkungen der Revolution an höhere gesellschaftliche Positionen gelangt ist.2 Ihr sozialer Aufstieg steht in Zusammenhang mit der Repräsentation eines „islamischen“ Lebensstils, der nicht nur nach außen getragen wird, sondern bis hin zu kleinen Details des Alltagsleben reicht. Die Lebenswelten der verschiedenen Einkommensgruppen werde ich nun anhand dreier thematischer Schwerpunkte, nämlich Fast FoodRestaurants, dem Einkaufsverhalten und der Mediennutzung weiter herausarbeiten. 6.4.2 Fast Food Amerikanische oder britische Fast Food-Ketten wie McDonald’s gibt es im Iran nicht. Dennoch finden sich in den Straßen Teherans unzählige Fast Food-Restaurants, die in Angebot und Interieur ihren amerikanischen Pendants in nichts nachstehen. Ein Beispiel ist die Fast Food-Kette Apachi (Apache), deren Logo, ein federgeschmückter Kopf eines Indianers, auf die US-amerikanische Kultur referenziert. Die Attraktivität von Fast Food-Restaurants wie Apachi liegt laut George Ritzer in ihrem von einer rationalisierten Atmosphäre geprägten Charakter und den Formen des Konsums, die dadurch angeregt werden. Ritzer vermutet hinter der Rationalisierung dieser Orte „(an) almost ruthless effort to remove all negativity from them – to render them totally positive“ (Ritzer 2003, S. 131). Dies geschehe durch bestimmte Arten der Einrichtung, Beleuchtung oder die Auswahl der Hintergrundmusik. Das Interieur und die sterile Atmosphäre seien darauf ausgerichtet, einen ausufernden und damit ineffizienten Aufenthalt der Konsumenten zu vermeiden: Niemand soll sich

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Circa zwei Drittel der Väter dieser Spitzenverdiener hat keinen Schulabschluss oder den Grundschulabschluss als höchste abgeschlossene Ausbildung. Weniger als ein Drittel der Väter verfügt über einen Universitätsabschluss.

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zu lange in dem Restaurant aufhalten, ohne zu konsumieren; störende Zwischenfälle werden durch Überwachung und genaue Regulationen der Abläufe weitgehend ausgeschaltet. Solche Strukturen seien besser kontrollierbar und würden eine leichtere Handhabe derjenigen erlauben, die diese Strukturen bevölkern. Ein weiteres Merkmal, das diese Orte des Konsums kennzeichnet, sei, dass sie im Stadtbild, vor allem US-amerikanischer Städte, relativ isoliert von einander stehen und daher ein Archipel von „Fantasie-Inseln“ formen: „People are […] living on these islands, but it is a life that, by definition, is clearly separated from the rest of existence […]. Separation implies alienation, and it could be argued that life in those settings is alienated from the rest of life. Instead of life flowing naturally into and out of these islands, the living that takes place on them tends rather to take place in largely autonomous settings.“ (Ebd., S. 128)

Das Alltagsleben zu verlassen und sich an einen Ort zu begeben, der sich von der Routine unterscheidet, ist also ein Merkmal, das Fast FoodRestaurants und ähnlich sterile Orte zu einem Anziehungspunkt macht. Im Iran haben diese „Fantasie-Inseln“ die zusätzliche Bedeutung, dass sie eine physische und symbolische Differenz zu der restlichen Umgebung darstellen, die durch Verkehrschaos, Abgase und Lärm und unmittelbare soziale Interaktionen geprägt ist. Der Aufenthalt in den Fast Food-Restaurants erlaubt den Konsumenten, sich dieser Welt zu entziehen und sich für eine Weile in eine davon abgetrennte Atmosphäre zu begeben, die von geregelten Abläufen, Hygieneordnungen und Effizienz gestaltet ist – Attribute, die im Iran nicht zuletzt auch mit der Fortschrittlichkeit westlicher Gesellschaften in Verbindung gebracht werden. Dabei sind diese Restaurants jedoch keineswegs Oasen der Entspannung: Abends sind sie so stark frequentiert, dass von Ruhe oder Abgeschiedenheit keine Rede sein kann; es ist der soziale Treffpunkt. Allerdings ist man in den gehobeneren Restaurants dieser Art unter sich: nur Personen der gehobenen Mittelschicht können sich den Besuch leisten. Die Suche nach einem/r Partner/in geschieht nicht zuletzt auch mit diesem Aspekt im Hinterkopf, wie mir einer meiner Interviewpartner – halb ernst, halb ironisch – versicherte. Fast Food ist im Iran nicht per se preisgünstiges Essen. Angehörige der untersten Einkommensstufe gehen sowohl oft als auch in teuren Fast FoodRestaurants essen. Zusammenkünfte junger Menschen könnten sich hier in-

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formeller gestalten als in iranischen Restaurants, die man eher mit der Familie oder aus einem feierlichen Anlass aufsucht. Teure Fast FoodRestaurants könnten außerdem eine Atmosphäre und einen Lebensstil symbolisieren, der einen abgetrennten Ort vom Alltag der Islamischen Republik darstellt und für die Gruppe der Geringverdiener damit besonders attraktiv wäre. Schließlich stellt der Besuch von kostspieligeren Fast FoodRestaurants ein Zeichen des Prestiges dar, auf das die einkommensschwache Gruppe besonderen Wert zu legen scheint. Gemeinsam mit ihren kulturellen Aktivitäten lässt sich bei dieser Gruppe damit auf einen Lebensstil schließen, der Distinktion durch das gezielte Aufsuchen kultureller Orte und Aktivitäten anstrebt, die westlichen Definitionen von Freizeit ensprechen oder diesen entlehnt sind – von Museen und Galerien bis hin zu Fast Food-Restaurants. Befragte aus der höchsten Einkommensstufe antworten hingegen überdurchschnittlich oft, dass sie iranische Restaurants bevorzugen. Diejenigen Personen, die die Privilegien der Oberschicht genießen, geben (zumindest auf dem Papier) an, in ihrem Alltagsleben mit den Anforderungen und Werten der Islamischen Republik konform zu sein. Dazu zählt auch die Bevorzugung nationaler, also iranischer Waren und Dienstleistungen. 6.4.3 Einkaufen Die Befragung hat gezeigt, dass Besserverdienende eher im Bazar einkaufen als in Shopping Malls. Die Einkaufszentren wurden meinen Beobachtungen zufolge besonders von jüngeren Personen bevorzugt, die die dortige Atmosphäre wegen der Möglichkeiten, andere junge Menschen zu treffen, schätzen. Der Bazar bietet hingegen in erster Linie Gebrauchsgegenstände und kaum exklusive Luxusgegenstände an. Abgesehen von ökonomischen Gründen steht das Einkaufen im Bazar aber auch für die Ablehnung moderner Formen des Luxuskonsums und einer Bevorzugung der autochtonen Bazar-Struktur. Die These vom Bestehen einer wohlhabenden Schicht, die aus „einfachen Verhältnissen“ kommt und eine von Überfluss und unmäßigem Verbrauch geprägte Konsumkultur ablehnt, erhärtet sich damit. Wohlhabende Gruppen scheinen „offiziell-islamische“ Formen des Konsums bevorzugen und damit in Übereinstimmung mit staatlichen Ideologien zu stehen. Diese Gruppe der Höchstverdiener weist in meiner Studie

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gleichzeitig auch geringere Werte an persönlicher Religiosität auf und scheint eher dem oben definierten Begriff von „Alltagsreligiosität“ zugewandt zu sein. Diese eher konservative Ausrichtung im religiösen Leben wird vom Staat ebenso befürwortet wie die oben beschriebene ostentative Bescheidenheit und Zurückhaltung. Dabei ist zu beachten, dass in dieser einkommensstärksten Gruppe kaum Staatsbedienstete vertreten sind, sondern vor allem Großhändler und Bazaris sowie in Industrie und Bauwirtschaft tätige Menschen. Die von mir befragte gehobene Mittelschicht repräsentiert also weniger Funktionäre des Staates, sondern sozial konservativ und wirtschaftsliberal eingestellte Personen, die im kommerziellen Sektor Irans erfolgreich tätig sind. Im Unterschied dazu scheint die Gruppe der (kulturell) gebildeten Geringverdiener ein anti-konsumistisches Ethos als eine Form des Protests zu pflegen, der sich allerdings gegen die Gesellschaft im allgemeinen (und nicht nur gegen die westliche Konsumkultur) wendet. Dahinter könnte die Absicht stehen, sich vom Mainstream, der auch in modernen Einkaufszentren kreiert, beobachtet und verkauft wird, abzuheben. 6.4.4 Medien Nach dem achtjährigen Krieg gegen den Irak (1980-1988) war die iranische Gesellschaft ziemlich isoliert und damit weitgehend frei von Werbung und Konsumträumen. Seit jedoch vor allem das Satellitenfernsehen verlockende Konsumgüter zeigte, wurde der Wunsch nach Veränderungen des Lebensstils stärker. Verführerische Darstellungen von Konsumgütern aller Art haben laut Fardin Alikhah (2008) zu einem Klima beigetragen, in dem Konsum zu einem Mittel der Identität und Identifikation mit transnationalen Bewegungen und Kulturen geworden ist. Die Jugend im Iran ist sich über größere Wahlmöglichkeiten – von den „harmlosen“ Formen des Konsums wie dem Besitz bestimmter Güter oder der Darstellung von Marken bis hin zur Schönheitschirurgie – nun zunehmend bewusst und fordert sie vermehrt ein. Die Konfrontation mit Lebensstilen und Konsummöglichkeiten, die in bestimmten Ländern verfügbar sind, in anderen – wie auch im Iran – jedoch nicht, erzeugt in letzteren ein gewisses Maß an Unzufriedenheit. Die Wahrnehmung, dass man Gebrauchsgegenständen, Luxusgütern und anderen Möglichkeiten des Lebensstils beraubt ist, übt damit direkt oder indirekt ei-

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nen sozialen und kulturellen Druck auf die politischen Autoritäten im Iran aus (Alikhah 2008, S. 108). Mehr als die Hälfte der Befragten meiner Studie sieht Satellitenfernsehen – obwohl dies offiziell verboten ist. Die höchsten Ausgaben in der gesamten Befragung entfallen auf den Bereich der Telekommunikation, insbesondere auf das Internet, und dies bei allen fünf Einkommensgruppen in relativ gleichem Maß. Die Nutzung von Handys und Internet nimmt also, unabhängig vom Einkommen, einen sehr hohen Stellenwert ein. Eine meiner Interviewpartnerinnen äußert sich dazu so: „Es gibt eine Vereinheitlichung darin, wie die Menschen denken. Jeder will eine Ausbildung und ein besseres Leben. Alles wird ähnlicher. Deswegen sind viele Ideologien der vergangenen Jahre verschwunden und viel kommt vom Internet und dem Satellitenfernsehen.“ (Tabea) Die Medien nehmen dieser Aussage zufolge also sowohl eine Rolle der Homogenisierung als auch der Pluralisierung in Bezug auf die Schaffung von Bedürfnissen ein. Die wachsende Diversität von Medien erschwert es dem Staat auch, Informationen zu kontrollieren. Im Jahr 1990 gab es beispielsweise Spannungen zwischen bürokratischen Stellen wie der Data Communication Company of Iran (DCI), einem Zweig der iranischen Post- und Telefongesellschaft und neu aufkommenden privaten Technologiesektoren. Sie stritten sich nicht etwa darum, wie die Inhalte im Internet zu kontrollieren wären, sondern wie die Qualität und der Zugang zu Netzwerken verbessert werden könnten. Da die Informationsagenturen des Staates schwächere Mitstreiter im heimischen Telekommunikationsmarkt waren als kommerzielle Internetprovider und technische Herausforderungen schlechter bewältigen konnten, war die Kontrolle des Internets von Seiten des Staates lange lückenhaft. Wirtschaftliche Gewinne im Telekommunikationssektor durch private Unternehmen werden vom Staat außerdem unterstützt und haben deswegen zu Zurückhaltung in der Beschränkung des Internets beigetragen. Erst seit 2003, mit Beginn des Krieges der USA im Irak, hat die iranische Regierung eine systematische Strategie entwickelt, um Internet-Seiten zu blockieren oder ihren Inhalt zu filtern. Dale Eickelman und Jon Anderson (1999) beschreiben die neuen Medien in der Entwicklung eines neuen islamischen Bewusstseins als entscheidend.

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Dass der Islam im Internet und im populären Kino zirkuliert und es religiöse Abhandlungen und Erziehungsmaterial darüber zu kaufen gibt, habe dazu geführt, dass autoritative Interpretationen des Islam, die lange alleine in den Händen der Ulema lagen, jetzt auch von Menschen ohne formales Training in islamischer Rechtsprechung oder Philosophie entdeckt werden. Durch Online-Ratgeber und Websites von Klerikern, sowie Diskussionsforen zu Interpretationsformen der Schari’ah im Internet habe die Religion mehr partizipativen Charakter gewonnen. Vor allem junge Menschen würden religiöse Bücher nun selbst lesen, was von einer neuen Form der Auseinandersetzung mit der Religion zeuge, in der die individuelle Interpretation eine größere Rolle zu spielen begonnen habe. Populäre Interpretationen islamischer Ideale gibt es im Bereich des Fernsehen und Radios im islamischen Raum schon lange (z.B. religiöse Sendungen, in denen Koranzitate diskutiert werden, religiöse Ratschläge auf Telefonhotlines etc.). Eine Profanisierung der Religion sei jedoch eingetreten, seitdem religiöse Inhalte neben Nachrichten, Musik und anderen Formen der Unterhaltung platziert werden. Moderne religiöse Selbstkonzepte, die so geformt werden, können eine bewusste Abgrenzung zu dem traditionell gelebten und weniger reflexiven Islam älterer Generationen darstellen. Die Auswirkungen des Konsums von Internet und Satellitenfernsehen, vor allem auf die jüngere Generation im Iran, ist so stark, dass zwischen den Generationen eine große Kluft in Bezug auf das Wissen und die Praxis bestimmter Lebensstile entstanden ist. Im Folgenden gebe ich einen Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion wieder, die ich zu diesem Thema führen konnte. Die beiden hier zitierten Personen sind ein 31-jähriger Journalist und eine 24-jährige Mitarbeiterin eines technischen Unternehmens. Kurosh: „Jetzt ist eine Generation nach uns herangewachsen, die mit Satellitenfernsehen groß geworden ist, die sind ganz anders als wir. Wir verstehen die auch nicht, obwohl die nur 4 oder 5 jahre jünger als wir sind. […] Sie sind outlaws. Wir wollten immer anders sein als andere Leute. Wenn wir auf Parties gegangen sind, haben sich die Mädchen angeschaut, was andere anhaben, was ist das für ein Kleid, was für ein Modell usw. Wir dachten, wir sind sehr avantgarde. Aber die Jüngeren jetzt sind viel weiter.“

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Mahtab: „Aber in einer negativen Art. Ich habe zwei Brüder, acht und neun Jahre jünger als ich (15 und 16 Jahre alt, A.S.). Sie reden immer über Sex und Drogen, sie denken nicht über Bücher oder Reisen nach, sie wollen nichts wissen.“ Frage: „Wegen Satellitenfernsehen und Internet?“ Kurosh: „Zum Teil. Aber auch, weil es keine (moralische, A.S.) Führung gibt. Sie haben sich von der Realität um sie herum abgetrennt. Die Eltern und die Regierung wissen nicht, was es im Internet gibt. Sie verschließen die Augen.“

Die 24-jährige Englischlehrerin einer privaten Sprachschule berichtet Ähnliches: „Ja, besonders die Jugendlichen, denen ist alles egal. Außer das Aussehen. […] Aber sie schauen sich so Shows an, wenn sie im Internet sind, sie schauen sich nicht einmal die Nachrichten an. Ich glaube, das ist wegen der Politik, die die Regierung eingeführt hat. Die Leute denken an nichts anderes mehr und wollen einfach nur tun, was sie wollen. Sogar zu meiner Zeit war es nicht so schlimm. Je mehr Zeit vergeht, desto schlimmer wird es.“ (Neshat)

Obwohl nur ein Altersunterschied von 5 bis 10 Jahren besteht, drücken viele der von mir Befragten 20 bis 30-jährigen aus, dass ihre Lebenswelt mit jener der Jüngeren kaum korrespondiert. Diese Bruchlinie stellt nur eine, allerdings markante, innerhalb der iranischen Gesellschaft dar. Darüber hinaus könnte das Beklagen des moralischen Verfalls bei den Jüngeren für ein gesamtgesellschaftliches Phänomen stehen: über die Korrumpierung ethischer Prinzipien und Scheinheiligkeit der Politik herrscht in der iranischen Bevölkerung weitgehend Übereinkunft.

6.5 Z USAMMENFASSUNG

DER

E RGEBNISSE

Durch die vorliegende Befragung wurde deutlich, dass Religiosität einen zentralen Wert darstellt, und zwar über die unterschiedlichen Gruppen hinweg, von Personen mit hedonistischen und materiellen Interessen über die westlich orientierten, mittellosen „Bohemiens“ bis hin zu der konservativen gehobenen Mittelschicht. Eine religiöse Einstellung muss jedoch nicht den Vorgaben der Regierung entsprechen. So betreiben die Geringverdiener intensiven kulturellen

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Konsum nach westlichem Vorbild: dazu gehören häufige Besuche in Galerien, modernen Museen oder Fast Food-Restaurants. In Ermangelung ökonomischer Ressourcen nutzen sie im Kampf um gesellschaftliche Positionen eher symbolische Formen des Prestiges und kulturelles Kapital. Die Unterscheidung in persönlich-emotionale Formen von Religiosität, die auf spirituellen Prinzipien beruht und instrumenteller Religiosität, also das Praktizieren religiöser Handlungen zur Erreichung individueller Vorteile, macht eine weitere Differenzierung möglich: Angestellte der iranischen Regierung weisen in der Befragung keineswegs konservativere religiöse Einstellungen auf als Andere. Die von mir befragten Staatsangestellten sind eher spirituellen und persönlichen Formen des Religiösen zugeneigt, während ein „berechnender“ Einsatz religiösen Handelns vor allem bei denjenigen Befragten zu beobachten ist, die gehobene Posten im kommerziellen Sektor belegen. Es scheint in der gehobenen Mittelschicht jedoch zwei unterschiedliche Formen des Arrangements mit dem Staat zu geben: Die erste Variante betrifft die reichsten Befragten, die den Vorgaben des Staates für eine „islamische“ Lebensführung weitgehend entsprechen. Das heißt, sie lehnen ein ausschweifendes und offen zur Schau gestelltes Konsumverhalten tendenziell ab. Der Alltag und die Freizeit werden so gestaltet, dass möglichst wenig konsumiert wird. Man geht nicht ins Kino oder ins Cafe, sondern mit der Familie in die Natur oder bleibt zu Hause. Eingekauft wird eher im Bazar als in den modernen Einkaufszentren und wenn man essen geht, wird traditionell-einheimische Küche bevorzugt. Hier steht die Betonung von immateriellen Werten wie Bescheidenheit und die Unterstützung sozial schwacher Personen im Vordergrund. Die Bindung an den vermeintlich religiösen Staat basiert hier jedoch auf einem materiellen Be- und Entlohnungssystem. Reichtum und Wohlstand werden im Austausch für Loyalität gegenüber den politischen Autoritäten angeboten.3 Dennoch scheint die von dieser Gruppe dargebrachte Loyalität

3

Diese Vermischung religiöser und weltlicher Interessen wurde von einigen iranischen Wissenschaftlern dahingehend kritisiert, dass eine auf diese Art in das politische Leben integrierte Religion in erster Linie Menschen anziehe, die Religiosität in Übereinstimmung mit rationalen Abwägungen zu ihrem individuellen Vorteil einsetzen. Dadurch sei eine Profanisierung ethischer und spiritueller Elemente des Islam begünstigt worden (Abazari et al. 2008, S. 250).

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auf einer gewissen Überzeugung zu beruhen, denn sie umfasst nicht nur politische oder religiöse Einstellungen, sondern erstreckt sich bis in Bereiche des privaten Alltags. Davon abweichend gestaltet sich die Beziehung zum Staat bei der zweithöchsten Einkommensgruppe. Sie unterscheidet sich von den reichsten Befragten dahingehend, dass sie sozial und wirtschaftlich liberalere Einstellungen aufweist. Die Befragten haben eine religiöse ebenso wie materialistische Orientierung, in ihrer Freizeit widmen sie sich bevorzugt hedonistischen Tätigkeiten und der Optimierung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Diese Gruppe ist in der iranischen Gesellschaft ebenfalls ökonomisch und sozial fest verankert. Die These einer Fusion islamischer Inhalte mit Prinzipien des freien Marktes trifft damit – anders als in den von Aihwa Ong (1999) beschriebenen südostasiatischen Staaten – nicht auf die Wohlhabendsten der Mittelschicht zu, sondern auf das zweithöchste Einkommenssegment, auf jene, die es noch „schaffen“ wollen und sozialen Aufstieg anstreben. Sie entsprechen dem von Ong formulierten und in Kapitel 3 ausgeführten modernen islamischen Selbst, das sich religiöser Werte bedient, die mit dem Streben nach materiellem und individuellem Wohlstand kompatibel gemacht wurden. Die Menschen in meiner Befragung unterscheiden sich also vor allem aufgrund ihres sozialen Status – dem Einkommen und ihrem Beruf und den daraus resultierenden Lebenswelten. Eine Zuweisung zu Kategorien wie traditionell oder fortschrittlich orientiert, pro- oder anti-Regime usw. ohne eine sozioökonomische Kontextualisierung wäre daher irreführend. In der gesamten Stichprobe waren sowohl Solidarität gegenüber marginalisierten Personen als auch der Glaube an gesellschaftliche Hierarchien bzw. Eliten stark ausgeprägt. Eine Mischung aus ethischen (Solidarität), teilweise sozialistischen (Umverteilung), sowie traditionellen (Hierarchien) Auffassungen gesellschaftlicher Ordnung repräsentiert die dominanten Strömungen innerhalb der iranischen Gesellschaft, die sich damit als durchaus heterogen zeigt. Im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Religion und Konsum ist Folgendes festzuhalten: Personen mit starker Konsumorientierung neigen dazu, soziale Hierarchien aufgrund materieller Werte anzuerkennen, während religiöse Menschen verstärkt auf transzendentale Konzepte zurückgreifen. Auch individueller Selbstausdruck wird von konsumorientierten

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Personen durch materielle Güter erreicht (Markenwaren und damit verbundenes Prestige), während religiös orientierte Menschen ihre Individualität durch gesellschaftliches Engagement auszudrücken scheinen. Schließlich ist festzuhalten, dass das Gefühl fehlender sozialer Aufstiegsmöglichkeiten die Solidarität gegenüber schwächeren Mitgliedern in der Gesellschaft untergräbt. Die Bedeutung gesellschaftlicher Partizipation ist für Befragte, die ihre eigene Situation als stagnierend oder sich verschlechternd bezeichnen, besonders gering. Diese Personen geben auch an, Menschen, die über ihre Verhältnisse leben, zu verachten. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen sozialer Stagnation und fehlender gesellschaftlicher Integration bzw. Solidarität. Diese Struktur ist nicht iranspezifisch; ich führe sie an, um zu veranschaulichen, dass das Problem der sozialen Ungleichheit in der iranischen Gesellschaft ähnliche Dynamiken auslöst, wie in anderen Gesellschaften auch. Die spezifische Problematik im Iran ist jedoch, dass die Schere zwischen Arm und Reich, die seit der Anbindung des Landes an die globale Marktwirtschaft seit Ende der 1980er Jahre weiter angewachsen ist, ein Wieder-Aufbrechen gesellschaftlicher Konflikte darstellt, deren Befriedung ursprünglich ein zentrales Ziel der Islamischen Revolution war.

Resumée

In seiner Funktion als gesellschaftliches Zeichensystem wird das Konsumverhalten im Iran von der westlichen Medienöffentlichkeit überwiegend dazu benutzt, eine vorschnelle Aufteilung in konsumorientierte, moderne, liberale, rebellische Iraner einerseits und in religiöse, traditionelle, konformistische und unterdrückte andererseits vorzunehmen. In Abgrenzung dazu zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die Konflikte innerhalb der iranischen Gesellschaft zwar anhand eines nach außen getragenen Distinktionsverhaltens verhandelt werden, bei dem die Referenz auf den „Westen“ eine entscheidende Rolle spielt, eine Unterscheidung in die eingangs erwähnten Kategorien jedoch nicht zutreffend ist. Die folgenden Thesen sind für eine differenzierte Betrachtung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im Iran grundlegend: Zu Beginn gilt es, die in etablierten Modernisierungstheorien verankerte Vorstellung des Religiösen als einer Ideologie neu zu überdenken, der eine vermeintlich neutrale, also ideologiefreie, säkulare Sphäre gegenüber steht. In vielen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens, so auch im Iran, stellte die Unterdrückung des Religiösen im öffentlichen Raum im Zuge des politischen Projekts der Modernisierung ihrerseits eine Ideologie dar, die wiederum eine Ideologisierung bzw. Radikalisierung religiöser Diskurse begünstigt hat. Im ersten Kapitel erfolgt daher eine Auseinandersetzung damit, wie der Politische Islam des 20. und 21. Jahrhunderts in Interaktion mit modernen politischen Erscheinungen wie dem Nationalstaat und der Säkularisierung entstanden ist, durch diese geformt und zum Teil radikalisiert wurde. Im Iran vollzog sich das Projekt der Moderne durch Reza Schah Pahlavi

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(1925-1941) und seinen Sohn, Mohammad Reza Schah Pahlavi (19411978), die eine Modernisierung „von oben“ verordneten und gleichzeitig die Entwicklung angemessener zivilgesellschaftlicher Strukturen unterdrückten. Aufgrund ihres Ausschlusses aus der politischen Öffentlichkeit radikalisierte sich die politische Ideologie des Islam und wurde durch die Islamische Revolution von 1978/1979 – allerdings unter der totalen Kontrolle durch den Staat – wieder in das öffentliche Leben integriert. Trotz ihrer Institutionalisierung durch die Islamische Revolution stellt die Religion heute weder den einzigen noch den dominanten Einflussfaktor auf das Alltagsleben im Iran dar. Zwar spielt die Religion in der iranischen Gesellschaft über unterschiedliche soziale Gruppen hinweg eine zentrale Rolle, religiöse Einstellungen sind mit der Ideologie des Regimes jedoch nicht deckungsgleich. Durch eine Befragung der Teheraner Mittelschicht konnte ich unterschiedliche religiöse Orientierungen feststellen, wie zum Beispiel eine spirituell-emotionale Ausrichtung, oder eine eher regelgeleitete Alltagsreligiosität. Der iranische Staat bevorzugt Letztere, weil diese in der Öffentlichkeit leichter implementierbar und kontrollierbar ist. Dennoch zeigt sich in meiner Befragung, dass im Staatsdienst beschäftigte Personen durchaus Formen von Religiosität zugeneigt sind, die persönliche und emotionale Bedeutungen haben. Eine weitere Nuance stellt meines Erachtens eine instrumentelle Orientierung religiöser Praktik dar, bei der religiöses Verhalten mit dem Wunsch zur Erreichung persönlicher Vorteile gekoppelt ist. Diese zeigt sich überproportional häufig bei Befragten, die höhere Posten in Industrie und Handel innehaben. Bei ihnen verbindet sich ein staatlich sanktionierter, offizieller Islam mit kapitalistischem Unternehmertum und formt damit das von Aihwa Ong (1999) beschriebene moderne, islamische Selbst. Der iranische Staat propagiert zwar eine bestimmte Form des Religiösen, verschiedene soziale Gruppen setzen diese jedoch unterschiedlich um. Auch die Beziehung der Bevölkerung zum iranischen Staat gestaltet sich durchaus unterschiedlich: Die reichsten Befragten der Studie entsprechen in ihrem Lebensstil weitgehend den Vorgaben der Regierung. Sie lehnen sozialen Wettbewerb sowie ein ausschweifendes und offen zur Schau gestelltes Konsumverhalten tendenziell ab. Der Alltag und die Freizeit werden so organisiert, dass möglichst wenig konsumiert wird, stattdessen steht die Betonung von immateriellen Werten wie Bescheidenheit und die Unterstützung sozial schwacher Personen im Vordergrund. Die Bindung dieser

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Bevölkerungsschicht an den vermeintlich religiösen Staat steht jedoch in engem Zusammenhang mit einem materiellen Be- und Entlohnungssystem: Reichtum und Wohlstand sind denjenigen vorbehalten, die Loyalität gegenüber den politischen Autoritäten zeigen. Diese Loyalität umfasst nicht nur politische oder religiöse Einstellungen, sondern erstreckt sich bis in Bereiche des privaten Alltags. Die zweithöchste Einkommensgruppe weicht von diesem Muster dahingehend ab, dass sie eine religiöse ebenso wie materialistische Orientierung aufweist. In ihrer Freizeitgestaltung wirkt sich das so aus, dass sie bevorzugt hedonistischen Tätigkeiten nachgehen, viel Geld für Mode und Unterhaltung ausgeben und sich der Optimierung körperlicher und geistiger Fähigkeiten widmen. Jedoch auch sie sind keine vom Staat marginalisierte Gruppe und stehen diesem auch nicht oppositionell gegenüber, sondern sind im sozialen und wirtschaftlichen Leben Irans fest verankert. Unterschiede in religiösen und politischen Einstellungen manifestieren sich also in erster Linie entlang des sozialen Status, in Zusammenhang mit dem Einkommen und Beruf der Befragten. Eine Gegenüberstellung von religiösen und säkularen, regimetreuen oder oppositionellen Gruppen unabhängig vom sozioökonomischen Kontext kann ich daraus nicht ableiten. Daran anschließend zeigt eine Analyse Wirtschaftspolitik in der Islamischen Republik, dass auch auf struktureller Ebene kein Widerspruch zwischen islamischen Werten und jenen einer freien Marktwirtschaft besteht. Trotz der revolutionären Rhetorik von Befreiung und Egalität bestehen im Iran heute ähnliche Strukturen der Herrschaft wie in der vor-revolutionären Pahlavi-Ära, in der eine kleine Elite über die wirtschaftliche und politische Macht des Landes verfügte. Ein Beispiel dafür sind die religiösen Stiftungen. Sie wurden zu Beginn der Islamischen Republik gegründet und haben sich mittlerweile zu umfassenden wirtschaftlichen Monopolen entwickelt, die staatliche Strukturen zur Bereicherung privater Einzelpersonen oder Gruppen nutzen. Damit begrenzt der vor allem von Selbstinteressen getriebene Druck auf die Regierung staatliche Autorität einerseits, andererseits sind die Strukturen des Staates für diese Art der Interessenspolitik ein unverzichtbares Instrument. Dadurch, dass sich kapitalistische und islamische Strukturen in einem ambivalenten Verhältnis verbinden, können Autorität und Intransparenz des iranischen Staates nicht mit seinem vermeintlich „islamischen“ Charakter

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erklärt werden: vielmehr tragen der Kontrolle des Staates weitgehend entzogene kapitalistische Strukturen dazu bei, die autoritäre Macht der wirtschaftlichen und politischen Elite zu festigen. Ein weiterer Aspekt in der Fragmentierung staatlicher Autorität ist die zunehmende Anpassung Irans an die globale Ökonomie. Diese erweist sich nicht als ein Schritt in Richtung Demokratisierung, wie von Vertretern der liberalen Marktwirtschaft oftmals nahegelegt wird. Vielmehr trifft auf den Iran der von Shalini Randeria (2007) geprägte Begriff des „cunning state“, des „gefinkelten Staates“, zu: Staaten, wie der Iran, die im Prozess der Transnationalisierung des Rechts- und Wirtschaftssystems eine untergeordnete, aber nicht gänzlich entmachtete Position einnehmen, positionieren sich demnach zwischen den Interessen internationaler Konzerne und der Zivilgesellschaft strategisch so, dass sie maximale Gewinne für eine begrenzte Elite gewährleisten können. Im heutigen Iran herrscht also kein Konflikt zwischen dem Islam und der Moderne. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Form der Moderne, in welcher durch das System des Konsums verschiedene, miteinander konkurrierende Ideologien zum Ausdruck kommen. Es gibt keine Unterscheidung zwischen westlichem Konsum, der einer Oberschicht vorbehalten wäre und islamischem Konsum, der von einer vermeintlich von Traditionalismus geprägten Unterschicht praktiziert würde, wie dies in der prärevolutionären Ära der Fall war: Der Konsum westlicher Waren hat sich auf breitere Bevölkerungsschichten ausgedehnt. Um diesen Transformationsprozess der Bedeutungen im Konsumverhalten zu veranschaulichen, habe ich von der Modernisierungspolitik der Pahlavis (1925-1978) ausgehend untersucht, wie der Lebensstil der europäischen Mittelklasse in die iranische Mittelklasse eingeführt wurde. Dadurch entstand ein spezifisches Distinktionsverhalten, das an die äußerliche Erscheinung und bestimmte Formen des Konsums gebunden war. Bedürfnisse und Trends wurden geschaffen, die westliche Konsumgüter und Vorstellungen eines „guten Lebens“, Wohlstand und Fortschrittlichkeit eng miteinander verknüpften. Diese Imaginationen sind als soziale Praktiken anzusehen, da sie als Träume oder Wunschvorstellungen eine Wirkkraft entwickeln, zum Handeln aktivieren und dadurch die Gesellschaft als Ganzes beeinflussen. In diesem Sinne sind die spezifische Darstellung und Verbreitung westlicher Konsumgüter und die zugehörigen Assoziationen im Iran

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keine Nebensache des Alltags. Sie sind durchaus politisch – mit weitreichenden Konsequenzen für die Gesellschaft. Obwohl der Kontakt westlicher Gesellschaften mit der Islamischen Revolution weitgehend eingestellt wurde, werden iranische Konsumenten bis heute mit den Bildern und damit einhergehenden Imaginationen der westlichen Konsumkultur versorgt: Vor allem mittels neuer Medien und iranischer Lifestyle-Zeitschriften wird die Vorstellung einer westlichen, idealisierten (Traum-)Welt durch Hochglanz-Bilder gespeist, die die Grenzen zwischen Werbeästhetik und realem Leben verschwimmen lassen. Trotz der Abwehranstrengungen seitens der Regierung bleibt der Iran von den medial aufbereiteten Fantasien westlichen Lebens nicht unberührt – sie verlangen allerdings adaptiert zu werden: Durch die Untersuchung zweier aktueller iranischer Lifestyle-Magazine habe ich unterschiedliche Formen der Einbettung von Modernitätskonzepten in einen islamischen Kontext festgestellt. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit weisen die Zeitschriften eine Gemeinsamkeit auf: das moderne Selbst, das sie darstellen, agiert innerhalb der Strukturen der liberalen Marktwirtschaft. Beide Zeitschriften regen die Entwicklung eines Selbst an, das eigenverantwortlich handelt und bei dem Selbstmanagement und Selbstkontrolle im Vordergrund stehen. Im körperlichen Bereich schlägt sich dieser Trend in einer extensiven Bewerbung von Fitness- und Wellness-Salons sowie verschiedener Hilfsmittel und Eingriffen zur Veränderung des körperlichen Aussehens nieder. In Bezug auf den Charakter oder die Persönlichkeit sind Strategien zur Modifikation der inneren Einstellung prominent: Methoden und Programme des „positiven Denkens“ sowie verschiedene Ratgeber, die unter die Kategorie „Selbsthilfe“ fallen, lassen Strategien fortgeschrittener liberaler Selbstherrschaft (Rose et al. 2006) erkennen, die auf der kontinuierlichen Verbesserung und Kontrolle des Selbst basieren, um den gesellschaftlichen Anforderungen einer freien Marktstruktur erfolgreich begegnen zu können. In der westlichen Medienöffentlichkeit treten „moderne“ Iraner mit einer widerständigen und kämpferischen, kontrollierten und disziplinierten Ästhetik als „junge Rebellen“ in Erscheinung und werden als Gegensatz zum irrationalen Chaos, das von der Religion auszugehen scheint, positioniert. Die Beurteilung von Konsumpraktiken als subversiv oder systemerhaltend (Fiske 2000) kann jedoch nur erfolgen, wenn der gesellschaftliche Kontext und die damit verbundenen Machtstrukturen miteinbezogen wer-

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den, um zu verstehen, wogegen sich die jeweiligen Handlungen eigentlich richten. Anhand von Auseinandersetzungen zwischen den mit staatlicher Unterdrückung assoziierten Basij-Milizen und iranischen Jugendlichen der Oberschicht führe ich aus, dass westlicher Konsum von einer politisch und wirtschaftlich entmachteten Schicht praktiziert wird, um ihre Überlegenheit nunmehr auf symbolischer Ebene auszudrücken. Es handelt sich dabei also nicht um einen Konflikt zwischen einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe und machtvollen Unterdrückern, sondern um einen Kampf um gesellschaftliche Positionen. Er wird auf der einen Seite von einer Gruppe mit kulturellem Kapital geführt, die ihre Überlegenheit aus einem „westlichen“ Auftreten ableitet, während auf der anderen Seite ein von sozialem Abstieg bedrohtes, militarisiertes Kleinbürgertum steht, das sich berufen sieht (und vom Staat legitimiert ist), gegen ausufernde Dekadenz zu kämpfen. In diesem Sinne stellt die Form des Konsums kein subversives Element der iranischen Bevölkerung dar, sondern repräsentiert einen Konflikt zwischen sozialen Schichten, der im Iran traditionell in Verbindung mit dem Westen steht. Dass dieser Konflikt in der westlichen Medienöffentlichkeit einseitig popularisiert und ästhetisiert wird, trägt zur Vertiefung von Konfliktlinien innerhalb der iranischen Gesellschaft bei und verweist auf die symbolische und faktische Definitionsmacht des Westens dahingehend, wie gesellschaftlicher Wandel bzw. Widerstand auszusehen hat und welche Orientierungen als wünschenswert gelten. Die Ausrichtung der Konsumgesellschaft auf den Körper als Ort des Ausdrucks (vgl. Featherstone 2010) bestärkt einen Trend, nach welchem ein westliches, modernes Auftreten im Iran oft zu einer Fassade wird, die Lässigkeit und Freizügigkeit suggeriert, während die inneren Einstellungen – davon unberührt – durchaus traditionell und konservativ sein können. Vor diesem Hintergrund problematisiere ich, dass die Ablehnung des iranischen Regimes, die aus derartigen Beschränkungen des Alltags wie der Reglementierung von Konsummöglichkeiten und dem öffentlichen Auftreten entspringt, von westlichen Medien instrumentalisiert wird, um ein diffuses Gefühl der Freiheit mit dem Gesellschaftsmodell des westlichen Liberalismus zu verknüpfen. Was durch diese Darstellungen unsichtbar gemacht wird, ist, dass die iranische Bevölkerung durch kulturelle, soziale, politische und nicht zuletzt ökonomische Brüche destabilisiert ist. Diese Fragmentierung

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der Bevölkerung trägt dazu bei, dass undemokratische Strukturen der Herrschaft aufrecht erhalten werden können. Die Dichotomie fortschrittliche versus fanatische Iraner, die in der westlichen Öffentlichkeit kreiert wird, bildet die Produktion von Differenzen im Iran also nicht nur nicht ab, sondern sie stellt in erster Linie eine Projektionsfläche dar, anhand derer der Westen sein Souveränitätsgefühl bestätigen kann (vgl. Schaffer 2008). Gerade in Bezug auf die „grüne Bewegung“, die in urbanen Zentren Irans als Reaktion auf die Präsidentschaftswahlen 2009 entstanden war, ist festzuhalten, dass sie ein breites Spektrum von Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen und unterschiedlicher sozioökonomischer Stellung umfasst. Im Zuge der Proteste wurden politische Anliegen formuliert, die von der westlichen Medienöffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben sind: Sie bezogen sich in der Mehrzahl nicht auf eine Abschaffung der Islamischen Republik, sondern vielmehr auf Reformen innerhalb des bestehenden Systems, bei deren Entwicklung auch religiöse Institutionen und Bürgerrechtler einen bedeutenden Anteil haben. Es gilt daher den Bedingungen nachzugehen, die eine solche übergreifende Bewegung möglich gemacht haben und die darin enthaltenen Ressourcen zu stärken, anstatt eine (kommerzielle) Ästhetisierung und damit Entpolitisierung des Freiheitsgedankens voranzutreiben.

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 (S. 20): Frauen für Ahmadinejad. Quelle: www.creating orwellianworld-view-alaphiah.blogspot.com/2009/06/iran-more-democratic -than-america.html (Aufruf 9.1.2011). Abbildung 2 (S. 22): Iranische Frauen vor einem Einkaufszentrum. Quelle: www.gettyimages.com/detail/93329203/AFP (Aufruf 9.1.2011). Abbildung 3 (S. 65): Haushaltsschule in Teheran. Quelle: B.W. King (1954), in P. Karimi (2005), S. 38. Abbildung 4 (S. 65): Washington Post 1949. Quelle: Bernice W. King (1954), U.S. Office of Education. Home Economics, Division of Education and Training. Washington: Library of Congress, Zitiert in P. Karimi (2005), S. 30. Abbildung 5 (S. 68): Gesundheitsarmee, Teheran 1964. Quelle: Catherine u. Jacques Legrand (1999): Shah-i Iran. Minnetonka: Creative Publishing International. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Sepahebehda sht.jpg&filetimestamp=20090927181412 (Aufruf 9.1.2011). Abbildung 6 (S. 76): Titelblatt der Zeitschrift Donya-e Zanan. Quelle: Donya-e Zanan, 60. Ausgabe, Juni 2010. Abbildung 7 (S. 79): Weibliche Filmstars. Quelle: Donya-e Zanan, 60. Ausgabe, Juni 2010.

226 | S HOPPING FOR F REEDOM

Abbildung 8 (S. 81): Vorschau auf die Zeitschrift Zendegi-e Ideal. Quelle: Zendegi-e Ideal, 30. Ausgabe, 2009. Abbildung 9 (S. 82): Werbung für Bosch Waschmaschinen. Quelle: Quelle: Zendegi-e Ideal, 39. Ausgabe, 2009. Abbildung 10 (S. 82): Werbung für Hochzeitsplanung. Quelle: Quelle: Zendegi-e Ideal, 39. Ausgabe, 2009. Abbildung 11 (S. 87): Werbung für iranische Antiquitäten. Quelle: Zendegi-e Ideal, 29. Ausgabe, 2008. Abbildung 12 (S. 87): Werbung für Teheran Luster. Quelle: Zendegi-e Ideal, 39. Ausgabe, 2009. Abbildung 13 (S. 88): Einkaufszentrum. Quelle: Zendegi-e Ideal, 29. Ausgabe, 2008. Abbildung 14 (S. 128): Werbung für Sinalco. Quelle: http://sasite.net/ billboard/index.htm (Aufruf 3.9.2010).

Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden März 2012, 280 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3

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2011, 452 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2

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