Semantik und Sprachgeographie: Untersuchungen zur strukturell-semantischen Analyse des dialektalen Wortschatzes 9783111328997, 348452085X, 9783484520851


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German Pages 287 [288] Year 1980

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
0. Einleitung
1. Die traditionelle Sprachgeographie
2. Die strukturelle Sprachgeographie
3. Die strukturelle Wortfeldmethode nach E. Coseriu und H. Geckeier
4. Vorbemerkungen zur Materialerhebung
5. Das Feld »Tageszeiten«
6. Das Feld »schneiden«
7. Das Feld »Verkehrsweg«
8. Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Semantik und Sprachgeographie: Untersuchungen zur strukturell-semantischen Analyse des dialektalen Wortschatzes
 9783111328997, 348452085X, 9783484520851

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE B E G R Ü N D E T VON GUSTAV G R Ö B E R F O R T G E F Ü H R T VON WALTHER VON WARTBURG H E R A U S G E G E B E N VON K U R T B A L D I N G E R

Band 179

BRUNO STAIB

Semantik und Sprachgeographie Untersuchungen zur strukturell-semantischen Analyse des dialektalen Wortschatzes

MAX N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 1980

Gedruckt mit Unterstützung

der Deutschen

Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Staib, Bruno: Semantik und Sprachgeographie : Unters. zur strukturell-semant. Analyse d. dialektalen Wortschatzes / Bruno Staib. - Tübingen : Niemeyer, 1980. (Zeitschrift für romanische Philologie : Beih. ; Bd. 179) ISBN 3-484-52085-X

ISBN 3-484-52085-X

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

1

0.

EINLEITUNG

2

1.

D I E TRADITIONELLE SPRACHGEOGRAPHIE

6

1.1.

OBJEKT, Z I E L U N D M E T H O D E DER SPRACHGEOGRAPHIE

6

6

1.2.

1.1.1.

D a s Objekt der Sprachgeographie

1.1.2.

M e t h o d e und Ziel der Sprachgeographie

1.1.2.1. 1.1.2.2.

Die empirische Methode Die interpretative Methode

SPRACHGEOGRAPHIE U N D LEXIKOLOGIE

1.2.1.

2. 2.1.

9 11 13 14

D i e Prinzipien sprachgeographischer Wortbetrachtung

14

1.2.1.1. 1.2.1.2. 1.2.1.3.

Geometrismus Biologismus und Pathologismus Sprachstratigraphie

15 16 22

1.2.2.

O n o m a s i o l o g i e und S e m a s i o l o g i e

25

1.2.2.1. 1.2.2.2. 1.2.2.3. 1.2.2.4. 1.2.2.5. 1.2.2.6. 1.2.2.7.

Onomasiologie in der Sprachgeographie Inhalt und Begriff Weisgerbers Modell der Lexikologie Onomasiologische Relationen Semasiologische Relationen Bedeutung und Bezeichnung Semasiologische und onomasiologische Felder

25 26 30 31 33 34 37

1.2.3.

D i e I n h a l t s k o m p o n e n t e in der Sprachgeographie

40

1.2.3.1. 1.2.3.2.

Der Atlas Gilliérons Die Nachfolger des A L F 1.2.3.2.1. Der Explorator 1.2.3.2.2. Die Fragemethode 1.2.3.2.3. Der Questionnaire

40 46 49 51 56

1.2.4.

Zusammenfassung

67

D I E STRUKTURELLE SPRACHGEOGRAPHIE

69

D I E THEORETISCHEN G R U N D L A G E N

69

2.1.1.

Die Aufgabenstellung

70

2.1.2.

D a s Problem von langue und parole

80

VI

2.2.

3.

2.1.3.

Idiolekt - Lokolekt - Dialekt

86

2.1.3.1. 2.1.3.2. 2.1.3.3. 2.1.3.4.

Hegers hierarchisches System Idiolekt und langue Lokolekt und langue »Dialekt«

86 87 89 93

2.1.4.

Das Diasystem

96

2.1.4.1. 2.1.4.2. 2.1.4.3. 2.1.4.4.

Die Konzeption Coserius Das Diasystem in der Sprachgeographie Das Diasystem als Inventarsystem Das Diasystem als Bezugssystem

97 98 99 100

D I E STRUKTURELL-SEMANTISCHE SPRACHGEOGRAPHIE

105

2.2.1.

Zur Anwendung des diasystematischen Vergleichs im Bereich der Lexik

105

2.2.2.

Möglichkeiten struktureller Wortgeographie nach Goossens

108

2.2.3.

Kritische Betrachtung einiger strukturell-lexikalischer Arbeiten im Bereich der Dialektologie

114

2.2.4.

Methodologische Überlegungen zu einer strukturell-diatopischen Semantik

144

D I E STRUKTURELLE WORTFELDMETHODE NACH E . COSERIU U N D H . GECKELER

149

3.1.

D I E NOTWENDIGEN VORUNTERSCHEIDUNGEN

150

3.2.

D I E STRUKTURIERUNG DES WORTSCHATZES

154

4.

3.2.1.

Die lexematischen Strukturen

154

3.2.2.

Zur Definition des Wortfeldes

155

3.2.3.

Zur Abgrenzung des Wortfeldes

159

3.2.4.

Die lexikalischen Klassen

162

3.2.5.

Die Bestimmung des lexematischen Inhalts

164

VORBEMERKUNGEN ZUR MATERIALERHEBUNG

165

4.1.

Das Untersuchungsgebiet

165

4.2.

Die Informanten

169

4.3.

Die Enquete

171

4.4.

Die Notierung

172

5.

D A S FELD »TAGESZEITEN«

5.1.

D I E GRUNDOPPOSITION

5.2.

LEXEMATISCHE ANALYSE DES FELDES

176

5.2.1.

Die »Tageszeiten« am P. 13 (Landeyrat)

176

5.2.2.

Die »Tageszeiten« am P. 14 (Menet)

184

5.2.3.

Die »Tageszeiten« am P. 17 (Murat)

190

jorn/nueit

174 174

VII 5.2.4.

Die »Tageszeiten« am P. 18 (Villedieu)

191

5.2.5.

Die »Tageszeiten« am P. 41 (St-Jacques-des-Blats) . . . .

195

5.2.6.

Die »Tageszeiten« am P. 43 (Paulhenc)

196

5.3.

D I A T O P I S C H E R V E R G L E I C H DER S T R U K T U R E N

198

6.

DAS FELD »SCHNEIDEN«

205

6.1.

VORÜBERLEGUNGEN

205

6.2.

LEXEMATISCHE ANALYSE DES F E L D E S

208

6.2.1.

Die Dimension spezifisches Instrument 210

6.2.2.

Die Dimension >Objektbezug
Sprachen< ohne Norm, wie dem Frankoprovenzalischen und dem Niederdeutschen, oder mit Diasystemen ohne fixierte Norm wie dem Regionalfranzösischen beschäftigt. Folglich ist der Gegenstand der Dialektologie auch nicht auf diejenigen Diasysteme begrenzt, die z. B. im Französischen als dialecte bezeichnet werden. Das spanische dialecto, das auch die regionale Variante der Koiné mit einschließt, käme dafür schon eher in Frage 10 .

Wolf weist darauf hin", daß diese Variation nicht nur geographisch in Erscheinung treten könne, sondern ebenso auch in soziolinguistischer Hinsicht, wobei dieser zweite Zweig der Dialektologie heute den Namen »Soziolinguistik« trage. Damit aber erscheint die Bezeichnung Dialektologie zumindest in heutiger Sicht - als der übergeordnete Terminus für Sprachgeographie und Soziolinguistik. Insofern können wir uns Wolf anschließen, wenn er feststellt, die Dialektologie könne definiert werden »als die Beschäftigung mit der Sprachvariation innerhalb eines Diasystems«12. Ist diese Sprachvariation soziolinguistisch definiert oder diastratisch, so ist sie fallen« (S. 17); »Die Französisierungstendenzen werden auf den Kartenblättern des ALF überbetont.« (S. 29). - P. Nauton bemerkt, »le lexique du Massif Central recueilli par Y ALF a trop de gallicismes«. (Nauton (1956), S. 49); Dauzat (1944), S. lOf. spricht diesbezüglich von einem »état un peu plus néologique que celui que présentaient réellement les patois autour de 1900.« 10 Wolf (1975), S. 16. " Wolf (1975), S. 16; ebenso: Wolf (1973), S. 492. 12 Wolf (1975), S. 17.

9 der Gegenstand der Soziolinguistik. Ist sie dagegen geographisch definiert oder diatopisch, so befaßt sich die Sprachgeographie mit ihr 13 . Aus diesen Äußerungen wird deutlich, daß Wolf hierbei schon eine neuere Richtung mit einschließt, die heute als »strukturelle Dialektologie« bezeichnet wird. Diese Richtung wollen wir aber hier vorläufig nicht näher berücksichtigen 14 . Es wurde schon verschiedentlich darauf hingewiesen, daß der Begriff »Sprachgeographie« im eigentlichen Sinne dem Untersuchungsobjekt und der verwendeten Methode nicht ganz gerecht wird. A. Dauzat sähe lieber die Umkehrung in »linguistique géographique«, betrachtet aber den üblichen Terminus als schon zu fest etabliert 15 . E. Coseriu weist ebenfalls auf diesen Umstand hin, ohne jedoch den Terminus abzulehnen: Es muß jedoch vermerkt werden, daß ihre Ergebnisse [sc. der Sprachgeographie] über das streng sprachwissenschaftliche Gebiet hinausreichen, zumal da sie typische Merkmale des menschlichen Lebens auf der Erde verdeutlichen und daher ebenfalls rein geographische Probleme erhellen können 16 .

Wir erachten noch eine weitere Präzisierung als notwendig: Der französische Terminus »geographie linguistique« ist viel allgemeiner als seine deutsche Entsprechung »Sprachgeographie«, die irrtümlicherweise als »geographische Betrachtung der Sprachen« aufgefaßt werden könnte. Dies scheint die Ursache dafür zu sein, daß gerade im Deutschen zwei weitere Termini im Gebrauch sind, »Mundartgeographie« und »Dialektgeographie« 17 , die offensichtlich den Gegenstand dieser Disziplin näher bestimmen sollen. Wie wir jedoch oben dargestellt haben, beschäftigt sich die Sprachgeographie nicht ausschließlich mit den Dialekten einer Sprache, sondern auch mit regionalen Varianten der langue commune, die nicht mit den Dialekten gleichgesetzt werden können.

1.1.2.

Methode und Ziel der Sprachgeographie

Wenden wir uns nun der Frage zu, worin die traditionelle Sprachgeographie sich als M e t h o d e von der damals üblichen Sprachwissenschaft abhebt. Dabei stellen wir fest, daß die Methode der Sprachgeographie eng mit ihren Z i e l s e t z u n g e n verbunden ist, wobei zwischen beiden eine Art ständiger Wechselwirkung besteht, die letztlich den Fortschritt der sprachgeographischen Forschung bewirkte 18 . 13

Cf. oben n. 11. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch W. Moulton, wenn er hinsichtlich der Dialektologie schreibt: » ( . . . ) it is the only type of study that enables us to combine the three external dimensions relevant to human language: the dimensions of time, space, and social level.« (Moulton (1968), S. 460f.). 14 Siehe dazu unten Kapitel 2. 15 Dauzat (1944), S. 5 n. 1. 16 Coseriu (1975), S. 8. 17 Cf. Wolf (1975), S. 38.

10 Gilliérons Plan, sich von der damals üblichen historisch-vergleichenden Methode abzuwenden 1 9 und sich auf die tatsächlich gesprochene Sprache zu stützen, wurde in der Absicht gefaßt, »die innere Mechanik der Sprache« 20 zu entdecken. Aus dieser Absicht heraus sind die zunächst ins Auge gefaßten Ziele und die für deren Durchsetzung erforderlichen Methoden zu betrachten. Diese allgemeinen Ziele der Sprachgeographie haben sich zumindest in ihrer traditionellen Ausprägung - im wesentlichen bis heute erhalten. Sie werden von R. Hotzenköcherle im Einführungsband zum Sprachatlas der deutschen Schweiz in drei Großbereiche eingeteilt: 21 1. Erstellung eines synchronisch-räumlichen Inventars von Lauten, Formen und Wörtern ; 2. Heranziehung dieses Materials zur Deutung sprachlicher Probleme (Hotzenköcherle verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Gilliérons); 3. In-Beziehung-Setzen sprachlicher Erscheinungen mit außersprachlichen Fakten wie z. B. Topographie und Geschichte. Bei L. Wolf finden wir eine ähnliche Darstellung, wenn er die Sprachgeographie definiert: a) als Ziel, die geographische Verbreitung sprachlicher Phänomene zu beschreiben; b) als Methode, mit deren Hilfe geographisch unterschiedliche Materialien verglichen und interpretiert werden können 22 .

Gerade weil sich Ziele und Methoden der Sprachgeographie gegenseitig bedingen und durchdringen, ist es in unserem Zusammenhang müßig, die Frage zu erörtern, was den Zielen und was den Methoden zuzurechnen sei. Wenn wir an dem oben formulierten primären und allgemeinsten Ziel sprachgeographischer Forschung, das Leben der Sprache unmittelbar zu entdecken, festhalten, so lassen sich zwei Methoden unterscheiden, die zur Verwirklichung dieses Zieles entwickelt wurden. Die eine entspricht dabei dem jeweils ersten Punkt bei Hotzenköcherle und Wolf (siehe oben). Wir wollen diese für das äußere Erscheinungsbild der Sprachgeographie wohl auffälligste Methode als e m p i r i s c h e M e t h o d e bezeichnen. Sie ist hingegen nicht Selbstzweck der Sprachgeographie 23 , sondern nur Vorbedin18

Wir können hier nur eine mehr oder weniger statische Betrachtung anstellen. Zur entwicklungsgeschichtlichen Darstellung siehe neben den bereits angeführten Werken vor allem: Spitzer (1914-15); Griera (1958); Kuhn (1949); Millardet (1923); Moulton (1972); Rohlfs (1971), besonders S. 1-25. 19 Cf. Millardet (1923), S. 29: »La méthode géographique semble n'avoir été tout d'abord qu'une extension et un perfectionnement de la méthode comparative primordiale. Elle est née sans doute du désir légitime qu'a eu son créateur de remédier à un des inconvénients qu'offrait dans le domaine des langues romanes le comparatisme traditionnel.« 20 Coseriu (1975), S. 35. 21 Hotzenköcherle (1962), S. If. 22 Wolf (1975), S. 38. 23 Cf. Arens (1969) I, S. 337.

11

gung für die zweite Etappe, die wir als i n t e r p r e t a t i v e M e t h o d e bezeichnen wollen. 1.1.2.1.

Die empirische Methode

Die empirische Methode der Sprachgeographie ist so bekannt und auffällig, daß wir uns hier auf eine knappe Darstellung beschränken können. Sie besteht im wesentlichen darin, das Material sprachlicher Formen, die den Ausgangspunkt für die zweite Etappe bilden sollen, zum einen direkt bei den Sprechern der Sprache zu sammeln und zum anderen anschließend in Kartenform darzustellen, so daß die räumliche Verbreitung dieser Formen klar zutage tritt 24 . Daraus ergibt sich, daß die Sprachgeographie in dieser Phase rein deskriptiv arbeitet und einen statischen Aspekt der Sprache liefert 25 . Auch das Verfahren, wie dieses Material gesammelt wurde, ist bekannt: ein Explorator wurde mit einem Fragebuch (questionnaire) auf den Weg geschickt mit dem Auftrag, die darin enthaltenen Wörter und Ausdrücke an vorher festgelegten Punkten des zu untersuchenden Sprachgebietes von geeigneten Informanten (sujets) in die ihnen gebräuchliche Sprachform übersetzen zu lassen. Um möglichst die am Untersuchungspunkt auch tatsächlich übliche Form zu bekommen, war der Explorator gehalten, bei der Auswahl seiner Informanten darauf zu achten, daß sie aus dem betreffenden Ort stammten und im wesentlichen auch immer dort gelebt hatten. Außerdem sollten sie mehr den unteren sozialen Schichten angehören, da unter den sozial Höherstehenden und den Gebildeten vorwiegend die Standardsprache als Kommunikationsmittel verwendet wurde. Allerdings sollte der Informant auch über eine natürliche Intelligenz verfügen, um den Sinn der Fragen sofort zu erfassen und sie in geeigneter Weise beantworten zu können. Dieses Verfahren, das übrigens von Schuchardt schon rund zwanzig Jahre vor Beginn der Arbeiten am ALF in seiner Habilitationsrede von 187026 wie »eine Art von Vorahnung, eine Fata Morgana dialektgeographischer Methode« 27 angedeutet worden war, blieb im wesentlichen bei allen Atlasunternehmungen der Folgezeit gleich. Verbesserungen traten nur im Detail ein, allerdings hier in gewichtiger Weise: Verfeinerung des Transkriptionssystems, Einbeziehung auch größerer Orte, Verbesserung des Questionnaires und Änderung der Abfragemethode. Entscheidend scheint uns im Hinblick auf unser Thema aber noch ein wesentliches Merkmal der Sprachatlanten allgemein zu sein, gleichgültig ob es sich nun um Großraumatlanten vom Typ des ALF oder um Kleinraumatlanten vom Typ der französischen Regionalatlanten handelt. K. Ja24 25 26 27

Cf. Iordan (1962), S. 317. Cf. Iordan (1962), S. 306. Cf. Schuchardt (1976), S. 166-188. Leo (1932), S. 206.

12 berg und J. Jud haben dieses Prinzip im Einleitungsband z u m AIS deutlich zum Ausdruck gebracht: ( . . . ) die Aufgabe unseres Explorators bestand nicht in der Anlage eines möglichst vollständigen Wörterbuches einer Dorfmundart, sondern in der Aufzeichnung und Feststellung eines Ausschnittes aus dem Wortschatz des vom Explorator gewählten Gewährsmannes, wobei die Breite des Ausschnittes durch das Questionnaire, durch die verfügbare Zeit, durch die Bereitwilligkeit des Sujets und durch die finanziellen Mittel der Enquête in hohem Maße bedingt war28. Damit steht fest, daß der Sprachatlas allgemein nur eine Auswahl aus dem gesamten Sprachschatz in ihrer regionalen Verbreitung zeigen kann. Es stellt sich folglich die Frage, aufgrund welcher Gesichtspunkte diese Auswahl erfolgte und somit, welchen Zweck der Verfasser eines Sprachatlas mit seinem Werk erreichen will 29 . Eine Beantwortung dieser Frage gibt K. Baldinger: Sprachatlas und noch der französische Sprachatlas von G I L L I É R O N waren vom L a u t her konzipiert. Es ging um die Lautgesetze und die Mundartgrenzen 30 . WENKERS

Während diese Zielsetzung sicher für den Wenkerschen Atlas genau zutrifft 31 , kann sie für den ALF nur bedingt gelten. Gilliérons Bestreben war ja, wie wir oben gesehen haben, das Leben der Sprache aufzuzeigen und zu untersuchen. Nach diesen Gesichtspunkten verfasste er auch seinen Questionnaire, der eben einen Ausschnitt aus der Sprache umfassen sollte. Darauf weist vor allem Iordan hin, w e n n er den ALF diesbezüglich mit seinen Vorgängern vergleicht: Zum Unterschied von diesen, die sich ausschließlich für die Laute interessieren, war G I L L I É R O N davon überzeugt, daß es zusammen mit den Lauten alle anderen sprachlichen Besonderheiten zu studieren gilt. Deshalb fügte er solche Wörter in das Questionnaire ein, die auch über die Morphologie, die Syntax und den Wortschatz Auskunft geben mußten. Was den letzteren betrifft, so setzte er auf die Liste neben volkstümlichen Ausdrücken auch genügend gelehrte Wörter, um zu sehen, wie diese von den Dialekten aufgenommen wurden und in welcher Weise sie sich verbreitet haben (wenn man als Ausgangspunkt Paris nimmt, die politische und kulturelle Hauptstadt des Landes)32. 28

Jaberg/Jud (1928), S. 226. Siehe dort auch S. 238: »Der Atlas erstrebt nicht Vollständigkeit, ergibt eine A u s w a h l v o n s p r a c h l i c h e n T a t s a c h e n . « 29 Selbstverständlich kann diese Frage nicht allgemein für alle Sprachatlanten beantwortet werden. Wir beschränken uns hier auf den ALF. Zu den französischen Regionalatlanten siehe unten Kapitel 1.2.3.2. 30 Baldinger (1957), S. 8. 31 Cf. Tagliavini (1973), S. 18; Iordan (1962), S. 173. Löffler (1974), S. 31ff. weist ausdrücklich auf die junggrammatische Herkunft Wenkers hin. Danach wollte Wenker die Mundartgrenzen festlegen und kam zu dem »unerwarteten Befund«, daß nicht nur die Laute, sondern auch die Wörter geographisch differenziert sind. 32 Iordan (1962), S. 177.

13 Hinzuzufügen ist, daß gerade Gilliérons interprétative Arbeiten zeigen, in welchem Maße er sich mit den Lauten auseinandergesetzt hat. Sie waren für ihn letztlich nur der Ansatzpunkt für weitergehende Erklärungen, auf die wir noch eingehen müssen. Was nun allerdings die von Baldinger erwähnten Mundartgrenzen anbetrifft, so darf nicht vergessen werden, daß Gilliéron zusammen mit Gaston Paris, Paul Meyer und Hugo Schuchardt zu den »Dialektleugnern« gehört 33 . Insofern war es nicht sein primäres Anliegen, Dialektgrenzen als solche zu belegen bzw. deren Nichtexistenz nachzuweisen, als vielmehr, Wanderungsbewegungen, Interferenzen, Kollisionen und ähnliche Erscheinungen festzustellen und zu erklären. 1.1.2.2.

Die interpretative Methode

Damit kommen wir nun zur Betrachtung dessen, was wir oben als die interpretative Methode der Sprachgeographie bezeichnet haben. Sie besteht im wesentlichen darin, die festgestellte geographische Verteilung sprachlicher Fakten zu erklären 34 . So schreiben J. Gilliéron und M. Roques selbst im Vorwort ihrer Aufsatzsammlung: Constatant les répartitions géographiques variées des faits linguistiques, nous avons cherché à en rendre compte; (.. .)35.

Damit setzt sich die Sprachgeographie deutlich von der vergleichenden Sprachwissenschaft ab, die ja auch immer geographisch gearbeitet hatte 36 . Während aber hier - vor allem im Rahmen der onomasiologischen Forschung - die geographische Verteilung der Formen Selbstzweck war, aus dem kaum weitere Schlüsse gezogen werden konnten, erlaubt die neue sprachgeographische Methode mit ihrer genauen Lokalisierung der Formen die wesentliche Neuerung, die nach Leo darin besteht, »daß sie die Tatsache der landschaftlichen Bezogenheit als H e b e l der Forschung ansieht« 37 . Auch Millardet erachtet dies als die originellste Neuerung der Sprachgeographie : Le principe de configuration des aires est véritablement original en ce qu'il ne fait intervenir aucune comparaison. Un seul fait linguistique est en jeu, et la répartition de ce fait dans l'espace est éloquente par elle-même 38 .

Diese Äußerung darf aber nun nicht zu Mißverständnissen führen. Vor allem kann aus ihr nicht geschlossen werden, die Sprachgeographie arbeite nicht vergleichend. Im Gegenteil kommt die vergleichende Komponente gerade dann ins Spiel, wenn die Sprachgeographie eine Beziehung »zwi33 34 35 36 37 38

Cf. Tappolet (1905), S. 389. Cf. Tappolet (1905), S. 385. Gilliéron/Roques (1912), S. VIII. Cf. Gamillscheg (1928), S. 1. Leo (1932), S. 204f. Millardet (1923), S. 51.

14 sehen der geographischen Umgebung und der räumlichen Streuung und Verteilung der sprachlichen Formen« herstellt 39 . Es darf andererseits aber auch nicht übersehen werden, daß gerade Gillieron immer wieder diese Beziehung zu seiner Argumentation gar nicht oder nur am Rande benutzte.

1.2.

Sprachgeographie und Lexikologie

Während man die Sprachgeographie häufig als eine Art Gegenreaktion auf die junggrammatische Richtung in der Sprachwissenschaft mit ihrem Dogma von dem ausnahmslosen Wirken der Lautgesetze betrachtet 40 , wird verschiedentlich darauf hingewiesen, daß die großen Fortschritte hauptsächlich im Bereich der Lexikologie erzielt wurden. Baldinger erachtet die Verlagerung vom Laut auf das Wort als eine entscheidende Neuerung, die durch den Sprachatlas bewirkt worden sei41. Auch Vidos weist auf dieses Faktum hin: [Die Sprachgeographie] stellt die Autonomie des Wortes gegenüber dem Laut wieder her, zeigt, daß die Laute sich in den Wörtern wandeln, daß jedes Wort seine besondere phonetische Entwicklung hat, und daß nicht die Laute, sondern die Wörter das Primäre sind 42 .

Gilliéron selbst betont in seiner ersten interpretativen Arbeit zum ALF ausdrücklich :»(...) à l'étude du patois nous opposerons l'étude du mot«*1.

1.2.1.

Die Prinzipien sprachgeographischer Wortbetrachtung

Nach Leos Auffassung sind Geometrismus, Geologismus, Biologismus und Pathologismus quasi Schlüsselwörter für sprachgeographische Untersuchungen 44 . Während dies für die Arbeiten Gilliérons sicherlich weitgehend zutrifft, sind seine Nachfolger mehr und mehr von der naturwissenschaftlichen Auffassung und der biologisch-medizinischen Terminologie abgerückt. Gerade Gilliéron aber benötigte diese Termini, um seine Sicht 39

Coseriu (1975), S. 1. Siehe dazu kritisch Coseriu (1975), S. 31 ff., der darauf hinweist, daß auch die Junggrammatiker Ausnahmen zu ihrem starren Dogma zugelassen haben. Auch in der Sprachgeographie zeige sich, daß Lautgesetze durchaus ihre Gültigkeit haben, wenn man sie nicht im Sinne der Junggrammatiker als Naturgesetze auffasse, die einen gleichzeitigen Lautwandel in der ganzen Sprache postulieren, sondern als ein historisches Prinzip, das sich in manchen Mundarten durchsetze, in anderen jedoch nicht. 41 Cf. Baldinger (1957), S. 8. 42 Vidos (1968), S. 79. 43 Gilliéron/Mongin (1905), S. 27. 44 Leo (1932), S. 212.

40

15 von der Sprache als einem lebenden Organismus darzustellen, der von »Krankheiten« befallen und wieder von ihnen »geheilt« werden kann45. 1.2.1.1.

Geometrismus

Unter »Geometrismus« nun versteht Leo einerseits die »gleichmacherische Einteilung der französischen Sprachkarte durch Gilliéron als einer um einen rein abstrakt gewählten Mittelpunkt beschriebenen Kreisscheibe, bedeckt mit gleichweit voneinander liegenden Ortspunkten« 46 . Andererseits sieht er eine tiefergehende Manifestation Gilliéronschen »Mathematizismus'« in der formelhaften Darstellung wortgeschichtlicher Probleme. Er verdeutlicht dies am Beispiel abeille, für dessen Zusammenhang mit dem Nachfolger des lat. APIS Gilliéron die folgende Ableitungsformel postuliert:47 1) EF, p l u r . ES > 2 ) ES > 3 ) EP > 4 ) Ê-EP > 5 ) ? > 6 ) MOUCHETTE > 7 ) MOUCHE A MIEL >

8) ? >

9 ) ABEILLE.

Die in dieser Formel enthaltenen Unbekannten 5) und 8) werden von Gilliéron konstruiert, um eine lückenlose Ableitungsreihe zu erhalten, die für Paris Gültigkeit besitzen soll. Während er die genannten Formen zunächst unter Anwendung der Lautgesetze und unter Hinzuziehung von Texten gewonnen hat48, sieht er die Richtigkeit seiner Anschauungen vor allem dadurch bestätigt, daß sich diese Formen auf der Karte 1 des ALF wiederfinden. Die wortgeschichtliche Entwicklung, die von afr. ef zu nfr. abeille führt, muß, so Gilliéron, Spuren hinterlassen haben. Die beiden Unbekannten 5) und 8) hingegen, für die er M O U C H E - E P und M O U C H E ABEILLE postuliert, lassen sich nicht nachweisen. Jedoch ist das für Gilliéron kein Hinderungsgrund, zumindest von ihrer möglichen Existenz auszugehen. Les inconnues 5) et 8), à notre connaissance, ne figurent dans aucun texte; elles n'ont laissé aucune trace de leur passage à Paris où elles ont existé. Si, n'existant pas, elles ne peuvent être mises à l'épreuve du calcul des probabilités, elles n'en apparaîtront pas moins comme mathématiquement certaines par les traces qu'elles ont imprimées à d'autres mots, qui eux sont justifiables des lois mathématique 45

Diese biologisch-medizinische Terminologie zeigt sich am deutlichsten in den Titeln einiger seiner Arbeiten, so in: Gilliéron (1915-21) (Pathologie et thérapeutique verbales); Gilliéron (1923) ( Thaumaturgie linguistique). Weitere von Gilliéron verwendete Ausdrücke sind: accident phonétique, mutilé phonétique und pléthore sémantique. 46 Leo (1932), S. 213. Wir können ihm hier nicht zustimmen. So weist z. B. das Dep. Seine-et-Marne nur zwei Atlaspunkte auf, während das Dep. Cantal bei ungefähr gleicher Größe (knapp 6000 km 2 ) sechs Untersuchungspunkte umfaßt. 47 Gilliéron (1918), S. 16. 48 Cf. Gilliéron (1918), S. 16. 49 Gilliéron (1918), S. 17f. (unsere Hervorhebung).

16 Mit einer solchen Argumentationsweise ist die Sprachgeographie deutlich rekonstruktiv. Sie unterscheidet sich von der historisch-vergleichenden Methode nur durch die Berücksichtigung der zu einem synchronen Zeitpunkt im Raum vorhandenen lexikalischen Typen. Während jedoch die letztere Methode Rekonstruktion zum Zweck der Herleitung einer gegebenen Form betreibt, steht bei Gilliéron der wortgeschichtliche Prozeß, nicht die Herleitung als solche, im Vordergrund 50 . Damit macht Gilliéron gleichzeitig auch deutlich, daß einerseits jedes Wort eine eigene Betrachtung verlangt - somit Abrücken von der eher mechanistischen Anwendung der Lautgesetze 51 -, andererseits ist seine Argumentation einzelsprachlich orientiert, weil nur an einer bestimmten Sprache gezeigt werden kann, wie aufgrund lautlicher Entwicklungen pathologische Zustände entstehen, die wiederum zu ganz bestimmten »remèdes« führen 5 2 . 1.2.1.2.

Biologismus und Pathologismus

Dies bringt uns zum zweiten Prinzip sprachgeographischer Forschung, das mit dem ersten insofern eng zusammenhängt, als es letztlich die Vorbedingung für die Argumentation darstellt. Wir fassen darunter zusammen, was Leo als »Biologismus« und »Pathologismus« bezeichnet 53 . Es geht also, wie wir oben schon dargelegt haben, darum, das Leben der Sprache darzustellen. Gilliéron kommt hierbei das Verdienst zu, die inneren Ursachen des Sprachwandels dargestellt und mit Hilfe des Atlasmaterials umfassend belegt zu haben. Ausgangspunkt der Überlegungen Gilliérons war dabei die Beobachtung, daß ein Großteil des französischen Wortschatzes nicht mit den Mitteln der traditionellen Etymologie erklärt werden könne. Quand on étudie de près un patois, on s'aperçoit très vite que la plupart des mots du vocabulaire courant sont d'origine exotique, notamment française 54 .

Folglich betrachtet er die Möglichkeiten, die zu Wortkollisionen und anderen »pathologischen« Zuständen führen. Darin sieht K. Göhri eine der bedeutendsten Leistungen der Wortforschung Gilliérons, nämlich die »Hervorhebung der Bedingungen, unter welchen ein Wort verschwunden ist«55. Hierbei steht an zentraler Stelle die Wirkung der Homonymie, also 50

Cf. Vidos (1968), S. 69. Cf. Gilliéron (1918), S. 14. 52 Wir können uns hier nicht Vidos anschließen, der ((1968), S. 66) feststellt, Gilliéron wolle nicht vergleichend arbeiten. Gilliéron arbeitet nicht historisch-vergleichend, sondern geographisch-vergleichend. - Cf. Gilliéron (1918), S. 47: » ( . . . ) les interprétations ( . . . ) résultent d'une étude faite sur l'ensemble des aires septentrionales et orientales de la France et n'ont pas jailli de la seule observation de ce qui s'est produit dans les aires A et B ( . . . ) . « 53 Cf. Leo (1932), S. 212. 54 Gilliéron (1905), S. 25f. 55 Göhri (1912), S. 67. 51

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des lautlichen Zusammenfalls ursprünglich verschiedener Wörter. Leo weist darauf hin, daß schon vor der Entwicklung der sprachgeographischen Methode die Auswirkungen der Homonymie bekannt gewesen seien; aber erst die Sprachgeographie habe die geeigneten Mittel besessen, solche lexikalischen Veränderungen materiell zu belegen und genau zu lokalisieren 56 . Die einzelnen wortgeschichtlichen Erscheinungen, die Gilliéron untersucht hat, sind zu bekannt, als daß wir sie hier näher erläutern müßten. Wir erinnern an die Homonymenkollision zwischen molere und mulgere57 und zwischen gallus und cattus58. In beiden Fällen ist eines der beiden gleichlautenden Wörter geschwunden: mulgere wurde ersetzt durch die Nachfolger von trahere; für gallus traten vicarius und phasianus ein. Sowohl Vidos wie auch von Wartburg weisen jedoch darauf hin, daß Gilliéron zweifellos den Vorgang der Ersetzung des »kranken« Wortes nicht richtig sah, als er hinsichtlich des Untergangs von gallus schrieb: Il fallut bien chercher au coq de la basse-cour un nom qui ne lui suscitât pas d'adversaire trop immédiat et trop dangereux. Il dut y avoir quelque hésitation pour te choix de ce nom et une certaine diversité; l'on en arriva enfin à en faire du coq ambitieusement un >faisan< ou plaisamment un >vicairemelken< seien schon vor den Homonymenkollisionen zum Ausdruck des entsprechenden Begriffs vorhanden gewesen. Eine weitere Präzisierung finden wir bei von Wartburg, der an einer oft zitierten Stelle deutlich macht, in welcher Beziehung die beiden Ersatzwörter zum untergegangenen Wort standen 61 . Er betrachtet vicaire (oder besser noch viguier > Dorf richten 6 2 ) als ein affektgeladenes »Trabanten wort« von gallus, das durch einen glücklichen Zufall »ins Zentrum« gerückt sei und gallus ersetzt habe. Demgegenüber sei traire ein Normalwort, das »in semantischer Nähe und Reichweite« 63 von mulgere gelegen und dieses schließlich ersetzt habe. Von Wartburg hält es für wahrscheinlich, daß dieses traire ursprünglich einen vorbereitenden Vorgang vor dem eigentlichen Melken 56 57 58 59 60 61

62 63

Cf. Leo (1932), S. 215. Cf. Gillieron/Roques (1912), S. lOff. Cf. Gillieron/Roques (1912), S. 131 ff. Cf. Gillieron/Roques (1912), S. 128 (unsere Hervorhebung). Cf. Vidos (1968), S. 170f. Cf. von Wartburg (1970), S. 137-149, besonders S. 146. Siehe dazu allgemein Ullmann (1969), S. 230ff. Cf. von Wartburg (1970), S. 138 n. 2. Von Wartburg (1970), S. 146.

18 bezeichnet habe und somit »in der Begriffssphäre von mulgere drinnenstand als Bezeichnung dieser vorbereitenden Tätigkeit des > Anziehens < « 64 . Neben den Fällen von Homonymie, die zum Untergang eines Wortes führen, kennt Gilliéron noch andere Verfahren mit derselben Wirkung. Da diese Ursachen des Wortschwundes zum einen meist in ursächlichem Zusammenhang mit der Homonymie stehen, zum anderen - abgesehen von konkreten Einzelfällen - keine theoretischen Probleme darstellen, können wir uns hier auf eine knappe Darstellung beschränken. Das erste der zu erwähnenden Phänomene ist die »mutilation phonétique«, also der durch den Lautwandel hervorgerufene Schwund des Wortkörpers. Das Prinzip dabei ist klar ersichtlich und stellt den Zusammenhang mit der Homonymie her: je kleiner ein Wortkörper ist, desto weniger Differenzierungsmöglichkeiten gegenüber anderen Wörtern besitzt er, und folglich ist für ihn die G e f a h r eines lautlichen Zusammenfalls mit einem anderen Wort besonders groß 65 . Gilliéron gibt ein anschauliches Beispiel für einen solchen Wortkörperschwund in seiner Darstellung der Bezeichnungen der Biene 66 . Die normale Lautentwicklung im nordfranzösischen Raum ergab aus lat. APIS ein afr. e f . Durch den drohenden Fall der Auslautkonsonanten sei diese Form ständig von der Entwicklung zu é bedroht gewesen, so daß die Sprache als therapeutisches Mittel die Pluralform auch auf den Singular übertragen hätte mit dem Ergebnis es >BieneBiene< und >Vogel< in den beiden Ausdrükken LE VOL DES es gegenüber LE VOL D'ézé. Dieser Kollision habe >Biene< nichts mehr entgegensetzen können und sei folglich durch mouche à miel ersetzt worden. Aus der Erhaltung der Form é >Biene< im Artois folgert Gilliéron, der Untergang in den anderen nordfranzösischen Gebieten sei nicht auf die »mutilation phonétique«, sondern auf eine Homonymenkollision zurückzuführen 6 7 . Eine weitere Ursache für den Untergang von Wörtern sieht Gilliéron in der Wirkung der Volksetymologie. U m genauer zu sein, müßten wir besser sagen: Das Wort geht als solches nicht unter; es wird vielmehr semantisch 64 65 66

67

Von Wartburg (1970), S. 145. Cf. Ulimann (1969), S. 220. Wir geben im folgenden Gilliérons Argumentation wieder, cf. (1918), S. 69. Vgl. auch die Formel oben S. 15. Dauzat (1944), S. 79.

19 und/oder lautlich mit einem anderen Wort identifiziert. Deshalb spricht Dauzat auch von »attraction paronymique« 68 . Für Gilliéron ist die étymologie populaire »un des facteurs les plus importants dans la formation de la langue«, ein »facteur contrariant le développement mécanique de la langue« 69 . Er hat in seinen Arbeiten eine große Anzahl von Beispielen gegeben, in denen er die Wirkung der Volksetymologie erkennt und die er gegen die aufgrund der Lautgesetze aufgestellten Etymologien anführt 7 0 . Aus der Vielzahl wählen wir ein Beispiel aus, das hier nur zur Veranschaulichung dienen soll71. Während üblicherweise der Übergang vom femer >düngen< zu fumer mit dem Einfluß der beiden Labialkonsonanten erklärt wird 72 , weist Gilliéron diese Erklärung unter Berufung auf die geographische Verbreitung der Erscheinung zurück. Seiner Meinung nach ist es sehr wahrscheinlich, daß der Übergang unter dem Einfluß von fumer >rauchen< erfolgte, wobei der Zusammenhang mit diesem Begriff darin gesehen wird, daß man im Herbst neben dem eigentlichen Düngen der Felder mit Mist auch eine Düngung durch Verbrennung von welken Kräutern und Gräsern praktizierte, so daß der Sachzusammenhang sich leicht auf eine lautliche Annäherung der beiden Verben übertragen konnte. Gilliéron wendet sich deutlich gegen de Saussure, der nach der Ausgabe von 1916 seines Cours in der Volksetymologie ein pathologisches Phänomen gesehen hatte 73 . In der zweiten Auflage des Cours von 1922 wurde dieser Ausdruck gestrichen 74 . Auch von Wartburg erhebt gegen die ursprüngliche Formulierung de Saussures Einwände. Seiner Ansicht nach ist die Volksetymologie kein pathologischer Sprachzustand, sondern »vielmehr die Gruppierung der Wörter nach Familien, wie sie vom Sprachgefühl des Volkes in einem gewissen Zeitpunkt vorgenommen wird« 75 . Aber auch Gilliérons Forderung, die Volksetymologie an die Stelle der historischen Etymologie zu setzen 76 , lehnt von Wartburg mit der Begründung ab, die beiden Begriffe lägen nicht auf der gleichen Ebene und könnten sich daher nicht kontradiktorisch gegenübergestellt werden 77 . Zusammenfassend ergibt sich somit bezüglich der Volksetymologie, daß in ihr eine Tendenz der Sprecher gesehen werden kann, Wörter semantisch mit anderen dadurch zu identifizieren, daß sie deren Form ganz oder teilweise anneh68

Gilliéron (1918), S. 223. Gilliéron (1918), S. 228. 70 Siehe besonders: Gilliéron (1919) und (1922). 71 Cf. Gilliéron (1918), S. 249-252. 72 So auch Bloch/von Wartburg (1975), S. 208b. 73 Cf. Gilliéron (1918), S. 223 n. 2; de Saussure (1916), S. 247. 74 Cf. de Saussure/de Mauro (1975), S. 241 und S. 473 n. 284. 75 Von Wartburg (1970), S. 125; siehe dort auch n. 2 weitere bibliographische Hinweise zur Volksetymologie. 76 Cf. Gilliéron (1919), passim. 77 Cf. von Wartburg (1970), S. 125.

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20 men. Deshalb sind von ihr vor allem Wörter betroffen, die mehr oder weniger isoliert, d. h. ohne die dazugehörige Wortfamilie in einer Sprache existieren. Ullmann weist aber ausdrücklich darauf hin, daß auch ganz geläufige Wörter volksetymologisch umgedeutet, also mit einem anderen Wort identifiziert werden können 78 . Voraussetzung dieser Identifikation ist aber, wie unser obiges Beispiel fumer >düngen< zeigt, daß die beiden in Frage kommenden Wörter sich zumindest in der Meinung der Sprecher semantisch nahekommen und eine gewisse lautliche Ähnlichkeit aufweisen. Deshalb sind gerade Fremdwörter häufig von volksetymologischen Umdeutungen betroffen 79 . Für die historische Etymologie stellen diese Umdeutungen insofern ein Problem dar, als sie nicht mit den Mitteln der traditionellen Lautlehre erklärt werden können. Möglicherweise ist darin auch der Grund zu sehen, warum die Phänomene der Volksetymologie von Gilliéron in allen seinen Arbeiten in außergewöhnlich hohem Maße berücksichtigt werden, bieten sie doch für ihn die beste Möglichkeit, die »faillite« der von ihm so sehr abgelehnten historisch-phonetischen Etymologie zu untermauern. Dabei darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, daß Gilliéron gegenüber der traditionellen Etymologie insofern im Vorteil ist, als er anhand des ALF über ein ungleich größeres Quellenmaterial zur Veranschaulichung seiner Thesen verfügt. Dieses Material wird noch dadurch vergrößert, daß Gilliéron die synchrone Ebene dazu benutzt, Wortgeschichte zu betreiben und insofern direkt den Prozeß beschreibt, der zur volksetymologischen Umdeutung eines Wortes führt. Im Falle der oben angeführten »mathematischen« Formel für die Herleitung von nfr. abeille aus afr. e f , es wird dieser Prozeß besonders an der Form 5) mouche-ep deutlich, die als konstruierte Form erst die Voraussetzung für die volksetymologische Umdeutung der Form 6) mouchette darstellt80. Als letztes wollen wir die Wirkung der semantischen Hypertrophie erwähnen, für die Gilliéron auch den Begriff der »pléthore sémantique« verwendet. K. Jaberg hat das dabei entstehende Problem schon vor Gilliéron skizziert: Das Problem ist also dieses: Ein altes Wort wird zur Bezeichnung eines neuen Begriffes; der alte Begriff aber bleibt - wie verhält sich die Sprache? 81

78

Cf. Ullmann (1969), S. 124f. Wir erinnern nur an frz. choucroüte und dt. Hängematte. Zahlreiche Beispiele zur Volksetymologie finden sich bei Ullmann (1969), S. 121-125 und Dauzat (1944), S. 79-88. 80 Siehe dazu jedoch auch die von Gillierons Erklärung dieser Form 6) abweichende Deutung Dauzats, der in ihr einen echten Diminutiv >kleine Fliege< im Unterschied zur größeren Fleischfliege sieht (cf. Dauzat (1944), S. 46ff.). Diese Ansicht wird von Gillieron jedoch energisch abgelehnt (cf. Gillieron (1922), S. 24ff.). 81 Jaberg (1908), S. 27.

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21 Es handelt sich also um eine Betrachtung der Polysemie, die dann störend sein kann, wenn die beiden in einem Wort enthaltenen Inhalte in irgendeiner Weise nicht miteinander vereinbar sind. Der so verstandenen Polysemie wird von Gilliéron in seinen Arbeiten der gleiche Anteil am Wortersatz zugeschrieben wie der Homonymie. La collision phonétique (homonymes) et sémantique (hypertrophie) a été dans les langues une éternelle menace, une éternelle cause de disparitions lexicales; la création lexicale a été dans les langues une éternelle activité réparatrice exigée par la collision 82 .

Diese klare Zweiteilung in Homonymie und Polysemie findet sich auch an einer anderen Stelle, wo Gilliéron hinsichtlich des Wortersatzes schreibt: Cette substitution et cette coexistence [von Erb- und Buchwörtern] ont leur origine dans le besoin de clarté, dans le besoin de distinguer les uns des autres des homonymes de sémantique différente et des sémantiques différentes dans un seul et même mot, d'effacer dans la langue deux éléments d'obscurité. La sursaturation phonétique et la sursaturation sémantique, qui, en réalité, ne sont qu'un seul état pathologique, réclament la même médication, la substitution 83 .

Während er jedoch für das Phänomen der störenden Homonymie allgemein sehr viele Beispiele aus den französischen Mundarten anführt, wird die störende Polysemie in seinen Arbeiten weniger deutlich dargestellt, was sicherlich seine Ursache in der Schwierigkeit hat, überzeugend die Gründe aufzuzeigen, warum ein Wort mehrere verschiedene Bedeutungen annimmt 8 4 . Im Rahmen der Untersuchungen über die Bezeichnungen der Biene zeigt Gilliéron 85 , daß die Homonymenkollision zwischen den Nachfolgern von lat. APIS und *AUCELLUS im nordfranzösischen Raum zum Untergang beider Wörter geführt hat. Der Inhalt >VogeI< wurde daraufhin von der Bezeichnung für den Sperling mit übernommen, wodurch die beiden regional differenzierten Wörter moineau und {le) moisson polysem wurden. Es ist leicht ersichtlich, daß eine solche Polysemie sich störend auf das Funktionieren der Sprache auswirkt, weil die lexikalische Opposition zwischen Gattung und Art nicht mehr funktioniert. Die Abhilfe kam nach Gilliéron in diesem Fall aus Paris, aus der Standardsprache, der oiseau für den Inhalt >Vogel< entlehnt wurde. Obwohl Ullmann die Sprachgeographie als die »méthode la plus exacte pour diagnostiquer la polysémie intolérable« bezeichnet 86 , hält er doch die Bedeutung, die Gilliéron der Polysemie zuschreibt, für etwas übertrieben, 82

Gilliéron (1918), S. 157. Gilliéron (1918), S. 258 (unsere Hervorhebung). 84 Jaberg (1908), S. 27 kann dagegen anhand der sich wandelnden Mode deutlich zeigen, wie durch den Wandel des Inhalts von chausses >Strümpfe< zu >Hosen< der erste Inhalt von chaussettes übernommen wurde, welches zunächst die Sokken bezeichnete. 85 Cf. Gilliéron (1918), S. 155ff. 86 Ullmann (1969), S. 212. 83

22 vor allem wenn dieser den Erfolg der Latinismen und Buchwörter darauf zurückführe, daß sie als präzise, homoseme Ausdrücke an die Stelle der von lautlichen und semantischen Kollisionen betroffenen Erbwörter ge• 87 treten seien . 1.2.1.3.

Sprachstratigraphie

Als drittes Prinzip sprachgeographischer Forschungsmethoden nennen wir die eigentliche g e o g r a p h i s c h e Ausprägung, die ihre Fortsetzung und Vertiefung in der S p r a c h s t r a t i g r a p h i e bzw. S p r a c h g e o l o g i e findet. Während sich die beiden Prinzipien des Biologismus und des Pathologismus im wesentlichen auf das innere Leben der Sprache beziehen, stellt der Geographismus und Geologismus den mehr externen Aspekt der Sprache in den Vordergrund, wobei die geographische Lagerung der sprachlichen Formen letztlich den Ansatzpunkt der Interpretation liefert 88 . Der Aspekt des Geographismus ist der sprachgeographischen Methode inhärent. Auf den Bereich der Lexikologie bezogen beinhaltet er, daß jedem Wort der genaue geographische Raum zugewiesen wird, in dem es vorkommt. Die Darstellung dieses Vorkommens in Form von Sprachkarten gibt darum automatisch Auskunft über die lexikalischen Areale. Ihre offensichtliche Unregelmäßigkeit und Verworrenheit wurde von den Dialektleugnern 89 als Argument für die Nicht-Existenz von Mundartgrenzen betrachtet, während die Befürworter nach wie vor bei ihrer Auffassung blieben 90 . M. A. Borodina hat in neuerer Zeit darauf hingewiesen, daß bei einem Vergleich einer beträchtlichen Anzahl lexikalischer Isoglossen die Möglichkeit gegeben sei, »Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, die zum größten Teil mit der sprachlichen Gliederung Frankreichs vorwiegend in Dialekte und Subdialekte« zusammenhängen 9 1 . Ausgehend von einer solchen statischen Betrachtung der Wortlagerung hat Gillieron bereits in seiner ersten Arbeit zum ALF gezeigt, daß die Verteilung lexikalischer Areale im Raum Aufschlüsse über Wanderungsbewegungen zuläßt. Daß die Wörter 87

Cf. Ulimann (1969), S. 214; siehe auch Gilliéron (1918), S. 221f„ wo frz. table, sable und fable der »seconde souche latine« zugeschrieben werden, die sich deshalb durchgesetzt habe, weil die erbwörtlichen Vertreter dieser Typen wegen Homonymenkollisionen oder semantischer Hypertrophie »dans quelque recoin sémantique« abgedrängt worden seien, sofern sie überhaupt noch existieren. 88 Siehe dazu oben S. 13. 89 Cf. Tappolet (1905), S. 389f. 90 Cf. Gamillscheg (1928), S. 5f.; Coseriu betont zu Recht, der Nachweis der Nichtexistenz von Dialektgrenzen könne nicht als Beweis für die Nichtexistenz von Dialekten überhaupt angeführt werden, denn »die Dialekte gibt es nicht vor, sondern erst nach der Feststellung der Bereiche, in denen man die konkreten Erscheinungen verzeichnet ( . . . ) . « Coseriu (1975), S. 29. 91 Borodina (1967), S. 109.

23 wandern war schon vor Beginn der eigentlichen sprachgeographischen Forschung bekannt 92 , und daher war man sich auch bewußt, daß die Areale, wie sie sich im Sprachatlas abzeichnen, nicht notwendigerweise primärer Natur sind. So hat J. Jud schon wenige Jahre nach der Veröffentlichung des ALF die Frage gestellt, ob die dort erscheinenden Sprachgrenzen älteren Datums sind oder ob sie einen eher temporären Charakter besitzen 93 . In der vielzitierten Stelle zu Beginn seiner Untersuchungen über die Bezeichnungen für »sägen« im südfranzösischen Raum fragt Gilliéron hinsichtlich der vier auf die Randgebiete des Sprachraums verteilten isolierten Areale von SERRARE >sägenBuch< auch durch die Ausdrücke Schwarte, Werk, Arbeit, Schmöker usw. wiedergegeben werden 138 . c) Als dritte Möglichkeit kann als Ausgangspunkt ein in der begrifflichen Struktur an hoher Stelle erscheinender Begriff gewählt werden von dem man annimmt, daß er in einer Einzelsprache durch mehrere lexikalische Einheiten aufgegliedert wird 139 . Dieser Begriff kann als archilexematischer Inhalt bezeichnet werden, unabhängig davon, ob er in einer Einzelsprache als Lexem vertreten ist oder nicht. Die so gewonnenen Einheiten der Ausdrucksebene enthalten alle auf ihrer Inhaltsseite den vorgegebenen Begriff mit weiteren inhaltlichen Bestimmungen. Ein Beispiel hierfür ist das Wortfeld »siège« von B. Pottier, das durch die Lexeme tabouret, chaise, fauteuil, canapé etc. aufgegliedert wird 140 . Es versteht sich von selbst, daß über die Inhalte der so gewonnenen Einheiten nur gesagt werden kann, daß sie den abgefragten Begriff beinhalten 141 . Neben diesen drei Möglichkeiten synchroner Onomasiologie besteht prinzipiell auch die Erweiterung um bzw. Beschränkung auf die diachrone Blickrichtung. Dies ist vor allem üblich bei (a) und (c), wobei im Falle von (a) anstelle verschiedener Sprachen verschiedene Epochen derselben Sprache bzw. auch mehrerer Sprachen gewählt werden. Im Falle der diachronen Blickrichtung bei der dritten genannten Möglichkeit wird untersucht, welche in einer Sprache als Wörter gegebenen Einheiten den archilexe138

Auf diese Art der multiplen Bezeichnung werden wir noch ausführlicher eingehen. 139 Cf. Coseriu (1968), S. 4. 140 Cf. Pottier (1964). 141 Im Unterschied zu Harras (1972), S. 54 und S. 133 sind wir nicht der Ansicht, daß die »Gesamtbedeutung« (?) eines auf diese Weise gewonnenen Ausdrucks erst »vermittels einer exhaustiven semasiologischen Analyse eruiert werden« kann (S. 133). Wir stimmen mit ihr darin überein, daß vor allem durch die Verfahren (a) und (b) lediglich ein möglicher Inhalt eines Ausdrucks festgestellt wird, glauben aber, daß die sprachliche oder Systembedeutung eines Lexems letztlich nur durch die Abgrenzung gegenüber anderen inhaltlichen Einheiten festgestellt werden kann, also mit den Mitteln der strukturellen Semantik. Siehe dazu unten Kapitel 3.

33 matischen Inhalt zu verschiedenen Epochen dieser Sprache aufgliedern. Dies ist die prinzipielle Methode Triers, die als »Wortfeldmethode« bekannt wurde142. Es soll hier noch darauf hingewiesen werden, daß die onomasiologische Fragestellung vor allem in ihrer sprachgeographischen Ausprägung häufig nicht einen irgendwie definierten Begriff als Ausgangspunkt wählt, sondern statt dessen von einem konkreten Gegenstand ausgeht und nach den Ausdrücken fragt, mit denen dieser Gegenstand bezeichnet werden kann. Diese Art der Fragestellung kann die oben genannten Möglichkeiten (a) und (b) betreffen und führt zu diatopischen bzw. einzelsprachlichen Bezeichnungsfeldern. 1.2.2.5.

Semasiologische Relationen

Im Unterschied zur Onomasiologie untersucht die semasiologische Blickrichtung die Beziehungen, die zwischen einem Wortkörper (Ausdruck) und verschiedenen Inhalten bestehen, wobei die so unterschiedenen Inhaltseinheiten ein semasiologisches Feld bilden143. In schematischer Darstellung ergibt sich somit etwa folgendes Bild:144 Ausdruck

Inhalt, Inhalt 2 Inhalt, Inhalt,, Inhalt 5 . . .

Wird dieses Vorgehen synchron auf eine Einzelsprache angewandt, so besteht zunächst die theoretische Schwierigkeit, daß es mit dem Saussureschen Zeichenbegriff nicht vereinbart werden kann, weil die quantitative Konsubstantialität von signifié und signifiant nicht aufrecht erhalten werden kann. Dagegen ist die semasiologische Betrachtungsweise mit diachroner Blickrichtung durchaus mit diesem Zeichenbegriff vereinbar. Es lassen sich folglich drei wesentliche semasiologische Relationen unterscheiden: 142

Cf. Trier (1973), der bewußt vom Einzelbegriff der Onomasiologie abrückte und einen Begriffsblock ansetzte, dessen sprachliche Aufgliederung er untersuchte. Damit können wir Quadri (1952) zustimmen, der S. 26ff. Triers Vorgehen als synchrone Onomasiologie bezeichnet, denn tatsächlich ist die Blickrichtung vom Begriff zum Ausdruck eindeutig onomasiologisch, wenn dies auch nur Triers Ansatz betrifft. In der Untersuchung der sprachlichen Aufgliederung dieses »Begriffsblocks« verläßt Trier jedoch den eigentlich onomasiologischen Bereich. Siehe zum Verhältnis von Triers Feldmethode und der Onomasiologie Ricken (1961) und (1961a), der Triers Methode ablehnend gegenübersteht und sie letztlich auch als nicht anwendbar bezeichnet. Siehe dazu auch Geckeier (1971), S. 100f„ besonders S. 104. 143 Siehe dazu unten S. 37f. 144 Cf. Coseriu (1964), S. 165; Geckeier (1973), S. 6.

34

a) Ein einzelsprachlicher Ausdruck wird daraufhin untersucht, welche verschiedenen Inhalte ihm unter synchronem Gesichtspunkt in einer Einzelsprache zukommen. Wenn daran festgehalten wird, daß einem signifiant nur ein signifié entspricht, so gibt es prinzipiell nur zwei Möglichkeiten der Inhaltsvielfalt: 145 aa) den Fall der Polysemie, also die Tatsache, daß einem sprachlichen Ausdruck mehrere disparate Inhalte entsprechen. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit man berechtigt ist, für mehrere Inhalte nur eine Ausdruckseinheit anzusetzen, zumal sich diese Art der Polysemie letztlich auf historisch-etymologische Überlegungen stützt und häufig eher als Homophonie zu betrachten wäre. ab) den Fall der einzelnen Redebedeutungen, also der verschiedenen kontextbedingten Bedeutungsvarianten. Auch in diesem Fall wird gelegentlich von Polysemie gesprochen, wenngleich hier die Ausdruck-Inhalt-Relation deutlich anders ist als im Falle (aa). b) Unter Beibehaltung der synchronen Betrachtungsweise kann man von einem Ausdruck ausgehen und nach den Inhalten fragen, die sich mit diesem in verschiedenen Sprachen verbinden. Dabei kann einerseits etwa ein lat. Etymon gewählt und nach der Inhaltsseite der verschiedenen, in den romanischen Sprachen vertretenen materiellen Nachfolger dieses Etymons gefragt werden; andererseits kann in gleicher Weise untersucht werden, welche Inhalte den Repräsentanten dieses Etymons in den verschiedenen Dialekten einer historischen Sprache zukommen. Dieses Verfahren hat vor allem durch die Sprachgeographie einen gewissen Aufschwung erfahren und zur Erstellung von sogenannten »Bedeutungskarten« geführt, in denen nicht mehr ein Begriff, sondern eine Art übereinzelsprachlicher Ausdruck (bzw. statt dessen ein Etymon) als Kartentitel fungiert, während an den Untersuchungspunkten die dort üblichen Inhalte dieses Ausdrucks erscheinen146. c) Umgekehrt kann die Relation zwischen einem festen Ausdruck und wechselnden Inhalten diachron untersucht werden mit der Frage nach den verschiedenen Inhalten, die einem Ausdruck im Lauf der Geschichte einer Einzelsprache entsprechen. Diese Betrachtungsweise ist letztlich die Grundlage der sogenannten »Wortgeschichte«. 1.2.2.6.

Bedeutung und Bezeichnung

Wie wir oben bereits ausführlich dargestellt haben, unterscheidet Weisgerber im sprachlichen Zeichen Inhalt (»Begriff«) und Ausdruck (»Name«), 145

Cf. Geckeier (1971), S. 130ff.; Coseriu (1966), S. 204: » ( . . . ) ce qu'on appelle >polysémie< n'est souvent que la série des variantes déterminées par les contextes.« 146 Cf. Löffler (1974), S. 115ff.; Goossens (1969), S. 69ff. und im Kartenanhang die Karten 16, 17 und 26 bis 29.

35 Für die B e z i e h u n g e n , d i e z w i s c h e n d i e s e n b e i d e n B e s t a n d t e i l e n walten, sind am zweckmäßigsten die Ausdrücke B e z e i c h n u n g (Name als Zeichen, also v o m Begriff aus gesehen) und B e d e u t u n g (das Bedeutete, der Begriff, vom Namen aus gesehen) 147 .

Daraus wird ersichtlich, daß für Weisgerber die Bedeutung ein Beziehungsbegriff ist, wie er in ähnlicher, jedoch nicht identischer Weise auch von Ulimann vertreten wird 148 . Während die so definierte Bedeutung von einer »Bedeutungslehre« im Sinne der oben dargestellten onomasiologischen Fragestellung untersucht werden soll, fordert Weisgerber einen eigenen Zweig der Wortlehre, die sich ausschließlich mit den sprachlichen Inhalten, Weisgerbers »Begriffen« zu befassen habe, wobei die sprachlichen Ausdrücke quasi aus der Untersuchung ausgeschlossen bleiben sollen. Aus den obigen Erläuterungen zu den onomasiologischen und semasiologischen Relationen läßt sich erkennen, daß keine dieser beiden Richtungen in der Lage ist, den sprachlichen Inhalt ohne Berücksichtigung des Ausdrucks zu untersuchen. Wie Coseriu überzeugend dargestellt hat 149 , handelt es sich bei diesen beiden Arten der Wortforschung um die Untersuchung von einfachen Beziehungen zwischen Ausdruck und Inhalt (bzw. Begriff), die mehrfach angestellt wird. Ausgeschlossen aus der onomasiologischen wie aus der semasiologischen Fragestellung seien dagegen Untersuchungen zu multilateralen Beziehungen zwischen Inhalten oder Ausdrücken, wie sie von Weisgerber neben der Bedeutungs- und Bezeichnungslehre gefordert wurden. Daran ändern - so Coseriu - auch gelegentliche Berücksichtigungen von Ausdrucksassoziationen zur Bestimmung eines Inhalts bzw. von Inhaltsassoziationen zur Bestimmung eines Ausdrucks nichts, die folgendermaßen dargestellt werden können:

1

t

Ausdruck, - Ausdruck,

Ausdruck

Inhalt

Inhalt, - Inhalt 2

Es sei zu beobachten, daß die einfachen Beziehungen zwischen Inhalt und 141

Weisgerber (1927), S. 181. Im Vergleich zu diesen eindeutigen Aussagen über die Richtung der beiden Beziehungen »Bedeutung« und »Bezeichnung« (wie auch der diesen entsprechenden Zweige der Wortlehre, der »Bedeutungslehre« und der »Bezeichnungslehre«) scheint uns die durch entsprechende Pfeile dargestellte Beziehung in der schematischen Zusammenfassung von Weisgerbers »System der Wortlehre« S. 182 nicht mit den im Text vertretenen Auffassungen übereinzustimmen. Vielmehr müßten in der schematischen Darstellung die Pfeile ausgetauscht werden. Siehe hierzu auch Geckeier (1971), S. 79 n. 146. 148 Cf. Ulimann (1963), S. 70: » M e a n i n g is a reciprocal relation between name and sense, which enables them to call up one another.« Siehe zu den verschiedenen Auffassungen der sprachlichen Bedeutung die ausführliche Darstellung bei Geckeier (1971), S. 4 5 - 8 3 . 149 Cf. Coseriu (1964), S. 165.

36 Ausdruck den Gegenstand der U n t e r s u c h u n g bilden, während die Berücksichtigung der Verhältnisse zwischen Ausdruck u n d Ausdruck bzw. zwischen Inhalt u n d Inhalt d a f ü r n u r das Mittel seien. Im Unterschied dazu sei eine systematische u n d strukturelle Erforschung des Wortschatzes n u r d a n n möglich, w e n n die Beziehungen zwischen Inhalten bzw. A u s d r ü c k e n das O b j e k t der U n t e r s u c h u n g bilden, w o f ü r als Mittel die Beziehung zwischen Inhalt u n d Ausdruck herangezogen werden könne. D a m i t stellt Coseriu fest, d a ß es zwischen sprachlichen Inhalten Bezieh u n g e n gibt, die Gegenstand einer U n t e r s u c h u n g sein können. Diese Beziehung n u n n e n n t Coseriu Bedeutung (»signification«). Im Unterschied dazu (und a u c h zu Weisgerber) ist f ü r Coseriu die Bezeichnung (»désignation«) die Relation zwischen dem ganzen sprachlichen Zeichen ( s i g n i f i é u n d signifiant) u n d der außersprachlichen Wirklichkeit, der Sache (»objet«). Schematisch stellt Coseriu diese Beziehungen so dar: 150 Signifiant

} }

Désignation

Signifié

Signifié

» Objet«

»Objet«

Désignation

Signifiant Die Folgerungen, die sich aus dieser Konzeption ableiten lassen, sollen in zwei P u n k t e n k n a p p dargestellt werden. a) Im Unterschied zu den im wesentlichen übereinzelsprachlich ausgerichteten Fragestellungen der Onomasiologie u n d der Semasiologie - wir sehen hier einmal ab von d e m Spezialfall des archilexematischen Inhalts als Ausgangspunkt der Onomasiologie u n d den nicht unproblematischen semasiologischen Untersuchungen zur Polysemie - betrifft das dargestellte Modell Relationen, wie sie in einer Einzelsprache festgestellt werden können. b) Zur Verdeutlichung der Unterscheidung zwischen Bedeutung u n d Bezeichnung möge ein vielzitiertes Beispiel dienen : , M der Sieger von Jena 150

151

Siehe hierzu vor allem: Coseriu (1970), besonders S. 105f., (1966), S. 209f., (1968), S. 3; die beiden letztgenannten Arbeiten sind in deutscher Übersetzung separat erschienen; cf. Coseriu (1973a) und Geckeier (Hrsg.) (1978), S. 193-238 und S. 254-273. Siehe auch Geckeier (1971), S. 79f., der Coserius Auffassung teilt und die Herkunft der einzelnen Komponenten aus der Antike darstellt. Siehe ferner: Coseriu/Geckeler (1974), besonders S. 146f. Cf. Geckeier (1971), S. 80.

37 der Besiegte von Waterloo. Wenngleich sich die beiden Fügungen hinsichtlich ihrer Bedeutung unterscheiden, ja sogar sich oppositiv gegenüberstehen, beziehen sie sich beide auf das gleiche außersprachliche »Objekt«, die Person Napoleons I. Im Hinblick auf eine Strukturierung der Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen ist daher die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bezeichnung von absoluter Notwendigkeit, da solche Strukturen - zumindest in einem synchronen Sprachzustand, auf den allein sie prinzipiell angewandt werden können 152 - konstant sein müssen. En principe, seulement les rapports de signification sont structurables; les rapports de désignation ne le sont pas. La désignation concrète (d'un objet déterminé) est un fait de >discourslangue< (technique du discours). Aussi les rapports de signification sont-ils constants (du point de vue synchronique), tandis que les rapports de désignation concrète sont inconstants (variables). En outre, la désignation peut être métaphorique, tandis que la signification ne l'est pas, du point de vue synchronique et distinctif (.. .)153.

In ähnlicher Weise verdeutlicht Coseriu diese Unterscheidung auch an anderer Stelle: Daher ist auch die Bezeichnung durch die Sprache etwas Sekundäres und Bedingtes, eine Möglichkeit, die erst durch die Bedeutung eröffnet wird. Die Bedeutung kann also als Möglichkeit oder Virtualität der Bezeichnung definiert werden. ( . . . ) Bedeutung und Bezeichnung sind also völlig verschiedene sprachliche Funktionen: die Bedeutung ist begrifflich, die Bezeichnung dagegen gegenständlich' 54 .

Für die praktische Anwendung dieser Konzeption bietet sich daher die Schwierigkeit, daß in den dafür herangezogenen Texten unmittelbar nicht Bedeutungen, sondern Bezeichnungen festgestellt werden können. Bisher gibt es keine Methode die den Übergang von den »Bezeichnungen« zu den »Bedeutungen« vermittelt. Das Fehlen einer solchen Methode stellt die praktische semantische Forschung vor große Schwierigkeiten 155 .

1.2.2.7.

Semasiologische und onomasiologische Felder

Vor dem Hintergrund dieser Konzeption in Verbindung mit den oben gemachten Unterscheidungen zu den verschiedenen Inhalt-Ausdruck-Relationen, wie sie von der Onomasiologie und der Semasiologie untersucht werden, müssen wir uns fragen, wie sich die von Baldinger postulierten onomasiologischen und semasiologischen Felder hier einordnen lassen156. Dabei stützen wir uns auf Baldingers Ausführungen zum semasiologischen Feld des Ausdrucks trebalh, sowie auf das onomasiologische Feld für den Begriff »travailler« im Altokzitanischen 157 . 152

Zur strukturell-diachronen Semantik siehe Coseriu (1964). Coseriu (1966), S. 209. 154 Coseriu (1967), S. 14f. 155 Geckeier (1971), S. 82. 156 Cf. Baldinger (1964) (zu trebalh und »travailler« im Aprov.), (1966) (zu »se souvenir« im Afrz.), (1967). 153

38 Zur Errichtung der semasiologischen Struktur geht Baldinger vom Wortkörper trebalh aus und fragt, welche verschiedenen Bedeutungen diesem Wortkörper im Altprov. entsprechen können. Die Konsultierung der Wörterbücher ergibt eine Gesamtzahl von 14 »significations«, die nach Baldinger einen »champ de significations« bilden 158 . Für dieses Feld ermittelt er einen » noyau de signification'. >peine, tourmentscience des significations< et sémantique >science du contenu du langage< (sens plus général englobant l'onomasiologie et la sémasiologie).« 158 Cf. Baldinger (1964), S. 253 ff. 159 Baldinger (1964), S. 258. 160 Baldinger (1964), S. 255. 161 Baldinger (1964), S. 257. 162 Cf. Coseriu/Geckeler (1974), S. 146. 163 Cf. oben S.33f. 164 Cf. Baldinger (1964), S. 261ff.

39 Beziehungen dieser Einheiten zueinander sei es notwendig, zunächst semasiologisch wie im Falle von trebalh vorzugehen: ( . . . ) il est nécessaire, pour préciser les rapports réciproques des 7 verbes mentionnés pour >travailler< (disons encore: pour être capable de reconnaître la structure onomasiologique), il est fort nécessaire de déterminer, pour chaque verbe, la place sémasiologique de la signification >travailler< dans la totalité de chaque champ sémasiologique 165 .

Anders gesagt bedeutet dies, daß vor der eigentlichen onomasiologischen Analyse zunächst festgestellt werden muß, ob der Inhalt >travailler< im Zentrum des semasiologischen Feldes des betreffenden Verbes steht oder nicht. Mit diesem Verfahren ermittelt Baldinger 166 die Verben obrar (surtout travail manuel) und laborar (spécialement travail des champs) als Zentrum des onomasiologischen Feldes, umgeben von besonhar (provenant du Nord,), afanar, trebalhar, manobrar (litt, travailler avec ses mains) und brasseyar (litt, travailler avec ses bras). Wenn nun - nach Baldinger - die Position eines Ausdrucks im onomasiologischen Feld durch die Position bestimmt wird, die der dem onomasiologischen Feld zugrundeliegende Inhalt im semasiologischen Feld dieses Ausdrucks einnimmt' 6 7 , so müssen wir daraus notwendig folgern, daß die Bedeutung >travailler< nicht die Grundbedeutung der fünf Verben ist, die sich um das Zentrum des onomasiologischen Feldes gruppieren. Anders gesagt, das Vorgehen Baldingers entspricht nicht - wie man zunächst annehmen könnte - dem von uns oben dargestellten onomasiologischen Verfahren (c), bei dem eine Art archilexematischer Inhalt den Ausgangspunkt bildet, sondern eher dem Verfahren (b), wobei Bezeichnungen für einen bestimmten Inhalt gewonnen werden, deren eigentliche sprachliche Bedeutung theoretisch mit dem zugrundegelegten Begriff »travailler« in keinem Zusammenhang stehen muß. Vom lexematischen Standpunkt aus läßt sich sogar folgern, daß dem Inhalt >travailler< im Aprov. kein Ausdruck entspricht, weil im Feldzentrum - nach Baldinger - zwei Ausdrücke vertreten sind, die auf ihrer Inhaltsseite neben >travailler< noch eine weitere Spezifizierung besitzen, während der »neutrale«, beiden übergeordnete Ausdruck materiell nicht vertreten ist. Schematisch wäre deshalb an folgende Struktur zu denken:

165 166 167

Baldinger (1964), S. 262. Cf. Baldinger (1964), S. 263. Cf. Baldinger (1964), S. 262f.

40 „travailler"

„mit den Händen" obrar

1.2.3.

„auf dem Feld" laborar

Die Inhaltskomponente in der Sprachgeographie

Im methodischen Vorgehen bei der Sammlung des Atlasmaterials und bei dessen Anordnung in Form von Sprachkarten zeigt sich deutlich die onomasiologische Ausprägung. Nachdem der ALF noch die gesammelten Materialien in alphabetischer Ordnung nach dem Kartentitel publiziert, findet sich in allen nachfolgenden Sprachatlanten eine Anordnung der Karten nach Sachgruppen oder begrifflichen Zusammenhängen. Diese Anordnung ist jedoch nur eine äußere Erscheinung der Publikation des Materials und steht in keinem Zusammenhang mit den inhaltlichen Aussagen über die angeführten Wörter und Wortgruppen. 1.2.3.1.

Der Atlas Gillierons

Im allgemeinen, d. h. abgesehen von vereinzelten Angaben in Kommentaren zu den Karten, liefert uns der Kartentitel die primäre und häufig auch einzige Information über die Inhaltsseite der verzeichneten Ausdrücke 168 . Deshalb wird normalerweise davon ausgegangen, daß zwischen dem lexikalischen Inhalt des Ausgangswortes, welches dann als Kartentitel fungiert, und dem als Antwort an einem bestimmten Untersuchungspunkt erhaltenen Ausdruck ein 1 : 1 - Verhältnis existiert, für das im Falle von regional verschiedenen lexikalischen Typen der Terminus »Heteronymie« verwendet werden kann 169 . Eine solche Heteronymie ist zum Beispiel aller Wahrscheinlichkeit nach in der Karte 736 des ALF gegeben, wo unter dem Kartentitel »jument« im wesentlichen die drei lexikalischen Typen jument, ega und cavala verzeichnet sind. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß dieses 1 : 1 - Verhältnis zwischen dem Inhalt des Ausgangswortes und dem der erhaltenen Antwort keineswegs stillschweigend angenommen werden darf. Wie wir oben 168

Wir sprechen hier allgemein von »Ausdrücken«, ungeachtet der Tatsache, daß es sich im Einzelfall um Lexeme und/oder um syntaktische Verbindungen handelt. 169 Cf. Goossens (1969), S. 86f.; Harras (1972), S. 67.

41 bereits erwähnten, basiert der Questionnaire des ALF auf der Ü b e r s e t z u n g s m e t h o d e , d . h . Edmont nannte dem Informanten ein französisches Wort und erwartete den diesem Wort entsprechenden Ausdruck in der Sprache des Informanten. Dieses Vorgehen, auf dessen Nachteile verschiedentlich hingewiesen worden ist170, stellt vom inhaltlichen Gesichtspunkt her zwei Forderungen, die unseres Erachtens bisher nicht genügend berücksichtigt worden sind. Zum einen wird davon ausgegangen, daß die inhaltliche Struktur der Ausgangssprache, also des Französischen im Falle des ALF, mit der der Zielsprache identisch ist. In Anlehnung an unsere oben gemachten Unterscheidungen bedeutet dies, daß von einer Ausgangssprache aus der einzelsprachlich gegebene Inhalt zum übereinzelsprachlichen Begriff erklärt wird, welcher dann in der Zielsprache mit einem entsprechenden Ausdruck wiedergegeben werden soll. Zum anderen wird vom Informanten erwartet, daß ihm der sprachliche Inhalt des Ausgangswortes in der Ausgangssprache bekannt ist und daß er einen diesem Inhalt entsprechenden Ausdruck in seiner Sprache nennt. Vor diesem Hintergrund sind zwei Erscheinungen interessant, die sich in vielen Sprachkarten zeigen. Einerseits finden sich in den Karten immer wieder Leerstellen oder Fragezeichen, die uns darüber informieren, daß der Befragte sich nicht in der Lage sah, die gestellte Frage zu beantworten. Wenngleich das Ausbleiben einer Antwort mancherlei Ursachen haben und nicht zuletzt auch mit der Qualität des Informanten zusammenhängen kann, scheint es doch ausgeschlossen zu sein, daß der Informant für den abgefragten Begriff in seiner Sprache keinerlei Ausdrucksmöglichkeiten besitzt, da prinzipiell jeder Begriff in jeder Sprache auf die eine oder andere Weise bezeichnet werden kann. Wenn eine Antwort ausbleibt, so kann dies nur darauf hindeuten, daß der Informant in seiner Sprache keinen einfachen Ausdruck zur Bezeichnung dieses Begriffes kennt und vor einer umständlichen Paraphrasierung zurückschreckt 171 . Andererseits enthalten die Sprachkarten aller Atlanten an zahlreichen Punkten zum Ausdruck des abgefragten Begriffs zwei Wörter oder Wort170

Cf. Dauzat (1944), S. 1 Of.; Companys (1964), S. 42; positiver urteilen Wolf (1975), S. 47 und Pop (1950) I, S. 146. 171 Dies impliziert natürlich, daß der Informant dem in der Frage auftretenden Ausdruck auch eine Inhaltsseite zuordnen kann. Sofern sich deshalb die Fragen abseits des Allgemeinwortschatzes bewegen und eine mehr oder weniger fachsprachliche Terminologie betreffen, kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Informant mit dem abgefragten Begriff vertraut ist. Hierunter fallen beispielsweise die Namen gewisser seltener Tiere und Pflanzen, aber auch Bezeichnungen von Winden und Sternbildern, die, da sie begrifflich nicht einzuordnen sind, auch nicht durch Paraphrasierung wiedergegeben werden können. Die einzige Möglichkeit, diese Dinge zu bezeichnen, besteht in der Verwendung des übergeordneten Begriffs, wie er wohl in spontaner Rede zum Ausdruck kommen würde.

42 gruppen, die quasi als Synonyme bezeichnet werden können. Zumeist findet sich hierbei der Zusatz »selten« oder »veraltet« hinter einem der beiden »Synonyme«, so daß die beiden Ausdrücke zwar hinsichtlich ihrer begrifflichen Seite übereinstimmen, nicht aber im Hinblick auf die ihnen entsprechenden signifiésm. Während der einzelsprachliche Inhalt eines dieser »Synonyme« allgemein mit > X + X + X < bezeichnet werden kann, setzt sich der Inhalt des anderen Ausdrucks zusammen aus >X+ X+ X + vieillk Demgegenüber tauchen nicht selten solche »Synonyme« auch ohne entsprechende Zusätze auf, wobei zu fragen ist, ob sie tatsächlich inhaltlich vollkommen übereinstimmen. Grundsätzlich ist hierbei immer die Möglichkeit gegeben, daß einem Begriff, der in der Ausgangssprache durch ein Lexem faßbar wird, in der Zielsprache zwei Inhalte, also auch zwei Begriffe entsprechen. Der Informant, der sich über diese inhaltlichen Zusammenhänge im klaren ist, wird folglich auf die entsprechende Frage des Explorators mit zwei Ausdrücken antworten. Die Zusatzinformation, worin sich die beiden Ausdrücke inhaltlich unterscheiden, wird er nur in den seltensten Fällen von sich aus geben. Zumeist muß der Explorator die onomasiologische Frage in eine semasiologische umwandeln und den Informanten um die »Bedeutung« der beiden angegebenen Ausdrücke bitten. In den Anweisungen, die Gilliéron seinem Explorator Edmont mit auf den Weg gegeben hatte, war ein solches Nachfragen jedoch nicht vorgesehen, weil Gilliéron darin die Spontaneität der Antwort als nicht mehr gegeben betrachtet hätte 173 . So finden wir in der Karte 712 des ALF unter dem Titel »jardin« an der überwiegenden Mehrzahl der Punkte nur einen Ausdruck für diesen Begriff 174 . An anderen Punkten hingegen, wie z. B. am P. 706 (Dep. Corrèze), wird neben dem lexikalischen Typ jardin auch der Typ ort verzeichnet, allerdings mit dem Zusatz (v), also »vieilli«. Demgegenüber werden für die Punkte 703 und 705 im Dep. Puy-de-Dôme die Typen jardin und ort synonym nebeneinander genannt, ohne daß eine inhaltliche Präzisierung der Abgrenzung beider Ausdrücke voneinander angegeben würde. Dieser Fall stellt für die semantische Interpretation des Atlasmaterials ein unüberwindliches Hindernis dar, da von beiden Ausdrücken lediglich gesagt werden kann, daß sie sich in irgendeiner Weise auf den Inhalt >Garten< beziehen, wobei die Möglichkeit der absoluten Synonymie zwar nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden kann, aber doch im Hinblick auf die äußerste Seltenheit dieser Erscheinung nicht ohne weiteres angenommen werden darf 175 . Es muß folglich davon ausgegangen werden, daß 172

Dieser G r u n d g e d a n k e steht im Z e n t r u m der Überlegungen Hegers u n d Baldingers zur Theorie des sprachlichen Zeichens. Siehe dazu besonders Heger (1964) und (1969), sowie Baldinger (1966). 173 Cf. I o r d a n (1962), S. 178f. 174 Siehe hierzu u n d z u m folgenden die Karte 712 des ALF. 175 Cf. U l l m a n n (1963), S. 108f.

43 zwischen den beiden unterschiedlichen Ausdrücken auch eine inhaltliche Unterscheidung besteht, über die jedoch aufgrund der Atlasangaben keinerlei stichhaltige Aussagen gemacht werden können. Denkbar wäre z. B. eine Differenzierung, wie sie an dem benachbarten Punkt 724 erfolgt, für den der Atlas den Typ ort in der Bedeutung >grand jardin< neben dem Typ jardin ohne inhaltliche Zusatzangaben verzeichnet. Ebenso wäre jedoch auch die Unterscheidung möglich, die für die Punkte 731 und 741 genannt wird. Hier wird der Inhalt >Garten< mit jardin angegeben, während der an beiden Punkten neben jardin verzeichnete Typ ort einen >petit jardin attenant ä la maison< bezeichnet. Trotz der für die Punkte 724, 731 und 741 gemachten zusätzlichen Inhaltsangaben ist jedoch auch hier keine genaue lexematische Bestimmung der beiden genannten Typen möglich. So kann zwischen jardin und ort das Verhältnis einer Inklusion vorliegen, wobei jardin der umfassendere Begriff wäre; ebenso ist aber auch eine exklusive Opposition jardin/ort denkbar, für die ein entsprechender Oberbegriff fehlen würde 176 . Unter ausschließlicher Verwendung der Angaben des ALF ist eine sichere lexematische Aussage nicht möglich. Es wäre allerdings unangemessen, wollte man einem Sprachatlas vom Typ des ALF semantische Informationen entnehmen, die der Ebene des Sprachsystems zugeordnet werden, da uns die Karten ja nicht Fakten des Systems, sondern Fakten der Rede liefern 177 . Insofern sind Wortbedeutungen, die aus den Karten gewonnen werden können, auf der Ebene der Rede anzusiedeln. Die Systembedeutung der lexikalischen Einheiten selbst ist eine Abstraktion aus einer Reihe von Redebedeutungen. Infolgedessen ist das im ALF dargebotene Material nicht ausreichend, um von einer einzigen Redebedeutung, die ja selbst nur äußerst oberflächlich angegeben wird, zu einer Sprachbedeutung zu gelangen. Nun enthält der ALF im allgemeinen für jedes Ausgangswort, das unsere einzige Information über die Inhaltsseite der regional verschiedenen Ausdrücke darstellt, nur eine Karte. Das bedeutet, daß sich die semantische Interpretation auf nur ein einziges Vorkommen stützen kann. Eine Ausnahme bildet der Begriff »habit«, der zweimal als Kartentitel - allerdings in unterschiedlichem syntaktischen Zusammenhang - auftritt. In Karte 230 des ALF lautet der Titel »changer d'habit«, in Karte 678 »ote ton habit«. Beide Karten verzeichnen eine geradezu verwirrende Vielzahl von lexikalischen Typen, die möglicherweise in direktem Zusammenhang mit der unterschiedlichen begrifflichen Interpretation des Ausgangswortes durch die Informanten steht. Während für die Karte 678 von einem konkreten Kleidungsstück ausgegangen werden muß, kann in Karte 230 ein 176 177

Cf. Coseriu (1973), besonders S. 27ff. Wir übernehmen hier die Unterscheidung von E. Coseriu zwischen dem Sprachsystem, der Norm und der Rede. Cf. Coseriu (1973b), S. 11-113 und (1971), S. 53-72.

44 eher abstrakter Begriff vorliegen, der dann auch verschiedentlich zu Antworten in Form von Verbalausdrücken (Typ se revêtir) geführt hat. Unsicher bleibt hingegen die Frage, welches konkrete Kleidungsstück mit habit gemeint war. Nach den Untersuchungen von H. Esau bezeichnete habit ab der Mitte des 18. Jh. ein Obergewand der Männer, den (Geh-)Rock 178 . Nach Auskunft des Petit Robert ist das Wort im Singular heute veraltet 179 . An einer ganzen Reihe von Punkten verzeichnet der ALF auf den beiden Karten jeweils unterschiedliche lexikalische Typen, für die wir Beispiele aus einem kleinen Gebiet südlich der Loiremündung angeben wollen. Wir beschränken uns dabei auf die Wiedergabe der lexikalischen Typen für »habit« in einer listenartigen Gegenüberstellung. Karte 230 »changer d'habit«

Karte 678 »ôte ton habit«

447

harde

habit

448

habit

veste

458

effet

habit

479

habit

gilet

521

habit

harde

531

effet

habit

Punkt

Diese lexikalischen Typen aus dem Dep. Vendée und einem Teil des Dep. Loire-Inférieure zeigen deutlich, daß eine Festlegung des einen oder anderen Typs auf die abstrakte bzw. konkrete Bedeutung nur sehr vage erfolgen kann. So taucht e f f e t nur für die möglicherweise abstrakte Verwendung von habit auf, während gilet hier nur für das konkrete Kleidungsstück verwendet wird. Gleiches gilt für veste, das allerdings in Karte 230, also in der eher abstrakten Verwendung, im Roussillon und vereinzelt im Osten belegt ist. Es bleiben die Typen habit und harde, die scheinbar unterschiedslos mal die eine, mal die andere Verwendung finden. Kann daraus geschlossen werden, daß sie im Sinne totaler Synonymie frei austauschbare Varianten für die gleiche Bedeutung sind? Oder gehören sie verschiedenen Sprachniveaus im Sinne von diastratischen Schichten bzw. verschiedenen Sprachstilen im Sinne von diaphasischen Unterschieden an 180 ? Hat der Informant den jeweiligen Typ indifferent angegeben, oder beinhalten die verschiedenen Typen verschiedene sprachliche Unterscheidungen? - Diese Fragen, die bei einer Betrachtung der inhaltlichen Seite der verzeichneten Lexeme unbedingt gestellt werden müssen, können anhand der Angaben des ALF allein nicht beantwortet werden. Sie vermitteln den deutlichen Eindruck des Momentanen, Aktuellen, möglicherweise sogar Individuellen, also des tatsächlichen Sprachgebrauchs, der auf der 178

Cf. Esau (1902), S. 22. Robert (1969), S. 820a. 180 Cf. Coseriu (1973), S. 38f.; siehe dazu auch unten S. 84f. 179

45 Ebene der Rede festgestellt werden kann. Die Feststellung des Überindividuellen, Konstanten, Systematischen jedoch kann mit diesen Grundlagen nicht erfolgen. Einen anderen charakteristischen Fall fehlender Angaben finden wir, wenn wir die Karte 712 »jardin« des ALF nochmals genau betrachten. Dort wird im Périgord und Haut-Limousin sowie in einem schmalen Streifen nördlich der Sèvre Niortaise ein zusammenhängendes Gebiet verzeichnet, in dem der Begriff »jardin« durch den lexikalischen Typ verger wiedergegeben wird. In der Ausgangssprache, dem literarischen Französisch, steht verger >terrain planté d'arbres fruitiers< 181 in Opposition zu jardin >terrain, généralement clos, où l'on cultive des végétaux utiles ou d'agrément^ 8 2 . Eine inhaltsbezogene Interpretation der Karte 712 des ALF wird sich mit der Frage beschäftigen, ob diese lexikalische Opposition in dem genannten Gebiet in gleicher Weise funktioniert, ob möglicherweise eine andere Opposition besteht oder ob der regionale Typ verger die beiden Begriffe, die im literarischen Französisch unterschieden werden, bezeichnet. Aufschluß über diese Fragestellung kann nur die Betrachtung der Karte » verger« geben, die jedoch im ALF nicht enthalten ist. Es ist folglich nicht möglich, Aussagen über den Bedeutungsumfang des regionalen Typs verger zu machen, bzw. diesen von seinen Nachbarwörtern abzugrenzen. In diesem Fall sehen wir die Kritik Wartburgs am ALF als vollkommen berechtigt an, wenn er bemängelt, daß dieser nur die wichtigsten Begriffe enthalte und über die Nebenbegriffe hinweggehe 183 . Das Bild, das er [JC. der ALF] vom Sprachschatz gibt, gleicht einer Hügellandschaft im Nebelmeer: nur die Spitzen ragen heraus; die Niederungen, auf welchen diese aufruhen und welche die Höhen miteinander wesentlich und organisch verbinden, bleiben unter dem Schleier der Nebel verhüllt184.

Die drei hier geschilderten Fälle haben im Hinblick auf eine semantische Interpretation des Atlasmaterials eine Gemeinsamkeit: Sie legen unmittelbar die Vermutung nahe, daß die sprachliche Gestaltung der Welt in den einzelnen regionalen Sprachsystemen anders als in der französischen Schriftsprache erfolgt. Sie zeigen unserer Auffassung nach besonders deutlich, daß Fehler und Ungenauigkeiten dadurch entstehen können, daß die jeweilige sprachliche Struktur der Zielsprache nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt wurde, indem man die Struktur der Ausgangssprache bedenkenlos auf die der Zielsprache übertrug. In der Tat scheint Gilliéron diesen Mangel im Interesse der formellen Vergleichbarkeit der gewonnenen Daten bewußt in Kauf genommen zu haben, wie aus einer Bemerkung 181

Robert (1969), S. 1888a. Robert (1969), S. 944a. 183 Cf. von Wartburg (1970), S. 147. 184 von Wartburg (1970), S. 148; cf. Wolf (1975), S. 44. 182

46 seiner Notice hervorgeht 185 . Die angewandte Übersetzungsmethode konnte sich dabei besonders negativ auswirken, weil nur vereinzelte Begriffe abgefragt wurden, die in der Zielsprache sicherlich einen entsprechenden Ausdruck fanden, der jedoch hinsichtlich seines Bedeutungsumfangs nicht notwendigerweise mit dem des Ausgangswortes übereinstimmen muß. Erst eine - für ein solches Unternehmen, wie es der ALF darstellt, sicherlich hypothetische - zahlenmäßige Vervielfachung der abgefragten Begriffe unter besonderer Berücksichtigung der den zentralen Ausdruck umgebenden Nachbarwörter 186 könnte uns in die Lage versetzen, anhand eines derart umfangreichen Belegmaterials Aussagen über den Bedeutungsumfang der aufgeführten Ausdrücke zu machen und somit der sprachlichen Gestaltung der Welt in den Zielsprachen einen Schritt näher zu kommen. 1.2.3.2.

Die Nachfolger des ALF

Die in der Nachfolge zum ALF entstandenen romanischen Atlanten haben einige Grundprinzipien sprachgeographischer Feldarbeit beibehalten, andere hingegen mehr oder weniger grundlegend verändert. Beibehalten wurde das Verfahren der Materialsammlung durch einen oder mehrere Exploratoren vor Ort durch Befragen eines oder mehrerer Informanten anhand eines vorbereiteten Questionnaires. Verändert wurde vor allem bei den französischen Regionalatlanten die Art der Fragestellung und die Betonung des ethnographischen Aspekts, in dem man eine Verbindung der sprachgeographischen Methode mit der Methode »Wörter und Sachen« sehen kann und der die Erfassung und Dokumentation der Sachkultur in Verbindung mit den dafür üblichen sprachlichen Ausdrucksmitteln beinhaltet 187 . Dem gesamten Unternehmen des Nouvel Atlas linguistique de la France par régions (NALF) lag die Idee zugrunde, die Fehler und Mängel des ALF durch eine genauere Aufnahme der französischen Mundarten wettzumachen. Der Initiator des NALF, Albert Dauzat, hat diese Unzulänglichkeiten schon relativ früh hervorgehoben und das neue Projekt angedeutet: Malgré l'énormité du travail, et l'intérêt scientifique des résultats, encore faut-il bien remarquer que les auteurs [de XALF\ n'ont entendu poser que des jalons. 185

Cf. Gilliéron (1902), S.6; siehe dazu auch Pop (1950) I, S. 118. In der Terminologie der Wortfeldmethode und der strukturellen Semantik können diese Nachbarwörter als Glieder des entsprechenden Wortfeldes bezeichnet werden. Näheres hierzu siehe unten. 187 Diese Betonung des ethnographischen Aspekts findet sich auch im italienischen Sprachatlas von Jaberg/Jud (AIS), bezüglich dessen Jaberg schrieb: » ( . . . ) l'innovation la plus importante que nous croyons avoir introduite dans l'Atlas type Gilliéron, concernait le rapport entre le mot et la chose, >Wörter und SachenWeltvorstellungen< (der Saussureschen >conceptsSprache< heißen soll« 94 . Hierarchisch zwischen der »Sprache« und dem »Idiolekt« liegen die verschiedenen Dialekte und Unterdialekte im Sinne von Systemen mit oder ohne Norm. Heger erkennt aber auch, daß er damit der oft recht komplizierten genealogischen Rangordnung nicht generell gerecht wird 95 und erweitert deshalb die Bestimmungen derart, »daß als Sprache eingestuft werden soll nicht nur (1) das ranghöchste Diasystem mit Norm, sondern auch (2) das einer gemäß (1) als solcher definierten Sprache ranggleiche Diasystem ohne Norm, sofern es derselben Sprachgruppe wie diese Sprache untergeordnet ist und sofern ihm selbst kein Diasystem mit fixierter Norm untergeordnet ist; überall dort, wo Kriterium (2) zur Anwendung kommt, hat es Vorrang vor Kriterium (l)« 96 . 2.1.3.2.

Idiolekt und langue

Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß die geographisch bedingte oder diatopische Variation an zentraler Stelle in der Hierarchisierung der entsprechenden Einheiten steht 97 . Wenn hierbei wiederholt der Begriff des »Diasystems« verwendet wurde, so bezog er sich zunächst auf ein heterogenes System, das aus zwei oder mehr unterschiedlichen Systemen gebildet wird, wobei ihre Unterschiede nur geographisch definiert werden. Somit " H e g e r (1969b), S. 54f.; Heger weist dabei ausdrücklich darauf hin, daß diese Konzeption von »Norm« von der Konzeption Coserius abweicht, der die Norm dem System und dem Sprachtyp gegenüberstellt. Cf. Coseriu (1973b), S. 11-113. 93 Heger (1969b), S. 58. 94 Heger (1969b), S. 58. 95 Siehe dazu sein Beispiel über die Untergruppierungen des Frankoprovenzalischen in Heger (1969b), S. 60. 96 Heger (19696), S. 60. 97 Siehe jedoch bei Heger (1969b), S. 61-66 die Erörterung der soziolinguistischen Variation, die vor allem im Hinblick auf das Kriterium der Norm betrachtet wird.

88 unterscheidet sich diese Konzeption des Diasystems von der entsprechenden Konzeption bei Coseriu, nach der jede historische Sprache ein Diasystem mit diatopischen, diaphasischen und diastratischen Varianten darstellt 98 Da aber eine strukturelle Betrachtung nicht von einem Diasystem ausgehen kann, weil dort aufgrund der Heterogenität das grundlegende Prinzip der Opposition von diskreten Einheiten nicht wirkt, müssen wir uns fragen, an welcher Stelle der Hegerschen Rangordnung das erforderliche homogene Sprachsystem zu finden ist. Da wir es bei allen aufgeführten Einheiten mit Ausnahme des Idiolekts mit Diasystemen zu tun haben, müßte theoretisch der Idiolekt das gesuchte homogene System darstellen. Dieser Begriff ist nicht unumstritten und muß daher zunächst genauer definiert werden. Bekanntlich wurde der Terminus von B. Bloch geprägt, der damit »the totality of possible utterances of one speaker at one time in using a language to interact with one other speaker« bezeichnet". Dabei macht Bloch deutlich, daß der Idiolekt nicht nur das umfasse, »what a speaker says at one time: it is everything that he COULD say in a given language« 100 . Eine ähnliche Konzeption findet sich auch bei E. Pulgram, der unter Idiolekt »language as produced habitually by one single speaker and exhibiting the same linguistic structure in all utterances« versteht 101 . G. Francescato betrachtet den Idiolekt als »the true representative of a dialect«. 102 Während also für Bloch und Pulgram eher das Kollektive im Vordergrund steht, scheint Francescato keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Idiolekt und Dialekt zu sehen. Vielmehr wird für ihn der Dialekt im Sinne eines Sprachsystems nur durch den Idiolekt faßbar, wobei er mögliche Variationen innerhalb des Dialekts, seien sie individuell, sozial oder regional bedingt, als Unterschiede der Realisierung, nicht unbedingt als Unterschiede im System betrachten möchte 103 . Hingegen vertritt Heger die Ansicht, daß »das der individuellen und synchronisch-momentanen parole entsprechende System das einzige [ist], das unmittelbar zugeordnet werden kann« 104 . Die Erfassung der kollektiven Summe aller individuellen Aktualisierungen im Sinne einer £ P a r ° l e hingegen ergebe ein Diasystem 105 . Folglich sei es angebracht, »auch auf 98

Cf. Coseriu (1966), S. 198ff. und (1973), S. 38f.; siehe ferner oben Kapitel 2.1.2. und unten Kapitel 2.1.4. " B l o c h (1948), S. 7. . 100 Bloch (1948), S. 7; siehe hierzu auch Hall (1969), S. 527: »Qui occorre notare che ogni idioletto e un sistema ( . . . ) di abitudini.«; Agard (1971), S. 5: »An idiolect is as individual as a person ( . . . ) « . 101 Pulgram (1964), S. 72. 102 Francescato (1965), S. 488. 103 Cf. Francescato (1965), S. 488. 104 Heger (1969b), S. 49. 105 Zum Begriff der £parole cf. Heger (1964a) und (1969), S. 153ff.

89 der Ebene der langue zwischen dem der individuellen parole entsprechenden idiolektalen System und dem der kollektiven ¿ / w o A ? entsprechenden Diasystem zu unterscheiden« 106 . Wir sehen die Schwierigkeit einer solchen Konzeption des Idiolekts vor allem darin, daß das den konkreten Aktualisierungen entsprechende System nicht im Sinne einer funktionellen Sprache verstanden werden kann, weil auch in den Äußerungen eines einzelnen Sprechers verschiedene Systeme Anwendung finden, so beispielsweise die bereits erwähnten Sprachstufen (diastratische Unterschiede) und Sprachstile (diaphasische Unterschiede). Auch ist es grundsätzlich möglich, daß ein Sprecher im Redeakt Einheiten verwendet, die nicht seinem lokalen Sprachsystem entstammen, sondern von benachbarten Ausdruckssystemen übernommen werden. Unabhängig von diesen die Homogenität des Idiolekts betreffenden Problemen bietet die Konzeption des Idiolekts im Sinne eines Sprachsystems eine weitere Schwierigkeit, auf die Coseriu hingewiesen hat. Eine langue im Saussureschen Sinne ist interindividuell, kann also nicht direkt auf einen einzelnen Sprecher bezogen werden. Der Idiolekt hingegen kann nur auf den Einzelnen hin definiert werden und erfüllt deshalb nicht die Grundvoraussetzung des Sozialen in der Sprache. Eine (vom Sprechen eines Individuums abgeleitete) »Individualsprache« ist »Sprache« nur technisch, aber nicht wirklich. Als »Sprache« ist sie nicht streng individuell; und insofern sie streng »individuell« ist, ist sie nicht Sprache: denn es kann keine Sprache geben, die nicht »mit einem anderen« gesprochen wird107.

Da ferner der Unterschied zwischen langue und parole kein quantitativer Unterschied, sondern ein solcher zwischen abstrakt und konkret bzw. virtuell und aktuell sei, könne der Begriff »Idiolekt« auch nicht als »Vermittler« zwischen den beiden Ebenen aufgefaßt werden 108 , wie dies bei Heger zumindest andeutungsweise zum Ausdruck kommt, wenn er drei verschiedene Ebenen unterscheidet: (1) die Ebene der parole im Sinne von konkreter Aktualisierung in Form von Vorkommen; (2) die Ebene der parole, auf der beliebige Vorkommen normalerweise kollektiv als Typus erfaßt werden; (3) die Ebene der langue, deren Einheiten Kriterien für die Zuordnung eines Vorkommens auf einen Typus liefern 109 . 2.1.3.3.

Lokolekt und langue

In der Praxis der Erfassung der mundartlichen Sprachsysteme steht man nun vor dem Problem, mit individuellen Aktualisierungen konfrontiert zu sein, für die das übergeordnete System gefunden werden soll. Daß dieses 106 107 108 109

Heger (1969b), S. 49. Coseriu (1974), S. 55. Cf. Coseriu (1974), S. 54. Cf. Heger (1969), S. 155-157.

90 System nicht im Sinne eines Idiolekts aufgefaßt werden kann, haben wir oben dargelegt. Folglich betrifft die nächste Frage die Sprachgemeinschaft, kraft derer allein eine langue definiert werden kann. Wenn wir deshalb größere Einheiten suchen, die in diesem Sinne betrachtet werden können, stoßen wir direkt auf die Gemeinschaft eines Ortes, die im Atlas insofern als Einheit auftritt, als er regionale Variation ausschließlich auf Ortschaften ( = Untersuchungspunkte) bezogen verzeichnet. Selbst wenn sich innerhalb einer so definierten Sprachgemeinschaft kein absolut homogenes Sprachsystem findet, ist die theoretische Annahme einer solchen Einheit eine unverzichtbare Voraussetzung für strukturelle Untersuchungen zur diatopischen Variation. Im wesentlichen sind innerhalb der Einheit einer Ortsmundart die gleichen Varianten wie in einer historischen Sprache allgemein zu erwarten, d. h. zunächst Unterschiede, die die Sprachstufen und die Sprachstile betreffen. Diese Unterschiede können - wie wir oben dargelegt haben durch die Beschränkung auf eine bestimmte soziale Schicht und auf die übliche Umgangssprache minimalisiert werden. Dagegen wird im lexikalischen Bereich vor allem beim Auftreten von Synonymen110 mit drei Arten der Variation gerechnet werden müssen: (1) regionale Varianten, die im allgemeinen darauf zurückzuführen sind, daß zwischen den einzelnen Ortschaften sowohl ein Sprach- als auch ein Bevölkerungsaustausch (durch Heirat, Übernahme von freiwerdenden landwirtschaftlichen Anwesen etc.) stattfindet 111 . Im Verlauf unserer Enquête sind wir immer wieder auf Wortpaare gestoßen, die unter diese Rubrik fallen. Allerdings ist es fraglich, ob dabei das nicht autochtone Wort auf der Ebene des Sprachsystems synonym mit dem autochtonen Wort funktioniert oder ob eine solche Synonymie nicht eher nur auf die Bezeichnungsebene beschränkt ist. Durch gezielte Fragen läßt sich im allgemeinen das »ortsübliche« Wort feststellen, wobei das metasprachliche Wissen der Informanten eine unerläßliche Hilfestellung bieten kann. Zumeist sind die Informanten in der Lage, nicht nur anzugeben, welches der beiden genannten Wörter »ortsüblich« ist, sondern sogar das Konkurrenzwort mehr oder weniger präzise zu lokalisieren. (2) Varianten, die auf der Interferenz des Französischen als Nationalsprache beruhen. Die Miteinbeziehung solcher französischer Wörter kann nur dann erfolgen, wenn kein entsprechendes Konkurrenzwort im Lokolekt existiert. Im allgemeinen konnten wir bei unserer Enquête Französismen dadurch vermeiden, daß wir uns mit dem Informanten über seinen »patois« unterhalten haben, wodurch die Starrheit eines vorbereiteten Questionnaires überwunden wurde. 110

Cf. Salvador (1965), S. 107f.: »Una sinonimia es siempre una situación semánticamente inestable y la subsiguiente repartición de sentido puede desplazar el lexema que inicialmente ocupaba esa casilla.« Siehe dazu auch unten S. 134f. Cf. Végh (1964), besonders S. 90f. und Millardet (1923), S. 32f.

91 (3) Varianten, die den Unterschied zwischen älteren und jüngeren Sprechern betreffen. Diese Art von Variation haben wir nicht angetroffen, doch liefert der ALF eine große Anzahl derartiger »Synonyme«. Auch in einem sprachlichen Rückzugsgebiet, wie es das französische Zentralmassiv darstellt, greift heute das Französische immer weiter um sich, so daß die Jüngeren kaum noch die alte, ansässige Mundart sprechen. Interessanterweise nennt P. Nauton genau diese drei Arten von Unterschieden, wenn er auf Synonyme in den Karten des ALMC hinweist. Dans certaines cartes et au même point on trouvera le même concept exprimé par deux termes différents qui peuvent être respectivement: l'un autochtone l'autre emprunté, l'un idiomatique - l'autre francisé, l'un archaïque - l'autre néologique" 2 .

Zumindest aus der Sicht der Sprecher können Varianten zwischen der ortsüblichen Mundart und dem Französischen mit diastratischen und diaphasischen Varianten zusammenfallen. Will man in einem Text das als »gewöhnlich« erachtete Mundartwort durch ein »besseres« ersetzen, so verwendet man das entsprechende französische Wort. In diesem Sinne fallen häufig Mundart und niedere Umgangssprache zusammen, worauf Coseriu hingewiesen hat: Normalerweise spricht man von Mundarten nur in bezug auf die unteren Stufen der Sprache (manchmal identifiziert man sogar »mundartlich« und »volkstümlich«), weil die diatopischen Unterschiede gewöhnlich auf diesen Stufen besonders bemerkenswert sind" 3 .

Die oben genannten Varianten in der Rede eines Individuums können jedoch nicht als freie Varianten innerhalb des Systems betrachtet werden, das dieser Rede zukommt. Vielmehr müssen Französismen und Entlehnungen aus anderen Lokolekten auch in diesen Systemen analysiert werden, sofern sie eine Entsprechung im Lokolekt des Mundartsprechers haben. Gerade bei Untersuchungen zum Wortschatz wird dies besonders deutlich, weil die Sprecher in der Regel absolut zweisprachig sind und somit nahezu für jedes Wort ihres »patois« ein entsprechendes französisches Wort angeben können. Anders hingegen verhält es sich in den Fällen, in denen eine bestimmte Ortsmundart weitgehend französisiert erscheint, so daß der Sprecher auf Befragen hin nicht in der Lage ist, ein anderes als das französische Wort zu nennen. Hier muß davon ausgegangen werden, daß eine Sprachmischung stattgefunden hat, die sich auf das System dieser Ortsmundart auswirkt und zur Folge hat, daß die Entlehnung einen festen Platz innerhalb eines bestimmten lexikalischen Paradigmas der Ortsmundart innehat und sich den sie umgebenden Nachbarwörtern gegenüber oppositiv verhält. 1.2 1.3

Nauton ( A L M C ) IV, S. 92. Coseriu (1976), S. 29.

92 Schwieriger dagegen ist die Behandlung von lexikalischen Elementen, die synonym neben einem anderen Wort vorkommen und den metasprachlichen Zusatz »disent les jeunes« tragen. Solche Wörter, wie übrigens auch jene, die im Sprachatlas mit dem Zusatz »vieilli« erscheinen, beinhalten eine diachrone Aussage und wären somit aus einem streng nach oppositiven Strukturen gegliederten synchronen Sprachsystem auszuklammern, weil sie zu einer zeitlich früher oder später funktionierenden Sprachtechnik gehören und nur dort analysiert werden können. Denkbar wäre ferner, solche Sprachelemente einer bestimmten Gruppe von Sprechern zuzuordnen, also etwa parallel zur »Sprache der Männer«, »Sprache der Frauen« 1 1 4 von einer »Sprache der Jungen« bzw. »Sprache der Alten« zu sprechen. In diesem Sinne könnte es sich dabei um diaphasische Varianten innerhalb einer historischen Sprache handeln 115 . Auch in diesem Falle wären sie jedoch aus der funktionellen Sprache auszuklammern. Auf diese Weise gelangen wir zu der für eine strukturelle Betrachtung erforderlichen funktionellen Sprache eines Ortes, die wir als Lokolekt bezeichnen. Er ist folglich das Sprachsystem, das den individuellen Realisierungen der Sprecher zugrunde liegt. Das Wissen des Sprechers von der Existenz einer solchen Sprachtechnik ermöglicht es ihm auch, kontrastive metasprachliche Aussagen über seinen Lokolekt zu machen, wenn er etwa bemerkt, daß der eine lexikalische Typ an seinem Ort gebräuchlich sei, der andere hingegen zwar verstanden, aber eher im Nachbarort gebraucht werde. Solange deshalb die Sprachatlanten - aus verständlichen Gründen - nur einen einzigen Mundartsprecher pro Untersuchungspunkt erfassen, kann die Rede dieses Informanten als repräsentative Aktualisierung der langue seines Ortes betrachtet werden, wie dies unter Vernachlässigung des strukturalistischen Gesichtspunktes auch in der traditionellen Sprachgeographie geschah 116 . Dabei ist zu berücksichtigen, daß in allen neueren Sprachatlanten bei der Wahl des Informanten auf dessen Ortsansässigkeit besonderer Wert gelegt wird, so daß das Auftreten von sprachlichen Erscheinungen, die dem Lokolekt nicht zuzurechnen sind, weitgehend vermieden wird.

114

Cf. Coseriu (1966), S. 199. Müller (1975), S. 141 ff. zählt dagegen die sprachlichen Unterschiede zwischen den Generationen zu den diastratischen Varianten innerhalb der Sprache und stellt sie somit auf das gleiche (Beschreibungs-)Niveau wie die geschlechtsspezifischen Varianten, die Sprachen der verschiedenen sozialen Schichten und die Fachsprachen, die er alle als verschiedene Register (S. 141 und passim) einer Sprache bezeichnet. Darin zeigt sich auch, wie schwierig im Einzelfall die Unterscheidung zwischen den diastratischen und den diaphasischen Unterschieden innerhalb einer historischen Sprache sein kann. 116 Cf. Kohler (1967), S. 41: »An idiolect is always taken as being representative of a whole community or even a large area.«

115

93 2.1.3.4.

»Dialekt«

Es bleibt nun noch die Frage, in welcher Weise das syntopisch-funktionelle Sprachsystem des Lokolekts mit der zu beobachtenden geographischen Variation in Verbindung gebracht werden kann, die üblicherweise als Regionaldialekt bezeichnet wird 117 . In diesem Sinne verwendet Martinet den Terminus »Dialekt«, für den er bemerkt: ( . . . ) »dialect« generally applies to the forms of speech characteristic of whole provinces or regions, so that a separate word might opportunely be reserved for speech forms that characterize very small communities and whose value for communication is limited to a radius of a few miles" 8 .

Nun besteht gerade für eine auf sprachlichen Gegebenheiten beruhende Definition von »Dialekt« die Schwierigkeit, den kommunikativen Wert einer bestimmten Mundart festzustellen. Hierbei wird verschiedentlich auch das Prinzip der Interkomprehensibilität als Kriterium genannt, wonach entschieden werden könne, ob in einem gegebenen Fall eine Variation einem oder zwei verschiedenen Dialekten zuzuschreiben sei" 9 . When intelligibility ceases, we have to do with another dialect, but, as experience shows us, it is very difficult to state where intelligibility ends' 20 .

In der Praxis muß davon ausgegangen werden, daß Mundartsprecher heute aufgrund der größeren Mobilität auch mehr oder weniger detaillierte Kenntnisse der unmittelbaren Nachbarmundarten besitzen, wodurch mögliche Verständigungsschwierigkeiten zumindest in der näheren Umgebung weitgehend ausgeschaltet werden können. Sofern sich dabei diese nähere Umgebung auf ein Grenzgebiet zwischen zwei oder mehreren Mundarträumen bezieht, kann das Prinzip der Interkomprehensibilität auf keinen Fall als Kriterium für die Mundarteinteilung angewandt werden. Hinzu kommt, daß die Frage nach den Verständigungsmöglichkeiten zwischen Sprechern zweier verschiedener Lokolekte nicht in jedem Fall eindeutig positiv oder negativ beantwortet werden kann; vielmehr muß hierbei mit der Möglichkeit einer gewissen Graduierung gerechnet werden, die darauf basierende Dialekteinteilungen in ihrer Gültigkeit außerordentlich relativieren würde 121 . Schon zu Beginn der neueren Epoche 117

Cf. Lüdtke (1968) II, S. 81 : »Von >Dialekt< spricht man vor allem dann, wenn man die starke regionale Variation hervorheben will; ( . . . ) . « 1.8 Martinet (1954), S. 8. 1.9 Cf. z. B. Dauzat (1944), S. 158: »En dehors du faisceau de traits linguistiques, qui constituent forcément une limite assez lâche, un bon critérium, qui repose sur un solide fondement social, est celui de l'intercompréhension: partout où on se comprend, d'une localité à l'autre, règne le même dialecte; dès qu'on ne se comprend plus, c'est qu'on a franchi une barrière linguistique.« - Ähnlich äußert sich auch Séguy (1973), S. 36: »On appellerait dialectes des parlers qui permettent aux locuteurs de se comprendre directement et sans difficulté.« 120 Francescato (1965), S. 488. 121 Cf. Pulgram (1964), S. 73.

94 in der strukturellen Sprachgeographie wurde dies von Weinreich klar erkannt, der diesbezüglich feststellte: ( . . . ) if >dialect< is defined as the speech of a community, a region, a social class, etc., the concept does not seem to fit into narrowly structural linguistics because it is endowed with spatial or temporal attributes which do not properly belong to a linguistic system as such. >Dialects< can be adjacent or distant, contemporary or non-contemporary, prestigious or lowly; linguistic systems in a strictly structural view can only be identical or different 122 .

Folglich nimmt Weinreich von der Verwendung dieses Begriffs Abstand und ersetzt ihn zunächst durch den eher neutralen Begriff »variety«123. Bemerkenswerterweise finden sich bei Weinreich keinerlei besondere terminologische Festlegungen; vielmehr spricht er nahezu ausschließlich von Systemen, die sich auf einer höheren Ebene durch Abstraktion zu Diasystemen zusammenfassen lassen124. Demgegenüber bezeichnet Francescato den Dialekt als »the language produced (and used) in a given community«, wobei diese »community« als Sprachgemeinschaft aufgefaßt werden muß und sich auch über größere Gebiete erstrecken kann125. Andererseits ist sich Francescato bewußt, daß innerhalb eines größeren Gebietes lokale und andere Varianten auftreten können, denen er im Rahmen eines Diasystems Rechnung tragen möchte. Wenn sich die Varianten nicht mehr in einem Diasystem zusammenfassen lassen, sei die Grenze eines Diasystems erreicht, und man habe folglich mit einem anderen Diasystem zu tun126. Daraus wird ersichtlich, daß Francescato den Dialekt als ein heterogenes System auffaßt, das auch Varianten mit einschließt. Da er expressis verbis »Dialekt« und »Diasystem« gleichsetzt127, andererseits aber die zu erwartenden Varianten innerhalb eines solchen Diasystems nicht auf der Ebene des Systems, sondern auf der Ebene der Realisierung erfasse möchte128, wird nicht ganz deutlich, inwiefern er den Dialekt als Diasystem betrachtet, weil die das Diasystem konstituierenden Einzelsysteme nicht genannt werden. E. Pulgram, der, wie wir oben dargelegt haben, den Idiolekt des einzelnen Sprechers bereits als abstraktes System betrachtet, will identische Idiolekte unter dem Terminus »Dialekt« zusammenfassen: The next step of abstraction takes us from idiolect to dialect. We say, in fact, that all same idiolects form a dialect. ( . . . ) They [JC. the idiolects] are sames with reference to linguistic structure in that they perform linguistic communication by 122

Weinreich (1954), S. 389; man beachte die offensichtlich indifferente Verwendung von »speech« im ersten Satz des Zitats. 123 Weinreich (1954), S. 389. 124 Siehe zum Diasystem unten S. 96ff. 125 Francescato (1965), S. 488. 126 Cf. Francescato (1965), S. 488f. 127 »As a matter of fact ( . . . ) I equate >diasystem< with >dialectdiasystem< can be constructed by the linguistic analyst out of any two systems which have partial similarities (it is these similarities which make it something different from the mere sum of two systems)' 42 .

Gleichzeitig macht Weinreich auch deutlich, daß es sich bei einem Diasystem nicht nur um ein rein theoretisches Konstrukt handelt. Vielmehr werde es von zweisprachigen Sprechern in realer Weise wahrgenommen, etwa wenn ein Gesprächspartner eine in der Sprachtechnik des Hörers existierende phonologische Opposition in seiner Rede nicht anwendet, weil sie in seiner Sprachtechnik nicht vorkommt 143 . Das Beispiel von Weinreich kann systematisch folgendermaßen dargestellt werden: Sprecher A:

/i/

Sprecher B:

/i/ ~ /i/

Demnach existiert im System des Sprechers B eine Opposition zwischen / i / und / i / , während im System des Sprechers A hierfür nur ein Phonem zur Verfügung steht. Es leuchtet ein, daß ein solches Diasystem als Beschreibungsmodell einerseits auf das gesamte Inventar von Vokalphonemen ausgeweitet wer139 140 141 142 143

Cf. Trubetzkoy (1931), S. 232f. Weinreich (1954), S. 390. Weinreich (1954), S. 390. Weinreich (1954), S. 390. Cf. Weinreich (1954), S. 390.

99 den, andererseits aber auch mehr als nur zwei Einzelsysteme umfassen kann. Weinreich selbst gibt eine Darstellung eines solchen Diasystems, das aus drei Einzelsystemen besteht, auf die mit den Ziffern 1, 2, 3 verwiesen wird144.

In dieser Darstellung zeigen Schrägstriche den Phonemcharakter der Einheiten an; stehen sie einfach, so gehören die Phoneme zu einem Dialekt; werden sie verdoppelt, bedeutet das die Zugehörigkeit zu einem Diasystem. Gleiches gilt für die Tilde, die einzeln eine phonologische Opposition in einem bestimmten Dialekt anzeigt, verdoppelt jedoch auf phonologische Oppositionen im Diasystem hinweist145. Das Schema verdeutlicht den heterogenen, abstrakten Charakter des Diasystems, weil die konstituierenden Systeme mit einem Blick erfaßt werden können und weil gleichzeitig dargestellt wird, wo im Phoneminventar Unterschiede zwischen den einzelnen Dialekten bestehen. So können wir dem Schema entnehmen, daß das Einzelsystem 3 ein symmetrisches dreistufiges Vokaldreieck besitzt, bestehend aus den Phonemen / i / , / e / , / a / , / o / und / u / . Demgegenüber herrscht im Vokalsystem des Einzelsystems 2 ein Ungleichgewicht auf der palatalen Seite, hervorgerufen durch die Opposition zwischen / i / und / i / , die auf der velaren Seite keine Entsprechung besitzt. Im Einzelsystem 1 wiederum besteht eine Quantitätsopposition zwischen /i:/ und / i / einerseits und zwischen / a : / und / a / andererseits. 2.1.4.3.

Das Diasystem als Inventarsystem

Es leuchtet ein, daß auf dieser methodischen Grundlage theoretisch jedes beliebige Vokalsystem mit jedem anderen Vokalsystem verglichen werden kann, solange nur die Inventarunterschiede berücksichtigt werden. Damit wird jedoch der strukturelle Vergleich von Dialekten auf der Basis des Diasystems fragwürdig, weil einerseits theoretisch all jene Einzelsysteme in einem Diasystem zusammengefaßt werden können, die beispielsweise in der Organisation ihre Vokalsystems partielle Übereinstimmungen aufweisen, während andererseits Systeme mit identischer Struktur per definitionem als eine funktionelle Sprache aufgefaßt werden müßten. Somit betrifft die erste Frage das Problem der Kriterien, aufgrund derer teilweise verschiedene Systeme in einem Diasystem zusammengefaßt wer144 145

Cf. Weinreich (1954), S. 394. Cf. Pulgram (1964), S. 68.

100 den können. Diesbezüglich hat Pulgram überzeugend nachgewiesen, daß Weinreichs Konzeption des Diasystems als Klasse von Dialekten darauf beruht, daß die konstituierenden Einzelsysteme genetisch zusammenhängen, also letzlich Dialekte einer »Sprache« bilden 146 . Diese »Sprache« ist folglich in diatopischer Hinsicht heterogen und stellt das Diasystem dar, in welchem die Einzelsysteme zusammengefaßt werden. But if language in this particular meaning is the equivalent of diasystem, then defining the diasystem as comprising the dialects of a language is tautological and circular 147 .

Pulgram kommt zu dem Schluß, die Frage nach den Kriterien, die eine Aufnahme in ein Diasystem rechtfertigen, sei nur relativ zu beantworten. ( . . . ) it is up to the linguist to ask himself, before commencing his chores, just what purpose his labor is to serve, what insights he is after and what goals he pursues 148 .

Mehr aus praktischen Erwägungen heraus sei es deshalb sinnvoll, nur solche Einzelsysteme auf der Basis eines Diasystems miteinander zu vergleichen, die eine größtmögliche Anzahl gemeinsamer Züge tragen 149 . Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß der diasystematische Vergleich teilweise ähnlicher Einzelsysteme sich ausschließlich auf Unterschiede im Inventar der funktionellen Einheiten beziehen kann. Jede weitere Aussage hingegen ist mit der Weinreichschen Konzeption des Diasystems nicht möglich. So können beispielsweise in dem oben angeführten Diasystem keine »intersystematischen« Vergleiche der Phoneme angestellt werden. Damit aber kann nicht eigentlich von einem Vergleich gesprochen werden, sondern lediglich von der Darstellung der unterschiedlichen Strukturierung der Systeme. 2.1.4.4.

Das Diasystem als Bezugssystem

In der praktischen Anwendung der Konzeption des Diasystems, wie sie u. a. von William G. Moulton unternommen wurde 150 , stellte sich heraus, daß ein echter Vergleich von phonologischen Systemen nicht rein aufgrund der Phoneminventare geleistet werden kann. So stellt Moulton fest, daß in zwei Gemeinden der Nordschweiz die jeweiligen Phoneminventare absolut identisch sind, während jedoch keineswegs von »gleichen« Aus146

Cf. Pulgram (1964), S. 7Iff. Pulgram (1964), S. 74. 148 Pulgram (1964), S. 75; cf. Wolf (1975), S. 75f; Pulgram (1964a), S. 376: »A diasystem is the combination of a number of dialects which by decision and in the judgment of the linguist, may thus be joined.« 149 Cf. Pulgram (1964), S. 77; in gleicher Weise bildet das Diasystem für C. Grassi »un insieme di piü dialetti solo parzialmente differenziati«; cf. Grassi (1969), S. 272. 150 Cf. Moulton (1960). 147

101 druckssystemen gesprochen werden kann 151 . Die eigentlichen Unterschiede zwischen den beiden Einzelsystemen kommen erst zum Vorschein, wenn neben dem Phoneminventar auch die lexikalische Distribution der Phoneme mit berücksichtigt wird. Dieser Gedanke, Phoneme auf eine andere Größe als das synchrone System zu beziehen, findet sich schon bei Trubetzkoy, der innerhalb der phonologischen Dialektunterschiede zwischen Inventar- und Funktionsunterschieden trennt. Ein phonologischer Inventarunterschied besteht, wenn der eine Dialekt ein Phonem besitzt, das einem anderen Dialekte unbekannt ist. Ein phonologischer Funktionsunterschied besteht, wenn ein Phonem in dem einen Dialekte in einer phonologischen Stellung vorkommt, in der es in einem anderen Dialekte nicht vorkommt 152 .

Die Miteinbeziehung der Distribution der Phoneme in den Vergleich verschiedener Ausdruckssysteme kann im Prinzip auf zwei Arten geschehen. Entweder werden lange und daher wohl niemals vollständige Distributionslisten angegeben, oder die Distribution wird diasystematisch durch den Bezug auf eine weitere Größe hin dargestellt 153 . Diese Größe wird als Bezugssystem bezeichnet, wobei zumeist ein zeitlich früher liegendes System angewendet wird, aus dem die untersuchten Einzelsysteme hervorgegangen sind. Wie Goossens deutlich macht, ist diese Abstammung aus dem historischen Bezugssystem jedoch nicht in jedem Fall erforderlich, so daß auch Einzelsysteme auf der Basis eines Bezugssystems miteinander verglichen werden können, ohne daß dieses eine den Einzelsystemen gemeinsame Vorstufe darstellen muß 154 . So stellt Moulton fest, daß die Lokolekte von Luzern (LU) und Appenzell (AP) über ein identisches Phoneminventar verfügen, das unter Vernachlässigung der lexikalischen Verteilung der Phoneme von ihm so dargestellt wird: 155

Zur Berücksichtigung der Distribution verwendet Moulton das um eine Stufe erweiterte System der mhd. Kurzvokale, das wir nach der Darstellung bei Goossens wiedergeben: 156

151

Cf. Moulton (1960), S. 176f. Trubetzkoy (1931), S. 228. 153 Cf. Löffler (1974), S. 90. 154 Cf. Goossens (1969), S. 20. 155 Nach Moulton (1960), S. 176. 156 Cf. Goossens (1969), S. 20. Die tiefgestellten Zahlen verweisen auf den Öffnungsgrad; die Stufe 0 wurde von Moulton zum mhd. System hinzugefügt und kennzeichnet eine im Hinblick auf 1 noch geschlossenere Vokalreihe. 152

102

Bezogen auf diese Vergleichsgröße werden von Moulton die Phoneme der beiden Lokolekte genauer definiert, wobei die tiefgestellten Zahlen auf den entsprechenden Öffnungsgrad im Bezugssystem verweisen 157 . //Lu/i0~el~e2~S3,4/ Lu/32~°l~u0~Ü0~Öi~ij2/ LU, AP // —— « a ^ AP /¡0,1 ~ e 1,2 ~ E 3 ~ ®4 / AP /°2 ~ ° 1,2 ~ u0,1 ~ ü0,1 ~ ° 1,2 ~ 2 // Aus dieser Darstellung geht hervor, daß die beiden Lokolekte nur ein Phonem besitzen, das im Hinblick auf die Distribution in beiden Systemen identisch ist. Alle anderen Phoneme weisen in den lexikalischen Entsprechungen entweder gar keine (vgl. L U /e 2 / und A P /e 3 /) oder nur partielle Übereinstimmungen auf (vgl. L U /i 0 / und A P /i 0 1 /) 1 5 8 . Gleichzeitig wird deutlich, daß das Bezugssystem sowohl für die synchrone als auch für die diachrone Beschreibung nutzbar gemacht werden kann. Beim synchronen Vergleich ist dabei eher an ein konstruiertes System zu denken, auf das hin die Verschiedenheit der das Diasystem bildenden Einzelsysteme bezogen wird, wodurch gleichzeitig das Problem vermieden werden kann, der diatopischen Variation im Rahmen einer Einheit auf der Objektebene Rechnung tragen zu müssen. Diese Einheit wäre, wie Pilch sich diesbezüglich ausdrückt, die »given language« 159 , also wohl eine historische bzw. eine funktionelle Sprache im Sinne einer kodifizierten syntopischen Standard- oder Literatursprache. Gerade in Fällen wie den frankoprovenzalischen oder okzitanischen Dialekten aber fehlt eine solche kodifizierte Einheit auf höherem Niveau als die einzelnen Dialekte und somit auch das diesen übergeordnete Bezugssystem. Allerdings dient das synchrone Bezugssystem ohne Berücksichtigung der lexikalischen Distribution weniger der Dialektologie als vielmehr der typologischen Klassifikation teilweise verschiedener Einzelsysteme 160 . Dabei muß entweder die Verwandtschaft der Systeme als gegeben angenommen werden, oder sie bleibt völlig außer Betracht, da sie anhand eines solchen Diasystems nicht dargestellt werden kann. Dies ist auch der 157

Cf. Moulton (1960), S. 176. Zur Bewertung der Phoneme J J / E / und AP/e3/ cf. Moulton (1960), S. 176 n. 19. Für das gemeinsame, in beiden Lokolekten funktionsgleiche Phonem / a 4 / verwendet Moulton den Terminus »diaphoneme« (S. 177). Siehe hierzu auch die Konzeption eines »geophoneme« bei Caragiu-Mariofeanu (1966). 159 Pilch (1972), S. 168. ,60 C f . Pulgram (1964), S. 81.

158

L

2

103 Grund, weshalb Moulton die Konzeption des Diasystems als für die Dialektologie weniger geeignet bezeichnet, wenn er bezüglich des Vergleichs der Phonemsysteme der beiden Lokolekte von Luzern und Appenzell schreibt: Since we are dealing here with two dialects hardly 50 miles apart, this makes the concept of the diasystem seem of questionable value in dialectology. It remains of course a highly useful concept where we wish to compare the phonemic systems of two languages which are unrelated, or whose relationship does not concern us'61. Wenn Moulton folglich die lexikalische Distribution der Phoneme im Rahm e n des Diasystems mit berücksichtigt, bedeutet dies den Übergang von der synchronen zur diachronen Phonologie. Historical sources and lexical correspondences are of course two aspects of the same thing. We reconstruct the historical sources on the basis of modern lexical correspondences; hence the modern lexical correspondences can be inferred from an indication of the historical sources162. Andererseits bedeutet Verwandtschaft von Systemen eine diachronische Aussage, die in der lexikalischen Verteilung der Phoneme enthalten ist 163 . Folglich gelingt es Moulton, unter Bezug auf die Distribution der Phoneme einerseits Aussagen über die historische Entwicklung der beiden verglichenen Systeme auf eine solide Basis zu stellen, andererseits den Grad ihrer Verwandtschaft meßbar zu machen. Wenn er dennoch gewisse Vorbehalte gegenüber dem Weinreichschen Diasystem äußert, so beruht dies auf der unterschiedlichen Zielsetzung beider Autoren, die Pulgram verdeutlicht hat: Moulton's dialectology concerns itself with the description and circumscription of classes, Weinreich's with the arrangement of them in such a way as to enable the linguist to read out of them structural information as to functional equivalences and differences among the systems164. Moulton compares dialects in order to determine their relationship and their place in a larger system, and he does so in proper Saussurian fashion; Weinreich starts from the knowledge thus provided, and the structural comparison his diasystem yields is, I believe, something to be read out of it conveniently because of an adroit and meaningful arrangement of the information 165 .

161

Moulton (1960), S. 177. Moulton (1960), S. 175 n. 18. 163 Wolf (1973), S. 497. 164 Unserer Ansicht nach kann Weinreichs Diasystem gerade keine Aussagen über die »functional equivalences« der Phoneme verschiedener Systeme machen, da die Funktion einer Einheit hier nur im Hinblick auf die anderen funktionellen Einheiten des gleichen Systems festgelegt werden kann. »Intersystematische« Funktionsvergleiche schließen sich dagegen wegen des fehlenden tertium comparationis aus. 165 Pulgram (1964), S. 80. 162

104 Dennoch bewegt sich Moulton vorwiegend auf der synchronen Beschreibungsebene, wenn er die beiden genannten Lokolekte auf der Basis des Diasystems vergleicht und als Grundlage des Vergleichs ein konstruiertes - weil erweitertes - Vokalsystem zu Hilfe nimmt. Obgleich dieses Bezugssystem keine Vorstufe der beiden Lokolekte bildet, gibt es Moulton doch die Möglichkeit, den Verwandtschaftsgrad der beiden Systeme darzustellen 166 . Dabei kommt er deutlich in die Nähe dessen, was Pilch als ein mögliches Bezugssystem für den Vergleich verschiedener Systeme anführt: die hypothetische, konstruierte Protosprache. ( . . . ) the constant frame of reference may be a (hypothetical) PROTOLANG U A G E with a set inventory and uniquely specifiable features 167 .

Diese Konzeption wurde schon früher von Pulgram vorgestellt, der sie auf das System der protoromanischen betonten Vokale anwandte 168 . Auch Pulgram macht deutlich, daß dieses konstruierte System aller Wahrscheinlichkeit nach nie einer tatsächlich gesprochenen Sprache entspricht und somit nur eine mögliche Urform darstellt, aus der die heute existierenden Einzelsysteme herzuleiten sind 169 . In this sense, then, a proto-language is indeed a diasystem which, owing to its diachronic dimension, may legitimately be called a proto-diasystem170.

Die gesamte Diskussion um das phonologische Diasystem macht deutlich, daß mit dieser Konzeption die regionale Diversität einzelner Ausdruckssysteme herausgearbeitet und in einer knappen Formel anschaulich dargestellt werden kann, sofern die berücksichtigten Systeme in ihrer phonologischen Struktur gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Der Vergleich gänzlich unterschiedlicher Strukturen scheint sich dabei nicht völlig auszuschließen, wohl aber kann die Zweckmäßigkeit eines solchen Vergleichs angezweifelt werden. Auf der Grundlage eines reinen Vergleichs der Inventare, wie er von Weinreich entwickelt wurde, kommt die Diversität der Einzelsysteme zum Ausdruck, ohne daß diese sich notwendigerweise zu einer - wenn auch nur theoretischen - höheren Einheit zusammenfassen ließe. Berücksichtigt man dagegen neben den reinen Inventarunterschieden auch die Distribution der phonologischen Einheiten, wie sie in den lexikalischen Entsprechungen festgestellt werden kann, so können auch Aussagen über den Verwandtschaftsgrad der verglichenen Systeme gemacht werden. Da Verwandtschaft von Systemen hier in genealogischer Hinsicht zu verstehen ist, erfolgt damit mehr oder weniger automatisch der Ubergang von der 166 167 168 169 170

Cf. Pulgram (1964), S. 80. Pilch (1972), S. 169. Cf. Pulgram (1964a). Cf. Pulgram (1964a), S. 376f. Pulgram (1964a), S. 377.

105 synchronen zur diachronen Betrachtungsebene. Dieser Übergang wird noch mehr betont, wenn das zum Vergleich herangezogene Bezugssystem eine reale oder rekonstruierte Vorstufe aller im Rahmen des Diasystems verglichenen Einzelsysteme darstellt. Gleichzeitig wird durch dieses Bezugssystem die Möglichkeit geschaffen, intersystematische Funktionsäquivalenzen bzw. -divergenzen festzustellen, wobei die Funktion einer Einheit nicht mehr nur auf das Einzelsystem hin definiert, sondern im Rahmen des Diasystems als Diaphonem erfaßt wird.

2.2.

Die strukturell-semantische Sprachgeographie

2.2.1.

Zur Anwendung des diasystematischen Vergleichs im Bereich der Lexik

Die von Weinreich ausgelöste Diskussion um Möglichkeiten und Methoden struktureller Sprachgeographie beschränkte sich, wie wir gezeigt haben, im wesentlichen auf das Gebiet der Phonologie. Nur dort war zum Zeitpunkt der stattfindenden Diskussion eine weitgehende Übereinstimmung darüber vorhanden, was als Struktur in einer Sprache zu betrachten sei und wie die funktionellen Einheiten identifiziert und als strukturiert dargestellt werden können. So finden sich bei den Theoretikern zur strukturellen Dialektologie im allgemeinen nur recht zaghafte Äußerungen, ob und wie eine funktionelle Betrachtung der Dialekte auch das Lexikon umfassen könne. Diese Unsicherheit erscheint uns als eine direkte Widerspiegelung der regen Diskussion um die Existenz und die Art von semantischen Strukturen, wie sie vor allem auf dem 8. Linguistenkongress in Oslo zum Ausdruck kam 171 . Ein Jahr zuvor schreibt diesbezüglich Fourquet: C'est l'étude structurale du lexique qui est encore le moins avancée et il ne faut pas s'en étonner: le nombre des unités est ici très grand, et celui de leurs interconnexions est immense. On ne peut encore faire état que de démonstrations partielles sur des champs sémantiques (Bedeutungsfelder) relativement clos 172 .

In ähnlicher Weise stellt M. Philipp mehr als ein Jahrzehnt später fest: A l'heure actuelle, la théorie phonologique est relativement bien élaborée; il n'en est pas de même de la sémantique. La notion de système est fort discutée et la détermination des unités beaucoup moins bien définie que pour les phonèmes 173 . 171

Vgl. die Sektion unter dem Titel »To What Extent Can Meaning Be Said to Be Structured?« in den Akten des 8. Linguistenkongresses in Oslo 1957 mit den beiden Beiträgen Hjelmslev (1958) und Wells (1958), sowie die sich daran anschließende Diskussion. 172 Fourquet (1956), S. 192. 173 Philipp (1969), S. 304.

106 Dabei steht jedoch nicht so sehr die Frage im Vordergrund, ob es überhaupt im lexikalisch-semantischen Bereich Systeme gibt, als vielmehr das Problem, welche Art von Beziehungen in das Aufgabengebiet einer strukturellen Semantik fallen. Wir erinnern nur an die unterschiedlichen Feldkonzeptionen von Trier 174 , Ulimann 1 7 5 , Matoré 1 7 6 und Guiraud 1 7 7 , die wir hier nicht im Detail darstellen können 1 7 8 . Unter Bezug auf diese Feldkonzeption schreibt A. de Vincenz: En ce qui concerne les études romanes, la sémantique structurale a connu depuis une dizaine d'années un développement particulièrement brillant. ( . . . ) Contrairement à la phonologie, cependant, ce courant ne semble pas avoir touché les études dialectales. Même les auteurs d'études de dialectologie conçus par ailleurs dans un esprit structural semblent ignorer jusqu'à l'existence d'une structure du lexique, ce qui n'est peut-être pas étonnant, si l'on se rappelle qu'une partie des structuralistes nient la possibilité d'une structure sémantique 179 . Hingegen hat bereits U. Weinreich in seinem programmatischen Aufsatz zur strukturellen Dialektologie gezeigt, in welcher Richtung eine lexikalisch-semantische Fragestellung auf die Dialekte angewandt werden kann. Als Ausgangspunkt dient i h m eine semasiologische Karte, in der dem Ausdruck Stuhl zwei geographisch getrennte Inhalte entsprechen. (...) if shtul means >chair< in zone A, but >easychair< in zone B, then what is the designation of >easychair< in A and of >chair< in B? Every semasiological map, due to the two-faceted nature of linguistic signs, gives rise to as many onomasiological questions as the number of zones it contains, and vice versa. If we were to supply the information that in zone A, >easychair< ist fotél', while in zone B >chair< is benkl, a new set of questions would arise: what, then, does fotél' mean in B and benkl in A? This implicational chain of questions could be continued further. The resulting answers, when entered on a map, would produce a picture of an isogloss dividing two lexical systems, rather than two isolated items (...). This would be the structural corrective< to a traditional dialect map180. Das Verfahren, das Weinreich vorschlägt, ist also eine wiederholte und wechselnde Betrachtung onomasiologischer und semasiologischer Relationen in ihrem Bezug auf die geographische Variation. Damit glaubt er, lexikalische Systeme im Raum feststellen und geographisch abgrenzen zu können. Das von Weinreich angeführte Beispiel 181 ist insofern glücklich gewählt, als sich tatsächlich zwei verschiedene inhaltliche Strukturen gegenüberstehen, wobei die den Inhalten entsprechenden Ausdrücke für die Strukturierung dieses »lexical system« nicht primär ausschlaggebend sind. 174

Cf. Trier (1973), besonders S. 1-26 »Über Wort- und Begriffsfelder«. Cf. Ulimann (1963), besonders S. 307ff. Cf. Matoré (1953). 177 Cf. Guiraud (1962) und (1956). 178 Cf. die ausführliche Darstellung dieser und anderer Feldkonzeptionen bei Geckeier (1971), Kapitel III; siehe dazu auch Coseriu (1964), S. 155 n. 21; Öhmann (1951) und (1953); Veith (1971); Vassilyev (1974) und Scur (1977). 179 de Vincenz (1965), S. 1023. 180 Weinreich (1954), S. 399f. 181 Cf. Weinreich (1954), S. 398, Karte 4. 175

176

107 ( . . . ) c'est la structure du contenu qui d é t e r m i n e le rapport expression-contenu, ce qui est naturel, puisque le contenu est la fonction linguistique et l'expression n'en est q u e le moyen 1 8 2 .

Im Unterschied zu Weinreich glaubt Stankiewicz nicht an die Möglichkeit einer Ausweitung struktureller Methoden auf den Wortschatz, zumindest auf den dialektalen Wortschatz, wobei nicht ganz klar ist, ob er dabei an den Ausdruck oder an den Inhalt denkt. Lexical differences, which are the most striking to the layman, cannot be fruitfully applied in a structural a p p r o a c h ; they reflect ethnic, social and geographic conditions of d i f f e r e n t areas and lend themselves least to systematization. Being of a non-systemic a n d cultural character, lexical criteria are otherwise utilized to d e f i n e social dialects (argot, slang, professional languages) 183 .

Obgleich sich Pulgram ausschließlich auf methodologische und praktische Fragen konzentriert, die das phonologische Diasystem betreffen, stellt er ausdrücklich fest, daß es keinen Grund gebe, »morphemic and syntactic diasystems« als nicht zu verwirklichen oder uninteressant zu betrachten, »even though, to my knowledge, none has so far been constructed« 184 . Als Grund für die geringe Anzahl strukturell-semantischer Untersuchungen auf der Basis des Diasystems nennt Wolf die noch nicht ausreichende methodologische Fundierung. Die A n w e n d u n g des Diasystems ist bisher fast ausschließlich auf die Ebene der Ausdruckssubstanz begrenzt. ( . . . ) Der f ü r Vergleiche auf der Ebene der Inhaltssubstanz notwendige Katalog der semantischen M e r k m a l e hingegen ist noch nicht besonders weit gediehen 1 8 5 .

Auch bei Pilch finden wir nur sehr zaghafte Äußerungen bezüglich einer strukturell-lexikalischen Dialektologie. Is structural dialectology applicable beyond the level of phonemics - to morphology, lexicology, syntax, and semantics? I think it is, although some high-level structures (notably t h e structure of lexical fields) are, in my experience, more stable over large linguistic areas than t h e lower levels of phonemics a n d accidence 184 .

Als Beispiele dafür führt er das Paradigma der russischen Heiratsverwandtschaft an, wo die Opposition zwischen den Verwandten des Ehemanns und den Verwandten der Ehefrau, die in der »country speech« existiere, in der »city speech« aufgehoben sei 187 . Große Vorbehalte haben wir gegen das angeführte Beispiel der Wochentagsbezeichnungen im Deutschen, wo die dialektale Variation nach Pilch die Bezeichnung des sechsten Tages be182

Coseriu (1964), S. 172. Stankiewicz (1957), S. 46. 184 Pulgram (1964), S. 78. U n k l a r bleibt jedoch, was Pulgram genau unter »morp h e m i c and syntactic diasystems« versteht. 185 Wolf (1973), S. 496. 186 Pilch (1972), S. 176. 187 Cf. Pilch (1972), S. 177. 183

108 treffe, für den im Norden Sonnabend, im Süden Samstag verwendet werde. Diese Variation betrifft jedoch lediglich die Ausdrucksebene, während sich auf der Inhaltsebene nichts ändert188. Instruktiver ist hingegen ein Beispiel aus dem Englischen, wo die Opposition zwischen teach und learn, die in der Standardsprache existiert, in einigen ländlichen Dialekten aufgehoben ist, die nur learn verwenden. Diesen Fall, der unterschiedliche Strukturen auf der Inhaltsebene zeigt, bezeichnet Pilch als »Synkretis18Q

mus« . Diese überblicksartige Darstellung der Äußerungen der Theoretiker zur strukturell-lexikalischen bzw. strukturell-semantischen Sprachgeographie zeigt eine nahezu allgemeine Bejahung dieser Richtung, wenngleich eine Veranschaulichung und methodologische Fundierung entweder fehlt oder doch zumindest oberflächlich und mit teilweise sehr unterschiedlichen Konzeptionen und Beispielen erfolgt. Dies ist sicherlich zu einem nicht unerheblichen Teil darauf zurückzuführen, daß kleinere und umfangreichere strukturelle Arbeiten zum dialektalen Wortschatz erst seit den sechziger Jahren vorliegen und in den ihnen zugrundeliegenden Konzeptionen der lexikalisch-semantischen Strukturen außerordentlich heterogen sind. Bevor wir diese Arbeiten näher betrachten, wollen wir noch kurz darstellen, wie das Problem in dem bisher einzigen Handbuch zur strukturellen Sprachgeographie dargestellt und behandelt wird. 2.2.2.

Möglichkeiten struktureller Wortgeographie nach Goossens

Der die strukturelle Wortgeographie betreffende zweite Teil in Goossens' Überblick basiert methodisch und in seiner Gliederung auf einem Aufsatz Ullmanns aus dem Jahre 1953. Goossens nimmt sich vor, in diesem Teil zu zeigen, »wie man das Verhältnis von Wortform (signifiant) und Wortinhalt (signifié) auf dialektgeographischer Ebene strukturell untersuchen kann« 190 . Da Goossens offensichtlich Ullmanns Anschauungen vollständig übernimmt, erscheint es uns wichtig und angebracht, zunächst Ullmanns Einschätzung der Lage der Semantik, genauer: der lexikalischen Semantik darzulegen, wie sie in dem erwähnten Aufsatz zum Ausdruck kommt. The reasons why semantics has so far failed to adapt itself to the new perspective [ä1. der deskriptiven, synchronen Sprachbetrachtung] are not far to seek. The vocabulary is not amenable to exhaustive and orderly description by the same methods as the phonemic and grammatical ressources of a language. The latter 188

Cf. Pilch (1972), S. 176; siehe dazu auch unten Kapitel 2.2.2. Cf. Pilch (1972), S. 176; auf den Terminus »Synkretismus« und seine Abgrenzung von der »Neutralisierung« werden wir noch eingehen. 190 Cf. Goossens (1969), Kap. II, »Das Wort«, S. 69ff. 189

109 are limited in number and rigidly systematized; they are largely, though not totally, impervious to outside influences. The vocabulary, on the other hand, is a loosely organized congeries of an infinitely greater number of elements: its bounderies are fluid and ill-defined; it is essentially open, ready to receive an unlimited accretion of new words and new meanings drawn from the most di141 verse sources .

Dennoch, so Ullmann, gebe es drei Verfahren, die eine synchrone Betrachtung der Bedeutung ermöglichen. Als erstes nennt er die für die Abfassung von Begriffswörterbüchern notwendige Klassifizierung der Wortbedeutungen, die jedoch, weil sie sich an außersprachlichen Gegebenheiten orientiere, nicht gewinnversprechend sei192. Auch das zweite Verfahren, die Wortfeldmethode Triers, bei Ullmann »the theory of semantic fields« genannt' 9 3 , habe einen gravierenden Nachteil, den Ullmann darin sieht, daß diese Methode nur auf solche »spheres of experience« Anwendung finden könne, »which are closely systematized« 194 , und ferner nur einzelne Sektionen des Wortschatzes betrachten könne, nicht jedoch das gesamte Lexikon einer Sprache. Demgegenüber erlaube das dritte Verfahren, wenngleich es weniger systematisch als die beiden ersten sei, durch die Feststellung der charakteristischen Züge des Wortschatzes einer Sprache den Gesamtwortschatz zu erfassen und dessen Struktur mit der anderer Sprachen bzw. Stufen aus der Geschichte dieser Sprache zu vergleichen 195 . Entsprechend Ulimanns Definition der Bedeutung als »reciprocal relation between name and sense« 196 nennt er sechs Kriterien, die anhand dieser Beziehung die semantische Struktur des Wortschatzes einer Sprache entdekken lassen: 197 (1) (2) (3) (4) (5)

The dosage of motivated and unmotivated words; The dosage of particular and generic terms; Special devices for conveying emotive overtones; The organization and distribution of synonymic ressources; The relative frequency of polysemy; its characteristic forms; safeguards against ambiguities to which it may give rise; (6) The relative frequency of homonymy; safeguards against conflicts between homonyms.

Ein siebtes Kriterium ergebe sich aus der Kombination der aus (1), (2), (5) und (6) gewonnenen Schlüsse: die semantische Autonomie des Wortes in der untersuchten Sprache.

191

Cf. Ullmann (1953), S. 225. Cf. Ullmann (1953), S. 226f. 193 Cf. Ullmann (1953), S. 227. 194 Cf. Ullmann (1953), S. 227; siehe jedoch auch die positivere Beurteilung bei Ullmann (1969), S. 305. ,95 Cf. Ullmann (1953), S. 227. 1,6 Ullmann (1953). S. 228; siehe dazu auch oben S. 35f. 197 Ullmann (1953), S. 228f. 192

110 Während Goossens nun das für die Abfassung von Begriffswörterbüchern verwandte Verfahren als für die strukturelle Sprachgeographie nicht geeignet erachtet, konzentriert er sich vor allem auf die von Ulimann skizzierten Verfahren der Wortfeldmethode und der Erfassung der charakteristischen Merkmale einer Sprache und zeigt, wie sie für die strukturelle Sprachgeographie nutzbar gemacht werden können 198 . Dabei nimmt die Darstellung der Wortfeldmethode in der Sprachgeographie bei ihm verhältnismäßig wenig Raum ein, nicht zuletzt deshalb, weil dazu aus dem germanistischen Bereich nur sehr wenige Arbeiten vorliegen, die außerdem insofern unvollständig seien, als sie mit unzureichendem Material hätten arbeiten müssen, da die entsprechenden Sprachkarten nur lückenhaft vorhanden seien 199 . Im Hinblick auf die Unzulänglichkeiten bezüglich der Erfassung ganzer Wortfeldstrukturen durch die Fragebücher glaubt Goossens, »daß die geographische Untersuchung von Wortfeldern sich am besten vorerst auf mündlich befragte kleinräumige Gebiete beschränkt« 200 . Relativ breiten Raum nimmt bei Goossens die verkürzte Darstellung des von ihm untersuchten »Wortfeldes« der Bezeichnungen für die Enden des Ackers in Belgisch-Limburg ein, die er sowohl in ihrer geographischen Lagerung als auch in ihrer wortgeschichtlichen Entwicklung betrachtet, wobei die Erläuterung der sachlichen Gegebenheiten (übliche Arten der Beackerung des Bodens, Zusammenhang mit Bodenarten) und die Bedeutungsentwicklung der verwendeten Lexeme im Vordergrund stehen 201 . Kritisch ist gegen diese Darstellung einer strukturellen Wortgeographie einzuwenden, daß letzlich in der üblichen onomasiologischen Art und Weise Bezeichnungen für außersprachliche Gegebenheiten gesammelt und in ihrer regionalen Lagerung wiedergegeben werden, wobei sich der Zusammenhang der sprachlichen Einheiten (Lexeme) durch den sachlichen Zusammenhang im Sinne von diatopischen Bezeichnungsfeldern ergibt, ohne daß in bewußt struktureller Weise die zwischen diesen lexikalisch-semantischen Einheiten funktionierenden Oppositionen untersucht werden, was letztlich nur dann geleistet werden kann, wenn die distinktiven inhaltlichen Züge (Seme) genau erfaßt werden. In seiner kritischen Betrachtung der Arbeit Goossens' wird dies von Wolf deutlich hervorgehoben, der an der angewandten Methode vor allem bemängelt, daß sie »sich im Prinzip jedoch nicht allzu sehr von Gillierons Wortkarteninterpretationen unterscheidet« 202 . Gleichzeitig nennt Wolf die 1,8

Cf. Goossens (1969), S. 69ff. ' " Cf. Goossens (1969), S. 70f.; Goossens nennt dabei vier Studien, »in denen solche Fragen berührt werden« (S. 70): Debus (1958), der sich mehr mit Fragen der Wortbildung im Zusammenhang mit den deutschen Bezeichnungen der Heiratsverwandtschaft beschäftigt; Höing (1958); Martin (1963); Tallen (1963). 200 Goossens (1969), S. 72. 201 Cf. Goossens (1963) und (1969), S. 72-75. 202 Wolf (1973), S. 501.

111 eigentliche Aufgabe, wie sie von einer strukturellen Sprachgeographie im Bereich der Semantik wahrgenommen werden müßte: Eine strukturelle Perspektive wäre nun, das Bewahren oder die Aufgabe bzw. die Existenz oder Absenz einer Opposition zu erklären. Reiner Bezeichnungswechsel oder Bezeichnungsunterschied ohne Relevanz für das System ist nicht primärer Gegenstand struktureller Sprachgeographie 203 .

Wir können hier festhalten, daß Goossens sich von der Anwendung der durch die Wortfeldmethode bereitgestellten Prinzipien im Bereich der Sprachgeographie gewisse Erfolge verspricht, obgleich das von ihm angeführte Bezeichnungsfeld nicht erkennen läßt, wie diese Konzeption für die strukturelle Sprachgeographie nutzbar gemacht werden kann. Auch gegenüber der zweiten Methode strukturell-geographischer Wortforschung, die Goossens von Ullmann übernimmt, haben wir gewisse Vorbehalte, die sich jedoch weniger auf die Wichtigkeit und Berechtigung solcher konstrastiver Sprachvergleiche beziehen als vielmehr auf den Anspruch, mittels solcher Verfahren »die Merkmale der lexikalischen Struktur einer Sprache durch einen Vergleich mit anderen Sprachen ( . . . ) aufzudecken« 204 . Ein Vergleich verschiedener inhaltlicher Strukturen hat gerade im Bereich der Dialektologie seine Berechtigung, wo wir es theoretisch mit einer großen Anzahl von Einzelsystemen zu tun haben. Der Vergleich der Strukturen setzt aber die Beschreibung voraus, die nicht quasi inter-systematisch erfolgen kann. Insofern halten wir die von Goossens projizierte Untersuchung von Pauschal- und Teilanwendbarkeit von Lexemen 205 für durchaus berechtigt und dem Objekt angemessen, nur fehlt bei ihm ein Hinweis darauf, wie diese Anwendbarkeit, die man besser als Bedeutungsumfang bezeichnen würde, erfaßt werden kann. Da es sich dabei - Goossens nennt als Beispiel dt. Uhr gegenüber engl, clock und watch206 - letztlich um die lexematische Aufgliederung eines bestimmten Bedeutungsbereichs handelt, erscheint uns gerade die Wortfeldmethode als das einzig adäquate Mittel, diese strukturellen Unterschiede zwischen Einzelsystemen aufzudecken und zu beschreiben. Methodisch bedeutsam ist zweifellos die Unterscheidung zwischen Synonymie und Heteronymie für den Systemvergleich. Weil jede Mundart ein sprachliches System für sich darstellt, ist es prinzipiell verfehlt, von Synonymie zu reden, wenn ein bestimmter Begriff in einer Mundart durch Ausdruck a und in einer anderen Mundart durch Ausdruck b bezeichnet wird. Terminus b ist, weil er in einem anderen System vorkommt, eine Übersetzung von a und kein Synonym 207 . 203 204 205 206 207

Wolf (1973), S. 501 f. Goossens (1969), S. 76. Cf. Goossens (1969), S. 78ff. Cf. Goossens (1969), S. 79. Goossens (1969), S. 86.

112 In diesem Fall sei der Ausdruck »Heteronymie« zu bevorzugen. Demgegenüber, so Goossens, entständen vor allem im Grenzgebiet zwischen Heteronymen Regionen, in denen die beiden Ausdrücke in totaler Synonymie nebeneinandertreten, wobei sich folgende Entwicklungen unterscheiden lassen: 208 die beiden Ausdrücke kontaminieren; zwischen beiden Ausdrükken bildet sich eine Bedeutungsdifferenzierung heraus; beide Ausdrücke werden zugunsten eines dritten Ausdrucks aufgegeben. In bezug auf die semantischen Strukturen der untersuchten Einzelsysteme sind jedoch diese Phänomene durchaus nicht gleichwertig. So ist es zunächst sicherlich für die Betrachtung des Wortschatzes von Bedeutung, welcher Ausdruck einen bestimmten Inhalt bezeichnet. Für die semantische Struktur hingegen ist diese Tatsache völlig irrelevant, da beiden Ausdrücken exakt derselbe Inhalt entspricht. Ebenso betrifft die Kontamination zweier lexikalischer Einheiten zunächst nur die Ebene des Ausdrucks, ohne jedoch notwendigerweise auch Auswirkungen auf die semantische Struktur des betreffenden Systems zu haben. Gleiches gilt für die Ersetzung der beiden Synonyme durch einen dritten Ausdruck, der möglicherweise aus der Standardsprache stammt. Auch hier hat sich inhaltlich nichts geändert; der Bedeutungsbereich der Ausdrücke vor und nach dem erfolgten Austausch ist der gleiche geblieben. Im Unterschied dazu bewirkt die Beibehaltung der beiden ursprünglichen Heteronyme mit allmählicher Bedeutungsdifferenzierung eine Veränderung auf der Inhaltsebene, die etwa so dargestellt werden kann: a) im Falle absoluter S y n o n y m i e Inhalt >Z< Ausdruck A Ausdruck B b) nach erfolgter Bedeutungsdifferenzierung Inhalt >Z< Inhalt >X< Ausdruck A

Inhalt >Y< Ausdruck B

Aus dem Schema geht hervor, daß der Bedeutungsbereich des Inhalts >Z< zu beiden synchronen Sprachzuständen der gleiche ist; während jedoch zum früheren Zeitpunkt der Inhalt >Z< semantisch nicht weiter unterteilt war, bildet er zum späteren Zeitpunkt eine Art archilexematischen Inhalt, dem sich die beiden Inhalte >X< und >Y< untergliedern. Dies ist natürlich nur eine Möglichkeit der semantischen Entwicklung; demgegenüber wäre gleichfalls denkbar, daß beispielsweise der Ausdruck A den Inhalt >Z< besitzt, dem sich ein Inhalt >Y< mit dem Ausdruck B im Sinne einer Inklusion unterordnet. 208

Cf. G o o s s e n s (1969), S. 87.

113 Dieser strukturell relevante Unterschied zwischen einfacher Substitution auf der Ausdrucksebene ohne Veränderung der inhaltlichen Struktur und Ausdrucksveränderungen mit Auswirkung auf die Strukturierung des Inhalts kann nun sowohl - wie im vorliegenden Fall - mit Bezug auf eine historische Entwicklung, als auch mit Bezug auf zwei benachbarte Mundarten zu einem synchronen Sprachzustand als Grundlage eines strukturellen Vergleichs herangezogen werden. Im Hinblick auf die diachrone strukturelle Semantik unterscheidet Coseriu - unter Berufung auf Trier - zwischen »remplacement« und »modification«: La distinction fondamentale de la sémantique diachronique structurale ( . . . ) est la distinction entre changement lexical non fonctionnel (du point de vue de la structure du contenu) et changement lexical fonctionnel (du même point de vue), que nous proposons d'appeler respectivement remplacement (changement sémasiologique ou onomasiologique) et modification (changement sémantique proprement dit). C'est une distinction radicale entre deux ordres de faits entièrement différents: un »remplacement« ne concerne que le signifiant (ou le lien signifiant - signifié); une »modification« concerne au contraire le signifié en tant que tel. Dans le cas d'un »remplacement« rien ne se produit en principe, dans les rapports des contenus lexicaux; dans le cas d'une »modification«, ce sont précisément ces rapports qui changent 209 .

Es leuchtet ein, daß Veränderungen der Struktur innerhalb eines Feldes sowohl im Hinblick auf die historische Entwicklung eines Systems, als auch mit Bezug auf die geographische Variation festgestellt werden können. Unter Berufung auf Trubetzkoy hält Piotrovsky es für notwendig, »de différencier strictement et de juger différemment, d'une part, les divergences dans la structure des modèles eux-mêmes, et, d'autre part, celles qui ne se rapportent qu'aux formes matérielles d'un seul et même modèle Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die »semantischen Strukturen« Ulimanns, die von Goossens übernommen und auf ihre Verwendbarkeit für die strukturelle Wortgeographie überprüft werden, onomasiologische bzw. semasiologische Relationen darstellen, deren Grundlage die Ausdruck-Inhalt-Relation bildet, während eine eigentliche semantische Struktur nach Coseriu sich auf die Beziehungen zwischen Inhalten beschränkt 2 ". Dies bedeutet natürlich nicht, daß onomasiologische und semasiologische Untersuchungen nicht legitim und angebracht seien; es wird lediglich festgestellt, daß anhand dieser Verfahren die inhaltliche Strukturierung des Wortschatzes nicht erfaßt werden kann. Daher ist es auch nicht gerechtfertigt, in Gilliéron einen Vorläufer der strukturellen Wortschatzbetrachtung zu sehen, weil dieser gelegentlich mehr als nur ein Einzelwort in seine Untersuchungen einbezogen habe 212 . 209 2.0 2.1 2.2

Coseriu (1964), S. 170. Piotrovsky (1964), S. 104. Cf. Coseriu (1966), S. 209 und (1968), S. 3. So etwa Goossens (1969), S. 24.

114 Gillieron war primär bemüht, den Bezug zwischen einem sprachlichen Ausdruck und einem Inhalt zu bestimmen, wobei er gelegentlich auch einen weiteren Ausdruck bzw. einen Inhalt in die Betrachtung miteinbezog213. Zusammenfassend läßt sich zu Goossens' struktureller Wortgeographie festhalten, daß bei ihm die Möglichkeiten der - richtig verstandenen Wortfeldmethode für die strukturelle Semantik und ihre Anwendung auf die diatopische Variation nicht voll ausgeschöpft werden und daß die dargestellten Betrachtungen onomasiologischer und semasiologischer Relationen nicht zur Strukturierung der Inhaltsebene führen können. Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt auch Wolf am Ende seiner kritischen Betrachtung von Goossens' Überblick, wenn er schreibt: Hier spricht der Dialektologe mit all seiner reichen Erfahrung, wenn auch in diesem lexikologischen Teil seines Buches ein bewußter Strukturalismus noch im Hintergrund steht 214 .

2.2.3.

Kritische Betrachtung einiger strukturell-lexikalischer Arbeiten im Bereich der Dialektologie

Nach der Erörterung von weitgehend methodologischen Fragen zur strukturellen Wortgeographie wollen wir nun eine Reihe von praktischen Untersuchungen betrachten, die sich im weitesten Sinne auf diesen Bereich beziehen. Da jedoch sowohl die Arbeiten zur Strukturierung des Wortschatzes allgemein als auch lexikologische Untersuchungen eher traditioneller Art (Wortgeschichte, Etymologie etc.) zu den Dialekten in sehr großer Zahl vorliegen, haben wir eine Auswahl vorgenommen, die nach folgenden zwei Kriterien erfolgte: (1) Beschränkung auf Arbeiten, deren erklärtes Ziel es ist, im lexikalischen Bereich Strukturierungen (im weitesten Sinne) zu erfassen und zu beschreiben; (2) Beschränkung auf Arbeiten im Sinne von (1), deren Objekt eine geographisch definierte Sprachform unterhalb der Ebene der Literatur- oder Standardsprache ist, die sich also letzlich mit einem oder mehreren Dialekten befassen. Da unseres Wissens nach größere Arbeiten nur zu den deutschen Dialekten vorliegen, während die französischen Dialekte Eingang in eine Reihe von kleineren, aber deshalb nicht weniger bedeutenden Arbeiten gefunden haben, wollen wir mit den ersteren beginnen 215 . 213 2.4 2.5

Siehe dazu oben S. 35f. Wolf (1973), S. 503. Wir können dabei häufig unsere kritischen Einwendungen nur in Form von fragendem Zweifeln über die adäquate Interpretation des vorliegenden Dialektmaterials machen, da eine eindeutige Beweisführung aufgrund der fehlenden Kompetenz hinsichtlich der dialektalen Systeme nicht erbracht werden kann.

115

2.2.3.1. Die Dissertation W. Martis 216 behandelt den Wortfeldkomplex »arbeiten« im Dialekt des bernischen Seelandes. Sie stützt sich auf das Material, das Marti selbst anhand von mündlichen und schriftlichen Fragebogen in drei kleineren Landgemeinden des Ortes Rapperswil (Kanton Bern) einerseits und in der Industriestadt Biel andererseits gesammelt und mittels elektronischer Datenverarbeitung ausgewertet hat. Aus der Auswahl der Untersuchungspunkte ergibt sich die dominierende Richtung der Arbeit, die einerseits soziolinguistisch orientiert ist, andererseits den Einfluß der Stadtsprache auf die bäuerliche Sprache untersucht. Methodisch orientiert sich Marti an Triers Wortfeldlehre in Verbindung mit Weisgerbers »inhaltsbezogener Grammatik« und der Konzeption der »sprachlichen Zwischenwelt« 217 . Wenn Marti definiert: »Echte Wortfelder sind solche Anhäufungen von Ausdrucksgruppen, die in gemeinsamen Sinnbeziehungen wurze/n.«m, so sehen wir darin noch nicht unbedingt eine différentielle Betrachtung der Lexeme, obgleich diese mehr oder weniger implizit angedeutet wird. Marti ermittelt als Feldzentrum vier Lexeme (schaffe, arbeite, wäärche, büeze), die als Gemeinsames den Begriff »arbeiten« besitzen. Um dieses Zentrum gruppieren sich mehrere Teilfelder, auch »Außenfelder« genannt. In den Zonen der Außenfelder sind die Ausdrücke ambivalent, weil sie im Spannungsfeld zweier Sinnbeziehungen stehen. Die Nebensinnbeziehung des Außenfeldes kann sich derart verstärken, daß sie ihrerseits zur Hauptsinnbeziehung wird und einen Feldwechsel bewirkt 2 ".

Wenngleich wir hierbei Martis Ansicht nicht vollkommen teilen können, weil Nebensinnbeziehungen doch wohl eher auf der Ebene der Rede als auf der Ebene des Sprachsystems funktionieren, scheint uns seine Konzeption der Teilfelder in etwa dem zu entsprechen, was Geckeier als »Dimension« bezeichnet und definiert als »>Gliederungsgesichtspunkt< (...), der in einem Wortfeld wirksam ist und der sozusagen die Skala für die Oppositionen zwischen bestimmten Lexemen dieses Wortfeldes abgibt (...). ( . . . ) Die Dimension stellt gleichsam eine Art intermediärer Archieinheit zu den betreffenden Lexemen dar« 220 . Solche Teilfelder sind für Marti 221 : »beschwerliche Arbeit«, »Arbeitstempo«, »Arbeitsweise«, »Arbeitsintensität«, deren Material äußerst heterogen ist und neben Primärwörtern auch mehr oder weniger feste Wendungen umfaßt (dranne sii, derbi sii [daran, dabei sein] im Teilfeld »Arbeitsintensität« 222 ), die sicherlich auf der Ebene der Rede den Begriff »ar2.6

Cf. Marti (1967). Cf. Weisgerber (1962), besonders S. 52. 2.8 Marti (1967), S. 33 (Martis Hervorhebung). 2.9 Marti (1967), S. 34. 220 Geckeier (1971), S. 246. 221 Cf. Marti (1967), S. 110-156. 222 Cf. Marti (1967), S. 154f. Zur Gleichsetzung solcher syntaktischer Fügungen mit einfachen Wörtern cf. Marti (1967), S. 35f. 2.7

116 beiten« unter einem bestimmten Aspekt bezeichnen können, deren Systembedeutung aber anderswo liegt. Diese Tatsache wird von Marti zwar meist erkannt, bleibt aber ohne die notwendige Konsequenz, d. h. die Ausklammerung aus dem untersuchten Wortfeld. So stellt er für das Teilfeld »Arbeitstempo« fest: Die hier einbezogenen Ausdrücke gehören dem übergeordneten Feld »Beschleunigte/verzögerte Bewegung« an, aber sie stehen doch in engem Zusammenhang mit der Arbeit. Entscheidend für die Berücksichtigung in unserem Feldkomplex ist der ihnen assoziierte Vorstellungsgehalt. Hat man bei einem Ausdruck zuerst einen Arbeitsvorgang im Auge, so ist das Kriterium der Feldzugehörigkeit erfüllt 223 .

Gleichzeitig wird jedoch auch auf die Inkonstanz dieser Bezeichnung hingewiesen, »denn der einzelne Sprechakt unterliegt dem assoziierenden Vorstellungsgehalt nicht zwangsläufig, sondern wird vor allem durch die begleitenden Umstände bewirkt«224. Dies führt uns zur Frage nach der Art der Inhaltsbestimmung Martis für die untersuchten Einheiten. Hierbei folgt er im wesentlichen E. Leisis Konzeption der »Gebrauchsbedingungen«225, die er jedoch ausbaut und unterteilt in »Außenbedingungen« und »Innenbedingungen«. Folglich schenkt Marti dem Sprechakt als Ausgangspunkt der Bedeutungsbestimmung besondere Beachtung und zeigt an einem anschaulichen Beispiel, nach welchen Kriterien im Sprechakt aus dem vorhandenen Wortfeld ein bestimmtes Lexem ausgewählt werden kann. Deshalb ist er der Ansicht, »daß ohne Kenntnis der Sprechsituation nicht gearbeitet werden darf«. 226 Aus der Anlage der umfangreichen Fragebogen geht hervor, daß im Zentrum von Martis Untersuchungen nicht so sehr die sprachgeographische, sondern eher die soziolinguistische Perspektive im Vordergrund steht. Dabei wird die geographische Relation zu einer, wie wir meinen, vollkommen berechtigten Relation Stadt-Land überführt, die in der Betrachtung der Feldmitte, auf die wir uns hier beschränken wollen, deutlich zum Ausdruck kommt. Es erweist sich, daß das Zentrum des Feldes in den drei Landgemeinden nur die Einheiten wäärche und schaffe umfaßt, während in der Stadt noch die Lexeme büeze und arbeite hinzukommen, beide mehr oder weniger Entlehnungen aus dem Berner Oberland {büeze) bzw. aus der Schriftsprache {arbeite)221. Als der neutralste und in seiner Anwendung am wenigsten eingeschränkte Ausdruck zeigt sich schaffe, wobei allerdings auf dem Land eine Opposition zu wäärche besteht, die die Art der Arbeit betrifft: letzteres bezieht sich nach Marti auf die Arbeit mit Werkzeugen und mit 223 224 225 226 227

Marti (1967), S. 127. Marti (1967), S. 127. Cf. Leisi (1961); Marti (1967), S. 38f. Marti (1967), S. 40. Siehe hierzu und zum folgenden besonders die Übersicht bei Marti (1967), S. 78.

117

Tieren, ersteres auf Maschinen- und Frauenarbeit. Die Opposition betrifft also den sprachlich relevanten Unterschied zwischen selbständiger landwirtschaftlicher Arbeit und eher abhängiger Fabrikarbeit. In der Stadt dagegen ist schaffe der absolut neutrale Ausdruck, der eine Art archilexematische Einheit darstellt, während wäärche in positiver Weise die schwere, körperliche Arbeit bezeichnet. Dem steht büeze als negative Bezeichnung (eintöniger) Serienarbeit und »dreckiger Arbeit« gegenüber, während das vierte Lexem, arbeite, eher im Bereich der geistigen Arbeit zur Bezeichnung von Forschung und Lehrtätigkeit dient. Neben diesen eindeutig diatopischen Unterschieden ermittelt Marti eine Reihe von diastratischen 228 und diaphasischen Unterschieden 229 , wenn er beispielsweise zwischen drei »Stilwerten« (Anstandssprache, Alltagssprache, Grobsprache) unterscheidet. Schenkt man seinen diesbezüglichen Ausführungen Glauben, so ergibt sich ein völlig anderes Bild der lexikalischen Systeme: auf dem Land existiert weiterhin die Opposition wäärche : schaffe in einem synphasischen System, während in der Stadt dafür im allgemeinen nur der »neutrale« Terminus schaffe zur Verfügung steht 230 Wenngleich Marti aufgrund seiner eigenen Aufnahmen über ausgezeichnetes Material verfügt, das vor allem in diaphasischer und diastratischer Hinsicht mit großem Erfolg ausgewertet werden könnte, bleibt die Arbeit wegen der schwachen theoretischen Fundierung bezüglich der semantischen Grundlagen sozusagen auf der vorletzten Stufe der Analyse stehen, was jedoch den angeführten Ergebnissen keinen Abbruch tut 231 . Eine funktionelle Betrachtung der ermittelten Einheiten unter Berücksichtigung der diaphasischen und diastratischen Divergenzen, die offensichtlich mehr zum Tragen kommen als die rein diatopischen Unterschiede, in Verbindung mit einer expliziten differentiellen Analyse der Lexeme aufgrund der bestehenden distinktiven Merkmale der Inhaltsebene bleibt ein Desideratum. 2.2.3.2. Im Gegensatz zur Arbeit Martis bildet die diatopische Variation den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung von Ponten über begriffliche Strukturen im Zusammenhang mit den Bezeichnungen des Gefäßverschlusses in den deutschen Mundarten 232 . Dabei geht Ponten zunächst von den Bezeichnungen des Flaschenverschlusses aus, wie sie sich in der der Arbeit beigelegten Karte III zeigen, die der Verfasser nach den von Mitzka 1939 verschickten Fragebogen für den Deutschen Wortatlas anfer228 229 230

231 232

Cf. Marti (1967), S. 78. Cf. Marti (1967), S. 91. Überschneidungen der diaphasischen Systeme kommen offensichtlich vor; cf. Marti (1967), S. 91. Cf. Ris (1970), besonders S. 101. Cf. Ponten (1969).

118 tigte 233 . Ziel seiner Untersuchung ist, »eine systemhafte Methodik zur Behandlung eines durch die Wortkarte vermittelten Wortverbandes zu erarbeiten« 234 . Ponten will nachweisen, daß der Gesamtheit der in dieser onomasiologischen Karte auftretenden Lexeme, dem Wortverband, eine einheitliche »Begriffsklammer« 235 zugrunde liegt. Dazu kombiniert er zwei Feldkonzeptionen: für die synchrone Analyse verwendet er die Wortfeldkonzeption Triers; für die diachrone Analyse hingegen, wegen des unzureichenden Materials hierzu, verspricht sich Ponten mehr von Porzigs Konzeption der »Bedeutungsfelder« oder der »wesenhaften Bedeutungsbeziehungen« 236 . Aufgrund der Erkenntnis, daß in einzelnen Regionen sich die Bezeichnungen für Flaschenverschlüsse mit denen für Faßverschlüsse überschneiden, erweitert Ponten die Begriffsklammer zu »Gefäßverschlüssen«, jedoch unter Ausschluß von weit geöffneten (wie Topf, Schale etc.). Im Vordergrund der Untersuchung steht also »der begriffliche Zusammenhang des mundartlichen Wortmaterials« 237 , des Wortverbandes, den Ponten zunächst darin sieht, daß die »Glieder eines solchen Verbandes ( . . . ) mitunter in hohem Maße bedeutungsgleich [sind], weil sie alle die möglichst gleiche mundartliche Antwort auf eine sachlich-begrifflich bedingte, hochsprachliche Frage darstellen; aber eben aus diesem Grunde sind solche Synonyme unecht, sie gehören ja nicht einer Sprachgemeinschaft an, sondern verschiedenen«™. Folglich betrachtet Ponten die in einer bestimmten Gegend auftretenden Synonyme als mögliche »Teilsysteme eines größeren lexikalischen Systems in der Gesamtsprache« 239 . Ausgehend von der Feststellung, daß das Wortmaterial der Karte zu einer solchen Untersuchung nicht ausreiche, zieht Ponten zusätzlich auch Mundartwörterbücher zu Rate und 233

Cf. Ponten (1969), S. 32. Cf. Ponten (1969), S. 174. 235 Mit »Begriffsklammer« bezeichnet Ponten offensichtlich den einem ganzen Wortfeld zukommenden Inhalt, unabhängig davon, ob dafür im sprachlichen System ein lexikalischer Ausdruck vorhanden ist oder nicht. Siehe dazu auch Schwarz (1969), S. 250f. 236 Cf. Porzig (1934) und besonders (1967), wo er (S. 126) seine eigenen Felder als »syntaktisch«, die Felder Triers jedoch als »parataktisch« bezeichnet. In Anlehnung an die eher auf die Triersche Feldkonzeption anzuwendende Begriffsklammer spricht Schwarz in bezug auf die »wesenhaften Bedeutungsbeziehungen« Porzigs auch von einer »Prädikativklammer« bzw. von einem »Wertigkeitsbereich«; cf. Schwarz (1969), S. 251. E. Coseriu nennt diese Erscheinungen »lexikalische Solidaritäten« oder »syntagmatische Strukturen« des Wortschatzes. Cf. Coseriu (1967a), (1968), S. 15f., (1973), S. 102-104. Siehe dazu auch Geckeier (1971), S. 94-96. In einem kleineren Beitrag hat Geckeier diese Konzeption der lexikalischen Solidaritäten auf dialektales Sprachmaterial angewandt. Cf. Geckeler/Ocampo Marin (1972). 237 Ponten (1969), S. 26. 238 Ponten (1969), S. 23. 239 Ponten (1969), S. 59. 234

119 weist so zunächst eine wesentlich größere Bezeichnungsvielfalt für die »Gefäßverschlüsse« nach, als dies auf der Wortkarte zum Ausdruck kommt. Eine genauere Untersuchung vor allem des Ostfriesischen ergibt eine Gruppe von drei inhaltsgleichen Einheiten, die sich nur bezüglich ihrer geographischen Lagerung unterscheiden und in drei getrennten Gebieten vorkommen 2 4 0 . Die von Ponten auf diese Weise für das Ostfriesische ermittelte klare Gliederung des Wortfeldes 241 wird allerdings etwas getrübt durch die Tatsache, daß die Wortkarte in den genannten Gebieten jeweils neben den dominierenden Einheiten auch die entsprechenden Heteronyme der umliegenden Gebiete verzeichnet, die Ponten jedoch weniger beachtet. Ein begrifflich dreigliedriges System, ähnlich dem Ostfriesischen, ermittelt Ponten für die Hochsprache. Dabei sind die Bezeichnungen für den Faßverschluß in der oberen Daube (Fa 1 Spund) und im vorderen Faßboden (Fa 2 Zapfen) allgemein gültig, während sich zur Bezeichnung des Flaschenverschlusses vier Zonen unterscheiden: (a) ein nördlicher Bereich mit Propfen, Korken, Stöpsele (b) ein westlicher Bereich mit Stopfen, Korken, Stöpsel; (c) ein südöstlicher Bereich mit Stöpsel und Korken; (d) ein südwestlicher Bereich mit Zapfen und Korken, wo folglich keine klare Trennung zwischen vorderem Faßbodenverschluß und Flaschenverschluß vorliegt 242 . »Das Begriffliche, das diese Wörter miteinander verbindet, ist, wie die Verwendungsmöglichkeiten bezeugen, >das Gerät, das zum Verschluß in eine Öffnung hineingesteckt (geschlagen oder geschoben) wirdaus Kork< besitzt. Für diesen norddeutschen Raum müßte demzufolge folgende Strukturierung des Wortfeldes angenommen werden:

240 241 242 243 244

Cf. Ponten (1969), S. Cf. Ponten (1969), S. Cf. Ponten (1969), S. Ponten (1969), S. 99. Cf. Ponten (1969), S.

59. 71. 101. 97f.

120 • >Verschluß einer Öffnung
Faßverschluß
Flaschenverschluß
vorneoben< -

Stöpsel

Zapfen

Spund

>aus Kork
aus Kork< zukommt, oder ob nicht eher an einen weichen Flaschenverschluß (etwa zum harten Glasstöpsel in Opposition) gedacht werden muß. Diese Frage wird zwar von Ponten angeschnitten 2 4 5 , jedoch nicht mit der erforderlichen Genauigkeit für alle genannten Einzelsysteme untersucht. Von einem funktionellen Gesichtspunkt aus ist auch Pontens Konzeption der dialektalen Systeme als Teilsysteme eines gemeinsamen hochsprachlichen Systems zu kritisieren, da prinzipiell kein Z u s a m m e n h a n g auf synchroner Ebene zwischen dem System eines Dialekts und dem der Hochsprache bestehen muß, wenngleich eine Kongruenz nachträglich festgestellt werden kann. Z u m einen können Teilsysteme nur innerhalb eines funktionellen Systems festgestellt werden, weshalb f ü r die dialektalen Systeme besser der Terminus »Einzelsysteme« verwendet werden sollte, die d a n n im R a h m e n eines Diasystems möglicherweise eine größere Einheit ergeben. Z u m anderen scheint Ponten gerade der Eigenart dieser dialektalen Einzelsysteme nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben, weil sie - nach A u s k u n f t der von Ponten angefertigten Karte III - über ein wesentlich größeres Inventar von Bezeichnungen verfügen, die f ü r die innere Struktur des Wortfeldes von entscheidender Bedeutung sein können. Inwiefern allerdings eine derart detaillierte Betrachtung im R a h m e n einer großräumigen Studie überhaupt möglich sein kann, sei dahingestellt. Die Heranziehung von Mundartwörterbüchern jedoch erscheint wegen der zumeist recht dürftigen Lokalisierung der Einheiten in Verbindung mit zum Teil doch erheblichen zeitlichen Unterschieden f ü r eine synchrone Untersuchung als weniger geeignet. 245

Cf. Ponten (1969), z. B. S. 99.

121 Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß nicht grundsätzlich das in einer Sprachkarte enthaltene Material auch als mundartlich betrachtet werden kann, da es vom diasystematischen Gesichtspunkt aus in sich heterogen ist. Dabei soll die Problematik, die sich daraus ergibt, keinesfalls verkannt werden. Im diachronen Teil seiner Arbeit, den wir hier nicht näher erörtern können, weist Ponten beispielsweise nach, daß Korken im germanischen Bereich eine relativ junge Übernahme darstellt 246 , jedoch in allen Dialekten einen festen Platz im Wortfeld »Flaschenverschluß« einnimmt. Damit ergibt sich aber zumindest die Frage, ob man hierbei synchron nicht eher von einem allgemeinsprachlichen Ausdruck ausgehen sollte, der ja auch letztlich in allen Dialekten den gleichen Inhalt besitzt. 2.2.3.3. Während wir in der Arbeit Martis die theoretischen Grundlagen, in der Arbeit Pontens die Betrachtung kleinster geographischer Einzelsysteme vermißt haben, bietet die Dissertation von G. Harras 247 diese beiden Aspekte in großer Ausführlichkeit, wobei allerdings der sprachgeographisch-strukturelle Aspekt etwas hinter der Methodendiskussion, die sich vor allem auf zeichentheoretische Konzeptionen bezieht, zurückbleibt. G. Harras' Ziel ist es, Begriffs- und Bezeichnungsstrukturen lexikalischer Teilparadigmen im Ostlothringischen zu untersuchen. Zu diesem Zweck baut sie sich zunächst einen recht komplizierten terminologischen Apparat auf, der auf den entsprechenden theoretischen und methodologischen Konzeptionen von H. Henne, H. E. Wiegand und K. Heger fußt 248 . Es wird angenommen, daß der »Begriff« eine nicht einzelsprachlich zu definierende Größe darstelle; sein einzelsprachliches Äquivalent wird zumeist »Sem« genannt (gelegentlich auch »einzelsprachlich definierter Begriff«), das seinerseits zur Substanz der Inhaltsseite gehört und in »Semfaktoren« aufgegliedert werden kann, welche die distinktiven Inhaltsmerkmale minimaler Art darstellen. Als dritte Einheit auf der Inhalt-Substanz-Seite nennt G. Harras die »Semkollektion« »als mögliche Disjunktion von zwei oder mehr Semen« 249 . Dieser Dreiheit steht auf der Inhalt-Form-Seite das »Semem« gegenüber, definiert als »die Menge aller in einem Signem enthaltenen Seme« 250 . Auf dieser Grundlage erfolgt auch eine neue Definition der verschiedenen Relationen zwischen Ausdrucksund Inhaltsseite bzw. zwischen sprachlichem Zeichen und außereinzelsprachlichem Begriff, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen 251 .

246

Cf. Ponten (1969), S. 156-161. Cf. Harras (1972). 248 Cf. Henne/Wiegand (1969); Wiegand (1969-70); Heger (1969). 249 Harras (1972), S. 59. 250 Harras (1972), S. 59; siehe dazu die schematische Darstellung bei Harras (1972), S. 60. 251 Cf. Harras (1972), S. 64-72. 247

122 Im beschreibenden Teil der Arbeit untersucht G. Harras die Begriffsund Bezeichnungsstruktur der Körperteile (später eingeschränkt auf Kopf und Hals) und der Kleidungsstücke an vierzehn Punkten im ostlothringischen Sprachgebiet. Das Material hierfür wird dem Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone (ALLg) von M. Philipp (noch unveröffentlicht) entnommen. Gemäß der zugrundeliegenden Konzeption wird dabei von klar definierten außereinzelsprachlichen Begriffen ausgegangen, z. B. : »tête«

(1) Teil des menschlichen Körpers (2) Extremität (3) vertikal: oberstes Ende 252

»robe«

Oberbekleidung für Frauen, den gesamten Rumpf und die Beine bis zum Knie (oder Wade) bedeckend 253

Diese begriffliche Definition stellt gleichzeitig die für die semantische Beschreibung der verwendeten Signeme (sprachlichen Zeichen) erforderlichen Semfaktoren dar. Daraus wird ersichtlich, daß G. Harras sich das von Heger vorgeschlagene onomasiologische Verfahren zu eigen macht, welches »auf der begrifflichen Seite die Existenz einer partiellen Begriffspyramide oder eines logischen Relationensystems« voraussetzt 254 . Bemerkenswert ist hierbei, daß die erforderlichen, klar definierten Begriffe nicht etwa anhand der Sprachzeichen, sondern aufgrund der Beschreibung der außersprachlichen Realität gewonnen werden. Wie G. Harras dazu ausführt, bediente sie sich zur Definition der Körperteile einer Art »Bauplan des menschlichen Körpers«, wie er von anatomischen Handbüchern entworfen wird 255 . Die gleiche Kenntnis der Sachen bildete auch die Grundlage der begrifflichen Definitionen für die Kleidungsstücke 256 . Die einzelnen sachlich gegliederten Bereiche bilden begriffliche Strukturen. Die definierten Strukturelemente sind Ausgangspunkt für onomasiologische Operationen 257 .

Damit stellt G. Harras letztlich ein Bezeichnungsfeld zusammen, das jeweils die Relation zwischen dem sprachlichen Ausdruck und der außersprachlichen Wirklichkeit (hier: dem Begriff) betrifft, nicht jedoch die Strukturierung der Inhaltsebene 258 .

252 253 254 255 256 257 258

Harras (1972), S. 96. Harras (1972), S. 194. Heger (1964), S. 513. Cf. Harras (1972), S. 84f. Cf. Harras (1972), S. 85. Harras (1972), S. 86. Cf. Harras (1972), S. 86. Dort wird (n. 2) auf Coserius »Wortfeld« hingewiesen mit der nicht zutreffenden Bemerkung, dieser gehe »semasiologisch« vor.

123 Die aus der onomasiologischen Methode gewonnene Kenntnis über e i n e n Inhalt eines sprachlichen Zeichens sagt nichts über dessen Gesamtbedeutung aus. Diese kann erst vermittels einer exhaustiven semasiologischen Analyse ermittelt werden 259 .

Eine solche semasiologische Analyse allerdings - so G. Harras - könne aus verschiedenen Gründen nicht erfolgen. Als einen der wichtigsten nennt sie die Unzulänglichkeit des Atlasmaterials, das die erforderlichen Kontexte nicht liefert. Auch auf diesbezügliche Schwierigkeiten bei der Hinzuziehung von Mundartwörterbüchern wird ausführlich eingegangen 260 . Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Arbeit von G. Harras die vielseitigen Probleme der Untersuchung von Begriffs- und Bezeichnungsstrukturen anhand eines umfangreichen Sprachmaterials darlegt und einen gangbaren Weg aufzeigt, zumindest was die onomasiologische Relation zwischen übereinzelsprachlichen Begriffen und einzelsprachlichen Ausdrücken betrifft. Demgegenüber zeigt sie nicht, auf welche Weise eine Untersuchung der Inhaltsseite der aufgeführten Ausdrücke erfolgen kann, zumal diese zwar den entsprechenden Begriff in irgendeiner Weise bezeichnen, ohne daß jedoch von einem 1 : 1 - Verhältnis zwischen Inhalt und Begriff ausgegangen werden kann. Im Hinblick auf eine speziell diatopische Semantik finden sich in der Arbeit keine methodologischen oder theoretischen Äußerungen, so daß das der Untersuchung zugrundegelegte Material eher zufällig Sprachsysteme unterhalb der Ebene der Literatursprache zu betreffen scheint 261 . 2.2.3.4. Von der Verfasserin des lothringischen Sprachatlas stammt eine kleinere Arbeit, die an wenigen Beispielen Möglichkeiten einer strukturellen Dialektologie im Bereich der Phonologie und des Lexikons aufzeigt262. Den Ausgangspunkt bildet eine onomasiologische Karte, in der »Krawatte« drei regional differenzierte Ausdrücke aufweist 263 : Krawatsch, Schlap, Schlips. Die semasiologische Karte Krawatsch ergibt drei Bedeutungszonen: >KrawatteKrawatte + SchalSchalSchal< - >Krawatteroturar< zeige Überschneidungen mit benachbarten Feldern wie »descuajar«, was in dem synkretischen Semem />descuajar-roturarlangage primaire< est le langage dont l'objet est la réalité non linguistique; le >métalangage< est un langage dont l'objet est à son tour un langage: les >choses< désignées par le métalangage sont des éléments du langage primaire (ou, en général, d'un langage) 13 . 6

Cf. Coseriu (1973), S. 27. Cf. Coseriu (1973), S. 27; Geckeler (1971), S. 180; Heringer (1968). 8 Cf. Geckeler (1971), S. 182. 9 Siehe oben S. 34ff. 10 Cf. Coseriu (1973), S. 28. " Geckeler (1971), S. 181. 12 Geckeler (1971), S. 184. 13 Coseriu (1966), S. 190. 7

152

3.1.3. Die Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie, für die Coseriu als bessere Termini »Sprachbeschreibung« und »Sprachgeschichte« vorschlägt14, ist deshalb von entscheidender methodologischer Bedeutung, weil die strukturelle Analyse das synchrone Funktionieren der Sprache betrifft 15 . Allerdings muß noch weiter differenziert werden zwischen der Synchronie der Strukturen und der Synchronie der Sprache, weil die Sprachen sich nicht als ganze Systeme verändern, sondern nur in einzelnen Teilsystemen, deren diachrone Veränderungen im übrigen keineswegs das gesamte System der Sprache beeinflussen16. Während sich also bestimmte Strukturen in der Zeit durchhalten, erfahren andere einen Sprachwandel : so sieht man, daß nicht die ganze Sprache sich wie ein einziges System ändert, sondern daß sich der Sprachwandel jeweils innerhalb partieller Systeme (oder Mikrosysteme) vollzieht 17 .

Ferner ist festzustellen, daß in einem bestimmten Sprachzustand (état de langue) auch diachrone Fakten enthalten sind, »die den Sprechern als solche bekannt sind, und die das Funktionieren einer Sprache beeinflussen können (z. B. bewußte Archaismen, usw.). Eine absolute Synchronie wird daher nur aus methodologischen Gründen postuliert, entspricht aber nicht der Sprachwirklichkeit.« 18 Daher schlägt Coseriu vor, bei der Analyse der sprachlichen Funktionen jede einzelne Struktur in der ihr eigenen Synchronie innerhalb eines Sprachzustandes zu beschreiben. En principe, la description de chaque structure sera donc strictement synchronique. Par contre, la description d'un état de langue ^simultanéité des structures fonctionnellessynchronies< qui y sont impliquées, c'est-à-dire, les différences diachroniques connues et utilisées (ou utilisables) par les sujets parlants 19 .

3.1.4. Die Unterscheidung zwischen wiederholter Rede und Technik des Sprechens impliziert eine weitere Unterscheidung in der Synchronie. Dabei umfaßt die wiederholte Rede alles in der Sprachtradition in Form von festen Ausdrücken, Phrasen und Redewendungen Fixierte, dessen Einzelelemente nicht aus dem fixierten Ausdruck gelöst und kommutiert werden können. Demgegenüber sind diese fixierten Ausdrücke als Gesamtheit kommutierbar, wobei je nach der Ebene drei verschiedene Typen unterschieden werden können: 20 14

Cf. Coseriu (1973), S. 34. »Die Sprache funktioniert synchronisch und bildet sich diachronisch.« Coseriu (1974), S. 237. 16 Cf. Coseriu (1973), S. 34 und (1964), S. 192; Geckeier (1971), S. 185. " G e c k e i e r (1971), S. 185. 18 Coseriu (1973), S. 34. 19 Coseriu (1966), S. 194; siehe auch Coseriu (1976), S. 23f. 20 Cf. Coseriu (1966), S. 196f. und (1973), S. 37; Geckeier (1971), S. 186f. 15

153 (a) »Redewendungen«, die mit ganzen Sätzen oder Texten auf der Ebene der Sätze oder Texte kommutiert werden können 2 1 ; (b) »stereotypische Syntagmen«, die mit Syntagmen kommutierbar sind und auf der syntagmatischen Ebene interpretiert werden; (c) »lexikalische Periphrasen«, die mit einfachen Wörtern kommutiert und somit auf der lexikalischen Ebene interpretiert werden. Im Unterschied zu (a) und (b), die nicht der Lexematik zuzurechnen sind, gehören nach Coseriu die lexikalischen Periphrasen wegen ihrer Fähigkeit, innerhalb eines Wortfeldes in Opposition zu einfachen Wörtern zu treten, zum strukturierten Wortschatz. Im Gegensatz zu den aus einer lexematischen Analyse auszuklammernden Einheiten der wiederholten Rede werden der Technik des Sprechens all jene Elemente des Wortschatzes zugerechnet, die gemäß den Regeln der Sprache und ihren Inhalten frei kombinierbar sind 22 . 3.1.5. Die Unterscheidung zwischen Architektur der Sprache und Struktur der Sprache beinhaltet eine Unterscheidung zwischen historischer Sprache und funktioneller Sprache, ausgehend von der Feststellung, daß die synchrone Technik des Sprechens innerhalb einer historischen Sprache nicht homogen ist, sondern drei Arten von Unterschieden aufweist: diatopische ( = dialektale) Unterschiede, diastratische Unterschiede (Sprachniveaux) und diaphasische (stilistische) Unterschiede. Wir haben bereits ausführlich auf diese Unterschiede innerhalb des Diasystems einer historischen Sprache hingewiesen und festgestellt, daß das Funktionieren einer syntopischen, synstratischen und synphasischen Sprache (funktionelle Sprache) auf dem Prinzip der Opposition beruht, während in einer historischen Sprache Diversität herrscht 23 . 3.1.6. Die Unterscheidung zwischen Typus, System, Norm und Rede hat Coseriu ausgehend von der Saussureschen Dichtomie langue - parole vorgeschlagen und begründet 24 . Dabei werden auf der Ebene des Sprachtypus die allgemeinsten Verfahren in einer Sprache festgestellt wie beispielsweise die Präferenz zur substantivischen oder verbalen Strukturierung, Präferenz zur Komposition oder Derivation und dergleichen. Diese Ebene kann für eine strukturelle Lexikologie ausgeklammert werden 25 . Auf der Ebene der Rede (parole) werden die kontextuellen oder situationeilen lexikalischen Varianten oder Redebedeutungen festgestellt. 21

Geckeier (1971), S. 186f. spricht hierbei von »Textemen« oder »Phrasemen«. Cf. Coseriu (1971), S. 188. 23 Siehe oben S. 80ff. und S. 97ff. 24 Siehe zur ausführlichen Darstellung der vier verschiedenen Ebenen und zur wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion Coseriu (1973b), S. 11-113. 25 Cf. Geckeier (1971), S. 188. 22

154 Die für eine strukturelle Lexikologie entscheidenden beiden Ebenen sind die der Norm und des Systems. Dabei enthält das System »alles, was objektiv funktionell ist, d. h. alles, was die sprachlich unentbehrlichen Gegenüberstellungen darstellt; die Norm alles, was objektiv nicht funktionell, aber im Sprechen normal, gemeinsam, traditionell ist«26. Aus dieser Bestimmung der Norm als der Ebene des nur traditionell Fixierten und nicht notwendigerweise Funktionellen sowie der Definition des Systems als der funktionellen (oder unterscheidenden) Schicht der Sprache geht klar hervor, daß für die strukturelle Semantik in erster Linie die Ebene des Systems (System verstanden als System des schon Realisierten und als System von möglichen Realisierungen) als der Ort der funktionellen Oppositionen in Frage kommt 27 .

3.1.7. Auf die wichtige Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bezeichnung haben wir schon hingewiesen28. 3.1.8. Zusammenfassend stellen sich die 7 Unterscheidungen als eine Hierarchie von Verfahren dar, deren Ziel es ist, der Heterogenität sprachlicher Erscheinungen Rechnung zu tragen und zu dem für strukturelle Untersuchungen einheitlichen funktionellen System zu gelangen. Dabei ergeben sich für die Strukturen des Wortschatzes (lexematische Strukturen) folgende zusammenfassende Präzisierungen: Die lexematischen Strukturen betreffen die sprachlichen Inhalte, nicht die außersprachliche Wirklichkeit; sie beziehen sich auf die Primärsprache und nicht auf die Metasprache; sie betreffen die Synchronie und nicht die Diachronie; sie werden in der Technik des Sprechens festgestellt und nicht in der wiederholten Rede; sie betreffen jeweils eine funktionelle Sprache und nicht global eine historische Sprache; sie beziehen sich auf das Sprachsystem und nicht auf die Norm der Sprache; es geht dabei um Bedeutungsverhältnisse und nicht um Bezeichnungsverhältnisse (d. h. nur indirekt) 29 .

3.2.

Die Strukturierung des Wortschatzes

3.2.1.

Die lexematischen Strukturen

Wie wir schon oben verdeutlicht haben, kommt Coseriu nicht nur das Verdienst zu, eine kohärente Methode zur strukturellen Analyse von Wortfeldern entwickelt zu haben, sondern auch, diesen Wortfeldern im Gesamtbereich der lexematischen Strukturen einen ganz bestimmten Platz zugewiesen zu haben. 26

Coseriu (1976), S. 32. Geckeier (1971), S. 189. 28 Siehe dazu oben S. 34ff. 29 Geckeier (1971), S. 190 (unsere Hervorhebung). 27

155 Coseriu unterscheidet dabei im Bereich des Wortschatzes einer funktionellen Sprache zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Strukturen, die jeweils in weitere Einzelstrukturen zerfallen. Schematisch lassen sich die Strukturen des Wortschatzes wie folgt darstellen: 30 Paradigmatischc Strukturen primäre Strukturen a) Wortfelder b) klassematische Strukturen

sekundäre Strukturen a) Modifizierung b) Entwicklung Konversion Transposition c) Derivation Ableitung Komposition

Syntagmatische Strukturen a) Affinitäten b) Selektionen c) Implikationen-

Während die paradigmatischen Strukturen oppositiv sind, handelt es sich bei den syntagmatischen Strukturen um (kombinatorische) lexikalische Solidaritäten 31 . Innerhalb der paradigmatischen Strukturen betreffen die primären Strukturen die inhaltliche Gestaltung des Primärwortschatzes, während die sekundären Strukturen die einzelnen inhaltlichen Verfahren der Wortbildung umfassen. Da wir uns hier ausschließlich mit den primären Strukturen befassen, beschränken wir uns auf die Darstellung der Konzeptionen von Wortfeld und lexikalischen Klassen.

3.2.2.

Zur Definition des Wortfeldes

Ein W o r t f e l d ist in struktureller Hinsicht ein lexikalisches Paradigma, das durch die A u f t e i l u n g eines lexikalischen I n h a l t s k o n t i n u u m s unter verschiedene in der Sprache als Wörter gegebene Einheiten entsteht, die d u r c h einfache inhaltsunterscheidende Züge in unmittelbarer Opposition z u e i n a n d e r stehen 3 2 .

Die in einem Wortfeld funktionierenden Glieder nennt Coseriu die das Archilexem untergliedern.

Lexeme,

Jede in der Sprache als einfaches Wort gegebene Einheit ist inhaltlich ein Lex e m . Eine Einheit, die d e m ganzen Inhalt eines Wortfeldes entspricht, ist ein Arch i lexem33. 30 31

32

Cf. Coseriu (1973), S. 52; Geckeier (1971), S. 191. In a n d e r e n Arbeiten hat Coseriu die Bezeichnungen der einzelnen Strukturtypen leicht v e r ä n d e r t ; so verwendet er f ü r »klassematische S t r u k t u r e n « auch »lexikalische Klassen« und f ü r »Derivation«, »Ableitung« und » K o m p o s i t i o n « auch (in gleicher Reihenfolge) »Komposition«, »generische (prolexematische) Komposition« und »spezifische (lexematische) Komposition«. Cf. Coseriu (1966), S. 7 und (1968), S. 7; C o s e r i u / G e c k e l e r (1974), S. 148. Coseriu (1967), S. 294.

156 Dabei kann ein Archilexem in einer Sprache materiell als lexikalische Einheit vorhanden sein, ohne daß dies jedoch erforderlich wäre. Les traits distinctifs constituant les lexèmes peuvent être appelés des sèmes Zusätzlich zu den von Coseriu vorgeschlagenen terminologischen Grundbegriffen führt Geckeier noch die Dimension als eine besondere Art von Inhaltsmerkmal in das Analyseverfahren des Wortfeldes ein. Er übernimmt diesen Begriff von F. G. Lounsbury 35 und stellt gewisse Übereinstimmungen zwischen seiner »Dimension« und Greimas' »axe sémantique« 36 fest. Geckeier definiert die Dimension wie folgt: Unter einer Dimension wollen wir einen »Gliederungsgesichtspunkt« (...) verstehen, der in einem Wortfeld wirksam ist und der sozusagen die Skala für die Oppositionen zwischen bestimmten Lexemen dieses Wortfeldes abgibt (Innerhalb einer Dimension kann auch der Begriff des Pols37 Anwendung finden). In einem Wortfeld können verschiedene Dimensionen funktionieren: so z. B. die Dimension »Eigenalter«, »Zeitliche Einordnung«, u. a. im Wortfeld der Altersadjektive im heutigen Französisch (...). Die Dimension stellt gleichsam eine Art intermediärer Archieinheit zu den betreffenden Lexemen dar38. Coseriu überträgt die von der strukturellen Lautlehre entwickelten Verfahren auf den Wortschatz, genauer auf die Wortfelder, und stellt eine Reihe von A n a l o g i e n zwischen den phonologischen und den lexikalischen Strukturen fest, von denen wir hier die wichtigsten nennen wollen: 39 (a) Sowohl in der Phonologie als auch in der Lexematik finden sich Parallelen in der Gestaltung in oppositive Strukturen, die durch distinktive Züge weiter aufgeteilt werden. (b) In beiden Bereichen haben die Einheiten jeweils gemeinsame und unterscheidende Züge, die eine Opposition erst ermöglichen. (c) Die Ebenen der Strukturierung gleichen sich. Sowohl in der Phonologie als auch in der Lexematik finden sich Archieinheiten, Einheiten und Hypoeinheiten, wobei die Hypoeinheiten letztlich »das Gegen33

Coseriu (1967), S. 294. Coseriu (1968), S. 8. 35 Lounsbury (1964), S. 1074; cf. Geckeier (1971), S. 246. 36 Cf. Greimas (1966), S. 20f.; Geckeier (1971), S. 247. 37 Bezüglich dieses Terminus beruft sich Geckeier auf Bierwisch (1967). 38 Geckeier (1971), S. 246; zur Abgrenzung der Dimension gegenüber den Semen siehe Geckeier (1971), S. 247: »Was in der modernen Semantik an Inhaltselementen üblicherweise den Semen zugerechnet wird, gliedern wir auf in Dimensionen und Seme. Die Seme funktionieren inhaltsdifferenzierend innerhalb der Dimensionen. Somit sind die Seme unseres Typs inhaltlich weniger beladen als die Seme im üblichen Sinne, da bei uns die Dimension den Hauptträger des lexikalischen Inhalts unterhalb des Archilexems darstellt.« Siehe hierzu auch Coseriu/Geckeler (1974), S. 150. 39 Wir folgen dabei im wesentlichen der Darstellung bei Coseriu (1964), S. 150-158 und (1973), S. 58-65. Siehe auch die ausführliche Darstellung bei Geckeier (1971), S. 195-198. 34

157 stück zur Neutralisierung« 40 darstellen. Im Deutschen haben wir so das Archilexem Mensch mit den Lexemen Mann und Frau', demgegenüber bildet loup im Französischen das Lexem, dem die Hypolexeme loup und louve zukommen (eine Unterscheidung, die normalerweise nicht gemacht wird). Daraus ergibt sich, daß auch im Wortschatz Neutralisierungen vorkommen, ebenso wie Fälle von Synkretismus. (d) In beiden Bereichen können die Einheiten in kleinste unterscheidende Züge analysiert werden, wobei sich vor allem die praktische Schwierigkeit bietet, daß diese Merkmale mit in der Sprache vorhandenen einfachen oder komplexen Wörtern bezeichnet werden, was zu Verwechslungen führen könnte. »Der Terminus, durch den das Merkmal bezeichnet wird, ist also nicht in dem jeweiligen unterscheidenden Zug mit enthalten.« 41 (e) Gemeinsamkeiten lassen sich auch bezüglich des Vorkommens von sogenannten cases vides feststellen, wo eine von der sprachlichen Struktur her mögliche Position in einem Paradigma nicht besetzt ist. (f) Wie in den phonologischen Systemen kann auch in den lexikalischen Strukturen ein distinktives Merkmal mehrfach funktionieren. (g) Analog zur Phonologie finden sich auch in Wortfeldern drei Arten von Oppositionen: graduelle, äquipollente und privative. - Graduelle Oppositionen existieren zwischen Einheiten, die ein bestimmtes Merkmal in verschieden hohem Maß besitzen, so beispielsweise das Merkmal >Höhe der Temperatun bei den Temperaturbezeichnungen kalt - lau - warm - heiß. - Äquipollente Oppositionen bestehen zwischen Einheiten, die ungeordnet sind, so daß sich jeweils eine Einheit in Opposition zu allen übrigen Einheiten des gleichen Wortfeldes befindet. Ein Beispiel hierfür sind die Farbadjektive wie rot - gelb - blau - grün. - Privative Oppositionen betreffen Einheiten, deren eine durch einen unterscheidenden Inhaltszug bestimmt wird, während die andere gerade durch die Abwesenheit dieses Zuges zur ersten in Opposition tritt. Diese Art der Opposition scheint gerade im Bereich des Lexikons sehr häufig zu sein. Demgegenüber läßt sich zwischen den lexematischen und den phonologischen Strukturen aber auch eine Reihe von U n t e r s c h i e d e n feststellen 42 . 40

Geckeier (1971), S. 195; von ihm übernehmen wir die Beispiele. Siehe dazu auch die Konzeption Lyons', der als hyponymy die paradigmatische »relation which holds between a more specific, or subordinate, lexeme and a more general, or superordinate, lexeme« bezeichnet. Cf. Lyons (1977), I, S. 291-295, hier S. 291. 41 Coseriu (1973), S. 62. 42 Cf. Coseriu (1973), S. 65-72, auch bezüglich der Beispiele; siehe ferner Coseriu (1968), S. 9-11; Geckeier (1971), S. 198f.

158 (a) Die lexematischen Strukturen verfügen im Unterschied zu den phonologischen Strukturen häufig über mehrere Stufen, so daß die Archieinheiten selbst wieder in höheren Einheiten enthalten sind. (b) Die mögliche lautliche Strukturierung der phonologischen Einheiten wird in einer Sprache nie ganz ausgenutzt, während im Wortschatz grundsätzlich alles zum Ausdruck gebracht werden kann, wenn auch nicht notwendigerweise durch gestaltete Einheiten (Lexeme), sondern durch mehr oder weniger okkasionelle bzw. lexikalisierte Periphrasen, was besonders für den Sprachvergleich interessante Möglichkeiten bietet. Vgl. dazu dt. teuer/billig gegenüber frz. cher/(bon marche). (c) Im Gegensatz zur Phonologie, wo Unterschiede innerhalb einer funktionellen Sprache niemals fakultativ sind, finden sich solche fakultativen Oppositionen im Wortschatz. Vgl. den im Französischen obligatorischen Unterschied zwischen cheveu und poil gegenüber dem fakultativen Unterschied im Spanischen zwischen cabello und pelo, wo pelo auch an Stelle von cabello gebraucht werden kann. (d) Während in der Phonologie Neutralisationen und Synkretismen zwischen verschiedenen Systemen kaum denkbar sind, ist diese Erscheinung im Wortschatz durchaus möglich. So funktioniert frz. frais sowohl im Feld der Altersbezeichnungen als auch im Feld der Temperaturangaben. Ähnliche Fälle lassen sich auch bei den Verwandtschaftsnamen und den Altersbezeichnungen feststellen. (e) Die Einheiten der Phonologie sind grundsätzlich diskret, während im Wortschatz die Zeichen zwar verschiedene Inhalte besitzen, in der Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit jedoch zusammenfallen. (f) Daraus ergibt sich, daß das Kriterium der Distribution für eine Merkmalsanalyse im Wortschatz nicht verwendet werden kann, da verschiedene Zeichen durchaus in identischen Kontexten dasselbe bezeichnen können, ohne daß sie deshalb auch das Gleiche bedeuten. (g) Zwischen den Einheiten der Phonologie und den ihnen zukommenden Einheiten auf höherer Ebene ergibt sich in der Regel ein Parallelismus, der nicht unbedingt der sprachlichen Gestaltung eines Wortfeldes entspricht. Dies ist dann der Fall, wenn einzelnen Lexemen zwar ein gemeinsamer archilexematischer Inhalt entspricht, dieser jedoch sprachlich nicht in Form eines Lexems ausgedrückt ist. Eine sprachliche Gestaltung findet sich dann erst wieder auf einer höheren Ebene in Form eines Archilexems, das diesem Wortfeld und einem (oder mehreren) weiteren Wortfeld(ern) entspricht.

159 3.2.3.

Zur Abgrenzung des Wortfeldes

Nachdem wir im vorigen Kapitel die wesentlichen Charakteristika des Wortfeldes nach Coserius Konzeption genannt haben, scheint es uns erforderlich, das Wortfeld in zweierlei Hinsicht abzugrenzen. Einerseits muß festgelegt werden, wie sich ein Wortfeld gegenüber anderen Wortfeldern im gleichen Sprachsystem abgrenzen läßt; andererseits ergibt sich aber auch die Notwendigkeit, das Wortfeld gegenüber anderen Feldern und Bereichen abzugrenzen, mit denen es - nicht nur theoretisch - verwechselt werden könnte. 3.2.3.1. Hinsichtlich der Beantwortung der ersten Frage nach den Außengrenzen des Feldes hat Geckeier einen Bericht über die Diskussion hierzu vorgelegt, aus dem deutlich wird, daß vor allem von den Kritikern der Feldmethode verschiedentlich aufgrund der Verwechslung von Bedeutung und Bezeichnung wie auch von Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit die Existenz von Außengrenzen des Feldes43 (genauer: des Trierschen Feldes) und damit die Existenz von Wortfeldern überhaupt stark angezweifelt wurde. Ferner zeigt Geckeier, daß die Versuche zur Abgrenzung des Feldes dann unbefriedigend bleiben, wenn »der theoretisch wichtige Vorstoß zum Begriff des Archilexems nicht explizite unternommen wird. Denn gerade in dieser Richtung scheint sich eine Lösung des Problems der Außengrenzen der Felder abzuzeichnen.« 44 H. Gipper und H. Schwarz sehen bezüglich der Untersuchung von Wortfeldern keine absolute Notwendigkeit der Bestimmung der Außengrenzen des Feldes: Wenn man die Gliederung im Feld untersucht, braucht man nicht unbedingt zu wissen, wie es mit seinen Außengrenzen (oder Grenzzonen) aussieht. Das wird erst wichtig, sobald man danach forscht, wie die Felder zueinander stehen 45 .

Demgegenüber geht Coseriu in seiner Wortfeldkonzeption davon aus, daß nicht nur die »Binnengrenzen« im Wortfeld, sondern auch dessen Außengrenzen sich aufgrund der funktionierenden Inhaltszüge genau festlegen lassen. ( . . . ) un champ s'établit par des oppositions simples entre des mots et se termine là où une nouvelle opposition exigerait que la valeur unitaire du champ devienne trait distictif, c'est-à-dire là où ce ne sont plus les mots en tant que tels qui s'opposent, mais où c'est le champ tout entier qui devient le terme d'une opposition d'ordre supérieur, ( . . .)46.

43 44 45 46

Cf. Geckeler (1971), S. 144-150. Geckeler (1971), S. 145. Gipper/Schwarz (1962-), S. LXII. Coseriu (1964), S. 157.

160 Daraus ergeben sich zwei Schlußfolgerungen, die - zumindest bezüglich der Methodik der Analyse des Wortschatzes - in engem Zusammenhang stehen. Einerseits wird man »zunächst mit der Untersuchung von unmittelbaren Oppösitionen zwischen wenigen Lexemen beginnen und nicht gleich ganze Feldstrukturen in Angriff nehmen können, da diese ja nicht a priori als abgegrenzte Einheiten existieren, sondern sich für den Linguisten erst auf Grund der etablierten Oppositionen zwischen ihren Gliedern feststellen lassen« 47 . Dieses Vorgehen steht dabei in Einklang mit Coserius Auffassung struktureller Sprachbeschreibung im allgemeinen, die er an anderer Stelle dargelegt hat. Le structuralisme, tel que nous le concevons, aspire tout simplement à correspondre au fonctionnement réel de la langue, et non à y imposer des schèmes préconçus ou des structures »parfaites« 48 .

Andererseits wird die Wahl dieses methodischen Vorgehens von der Tatsache bestimmt, daß der Wortschatz einer Sprache »nicht im Ganzen, sondern nur partiell strukturiert ist«49. Beide Präzisierungen, sowohl die doch recht klare Abgrenzung von Wortfeldern nach außen 50 , als auch die nur partielle Strukturiertheit des Lexikons einer Sprache, werden von P. Guiraud in Zweifel gezogen, wenn er schreibt: The study of lexical fields ( . . . ) shows the contingent nature of the lexicón and makes it doubtful that it can ever be reduced to tight elementary structures on the model offered by phonology and grammar. Nevertheless, this is the ambition of the new structural semantics 5 '.

3.2.3.2. Die zweite Abgrenzung von Wortfeldern betrifft eine Unterscheidung zwischen diesen und ähnlichen Konfigurationen verschiedener Art, die mit Wortfeldern verwechselt werden können. Bei Coseriu finden wir die folgenden »negativ bestimmten Charakteristika« 52 des Wortfeldes: 53 (a) »Wortfelder sind keine taxonomischen Klassifizierungen der Wirklichkeit.« 54 (b) »Wortfelder sind keine objektiven Sachbereiche.« 55 Zwar besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß Wortfeld und Sachbereich zusam47

Coseriu (1973), S. 105. Coseriu (1964), S. 156. 49 Coseriu (1973), S. 105. 50 Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß einzelne Lexeme in verschiedenen Wortfeldern funktionieren können. 51 Guiraud (1972), S. 1117. Siehe auch die kritischen Einwendungen bei §cur (1973) und (1976). " G e c k e i e r (1971), S. 199. 53 Cf. Coseriu (1973), S. 55-58; Geckeier (1971), S. 199f. 54 Coseriu (1973), S. 55. 55 Coseriu (1973), S. 55. Insofern kann gerade die in den Sprachatlanten gemachte Anordnung nach Sachbereichen nicht mit einer irgendwie gearteten semanti48

161 menfallen, doch können sachliche Unterscheidungen bei den Objekten nicht unbedingt mit den inhaltlichen Merkmalen der Lexeme gleichgesetzt werden, weil einerseits manche distinktiven Merkmale auf der Interpretation der Sachen durch die Sprecher beruhen (wie z. B. >häßlichschönbequemunbequemDistributionmenschliches Wesen< gekennzeichnet, determinierte Klassen durch unterscheidende Merkmale wie >für die Klasse der menschlichen Wesenmenschliche Wesen< und enthält somit ein determinierendes Klassem, das die Grundlage der Bedeutung von miles darstellt. Senex dagegen gehört zu einer determinierten Klasse, d. h. zu den Adjektiven, die das Merkmal >für menschliche Wesen< enthalten, das jedoch nicht die Grundbedeutung dieser Lexeme bestimmt, sondern nur eine zusätzliche Determinierung der Grundbedeutung darstellt 70 . Zwischen der lexikalischen Klasse und dem Wortfeld gibt es nach Coseriu prinzipiell drei mögliche Verhältnisse: 71 (a) Ein ganzes Wortfeld funktioniert innerhalb einer lexikalischen Klasse, so daß das Klassem zwei Wortfelder voneinander unterscheidet. Wortfeld



m

Wortfeld

Klassem (b) Das Wortfeld gehört zwei verschiedenen Klassen an, so daß ein Klassem als unterscheidender Zug innerhalb des Wortfeldes funktioniert. Wortfeld Klassem (c) Das Wortfeld wird von einem Klassem quasi durchquert, doch ist der klassematische Unterschied nicht funktionell, weil nur der Kontext bestimmen kann, zu welcher Klasse eine Einheit gerechnet werden muß. Dies ist z. B. der Fall bei débarquer, das sich gegenüber dem Klassem >transitiv/intransitiv< neutral verhält; hier entscheidet erst der Kontext über die Zugehörigkeit zu einer der beiden Klassen. une caractérisation d'appartenance de sémèmes à des classes générales sémanticofonctionnelles: animation, continuité, transitivité.« Geckeler (1971), S. 201 n. 45 macht jedoch darauf aufmerksam, daß sich Pottiers Begriff des Klassems nicht genau mit dem Coserius deckt. 69 Geckeler (1971), S. 201. 70 Coseriu (1973), S. 82f. 71 Cf. Coseriu (1973), S. 80f.; siehe auch Coseriu/Geckeler (1974), S. 152f.

164 Wortfeld

Klassem

3.2.5.

Die Bestimmung des lexematischen Inhalts

Zusammenfassend stellt sich die strukturelle Wortfeldtheorie nach Coseriu und Geckeier als ein klares, übersichtliches Instrumentarium dar, mit dessen Hilfe - vor allem unter Beachtung der sieben Vorunterscheidungen - der Wortschatz der Sprache systematisch beschrieben und bezüglich seiner inhaltlichen Strukturierung analysiert werden kann, soweit sich solche Strukturen erkennen lassen. Die hierfür benötigten Grundbegriffe sind das Wortfeld mit seinem Archilexem und den innerhalb des Wortfeldes funktionierenden Lexemen, die zueinander in Opposition stehen und sich durch einfache Inhaltsmerkmale, Seme genannt, voneinander unterscheiden, wobei solche Seme, die als eine Art Gliederungspunkt innerhalb eines Wortfeldes funktionieren, Dimensionen genannt werden können. Des weiteren können in einem Wortfeld die Klasseme, d. h. die unterscheidenden Züge der lexikalischen Klassen, funktionieren. Mit diesem Instrumentarium faßt Geckeier die Beschreibung des differentiellen /nhalts eines Lexems zusammen in der Formel:72 1 L k = ^ A r c h i l e x e m + (Dimension(en) + S e m ( e ) ) + Klassem(e)

72

Geckeier (1973), S. 24.

4.

Vorbemerkungen zur Materialerhebung

4.1.

Das Untersuchungsgebiet

4.1.1. Wenngleich für die praktische Anwendung dialektologischer Untersuchungsmethoden prinzipiell jede Art diatopischer Variation innerhalb des Diasystems einer historischen Sprache geeignet erscheint, haben wir für unsere lexematische Untersuchung vier grundlegende Anforderungen an das Untersuchungsgebiet gestellt, die in engem Zusammenhang mit einer gewinnversprechenden Sammlung und Analyse des lexikalischen Materials stehen. Unser Bestreben ist, Untersuchungen zu Teilen eines hinsichtlich seiner Gültigkeit regional (geographisch) definierten Wortschatzes anzustellen, nicht jedoch zu einer (wenn auch teilweise regional gültigen) soziokulturellen Variante einer Standardsprache im Sinne der français régionaux. Aus diesem Grund betrifft die erste Forderung, die wir an das zu untersuchende Sprachgebiet stellen, die dialektale Situation in diesem Gebiet. Ideal erscheint uns dabei ein Sprachraum, in dem sich der Dialekt in seiner ursprünglichen Form möglichst unbeeinflußt von der Standardsprache erhalten hat und als übliches Mittel der mündlichen Kommunikation zwischen den Bewohnern eines Ortes dient. Dabei sind wir uns durchaus darüber im klaren, daß gerade in Frankreich eine solche Sprachsituation mehr oder weniger im Schwinden begriffen ist, auch wenn sich gegenwärtig verstärkt Tendenzen zur Wiederbelebung vor allem der ursprünglichen langues ethniques beobachten lassen 1 . Die zweite Forderung an das zu wählende Untersuchungsgebiet betrifft die Art des dort üblichen Dialekts. Als vollständiges Kommunikationsinstrument sollte er sich möglichst deutlich von der Standardsprache abheben, um gerade im Wortschatz als dem am wenigsten strukturierten Teil der Sprache mögliche strukturelle Divergenzen aufzuzeigen. Da wir uns bei einer solchen Untersuchung nicht auf Spontantexte irgendwelcher Art stützen können und folglich darauf angewiesen sind, das zu untersuchende Material durch eine Enquête zu sammeln, was gerade bezüglich der oft recht diffizilen Bedeutungsbestimmung der zu untersuchenden Einheiten mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, sollte auch im metasprachlichen Bewußtsein der Informanten ein klarer Unterschied zwischen der Standardsprache und dem lokalen Ausdruckssystem bestehen. 1

Siehe dazu Kremnitz (1975) (mit reichen Literaturangaben).

166 Als Drittes erscheint es uns erforderlich, daß sich auch innerhalb des Untersuchungsgebietes gewisse Unterschiede zwischen den Lokolekten feststellen lassen, um die speziell sprachgeographische Komponente mit in die Untersuchung einfließen lassen zu können. Unsere vierte Anforderung steht mit den drei ersten insofern in engem Zusammenhang, als sie die Beantwortung der durch diese drei Forderungen aufgeworfenen Fragen ermöglicht. Nur wenn das zu untersuchende Gebiet über einen bereits vollständig publizierten Regionalatlas verfügt, können wir uns eine Vorkenntnis der sprachlichen Situation im Untersuchungsgebiet verschaffen, die uns eine gezielte Enquête ermöglicht und mit dazu beiträgt, schon vor der eigentlichen Untersuchung einen Überblick über mögliche lexikalisch-semantische Bereiche zu gewinnen, deren nähere Betrachtung erfolgversprechend scheint. 4.1.2. Diese vier Kriterien weisen im galloromanischen Sprachgebiet vor allem auf den südfranzösischen Raum, auf das okzitanische Sprachgebiet hin 2 . Die dort gesprochenen Dialekte lassen eine hinreichend deutliche Divergenz zur Verkehrssprache Französisch erwarten, wobei die Unterschiede des Ausdrucks gewährleisten, daß auch die Informanten sich dieser Divergenz bewußt sind. Innerhalb des okzitanischen Sprachraums scheinen sich besonders zwei Gebiete für eine semantisch orientierte Enquête anzubieten, die Gascogne und das Gebiet des französischen Zentralmassivs. Beide Regionen stellen eine Art sprachlicher Rückzugsgebiete dar, in denen sich der ursprüngliche Dialekt noch weitgehend erhalten hat und vor allem den älteren Bewohnern noch als alltägliches Kommunikationsmittel dient. Für beide Gebiete liegen schon seit längerer Zeit die vollständig veröffentlichten Regionalatlanten vor, der ALG von Jean Séguy und der ALMC von Pierre Nauton. Gerade letzterer wird vielfach als besonders stark lexikologisch orientierter Atlas bezeichnet. Zwar erscheint uns P. Gardettes Einschätzung der im ALMC verzeichneten Sprachsituation nicht allgemein auf das Zentralmassiv übertragbar, wenn er schreibt: (...) VALMC offre l'image d'une région pour ainsi dire inattaquée, conservatrice, dont les patois n'ont pas souffert de l'influence française 3 .

Doch wir können ihm in der Tendenz zustimmen. Das französische Zentralmassiv hat im wesentlichen seinen Patois erhalten, weil es abseits der großen Verkehrswege liegt, dem Tourismus noch nicht vollständig anheimgefallen 4 (wie beispielsweise Provence und Languedoc) und im allgemei2

Damit wollen wir jedoch nicht behaupten, daß sich nicht auch in anderen Regionen Frankreichs ähnliche sprachliche Verhältnisse finden lassen. 3 Gardette (1957), S. 223. 4 Cf. Nauton (ALMC) IV, S. 17.

167 nen wenig industrialisiert ist. Sehen wir von der Region um Saint-Etienne ab, so hat sich im größten Teil des Zentralmassivs eine landwirtschaftlich orientierte Zivilisation erhalten, die sowohl nach den allgemeinen Aussagen des ALMC als auch nach unseren eigenen Untersuchungen den bäuerlichen Wortschatz gut bewahrt hat. Selbstverständlich ist der ALMC nicht in der Lage, vollständig über die sprachliche Situation seines Untersuchungsgebietes zu informieren, weil er einerseits nur die bäuerliche Gesellschaft erfaßt, andererseits sich weitgehend auf die »terminologie rurale« konzentriert. Insofern müßten wir präzisieren, daß sich der ursprüngliche Dialekt im Zentralmassiv nicht generell gut erhalten hat, sondern heute vor allem von den älteren Mitgliedern der bäuerlichen Schicht gesprochen wird 5 , während das Bürgertum und die Handeltreibenden der größeren Orte nahezu ausschließlich das Französische verwenden 6 . 4.1.3. Innerhalb des Zentralmassivs haben wir für unsere Untersuchung ein Gebiet im östlichen Teil des Dep. Cantal gewählt, das mit vier Untersuchungspunkten zum nordokzitanischen und mit zwei Punkten zum südokzitanischen Sprachgebiet gehört 7 . Wegen der Heranziehung der Daten des ALMC haben wir dabei die Enquête an den gleichen Untersuchungspunkten wie dieser durchgeführt. Die Karte (siehe S. 168) informiert über die Lage unseres Untersuchungsgebietes im Dep. Cantal; wir entnehmen sie dem ALMC8 und verzeichnen auch dessen Untersuchungspunkte. Die eingezeichnete Isoglosse trennt den Süden mit [ka] vom Norden (und Osten) mit erfolgter Palatalisierung zu [tsa, tja]. Die mit Ziffern markierten Untersuchungspunkte beziehen sich auf folgende Ortschaften: P. 13 Landeyrat, P. 14 Menet, P. 17 Murat, P. 18 Villedieu, P. 41 St-Jaquesdes-Blats, P. 43 Paulhenc. Die eingekreisten Buchstaben bzw. Zahlen geben die größeren Ortschaften an: 9 A = Aurillac (31150 Einwohner), F = St-Flour (7 400 Einwohner), R = Riom-ès-Montagnes (3 900 Einwohner), 17 = Murat (3 000 Einwohner). Mit Ausnahme von Murat (P. 17) handelt es sich bei den Untersuchungspunkten um kleinere bis kleinste (P. 13) Ansiedlungen mit der

5

Cf. Nauton ( A L M C ) IV, S. 38. Cf. Nauton ( A L M C ) IV, S. 54. 7 Kriterium: Palatalisierung von [k + a ] zu [ts, tj] im Nordokzitanischen gegenüber unterbliebener Palatalisierung im Südokzitanischen (Languedokischen). 8 Siehe auch die Karte bei Nauton ( A L M C ) IV, S. 14. 9 Die Angaben zur Einwohnerzahl (aufgerundet) entnehmen wir dem Petit Larousse Illustré, Paris 1974. 6

168

Das Untersuchungsgcbict (schraffiert) Palatalisierung von [ k + a ]

Landwirtschaft als dominierendem Wirtschaftsfaktor. Nur St-Jacques-desBlats (P. 41) bemüht sich vor allem um den Wintertourismus mit dem Lioran als Skigebiet. Im äußersten Westen des Untersuchungsgebietes führt die wichtige Route Nationale 9 von Clermont-Ferrand nach Millau; als zweite wichtige Straße führt die RN 126 von St-Flour nach Aurillac durch Murat (P. 17) und St-Jacques-des-Blats (P. 41). Die Punkte 13, 14, 18 und 43 liegen abseits der großen Verkehrswege und besitzen praktisch keinen Durchgangsverkehr.

169

4.2.

Die Informanten

Die Auswahl der Informanten stellt das Zentralproblem dialektologischer Untersuchungen dar. Wir haben uns bemüht, vor allem das bäuerliche Milieu zu erfassen und nur solche Leute zu befragen, die den Ortsdialekt voll beherrschen und bereitwillig Auskunft geben. Dabei sind wir in den kleineren Ansiedlungen auf mehr Resonanz gestoßen als in dem ungleich größeren Murat, wo wir erhebliche Schwierigkeiten hatten, einen Informanten zu finden. Im folgenden wollen wir unsere Informanten kurz vorstellen. In Landeyrat (P. 13) fanden wir M. Eugène Chabrier (49), einen selbständigen Bauern mit einem stattlichen Hof. M. Chabrier ist in St-Saturnin (ca. 10 km von Landeyrat entfernt) aufgewachsen und hat später den Hof in Landeyrat übernommen. - M. Chabrier ist ein ausgezeichneter Informant, der den Ortsdialekt vollkommen beherrscht und mit großem Interesse von sich aus auf viele wichtige Einzelheiten hinweist, wobei er in der Lage ist, auch die wichtigsten sprachlichen Unterschiede zu den umliegenden Ortsmundarten zu nennen. In Menet (P. 14) erklärte sich Mme Marie-Louise Galvain (60) bereit, uns behilflich zu sein. Mme Galvain ist gebürtig aus Menet und hat sich ständig dort aufgehalten. Sie beherrscht den Dialekt besser als ihr Mann, M. Pierre Galvain (62), Rentner und Hausverwalter, der bei der Befragung mit anwesend war und ebenfalls zur Beantwortung der Fragen beitrug. In Murat (P. 17), genauer in dem direkt anschließenden Ort La Chapelle d'Alagnon, beantwortete Mme Marie Coudert (64), Hausfrau, unsere Fragen. Mme Coudert wurde im Dep. Lozère geboren, ging in Murat zur Schule und hielt sich ständig dort auf. Zum Zeitpunkt der Enquête waren ihre Kenntnisse der Mundart nicht mehr ganz umfassend. Vor allem im Bereich der landwirtschaftlichen Sachkultur scheint sie sich nicht besonders gut auszukennen. In Villedieu (P. 18) informierte uns M. Alexandre Tanavelle (57), Bauer mit einem größeren Hof, wobei seine Ehefrau gelegentlich assistierte. M. Tanavelle stammt aus Villedieu und hat sich ständig dort aufgehalten. Er sebst spricht zwar noch fließend Dialekt, ist aber - im Unterschied zum Informanten am P. 13 - weniger in der Lage, an anderen Punkten verwendete Formen zu lokalisieren. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich konnte er uns sehr gute und detaillierte Informationen geben. In St-Jacques-des-Blats (P. 41) konnten wir Mme Marinette Rigale (ca. 50) als Informant gewinnen. Ihr Ehemann war bei der Befragung teilweise anwesend und verfolgte den Verlauf mit Interesse, wobei er gelegentlich Informationen beisteuerte. Das Ehepaar bewirtschaftet mit seinem Sohn den eigenen Bauernhof. Mme Rigale und ihr Ehemann stammen beide aus dem Ort und haben dort immer gelebt.

170 In Paulhenc (P. 48) trafen wir auf Mme Mélanie Delbes (ca. 65). Sie ist verwitwet und lebt weiter auf ihrem Hof, ohne ihn zu bewirtschaften. Teilweise war eine jüngere Nachbarin, Mme Odette Saison (ca. 30), Bäuerin, mit zugegen. Gleichfalls teilweise anwesend war eine ältere Nachbarin, die der Befragung mit Interesse folgte, gelegentlich soufflierte und Einzelheiten bestätigend wiederholte. Alle Informanten in Paulhenc sind dort geboren und aufgewachsen und sprechen unter sich lieber Patois als Französisch. Diese letztere Situation ist jedoch eher die Ausnahme in den von uns untersuchten Gemeinden. Allgemein erklärten uns die Informanten, sie sprächen mit ihren Kindern nur noch ganz sporadisch im Dialekt, wobei diese zwar in der Lage seien, den Dialekt zu verstehen, nicht jedoch ihn selbst zu sprechen. Rund dreißig Jahre vor unserer Aufnahme hatte P. Nauton für den Ort Saugues (Haute-Loire) als Sprachsituation festgehalten: Les dernières femmes ne comprenant pas le français sont mortes il y a au moins 30 ans. Dans le bourg, les personnes de 60 ans parlent plus volontiers le patois que le français, celles de 40 ans sont, peut-on dire, des bilingues parfaits, quant aux jeunes de moins de 20 ans, ils comprennent le patois, mais généralement ne le parlent pas' 0 .

Heute dagegen ergibt sich nach unserer Befragung ein anderes Bild. Die Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren sind nicht mehr in der Lage, Dialekt zu sprechen. Die Generation der jüngeren Erwachsenen von 20 bis 40 Jahren versteht zwar noch den Dialekt, spricht ihn aber nur selten. Die älteren Erwachsenen sind in der Regel absolut zweisprachig und sprechen unter sich auch Dialekt, allerdings nur im engeren Familienkreis oder mit den Nachbarn. In einer Familie in Virargues (Gemeinde Murat) stellten wir folgende Sprachsituation fest: Die Kinder (5-13 Jahre) verstanden ein paar Wörter des Dialekts, waren jedoch nicht in der Lage, Auskünfte irgendwelcher Art zu geben (z. B. Bezeichnungen der Mahlzeiten); die Eltern (47 und 52 Jahre) waren zweisprachig; der Großvater (ca. 85 Jahre) sprach ausschließlich Dialekt und verstand im allgemeinen kein Französisch (mit Ausnahme einiger weniger Ausdrücke). Der Vater, M. Champagnac, erklärte, er spreche mit seinem Vater regelmäßig und ausschließlich Dialekt, während er mit den Kindern nur Französisch spreche. Der älteste Sohn Michel (13 Jahre) sagte uns, er könne sich mit seinem Großvater so gut wie nicht unterhalten. Es versteht sich von selbst, daß wir mit diesen Beobachtungen nicht den Anspruch erheben wollen, die sprachliche Situation im Dep. Cantal umfassend zu beschreiben. Dennoch scheint uns die Ähnlichkeit der Aussagen unserer Informanten in bezug auf die Verwendung des Dialekts geeignet, von einer allgemeinen Tendenz zu sprechen, den Dialekt auch aus 10

Nauton (1948), S. 17.

171

dem Familienkreis zu verbannen. Unser Informant am P. 41, Mme Rigale, sagte uns wörtlich, sie und ihr Ehemann sprechen mit dem 21jährigen Sohn vorwiegend Französisch, »parce qu'il a été à l'école«. Das geringe Prestige der Mundart in Verbindung mit dem Bedürfnis der Eltern, ihren Kindern zum Erfolg zu verhelfen, verbannt den Gebrauch des Dialekts aus der Familie. Hinzu kommt das fehlende Bewußtsein einer größeren Sprachgemeinschaft in Verbindung mit dem Wissen um den geringen Geltungsbereich des Dialekts.

4.3.

Die Enquête

Zur Sammlung der Informationen über die sechs Lokolekte haben wir nach eingehender Betrachtung der Materialien des ALMC eine Enquête in zwei Etappen durchgeführt. Die erste Etappe fand im März 1977 statt und bestand im wesentlichen in der Übersetzung eines vorbereiteten Questionnaires mit etwa 250 Fragen, wobei darauf geachtet wurde, daß die abgefragten Begriffe eindeutig definiert waren. Deshalb haben wir - von einigen Ausnahmen abgesehen - die zu übersetzenden Wörter in einen Satzzusammenhang gestellt. Insgesamt dienten aber diese Übersetzungen nur als Anlaß für weitere Präzisierungen von Seiten der Informanten. Dabei ergab sich der Vorteil, daß unserem jeweiligen Gesprächspartner ersichtlich war, welche Art von Informationen wir zu erlangen suchten, da er quasi aktiv an der konfrontativen Betrachtung der lexikalischen Einheiten beteiligt war und erkannte, daß sich die diesbezüglichen Fragen jeweils auf einen bestimmten Inhaltskomplex bezogen. Im Durchschnitt dauerte die erste Phase der Enquête rund 3 Stunden pro Untersuchungspunkt, wobei sich je nach der Informationsfreudigkeit des Gesprächspartners zum Teil größere Abweichungen ergaben. Die vorläufige Analyse des Materials warf eine Reihe von Fragen auf, die sowohl die Existenz gewisser lexikalischer Typen an bestimmten Punkten als auch genauere inhaltliche Bestimmungen einzelner Einheiten betrafen. Aus diesem Grunde war eine zweite Enquête erforderlich, die wir im August 1977 durchführten. Die einzelnen Interviews dauerten zwischen einer und vier Stunden, wobei wir vor allem auch nach der Existenz von Lexemen fragten, die an anderen Punkten genannt wurden. Es zeigte sich, daß im passiven Wortschatz der Informanten wesentlich mehr Einheiten vorhanden sind als durch eine Enquête mittels Übersetzung gesammelt werden können. Aus diesem Grund verließen wir auch gelegentlich die Ebene der spontanen Antwort und schlugen dem Informanten - wenn dieser zögerte - zwei oder mehr Lexeme vor, die dieser dann näher charakterisierte bzw. als nicht am Ort übliche Ausdrücke diskriminierte. Auf diese Weise glauben wir, die syntopische Homogenität des gesammelten Materials am besten erfassen zu können, weil natürlich bei den meisten

172 Informanten stets auch die Kenntnis von an anderen Punkten verwendeten Lexemen vorausgesetzt werden kann, die im Sinne von Bezeichnungsäquivalenzen interpretiert werden müssen. Neben diesen sprachlichen Informationen fragten wir die Informanten auch nach ihren persönlichen sprachlichen Gepflogenheiten in der Verwendung von Dialekt und Standardsprache und nach denen innerhalb des Ortes. Auf diesen Fragen beruht die von uns oben gemachte Einschätzung der sprachlichen Situation an den Untersuchungspunkten.

4.4.

Die Notierung

Nachdem wir die sprachlichen Daten während der Enquête mit Hilfe einer Tonbandaufzeichnung gesammelt haben, ergibt sich für uns hier das Problem der graphischen Wiedergabe. Im Rahmen unserer lexikalisch-semantischen Untersuchung messen wir dabei den lexikalischen Typen mehr Bedeutung als der korrekten Wiedergabe der Lautung bei. Im Interesse einer leichteren Lesbarkeit erscheint es uns daher erforderlich, die Lexeme unabhängig von ihrer jeweiligen lautlichen Realisierung in einheitlicher Schreibweise wiederzugeben. Damit erhebt sich die Frage der Wahl der graphischen Kodifizierung. Zwar verfügt das Okzitanische heute noch über keine allgemein anerkannte Kodifikation, doch zeigen die Untersuchungen von G. Kremnitz 11 , daß von verschiedenen Gruppen die Kodifizierung Aliberts mit Abstand bevorzugt wird. Im Rahmen dieser Arbeit notieren wir deshalb die lexikalischen Typen in der Graphie des Wörterbuchs von Alibert 12 , wenngleich dieses sich vorwiegend mit dem Südokzitanischen (Languedokischen) befaßt. Gleiches gilt für die Notierung anderer Formen, der wir das kodifizierte System von Aliberts Grammatik zugrunde legen 13 . Obwohl die Wahl dieser normierten Orthographie des Institut d'Etudes Occitanes (I.E.O.) in Toulouse hinsichtlich seiner Übertragung auf die nordokzitanischen Dialekte nicht unproblematisch ist, scheinen sich auch verschiedene Schriftsteller namentlich der Haute Auvergne dazu entschlossen zu haben, diese kodifizierte Orthographie zu verwenden, wobei sie allerdings in unterschiedlicher Weise den lautlichen Varianten ihrer Mundart Rechnung tragen 14 . Ähnlich verhält es sich im Unterrichtswesen, sofern das Okzitanische hier berücksichtigt wird. Im allgemeinen wird in der Auvergne die okzitanische Graphie, in reiner oder in dialektalisierter Form unterrichtet; nur noch einige ältere Autoren, die dem Fé" Kremnitz (1974); siehe dort besonders S. 419. Alibert (1977). 13 Alibèrt (1976). Siehe zum Vergleich der einzelnen Kodifizierungen Kremnitz (1974), S. 261-291. 14 Cf. Kremnitz (1974), S. 302f. 12

173 übrige nahestehen, bevorzugen lokale Graphien. Außer an der Universität und im Rektorat [der Universität von Clermont-Ferrand], das die okzitanischen Prüfungen organisiert, hat das Okzitanische noch kein großes Echo in den Massenmedien, obwohl weite Teile der Auvergne ein »Sprachreservat« darstellen 15 .

Da von der Orthographie nur bedingt auf die Lautung geschlossen werden kann, werden wir bei besonders gelagerten Fällen auf die Lautung hinweisen. Ferner werden wir uns gezwungen sehen, die normierte Orthographie auf Wörter zu übertragen, die bei Alibert nicht aufgeführt sind, jedoch in der Auvergne verwendet werden. In diesen Fällen lassen wir uns von Analogien leiten und verweisen auf die diesbezüglichen Präzisierungen in den Fußnoten.

15

Kremnitz (1974), S. 303.

5.

Das Feld »Tageszeiten«

5.1.

D i e Grundopposition

jorh/naèit

Unter den Bezeichnungen der Tageszeiten verstehen wir jene Lexeme, die das zeitliche Kontinuum von 24 Stunden sprachlich unterteilen. Der ganze Zeitraum wird durch das Lexem jorn bezeichnet, wie es in dem Satz Sèi jorns fan una setmana zum Ausdruck kommt. Eine Zweiteilung in >Tag< und >Nacht< ist im ganzen Untersuchungsgebiet einheitlich: Lo jorn trabalham, la nuèit dormèm. Daß diese Zweiteilung nicht einem objektiv feststellbaren und durch klare Grenzen definierten Unterschied der Wirklichkeit entspricht, muß hier nicht extra betont werden. Die Tatsache, daß an einem dunklen Wintertag eine bestimmte Zeit des Nachmittags noch dem Tag oder schon dem Abend zugerechnet wird, ist für die sprachliche Unterscheidung nicht primär ausschlaggebend. Insofern schafft die Sprache erst Grenzen, die sich in der Wirklichkeit nicht finden. Wir stehen hier vor einem der hervorstechendsten Züge der sprachlichen Begriffsbildung überhaupt. Die Wirklichkeit bietet keine feste Abgrenzung nur Ubergänge. Erst die Gliederung durch die Sprache (durch den Menschen) schafft solche Grenzen 1 .

Heringer interpretiert die Opposition von Tag/Nacht im Deutschen im Sinne einer neutralisierbaren Opposition mit den Semen s, = >Zeitraum von 24 Stunden< und s 2 = >helldunkel< definiert 2 . Inwiefern wir Heringers Sem s, für die Analyse des Feldes der Tageszeiten benötigen, werden wir später feststellen. Letztlich dient es ja innerhalb des Feldes nicht als inhaltsunterscheidender Zug, sondern grenzt vielmehr den Zeitraum Tag gegenüber anderen Zeiträumen ab, wie beispielsweise Woche, Monat, Jahr etc. 1 2

Heringer (1968), S. 224. C f . Coseriu (1973), S. 140;Coseriu/Geckeler (1974), S. 140.

175 Wir können auch für unser Untersuchungsgebiet bezüglich des Verhältnisses von jorn/nueit von einer inklusiven Opposition ausgehen, wobei jorn das merkmallose, nueit das merkmalhafte (intensive) Glied darstellt. Diese Inklusion kann graphisch wie folgt notiert werden: jorn [nueit]. In schematischer Darstellung übernehmen wir die von Coseriu verwendete Art: 3

Während nuèit sprachlich nicht weiter gegliedert ist, finden sich in allen von uns untersuchten Lokolekten weitere Lexeme zur näheren Bezeichnung einzelner Zeitabschnitte innerhalb des in Opposition zu nuèit definierten jorn. Schenkt man den Angaben des ALMC Glauben, so bilden die Mahlzeiten quasi die Fixpunkte für die zeitliche Begrenzung der einzelnen Perioden innerhalb des Tages. Der abgefragte Begriff »après-midi« wird definiert als »temps entre le repas de midi et le goûter«, der Begriff »soir« als »temps après le goûter«. Eine weitere Notierungsart weist auf einen dritten Zeitraum innerhalb der zweiten Tageshälfte hin, die Zeit zwischen Abendessen und Schlafengehen 4 . Die Gestaltung des Feldes auf der hohen Ebene der Opposition jorn/nuèit ist im Untersuchungsgebiet einheitlich; demgegenüber finden sich in der weiteren sprachlichen Gestaltung des Inhalts jorn >Tageszeit< + >hell< an den einzelnen Untersuchungspunkten zunächst unterschiedliche Ausdruckseinheiten, wobei die diatopische Variation sich auf die zweite Tageshälfte beschränkt. Alle Einheiten sind jorn hierarchisch im Sinne einer Inklusion untergeordnet, so daß jorn als Archilexem funktioniert nach dem Muster: A + B + C + ... = jorn. Da jorn gleichzeitig auch als nicht markiertes Glied in der inklusiven Opposition jorn [nuèit] funktioniert, müssen wir nach der Betrachtung der weiteren Bezeichnungen der Tageszeiten noch näher auf die Gesamtstruktur des Feldes eingehen. Gerade im Hinblick darauf, daß zwischen jorn und nuèit ein inklusives Oppositionsverhältnis besteht, erscheint uns >Tageszeit< als archilexematischer Inhalt mißverständlich. Wir verwenden deshalb besser >Zeitraum (innerhalb) von 24 Stundenhelldunkel< gründet, kann der Inhalt von jorn hinreichend genau beschrieben werden als >Zeitraum (innerhalb) von 24 Stunden< + >hell< gegenüber nueit >Zeitraum (innerhalb) von 24 Stunden< + >dunkelhier on travailla jusqu'au soirhier soir (matin)< und in der Stundenzählung z. B. es vengut a sèt oras devèrs-tard gegenüber sèt oras del vèspre. Es könnte nun grundsätzlich angenommen werden, es handle sich dabei letztlich um einen Unterschied, wie er auch im Frz. bei après-midi beobachtet werden kann: die lexikalische Periphrase après-midi kann mit der freien präpositionalen Konstruktion après midi unter gewissen Umständen kommutiert werden, natürlich mit einem Bedeutungsunterschied. Vgl. »je viendrai te voir cet après-midi« gegenüber »je viendrai te voir immédiatement après midi«. Dem widerspricht allerdings die Tatsache, daß für unseren Informanten die Periphrase devèrs-tard nur bedingt analysierbar war; ein Substantiv *lo tard war ihm nicht bekannt, wohl aber das Adverb tard. Für die hier vorgenommene Analyse der Tageszeitbezeichnungen in ihrer paradigmatischen Konfiguration gehen wir davon aus, daß es sich bei dem Typ lo devèrs-tard um eine lexikalisierte Periphrase handelt, wobei vor allem die Kommutierbarkeit mit anderen Gliedern des Paradigmas ausschlaggebend ist. Zur Ermittlung der inhaltlichen Unterscheidung zwischen après-miègjorn, devèrs-tard und vèspre baten wir unseren Informanten, zunächst den Satz »cet après-midi, il y aura un orage« in seinen Lokolekt zu übertragen. Wir erhielten: aqueste après-miègjorn i aura un auratge. Als möglichen Zeitpunkt des durch diesen Satz angekündigten Gewitters nannte der Informant die Zeit bis spätestens 16 Uhr. Wenn das Gewitter später stattfinde, könne man sagen: dins lo devèrs-tard oder auch tard dins lo vèspre. Diese letztere Unterscheidung weist darauf hin, daß vèspre den gesamten Zeitraum von Mittag bis zur Nacht bezeichnet, der lexikalisch weiter aufgeteilt werden kann in eine erste Hälfte mit vollem Sonnenlicht: après-miègjom und eine zweite Hälfte mit abnehmendem Licht: devèrs-tard. Es er11

Nach den Ausführungen bei Alibert (1976), S. 308f. kann bei Substantiven in temporal-adverbialer Verwendung der Artikel entfallen, wobei die im Languedokischen üblichste Konstruktion mit der Präposition de erfolgt. In adverbialem Gebrauch erscheint am P. 13 üblicherweise de : de jorn, de matin, jedoch l'aprèsmiègjorn und devèrs-tard.

179 weist sich jedoch, daß die Orientierung nach dem Sonnenstand (etwa: volles Sonnenlicht/Helligkeit ohne direktes Sonnenlicht, Dämmerung) nicht primär ausschlaggebend für die Tageszeitbezeichnung in der zweiten Tageshälfte ist. Darauf weist die Übertragung eines Satzes hin, mit dem wir auch den Bezug zu den Mahlzeiten herstellen wollten: »Le soir, après le souper, les voisins se réunissent pour faire la veillée«. Am P. 13 erhielten wir dafür die Antwort: Devèrs-tard après lo sopar los vesins se reunisson per velharu. Statt per velhar ist auch per faire la velhada möglich. Die Tageszeit, zu der die velhada stattfindet, ist abgegrenzt durch das Abendessen einerseits und durch das Schlafengehen andererseits. Dieser Zeitraum fällt in den letzten Teil der durch devèrs-tard bezeichneten Tageszeit, wobei offensichtlich der Grad der Helligkeit nicht entscheidend ist, da die velhada nur im Winter stattfindet, während im Sommer nach Aussagen aller Informanten das Abendessen je nach Arbeitsbelastung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt und den absoluten Abschluß des Tagesablaufs darstellt 13 . Dies ist ferner auch der Grund, weshalb wir nicht von einer separaten Tageszeit zwischen Abendessen und Schlafengehen ausgehen können, da der Ausdruck a la velhada zwar eine bestimmte Zeit bezeichnet, dieser Zeitraum aber nicht als konstanter Zeitraum innerhalb des Tages unterschieden wird' 4 . Während die sprachliche Bedeutung von velhada als das Resultative der Verbalhandlung velhar >wach sein, bleiben< bezeichnet werden kann, hat sich in der Norm die Bedeutung Z u s a m m e n k u n f t von Nachbarn und Freunden im Winter nach dem Abendessen< fixiert. Da diese Zusammenkunft stets zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet, hat sich daraus die Möglichkeit entwickelt, auch die Zeit der Zusammenkunft zu bezeichnen, ähnlich etwa der Bezeichnung des kurzen Zeitraums zwischen Nachmittag und Abend, der mit dem dann stattfindenden Ereignis als a la tombada del jorn bezeichnet werden kann. Somit ergibt sich für die Tageszeitbezeichnungen innerhalb des durch jorn >Tageszeit< + >hell< bezeichneten Zeitraums am P. 13 zunächst die binäre Opposition zwischen matin und vèspre mit dem Merkmal >vor/nach Mittags wobei der Inhalt von vèspre sprachlich durch die Lexeme aprèsmiègjorn >früh< und devèrs-tard >spät< weiter untergliedert wird. Die Opposition jorn/nuèit scheint hingegen außer auf dem Inhaltsmerkmal >helldunkel< auch auf der von Bouvier vorgeschlagenen Opposition >temps d'éveiltemps de sommeiltemps d'eveih, andererseits auch durch >dunkel< markiert ist, also eine Art Bindeglied zwischen jorn und nueit darstellt. Diese Zeit, für die kein eigenes Lexem zur Verfügung steht, kann an allen Punkten unseres Untersuchungsgebietes als velhada bezeichnet werden, das jedoch unter Berücksichtigung seiner systematischen Bedeutung und auch der dominierenden Normbedeutung (im Sinne einer traditionellen bzw. usuellen Fixierung) aus dem Feld der Tageszeiten ausgeschlossen werden muß. Zusammengefaßt erhalten wir folgende inhaltsunterscheidenden Züge innerhalb des Feldes der Tageszeiten: s, s2 s3 s4

( = Archilexem) >Zeitraum (innerhalb) von 24 Stunden< >hell< >vor Mittag< >früh
hellnicht (hell)dunkelfrüh< / >nicht (früh)< kann in diesem Feld nicht funktionieren, so daß wir in schematischer Darstellung folgende Struktur erhalten:

17

Mit dieser Notierung von jorn wollen wir darauf hinweisen, daß das Lexem einerseits als Archilexem von matin und vespre funktioniert und somit in privativer Opposition zu nueit steht, andererseits aber auch bei Neutralisierung dieser Opposition als Archilexem den Inhalt des ganzen Feldes darstellt. 18 Cf. Nauton ( A L M C ) III, Karten 1432-1442. 19

20

Cf. Geckeier (1971a), S. 220: » Die Anzahl der Lexeme in einem Wortfeld verhält sich zum Grad der inhaltlichen Differenziertheit direkt proportional.« (Hervorhebung im Original). Cf. Nauton ( A L M C ) IV, S. 87.

182 jorn — nueit matin

vespre

Die diachrone Veränderung des Feldes im Sinne einer präziseren inhaltlichen Differenzierung des durch vespre bezeichneten Zeitraums wurde zunächst herbeigeführt durch den Gallizismus apres-miegjorn, der heute im funktionellen System von P. 13 in seiner Opposition zu devers-tard einen festen Platz einnimmt. Über den Ursprung und die Herkunft des Lexems devers-tard lassen sich keine gesicherten Erkenntnisse anführen. Fest steht nur, daß der Typ innerhalb des Gesamtsystems des Okzitanischen möglich ist (vgl. lo tard bei Alibert, sul tart bei Vayssier21), aber in der Norm wohl allgemein nicht ausgenutzt wird. Es erscheint uns müßig, hier Mutmaßungen anzustellen, welche Gründe für das Fehlen dieses Lexems im ALMC am P. 13 verantwortlich sein könnten. Prinzipiell lassen die sprachlichen Fakten zwei Möglichkeiten der Strukturierung zu: Einerseits kann devers-tard erst in jüngerer Zeit in das funktionelle System des Lokolekts 13 eingedrungen sein, wobei sich für die inhaltliche Gestaltung des Feldes das oben entworfene Bild ergeben würde, d. h. vor dem Eindringen des Lexems. Diese Möglichkeit halten wir aber für unwahrscheinlich, weil weder ersichtlich ist, aus welchen Gründen devers-tard entlehnt worden sein soll, noch, woher es kommen könnte (kein Untersuchungspunkt des ALMC kennt den Typ). Daher neigen wir eher dazu, die zweite Möglichkeit als wahrscheinlich zu betrachten, nach der devers-tard schon immer im System von P. 13 funktionierte und dort gewissermaßen eine Reliktform darstellt (es darf nicht übersehen werden, daß der Ort vor der Erschließung des Massif Central durch Straßen extrem abgelegen und nur schlecht zugänglich war, so daß Kontakte mit umliegenden Gemeinden auf ein Minimum beschränkt gewesen sein dürften). Seine Position innerhalb des Feldes, besonders aber seine Beziehung zu vespre scheint dabei wohl im Sinne einer inklusiven Opposition gesehen werden zu müssen: vespre [devers-tard], wobei devers-tard als merkmalhaftes Glied gegenüber vespre durch den Inhaltszug >spät< markiert ist, der also unserem oben genannten Sem s4 entspricht, allerdings in der Umkehrung >nicht (früh)nach Mittag< im Französischen verantwortlich, die über keine Entsprechung für das am P. 13 existierende partielle Archilexem vèspre verfügt, sondern stets die spezifischen Lexeme après-midi und soir verwendet. Unabhängig von ihrer Position im entsprechenden französischen Feld bezeichnen diese beiden Lexeme im wesentlichen die gleichen Zeitabschnitte innerhalb der zweiten Tageshälfte wie ihre lokalen Entsprechungen après-miègjorn und devèrstard. Bei strikter Anwendung der Übersetzungsmethode könnte somit das Lexem vèspre nicht ermittelt werden. Wir verdanken es vor allem unserem Informanten, daß er uns in Satzbeispielen auf die Opposition matin/vèspre hingewiesen und vèspre auch in metasprachlichen Aussagen definiert hat. In der praktischen Anwendung des Lexems zeigt sich, daß dieses -heute vorwiegend synonym mit devèrs-tard verwendet wird, wobei wir als einziges Gegenbeispiel die beiden schon oben angeführten Ausdrükke dins lo devèrs-tard / tard dins lo vèspre ermitteln konnten 23 . Dies weist darauf hin, daß das Eindringen von après-miègjorn die offensichtlich über sehr lange Zeit hinweg funktionierende inklusive Opposition von vèspre [devèrs-tard] tiefgreifend erschüttert hat und möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft vèspre ungebräuchlich werden läßt und aus dem System verdrängen wird. Darauf machte auch unser Informant aufmerksam, der uns sagte, vèspre werde schon heute nicht besonders häufig verwendet, weil man am P. 13 im allgemeinen eher devèrs-tard gebrauche.

22 23

Bouvier (1976), S. 361. Vgl. dazu auch oben (n. 15) die Bezeichnungsäquivalenz der beiden Lexeme in der Stundenzählung.

184

5.2.2.

Die »Tageszeiten« am P. 14 (Menet)

Wie bereits oben erläutert, funktioniert auch am P. 14 die inklusive Opposition jorn [nuèit] mit den Semen s, >Zeitraum (innerhalb) von 24 Stunden< und s 2 >hellzu Mittag essenMittagsmahlzeitZeit mit vollem S o n n e n l i c h t g e g e n ü b e r >Zeit mit a b n e h m e n d e m Licht< findet i h r e n Niederschlag a u c h in d e r S t u n d e n z ä h l u n g , wo, wie wir o b e n gezeigt h a b e n , vèspre bis 17 U h r v e r w e n d e t wird, ser dagegen von 17-21 U h r . A b 22 U h r wird nuèit bzw. velhada v e r w e n d e t , letzteres j e d o c h n u r im W i n t e r . Dagegen k a n n im S o m m e r , w e n n es a b e n d s noch hell ist, vor allem aber, w e n n noch sehr lange d r a u ß e n gearbeitet wird, gesagt w e r d e n : arsera avèm trabalhat d'aqui al ser >hier n o u s a v o n s travaillé j u s q u ' a u soir< o d e r a u c h arsera lo ser, avèm rentrât lo fen >hier soir n o u s a v o n s r e n t r é le foinvor/nach Mittag< entsprechen, sondern ergibt eine äquipollente Opposition zwischen den drei Lexemen, die mit den Inhaltszügen >erste Hälfte< für matin, >zweite Hälfte< für vèspre und >Ende< für ser markiert werden kann. Die inklusive Opposition vèspre [après-miègjorn] trägt das différentielle Inhaltsmerkmal >BeginnZeitraum (innerhalb) von 24 Stunden< >hell< >erste Hälfte< >zweite Hälfte< >Ende< >Beginn
soirdu soirsoirée< und kommentiert: »Ces mots désignent le temps qui s'écoule du coucher du soleil jusqu'au moment où l'on va au lit. Pendant l'hiver, ce temps est consacré à la veillée (.. .).«" Auch in der etwas älteren Darstellung des Wortschatzes des Dep. Aveyron von Vayssier sind die beiden lexikalischen Typen aufgeführt: »BÈSPRE, s. m. L'après-dînée, l'après-midi, f. la dernière moitié du jour. 30

Siehe unsere Karte oben S. 168; siehe auch die Karte bei Nauton (ALMC) S. 14. 31 Lhermet (1931), S. 15. 32 Bei Alibert (1977), S. 633a in der Schreibung serenc. " L h e r m e t (1931), S. 15f.

IV,

189 Ou forây sul bèspre, je le ferai dans l'après-midi.« 34 »SER, SÉRO, s. m. Soir, le soir. Bendrây oqueste ser, je viendrai ce soir.« 35 Demgegenüber zeigt sich im ALMC weder im Dep. Aveyron noch im Südwesten des Dep. Cantal eine Spur von vèspre, was letztlich .darauf schließen läßt, daß vèspre entweder geschwunden ist oder daß die Art der Fragestellung, die für die Enquête Nautons verwendet wurde, nicht geeignet war, den Typ zu ermitteln. Wird ein Schwund von vèspre angenommen, so müßten dafür plausible Gründe vorgebracht werden können, etwa Ersatz durch die Lehnbildung après-miègjorn ; aber auch hierfür geben die Karten des ALMC keinen Anhaltspunkt. Wir sind hier etwas ausführlicher auf das Problem der inhaltlichen Bestimmung von ser und seine möglichen Konkurrenten après-miègjorn und vèspre eingegangen, weil einerseits die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungspunkte des ALMC diesen Typ als alleinige Bezeichnung der Zeit von Mittag bis zur Nachtruhe aufweist, während wir andererseits für den P. 14 von der gesicherten Existenz eines Konkurrenten von ser ausgehen können, der zusammen mit ser den Zeitraum sprachlich gliedert. Die lexikalische Struktur des Feldes der Tageszeiten am P. 14, wie sie der ALMC verzeichnet, ergibt folgende Gliederung: jorn — matin

nueit

Unser Einwand richtet sich nicht gegen die darin zum Ausdruck kommende inhaltliche Struktur, die grundsätzlich möglich ist, wie Bouvier nachweist 36 , sondern gegen den Ausdruck zur Bezeichnung der Zeit von Mittag bis zur Nachtruhe. Da sich - wie wir schon erwähnten - dieses Problem an weiteren Punkten sowohl des ALMC allgemein als auch in unserem Untersuchungsgebiet stellt, werden wir nach der Betrachtung der Strukturen an den einzelnen Untersuchungspunkten noch darauf einzugehen haben 37 .

34

Vayssier (1879), S. 20b; siehe dort auch S. 178b, s. v. DINÂ: »Contrairement à l'usage de Paris et des grandes villes où on dîne le soir, le dîner a lieu de neuf heures à midi selon les diverses classes de personnes. De là vient que l'expression oprès dinâ signifie après-midi, dans la soirée.« 35 Vayssier (1879), S. 582b. 36 Cf. Bouvier (1976), S. 362. " S i e h e unten S. 198ff.

190

5.2.3.

Die »Tageszeiten« am P. 17 (Murat)

Am P. 17 ermittelten wir die gleichen Lexeme zur Bezeichnung der Tageszeiten wie sie auch die Karten des ALMC verzeichnen. Zunächst findet sich dort wieder die inklusive Opposition zwischen jorn und nueit in den Satzbeispielen: Set jorns fan una setmana. Lo jorn trabalham, la nueit dormem. Lo solelh se leva, aquo es lo jorn qu'arriba. Zur sprachlichen Aufteilung des durch jorn bezeichneten Zeitraums mit Helligkeit werden matin, apres-miegjorn und vespre in äquipollenter Opposition verwendet, wobei matin den Zeitraum bis Mittag, apres-miegjorn den Zeitraum von Mittag bis Sonnenuntergang und vespre die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Nachtruhe bezeichnet. In der Stundenzählung wird deshalb matin für 1-11 Uhr, apres-miegjorn für 13-17 Uhr, vespre für 18-23 Uhr als Bestimmung verwendet. Die Opposition zwischen den Lexemen kommt in folgenden Satzbeispielen zum Ausdruck: Lo matin trabalham dins los camps d'aqui a miegjorn. Lo matin e l'apres-miegjorn trabalham, mas lo vespre nos repausam. L'apres-miegjorn s'acaba a la tombada de la nueit. Lo vespre, aquo es la darrierapartida deljorn. Lo vespre comenca a la tombada de la nueit. Los vesins se reunisson lo vespre per faire la velhada. Arsera de vespre avem fait la velhada. Es zeigt sich, daß am P. 17 die gleichen inhaltsunterscheidenden Züge wie am P. 14 funktionieren, mit Ausnahme des dort festgestellten Sems s 6 >BeginnAbend< am benachbarten Punkt 17 (Murat). Der Hinweis des Informanten scheint darauf hinzudeuten, daß ihm die unterschiedliche Bedeutung der beiden lexikalischen Typen bewußt ist.

192

Bevor wir näher auf die Kontexte und das inhaltliche Verhältnis zwischen [basera] und après-miègjorn eingehen, scheint uns eine kurze Bestimmung des Ausdrucks [basera] erforderlich zu sein. Der Typ erscheint bereits auf den Karten 1238 »soir« und B1711 »la soirée« des ALF am P. 719, also in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Punktes 18. Für die gleiche Gegend, die Planèze de St-Flour, belegt ihn auch G. Herzig in der Gemeinde Vabres39. Ferner ist er im ALMC III, Karte 1433 an den Punkten 18 und 43 aufgeführt 40 . Demgegenüber wird der Typ im FEW 11, s. v. SERO nicht erwähnt. Zur Lautung ist festzustellen, daß der Tonvokal [e] extrem geschlossen ist, so daß sich eine starke Affinität zu [i] ergibt. So notiert G. Herzig den Typ auch mit [i]. Den unbetonten Auslaut haben wir mit [a] notiert; er entspricht in seiner Qualität jedoch eher dem germanischen Schwa als dem frz. e muet. Im FEW finden wir in ähnlicher Bedeutung und ähnlicher Lautung einen Typ basse heure mit folgenden Belegen: Mfr. basse heure »heure anvancée, le soir« (ang. poit. 16. jh.), Loirel la basœr »la brume, le crépuscule« ALFSuppl 31, nant. basse-heure, bmanc.ang. id., mang, à la basse heure »de 16h (en été), de 14 l / 2 h (en hiver) au coucher du soleil«, ( . . . ) Fontenay basse-heure »soir«, bgât. de basse-heur »sur le tard«, Saintes abasseure f. »temps qui sépare le midi de la fin du jour solaire«, (.. ,)41.

Aus zwei Gründen glauben wir, unseren Typ [basera] nicht mit diesem Typ basse heure gleichsetzen zu können. Dabei scheint zum einen das Genus ein gewichtiges Argument zu sein: der in Villedieu und in der Planèze auftretende Typ ist maskulin. Ein zweites Argument liefert die Lautung. Üblicherweise wird HORA am P. 18 realisiert als [ura]; für AD-HORAM notiert G. Herzig in Bégut-les-Vabres [äzara]42. Demgegenüber erscheint SERO, SERA43 am P. 18 in der Verbindung HERI-SERA als [arsera]; die Identität der Tonvokale in diesem und dem hier interessierenden Typ wird besonders deutlich in der Entsprechung von frz. hier-soir, das im ALMC und nach unserer Enquête in Villedieu in der Lautung [arsera lu basera] auftritt 44 . Als erstes sehen wir darin einen Anhaltspunkt, daß es sich bei dem Typ [basera] um eine Verbindung mit SERO, SERA handelt, nicht jedoch um eine solche mit HORA. Die Grundlage der ersten Silbe des Wortes scheint 39

Cf. Herzig (1959), S. 133, s. v. SERA. Zum P. 43 siehe unten S. 196ff. 41 Von Wartburg {FEW) 4, s. v. HORA, S. 471a. 42 Cf. Herzig (1959), S. 121, s. v. HORA. 43 Nach von Wartburg ( F E W ) 11, S. 518b finden sich in allen okzitanischen Dialekten fast ausschließlich Maskulina, teils auf SERUM, teils auf SERA zurückgehend. Wir notieren hier als ser die maskulinen Formen ohne Auslautvokal, als sera jene mit Auslautvokal [s, o]. Gleiches gilt für arser, arsera, das in unserem Untersuchungsgebiet jedoch nur mit Auslautvokal erscheint. 44 Cf. Nauton (ALMC) III, Karte 1439. 40

193 die Präposition vers zu sein, die Alibert neben der Form devèrs nennt und für die er, ohne Lokalisierung, die Lautvariante [bas] anführt 4 5 . Damit liegt am P. 18 ein nach der Bildung gleicher Typ wie am P. 13 vor, deren Parallelität ins Auge fällt: [debastara] von P. 13 hatten wir mit devèrs-tard identifiziert und notiert; ebenso muß [basers] am P. 18 in der Graphie als vèrs-sera erscheinen. Bezüglich der inhaltlichen Bestimmung von lo vèrs-sera lassen sich folgende Verwendungen anführen, die wir am P. 18 erhalten haben: Für ein Gewitter, das gegen 15 Uhr stattfindet, kann man sagen: Aqueste vèrs-sera, o aqueste après-miègjorn, i aura un auradge. Finde es später statt, sei nur noch vèrs-sera möglich. Lo vèrs-sera, los vesins venon per velhar. Bezüglich eines Ereignisses kann man fragen: S'es passai lo matin o lo vèrs-sera?, wobei man frage, ob es sich vor oder nach Mittag abgespielt habe. Umgekehrt könne man aber auch für die Zeit nach Mittag fragen: S'es passai l'après-miègjorn o lo vèrs-sera? Wie vorauszusehen war, lassen sich mittels der Übersetzungsmethode präzise inhaltliche Aussagen nur über die frühere oder die spätere Zeitspanne der Zeit nach Mittag ermitteln, da im Französischen hierfür nur spezifische Einheiten zur Verfügung stehen. Daher erhielten wir grundsätzlich bei der Vorgabe »après-midi« als Antwort après-miègjorn, bei der Vorgabe »soir« stets vèrs-sera. Aus diesem Grund messen wir hier der Stundenzählung besondere Bedeutung bei. Wie an anderen Punkten dient matin als nähere Bestimmung für 1-11 Uhr; für 13-16 Uhr wird après-miègjorn und vèrs-sera verwendet; von 16-23 Uhr jedoch ausschließlich vèrs-sera. Wir können somit zusammenfassend festhalten, daß am P. 18 wiederum eine binäre Opposition zwischen matin und vèrs-sera mit dem Inhaltsmerkmal >vor/nach Mittag< besteht. Innerhalb des durch vèrs-sera bezeichneten Zeitraums steht après-miègjorn zur Bezeichnung der früheren Zeit zur Verfügung, während die spätere Zeit bis zum Schlafengehen mit vèrssera bezeichnet wird. Analog zu P. 13 funktionieren innerhalb des Feldes der Tageszeiten am P. 18 folgende Inhaltsmerkmale: s, s2 s3 s4

>Zeitraum (innerhalb) v o n 24 Stunden< >hell< >vor Mittag< >früh
nicht (früh)< ergibt im Kommutationsverfahren unmittelbar das neutrale, extensive Glied, hier vèrs-sera.

45

Cf. Alibèrt (1976), S. 233.

194 Die Matrixdarstellung zeigt folgende Relationen zwischen Semen und Lexemen: •

Seme

s,

S2

jorn

+

(+)

nuèit

+

-

matin

+

+

+

vèrs-sera

+

+

-

après-miègjôrn

+

+

-

Lexeme

Sj

s*

+

Schematisch zeigt das Feld folgende Strukturierung: jorn matin

vers-sera

nueit

apres-miegjorn

Da der ALMC am P. 18 für die Zeit nach Mittag nur ein Lexem, vèrs-sera, anführt, kann davon ausgegangen werden, daß der Lokolekt ursprünglich keine lexematische Einheit zur Bezeichnung des Nachmittags (in Opposition zum Abend) zur Verfügung hatte. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der entsprechende Zeitraum nicht hätte bezeichnet werden können. So verzeichnet der Untersuchungspunkt 719 des ALF46, der unserem P. 18 unmittelbar benachbart ist, den Typ après-miègjorn als >Nachmittaghell< s 3 >erste Hälfte< s 4 >zweite Hälfte< s 5 >Ende


Sj

Ss

^^^^^

+ + +

196 Daraus abgeleitet läßt sich die Strukturierung des Feldes wie folgt darstellen: • jorn matin

apres-miègjorn

nueit

Der Vergleich mit den Angaben des ALMC zeigt, daß das Feld der Tageszeiten am P. 41 auch diachron eine konstante Strukturierung aufweist, d. h. daß der Gallizismus après-miègjorn schon zur Zeit der Enquête Nautons fest im System des Lokolekts etabliert war. Auch in dieser Hinsicht gleichen sich die beiden Lokolekte von Murat (P. 17) und St-Jacques-desBlats (P. 41). Wir werden weiter unten noch näher auf diese Parallelität eingehen.

5.2.6.

D i e » T a g e s z e i t e n « a m P. 43 ( P a u l h e n c )

Die Strukturierung des Feldes der Tageszeiten am P. 43 ist mit derjenigen am P. 41 absolut identisch, wobei auch die gleichen Ausdruckseinheiten wie dort auftreten. Dies impliziert zunächst eine inklusive Opposition von jorn [nuèit] mit dem Sem >Helligkeit1. Hälfte< / >2. Hälfte< / >Endemit einem scharfen Instrument bearbeitenObjektbezug
entästenschneiden< beinhaltet, son" Dies ist ein hier vorweggenommenes Teilergebnis unserer Analyse, das wir noch nachweisen werden.

216 dern eine sekundäre Struktur zu branca >Ast< darstellt, haben wir es aus unserem Wortfeld ausgeklammert, wenngleich wir glauben, in dieser Richtung bei näherer Untersuchung auf weitere Strukturierungen zu stoßen, die allerdings weitgehend sekundäre Einheiten umfassen 12 . Von den Informanten ebenfalls als möglich, wenn auch nicht unbedingt als sehr gebräuchlich bezeichnet wurde die Kommutation in copar lo terme / podar lo terme. Zwar werde podar weniger in bezug auf Hecken und Büsche gebraucht, doch verstehe man, daß im ersten Fall die Hecke entfernt werde, während im zweiten Fall alle abstehenden Äste abgeschnitten werden. Weitere Beispiele für die Opposition copar / podar konnten wir nicht ermitteln. copar / talhar Ebenfalls an allen Untersuchungspunkten funktioniert die Opposition zwischen copar und talhar in den gleichen Kontexten wie oben: copar l'arbre / talhar l'arbre; copar lo terme / talhar lo terme. Wiederum besteht der hier relevante Inhaltsunterschied im Objektbezug: bei copar wird das Objekt als solches abgetrennt; bei talhar wird das Objekt äußerlich verändert, indem es - im weitesten Sinne - beschnitten wird. copar / tondre Besonders deutlich wird der unterschiedliche Objektbezug in der Kommutation von copar und tondre. Zunächst läßt sie sich wieder in copar lo terme / tondre lo terme durchführen und bezieht sich auf eine ähnliche Tätigkeit wie in den oben genannten Fällen 13 . Des weiteren haben wir den unterschiedlichen Objektbezug in einem aussagekräftigen Beispiel an allen Untersuchungspunkten bestätigt gefunden: Mon fraire s'es fait copar los pels. / Mon fraire s'es fait tondre. Nach Auskunft aller Informanten wird * s'es fait tondre los pels als falsch empfunden. Neben dem unterschiedlichen Objektbezug zeigt dieses Beispiel außerdem noch einen weiteren inhaltlichen Unterschied, der zwischen copar und tondre besteht. Während copar der neutrale, allgemeine Terminus des Schneidens in bezug auf ein genanntes Objekt ist, kommt tondre außerdem noch der Inhalt >besonders kurz< zu. Weitere Verwendungen von tondre in Opposition zu copar finden sich ferner an allen Punkten in tondre las fedas (las olhas (P. 14), los motons (P. 13,43)14) >die Schafe scheren< gegenüber descopar una feda >ein Schaf 12

So verwenden einige Lokolekte in unserem Untersuchungsgebiet als Bezeichnungen für »entästen« escimar, descimar, escapogar; siehe dazu auch Nauton (ALMQ I, Karte 243 »élaguer« und (ALMC) II, Karte 1028 »ébrancher«. 13 Zu den zwischen den Einheiten tondre, talhar und podar bestehenden Inhaltsunterschieden siehe weiter unten. 14 Es handelt sich hier um den generellen Begriff »Schaf« als Antwort auf unsere Frage: »tondre les moutons«. An den meisten Punkten erscheint hierfür das Femininum; am P. 18 neben las fedas auch los motons.

217 zerteilen< (wenn es geschlachtet wird). Ebenso in tondre la pelouse15 gegenüber copar l'èrba ; *copar la pelouse wurde nicht akzeptiert, wie auch für das abgelehnte * copar lo prat nur dalhar lo prat als richtig bezeichnet wurde. Die Beispiele zeigen - unabhängig von weiteren inhaltlichen Differenzen - einheitlich einen unterschiedlichen Objektbezug, den wir mit den Semen 2a (für copar) und 2b (für tondre) festgehalten haben. copar / capusar / clapar Das Verb capusar ist im Untersuchungsgebiet allgemein verbreitet und bezeichnet eine Art des Schnitzens, des Zurechtschneidens. Es wird ausschließlich für Holz gebraucht, das zu einem bestimmten Zweck verwendet werden soll. An allen Untersuchungspunkten bedeutet das Verb >enlever des copeauxanspitzenlange und dicke Holzstücke, Scheite Spaltern gegenüber clapar los rolhons >mit der Axt die Rinde und die Unebenheiten entfernenHolz (zer-)hacken< gegenüber clapar de bòsc >mit der Axt behauen< »pour en faire quelque chose« (Informant am P. 41). In gleicher Weise lassen sich an den Punkten 41 und 43 auch estelar und clapar kommutieren : estelar un rolhon >der Länge nach spalten< gegenüber clapar un rolhon >behauenmit einem scharfen Instrument bearbeiten< + >am Äußeren des Objekts ver-

15

Die Informanten konnten auf unsere Frage »tondre le gazon« nur den Gallizismus pelouse als Bezeichnung des Zierrasens angeben. Vgl. jedoch das inhaltlich anders gelagerte »gazon« bei Nauton ( A L M C ) II, Karte 923.

218 haftet bleiben< + >dem Objekt eine bestimmte Form geben< zukommt 1 6 . Formelhaft mit den oben aufgelisteten Inhaltszügen ausgedrückt läßt sich capusar an allen Untersuchungspunkten beschreiben als >Archilexem + 2b + 2cModalität der Handlung< aufgrund der an diesen beiden Punkten funktionierenden Opposition zu clapars ine weitere Präzisierung sowohl von clapar = >Archilexem + 2b + 2c< als auch von capusar. Demgegenüber haben wir in den hier aufgeführten Oppositionen innerhalb der Dimension >Objektbezug< copar stets ermittelt als >das Objekt als Ganzes durchdringen^ so daß der Inhalt von copar beschrieben werden kann als: >Archilexem + 2aModalität d e r H a n d l u n g
sachkundig< am besten der sprachlichen Bedeutung von talhar entspricht. Zusammen mit dem bereits oben nachgewiesenen Inhaltszug 2b >am Äußeren des Objekts verhaftet bleiben< läßt sich talhar beschreiben als >Archilexem + 2b + 3afür Unbelebtes< / >für Belebtes< auszugehen. Somit können wir retalhar als Quantifizierung von talhar betrachten und innerhalb des Wortfeldes eine lexematische Einheit talhar ansetzen, der der bereits oben beschriebene Inhalt entspricht. podar / tondre Nach den oben angeführten Beispielen zu podar ließe sich als differentieller Inhalt des Lexems >radikal< oder >sehr kurz< in Opposition zu talhar ermitteln. Wenn wir hier noch podar mit tondre kommutieren, so in der Absicht, einerseits die différentielle Bedeutung von podar genau zu ermitteln, andererseits auch tondre inhaltlich zu definieren. Nach Aussagen der Informanten beinhaltet podar lo tèrme vor allem das Abhacken der Äste, während bei tondre lo tèrme lediglich die jungen Triebe extrem kurz geschnitten werden. In beiden Fällen ist der Objektbezug wieder nur indirekt, das heißt, am Äußeren des Objekts wird durch einen Akt des Schneidens etwas entfernt. Dabei erweist sich der Inhaltszug >grob< für podar sowohl in Opposition zu talhar >sachkundig< als auch zu tondre >extrem kurz< als der sprachlich konstante und dominierende innerhalb der Dimension der Modalität. Der gesamte différentielle Inhalt von podar läßt sich also beschreiben als >mit einem scharfen Instrument bearbeiten< + >am Äußeren des Objekts verhaftet bleiben< + >Modalität: grobArchilexem + 2b + 3cextrem kurz< genannt. Dieser différentielle Inhalt kommt auch in zwei weiteren Verwendungen zum Ausdruck: mon fraire s'es fait copar los pels / s'es fait tondre. Auf die Frage nach dem inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken nannten alle Informanten für tondre »a ras«, so daß gelten kann: copar + >à ras< = tondre ; ebenso bezeichnet copar l'èrba bzw. dalhar l'èrba, dalhar lo prat das »normale« Schneiden ohne Betonung einer bestimmten Modalität, während durch tondre la pelouse wiederum der Inhaltszug >à ras< besonders betont wird. Somit können wir innerhalb der Dimension der Modalität den Inhalt von tondre beschreiben als >extrem kurz< (das frz. >à ras< wäre jedoch vorzuziehen, weil es den Inhaltszug besser wiedergibt). Formalisiert besitzt tondre den Inhalt: >Archilexem + 2b + 3bdem Objekt eine bestimmte Form gebenEntfernen von Rinde und Astansätzen< bzw. als >anspitzen< realisiert, gegenüber dem feineren, formenden Schneiden vorwiegend mit einem Messer. Vgl. clapar una estèla per faire un piquet / capusar un estelon per faire un marque (>manche, poignéemit einem scharfen Instrument bearbeiten< + >am Äußeren des Objekts verhaftet bleiben< + >dem Objekt eine bestimmte Form geben< ergibt sich als differentieller Inhaltszug für clapar / capusar >grob< / >feinArchilexem + 2b + 2c + 3cArchilexem + 2b + 2c + 3ddas Objekt als Ganzes durchdringen< innerhalb der Dimension der Modalität. Es sind dies die an den Untersuchungspunkten in unterschiedlicher Anzahl vertretenen Lexeme des Spaltens sowie das an nur zwei Punkten gebräuchliche Lexem trençar10. trençar / copar Das Lexem trençar konnten wir nur an den Punkten 13 und 17 ermitteln, wobei es nicht spontan von den Informanten genannt wurde, sondern erst auf direktes Befragen nach Existenz und möglichen Verwendungen auftauchte. Dies legt die Vermutung nahe, daß es sich an diesen beiden Punkten bei trençar um ein Hypolexem zu copar handelt, das also eine inhaltliche Präzisierung vermittelt, die normalerweise nicht gemacht wird. Die wenigen Kontexte, in denen das Lexem mit copar kommutierbar ist, stellen daher auch für die différentielle Inhaltsbestimmung ein großes Problem dar. Kommutationen mit anderen Einheiten scheinen vom Sprachsystem her möglich zu sein, werden aber von den Informanten als nicht gebräuchlich bezeichnet.

20

Gerade bei der Ermittlung und inhaltlichen Untersuchung von trenfar wird deutlich, daß eine Analyse von Einheiten, die mittels einer mündlichen Befragung gesammelt werden, die Unterscheidung zwischen dem funktionellen Sprachsystem und der traditionell fixierten Norm einer Sprache nicht immer mit zufriedenstellender Präzision erbringen kann. Nach unserer Befragung zwängt sich die Vermutung auf, daß trenfar an allen Untersuchungspunkten möglich ist. Demgegenüber konnten nur zwei Informanten einige wenige Verwendungsmöglichkeiten von trenfar angeben, und dies auch nur auf Kontextvorschläge von uns. An den anderen Punkten wurde das Verb zwar verstanden, aber in allen Kontexten als nicht gebräuchlich abgelehnt.

222 In folgenden Kontexten läßt sich trençar mit copar an den beiden Untersuchungspunkten kommutieren: copar la tèsta a un condemnat / trençar la tèsta a un condemnat, nicht dagegen in copar la tèsta a una pola. Möglich, wenn auch nicht sehr gebräuchlich ist an beiden Punkten trençar una veta >trancher une ficelle< für copar una veta. Demgegenüber wird trençar nie für Lebensmittel irgendwelcher Art verwendet. Möglich ist jedoch trençar las brancas >Äste abhacken< bzw. trençar de brancas >Äste mit der Axt durchtrennendas Objekt durchdringen bzw. a b trennen^ den wir auch für copar ermittelt haben. Im Unterschied zu diesem scheint es jedoch den glatten, präzisen Schnitt oder Schlag mit einem sehr scharfen Instrument zu beinhalten, mit dem das Objekt unmittelbar durchdrungen bzw. abgetrennt wird. Dieses Sem scheint gegenüber dem Inhaltszug >quer< zu dominieren, der den angegebenen Verwendungen ebenfalls entnommen werden könnte und auch in dem etwas makabren Beispiel trençar la tèsta / fendre la tèsta >quer< / >längs< zum Ausdruck kommt. Demgegenüber kann unter Umständen auch fendre de bòsc mit gleichem Sachbezug durch trençar de bòsc ersetzt werden, wobei wiederum der präzise, glatte Schlag dominiert. Somit kann trençar inhaltlich beschrieben werden als copar + >mit einem präzisen, glatten Schnitt oder Schlaga wofür wir in kurzer Formulierung das Sem 3f >präzise< verwenden. Zusammengefaßt stellt sich der différentielle Inhalt von trençar dar als: lArchilexem + 2a + 3flängs< bezeichnet haben 21 . Damit soll eine in ihrer Richtung auf das zu durchtrennende Objekt festgelegte Handlung vorläufig kollektiv bezeichnet werden, wobei wir noch sehen werden, daß eine weitere Differenzierung der Einheiten, sofern an einem Punkt mehrere Lexeme zum Ausdruck dieses Inhalts zur Verfügung stehen, erst innerhalb der Dimension »Resultat der Handlung< erfolgt. Die relativ große diatopische Variation innerhalb dieses Begriffsbereichs »spalten« macht dabei eine nach Lokolekten getrennte différentielle Analyse erforderlich. Am P. 13 haben wir das Sem 3e innerhalb der Dimension >Modalität< als differentiellen Inhaltszug gegenüber copar für die Lexeme fendre, escartairar und estelar ermittelt. In diesem Lokolekt stellt fendre dabei ein 21

Dieser Inhaltszug ist dabei nicht notwendigerweise zu verstehen als ein Durchtrennen des Objekts parallel seiner größten Ausdehnung, sondern vielmehr entsprechend seiner natürlichen Struktur. Dies scheint der Grund dafür zu sein, weshalb fendre nicht grundsätzlich auf die Längsteilung länglicher Objekte angewendet werden kann (cf. * f e n d r e lo pan), sondern stets nur solche harten Objekte betrifft, die eine natürliche oder gewachsene Struktur aufweisen.

223 partielles Archilexem für den Inhaltszug >längs< dar, so daß kontextbedingt zumeist entweder escartairar oder estelar als spezifischer Inhalt erscheint. Hinzu kommt die Präferenz des Lokolekts für eine Art Neutralisierung in dem Lexem pegar, dessen Inhalt >in Stücke teilen, hauen, schneidern weit über den Inhalt des Archilexems hinausreicht (cf. pegar lo pörc, despegar una peira, pegar la carn, pegar un arbre). Aus diesen Gründen ist kein Kontext zu finden, in dem fendre allein auftreten kann. In dem Beispiel fendre, escartairar, estelar un arbre / copar un arbre kommt den drei ersten Lexemen gemeinsam der Inhalt >längs< zu, während copar zweideutig ist: es kann entweder das Fällen des Baumes oder dessen Aufteilung in Stücke beinhalten. Ebenso bezeichnet copar de bdsc indifferent das Zerteilen des Holzes mit einem scharfen Instrument, während fendre de bdsc die Richtung >längs< festlegt. Fendre, escartairar und estelar kommt damit gemeinsam das Sem 3e >längs< zu. In ähnlicher Weise funktionieren am P. 14 die Lexeme fendre, escartelar, escartairar, estelar in der Bedeutung >spaltenlängslängs< erbrachte. Demgegenüber wird am P. 18 der Begriff »spalten« nur durch zwei Lexeme, fendre und esclapar, ausgedrückt, die gegenüber copar in copar de bdsc und anderen Kontexten das Sem 3e >iängs< besitzen. An den Punkten 41 und 43 hingegen steht für »spalten« nur estelar zur Verfügung. Die an den anderen Punkten verwendeten Ausdruckseinheiten waren den Sprechern teils unbekannt, teils wurden sie als am Ort ungebräuchlich zurückgewiesen. Estelar bezeichnet an diesen Punkten einheitlich sowohl das Zerteilen eines großen Stammes in Scheite {estelas), als auch das Spalten relativ kurzer, dicker Stücke in kleine Scheite zum Verbrennen (estelons). Da an diesen Punkten keine weiteren Lexeme mit dem Inhaltsmerkmal 3e >längs< vorkommen, kann der Inhalt von estelar beschrieben werden als >Archilexem + 2a + 3eResultat d e r H a n d l u n g
Resultat der Handlung< zusammengefaßt haben. Dabei ergibt sich die praktische Schwierigkeit, daß die einzelnen Einheiten sich im Hinblick auf das intendierte Resultat diatopisch stark unterscheiden, so daß wir eine große Anzahl von Semen aufzuzählen hätten,

224 die jeweils nur an einem Punkt funktionieren. Nach genauer Analyse der Lexeme kommen wir aber zu der Überzeugung, daß der diatopische Vergleich dieser Teilstrukturierung am besten ermöglicht wird, wenn wir Inhaltsmerkmale wie >lange und dünne Stückekurze und dicke Stücke< an einem Punkt gegenüber >dicke Stückedünne Stücke< an einem anderen Punkt in Minimaleinheiten aufteilen, die nur innerhalb unseres konstruierten diatopischen Systems Gültigkeit besitzen, nicht jedoch notwendigerweise einzeln auch in bestimmten Lokolekten funktionieren. Dort kommen den Lexemen entweder die Inhaltseinheiten isoliert oder aber in Kombination zu, wobei die Kombination für ein Lexem als ein Inhaltsmerkmal zu betrachten ist. Daraus wird ersichtlich, daß wir uns zumindest in der Tendenz bei der Festlegung der Seme von einzelsprachlichen Inhaltsmerkmalen entfernen und in die Nähe von übereinzelsprachlichen, hier weitgehend sachlichen Unterscheidungen gelangen. Diese Gefahr des Verlassens der Ebene der Sprache versuchen wir dadurch zu vermeiden, daß wir nicht untersuchen, welche außersprachlichen Objekte von den Lexemen intendiert werden können, sondern welche sachlichen Unterscheidungen in der lexematischen Einheit impliziert sind und somit tatsächlich mit zum lexematischen Inhalt des Wortfeldgliedes gerechnet werden müssen. Wie bereits erwähnt, funktionieren am P. 13 drei Lexeme mit dem Inhalt >mit einem scharfen Instrument ein Objekt als Ganzes längs durchdringenc fendre, escartairar, estelar. Der Inhaltsunterschied zwischen den Einheiten wird deutlich, wenn wir die Bezeichnungen der mittels der durch die Verben ausgedrückten Handlungen gewonnenen Objekte anführen. Am P. 13 wird als escartaira ein dickes Scheit mit einer Länge zwischen einem und drei Metern bezeichnet, das durch die mit escartairar bezeichnete Handlung aus einem Teilstück eines Baumes gewonnen wird. Anders gesagt: ein gefällter Baum wird mit der Säge in Stücke zerteilt, die rolhons genannt werden. Diese Rundstücke werden entweder in dicke Scheite (escartairas) oder in dünnere Scheite (estelas) gespalten. Die entsprechenden Handlungen werden mit escartairar und estelar bezeichnet, wobei für beide auch fendre eintreten kann. Als Beispiele haben wir bekommen: escartairar un rolhon / estelar un rolhon mit dem differentiellen Inhalt >für dicke Stücke< / >für dünne Stückevier< zu, den sie etymologisch ursprünglich besaßen. Ferner ist auch die Länge des gespaltenen Stücks sprachlich nicht relevant, da escartairar und estelar auch dann verwendet werden, wenn kurze Rundstücke in dikke (escartairar) oder dünne (estelar) Scheite gespalten werden. Die kurzen, dünnen Holzscheite werden estelons genannt; werden sie - was normalerweise nicht üblich ist - weiter gespalten, so verwenden die Sprecher wie auch beim Zerhacken von Ästen pegar.

225 Zusammenfassend können wir die Teilstruktur »spalten« am P. 13 wie folgt darstellen: fendre escartairar

escartelar

estelar

Fendre verhält sich in bezug auf das Resultat der Handlung indifferent, während escartairar der Inhaltszug 4c >für dicke Stückefür dünne Stücke< zukommt. Daß diese Unterscheidung sprachlichintuitiv ist und nicht auf objektiv meßbaren Kriterien beruht, braucht hier nicht näher begründet zu werden. Eine andere lexematische Aufteilung des Begriffs »spalten« findet sich am P. 14, wo wir vier Lexeme mit dem distinktiven Inhaltsmerkmal 3e >längs< ermittelt haben: fendre, escartairar und estelar. An diesem Untersuchungspunkt nannten uns die Informanten folgendes Verfahren des Spaltens von Stämmen. Der Stamm wird zunächst wieder in zwei bis drei Meter lange rolhons zersägt. Je nach beabsichtigtem Verwendungszweck wird dieses Rundstück in dünne, lange Scheite (escartelas) gespalten, die z. B. als piquets >Zaunpfähle< Verwendung finden. Dieser Vorgang wird als escartelar bezeichnet. Um Feuerholz zu gewinnen, wird der Stamm zunächst in dicke escartairas gespalten, wobei wiederum die Dicke des Scheits, nicht die Anzahl vier im Vordergrund steht. Diesen Vorgang bezeichnet man als escartairar. Die escartairas werden dann in kürzere Stücke von etwa einem Meter Länge zersägt (ressegar) und in dünnere Scheite (estelas) gespalten. Dies wird mit estelar bezeichnet. Die kleinen Stücke zum Verbrennen werden estelons genannt; sie werden teils durch Sägen, teils durch weiteres Spalten gewonnen, wofür kein eigenes Lexem zur Verfügung steht. Man verwendet hier allgemein faire d'estelons. Nach diesen Vorinformationen konnten wir anhand von spezifischen, dem Lokolekt angemessenen Kontexten den inhaltlichen Unterschied zwischen den einzelnen Lexemen für »spalten« ermitteln. So nannten die Informanten als Unterschied zwischen escartelar un rolhon und excartairar un rolhon die Dicke der gewonnenen Stücke, während zwischen escartelar de böse und estelar de bosc die Länge distinktiv ist: escartelar für lange Stücke, estelar für kürzere Stücke. Dagegen können kurze, dicke Stücke nicht, wie am P. 13, als escartairas bezeichnet werden. Wie am P. 13 kann fendre als im Hinblick auf das Resultat der Handlung indifferenter Terminus in allen Kontexten vorkommen. Damit kann die Struktur dieses Teilfeldes »spalten« schematisch wie folgt dargestellt werden:

226 fendre escartairar

estelar

Den einzelnen Lexemen kommen folgende differentiellen Inhalte zu: fendre = >mit einem scharfen Instrument bearbeiten< + >das Objekt als Ganzes durchdringen + >Modalität: längs< = >Archilexem + 2a + 3efür lange und dünne Stücke< = >Archilexem + 2a + 3e + 4adfür lange und dicke Stücke< = >Archilexem + 2a + Je + 4acfür kurze und dünne Stücke< = >Archilexem + 2a + 3e + 4bdResultat der Handlung< das Sem 4c >für dicke Stückedick< / >dünndick< / >dünn< und >lang< / >kurzlängslängs< kann somit wie folgt beschrieben werden: fendre = >mit einem scharfen Instrument bearbeiten< + >das Objekt als Ganzes durchdringen< + >Modalität: längs< = >Archilexem + 2a + 3efür dicke Stücke< = >Archilexem + 2a + 3e + 4cfür lange und dicke Stücke< = >Archilexem + 2a + 3e + 4acfür kurze und dünne Stücke< = >Archilexem + 2a + 3e + 4bdFleisch hacken< / >Fleisch zerschneiden< einen inhaltlichen Unterschied in bezug auf das Resultat der Handlung: bei achar werden extrem kleine Stücke gewonnen, bei copar dagegen nicht näher definierte Stücke. Das gleiche Ergebnis erbringen auch die Kommutationen achar / copar de cebas >Zwiebeln hacken< / >kleinschneidenNüsse kleinhacken< (auf den Vorschlag * copar de nogas bekamen wir ziemlich einheitlich die Antwort: »Cela ne se fait pas.«). Während wir bei harten Materialien eindeutige Antworten erhielten, existieren an den einzelnen Untersuchungspunkten noch weitere Bezeichnungen vor allem für das Zerkleinern von Fleisch: chaplar und chapiar scheinen sich auf eine Art Zermalmen von Fleisch in einer Maschine (la chapieuse [tsapjceza], ungefähr >FleischwolfStraße innerhalb eines Ortes< aufgefaßt werden muß, während nach unserer Untersuchung das Lexem einen schlecht unterhaltenen, kaum befahrbaren Feldweg, nicht jedoch eine Straße oder einen Weg im Dorf bezeichnet. Weitere Unterschiede zum ALMC ergeben sich daraus, daß wir versuchen, die sprachliche Bedeutung zu ermitteln, während im Sprachatlas Bezeichnungen aufgeführt sind, deren zentrale sprachliche Bedeutung aber nicht innerhalb des von uns gewählten inhaltlichen Rahmens liegt. Auch hier kann nicht übersehen werden, daß wir zunächst Bezeichnungen f ü r Objekte der außersprachlichen Wirklichkeit gesammelt haben und möglicherweise nur unvollkommen bis zur sprachlichen Bedeutung der Lexeme vordringen konnten. Andererseits glauben wir aber, 3

Cf. Nauton ( A L M C ) I, Karte 118.

234 mit unserem eher semasiologischen Verfahren vom Ausdruck ausgehend zumindest die Normbedeutung unzweideutig erfaßt und durch eine différentielle Inhaltsanalyse auch die Systembedeutung der Einheiten weitestgehend ermittelt zu haben.

7.2.

Lexematische Analyse des Feldes

7.2.1.

Das Feld »Verkehrsweg« am P. 13 (Landeyrat)

In Landeyrat funktionieren innerhalb des Feldes folgende Einheiten: 4 la rota >Straße allgemein, für Autos, geteert< ; lo camin5 >Feldweg außerhalb des Ortes, für Fahrzeuge, Fußgänger und Tiere, »pour passer aisément«alter, nicht mehr unterhaltener Fahrweg, schlecht zu befahren, »encaissée, presque démolie«kurze Zufahrt zu einem Stück Land, vorwiegend Einfahrt in den Wald für den Holztransport< ; lo carrairon% >kleiner, befahrbarer Weg oder kleine Straße innerhalb eines Ortes, ohne bestimmte Oberfläche.. .< gekennzeichneten Inhaltsangaben stellen die Summe der uns von den Informanten mitgeteilten Präzisierungen dar; mit »...« markieren wir wörtliche Zitate der Informanten. 5 Bei camin handelt es sich zweifellos um die allgemeinste Bezeichnung eines beliebigen Verkehrsweges. »Le type général est * camminus: Il peut s'appliquer à toutes les voies de communication, grandes ou petites.« Camproux (1971), S. 177. - »Camminus ist wohl von allen Wegbezeichnungen auf gall. Boden am verbreitetsten.« Hochuli (1962), S. 68. - Siehe dazu auch bei Nauton (ALMC) I, Karte 2 »la voie lactée«, wo für das Untersuchungsgebiet ausschließlich camin verzeichnet wird. 6 Von (VIA) »CARRARIA >Fahrwegchemin de char, rueune voie tracée par les roues d'un char, qui donne accès à un champ et peut être effacée par un labourinnerhalb einer OrtschaftWeg< besitzt, während traulha und draulha in unserem Untersuchungsgebiet als Entwicklung im Hinblick auf trolhar anzusehen sind, wobei wir zugestehen, daß der sachliche Unterschied zwischen beiden sehr gering ist, nicht jedoch der sprachliche. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Etymon, die wir allerdings nicht restlos klären können. Nach den hier gemachten Erörterungen kann jedoch als möglich erscheinen, daß dralha auf *TRAGULARE zurückgeht, während trolhar und traulha möglicherweise zu TORCULUM >Weinkelter< gestellt werden müssen, da auch das FE1V2i unter diesem Eintrag für den südfranzösischen Raum Formen wie drolhar, traulhar und draulhar als >fouler l'herbese vautrer dans l'herbemarcher sur l'herbe< nachweist 24 . Kehren wir zur lexematischen Analyse des Wortfeldes »Verkehrweg« am P. 13 zurück, so erhebt sich als erstes die Frage nach dem inhaltlich Gemeinsamen der aufgeführten Typen. Diese Frage können wir als weitgehend gelöst betrachten, da allen Einheiten der Inhalt >Verkehrsweg< zukommt, bei corchièra mit den weiter oben gemachten Einschränkungen. Im Rahmen einer differentiellen Inhaltsanalyse brauchen wir nicht sämtliche den einzelnen Einheiten zukommenden Inhaltszüge zu nennen, sondern jeweils nur die differentiellen Merkmale des Inhalts durch oppositive Betrachtung der Lexeme herauszustellen. Wie bei dem bereits dargestellten Wortfeld »schneiden« unterscheiden wir inhaltlich zwischen verschiedenen Dimensionen, innerhalb derer weitere Seme funktionieren. Das Feld »Verkehrsweg« besitzt an allen Punkten einen Inhaltszug, den wir als Dimension erfaßt und mit spezifische Funktion< ausgedrückt haben. Weitere Dimensionen funktionieren nur an einzelnen Punkten, abhängig von den dort existierenden Lexemen. 23 24

Cf. von Wartburg ( F E W ) 13,2, s. v. TORCULUM. Siehe dazu auch bei Alibert (1977), S. 673b: » traular ~ traulhar, ( . . . ) Fouler les plantes, piétiner, traverser, ( . . . ) ; traular la pastura, passer à travers le fourrage t..). Etym. Paraît être une var. diphtonguée de trolhar«, das (S. 680a/b) zu torculum, torculare gestellt wird.

238 7.2.1.1.

Die Dimension spezifische Funktion
für Fahrzeugenicht (für Fahrzeuge)< in zwei Gruppen einteilen: rota, camin, carraira, carrairon besitzen gemeinsam den Inhaltszug >für Fahrzeuge< (Sem la), der sie von escorredor und dralhon >nicht (für Fahrzeuge)< (Sem lb) unterscheidet 25 . Unberührt von dieser sprachlichen Unterscheidung bleibt selbstverständlich die Tatsache, daß man einerseits auf einem camin auch zu Fuß gehen kann, während ein escorredor andererseits die Benutzung mit einem Zweiradfahrzeug nicht ausschließt. Wir betrachten - nach den Angaben der Informanten - diesen Inhaltszug auch als die eigentliche sprachliche Unterscheidung, die über sachliche Unterscheidungen wie breit / schmal, die ja relativ sind, dominiert. Die oppositive Betrachtung von rota/camin ergibt innerhalb der Dimension spezifische Funktion< eine weitere Unterscheidung, die A. Marguiron 26 als »de desserte uniquement locale« formuliert hat. Nach den Angaben unserer Informanten wird einerseits als rota jeder Verkehrsweg klassifiziert, der einen Teer- oder Asphaltbelag besitzt und üblicherweise von Autos und Lastwagen benutzt wird, während ein camin im Sinne eines breiten Fahrweges vorwiegend dem landwirtschaftlichen Verkehr dient. Daher sehen wir den sprachlichen Unterschied zwischen rota und camin in der Opposition zwischen >für den allgemeinen Straßenverkehrnicht (für den allgemeinen Straßenverkehr^ (Seme lc/ld) 2 7 . Die gleiche Unterscheidung ergibt sich auch zwischen rota und carraira, ebenso für rota und carrairon im Sinne einer kleinen Fahrstraße innerhalb eines Ortes. Die beiden verbleibenden Lexeme carral und corchiera stehen am P. 13 in keiner direkten Opposition zu einem der anderen Feldglieder, sondern unterscheiden sich als spezifische Einheiten unmittelbar unterhalb der Ebene des Archilexems mit den Inhaltszügen: carral = >Funktion: Zugang< (Sem le), in der Norm als >Zufahrt< fixiert, was jedoch wegen des fehlenden Lexems >Fußweg als Zugang< keinen differentiellen Inhaltszug >für Fahrzeuge< ergibt. Ebenso ist corchiera in der Norm als >Fußweg, der die zurückzulegende Distanz verringert< fixiert, während auf der Ebene 25

Wiederum ist der sprachlichen Formulierung der Inhaltszüge keine streng logische oder sachlich-definitorische Bedeutung beizumessen. Insofern scheint kein Grund vorhanden zu sein, der es verhindern würde, diese Inhaltsopposition als >FahrwegFußweg< zu formulieren. Wegen dem im deutschen möglichen Unterschied zwischen Fahrweg und Fahrstraße ziehen wir jedoch die obige Formulierung vor. 26 Cf. Marguiron (1973), S. 32f. 27 Mit dieser Unterscheidung beziehen wir uns auf die übliche Funktion dieser Verkehrswege, die durchaus im Zusammenhang mit der Unterscheidung A. Marguirons für den negativ formulierten Pol auch positiv als >für den landwirtschaftlichen Verkehr< formuliert werden kann.

239 des Sprachsystems wegen der fehlenden Opposition >Fahrweg, der die zurückzulegende Distanz verkürzt< das Sem l b >nicht (für Fahrzeuge)< diesem Lexem nicht als differentieller Inhalt zugeschrieben werden kann. Aus der bisher gemachten Analyse der Lexeme ergeben sich drei quasi »synonyme« Einheiten: camin, carraira, carrairott >Verkehrsweg auf dem LandVerkehrsweg auf dem Land< + spezifische Funktion: Zugang< = >Archilexem + 7eVerkehrsweg auf dem Land< + spezifische Funktion: die Distanz verkürzend< = >Archilexem + lfFunktion< als Synonyme erscheinen. Die oppositive Betrachtung von escorredor und dralhon ergibt für die lexematische Analyse ein Grundproblem. Auf der Ebene des Sprachsystems funktioniert zwischen ihnen eine Unterscheidung >innerhalb eines Ortesnicht (innerhalb eines Ortes)Fußweg außerhalb eines OrtesWeg der Kühe in den Bergen< besitzt. Ferner hat das Lexem im Hinblick auf die Bezeichnung einen starken Konkurrenten: caminon, sprachlich eine Modifikation von camin mit dem Zusatz >kleinFußweg< (frz. sentier), sondern als kleinen camin klassifiziert, m u ß es aus der Analyse der primären sprachlichen Funktionen, d. h. der lexematischen Unterscheidungen, die gemacht werden müssen, ausgeklammert werden. Im Unterschied dazu klassifiziert carrairon im System des Lokolekts 13 eine Straße innerhalb eines Ortes nicht als carraira + >kleinStraßefür Fahrzeuge< für carrairon gegenüber dem Sem lb >nicht (für Fahrzeuge)< für escorredor. Die oppositive Betrachtung von carrairon/dralhon ergibt als Gemeinsames der beiden Einheiten nur den archilexematischen Inhalt, während sie sich innerhalb der Dimension spezifische Funktion< durch die Seme >für Fahrzeugenicht (für Fahrzeuge)innerhalb eines Ortesnicht (innerhalb eines Ortes)< differenzieren. Diese letztere Opposition erweist sich auch für die lexematische Unterscheidung zwischen escorredor und dralhon als sprachlich distinktiv. Damit können die Inhalte der drei Lexeme beschrieben werden als: carrairon = >Verkehrsweg auf dem Land< + spezifische Funktion: für Fahrzeuge + nicht (für den allgemeinen Verkehr)< + spezifische Situierung: innerhalb eines Ortes< = >Archilexem + la + ld + 2aVerkehrsweg auf dem Land< + spezifische Funktion: nicht (für Fahrzeuge)< + spezifische Situierung: innerhalb eines Ortes< = >Archilexem + lb + 2aVerkehrsweg auf dem Land< + spezifische Funktion: nicht (für Fahrzeuge)< + spezifische Situierung: nicht (innerhalb eines Ortes)< = >Archilexem + lb + 2bfür Fahrzeugen aus der Opposition zu rota das Sem ld >nicht (für den allgemeinen Straßenverkehr^ ermittelt. Es bleibt folglich zu fragen, welcher inhaltliche Unterschied zwischen diesen beiden Einheiten und carrairon besteht, dem ja ebenfalls die Seme la und ld zukommen. Die Aussagen unseres Informanten ergaben hierzu die Unterscheidung zwischen den Semen 2a für carrairon und 2b für camin und carraira. Daraus wird ersichtlich, daß die inhaltliche Differenzierung dieser beiden letzteren Einheiten nicht innerhalb der Dimension spezifische Situierung< erfolgt. 7.2.1.3.

Die Dimension >Zustand