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German Pages 286 [284] Year 2014
Marco Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Alex Greilich, Tobias Hegmanns, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter, Alexander Pellnitz, Elsa Sánchez García, Heike Trautmann (Hg.) Sehnsuchtsstädte
Urban Studies
Marco Thomas Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter, Alexander Pellnitz et al. (Hg.)
Sehnsuchtsstädte Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen
Diese Publikation wurde finanziell unterstützt durch das Mercator Research Center Ruhr, eine gemeinsame Initiative der Stiftung Mercator und der Universitätsallianz Metropole Ruhr im Rahmen des Global Young Faculty-Programms.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort Die Herausgeberinnen und Herausgeber | 7
Einführung Sehnsucht — begriffsgeschichtliche Annotationen, psychologische Sondierungen Jürgen Straub | 15 Sehnsuchtsstädte und Stadtsehnsüchte Urbanität, Natur und Schönheit Alexander Pellnitz | 29
Sehnsuchtsmedien Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus oder zum urbanen Himmel auf Erden Einführende Bemerkungen zur medialen Modellierung von (Sehnsuchts-)Städten Marco Thomas Bosshard und Jan-Dirk Döhling | 43 Die ideale Stadt als Mittelpunkt der Welt Frühjüdische und frühchristliche Stadtkonzeptionen am Beispiel der Konstruktion des himmlischen Jerusalem in Apk 21f. Reinhard von Bendemann | 61 Audiovisuelle Urbanität Praktiken des Sehens und Hörens von Städten Beate Ochsner | 99 Errichten — erkämpfen — erkunden Zugänge zur Stadt in Computerspielen Britta Neitzel | 113
Sehnsuchtspraktiken Sehnsuchtspraktiken Einführende Überlegungen zu einem »sensibilisierenden Konzept« Mona Motakef und Angelika Münter | 135 Sehnsuchtsstadt statt Landlust Wie postindustrielle Sehnsuchtsorte des Selbermachens und der Naturbegegnung neue Bilder von Urbanität entwerfen Christa Müller | 141 Der Prinzessinnengarten Berlin Nicht Sehnsucht nach dem Land, sondern Sehnsucht nach einer anderen Stadt Marco Clausen | 153 Mit Spaten, Pflanzen und Visionen Die globale und lokale Guerilla-Gardening-Bewegung Patrick Huhn | 157 Neue Orte des Städtischen durch soziale Innovationen Bastian Lange | 175
Sehnsuchtstechniken Technische Lösungswege zur Gestaltung zukünftiger Städte Tobias Hegmanns | 199 Urbane Sehnsüchte entwickeln und Entscheidungsprozesse beflügeln J. Alexander Schmidt | 209 Technologielösungen für die Stadt der Zukunft Martin Schröder | 231 Gebäudetechnische Innovationen für die Stadt von morgen Eckhart Hertzsch und Maike Buttler | 235
Ausblick »Städte bestehen nicht aus Häusern und Straßen, sondern aus Menschen und ihren Hoffnungen« Walter Siebel | 255 Diskussion | 265 Autoren- und Herausgeberverzeichnis | 277
Vorwort Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit: […] K URT TUCHOLSK Y, 19271
Die vorliegende Veröffentlichung geht auf einen genuin interdisziplinären Austausch zurück. Im Rahmen der von der Stiftung Mercator unterstützten Global Young Faculty2 haben sich junge Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen (Kulturwissenschaft, Soziologie, Architektur, Raumplanung, Theologie, Logistik, Statistik, Informatik usw.) zusammengefunden, um sich mit Szenarien, Visionen und Utopien für urbane Lebensräume auseinanderzusetzen und diese unter dem Begriff »Sehnsuchtsstädte« zu thematisieren. Leitend ist dabei die These, dass die Diskussion um die lebenswerte Stadt in den verschiedenen Wissenschaften um eine übergreifende Perspektive ergänzt werden sollte: Sehnsüchte, die sich auf den städtischen Raum und auf die zu1 | Theobald Tiger [Kurt Tucholsky]: Das Ideal, in: »Berliner Illustrirte Zeitung«, 31. Juli 1927, S. 1256; hier zit.n.: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky, Fritz J. Raddatz, Band 5, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975, S. 269. 2 | Die »Global Young Faculty« ist ein interdisziplinäres Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlern aus dem Ruhrgebiet. Sie ist eine Initiative der Stiftung Mercator, des Mercator Research Center Ruhr und der Universitätsallianz Metropole Ruhr. Für weitere Informationen siehe: www.global-young-faculty.de. Zur Arbeitsgruppe gehören Marco Th. Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Alex Greilich, Tobias Hegmanns, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter, Alexander Pellnitz, Elsa Sánchez García und Heike Trautmann.
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künftige Entwicklung der Städte beziehen, sollen als Antrieb von Denken, Planen und Handeln in der Stadt zusammengedacht werden. Auf einem zweitägigen Symposium mit dem Titel »Sehnsuchtsstädte – Medien, Praktiken, Techniken« im Februar 2013 in Dortmund sprachen dazu Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichsten Disziplinen, deren Vorträge nun in dieser Publikation versammelt werden.3 Das obige Zitat von Tucholsky, das auf den Treffen der Arbeitsgruppe eine Inspirationsquelle bildete, um in einem interdisziplinären Kontext über das Thema »Sehnsuchtsstädte« zu diskutieren und auch dem Symposium als Leitgedanke vorangestellt wurde, drückt einige der Sehnsüchte aus, die viele Menschen in sich tragen: auf der einen Seite die Sehnsucht nach dem urbanen Leben in der Stadt, auf der anderen Seite die Sehnsucht nach dem Häuschen im Grünen mit seinem Blick in die unberührte Natur, mit seiner Ruhe und Abgeschiedenheit. Auch wenn sich diese beiden Sehnsüchte nach Urbanität und Natur grundsätzlich widersprechen und der ideale Ort, den Tucholsky beschreibt, für den Einzelnen unerreichbar bleibt, kennt ein jeder solch widersprüchliche Sehnsüchte. Diese beiden ganz entgegengesetzten Sehnsüchte nach Urbanität und Natur sind dabei nur zwei der zahlreichen Sehnsüchte nach bestimmten Orten, Lebensräumen oder Städten, die unser Leben begleiten. Zu Beginn unserer Arbeit und auch zum Auftakt des Symposiums haben wir uns zunächst näher mit dem Begriff der Sehnsucht beschäftigt (vgl. den Beitrag von Jürgen Straub in diesem Band). Denn gibt man den Begriff »Sehnsuchtsstadt« in eine Suchmaschine im Internet ein, wird dieser üblicherweise mit beliebten Reisezielen assoziiert: Venedig mit seinen malerischen und romantischen Orten, Paris mit seinem großstädtischen Flair oder New York als Inbegriff von urbaner Dichte. Aber es ging in dem Symposium nicht um diese Städte in der Ferne, in denen wir uns (wenn überhaupt) temporär aufhalten, sondern um jene Städte, in denen wir einen Großteil unseres Lebens verbringen – den alltäglichen urbanen Lebensraum. Dennoch kann wohl in beiden Fällen Sehnsucht sowohl als Abwesenheit von etwas als auch als Antrieb zum Handeln verstanden werden. Sie ist dabei immer auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Rückschau, Momentaufnahme und Vorausschau durchdringen sich gegenseitig. In unserem Symposium wurde nun näher untersucht, woher die »alltäglichen« urbanen Sehnsüchte kommen, wie sie erzeugt und vermittelt werden, und wie auf solche Sehnsüchte reagiert wird, sei es durch konkretes Handeln in der aktuellen Situation und im persönlichen Umfeld, sei es durch die Entwicklung von längerfristig angelegten Utopien. Dabei spielt auch die Rückwirkung des Handelns auf Sehnsüchte eine Rolle, also nicht nur die Frage 3 | Das Symposium fand im Internationalen Begegnungszentrum der Technischen Universität Dortmund am 14. und 15. Februar 2013 statt.
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inwieweit auf der einen Seite Sehnsuchtsstädte unser Denken, Handeln und Planen bestimmen, sondern auch inwieweit auf der anderen Seite das Denken, Handeln und Planen wiederum Sehnsüchte hervorrufen kann oder sollte – und welche Sehnsüchte eventuell im Widerspruch zueinander stehen. Der vorliegende Sammelband gliedert sich wie das Symposium in die drei Themenfelder Medien, Praktiken und Techniken, die die drei Tätigkeiten Kommunizieren, Handeln und Planen widerspiegeln. Die drei Felder sind dabei eng verknüpft: Praktiken und Planungen werden immer auch medial propagiert oder vermittelt. Gleichzeitig weisen viele Praktiken der Stadtbewohner auf Defizite in der Planung hin. Die Planer wiederum müssen sich überlegen, wie sie die Praktiken und Sehnsüchte der Bewohner in ihre Planungen mit einbeziehen können. Das erste Themenfeld »Sehnsuchtsmedien« beleuchtet, wie Stadtsehnsüchte medial konstruiert und kommuniziert werden. Wie transformieren Literatur, Film und digitale Medien urbane Erfahrungen in Sehnsüchte und setzen diese bei den Rezipienten wiederum frei? Von biblischen Texten und der utopischen Literatur über die synästhetische Poesie des urbanen flâneur des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Großstadtfilmen und zur Städtebauästhetik in Computer- und Strategiespielen des 20. und 21. Jahrhunderts prägen Medien im Sinne eines fiktiven ›Probehandelns‹ das performative Reservoir und die impliziten Bezugspunkte von sozialen und technologischen Sehnsuchtspraktiken vor, die dann ihrerseits die Grenzen der Fiktion überschreiten und in der Wirklichkeit ästhetisch werden (können). So führen Marco Thomas Bosshard und Jan-Dirk Döhling anhand der Engführung von Augustins »Stadt Gottes« (De civitate Dei) mit dem in Literatur und Film modellierten, real existenten Stadtviertel Cidade de Deus (dt. »Stadt Gottes«) in Rio de Janeiro in die Thematik des Themenfeldes ein. Der Theologe Reinhard von Bendemann spürt in seinem Beitrag sodann den Vorstellungen vom ›Himmlischen Jerusalem‹ als Blaupause eines okzidentalen Städteideals nach, während die Medienwissenschaftlerin Beate Ochnser die Strategien audiovisueller Städtedarstellung im Film und in sogenannten audiowalks herausarbeitet. Britta Neitzel schließlich untersucht in ihrem Beitrag Städtedarstellungen in gängigen Computer- und Videospielen und fragt danach, inwiefern subjektive Sehnsüchte von Spielern interaktiv in die Spielverläufe Eingang finden können. Wie und mit welchen Praktiken verleihen Menschen ihren Sehnsüchten an den urbanen Raum Ausdruck? Diese Frage steht im Zentrum des Themenfeldes »Sehnsuchtspraktiken«. Mona Motakef und Angelika Münter diskutieren in ihrer Einleitung zunächst Paradoxien, die sich aus der Komposition von Sehnsüchten und Praktiken ergeben. Sie schlagen vor, diese Spannung zu nutzen und den Begriff der Sehnsuchtspraktik als ein ›sensibilisierendes Konzept‹ nach Blumer zu verstehen. Da er die materielle Dimension von Sehnsüchten berücksichtigt, erscheint er als besonders geeignet, gegenwärtige Artikulatio-
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nen von Solidarität und Teilhabe im urbanen Raum aufzuspüren, wie etwa die Proteste von Occupy oder das Phänomen des Urban Gardenings. Christa Müller stellt in ihrem Beitrag neue Formen der Naturbegegnung im städtischen Raum vor, bei denen Praktiken des Selbermachens im Zentrum stehen. Gärtnern, Tauschen und Selbermachen versteht sie als Sehnsuchtspraktik, die für sie eine Dekonstruktion moderner Dichotomien darstellen. Patrick Huhn bietet Einblick in Guerilla Gardening. Der bekennende Aktivist skizziert den Entstehungskontext der Bewegung, erläutert zentrale Motive und stellt schließlich seine eigenen Aktivitäten vor. Von dem vermutlich in Deutschland bekanntesten und in Berlin-Kreuzberg ansässigen Urban Gardening Projekt erzählt Marco Clausen. Der Co-Mitbegründer der Prinzessinnengärten benennt soziale Teilhabe als zentralen Orientierungspunkt seiner Arbeit. Schließlich argumentiert Bastian Lange, dass neue Formen des Arbeitens und Produzierens entstanden sind, die den Gedanken des Commons ins Zentrum stellen. Am Beispiel von ›Co-Working Spaces‹ diskutiert Lange das Aufkommen neuer Kollektive, die Fragen der sozialen Teilhabe im urbanen Raum neu verhandeln. Gegenstand des abschließenden Themenfelds »Sehnsuchtstechniken« ist schließlich, welche Sehnsüchte hinter top-down erstellten, technologischen und planerischen Zukunftskonzepten stehen. Im Gegensatz zum vorhergehenden Themenblock geht es hier um die Planer und Gestalter, die den Lebensraum der Bewohner verändern. Es werden die Planungsdisziplinen thematisiert, die sich mit Zukunftskonzepten für die Stadt auseinandersetzen. Im einleitenden Beitrag von Tobias Hegmanns werden zunächst die ökonomischen, ökologischen und logistischen Herausforderungen, mit denen sich Stadtplaner und Ingenieure heute konfrontiert sehen, den soziologisch oder persönlich geprägten Sehnsüchten der Sehnsuchtspraktiker gegenüber bzw. zur Seite gestellt. J. Alexander Schmidt entwirft in seinem Artikel einen »Baukasten« aus Sicht eines Stadtplaners für eine Sehnsuchtsstadt – eine Stadt, die einerseits funktioniert und den Bedürfnissen ihrer Bewohner entgegenkommt, andererseits auch deren Wünsche und Phantasie weckt. Martin Schröder gibt einen Überblick über die ökonomischen, ökologischen und technologischen Probleme ständig wachsender Städte in einer globalisierten Welt und die daraus erwachsenden Fragen für den Bundesverband der deutschen Industrie. Eckhart Hertzsch beschreibt am Beispiel der Gebäudetechnik sowohl aktuelle Lösungsansätze als auch Visionen für die Zukunft. Die Artikel machen deutlich, dass es bei Stadtplanung, wirtschaftlicher und technischer Entwicklung nicht nur um den Reiz des technologisch Machbaren geht, sondern auch hier der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Sehnsüchten ein zentrales Element ist. Die wirksame Integration dieser Sehnsüchte in Pläne für die lebenswerte Stadt bleibt noch eine spannende Aufgabe. Der von uns vorgeschlagene Begriff »Sehnsuchtsstädte« weist, so wird hoffentlich deutlich, eine Reihe von Vorzügen auf. Er erscheint als offen genug,
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so dass auch latente Motivationen von urbanem Denken, Planen und Handeln rekonstruiert werden können. Indem Sehnsüchte als Antrieb von Denken, Planen und Handeln in der Stadt thematisiert werden, werden diese auch nicht mehr auf eine Abfolge von rationalen Entscheidungen verkürzt. Da Städte vor allem in jüngster Zeit wieder zu einem Ort geworden sind, in dem Wünsche und Hoffnungen für ein anderes Zusammenleben artikuliert werden, erscheint der Begriff des Weiteren als geeignet, urbanen ›Zeitgeist‹ zum Ausdruck bringen zu können. Wie nachfolgend jedoch noch deutlich wird, kann die Komposition von Sehnsüchten und Praktiken sowie Sehnsüchten und Techniken allerdings auch paradox anmuten. Wie kann etwas Immaterielles wie eine Sehnsucht als eine Praktik oder gar eine Technik verhandelt werden? Die entstehende Spannung aus Sehnsüchten einerseits und Medien, Praktiken und Techniken andererseits soll jedoch nicht aufgelöst werden. »Sehnsuchtsstädte«, so unser Vorschlag, bildet einen heuristischen Begriff, der bei der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen hilft. Ob er sich bei dieser Suche als Kompass erweist, wird sich zeigen. Das Symposium hat deutlich gemacht, dass mit den unterschiedlichen Themenfeldern und Handlungsebenen auch unterschiedliche Weltanschauungen und Sehnsüchte aufeinandertreffen. Nichtsdestotrotz konnten auch gemeinsame Werte und Ziele identifiziert werden. Dies geschah unter anderem in den Diskussionen im Anschluss an die einzelnen Themenfelder. Unser herzlicher Dank gilt an dieser Stelle den Institutionen, die Träger der Global Young Faculty sind und die Arbeit der Gruppe ermöglicht haben: der Stiftung Mercator, dem Mercator Research Center Ruhr – namentlich Dr. Magdalena Zürner, die unsere Arbeit von Anfang an hervorragend unterstützt hat – und der Universitätsallianz Metropole Ruhr, zu der neben der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum die Technische Universität Dortmund gehört, die auch Gastgeberin des Symposiums war. Dass der Sammelband zeitnah erscheinen konnte, liegt an der kompetenten Unterstüzung durch den transcript Verlag, bei dem wir uns ebenfalls herzlich bedanken möchten. Die Herausgeberinnen und Herausgeber
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Einführung
Sehnsucht — begriffsgeschichtliche Annotationen, psychologische Sondierungen Jürgen Straub »So war auch ich von aller Phantasie, von jeder Sucht, von jedem falschen Triebe, mit einem Blick in deinen Blick geheilt« J OHANN WOLFGANG VON G OETHE »Es bleibt stehen, dass die Sicht uns in den Grenzen eines Horizontes zurückhält. Die Wahrnehmung ist wie in den Boden eingewurzelte, auf die Öffnung hin ausgerichtete Weisheit« M AURICE B LANCHOT
1. E RSTE S TATIONEN EINER HISTORISCHEN UND KULTURELLEN P R AGMA -S EMANTIK : DAS TENDENZIELL KR ANKHAF TE S EHNEN UND ANDERE S ÜCHTE Es ist eigentümlich, ein Gefühl zu kennen und von ihm zu glauben, es bewohne und bewege die Seelen vieler Menschen von Zeit zu Zeit, ohne zu wissen, woher genau sein Name kommt. Die Sprachgeschichte gibt hierzu bislang keine klare Auskunft. Das Wort taucht zuerst im Mittelhochdeutschen auf. Das bezeichnete Phänomen galt seinerzeit zunächst als eine »Krankheit des schmerzlichen Verlangens« (Grimm 1984a: Sp. 157). Die Angelegenheit für Psychopathologen – hätte es diesen Berufsstand bereits gegeben – wurde jedoch nicht gleich für behandlungsbedürftig gehalten und den Seelenärzten überantwortet, sondern als eine Form des vorübergehenden Leidens angesehen, dem am besten durch die Befolgung eines einfachen Rats beizukommen sei: »wer den siechtuom hât von der sensuhte […] der sal reden mit den di im liep sîn« (Benecke/Müller/Zarncke 1866, zit.n. Corbineau-Hoffmann 1995: Sp. 165). Die als ursprünglich nachgewiesene Bedeutung zehrt noch eindeutig von der »Sucht« in der »Sehnsucht«. Dieser Teil des Kompositums, die
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Sucht, hat am Anfang der Wortgeschichte eine »dämonistische Grundfarbe« und verweist in seinen frühesten Bedeutungsschichten auf Krankheiten des Körpers, die als etwas gewaltsam von außen in den Körper Eingedrungenes, ja sogar »als erscheinungsform dämonischer mächte, in biblischer denkweise als besessenheitsphänomene« begriffen wurden (Grimm 1984b: Sp. 861). Das autonome Wort meint sodann allgemein eine körperliche Krankheit, »die mit deutlichen symptomen in erscheinung tritt und nicht auf mechanische ursachen zurückgeht« (ebd.: Sp. 863). Von da aus wird es dann auch zu einer allgemeinen Bezeichnung für »körperliches übelbefinden«, mithin zu einem negativen Gegenbegriff von Gesundheit, aber auch zur Bezeichnung bestimmter Krankheitsgruppen (wie z.B. der Schwindsucht) und spezieller Krankheitstypen. Besonders wichtig ist dann jene bis heute dominierende Bedeutung, welche die Sucht als einen »[krankhaft übersteigerten] trieb« ausweist und so das Willensmoment und die Zielbestimmtheit hervorhebt (ebd.: Sp. 887). Die Sucht wandelt sich damit von einem Zustand oder einer Substanz zu einem Bewegungsmoment oder einer Tendenz mit einem Ziel, in dem sie Erfüllung findet. Diese Bedeutung ist in Komposita der zweiten Stufe wie der Sehnsucht ebenso enthalten wie in der Trunksucht oder in Komposita der Grundstufe wie etwa in der Schlafsucht, Mondsucht oder der Tobsucht (vgl. ebd.), schließlich in Komposita der seit dem 16. Jahrhundert nachgewiesenen dritten Schicht, so. z.B. in Geld-, Lust- und Zanksucht oder der im nachfolgenden Saeculum gebräuchlichen Ehr-, Ruhm-, Gewinn-, Rach- oder Tadelsucht. In allen diesen Verwendungen tritt bereits jener Bedeutungsgehalt hervor, der durch spätere volksetymologische Verbindungen der »Sucht« mit dem Wort »suchen« (nach etwas suchen etc.) konsolidiert wird. Das hallt noch in der Sehnsucht nach, insofern auch diese eine Sehnsucht nach etwas ist (selbst wenn das Objekt unklar sein sollte). Wichtig ist, dass auch jene späteren Bedeutungsschattierungen, welche darauf abheben, dass die Sucht »ein den ganzen menschen ergreifender und beherrschender trieb [sei], der ihn sein denken und handeln auf die erreichung bestimmter realer wunschziele monomanisch concentrieren läszt« (ebd.: Sp. 889), das pathologische Moment unterstreicht. Die triebhafte Sucht gilt wegen ihrer »dauer, stärke und unersättlichkeit« als »krankhafte ausartung des willenslebens und darum als ethisch verwerflich« (ebd.). Dabei bleibt es bei allen späteren Varianten dieser zentral bleibenden Bedeutung, wie verschiedene Einträge im Grimmschen Wörterbuch belegen, so etwa die folgenden: »ein in der menschlichen natur begründetes, aber krankhaft übersteigertes, stachelndes verlangen nach bestimmten reizen und erlebnissen, das wenn nicht ethisch abgewertet, so doch vom vernunftstandpunkt aus miszbilligt wird« (ebd.: Sp. 890), oder: »eine grell hervortretende charakterliche neigung, die als fehler, unart oder zumindest als aufdringliche eigenheit empfunden wird« (ebd.), oder: »eine geistige überspanntheit oder verranntheit, soweit sie sich extrem-triebmäszig äuszert«
Jürgen Straub | Sehnsucht — begriffsgeschichtliche Annotationen, ...
(ebd.). Nur sehr vereinzelt nimmt das Wort eine positive Konnotation an und wird als »sittlich bejahter drang der menschlichen natur« (ebd.: Sp. 892) angesehen.
2. S UBSTANTIVIERTE »S EHNSUCHT«: IMMER RICHTUNGSLOSER , ALLMÄHLICH DEPATHOLOGISIERT UND NORMALISIERT
Von größter Wichtigkeit ist sodann, dass die Sucht als alleinstehendes Substantiv gebraucht wird, das in der Zeit Goethes in »neuer absoluter Gebrauchsweise« verwendet wird, die wesentliche Bedeutungsgehalte der Sehnsucht besitzt. Das Wort »Sucht« wird damals bereits umfassender und zum Teil unbestimmt gebraucht, verliert mithin »die eindeutige und einsträngige zielrichtung« (ebd.: Sp. 893) und nimmt schließlich auch die in der Dichtung beschworene Bedeutung von Sehnsucht an. Sie gilt nämlich als ein »unruhiges drängen des blutes« (ebd.), das nun wertneutral registriert und betrachtet wird. Die Bedeutung des Wortes wandelt sich von der dämonistischen und medizinischen Semantik über die moralische hin zu einer psychologischen: »aus einem moralischen wertbegriff wird es ein wort der beschreibenden seelenkunde« (ebd.), zu einem »unstillbaren sehnen« (ebd.). Süchte werden Sehnsüchte, »wogende, formlose triebe, drängende wünsche und begierden, die voll geheimer drohung, aber rational nicht zerlegbar sind« (ebd.: Sp. 894), unabweisbare Verlangen, Träumereien auch. Weitere Verwendungsweisen sind bekannt, brauchen uns im vorliegenden Zusammenhang, in dem psychologisch bedeutsame Aspekte fokussiert werden sollen, jedoch nicht zu interessieren. Festzuhalten ist, dass die etymologische Nähe zur Sucht erklärt, warum auch die Sehnsucht zunächst eindeutig als Krankheit begriffen worden sein mag. Auch von ihr könnte gesagt werden, was bis heute als zentrales Merkmal jeder Sucht gilt: Dem Bedürfnis des Süchtigen nach einem bestimmten Erlebniszustand »werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und Chancen eines Individuums«. (Brockhaus 2006: 571) Schon wenig später allerdings wird der vermeintlich krankhafte Zug der Sehnsucht – im Gegensatz zu anderen Süchten, die pathologische Phänomene destruktiver Abhängigkeit bleiben, als solche klassifiziert, untersucht und behandelt werden – zurückgenommen (und allmählich in die Melancholie als einer Folge nicht bewältigter Trauer verlagert). Die Bedeutung der »Sehnsucht« gehört, ohne dass psychosoziale Risiken des polyvalenten, bittersüßen Gefühls ausgeblendet würden, fortan ins Feld des normalen Seelenlebens gesunder Leute. Sie ist nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuchs der deutschen Sprache »ein hoher grad eines heftigen und oft schmerzlichen verlangens nach etwas, besonders wenn man keine hoff-
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nung hat, das verlangte zu erlangen, oder wenn die erlangung ungewisz, noch entfernt ist« (Grimm 1984b: Sp. 894). Damit sind, alles in allem, wesentliche Aspekte der bis heute verbindlichen Semantik festgelegt, einschließlich der im Deutschen möglichen Unbestimmtheit des Gegenstandes der Sehnsucht. Nicht immer weiß die sich verzehrende Person, wonach genau sie sich sehnt, worauf sich das heftige Begehren und schmerzliche Verlangen richtet. Diese eigenartige, paradoxal strukturierte gerichtete Ungerichtetheit oder diffuse Bezogenheit auf ein allenfalls vages, undeutlich gespürtes ›Etwas‹ setzt der Übersetzbarkeit des deutschen Wortes Grenzen. Die Semantik des lateinischen desiderium, des französischen désir, des italienischen languimento oder des englischen longing überlappt sich auch deswegen nur unvollständig mit der »Sehnsucht«.
3. A LLGEMEINE S EELENKUNDE : DIE VERZÖGERTE A NKUNF T DER ROMANTISCHEN S EHNSUCHT IN DER MODERNEN P SYCHOLOGIE Corbineau-Hoffmann (vgl. 1995: Sp. 165) weist nach dieser (für eine »Kultur einbeziehende Psychologie«1) wichtigen Auskunft noch darauf hin, dass die 1 | Zu dieser heutzutage in fast allen psychologischen Subdisziplinen etablierten culture inclusive psychology zählen ganz verschiedene theoretische Strömungen und methodologisch-methodische Ansätze. Diese durchaus heterogenen Positionen und Perspektiven stimmen darin überein, dass sie dem Zusammenhang zwischen Kultur und Psyche sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenken, als das in der modernen Psychologie des 20. Jahrhunderts der Fall war. Diesbezüglich rückt insbesondere die konstitutive oder regulative Funktion kultureller Lebensformen und Sprachspiele für seelische Phänomene aller Art ins Blickfeld. Das Erleben und Handeln, das Denken, Fühlen, Wünschen und Wollen der Angehörigen dieser oder jener Kulturen oder »Kulturatope« unterscheiden sich eben – wie auch die begriffsgeschichtlichen Anmerkungen zur »Sehnsucht« illustrieren – in spezifischer Weise. Das zeigen diachrone bzw. historische sowie synchrone bzw. aktualempirische Studien gleichermaßen. Was die theoretische Konzeptualisierung und methodische Erforschung des besagten Zusammenhangs angeht, scheiden sich die Geister. Ganz grob: Während in der sogenannten kulturvergleichenden Psychologie (cross-cultural psychology) im Rahmen einer nomologischen Variablenpsychologie die Beziehung zwischen Kultur und Psyche im Prinzip als Kausalzusammenhang aufgefasst wird (selbst wenn aus leicht einsichtigen Gründen gerade auch in diesem Feld kaum mehr als statistisch abgesicherte Korrelationen nachweisbar und Experimente im strengen Sinn ohnehin nicht durchführbar sind), fasst die sogenannte Kulturpsychologie (cultural psychology) den interessierenden Zusammenhang als einen Sinn- oder Bedeutungszusammenhang auf, mithin als dynamisches Gefüge
Jürgen Straub | Sehnsucht — begriffsgeschichtliche Annotationen, ...
Pragmatik und Semantik des deutschen Substantivs am ehesten noch dem griechischen πфƧƮư (póthos) gleiche, der in Platons »Symposion« als Sohn des Eros für das Prinzip des strebenden Begehrens steht und sich ebenfalls »auf ein anderswo Seiendes und Abwesendes« richtet. Während hier schon klar ist, dass nur dasjenige ersehnt werden kann, was man nicht besitzt, wird diese allem Sehnen vorauszusetzende Imperfektibilität des Menschen »im Rahmen der jüdisch-christlichen Vorstellung von der kreatürlichen Unvollkommenheit der Condition humana« (ebd.) und der darin implizierte Wunsch nach Vervollkommnung theologisch und philosophisch nobilitiert. Es ist wohl diese kulturelle Wurzel, die nicht nur vielen abendländischen Ideen zur Optimierung des Menschen und seines Lebens, sondern auch einer verbreiteten psychischen Disposition bzw. einem geläufigen sozialen Habitus zugrunde liegt. Den von einer vagen Sehnsucht herrührenden Drang zur Vervollkommnung kennen viele Menschen, und nicht zuletzt eine diesem Menschen gewidmete wissenschaftliche Psychologie, bestens. Es hat zwar lange gedauert, dass die moderne Motivationspsychologie nicht nur vom Wunsch und Begehren, sondern speziell auch von der Sehnsucht spricht und darin einen wichtigen Beweggrund unseres Handelns erkennt. Diese Hinwendung zum ›kognitivemotional-motivationalen Komplex‹ der Sehnsucht erscheint nach einem Blick in die Ideen- und Begriffsgeschichte aber gleichwohl bereits vor langer Zeit angelegt und vorbereitet worden zu sein. Betrachten wir noch einen bereits angedeuteten, vor allem seit der Zeit der Romantik wesentlichen Aspekt des komplexen Begriffs. Das als Sehnsucht wirksame, mitunter eigentümlich ›leere Verlangen‹ kreist häufiger um ein nicht identifiziertes und womöglich nicht identifizierbares, nicht ›fest-zu-stellendes‹ Objekt. Die Sehnsucht ist ein Statthalter des sich schlechthin Entziehenden und Inkommensurablen. Diese Leerstelle ist auch grammatisch vorgesehen, so dass eine Person, wie gesagt, eine Sehnsucht verspüren kann, ohne (genau) sagen zu können, was ihr denn eigentlich fehlt und wie der emotional bewegende, motivierende Mangel beseitigt, wie das erlebte Unbehagen an und in der Gegenwart überwunden werden könnte: »Fort von hier, das ist mein Ziel«, so klingt es nicht allein in Gedichten Friedrich Hölderlins, der die Sehnsucht bekanntlich als eines der tiefsten und abgründigsten Gefühle überaus schätzte. Damit war er nicht allein.
pragma-semantischer Relationen, deren Erforschung verstehende (hermeneutische, interpretative, rekonstruktive) Methoden der qualitativen Sozialforschung und Kulturanalyse verlangt; vgl. zum Überblick etwa: Boesch/Straub 2007: 25-95; Straub/Chakkarath 2010: 195-209; Straub 2011: 21-38; zu den Begriffen »Kultur« und »Kulturatop« siehe Straub 2007: 7-24.
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Niemals wurde das verzehrende Gefühl so aufgewertet, bedacht und besungen wie in der Zeit der Romantik,2 einer Epoche, von der Isaiah Berlin 3 vielleicht zu Recht meinte, sie sei bis heute einflussreicher als alles, was die Geistes- und Ideengeschichte Europas sonst noch zu bieten habe. Der faszinierende Glanz eines undurchsichtigen Gefühls, das Vollkommenheit will und doch unlösbar mit dem Mangel und Leiden liiert ist, weil es die unaufhebbare Vergeblichkeit jeder Hoffnung auf ungetrübtes Glück bezeugt, strahlte nie heller als im Zeitalter der romantischen Dichter und Denker. Die damalige Demontage aufklärerischer Ideale wie Wohlgeordnetheit, Transparenz und Rationalität ging bekanntlich einher mit der Inthronisierung von etwas zwiespältigeren, dunkleren Seiten und jedenfalls leidenschaftlicheren Zügen des menschlichen Daseins. Das Gefühl generell, speziell die Sehnsucht, galten als deutliche Zeugnisse der kaum auszulotenden Tiefe und Lebendigkeit einer beweglichen und bewegten Seele, die von Widerspruch und Widerstreit, Konflikten und Krisen bewohnt ist. Diese vitale Seele flüchtet sich eben nicht in die zwar etwas sichereren, aber auch langweiligeren und obendrein, allem ersten Anschein und dem Irrglauben der Aufklärer zum Trotz, etwas wirklichkeitsfernen Gefilde einer vermeintlich durch und durch rationalen Lebensführung, Selbst- und Weltgestaltung. Die Sehnsucht passt nicht zu einem allein auf seine (instrumentelle) Vernunft setzenden Subjekt und seiner vindizierten Handlungsmacht, sondern erfordert einen ›ganzen‹ Menschen, der sich der Welt, seinen Erlebnissen in ihr und nicht zuletzt seinen eigenen Gefühlen hingibt. Dieser romantische, nicht bloß aktive und auf Autonomie bedachte, sondern auch passive und rezeptive, für das Andere und Fremde empfängliche Mensch ist offen für Widerfahrnisse aller Art. Er sucht einen sinnlichen, ästhetischen Zugang zu sich und zur Welt. Der sehnsüchtige Mensch lässt sich nicht in das Korsett einer Ratio zwängen, die freilich, das wussten selbst die leidenschaftlichsten Schwärmer, auch nicht völlig verzichtbar ist. Die Sehnsucht gilt in der Romantik allerdings als höchst willkommenes und sogar notwendiges Korrektiv einer bereits seinerzeit drohenden, den Menschen keineswegs nur 2 | Das geschah nach einigen vereinzelten Hinwendungen zur Sehnsucht und einer stärkeren Beachtung vor allem in der Philosophie des Idealismus; vgl. dazu CorbineauHoffmann (ebd., wie in Fn. 1), Sp. 165ff. 3 | Ich brauche berechtigte Einwände gegen das von Berlin im Rahmen eines unvollendeten Lebensprojekts gezeichnete Bild der Romantik hier nicht zu diskutieren. Erwähnt sei lediglich, dass die etwas allzu schroffe und schematische Kontrastierung einer gleichermaßen über Gebühr homogenisierten Aufklärung und Romantik so nicht haltbar ist. Die Lage war verwickelter, komplexer, da etwa die Vernunftkritik keineswegs erst die Erfindung einer anti-aufklärerischen Romantik war, sondern ein integraler Bestandteil aufklärerischer Strömungen selbst (wie umgekehrt die Romantik sich keineswegs pauschal von allen aufklärerischen Ambitionen lossagte). Berlin 2004.
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beglückenden, befreienden und befriedenden Herrschaft der Vernunft und zur Totalisierung neigenden Verstandeskultur. Die romantische Nobilitierung der Sehnsucht war zweifellos auch eine Reaktion auf den erlebten, wahrgenommenen und beredt artikulierten Verlust eines unmittelbaren Verhältnisses zur Natur, zur Welt überhaupt und zum anderen Menschen, auch zum eigenen Selbst, das sich wegen seines nun exzessiv genutzten Vermögens zur Selbstdistanzierung und Selbstreflexion immer mehr im Weg stand. Der moderne Vernunftmensch, wie er in der Aufklärung mit großer Emphase und Fortschrittsgläubigkeit in Szene gesetzt wurde, ward im Rückblick der desillusionierten Romantiker aus der Vollkommenheit des Naturzustandes entlassen worden, so dass ihm schließlich nur noch die Sehnsucht bleibt – nach der Natur vornehmlich, ihrer Reinheit und Vollkommenheit in jeder Hinsicht. Jean-Jacques Rousseau ist bereits paradigmatisch für diese Sicht der Geschichte eines Menschen, der sich zu seinem eigenen Schaden im stahlharten Gehäuse moderner Rationalität eingerichtet hat, sich mehr und mehr darin einzwängt und dabei verliert. (Längst ruft der Mensch der Moderne nicht mehr nur nach der Natur, sondern auch nach fremden Kulturen, um etwas exotische Kompensation für die Kälte und Zwänge rationaler Lebensführung zu erhalten.) Sehnsucht ist – als programmatisches Wort und als zunehmend beachtetes, kulturelles, soziales bzw. psychisches Phänomen – auch eine Quittung für die rationalistische Reduktion der Welt und den als allgemeine Erfahrung sich abzeichnenden Selbstverlust (jedenfalls eine sich ausbreitende und vertiefende Verunsicherung des Selbst zahlreicher Menschen). Und es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich nicht alle mit dieser Verstörung und Verarmung des Lebens und der Seele abzufinden bereit waren (und sind). In der Bewegung der Romantik steht auch die Sehnsucht für diesen psychosozialen Widerstand und den darauf bezogenen, alles andere als irrationalen Widerspruch. Dass die Beschwörung von absoluter Vollkommenheit, purer Kreativität und eines von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreiten Zustands der Einheit von Selbst und Welt gewiss auch befremdlich überschwängliche, exaltierte Züge einer überbordenden Metaphysik und Mystik annehmen konnte, sei dahingestellt.4 4 | Das zeigt sich nicht zuletzt in den religionsphilosophischen Texten etwa eines Friedrich Schleiermacher oder auch eines Johann Gottlieb Fichte. Schleiermacher preist die Sehnsucht als Ursprung aller (sinnlichen) Religion und sieht in ihr ein Verlangen nach dem Übernatürlichen und Wunderbaren walten, nach dem Unendlichen, das in der endlichen Existenz des Menschen nur durch Transzendenzerlebnisse spürend vernommen werden kann. Bei Fichte richtet sich Sehnsucht auf das Ewige und Unendliche und wird demgemäß bestimmt als »Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden und zu verschmelzen«. Auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war der religionsphilosophischen Semantik der Sehnsucht verpflichtet. Friedrich Schlegel sah die Sehnsucht auf
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Festzuhalten ist: In der Romantik nahm die Sehnsucht nicht nur eine eigentümlich selbstbezügliche Struktur an, die eine Sehnsucht nach der Sehnsucht weckte (analog zur Liebe der Liebe). Sie wurde auch analysiert wie niemals zuvor. Die »Sehnsucht« wurde zu einem psychologischen, dichterischen und metaphysischen Konzept ausdifferenziert. Die damalige Bewunderung der Sehnsucht darf man also nicht zuletzt als ein Zeichen dafür lesen, dass die romantischen Köpfe eine Motivationspsychologie, die den Menschen primär als rationales Wesen begreift, das sein Handeln angeblich an bewusst kalkulierten und planvoll verfolgten Zielen orientiert und dabei vernunftgemäße, zweckdienliche Mittel einsetzt, nicht gerade für sonderlich realistisch und hilfreich gehalten haben. Sie sahen in der Sehnsucht ein höchst komplexes, vielfältiges und zweischneidiges Gefühl, das zweifellos eine der wesentlichen Antriebsmomente menschlichen Strebens, Wollens und Handelns darstellt. Sehnsucht motiviert, und so ist die Welt des Menschen dann auch voll von Zeichen und Zeugnissen bewegender Sehnsüchte. Davon zeugen die größten Taten und eindrucksvollsten Werke ebenso wie die kleinsten und banalsten Dinge, mit denen sich Menschen in ihrem alltäglichen Leben umgeben, die sie herstellen und verändern, mit sich tragen und handhaben, pflegen oder zerstören. Geliebte Objekte und fetischisierte Dinge sind Sehnsuchtsorte, Projektionsflächen für sehnsüchtiges Verlangen aller Art. Das gilt nicht allein für Dinge und Objekte im engeren Sinn, sondern auch für Räume und Orte, Landschaften, Plätze, Straßenzüge, Bauten, nicht zuletzt für Ereignisse aller Art. Offenbar ist das romantische Faible für die Sehnsucht eine hymnische Hommage an das Intransparente und Inkommensurable, an all das, »was der Mensch ahnt und erstrebt, aber nicht benennen kann« (Corbineau-Hoffmann 1995: Sp. 167), was er wünscht und will und doch nie zu erreichen vermag, so dass die prinzipiell unbefriedigte, jedenfalls nie völlig still zu stellende Sehnsucht sich stets aufs Neue reproduziert. Sie schafft sich selbst in unerschöpflichen, verwandelten Gestalten, indem sie ihre restlose Erfüllung verweigert. »Am Anfang ist die Sehnsucht!«, so könnte in der Tat eine motivationspsychologische Einsicht der Romantik lauten, die deren Menschenbild zutiefst prägt. E.T.A. Hoffmann und Novalis und viele andere kreisen in ihrem Leben und Schaffen um eine unaussprechliche und uneinholbare Sehnsucht, die gleichwohl real und wirkmächtig ist wie nichts sonst. Sie alle stellen das Suchen über das Finden, schätzen eher den Weg als das Ziel, bewerten das Streben höher als die Erfüllung, glauben an den Wunsch stärker als an seine Befriedigung, sind nicht selten sogar eher ins Scheitern als ins Gelingen verliebt und glauben an den psychologischen Realismus der Tragödie. Sie gebärden Bekanntes wie Unbekanntes gerichtet und hielt dieses »reine Streben« für den bedeutendsten Antrieb menschlichen Handelns, dem sich »fast alles Schöne und Große« verdanke: Corbineau-Hoffmann 1995: Sp. 167.
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sich als durchaus weitsichtige Kritiker schaler instrumenteller Vernunft und erfolgsorientierter Zweckrationalität und Handlungsmacht (ohne der Irrationalität oder gar Antirationalität blind zu huldigen). Die blaue Blume obsiegt über die graue Rationalität, die warme Logik des Herzens über die kühle Logik des Verstandes, die Gründe der Liebe und des Willens kommen in dieser bis heute so einflussreichen Tradition vor den Gründen der Vernunft und bleiben für jeden Menschen zeitlebens wichtiger und verbindlicher. Dafür steht und spricht nicht zuletzt die »Sehnsucht«. Noch für Goethe darf die wahre Sehnsucht nur auf ein Unerreichbares und letztlich Unbestimmbares gerichtet sein. Nun, dieser exaltierte Überschwang wird dann insbesondere Georg Friedrich Wilhelm Hegel erheblich zu viel und ein wirklicher Dorn im Auge. Ihm geht das alles gegen den Strich, so dass er sich zu harscher und heftiger Kritik an der romantischen Schwärmerei verpflichtet sieht. (Die Romantiker hätten natürlich Hegels Sehnsucht nach Vernunft gewittert und aufs Korn genommen.) Der Vollender der idealistischen Philosophie konnte dem vernunftkritischen Habitus der Romantiker und ihrem emotionalen Überschwang nichts mehr abgewinnen. Ihm missfiel speziell dieses dunkle, trübe Gefühl der Sehnsucht und das romantische Loblied auf deren Intransparenz und Inkommensurabilität. Hegel ebnete seiner Abwertung den Weg. Lange sollte es bei einer gewissen Geringschätzung und Missachtung des einst beschworenen Gefühls bleiben, auch in der Psychologie und Philosophie (sowie anderen Sozial- und Kulturwissenschaften). Eduard Sprangers und Friedrich Bollnows späte Reminiszenzen an die Sehnsucht wertet Corbineau-Hoffmann zurecht als Ausnahmen, die letztlich nichts gegen den Niedergang eines Gefühls und seiner Bedeutung wenn schon nicht im Leben, so doch im gehobenen Denken und avancierten Forschen auszurichten vermochten. So lautet jedenfalls Corbineau-Hoffmanns im Historischen Wörterbuch der Philosophie dargelegter Befund. Das ist vielleicht jedoch eine vorschnelle und allzu einseitige Diagnose, die schon auf das frühe und mittlere 20. Jahrhundert nicht so ganz zutrifft und die heutige Lage vollends verfehlt. Die auch in der »Sehnsucht« fortbestehenden Spuren der Romantik mochten verwischt sein, völlig ausgelöscht waren sie im 20. Jahrhundert wohl niemals (was zweifellos gute und schlechte Seiten hatte). Natürlich sollte, wer an einer Korrektur des Befundes von Corbineau-Hoffmann interessiert ist, nicht sklavisch am Wort festhalten, sondern vielmehr an die wesentlichen Elemente seiner überlieferten Pragmatik und Semantik, an seine wichtigsten strukturellen und funktionalen Bedeutungen erinnern. Dann nämlich lässt sich etwa Sigmund Freuds Psychoanalyse durchaus auch von der Sehnsucht her auslegen. Für die Psychoanalyse waren bekanntlich unbewusste Wünsche und Begehren zentral, und die weisen unverkennbar einige Familienähnlichkeiten mit der Sehnsucht auf. Im Übrigen spricht auch die ungeahnte Renaissance und Rehabilitierung der Sehnsucht in der Psycho-
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logie unserer Tage eine deutliche Sprache. Diesbezüglich ragen die innovativen Arbeiten von Ernst E. Boesch heraus (vgl. Boesch 1998/2000/2005). Es ist vor allen anderen dieser Autor, der in subtiler Weise an die überlieferte Pragmatik und Semantik des Begriffs anschließt und sie in handlungs- und kulturpsychologischer Perspektive erneuert und präzisiert, wobei er die Sehnsucht als vornehmlich motivationspsychologisches Konzept bestimmt und benutzt. Dieser originelle Beitrag findet in anderen Arbeiten einen Nachhall, so etwa in der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, wie sie von Paul Baltes – einem ehemaligen Mitarbeiter von Boesch – vertreten wird (vgl. Baltes 2008: 77-86). Dort wird Boeschs Anliegen allerdings nicht nur aufgegriffen und in entwicklungspsychologischer Perspektive ergänzt und erweitert, sondern auch verwandelt. Baltes’ Übernahme des Begriffs ließe sich übrigens selbst als Transformation der kulturellen Pragma-Semantik eines vielschichtigen und polyvalenten Konzepts (sowie der damit verwobenen Sprachspiele und Lebensform) rekonstruieren. Im Zuge der Integration in das methodische Forschungsprogramm einer bestimmten Spielart der life span developmental psychology verliert das Konzept nämlich einen Teil seiner Komplexität. Es mutiert (insbesondere im Zuge der definitorischen Bestimmungen und forschungspragmatischen Operationalisierungen des Begriffs) zu einer Art erweiterter Vorstellung von »Zielen«, an denen sich ziemlich ›zweckrationale Utopisten‹ in eigener Sache orientieren: Diese sehnsüchtigen Subjekte sehnen sich nämlich, wie der bezeichnende Untertitel eines Beitrags von Baltes anzeigt, nach einem »vollkommenen und perfekten Leben«. Nun, da scheint offensichtlich das normative Idealbild eines zupackenden Erfolgsmenschen durch, der einigermaßen zu wissen scheint, was (wenigstens für ihn selbst) ein »vollkommenes und perfektes Lebens« ist – und der dieses ›positive‹ Ziel der Selbst- und Lebensoptimierung in ›positiver‹ Gestimmtheit in Angriff nimmt (stets aufs Neue, freilich wissend, dass utopische Horizonte unerreichbar bleiben).
4. S CHLUSSLICHTER DER G ROSSSTADT : S EHNSUCHTSR ÄUME Von der leidenschaftlichen, seelisch abgründigen und kulturkritischen romantischen Schwärmerei über Boeschs handlungs- und kulturpsychologische Analysen eines extrem vielschichtigen Phänomens bis hin zur simplifizierenden Fassung einer »Utopie« im Rahmen der »Lebensspannen-Psychologie der Sehnsucht« ist es durchaus ein weiter Weg. Ungeachtet aller Unterschiede lässt sich jedoch festhalten: Von der lebensweltlichen Relevanz des soziokulturellen und psychosozialen Phänomens sowie der wissenschaftlichen Bedeutung eines allzu lange vernachlässigten Begriffs ist man hier wie dort überzeugt. Sehnsucht ist, so scheint es, (auch) eine durch und durch zeitgenössische An-
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gelegenheit (wie die Nostalgie, die ja ein Geschwister, vielleicht sogar ein Kind der Sehnsucht ist). Dazu passt es gut, dass der genuin psychologische Begriff in einem von der Stiftung Mercator im Rahmen der Global Young Faculty geförderten, interdisziplinären Projekt zum Thema »Sehnsuchtsstädte« auftaucht – und auch an 1000 anderen Stellen weltumspannender Diskurse. Was lässt sich nun aus meinen begriffsgeschichtlichen und psychologischen Annotationen für die in diesem Projekt behandelten und avisierten Sehnsuchtsstädte schlussfolgern, was lässt sich für ihre unter dem hier ausgeführten Gesichtspunkt zu bedenkende Konzeption und Planung, Gestaltung und Verwirklichung womöglich lernen? Ich glaube – ohne die gestellte Frage noch ausführlich zu behandeln –, dass wenigstens zwei Punkte naheliegen und wichtig sein könnten: Zum einen sollte man im Hinblick auf die Arbeit an Sehnsuchtsstädten zweierlei Typen von Bedürfnissen bzw. Wünschen unterscheiden. Menschen haben einerseits (mehr oder weniger) bewusste, klare, transparente, rationale, zweckmäßige, praktische Bedürfnisse, die sie in ihren vielfältigen Leben in der Stadt befriedigt sehen möchten. Die Stadt soll so und so sein, nicht anders, z.B. überschaubar und übersichtlich, funktional und effizient im Hinblick auf die eigenen Anliegen und Erfordernisse, schön und faszinierend, ansprechend und animierend in den Erlebniszonen, unterhaltsam oder sogar aufregend, erholsam zumindest in den eigens eingerichteten Ruhezonen, sie soll möglichst saubere Luft bieten trotz des allgegenwärtigen Verkehrs, usw., usf. Diese Liste ist lang und beliebig verlängerbar, sie wandelt sich im Laufe der Zeit bekanntlich beinahe unentwegt. All diesen mäandernden Bedürfnissen und Vorstellungen können Städteplaner sowie weitere an der Gestaltung von Sehnsuchtsstädten mitwirkende Berufsgruppen gerecht zu werden versuchen. Zum anderen hegen Menschen unbewusste Wünsche, kennen ihre eigenen Motive und Begehren selbst nicht so recht und wissen vor allem oft gar nicht (genau), wonach sie sich eigentlich hier und heute oder mittel- und langfristig sehnen (in einem Gestrüpp aus sich widersprechenden und sich widerstreitenden Optionen und Orientierungen). Gerade Sehnsüchte erweisen sich, wie dargelegt, oftmals als unklar, diffus, flexibel, verzehrend und dennoch bewegend, antreibend und dabei seltsam richtungslos, sogar ziellos und eigenartig um sich selbst kreisend, unstillbar ohnehin. Der Gang in die Stadt hat vielfach einen konkreten Grund und Zweck, und doch geht es um mehr als die alltäglichen Anlässe, Besorgungen und Verrichtungen – selbst dann, wenn diese konkreten ›Dinge‹ das bewusste Ziel beim Gang in und durch die Stadt sein sollten, ein Ziel, das sich gemeinhin auch erreichen lässt. Vielfach suchen wir die Stadt jedoch auch aus Sehnsucht nach etwas deutlich weniger Bestimmtem und Bestimmbaren auf – aus Sehnsucht eben, nach was auch immer: nach anderen Menschen, ihrer (anonymen) Anwesenheit, ihrer Lebendigkeit und Vielfalt im bunten Treiben der Stadt, nach dem vertrauten Café, in dem vielleicht
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Freundinnen und Freunde angetroffen werden (oder wenigstens Partner für einen small talk oder Tratsch), nach sinnlichen Eindrücken unterschiedlichster Art (von den Gerüchen im U-Bahn-Schacht oder am Imbissstand bis zum bunten Glitzer der Neonreklamen oder den Motorgeräuschen). Auf Vieles und viel Verschiedenes kann sich die Sehnsucht beziehen, vage und umherschweifend, erfüllbar allenfalls für einen flüchtigen, illusionären Moment. Auch darauf kann achten, wer Städte entwirft, plant und baut: Städte können Sehnsüchten Raum bieten, sie evozieren, modifizieren und variieren, ohne auf ihre Stillstellung auszusein. Sehnsuchtsstädte könnten Sehnsuchtsräume auch in diesem Sinne sein. Sie bedienen und erfüllen dann nicht nur konkrete, klare und bewusste Bedürfnisse, sondern nähren und wecken Sehnsüchte in einem nicht kontrollierbaren Spiel der Begehren und Wünsche. Auch wenn es kaum möglich ist, notwendige und hinreichende Bedingungen dieses Spiels auszumachen – in anthropologisch-universalistischer Perspektive ist das ohnehin ein Unding, aber auch in historisch spezifizierter, kulturell und sozial konkretisierter Perspektive ist das äußerst schwierig –, so wissen wir doch aus Erfahrung, dass (und wie) man dieses Spiel unterbinden, einengen oder fast völlig zum Erlahmen bringen kann. Unwirtliche Städte, in denen dieses Spiel wegen der tendenziell totalitären Geschlossenheit eines monolithischen städtebaulichen Konzepts kaum Chancen hat, triste Betonwüsten und allzu atemberaubende Glascontainer kennen wir alle zuhauf. Monotone und monochrome Areale, auf denen das normierte und normalisierte Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner genauso abgezirkelt und durchkalkuliert wirkt wie die begehbaren Flächen und berührbaren Objekte, sind uns allen hinlänglich vertraut. Diese ›erfahrungsgesättigten‹ negativen Kontrasthorizonte liefern gewiss keine eindeutigen Rezepte für den Entwurf und Bau neuer Sehnsuchtsstädte. Gangbare Richtungen, in denen sich eine Global Young Faculty kreativ und vielversprechend bewegen kann, während sie nach Sehnsuchtsstädten Ausschau hält, nach kommenden Städten, in denen das »Spiel der Sehnsucht« eine durchaus wichtige Rolle für ihre Bewohner spielen darf, zeigen sie allerdings schon an.
B IBLIOGR APHIE Anonymus. 2006. »Sucht«. In: F.A. Brockhaus GmbH (Hg.), Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. 26. Band. Leipzig: F.A. Brockhaus GmbH, Sp. 571-574. Baltes, Paul B. 2008. »Positionspapier: Entwurf einer Lebensspannen-Psychologie der Sehnsucht – Utopie eines vollkommenen und perfekten Lebens«. In: Psychologische Rundschau, 59 (2): 77-86. Benecke, G.F./Müller, W./Zarncke, F. 1866/Nachdruck 1963. Mittelhochdeutsches Wörterbuch II/2, 359, zit.n. Corbineau-Hoffmann, A. 1995. »Sehn-
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Sehnsuchtsstädte und Stadtsehnsüchte Urbanität, Natur und Schönheit Alexander Pellnitz
Sehnsüchte, so der Psychologe Ernst Boesch, sind mehr als nur Zielorientierungen, sie »definieren uns als Person« (Boesch 1998: 20). Das »Sehnen« ist für ihn ein »Streben nach Erfüllung«, die eine »Grundqualität unseres Seins«, einen »Grundzug allen Handelns« darstelle (ebd.: 16). Die Wirklichkeit unserer Welt wie unserer Person sei dabei »sowohl eine solche des Seienden, wie des Möglichen« (ebd.: 24). Jede Sehnsucht symbolisiere eben diese Möglichkeit einer grundsätzlichen Erfüllung, die Möglichkeit, die Unzulänglichkeiten unseres Selbst und die Antagonismen unserer Welt zu überwinden (vgl. ebd.: 23). Erst in der »Antizipation seines Werdens«, so Boesch, gewinne das Selbst eine Ganzheit.1 Diesen »Möglichkeiten« und den Sehnsüchten nach diesen soll hier in Bezug auf unsere Städte nachgegangen werden. Mit dem Begriff Sehnsuchtsstädte ist dabei weniger, wie vielleicht naheliegen könnte, die Sehnsucht nach Städten gemeint, die Ziel unserer Reisen sind. Es geht eher um Sehnsüchte nach bestimmten Stadtformen und urbanen Räumen, die mit der Möglichkeit eines bestimmten Lebens in diesen Räumen verbunden werden. Diese Sehnsüchte nach einer bestimmten Art von Stadt, diese »Stadtsehnsüchte« können sich jedoch wiederum in konkreten Sehnsuchtsstädten symbolisch manifestieren, so dass einzelne Städte Symbole für die eigenen Stadtsehnsüchte werden. Dies kann sogar so weit gehen, dass diese Sehnsuchtsstädte in einem Beinamen für die eigene Stadt aufgehen, der der eigenen Sehnsucht Ausdruck verleiht – Elbflorenz, Spree-Athen oder Klein-Paris –, wobei hier die Sehnsucht nach der anderen Stadt und die Aufgabe der eigenen Identität fast schon pathologische Züge annimmt. Bei Stadtsehnsüchten und Sehnsuchtsstädten handelt es sich dabei nicht nur um völlig unterschiedliche Sehnsüchte vereinzelter Individuen. Parallel 1 | Vgl. ebd.: »Sehnsucht zu verspüren, beglückt, weil sie uns vollständiger macht – und es bedrückt, weil sie uns unsere Unvollständigkeit vergegenwärtigt.«
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zum Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« (Halbwachs 1950) könnte man hier vielleicht von »kollektiven Sehnsüchten« sprechen, die verschiedenen Menschen zu eigen sind, ohne damit gleich bestimmte Gruppen oder Gemeinschaften zu bilden. Mit Boesch könnte man sagen, dass erst durch diese kollektiven, auch widersprüchlichen Stadtsehnsüchte, mit denen mögliche Entwicklungen einer Stadt antizipiert werden, die Stadt selbst zu einer gewissen »Ganzheit« gelangt. Die Stadt und ihre Gesellschaft denkt so anhand ihrer verschiedenen kollektiven Sehnsüchte über ihre eigene Zukunft nach. Diese kollektiven Stadtsehnsüchte scheinen den Bau der Städte seit Beginn der Urbanisierung ganz maßgeblich zu beeinflussen.
Abbildung 1: Spectacula Babylonica (Fischer von Erlach 1725: 15).
Sehnsuchtsstädte und Stadtsehnsüchte existieren, seit es Städte gibt. Schon in den ältesten Sagen und Schriften tauchen solche Sehnsüchte auf. Dabei stehen sich von Anfang an zwei archetypische Stadtmodelle gegenüber: die urbane Großstadt und der urbane Garten. Unter den sieben »klassischen« Weltwundern, wie sie von Antipatros von Sidon im zweiten Jahrhundert v. Chr. beschrieben werden, befinden sich überwiegend Monumente für Götter oder Grabbauten für Herrscher, jedoch nur zwei wirklich städtische Anlagen, die auch von Menschen bewohnt werden: die hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon und Babylons Stadtmauern selbst, die symbolisch für die gesamte von ihnen eingeschlossene Stadt stehen.2 Babylon ist eine der ersten Großstädte 2 | »Anschauen durfte ich mir des ragenden Babylon Mauern, die man mit Wagen befährt, dann den alpheischen Zeus, auch die Hängenden Gärten und den Koloss des He-
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der Welt, eine Metropole, deren Dimension der moderner Großstädte durchaus vergleichbar ist (vgl. Benevolo 1991: 30). Lange Zeit galten Babylon und einige andere Haupt- und Residenzstädte Mesopotamiens als »Symbole und Prototypen für das menschliche Zusammenleben auf engem Raum« (ebd.). In der klassischen Antike Griechenlands blickt der Geschichtsschreiber Herodot auf die Metropole Babylon als »schönste Stadt« der vielen »gewaltigen Städte« Assyriens (Herodot, Historien; Übersetzung nach Horneffer, Haussig 1979: 80). Diese beiden Stadtmodelle, der urbane Garten und die dichte, ummauerte, hoch aufragende Metropole beflügeln seit dieser Zeit Phantasie und Sehnsüchte der Menschen.
Abbildung 2: Hängende Gärten von Babylon, Künstler unbekannt, 19. Jahrhundert.
Noch während der klassischen Zeit, in der Herodot die realen Monumente beschreibt, legt Platon mit seinen Entwürfen für eine neue Polis, einen neuen Stadtstaat, in der Politeia und mit der Beschreibung seiner Stadt Atlantis im lios, die Pyramiden, ein Werk mächtig zur Höhe gereckt, und das gewaltige Grabmal des Mausolos. Aber der Tempel, der sich in Wolken verliert, heilig der Artemis, ließ alles andere verblassen.« (Ebener 1991: 58) Erst später werden die Mauern Babylons durch den Leuchtturm von Pharos als siebtes Weltwunder ersetzt.
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Timaios und im Kritias zwei der einflussreichsten Utopien in der Geschichte vor (vgl. Platon, Politeia/Timaios/Kritias; Übersetzung nach Rufener 1974). Metropole, Garten und Utopie – diese drei Sehnsüchte nach Stadt, Natur und nach dem Neuen oder Anderen bestimmen seither bis heute immer wieder bewusst oder unbewusst die Stadtsehnsüchte der Menschen. Auch im Alten und Neuen Testament nehmen diese drei Stadtsehnsüchte eine zentrale Rolle ein, nun jedoch mit ganz anderen Konnotationen. Das paradeison, wie die Griechen die städtischen Gartenanlagen der Assyrer nennen, wird in der Bibel ein Garten fern jeder urbanen Zivilisation, es wird zum Paradies, das zu einem in der Gegenwart unerreichbaren Sehnsuchtsort wird. Die Metropole Babylon mit ihrer »Sprachverwirrung« hingegen wird zu einem Symbol von Sünde und Dekadenz. Dieser nun abschreckenden Metropole wird in der Offenbarung des Johannes wiederum eine erlösende Utopie, das Himmlische Jerusalem, gegenübergestellt, die ebenso totalitär wie Platons Staat ist.3 Die Utopie, die Sehnsucht nach dem Neuen, bestimmt im 20. Jahrhundert immer mehr die Entwicklung der Städte. Die Visionen von ganz neuen und anderen Stadtformen verändern die Sicht auf die existierende Stadt und mit der Zeit auch die Formen der Städte selbst. Die »Sehnsucht unserer Zeit« ist für den modernen Architekten Bruno Taut die »Idee der neuen Stadt« (Taut 1919: 55). Es sind vor allem Sehnsüchte nach Gegenmodellen zur überlieferten dichten Stadt mit ihren Hinterhöfen und schlecht belichteten Wohnungen, mit ihren engen »Korridorstraßen« und ihrer überladenen historistischen Architektur. Diese Gegenmodelle reichen von der »Garden-City« eines Ebenezer Howard (Howard 1898: 1902) mit der Idee einer Überwindung des Gegensatzes von Stadt und Land bis hin zur vollständigen »Auflösung der Städte« wie bei Bruno Taut (Taut 1920). Eine »tiefe Sehnsucht«, so Taut, leite uns alle: »Wir wollen wieder Städte, in denen wir nach Aristoteles nicht bloß sicher und gesund, sondern auch glücklich wohnen können. Diese Sehnsucht sitzt so tief, dass wir nicht mehr nach dem Alten zu schielen brauchen. Mit Stolz kennen wir unsere eigenen, ganz von den alten Zeiten abweichenden Wünsche und Neigungen und streben ihnen voll Hoffnung, unbeirrt durch alle Hemmungen, zu. (Taut 1919: 55)
Die Idee der Gartenstadt, wie sie Ebenezer Howard propagiert, ist auch für Taut mehr als »bloßes Verstandeserzeugnis«, sondern aus einer »Sehnsucht nach Glück« geboren (ebd.: 82). Bereits zu Beginn der Moderne vermutet der holländische Architekt Hendrik Petrus Berlage, dass man es in dieser Zeit »höchstens zu einer Einigung in formaler Schönheit« bringen könne, also »höchstens zu einem formalen 3 | Vgl. hierzu den Aufsatz von Reinhard von Bendemann und die Diskussion in diesem Buch.
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Stil«, nicht aber zu einem Stil als »Spiegelbild einer geistigen Idee, eines geistigen Ideals, einer Kultur« (Berlage 1907: 293). Wenn aber die moderne Bewegung in »vernünftiger konstruktiver Form, d.h. sachlich klar« arbeite, dann arbeite auch sie mit einer »gewissen religiösen Tendenz, mit einer Sehnsucht« (ebd.). Ähnlich spricht auch Hermann Muthesius von einer »Sehnsucht nach Reinheit und Einfachheit« (Muthesius 1902: 13), von einer »Sehnsucht nach Schlichtheit und Natürlichkeit« (Muthesius 1909: 26), die für die Gegenwart charakteristisch sei. Vielleicht könne diese Sehnsucht, so Berlage hoffend, schließlich doch zur Wirklichkeit werden und »eine neue Weltidee gebären« (ebd.).
Abbildung 3: Metropolis (1927) von Fritz Lang (Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung, Wiesbaden).
Neben der Utopie einer neuen, sachlichen und modernen Form und den Utopien der Gartenstädte gibt es auf der anderen Seite technizistische Utopien, die vor allem als Megastrukturen in den 1960er Jahren weltweit Verbreitung finden.4 Diese Sehnsucht nach dem Neuen, die Sehnsucht nach Zukunft, nach einer neuen, moderneren Welt mit neuen Formen ist bis heute ungebrochen. Dabei verbinden sich heute die Zukunftssehnsüchte mit den Utopien einer ökologisch nachhaltigen Stadt und mit technizistischen Phantasien, die Alternativen zu den verkehrsüberlasteten und umweltzerstörenden Städten bringen sollen. Als Reaktion auf den Klimawandel und die Energiewende werden zahl4 | Z.B. die Entwürfe der japanischen Metabolisten. Vgl. Banham 1976.
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reiche Lösungsansätze und Utopien entworfen, die teilweise zu ganz neuen Stadträumen und Stadtstrukturen führen. Häuser werden allein zur Sonne ausgerichtet, ohne dass sie noch einen urbanen Stadtraum bilden könnten. Das vieldiskutierte und vermeintlich vorbildliche Projekt der energieneutralen Stadt Masdar City in Dubai stellt dabei eine einzige technizistische Megastruktur dar, die völlig künstlich in die Wüste gesetzt wurde und mit der Stadt, wie wir sie kennen, nichts mehr zu tun hat.5 Bei diesen Planungen stellt sich einerseits die Frage, inwieweit diese Lösungsansätze und utopischen Entwürfe noch Sehnsüchte der Bewohner nach urbanen, lebendigen oder auch schönen Räumen widerspiegeln. Auf der anderen Seite ist zu hinterfragen, inwieweit bei den Planern selbst nicht auch eine Sehnsucht nach der Planung oder der Technik als Lösung aller Probleme herrscht, die sich eben von den Sehnsüchten der Bewohner weit entfernt hat. Dieser Glaube an die Vernunft und an die Technik durchzieht bereits das gesamte 20. Jahrhundert und scheint heute wieder in den von der Technik bestimmten ökologischen Stadtentwürfen aufzuleben. In den letzten drei Jahrzehnten gibt es in Deutschland auch eine immer stärker werdende Tendenz einer sogenannten »Sehnsucht nach Geschichte« (Nassehi 2008: 68-71), die jedoch eher eine Sehnsucht nach Vergangenheit, in den meisten Fällen vor allem eine Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit zu sein scheint.6 Mittlerweile setzt sich eine breite Strömung in der Bevölkerung massiv und erfolgreich für Rekonstruktionen ein.7 Bei dieser Strömung geht es nicht nur um Rekonstruktionen von bedeutenden Monumenten wie bei der Frauenkirche in Dresden oder Fassadenrekonstruktionen wie bei den Schlössern von Berlin und Potsdam. Es geht hier weit darüber hinaus um die Rekonstruktion von ganzen Stadtkernen, die versprechen, eine zerstörte Vergangenheit zurückzuholen. Oft sind diese Rekonstruktionen jedoch nur oberflächliche Wiederherstellungen von Stadtbildern oder Kulissen vor überdimensionierten Einkaufsarealen wie in Dresden gegenüber der Frauenkirche oder im Fall des Braunschweiger Schlosses. Seit Kriegsende gibt es unzählige Rekonstruktionsprojekte ganzer Altstädte, so in den 1950er Jahren in Warschau und Münster, in den 1980er Jahren im Nikolaiviertel in Ost-Berlin, gegenwärtig vor allem in Dresden, und in naher Zukunft wohl in Frankfurt a.M., Berlin, Potsdam und weiteren Städten. 5 | Vgl. hierzu das Themenfeld »Sehnsuchtstechniken« in diesem Band. 6 | Zur aktuellen Rekonstruktionsdebatte vgl. Hassler/Nerdinger 2010. Nerdinger 2010. Von Buttlar 2010. 7 | Die sogenannte »kritische Rekonstruktion«, die vor allem von Architekten und Städtebauern für die IBA Berlin von 1987 entwickelt wurde und auch Leitbild Berlins nach dem Fall der Mauer wurde, bezog sich überwiegend auf den Grundriss der Stadt, der kritisch interpretiert werden sollte.
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Unabhängig von dem Für und Wider von kritischen oder philologischen Rekonstruktionen von Monumenten, Fassaden oder ganzen Vierteln stellt sich hier vor allem die viel zu wenig diskutierte Frage, inwieweit die Sehnsucht nach den vergangenen Stadtbildern vor allem einer Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Stadtplanung, genauer gesagt mit der gegenwärtigen Stadtgestaltung und den gegenwärtigen Stadtbildern geschuldet ist. Die historischen Innenstadtbereiche sind dabei trotz ihrer vergleichsweise geringen Größe keineswegs Flächen, die allein den Rekonstruktionsbefürwortern überlassen werden können. Die historischen Kernbereiche der Städte sind nicht nur Kristallisationspunkte der Stadtsehnsüchte einer Stadt, sondern beeinflussen gleichzeitig ganz maßgeblich wiederum die Sehnsüchte und das Selbstverständnis dieser Stadt. Nur eine breite Debatte über die Stadtsehnsüchte, die sich auch auf diese historischen Bereiche mit ihren zahlreichen Schichten beziehen, kann ihrer Bedeutung gerecht werden. In den Rekonstruktionsdebatten zeigen sich zwei weitere Sehnsüchte: die nach der Identität einer Stadt, nach für sie charakteristischen Räumen und Formen, nach einer ortsbezogenen Stadtarchitektur, und wie oben bereits angesprochen gleichzeitig die Sehnsucht nach Schönheit, nach einer schönen Stadt, nach schönen öffentlichen Räumen, nach schönen Plätzen und Straßen – wobei diese beiden Sehnsüchte eng miteinander verbunden sind. Wie erwähnt preist schon Herodot die Schönheit der assyrischen Großstädte.8 Diese Verherrlichung der urbanen Schönheit findet sich in allen Jahrhunderten und ist einer der Hauptantriebe für die Gestaltung dieser Städte und ihrer Monumente, ganz gleich, ob diese Städte Symbole der Macht eines Herrschers oder einer freien Kommune sind. Staunend bewundert der Jugendstil-Architekt August Endell die untergegangenen Städte Babylon, Theben, Athen, Rom und Bagdad, feiert dann aber vor allem »Die Schönheit der grossen Stadt« seiner eigenen Zeit in seinem gleichnamigen Buch von 1908: Denn das ist das Erstaunliche, dass die große Stadt trotz aller hässlichen Gebäude, trotz des Lärmes, trotz allem, was man an ihr tadeln kann, dem, der sehen will, ein Wunder ist an Schönheit und Poesie, ein Märchen, bunter, farbiger, vielgestaltiger als irgendeines, das je ein Dichter erzählte, eine Heimat, eine Mutter, die täglich überreich verschwenderisch ihre Kinder mit immer neuem Glück überschüttet. Das mag paradox, mag übertrieben klingen. Aber wen nicht Vorurteile blenden, wer sich hinzugeben versteht, wer sich aufmerksam und eindringlich mit der Stadt beschäftigt, der wird bald gewahr, dass sie wirklich tausend Schönheiten, ungezählte Wunder, unendlichen Reich-
8 | Carl Boetticher sieht keine höhere Aufgabe für die Kunst, als bei den Menschen die »Sehnsucht nach dem Edlen und Schönen« zu erwecken. Boetticher 1846: 2.
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tum, offen vor aller Augen und doch von so wenigen gesehen, in ihren Straßen umfängt. (Endell 1908: 22)
Eine dieser Schönheiten ist genau die Verbindung von Stadt und Natur, die er in den urbanen Straßen mit ihren begrünten Balkonen entdeckt: Aber alle diese Häuser haben in jedem Stock zwei Gitterbalkons wie kleine Vogelkäfige, und jeder Käfig ist ganz voll vom dunklen Grün und Rot der dort sorgsam gezogenen Blumen und Schlingpflanzen. So scheinen die Straßenwände ganz bedeckt mit dicken, sattfarbigen Nestern, die in der perspektivischen Verschiebung dicht aufeinander hocken und der trübseligen armen Straße einen seltsamen Reiz von verhaltener leidenschaftlicher Glut, von phantastischer Großartigkeit geben. (Ebd.: 57)
Dieses »Bild von seltener Schönheit« ergibt sich für ihn »aus der Sehnsucht des eingesperrten Städters« nach der Natur (ebd.).
Abbildung 4: Manhattan (1979) von Woody Allen.
Unzählige Filme feiern diese Schönheit der Stadt, auch wenn die gefeierten Städte selbst meist extrem idealisiert werden. Man denke nur an die Werke von Wim Wenders über Lissabon, Havanna oder Palermo oder diejenigen von Woody Allen über Manhattan, Venedig, Barcelona, Paris oder Rom.9 Genau9 | Wim Wenders: Lisbon Story (1994), Buena Vista Social Club (1999), Palermo Shooting (2008). Woody Allen: Manhattan (1979), Everyone Says I Love You (1996), Vicky Cristina Barcelona (2008), Midnight in Paris (2011), To Rome With Love (2012).
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so werden mit dem Medium des Films jedoch auch Dystopien entworfen, die Kritik an Zukunftssehnsüchten üben können. So Filme wie Blade Runner von Ridley Scott mit seiner verfallenden, dunklen und verregneten Welt ohne Natur, die Sehnsüchte nach einer besseren Vergangenheit und einer besseren Zukunft aufscheinen lässt. Oder The Truman Show von Peter Weir, der die künstliche, realitätsferne Idylle und soziale Desintegration des amerikanischen New Urbanism entlarvt. In Metropolis von Fritz Lang erscheinen dann Utopie und Dystopie neben- oder besser untereinander, die städtische Großstadt-Utopie mit amerikanischen Wolkenkratzern und die Dystopie in Form der unterirdischen Arbeiterstadt in einem kargen modernen Stil. Das Schöne, so Ernst Boesch, vermittle uns zwar nicht das »Vollkommene schlechthin«, aber seine Idee (Boesch 1998: 35). Es lege uns nahe, dass es ein Anderes gebe, ein »dem Ungenügen der erlebten Wirklichkeit nicht Unterworfenes« (ebd.). Es berühre vor allem durch »seine Hinweisqualität«, und »die Ergriffenheit durch das Schöne wäre die Emotion dessen, der sich mit einem Symbol der Transzendenz konfrontiert« fühle (ebd.). So wäre es letztlich, so Boesch weiter, dieser »ganz metaphysisch erscheinende Drang«, uns in »mannigfachen symbolichen Handlungen dem schlechthin Vollkommenen anzunähern«, der das Streben nach dem immer Vollkommeneren erkläre, – oder »bescheidener vielleicht, seiner Idee immer wieder Gestalt zu geben« (ebd.). Die Städte selbst sind neben den Bildern, Filmen und Texten über diese Städte dabei vielleicht das wichtigste Medium, das solche Sehnsüchte hervorruft. Die reale Wahrnehmung einer Stadt, das Leben in einer Stadt oder die Reise in eine fremde Stadt sind, auch wenn sie immer durch andere Medien überlagert werden, doch eine grundlegende, direkte Erfahrung, die diese Sehnsüchte beeinflusst. Heutzutage gibt es auch wieder eine neue Sehnsucht nach Stadt. Das Leben in der Stadt hat im Vergleich zum Haus im Grünen wieder an Attraktivität gewonnen. Dabei scheint die Zersiedelung der Landschaften in den letzten Jahrzehnten, die nur durch scheinbar endlos zur Verfügung stehende Ressourcen und Energien, aber auch nur durch immense staatliche Subventionen möglich war, in der Geschichte der Stadt eher eine Ausnahmesituation gewesen zu sein. Das soziale und politische Leben des Menschen scheint trotz Zersiedelung und virtueller Welten in erster Linie ein reales urbanes Leben zu sein. Dabei vermischt sich die Sehnsucht nach Stadt heute auch wieder mit der Sehnsucht nach der Natur, aber nach der Natur in der Stadt, nach dem urbanen Garten. Das Urban Gardening greift die Sehnsucht nach Natur in einer städtischen Form auf und wird heute bereits in vielen Städten praktiziert. Dabei stellen diese Praktiken immer auch eine symbolische Kritik an der bestehenden Stadt und ihren Planungen dar. Urbaner Raum, urbaner Garten und urbane Schönheit sind seit Babylon bis heute wohl die zentralen Stadtsehnsüchte der Menschen. Es scheint, dass nur
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eine Verbindung dieser uralten Stadtsehnsüchte nach Urbanität, nach städtischer Natur und nach städtischer Schönheit zu einer wirklich ganzheitlichen und umfassenden Sehnsuchtsstadt führen werden.
Abbildung 5: August Wilhelm Julius Ahlborn. Nach Karl Friedrich Schinkel: Blick in Griechenlands Blüte, 1836. Ausschnitt.
B IBLIOGR APHIE Banham, Reyner. 1976. Megastructure. Urban futures of the recent past. London: Thames and Hudson. Benevolo, Leonardo. 1975. Storia della città. Rom/Bari: Editori Laterza. Dt.: ders. 1991. Die Geschichte der Stadt. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. 6. Aufl. Berlage, Hendrik Petrus. 1907. »Raumkunst und Architektur«. In: Schweizerische Bauzeitung, 49 (24): 293-297. Boesch, Ernst Eduard. 1998. Sehnsucht. Von der Suche nach Glück und Sinn. Bern: Hans Huber. Boetticher, Carl. 1846. »Das Princip der Hellenischen und Germanischen Bauweise hinsichtlich der Übertragung in die Bauweise unserer Tage«. In: Wiener Allgemeine Bauzeitung. Wien. von Buttlar, Adrian et al. (Hg.). 2010. Denkmalpflege statt Attrappenkult: gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie. Gütersloh u.a.: Birkhäuser (Bauwelt Fundamente).
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Ebener, Dietrich (Hg.). 1991. Die Griechische Anthologie in drei Bänden. Berlin: Auf bau-Verlag. IX. Endell, August. 1908. Die Schönheit der grossen Stadt. Stuttgart: Strecker & Schröder. Fischer von Erlach, Johann Bernhard. 1725. Entwurff Einer Historischen Architectur in Abbildung unterschiedener berühmten Gebäude des Alterthums und fremder Völcker. Leipzig. Halbwachs, Maurice. 1950. La mémoire collective. Paris: Presses Universitaires de France. Dt.: ders. 1967. Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke. Hassler, Uta/Nerdinger, Winfried (Hg.). 2010. Das Prinzip Rekonstruktion. Zürich: Hochschulverlag AG ETH Zürich. Howard, Ebenezer. 1902. Garden Cities of To-morrow. London: Sonnenschein. Howard, Ebenezer. 1898. To-morrow, a peaceful Path to Real Reform. London: Sonnenschein. Muthesius, Hermann. 1909. Kultur und Kunst. Jena: Eugen Diederichs. 2. Aufl. Muthesius, Hermann. 1902. Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt. MülheimRuhr: Schimmelpfeng. Nassehi, Armin. 2008. »Die Sehnsucht nach Geschichte«. In: Der Architekt, 4: 68-71. Nerdinger, Winfried (Hg.). 2010. Geschichte der Rekonstruktion, Konstruktion der Geschichte. München: Prestel. Taut, Bruno. 1920. Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung oder auch: Der Weg zur Alpinen Architektur in 30 Zeichnungen. Hagen i.W.: Folkwang-Verlag. Taut, Bruno. 1919. Die Stadtkrone. Jena: Eugen Diederichs.
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Sehnsuchtsmedien
Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus oder zum urbanen Himmel auf Erden Einführende Bemerkungen zur medialen Modellierung von (Sehnsuchts-)Städten Marco Thomas Bosshard und Jan-Dirk Döhling
1. S EHNSUCHT NACH EINEM URBANEN H IMMEL AUF E RDEN Im Beitrag von Jürgen Straub in diesem Band wird deutlich, dass das Wort »Sehnsucht«, mit seiner auf das Mittelhochdeutsche zurückzuführenden Etymologie, auf den ersten Blick eine ziemlich deutsche Angelegenheit zu sein scheint; zumindest lässt sich der Begriff nicht so einfach in andere Sprachen übersetzen. Das Portugiesische mag hier eine Ausnahme bilden: Saudade bezeichnet dort eine Mischung aus retrospektivem Heimweh (z.B. nach einem Ort, einer Stadt) und prospektivem Fernweh – etwa die Liebe des Matrosen zum Meer (denn natürlich waren und sind die Portugiesen Seefahrer, stets auf dem Weg zu neuen Ufern, neuen Orten, neuen Welten). Saudade – Heimund Fernweh, Sehnsucht – mögen daher auch viele Personen verspüren, die aus derjenigen Stadt der Lusophonie stammen, die in unserer europäischen Vorstellungswelt auch in touristischer Hinsicht geradezu als Inbegriff einer Sehnsuchtsstadt erscheint: Rio de Janeiro. Der Text eines berühmten Sambas aus dem Jahre 1968 hebt die Schönheit dieser real existenten Stadt auch aus einheimischer Perspektive hervor und bemüht dabei den Ausdruck vom »Himmel auf Erden« (bzw., doppeldeutig, vom Himmel, der »auf dem Boden« liegt: »céu no chão«): Vista assim do alto Mais parece um céu no chão […] Em Mangueira a poesia fez um mar, se alastrou E a beleza do lugar, pra se entender, Tem que se achar
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Que a vida não é só isso que se vê […] (Paulinho da Viola/Carvalho 1968) So, von oben aus gesehen, Sieht es eher aus wie ein Himmel auf Erden […] In Mangueira machte die Poesie ein Meer, sie breitete sich aus Und um die Schönheit des Ortes zu verstehen, Muss man sich sagen Dass das Leben nicht nur das ist, was man sieht […]1
Allerdings lässt das Toponym »Mangueira« aufhorchen, denn es verortet den Sprecher oder Sänger dieser Verse nicht etwa in der Postkartenidylle der Stadt, sondern in der gleichnamigen Favela2 von Rio. Umso mehr Bedeutung erlangt unter diesen Umständen die Feststellung, »Dass das Leben nicht nur das ist, was man sieht«, denn führt man sich die konkrete Position des Sprechers/ Sängers im Raum vor Augen, so blickt dieser von oben nach unten, d.h. von den Hügeln der Favela nach dort, wo der »Himmel auf Erden« liegt: hinab auf die Stadt und die Bilder von ihr, wie man sie aus der Fremdenverkehrswerbung kennt. Was der Sprecher/Sänger aus dieser Position nicht sehen kann, ist das, was sich in seinem Rücken befindet: die Favela selbst, der Ort des alltäglichen Elends, an dem sich das wirkliche, harte Leben abspielt; ihm entflieht der 1 | Die deutsche Übersetzung stammt von M.T.B. und J.-D.D. 2 | In unserem Kontext interessant ist die Begriffsgeschichte des Wortes favela, das sich eigentlich von einem Toponym (Monte Favela) herleitet und aufs Engste mit der millenaristischen Bewegung des Predigers Antônio Conselheiro verknüpft ist, der im brasilianischen Hinterland von Canudos eine religiöse Sozialutopie zu verwirklichen versuchte: »After years of […] nomadic existence, the Counselor settled in Canudos, below Monte Favela, and there created a millenarian outpost. The soil of Canudos was fertile […] Thousands followed him – landless farmers, freed slaves, disgruntled workers and indigenous people. The Canudos community was run without money, without alcohol, and with a minimum of sin – and it prospered.« (Perlman 2010: 25) Die brasilianischen Regierungstruppen setzten diesem Experiment jedoch 1897 ein blutiges Ende. Die siegreichen Soldaten, die in die Hauptstadt Rio zurückkehrten, benannten den Berg bei ihrer Kaserne, wo sie siedeln durften, in Erinnerung an Canudos »[…] in Morro da Favela um. Ab 1920 begannen lokale Zeitungen irreguläre Ansiedlungen, die sich mit dem radikalen Stadtumbau des Präfekten Pereira Passos ausgebreitet hatten, als Favela zu bezeichnen.« (Lanz 2004: 35) Vgl. dazu auch Bartelt 2013: 207. In vielen Favela-Ortsbezeichnungen in Rio (nicht nur im Fall von Cidade de Deus) schwingen offensichtlich religiöse Konnotationen mit: Providência, Babilônia etc.
Marco Thomas Bosshard/Jan-Dirk Döhling | Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus
Sänger/Sprecher nur visuell. Doch die ästhetische Wahrnehmung des fernen urbanen Himmels auf Erden generiert hier Poesie, und diese wiederum lehrt die Favela-Bewohner, anders »zu leben, zu träumen, zu denken und leiden«, wie der Samba-Text am Ende affirmativ festhält: Em Mangueira a poesia Num sobe e desce constante Anda descalça ensinando Um modo novo da gente viver, De sonhar, de pensar e sofrer […] In Mangueira geht die Poesie In stetigem Auf und Ab Barfuß umher und lehrt Die Leute eine neue Art zu leben, zu träumen, zu denken und leiden […]
Die Stadt wird hier im ästhetischen Blick also sowohl wahrgenommen als auch poetisch umgeformt – und zwar aus der Sicht eines urbanen Sprechers, der ein gutes, sorgenfreies Leben nicht kennt, sich dieses aber kraft der Imagination anzueignen sucht. Anhand des ebenso konkreten wie ambivalenten Sehnsuchtsortes Rio de Janeiro (vgl. Bartelt 2013), mitsamt seiner die Sehnsucht nach einer anderen, besseren Stadt implizierenden Favelas, soll hier skizziert werden, in welchen Konfigurationen Stadt, Sehnsucht und Medien miteinander verknüpft sein können. Wenn im Folgenden also die Frage nach den Idealbildern der ›schönen‹, der anderen, lebenswerten oder heilen Stadt im Zentrum steht, so bedeutet das nicht notwendigerweise, dass diese Bilder in der Realität tatsächlich eine Entsprechung finden müssen; vielmehr handelt es sich um mediale Konstruktionen oder Modellierungen, die unter den Bedingungen ästhetischer Verdichtungen kommuniziert werden. Solche Sehnsüchte nach der ›schönen‹ oder ›besseren‹ Stadt beziehen sich demnach, bevor sie in konkreten technischen Projekten oder sozialen Diskursen praktisch geworden sind, bewusst oder unbewusst auf Medien, die unsere Bilderwelten – und somit auch unsere Sehnsüchte – präfigurieren. Insofern darf man behaupten, dass ästhetische Medien im Sinne eines fiktionalen ›Probehandelns‹ (vgl. Lotman 1993) das performative Reservoir und die impliziten Bezugspunkte von konkreten sozialen und technologischen Praktiken konstituieren, die dann ihrerseits die Grenzen der Fiktion überschreiten können, um in der Wirklichkeit tatsächlich ästhetisch realisiert (oder zumindest potentiell realisiert) zu werden.
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Dieses Wechselspiel von Fiktion und Realität im Blick auf die ideale Stadt (die womöglich, wie wir sehen werden, wieder in Fiktion und dann neuerlich in Realität umschlagen kann) soll anhand einer intertextuellen, topischen und referentiellen Kontextualisierung des Rio-Romans Cidade de Deus (1997; dt. Die Stadt Gottes) des brasilianischen Schriftstellers Paulo Lins veranschaulicht werden, der durch die gefeierte Verfilmung von Fernando Meirelles unter dem Titel City of God (2002) internationale Bekanntheit erlangt hat. Roman und Film erzählen vordergründig von Elend, Gewalt und Drogenkriegen in einer Favela von Rio de Janeiro. Der Bezug zu Ideal- und Sehnsuchtsstädten ist daher ähnlich wie in dem eingangs zitierten Samba-Text nicht auf der unmittelbaren Inhaltsebene zu suchen, sondern in einer durch den Romantitel insinuierten Intertextualität.
2. I NTERTE X TUELLE E BENEN : A UGUSTINS CIVITAS D EI , DIE S TADT G OT TES UND DIE S TÄDTE DER G ÖT TER Der Titel Cidade de Deus bzw. City of God spielt an auf einen der zentralen Texte der christlich-okzidentalen Zivilisation: auf De civitate Dei des Kirchenvaters Augustinus. Mit Blick auf den Sehnsuchtsbegriff ist hierbei zunächst die von Augustin vorgenommene Grundunterscheidung von civitas Dei und civitas terrena interessant. Sodann lässt sich, wie noch deutlicher werden wird, auch das generelle Phänomen beleuchten, dass Städte keineswegs rein geographische, ökonomische oder demographische Größen, sondern ebenso sehr diskursive Größen sind, d.h. dass ihre Wahrnehmung und ihr Selbstverständnis zu einem erheblichen Maße von der Kommunikation über die Stadt und über die mit ihr verbundenen, in ihr verkörperten ideellen Werte und Wünsche geprägt sind (vgl. von Bendemann 2012: 20-28), die wiederum medial vermittelt sind und medial verändert werden. Auf diese Dimension gibt schon die Frage der Übersetzung des Wortes civitas einen Hinweis, denn wenn sich auch im deutschen Sprachraum für Augustins Werk die Wiedergabe Gottes Staat eingebürgert hat, so impliziert civitas (›Stadt‹, ›Staat‹, ›Gemeinwesen‹) im Lateinischen generell wie auch bei Augustin keineswegs nur die politisch-territoriale Dimension, sondern das Ganze des gemeinschaftlichen Lebens einer Gruppe von Menschen auf politischem, kulturellem, ethischem und ökonomischem Gebiet (vgl. van Oort 2007: 353), wobei dieses Ganze in der Antike gerade durch den Bezug auf (einen) Gott oder die Götter und ihre Verehrung – modern formuliert auf eine immaterielle Größe, einheitsstiftende Werte und Identitäten – repräsentiert wird (van Oort 2007: 354). Anlass für Augustins De civitate Dei war ein konkretes historisch-urbanes Ereignis, nämlich die Eroberung und dreitägige Plünderung und Brandschat-
Marco Thomas Bosshard/Jan-Dirk Döhling | Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus
zung Roms, der während der rund 100 Jahre sukzessiv zur christlichen Stadt gewordenen Metropole des römischen Weltreiches durch die germanischen Westgoten am 24. August des Jahres 410. Sowohl für die christlichen oder dem Christentum nahestehenden Bürger Roms als auch für die immer noch starken nicht-christlichen Eliten bedeutete diese Eroberung ein einschneidendes Erlebnis. Es stellte die Grundannahme der römischen Staatsideologie und Kultur in Frage, dass die Errichtung und die Pflege eines geordneten, Wohlstand und Gerechtigkeit und Frieden garantierenden Staatswesens die welthistorische und gottgewollte Aufgabe des römischen Reiches sei, die sich ihrerseits in dem sichtbaren Glanz und der Würde der Architektur, Kultur und Religion Roms als der idealen Stadt realisiert habe (vgl. Horn 1997: 5; Pollmann 1997: 26; 30-31).3 »Wenn Rom untergehen kann – was mag da sicher sein?«, fragt der christliche Theologe Hieronymus (Ep. 123,16; vgl. Brown 2000: 253) in einem Brief, der sich wie viele Predigten und Streitschriften medial mit diesem Ereignis befasste. Diese Texte zeigen einerseits, dass die Gegner der jungen christlichen Staatsreligion den Untergang Roms als Strafe der vernachlässigten alten Götter interpretierten und dass andererseits die neuen christlichen Funktionseliten auch ihrerseits mit der Niederlage des christlichen Roms ihre Schwierigkeiten hatten (vgl. Horn 1997: 2-6; Brown 2000: 251-260). Schon dieses Phänomen, dass man die konkrete physische Zerstörung einer bzw. der Stadt als Untergang einer ganzen Wertewelt empfindet, zeigt, dass und wie konkrete urbane Realität und ihre Wahrnehmung mit ästhetischen, intellektuellen, soziopolitischen Zuschreibungen – mit sozialen Gütern – gewissermaßen gepflastert ist, die ihrerseits wiederum medial vermittelt sind. Es zeigt zweitens, dass und wie die reale Veränderung als Verschiebung in der medial konstruierten Stadt wiederum medial beantwortet wird. Augustins für die Frage nach den Sehnsuchtsstädten inhaltlich wichtigste Antwort auf die Krise dieser römischen Reichstheologie, die durch die Zerstörung Roms als der urbanen Verkörperung eines wenigstens dem Anspruch nach idealen Gemeinwesens ausgelöst wurde, besteht nun nicht nur im Hinweis, dass Rom schon öfters zerstört worden sei und dass es überdies das Ideal der gerechten und wohlgeordneten Weltmetropole doch ohnehin nie verwirklicht habe – das war schon oft beklagt worden (vgl. Civ Dei 2.21.4; 2.21.1; 19.21, Pollmann 1997: 26; 31f.). Er behauptet viel grundsätzlicher, dass eine solche Verwirklichung der Sehnsucht nach dem idealen Leben, als die Rom sich selbst verstand, in dieser Welt gar nicht möglich sei, dass die Sehnsucht nach dem idealen Leben in einer idealen Stadt also illusorisch ist (vgl. Fortin 1999: 196).
3 | Vgl. Brown 2000: 253: »Auf fundamentaler Ebene symbolisierte Rom die Sicherheit einer umfassenden zivilisierten Lebensweise.«
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In dieser Welt nämlich kämpfen nach Augustin – seit sich vor Anbeginn der Welt einige Engel gegen Gott erhoben – zwei Grundkräfte mit ihren menschlichen Heerscharen gegeneinander, die sich absolut feindlich gegenüberstehen und die doch zugleich durch die Zeiten hindurch unentwirrbar miteinander vermischt sind. Augustin nennt sie civitas terrena und civitas celestis, civitas Dei und civitas Diaboli und belegt sie mit Zuschreibungen wie sterblich und ewig, heilig und gottlos, gehorsam und ungehorsam. Er ordnet ihnen mythische, und d.h. medial vermittelte urbane Urgestalten zu, Romulus, den Brudermörder und Stadtgründer Roms, auf der einen Seite und Abel, den nach Genesis 4 von seinem Zwillingsbruder Kain Erschlagenen auf der anderen Seite. Dabei steht im Hintergrund, dass auch Kain wie Romulus nach dem Tod des Bruders zum ersten (biblischen) Stadt- und Kulturstifter wird (vgl. Genesis 4,17-26). Schließlich gibt Augustin den beiden civitates auch urbane Symbol-Namen wie Zion-Jerusalem, die biblische Gottesstadt, auf der einen und Babel (vgl. Civ Dei 16-18), die biblische Metropole des menschheitlichen Aufstandes gegen Gott (vgl. Genesis 11) auf der anderen Seite. Noch die Dekonstruktion des medial vermittelten Mythos von der idealen Stadt erfolgt also im Rückgriff auf andere Mythen und damit auf andere Medien. Die Stilisierung Babylons zur paradigmatischen Stadt des Unheils, die Augustin schlicht aus der biblischen Tradition aufnimmt und zuspitzt, enthält dabei eine für die Frage nach den Sehnsuchtsstädten durchaus ironische Pointe: Was Augustin Jerusalem, der Gottestadt, zu- und Babylon, der civitas Diaboli, abspricht, stammt nämlich motivgeschichtlich betrachtet just aus dem Zweistromland u.a. aus Babylon. Es wird Augustin kaum bewusst gewesen sein, doch lässt sich die von ihm kritisierte und transformierte theologische Überhöhung der Stadt im Allgemeinen und der Welthauptstadt im Besonderen historisch bis in die frühen Hochkulturen und die Theopolitiken des Zweistromlandes verfolgen, also bis dorthin, wo die menschheitsgeschichtlich wohl ersten Städte entstanden und – weit wichtiger und konstanter – die ersten Konzepte von Stadt und Urbanität. Diese frühen Stadtkonzepte enthüllen einen Konnex zwischen Stadt und Mensch, Stadt und Kosmos, wie er grundlegender und holistischer nicht konstruiert werden kann. Denn im Alten Orient ist die Stadt weit mehr als eine rein geographisch oder demographisch definierte Größe. Sie ist vielmehr das Grundkonzept von Welt und Weltwahrnehmung überhaupt. So ist etwa im babylonischen Weltschöpfungsepos Enuma Elisch die Stadt Babylon als irdischer Wohnsitz der Gottheiten – mit dem Tempelpalast als Wohnhaus – nicht nur der Zielpunkt der Schöpfung von Himmel, Erde und Mensch, sondern auch ihr Anlass:
Marco Thomas Bosshard/Jan-Dirk Döhling | Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus
Der Text fokussiert auf Babylon als Zentrum des Alls, sehnlichst gewünschter Wohnstätte Marduks [des babylonischen Hauptgottes; JDD], Versammlungsort aller Götter. Stadt und Tempel sind hier […] und in vielen anderen Texten aufeinander bezogen und stehen in metonymischem Austausch füreinander. […] Ja wir können sogar annehmen, dass die ideale Stadt des alten Orients das Grundmodell bildete für die Erschaffung und Besiedelung des Kosmos insgesamt. (Zgoll 2012: 28f.)
Babylonische Götterlisten verzeichnen entsprechend sogar eine personifizierte urbane Urgottheit mit dem Namen En-iri-ula (›Herr der uranfänglichen Stadt‹). Sie hat in der kosmischen Aufzählung ihren Ort zwischen dem Gott des Urwassers und der Urerde. Es lässt sich folgern: »La ville apparaît au stade initial de la creation, car elle est la condition primordial de toute existence« (Büschweiler 1983, zit. bei Zgoll 2012: 30). Vor diesem Hintergrund antiker Kosmologie bekommt die ebenfalls für Rom prominente, jedoch alltagssprachlich schon in der Antike zum Synonym für eine geometrische Mitte abgeschliffene topologische Metapher vom umbilicus mundi, vom »Nabel der Welt« nochmals einen distinkten Sinn.4 Umbilicus urbis hieß ein vergleichsweise kleiner Tempel auf dem Forum Romanum, an welchem den Unterweltgöttern geopfert wurde und von dem aus die Längenangaben im Straßensystem des gesamten römischen Reichs bemessen wurden. Dieser »umbilicus urbis« (Nabel der Stadt) wird in der von Plutarch gebotenen Legende zum Leben des Romulus explizit mit der Bezeichnung »mundus« – Welt, Kosmos – verbunden. An ihm nämlich sei nach der Legende Rom durch das Anlegen einer Erdgrube, welche »bei den Römern, ebenso wie das ganze Weltgebäude, ›mundus‹« heiße (Plutarch, Romulus 11; Übersetzung nach Kaltwasser, Güthling 1969), gegründet worden. In dieser Grube aber seien Erde aus vielen Weltgegenden und »Erstlinge, von allem, was man der Sitte nach als gut und der Natur nach als notwendig in Gebrauch hatte« vermischt und vergraben worden, bevor Romulus von ihr als Mittelpunkt ausgehend den Radius der Stadtmauer festlegte. Der Begriff des Nabels ist jedoch mehrdeutig; er beschreibt nicht nur und nicht einmal primär den geometrischen Mittelpunkt eines Körpers bzw. einer Körperschaft, also eines Gemeinwesens. Er markiert und repräsentiert für den Einzelnen sinnlich leibhaft und als umbilicus mundi für die Stadt und den Erdkreis geburtsmetaphorisch das Herkommen bzw. – in präziser Doppeldeutigkeit formuliert – die Abkömmlichkeit der eigenen Existenz. Am Nabel liegt mit
4 | Wolf unterrichtet ausführlich über die Nabel-Metaphorik in der antiken Literatur. Er weist für Rom darauf hin (vgl. 2010: 114), dass sie zunächst aus dem griechischen Konzept des Orakelortes Delphi als omphalos gäs übertragen und auch für diesen Ort verwendet wurde, bevor sie ab dem augusteischen Zeitalter von Delphi abgelöst wurde.
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dem Geboren-Worden-Sein umgekehrt stets auch die abgründige Möglichkeit des Nichtseins offen. Dieser in der Nabelmetaphorik der klassischen Antike, wie in den urbanen Schöpfungstexten des Alten Orients aufscheinende holistische Konnex zwischen Stadt und Welt wirft nun seinerseits auch ein Licht auf den Umstand, dass sich am Stadtthema – wie in einem Prisma – Fragen, Sehnsüchte und Probleme brechen und spiegeln, die bei näherem Zusehen keineswegs nur die Stadt und urbanes Leben als solches betreffen. Der Eindruck, dass sich unter dem Begriff ›Stadt‹ buchstäblich alles thematisieren lasse, findet nämlich eine erhellende Entsprechung darin, dass es schon in den ältesten Quellen urbaner Gesellschaften beim Thema Stadt nicht nur buchstäblich um alles, nämlich um die gesamte Schöpfung geht, sondern es umgekehrt auch bei allem um die Stadt geht. Dies zeigen, spiegelbildlich zu den o.g. Beispielen, Texte und teils auch bildliche Darstellungen, die die Welt auch geographisch im Sinne nebeneinanderliegender Städte bzw. Stadtteile (vgl. Maul 2005: 15; Zgoll 2012: 32f.) und übereinanderliegender Himmel-, Erd- und Unterweltstädte konzeptualisieren. Das ganze Universum wird unter städtischem Blickwinkel erfasst und gegliedert; Stadtmauern trennen Stadt von Nicht-Stadt als Bereiche von Ordnung versus Unordnung, Sicherheit versus Vernichtungsgefahr, trennen Geschaffenes von Ungeschaffenem, d.h. sie grenzen eine Zone der Schöpfung von einer Zone der Chaosmächte ab. (Zgoll 2012: 32)
Wie im Falle Roms ist auch im alten Orient das ideologisch-machtpolitische Interesse von Konzepten, die die eigene Hauptstadt als ›Nabel der Welt‹ konstruieren, leicht erkennbar und kritisierbar. Und in der Tat ist etwa das biblische Babylon-Bild deutlich vom ideologiekritischen Blick »eines unterdrückten Randvolkes« auf »das Herz eines expansiven und aggressiven Weltreiches« geprägt (Maul 2005: 2).5 Auch hat die Urbanisierung der Welt und die Vergötte5 | Dies wird unter anderem greifbar an der biblischen Turmbauerzählung in Genesis 11. Vgl. hierzu einleitend Maul 2005 und grundlegend Uehlinger 1990. Uehlinger weist nach, dass sich die sogenannte Turmbauerzählung dabei ursprünglich gegen die Einheitsideologie der Assyrer richtete: In der Staatsideologie dieses ersten der mesopotamischen Großreiche des 1. Jtsd. v. Chr., dessen Expansion auch das fast vollständige Ende des Königtums in Israel und Juda herbeiführte, finden sich nahezu alle sprachlichen Motive (»eine Rede haben« Verse 1.6; »sich einen Namen machen« V. 4; »ein Volk sein« V. 6), die auch die turmbauende Menschheit in Genesis 11 im Munde führt. Als das assyrische Reich seinerseits unter der Expansion der Babylonier zerfiel, wurden dann in einer literarischen Überarbeitung (vgl. Genesis 11,2.9) die Turmbauarbeiten nach Babylon verlegt. Der damit einsetzende Prozess der aktualisierenden Anpassung des Topos an die jeweiligen politischen Gegebenheiten lässt sich innerbiblisch bis in
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rung des Stadtstaates und der Staats-Stadt eine konkrete Entsprechung in dem Umstand, dass etwa die mesopotamischen Stadtstaaten und -gesellschaften auch ökonomisch grundsätzlich auf die Tempel und den Staatskult ausgerichtet waren. Doch legt sich jenseits dieser historischen Bedingtheiten auch die prinzipielle These nahe, dass die Stadt als »Fadenkreuz von Raum und Zeit« (Maul 2005: 1) in Gesellschaften, die einen gewissen Grad an sozialer, institutioneller und ökonomischer Differenzierung erreicht bzw. überschritten haben, zu einer kulturellen Leitmetapher und zum hervorgehobenen Medium der sozialen Selbstreflexion und -definition wird. Dies gilt umso mehr und wird umso offensichtlicher, wenn die physisch-vorfindliche Stadt als Projektionsfläche solcher Vorgänge massiven Veränderungen unterworfen ist. Von Augustin wird dazu angesichts der Eroberung Roms mit Jerusalem eine weitere, konkrete und bis in die Gegenwart hinein mythenbeladene Metropole genutzt. Sie kann – wie besonders der Beitrag von Reinhard von Bendemann zeigt – für die jüdisch-christliche Tradition in gewissem Sinne als die paradigmatische Stadt schlechthin bezeichnet werden, an der sich das Wechselspiel von Fiktionalität und Realität, von medial konstruierter Erfahrung und Sehnsucht im Blick auf die ideale Stadt ebenso zeigen lässt wie an Rom (vgl. Küchler 2010: 177-197). Augustin begründet (vgl. Civ Dei 11,1) dabei den Titel seines Werkes civitas Dei, die »Stadt Gottes« mit einem Zitat aus Psalm 86,3 6 aus derjenigen Traditionslinie der Hebräischen Bibel, die in der Gottes-Stadt, in Zion-Jerusalem und ihrem Tempel den paradiesischen und uneinnehmbaren Ideal-Ort der Gottesgegenwart oder zumindest den herausragenden Zugangsort zu dem überweltlichen Gott sah. Jedoch erlebten auch das antike Jerusalem und das Judentum – nicht unähnlich dem Geschick Roms zur Zeit Augustins – gleich mehrfach wie die steingewordenen Ideale (und hier besonders die Präsenztheologie der GottesStadt und des Gottes-Hauses) buchstäblich in Schutt und Asche gelegt wurden (vgl. Maier 2010: 164-178; Hartenstein 2008: 29-37). Als Reaktion auf die letzte antike Zerstörung der Stadt und des Tempels in den Jahren 70 und 135 n. Chr. entstand, neben bis in die Gegenwart andauernden Wiederaufbausehnsüchten und der Transformation des Judentums in eine Religion ohne Tempel, auch die neutestamentlich-biblische Konzeption
die Apokalypse des Johannes, an der Augustin Maß nahm, verfolgen (vgl. Apokalypse, 14,8; 16,9; 17,5; 18,2.10.18.21), wo »Babel, die (große) Hure« als eine kaum verhohlene Chiffre der Weltmacht Rom fungiert. Vgl. zur innerbiblischen Biographie der Hure Babylon, Sals: 2004. 6 | Aufgrund abweichender Psalmzählung in der lateinischen Vulgata- und der griechischen Septuaginta-Übersetzungen findet sich auch die Nummerierung Ps 87,3.
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einer wahrhaft unzerstörbaren, nämlich von Gott selbst erbauten himmlischen Gottesstadt Jerusalem (vgl. Apokalypse 21f.).7 Dieses himmlische Jerusalem aus Apokalypse 11 ist die mediale Blaupause der Vorstellung von De civitate Dei, mit der Augustin der Erschütterung über die Eroberung Roms argumentativ begegnet. Augustin unternimmt dabei – klammert man die religiösen Prämissen und Sprachformen aus – eine ideologische Entzauberung der entzauberten Welthauptstadt und Gottesstadt Rom, indem er die Verwirklichung der Sehnsucht nach dem idealen Leben ins Jenseits verschiebt. Trotz dieses Pessimismus bzw. wegen dieses Realismus, mit dem er die Unerreichbarkeit urbaner Sehnsüchte behauptet, hält Augustin aber zugleich an der Wirklichkeit der Gottesstadt auch in dieser Welt fest. Er versteht sie aber – und das ist entscheidend – als eine geistige Größe, der bestimmte Menschen und Menschengruppen der Gegenwart und auch bestimmten Epochen der Vergangenheit zugeordnet sind. Ihre physische Realisation bzw. im Falle der civitas Diaboli ihr Verschwinden erfährt diese geistige Stadt aber erst jenseits der Geschichte und von Gottes souveränem Handeln her. Die lineare Stufenfolge, nach der sich das ersehnte urbane Ideal mit menschlichen Mitteln vom defizitärem Status quo zum erreichbaren oder sogar schon erreichten Ziel der Erfüllung verändern ließe, klappt Augustin gewissermaßen nach innen. Aus der sich innerweltlich-historisch entfaltenden Verwirklichungsdynamik wird die Behauptung, dass in jedem Hier und Jetzt stets beides, die Kräfte des Destruktiven und des Konstruktiven, des Bösen und Guten, des Irdischen und Himmlischen präsent sind. In gewissem Sinne besteht dabei das Übel, das Diabolische der civitas terrena gerade in ihrer Selbstzufriedenheit,8 also darin, dass sie ihre Bedürftigkeit und Mängel, ihre Abhängigkeit von externen, ihr nicht verfügbaren Größen – Augustin nennt diese Größe Gott – nicht erkennt und wahrhaben will. Umgekehrt ist, wie Augustin durch ein Wortspiel mit dem Begriff Zion-Jerusalem aus Psalm 47,3 betont, die civitas Dei, sofern man in dieser Welt von ihr sprechen kann, gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich von der Sehnsucht nach und dem Wissen um das Unverfügbare bestimmen lässt und also dieses Unverfügbare nicht etwa verwirklicht, sondern nach ihm »Ausschau hält«: Ipsa est Sion spiritualiter, quod nomen Latine interpretatum speculatio est, speculatur enim futuri saculi magnum bonum, quoniam illuc dirigitur eius intentio. Ipsa est Hierusalem eodem modo spiritualiter 7 | Vgl. Wick 2012: 238-249 sowie vor allem den Beitrag von Reinhard von Bendemann in diesem Band. 8 | Fortin 1999: 199: »In its widest sense the earthly city is characterized by its affection of total independence and self-sufficiency.«
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[Sie ist auf geistliche Weise Zion, eine Bezeichnung, die auf Lateinisch übersetzt Ausschau heißt. Denn sie hält Ausschau nach dem großen Gut der zukünftigen Welt und dahin ist ihr Sinn gerichtet. Sie ist auf dieselbe Weise im geistlichen Sinne Jerusalem]. (Civ Dei 17,16)
Auch und gerade an der Sehnsucht, als Zusammenleben gestaltender und gemeinschaftsbildender Grundkraft, hält Augustin also durchaus fest, so dass man De Civitate Dei als einem Grundbuch des abendländischen Stadt- und Staatsdenkens keine Sehnsuchtsfeindschaft, keinen zynisch-verfinsterten Realismus wird unterstellen können. Die Pointe seines Konzepts von der entzogenen und doch innerweltlich wirksamen Gottesstadt ließe sich, jenseits des religiösen Sprachspiels und im Vokabular dieses Tagungsbandes formuliert, womöglich als Plädoyer für einen Realismus der Sehnsucht bezeichnen.
3. TOPISCHE UND REFERENTIELLE E BENE : C IDADE DE D EUS ALS LOCUS AMOENUS UND ALS RE AL E XISTENTER O RT Was hat nun aber diese ideale Stadt Gottes zu tun mit Lins’ Roman (und auch Meirelles’ Film) mit ihren Drogenkriegen, die vielmehr an die Hölle auf Erden gemahnen? Zunächst einmal ist der Schauplatz der Romanhandlung ein Ort mit ebendiesem Namen: Cidade de Deus, 1966 gegründet und seit 1981 offiziell ein Stadtteil von Rio de Janeiro. Im Gegensatz zur von Gewalt geprägten Gegenwart sei Cidade de Deus früher allerdings noch ein paradiesisch anmutender Ort gewesen, den Lins in einer kurzen Rückblende mittels literarischer Topoi beschreibt: Antigamente a vida era outra aqui neste lugar onde o rio, dando areia, cobra-d’água inocente, e indo ao mar, dividia o campo em que os filhos de portugueses e da escravatura pisaram. Couro de pé roçando pele de flor, mangas engordando, bambuzais rebentando vento, uma lagoa, um lago, um laguinho, amendoeiras, pés de jamelão e o bosque de Eucaliptos. (Lins 2007: 14) Früher war das Leben hier anders gewesen, an diesem Ort, wo der Fluss, der Sand mit sich führte und wie eine unschuldige Wasserschlange zum Meer floss, das Gelände teilte, über das die Kinder der Portugiesen und der Sklaven liefen. Nackte Füße, die Haut der Blumen streifend, sich rundende Mangos, im Wind berstende Bambuswäldchen, eine Lagune, ein See, ein Teich, Mandelbäume, Jambolanas und der Eukalyptuswald. (Lins 2010: 14)
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Der hier bemühte Topos des locus amoenus, des ›lieblichen Ortes‹, ist einer der zentralen Gemeinplätze der okzidentalen Literaturtradition. Er geht bis auf die Griechen und Römer zurück, ist aber gleichzeitig auch mit paradiesischen Vorstellungen, d.h. dem idealen Ort des Christentums kompatibel. Immer wird er durch Elemente konstituiert, die sich auch in obigem Zitat wiederfinden lassen: eine Quelle (bzw. ein Fluss) und ein Wäldchen – und sofort wähnt man sich in der Idylle arkadischer Landschaften.9 Indem Lins das Cidade de Deus der Vergangenheit als locus amoenus stilisiert, etabliert er eine zur restlichen, von Gewalt und Drogen geprägten Romanhandlung konträre Folie, die das Stadtviertel als eine heile Welt modelliert, nach der man sich, angesichts der bedrückenden Gegenwart, zurücksehnt. Sehr schön zu sehen ist hierbei die »Dreizeitigkeit« von Sehnsucht (Baltes 2008: 80), die von der Gegenwart ausgeht, im Modus der Nostalgie auf die Vergangenheit zurückgreift, um die positiv konnotierten vergangenen Elemente schließlich als erstrebenswertes Ziel in die Zukunft zu projizieren. Obwohl Lins’ Roman ein fiktionaler Text ist, ist es nun aber nicht so, dass der Autor das alles nur erfunden hätte; ganz im Gegenteil ist sein Roman eine ästhetische Remodellierung – und somit auch Verfremdung – jenes real existenten Ortes. Cidade de Deus war, bevor es verslumte und im Drogensumpf versank, dereinst tatsächlich nichts weniger als der Versuch, eine Stadt Gottes auf Erden zu erschaffen.10 Überschwemmungen hatten die Stadtplaner Rios 9 | Vgl. Curtius 1969: 202: »Der locus amoenus (Lustort), zu dem wir nun übergehen, ist in seinem rhetorischen-poetischen Eigendasein bisher nicht erkannt worden. […] Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu.« 10 | Auf dem Portal Comunitário da Cidade de Deus (2010) ist folgende Eigendarstellung der Stadtteilgeschichte zu lesen: »A Cidade de Deus foi construída pelo Governador Carlos Lacerda (1914-1977) para ser conjunto residencial dos funcionários públicos do antigo Estado da Guanabara. A obra estava praticamente pronta, quando ele deixou o Governo. Seu sucessor, Francisco Negrão de Lima (1901-1981), logo após a posse, em janeiro de 1966, enfrentou um dos maiores temporais da história da cidade, ocasionando enchentes, tragédias e milhares de desabrigados, obrigando-o a abrir a Cidade de Deus para receber parte da população atingida. A medida era provisória, mas acabou sendo definitiva. Com o tempo ocorreram invasões, surgindo construções ilegais ao lado das casas planejadas. A Cidade de Deus expandiu-se desordenadamente e hoje tem uma densidade demográfica bastante alta. Os logradouros do bairro têm nomes de personalidades, localidades e fatos da Bíblia Sagrada.« In der Übersetzung von M.T.B.: »Cidade de Deus wurde durch den Gouverneur Carlos Lacerda (1914-1977) erbaut als Wohnkomplex für Beamte im öffentlichen Dienst des Bundesstaates Guanabara. Die Bauarbeiten waren beinahe beendet, als er aus dem Amt schied. Sein Nachfolger
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dazu veranlasst, die betroffene Bevölkerung aus einer Favela im Süden der Stadt in jenes neu aus dem Boden gestampfte Viertel umzusiedeln, das heute als Cidade de Deus bekannt ist.11 Die Wahl des Namens für diesen Ort spricht Bände; offensichtlich sollte hier tatsächlich eine Art irdisches Jerusalem geschaffen und der Bevölkerung eine urbane Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden, von der sie bisher nur träumen konnte. Zwar lässt sich Cidade de Deus nicht vergleichen mit den visionären Utopien des Architekten Oscar Niemeyer, der zusammen mit dem Stadplaner Lúcio Costa kurz zuvor Brasília, die neue Hauptstadt Brasiliens, erbaute – dennoch schreibt sich die Gründung von Cidade de Deus ein in einen spezifisch brasilianischen Diskurs, bei dem eine ganze Nation ihre Vision einer neuen Art des idealen, städtischen Zusammenlebens zu verwirklichen sucht. Gerade das Beispiel Brasília bestätigt jedoch die Aporien solcher städtebaulicher Großentwürfe, denn auch Brasília ist an den Rändern des Stadtkerns, am Übergang zu den neuen Satellitenstädten, die sich rund um das Zentrum der Stadt gebildet haben, verslumt – was die Idealvorstellungen seiner Gründer geradezu ad absurdum führt. Ähnliches ist Cidade de Deus, der Stadt Gottes, widerfahren: So schlagend die Idee hinter dem Projekt auch gewesen sein
Francisco Negrão de Lima (1901-1981) sah sich kurz nach seiner Amtsübernahme im Januar 1966 mit einem der größten Unwetter in der Geschichte der Stadt konfrontiert, das Überschwemmungen, Tragödien und Tausende von Obdachlosen hinterließ, was ihn dazu veranlasste, Cidade de Deus als Auffangort für einen Teil der betroffenen Bevölkerung zu öffnen. Die Maßnahme war vorübergehend, erwies sich dann aber als definitv. Im Verlauf der Zeit kam es zu Landnahmen und illegalen Bauten neben den geplanten Häuserkomplexen. Cidade de Deus dehnte sich ungeordnet aus und weist heute eine sehr hohe Bevölkerungsdichte auf. Öffentliche Orte des Viertels sind nach Persönlichkeiten, Lokalitäten und Ereignissen aus der Bibel benannt.« 11 | Interessanterweise spielen Überschwemmungen auch für ein in die Zukunft verlagertes Szenarium für Rio de Janeiro in der berühmten Städtebausimulation SimCity eine zentrale Rolle. Topographisch bleibt dieses Rio zwar abstrakt und sehr weit entfernt von unseren touristischen Stereotypen (es handelt sich um die graphisch noch rudimentäre Spielversion von 1989), aber im Rio-Szenarium von SimCity zwingen die drohenden Überschwemmungen einzelner Stadtviertel den Spieler dazu, gerade dieser Gefahr durch geschicktes Planen auszuweichen. Im fiktionalen, virtuellen Rahmen des Mediums Computerstrategiespiel wiederholt sich hier das, was Jahrzehnte zuvor in der Wirklichkeit angesichts der Überschwemmungen des Jahres 1966 tatsächlich zur Besiedlung des Viertels Cidade de Deus geführt hat. Zu SimCity vgl. den Beitrag von Britta Neitzel in diesem Band.
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mag; die Sehnsucht nach einem besseren, sichereren, schöneren Ort hat sich im Fall von Cidade de Deus geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.12 Paulo Lins kennt Cidade de Deus aus eigener Anschauung – und er hat es geschafft, aus dem Viertel auszubrechen, so wie Busca-Pé in seinem Roman, der Fotoreporter bei einer großen Zeitung wird und das Geschehen in seinem Viertel in Bildern festhält, die mediale Aufmerksamkeit erregen. Im Medium Literatur arbeitet Lins somit ganz ähnlich wie sein Protagonist im Medium Fotografie: Lins hat nach seinem Studium bei einer soziologischen Feldstudie assistiert und sich in diesem Zusammenhang mit der Favela-Problematik auseinandergesetzt, die er dann in seinem Roman wiederum ästhetisch verarbeitet (vgl. Pellegrini 2008: 188). Genau an dieser Stelle, wo nach den Stadtplanern der Soziologe (und dann auch der Schriftsteller) ins Spiel kommt, werden die Fragen, die in den Beiträgen zu diesem Band erörtert werden, plastisch und greif bar: Was nützt eine technisch tadellos realisierte Sehnsuchtsstadt, wenn man den menschlichen Faktor, die sozialen Handlungen, Praktiken und Dynamiken, die sich im städtischen Raum vollziehen, außer Acht lässt? Was nützt eine irdische Stadt Gottes mit all ihrer Infrastruktur, wenn ihre Bewohner sie nicht annehmen, weil sie andere, existentiellere Sorgen haben, so dass sie durch die nicht mitbedachten sozialen Spannungen wieder zu einer Art civitas Diaboli wird? Bemerkenswert im Fall von Cidade de Deus ist, dass der internationale Bekanntheitsgrad, den das Viertel spätestens durch Meirelles’ Verfilmung von Lins’ Roman erlangt hat, paradoxerweise dazu beigetragen hat, dass sich am realen Ort der fiktionalen Handlung von Roman und Film inzwischen zumindest einiges zum Besseren gewendet hat. Gerade die von Film (und Roman) entfesselte Polemik um die stereotype Darstellung der gewalttätigen Bewohner der Favela führte dazu, dass die Politik zu handeln begann. Der Rapper MV Bill – auch er stammt aus Cidade de Deus – hatte sich in einer ungehaltenen Reaktion auf den internationalen Erfolg von City of God an den Schriftsteller, den Regisseur und die Stadtverwaltung Rios gerichtet und damit einen Stein ins Rollen gebracht: Paulo Lins und Fernando Meirelles betonen in ihren Antworten auf MV Bills Brief die positiven Effekte des Streifens. Wenn MV Bill heute, so Meirelles, den Bürgermeister von Rio de Janeiro für seine Probleme mobilisieren könne, so sei dies nicht zuletzt dem Film geschuldet […]. Schon zwei Wochen nach seinem Brandbrief […] berichtete er [MV Bill] in seiner Kolumne von einer Zusammenkunft lokaler Initiativen mit Vertretern der Stadtverwaltung und der Staatsregierung Rio de Janeiros sowie mehrerer nationaler Ministerien. […] Der Beauftragte für nationale Sicherheit, Paulo Lins zufolge ein Bewun12 | Zum Problem der ›Favelarisierung‹ von offiziell geplanten Wohnvierteln wie Cidade de Deus siehe u.a. Berenstein Jacques 2004.
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derer von ›City of God‹, will die ersten Schritte für einen städtischen Sicherheitsplan in Cidade de Deus angehen. (Lanz 2004: 93-95)
Inwiefern dieses durch unterschiedliche künstlerische Medien – Roman, Film und (im Falle von MV Bill) auch Musik – angestoßene Umdenken nachhaltige Veränderungen in Cidade de Deus gezeitigt hat, kann hier nicht weiter erörtert werden. Interessant ist aber der Hinweis, dass im Zuge der in erster Linie durch den Kinofilm generierten internationalen Aufmerksamkeit in anderen Favelas Rios mittlerweile der Tourismus Einzug gehalten hat: In der Favela Rocinha z.B. ist die Lage mittlerweile so weit befriedet, dass sich nun immer mehr Touristen auf geführten Touren in dieses prekäre Viertel wagen, und auch in anderen, ebenso prekären Stadtvierteln – vor allem der attraktiven Südzone Rios mit Blick auf Copacabana wie z.B. Chapéu Mangueira – gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von (relativ preiswerten) touristischen Unterkünften (vgl. Bartelt 2013: 203f.). Das vordergründige Lamento des in Cidade de Deus ansässigen Sängers/ Sprechers eines Sambas, der noch in demselben Jahr der Uraufführung von City of God entstanden ist, scheint sich somit mittlerweile zumindest ein wenig relativiert zu haben: Sou morador da favela, Também sou filho de Deus. […] É a Cidade de Deus, Só que Deus esqueceu de olhar A essa gente que não cansa de apanhar. […] (Seu Jorge 2002) Ich wohne in der Favela. Ich bin auch ein Sohn Gottes. […] Es ist die Cidade de Deus [die Stadt Gottes], Bloß hat Gott vergessen hinzugucken Auf diese Leute, die unentwegt was abbekommen. […]13
13 | Auch hier stammt die deutsche Übersetzung von M.T.B. Das Wort apa-nhar (hier mit ›etwas abbekommen‹ übersetzt), ist in seiner Bedeutung höchst polysem. Je nach Kombination kann es ›ernten‹, ›pflücken‹, ›Prügel abbekommen‹ (apanhar sova), ›Luft schnappen‹ (apanhar ar) oder aber auch ›sich sonnen‹ (apanhar sol) bedeuten.
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Auch hier ist der Titel dieses Sambas bezeichnend: Convite para a vida, auf Deutsch »Einladung an das Leben«. Die Sehnsucht, dass das Leben – das gute Leben – eines Tages auch in Cidade de Deus Einzug halten wird, wird in jeder einzelnen Zeile des Lieds greif bar. Damit schließt sich der Kreis – und wir wären gleichsam wieder am Anfang dieser einführenden Überlegungen zu den Sehnsuchtsmedien und beim Ausgangsmedium Musik angelangt. Das mediale Wechselspiel jedoch beginnt von vorn. Ihn ihm durchdringen und überlagern sich (religiös präfigurierte) Stadtideale, stadtplanerische Realisierungsversuche, mediale fiktionale Repräsentationen und Remodullierungen einer Stadt, die zwischen dem Ideal der civitas Dei und der Degenaration civitas Diaboli oszilliert und in Roman, Film, Fotografie und Musik ihre Ideale, ihr Scheitern und ihre soziale Praxis – womöglich in einer Art Endlosschleife – reflektiert und rekreiert.
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Die ideale Stadt als Mittelpunkt der Welt Frühjüdische und frühchristliche Stadtkonzeptionen am Beispiel der Konstruktion des himmlischen Jerusalem in Apk 21f. Reinhard von Bendemann
1. J ERUSALEM ALS »S EHNSUCHTSSTADT« Befragt man die Zeugnisse des ältesten Christentums nach der Vorstellung einer »Sehnsuchtsstadt«1, so muss man mit Jerusalem beginnen. Dies gilt im Christentum in einer sehr wechselvollen Rezeptionsgeschichte auch über die Zeit der Anfänge hinaus und bis heute, es gilt dabei zuerst auch für das Judentum sowie dann auch für den Islam. Jerusalem ist in den drei Weltreligionen Inbegriff der Erinnerung der eigenen Geschichte wie der Erwartung größtmöglichen Glücks in Verbindung mit städtischem Leben. Im Hintergrund solcher Erinnerungen und Erwartungen stehen Texte, die in den jüdischen und in den christlichen Schriftenkanon eingegangen sind. In den alttestamentlich-biblischen Schriften ist Jerusalem die Stadt schlechthin, sie wird mit dem Ort identifiziert, an dem Gott (auf dem Zion/im Tempel) wohnt (vgl. 1Kön 8,12f.; Ez 43,7 u.a.), sie ist die Stätte, an der der Gott Israels seinen Namen wohnen lässt (vgl. Dtn 12,5.11; 14,24 u.a.), die Stadt Gottes (vgl. Ps 46,5; 48,2f.9; 87,3 u.a.), zusammengefasst: die »heilige Stadt« (vgl. Jes 52,1; Neh 11,1.18; Tob 13,10; 9,24 u.a.).
1 | Die Begrifflichkeit für das im Rahmen der Tagung Avisierte (die »Suche« und das »Sehnen« nach einer Stadt, die menschliche Erwartungen über das jeweils Realisierte und zu Realisierende hinaus zu erfüllen vermag, o.ä.; vgl. in diesem Band den Beitrag von Jürgen Straub) bricht sich in der Forschungsliteratur in verschiedensten Ausdrücken. Neben dem – jedenfalls im Fall eines himmlischen Jerusalem – problematischen Begriff der »Utopie« begegnet hier u.a. der terminus der »Idealstadt«. Jerusalem gilt als »bleibende[s] Symbol der idealen Stadt« (vgl. Eaton 2003: 25, zum Hintergrund der Thematik im ältesten Christentum: von Bendemann/Tiwald 2012).
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Für das Judentum ist Jerusalem »Mutterstadt«. Der Jerusalemer Tempel mit seinem Anspruch, Ort Gottes zu sein, sowie mit seinen Opfervollzügen wird zum Hauptorientierungspunkt der Stadt und des Landes in seinen wechselnden politischen Ausdehnungen und Geschicken und der weit gespannten jüdischen Diaspora. Religiöse Zuschreibungen messen der Stadt und ihrem Tempel dabei in teils enger Übereinstimmung mit altorientalisch verbreiteten Vorstellungen nicht nur eine nationale, sondern zugleich eine kosmische Bedeutung zu. Stadt und Tempel erfüllen nicht allein eine partikulare Funktion, sie bilden vielmehr universale Gesetze ab. Jerusalem kann als Schnittstelle von irdischer und himmlischer Welt konstruiert werden. In diesen Zusammenhang gehört die Vorstellung von Jerusalem bzw. Zion als Nabel der Welt 2, die rezeptionsgeschichtlich dazu geführt hat, dass Jerusalem in Weltkarten des Mittelalters häufig als Zentrum der Erde dargestellt ist. Noch heute konkurrieren in Jerusalem die christliche Grabeskirche und der muslimische Felsendom um die Lokalisierung dieses Erdmittelpunktes. Solche Attribute und Zuschreibungen beziehen sich dabei in den verschiedenen Schriftenkreisen zunächst auf die ›empirische‹ Stadt in Palästina in ihrer wechselvollen Geschichte: auf die frühe, dann von Salomo erweiterte und mit einem Tempelbau versehene Davidstadt, auf die Stadt in der spannungsvollen Geschichte zwischen Nord- und Südreich, auf die von den Neubabyloniern zerstörte, von den Exulanten vermisste und beklagte, in der Zeit von Esra und Nehemia wiederaufgebaute Stadt mit dem Zweiten Tempel, auf die in persischer, griechischer und römischer Zeit verschiedentlich neuerlich gefährdete und schließlich von Herodes dem Großen hellenistisch ausgebaute Stadt, die 70 n. Chr. von den Römern zerstört und Anfang des zweiten Jahrhunderts in die Aelia Capitolina verwandelt wurde, zu der die Juden keinen Zutritt mehr hatten – um nur einige wichtige Stationen zu nennen.3 Neben der literarischen Beschäftigung mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des konkreten Stadtgebildes in seiner spannungsreichen Geschichte entstand im antiken Judentum die Vorstellung eines »transhistorischen« resp. eines »oberen«, eines »himmlischen« Jerusalems. Die irdische Stadt wurde gewissermaßen »übergeschichtlich« redupliziert. In bestimmten Kreisen des frühen Judentums richtete sich die Erwartung auf ein ideales Stadtgebilde, welches geschichtlich-politischen Krisen nicht mehr ausgesetzt sein, in dem vielmehr für die Gerechten ein paradiesisches Leben möglich sein würde. 2 | Ez 38,12; äthiopisches Henochbuch 26,1; vgl. Ez 5,5; Jubiläenbuch 8,19: Zion als »Mitte des Nabels der Erde« u.a.; zum frühjüdischen Traditionsgefüge insgesamt: Tilly 2002. 3 | Zur Geschichte der Bebauung während dieser Epochen: Bieberstein/Bloedhorn 1994.
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Um dieses jüdische Vorstellungsgefüge einer »transhistorischen« Idealstadt soll es im Folgenden gehen – und zwar unter der Fragestellung, wie es im Christentum rezipiert und weiterentwickelt worden ist und wie es auf christliche Konstruktionen und mediale Inszenierungen eingewirkt hat. Angesichts der Fülle von Texten ist eine Reduktion angezeigt. Wir gehen im Folgenden von einem Grundtext aus, nämlich der Vision des himmlischen Jerusalems am Ende des Kanons der christlichen Bibel, im finalen Erzählzusammenhang der Johannesoffenbarung. Eine Beschäftigung mit diesem Text bietet sich im Rahmen unserer Tagung auch darum an, da Apk 21f. rezeptionsgeschichtlich zu einem der wichtigsten Grundtexte für die Beschäftigung mit »Sehnsuchtsstädten« geworden ist, bis hinein in die konkrete Baugeschichte etwa von Städten nicht nur in Europa, sondern z.B. auch in Nordamerika.4 Wir gehen so vor, dass in einem ersten Teil wichtige biblische Prätexte beleuchtet werden, die auf die Stadtkonstruktion im apokalyptischen Text von Apk 21f. eingewirkt haben und ohne deren Kenntnis die Vision unverständlich bliebe. In einem zweiten Teil geht es um die jüdische Verortung und Einbettung der Konzeption eines übergeschichtlich-idealen Jerusalems. Apk 21f. basiert nicht unmittelbar auf biblischen Aussagen, sondern steht in einem breiten Strom der geistesgeschichtlichen Beschäftigung mit der heiligen Stadt im antiken Judentum. In einem dritten Teil wenden wir uns dem Text von Apk 21f. selbst zu und wollen diesen für die Interpretation und das Tagungsthema exegetisch öffnen. In Anbetracht der Fülle von Problemen und Fragen in der Erforschung dieser beiden Kapitel ist eine Beschränkung auf wenige Elemente im Text erforderlich. Einerseits soll die Kontinuität zu antik-jüdischen Konzepten herausgearbeitet werden. Andererseits steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit die Himmelsstadt von Apk 21f. tatsächlich eine Stadt ist, d.h. wie für eine antike Leserschaft Urbanität im Text generiert und inszeniert wird. Abschließend fokussiert ein vierter Teil auf den Konstruktions-Charakter der Himmelsstadt; Apk 21f. bietet den Modellfall eines apokalyptisch-fiktionalen »making Jerusalem«. Der Text generiert Bilder, die nicht nur kunst- oder musikgeschichtlich gewirkt haben. Ein Ausblick auf die Bedeutung von Apk 21f. für den christlichen Kirchenbau soll dies in wenigen Ansätzen zeigen.
4 | Zur Rezeptionsgeschichte von Apk 21f. in der Übertragung auf andere Städte und Länder: Müller-Fieberg 2003: 316-332.
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2. Z U DEN BIBLISCH - INTERTE X TUELLEN V OR AUSSE T ZUNGEN VON A PK 21 F. Apokalyptische Texte bieten im Ansatz »Insider«-Literatur; sie richten sich an einen begrenzten Kreis von Leserinnen und Lesern, mit denen der Verfasser Erfahrungen, Überzeugungen und Wissenselemente in einer Weise teilt, die eine exklusive Interpretationsgemeinschaft begründen kann. Entsprechend der apokalyptischen Konstruktion, nach der ein Offenbarungsempfänger Einblick in eine himmlische Wirklichkeitslogik erhält und diese einer Gruppe kommuniziert, sind Leserinnen und Leser vorausgesetzt, die die Elemente dieser Kommunikation erfolgreich dechiffrieren können. Hierbei spielt Intertextualität eine ganz erhebliche Rolle: Apokalyptische Texte basieren vielfach auf Prätexten, die nicht ausdrücklich zitiert werden, die eine Leserschaft jedoch präsent halten muss, um einen Text erfolgreich entschlüsseln zu können. Für ein Verständnis von Apk 21f. sind drei Prätextgruppen besonders wich5 tig: Die Johannesoffenbarung ist erstens für eine intendierte Leserschaft verfasst, die mit dem Buch des Propheten Ezechiel vertraut ist. Nicht nur in zahlreichen Einzelepisoden und -motiven, sondern vielmehr in ihrer Struktur insgesamt lässt sich die Johannesoffenbarung als eine innovative relecture des Propheten Ezechiel darstellen.6 Dies bestätigt sich eindrucksvoll am Buchende: Wie das Ezechielbuch in einen visionären Verfassungsentwurf Jerusalems bzw. des Tempels einmündet, so endet auch die Johannesoffenbarung in einer Bauvision der Stadt. Deren motivische Darstellung folgt dabei – bei Abweichungen – in etwa der Sequenz von Ez 40-48. Aus Ez 40-48 stammen die Gattungsmerkmale einer Visionserzählung (vgl. die Rede vom »Sehen« in Apk 21,1f.22); zu ihnen gehört die Gestalt des Engels (vgl. Apk 21,9). Wie im Ezechieltext misst der Engel die Maße der Stadt aus (vgl. Apk 21,15-17; Ez 40-42; 47,3-5). Der Schalenengel in Apk 21f. hat dabei – anders als im Ezechieltext (vgl. Ez 40,4.45; 41,22; 43,18; 46,20.24; 47,6.8) und in vielen apokalyptischen Texten – nicht primär die Funktion eines Deuteengels; seine Aufgabe ist zuerst die des Führens (vgl. Apk 21,10; 5 | Weiter spielen – wie im gesamten Frühchristentum – auch in Apk 21f. jesajanische Texte eine hervorgehobene Rolle. Diese werden dabei »apokalyptisch« reinterpretiert. So stammt die Aussage der Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde in Apk 21,1.4f. aus einem (trito-)jesajanischen Text (vgl. Jes 65,17). Schon im prophetischen Prätext Jes 65,17-25 mit seiner Ansage eines »neuen Himmels« und einer »neuen Erde« findet sich in V.18 ein Verweis auf Jerusalem. Zur biblisch-intertextuellen Analyse von Apk 21f. insgesamt: Müller-Fieberg 2003: 144-235. 6 | Siehe hierzu insgesamt: Kowalski 2004; Sänger 2004; Karrer 2004: 90-93. Der Verfassungsentwurf des Ezechiel (Ez 40-48) hat keineswegs überall im Frühjudentum nachgewirkt; uninteressiert ist an ihm Josephus.
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Ez 40,17.24.28.32.48 u.a.) und Zeigens (vgl. Apk 21,9f.; 22,1; Ez 40,4). In enger Abstimmung auf Ez 40-48 erhält die Stadt eine quadratische Struktur (vgl. Apk 21,16; Ez 48,16) sowie zwölf Tore mit den Namen des Zwölfstämmevolkes (vgl. Apk 21,12f.; Ez 48,30-35). Abweichend von der Strukturierung der Stadt in Apk 21f. ruht dabei in der ezechielischen Vision das Hauptaugenmerk auf der Anlage des Tempels (anders Apk 21,22). Hierin wird die priesterliche Tendenz des Prätextes greif bar.7 Zweitens übernimmt der Prophet Sacharja in Apk 21f. eine wichtige prätextuelle Funktion. Es sind vor allem zwei Gründe, die hinter der Aktivierung von Sacharja-Bezügen im Text stehen. Zum einen steht Sacharja – wie auch das Buch Haggai – für das Hauptthema der Restitution der von den Neubabyloniern 587 v. Chr. zerstörten Stadt und ihres Tempels. Der Zion soll zu einem endzeitlich glücklichen Ort für die Völker und ihre Anbetung des Gottes Israels werden, so erwartet es der Prophet. 8 Zum anderen vollzieht sich in den Visionen des Sacharja-Buches ein Übergang von einer innergeschichtlichen Zukunftserwartung zu einer echten »Eschatologie«; d.h., ein Ende der Weltzeit als solcher deutet sich an, an welchem Gott noch einmal neuschöpferisch handeln wird. Vor allem Sacharja 14 hat im frühen Judentum hierin gewirkt. Aussagen wie die, dass Tag und Nacht nicht mehr unterschieden sein werden, oder die von Sach 14 her entwickelte Vorstellung, dass sich am Ende der Zeit der Ölberg in der Mitte spalten wird, um die Toten freizugeben, die über Kanäle von allen Orten der Welt hierher gelangen werden, haben das antike Judentum nachhaltig beschäftigt.9 7 | »In Ez 40-48 begegnet der eigenständige und bemerkenswert differenzierte Reformentwurf einer priesterlichen Gruppierung in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr., die an der religiös begründeten Stärkung der Position des Jerusalemer Heiligtums bzw. ihrer selbst als dessen legitime kultische, gesellschaftliche und politische Exponenten gegenüber dem – nunmehr dezentralen – Sitz der mit der Katastrophe von 587 v. Chr. zusammengebrochenen staatlichen Gewalt in Jerusalem und gegenüber den tatsächlich übermächtigen fremden Weltreichen der Neubabylonier und Perser interessiert waren.« (Tilly 2002: 159) Vgl. zum ezechielischen Tempelentwurf Busink 1980: 701-775. 8 | Zur neuerlichen Zuwendung JHWHs zu Jerusalem vgl. Sach 1,14-17; 2,8f. (nach Hanhart 1998: 146, wird hier erstmalig das »himmlische Jerusalem« in seinem »eigentlichen Wesen« beschrieben). 9 | Zur entsprechenden Deutung von Sach 14 im Ezechielfresko auf der Nordwand der Synagoge von Dura Europos: von Bendemann 2005: 270-272. Eine Verbindung von Bezügen auf Ez und Sach findet sich auch in den aramäischen Qumran-Fragmenten über »Das neue Jerusalem«. Der Text stammt wohl nicht aus dem Jachad; unter den Qumrantexten sind jedoch Fragmente erhalten, die von einer aus Edelsteinen gebauten (vgl. Jes 54,12; Tob 13,20; Apk 21,11.18-21) Stadt wissen, die allerdings nicht ausdrücklich
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Drittens weist Apk 22 enge Bezüge zur Paradieserzählung der Genesis auf. Apk 21f. liegt dabei das apokalyptische Entsprechungsschema von Urzeit und Endzeit zugrunde. Die endzeitlich erhoffte Stadt realisiert die paradiesische Realität des Gartens Eden. Das neue Jerusalem avanciert zur endzeitlichen Gartenstadt.
3. Z UR FRÜHJÜDISCHEN TR ADITIONSGESCHICHTE EINES NEUEN RESP. » TR ANSHISTORISCHEN « J ERUSALEM Das 21. Kapitel der Johannesoffenbarung beginnt in Apk 21,1-8 mit der Initiierung einer neuen Welt durch Gott: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer gibt es nicht mehr. Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich aus dem Himmel von Gott her herabkommen; sie war bereitet wie eine Braut, die für ihren Mann geschmückt ist. (Apk 21,1f.)
Über verschiedene biblische Prätexte (vgl. Jes 65,17; 66,22 u.a.) bzw. biblisch geprägte Sprachformen und Metaphern10 hinaus versteht man diesen NeueinJerusalem heißt (1Q32; 2Q24; 4Q554; 4Q555; 5Q15; 11Q18); diese ist in insulae/Quartiere untergliedert (siehe Maier 1997; Söllner 1998: 125-142; Schwemer 2000: 213f. mit Anm. 86/weitere Literatur zum Text). 10 | Die feminine Metaphorik der »Braut« korreliert mit einer Vielzahl weiterer femininer Attribute; Jerusalem als Frauengestalt gilt als Mutter, Braut, Tochter, Witwe u.a., wobei in der Regel Stadt, Volk und Gott aufeinander bezogen sind (vgl. Hengel 2000: 245-285; die Stadt ist auch im Hebräischen feminin aufgefasst; zu weiteren Städten im Bild einer Frau: vgl. 2Sam 20,19; Jes 23,12 [Sidon]; Jes 47,1-9 [Babel]). Nach Schwemer 2000: 203, wird Jerusalem mit Zion seit der Exilszeit als Mutter, Tochter, schöne Frau bzw. gebärfähige (Jung-)Frau konzeptualisiert. Braut und Bräutigam beschreiben schon in der prophetischen Literatur das besonders enge, immer aber durch Fehlverhalten gefährdete Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott (vgl. Jer 2,2; Hos 1-3 u.a.). In besonderer Weise wirken jesajanische Texte nach (vgl. Jes 61,10 mit Apk 21,2; Jes 62,5: Zion und die junge Frau, bei der der Jüngling liegt, werden parallelisiert; vgl. Jes 66,11: Zion bringt Kinder zur Welt und nährt sie mit Brüsten [aufgenommen im Zionslied 11Q5 XXII 5]; vgl. Jes 50,1; 54,1-8; 60,15: das Gottesverhältnis zur Stadt erscheint wie die Relation von Braut und Bräutigam u.a.). Auch die Metaphorik des Schmuckes der Braut wird in prophetischen Texten auf Jerusalem bezogen (vgl. Ez 16,8-14 u.a.). Die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems kann ins Bild der Witwe und der ihrer Kinder beraubten Mutter gefasst werden (vgl. Thr 1,1f. u.a.). Im frühen Judentum (Müller-Fieberg 2003: 170-174) wird dies in besonderer Weise auch ins Bild der Mutter gefasst, die ihren Sohn verloren
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satz nur auf dem Hintergrund der frühjüdischen Apokalyptik, in deren Zusammenhang etwa seit der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. ein grundsätzlich neues Geschichtsdenken entsteht, welches die Geschichte des Volkes und Einzelner in ihm im Zusammenhang eines universalen Geschichtsplan Gottes reflektiert. Dieser universale Geschichtsplan erstreckt sich auf globale Epochen und mündet in eine heilvolle Welt für die Erwählten und Gerechten. Gott setzt mit der Welt noch einmal neu an, der Himmel und die Erde werden nicht nur renoviert, sondern fundamental neu gestaltet.11
hat. Im 4. Esrabuch findet sich die eigentümliche Erwartung einer Transformierung der ihr Leid beklagenden Frau – Metapher für die Stadt. Die vierte Vision 4Esr 9,26-10,59 behandelt die im 4. Esrabuch besonders virulente Frage nach der bleibenden Gültigkeit der Tora in enger Korrelation zu der Frage nach den Auswirkungen der Zerstörung Jerusalems auf die These eines göttlichen Geschichtsplanes. Kap. 9 und 10 berichten vom Zusammentreffen Esras mit einer trauernden Frau; der Gattung nach steht die Szene zwischen einer Traumvision und einer »realen« Erfahrung (Söllner 1998: 272). In 4Esr 9,42-44 beklagt die Frau ihre Kinderlosigkeit. Der schließlich doch geborene Sohn, so berichtet die Frau weiter in Ich-Erzählung, starb an seinem Hochzeitstag beim Betreten des Brautgemaches (vgl. 4Esr 9,47-10,1). In ihrer in Folge trostlosen Lage flieht die Mutter auf das Feld Ardat, um dort zu bleiben und zu trauern, bis sie sterbe. Hier begegnet sie Esra, der die Frau mit dem Geschick der vernichteten Stadt Jerusalem konfrontiert. In der Folge verklärt sich das Aussehen der Frau, diese verschwindet, an ihrer Stelle erscheint eine Stadt bzw. ein Ort »mit gewaltigen Grundmauern«. Dieses Widerfahrnis wird Esra am Ende vom Engel Uriel ausgedeutet (4Esr 10,44-49). Der Sohn ist in der Vision ein Paradigma für den übergroßen und schmerzhaften Verlust des Ureigenen; als solcher veranschaulicht er keine separate (messianische o.ä.) Gestalt. Die Frau versinnbildlicht metaphorisch die Tochter Zion; als solche ist sie nicht selbst von der Zerstörung betroffen; sie trauert und vermag sich zur Stadt zu verwandeln. Ohne dass damit die Unterscheidung einer himmlisch-eschatologischen resp. protologischen Stadt und der irdischen – zerstörten – Stadt in die narrative Konstruktion trennscharf eingezeichnet werden darf, veranschaulicht die Frau ein Hoffnungspotential für Jerusalem jenseits der geschichtlichen Anschaulichkeit und Erfahrung (zu diesem »quasi dritten Weg«: Söllner 1998: 280). 11 | Bemerkenswert im Text ist die Aussage, dass das Meer in der neuen Welt nicht mehr existieren wird. Das Meer ist aus Sicht der Offenbarung der feindliche Bereich, von dem her die römische Macht Kleinasien erreicht hat (vgl. Apk 13). Traditionsgeschichtlich kann das Meer darüber hinaus grundsätzlich auch als »notorischer Ort der Angst« (Thraede 1996: 724) eingeschätzt werden. Wenig wahrscheinlich ist, dass hier ein Bezug auf das »eherne Meer« des salomonischen Tempels vorliegt, das Hiram von Tyros für den Salomonischen Tempel nach 1Kön 7,23-26 herstellen ließ (zu solchen Kultbecken: Zwickel 1999: 128-132). Zu vergleichen sind dieser Aussage vielmehr frühjüdische Er-
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Das Geschichtsbild der Apokalyptik ist dabei insgesamt dualistisch. Räumlich werden eine »himmlische« und eine »irdische« Welt unterschieden; so entsteht die Voraussetzung, für das irdische, so oft gefährdete und zerstörte Jerusalem nach einem »himmlischen« Korrelat zu fragen. In der Zeit der Entstehung erster apokalyptischer Entwürfe wirken dabei zugleich hellenistische Einflüsse auf jüdische Jerusalemkonzepte ein. Auch diese erlauben es dem Judentum, nach so etwas wie einer jenseitigen Welt für Einzelne oder Gruppen zu fragen. In diesem Zusammenhang entstehen verschiedene Konzepte 12, die nicht nur eine innergeschichtliche Restitution und Renovation der Stadt erwarten,13 oder – wie es im äthiopischen Henochbuch, einer frühen apokalyptischen Schrift heißt –, dass ein »neues Haus« an die Stelle des »alten Hauses« treten
wartungen, nach denen am Ende der Zeit das Wasser austrocknen bzw. zurückweichen muss (vgl. Himmelfahrt des Mose 10,6; Testament des Levi 4,1 u.a.). 12 | Wichtig ist zu beachten, dass das apokalyptische Judentum lediglich einen »Strang« innerhalb des antiken Judentums beschreibt. Im Blick auf Jerusalem als »Sehnsuchtsstadt« hat man im zeitgenössischen Judentum auch ganz anders gedacht. In der antik-jüdischen Qumrangruppe ist es z.B. ganz bewusst zu einer Distanzierung von Stadt und Tempel gekommen; auch der jüdische Galiläer Jesus besaß kein ungebrochenes Verhältnis zur »Mutterstadt« des Judentums (vgl. Lk 13,34f. par; Mk 13,2; 14,58 u.a.), und dies gilt im frühen Christentum z.B. auch für Paulus (vgl. 1Thess 2,14-16; Gal 4,21-31). Man konnte »frommer Jude« sein, auch und gerade wenn man sich von Jerusalem kräftig distanzierte. Beim Umgang mit den Quellen erliegt man hier häufig einer judäozentrischen Perspektive, die keineswegs für alle antik-jüdischen Zeugnisse vorausgesetzt werden darf. Ferner ist zu beachten, dass eine strikte Entwicklungslinie auch in den Vorstellungen von einem ›transhistorischen‹ Jerusalem nicht nachgewiesen werden kann; die Konzepte sind nicht wirklich systematisierbar, lösen sich nicht gegenseitig ab, sie stehen z.T. nebeneinander, und sie können überlappen. Vgl. die verschiedenen Ordnungsmuster der Vorstellungen von einem ›transhistorischen‹ Jerusalem bei Betz 1988: 423-426; Kühnel 1987: 34-48; Söllner 1998: 303-305 und passim. Zur These der Erwartung der Sublimation des irdischen Jerusalem in ein präexistentes himmlisches Jerusalem (slavischer Henoch 55,2) vgl. die Ausführungen von Schwemer 2000: 226-228. In den rabbinischen Texten ist die Vorstellung von einem »himmlischen«, »oberen« o.ä. Jerusalem nicht zentral. Im Blick auf das irdische Jerusalem begegnen widersprüchliche Meinungen, von der Erwartung einer Renovation bis hin zur Distanzierung von Jerusalem als irdischer Lokalität besonderer Gottesnähe. Siehe zum rabbinischen Zeugnis insgesamt: Ego 1989. 13 | Hierhin gehören in verschiedener Weise Texte wie Jes 54,10-14; 60-66, der Verfassungsentwurf des Ezechiel, das Tobitbuch (vgl. Tob 13,9-22), aber auch noch Stücke aus den Sibyllinischen Orakeln (hierzu: Söllner 1998: 297-302).
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wird.14 Vielmehr setzen Konzeptionen derart an, dass sie die irdische, bedrohte und schließlich 70 n. Chr. zerstörte und verlorene Stadt Krisen und Umbrüchen durch eine Translozierung in eine himmlische Welt entziehen. Die Stadt kann in sehr verschiedener Weise als »transhistorisch« gegründet bzw. als bei Gott verborgen und verwahrt gelten, der sie zu einem bestimmen Zeitpunkt (wieder) erscheinen lassen kann. a) Die Modelle im Einzelnen können hier nicht vorgestellt werden, es kann lediglich exemplarisch auf einige wichtige Texte und Aspekte hingewiesen werden. Zwei hermeneutische Hinweise sind für das Thema insgesamt wichtig: Zum einen darf man sich Ansätze einer »Transhistorizität« im antiken Judentum nicht platonisch vorstellen (d.h. in dem Sinne, dass in einer himmlischen Welt eine »ideelle« Größe vorgestellt wäre, deren »Abbilder« in der irdischen Welt erschienen). Generell gilt in antik-jüdischen Texten, dass auch ein »himmlisch« erwartetes Leben – phasenweise oder entgrenzt – auf der (resp. einer erneuerten) Erde gedacht sein kann. In Apk 21f. kommt die Gottesstadt auf die Erde herab. Zu beachten ist dabei in den jüdischen Texten grundsätzlich: Der konkrete Ort in Palästina geht als Platzhalter für ein »übergeschichtliches« Jerusalem nicht verloren; die Lokalisierung von Jerusalem ist nicht beliebig, Jerusalem kann nicht – wie es tendenziell in bestimmten Strömungen der Alten Kirche gesehen wurde (s.u. Punkt 5) – potentiell überall sein. Zum anderen gilt: Wenn in antik-jüdischen Texten im Zusammenhang der Vorstellung eines »transhistorischen« Jerusalems chronologische Anschauungen begegnen, wenn sich hier so etwas wie ein apokalyptischer Fahrplan andeutet, so kann man dies grundsätzlich nicht mit einem neuzeitlich gedachten, chronometrischen Zeitplan vermitteln. Oft ist ein klares Nacheinander von Etappen nicht zu verifizieren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treten in verschiedene Korrelationen. So kann z.B. das, was in der uranfänglichen Vergangenheit liegt, zugleich für ein »Ende« der Zeit erwartet werden. b) Als ein Beispiel für die frühjüdische Konzeptualisierung eines »transhistorischen« Jerusalems sei hier das 4. Kapitel des syrischen Baruchbuches gewählt.15 14 | In der sogenannten Tierapokalypse, einer älteren Schicht des äthiopischen Henochbuches (äthHen 85-90), wird ein »neues Haus« an der Stelle des »alten Hauses« erwartet. 15 | Übersetzung nach Klijn 1976: 124f. Das syrische Baruchbuch kennt dabei weitere und unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte (vgl. syrBar 68,5 zur Restitution Jerusalems nach dem – fiktional vorausgesetzten – babylonischen Exil; syrBar 32,2-4 zur eschatologischen Renovation Jerusalems; syrBar 40 zur Verbindung von Zion und Messias in einer geschichtlichen Zwischenperiode [vgl. 4Esr 7]; syrBar 59,4 zum eschatologischen Zion). Siehe Söllner 1998: 287-296.
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1 Und der Herr sprach zu mir: ›Diese Stadt wird eine Zeitlang preisgegeben, das Volk wird eine Zeitlang gezüchtigt, und die Welt wird nicht vergessen werden. 2 Oder meinst du vielleicht, dies sei die Stadt, von der ich gesagt habe: ›In meine Handflächen habe ich dich gezeichnet?‹ [vgl. Jes 49,16] 3 Nicht ist es dieser Bau, der nun in eurer Mitte auferbaut. Es ist bei mir, was offenbar wird werden, was hier schon seit der Zeit bereitet ward, in der das Paradies zu schaffen ich beschlossen hatte. 4 Und ich habe es Adam gezeigt, bevor er sündigte; als er aber das Gebot übertreten hatte, wurde es ihm weggenommen, genauso wie das Paradies. 5 Und danach zeigte ich es meinem Knechte Abraham, in der Nacht, zwischen den Opferhälften [vgl. Gen 15]. 6 Und weiter zeigte ich es Mose auf dem Berge Sinai, als ich ihm das Bild des (Stifts-)Zeltes zeigte und aller seiner Geräte [vgl. Ex 25,9.40]. 7 Siehe (so) ist es nun bewahrt bei mir gleichwie das Paradies. 8 Geh also fort (von hier) und tu, wie ich dir aufgetragen habe!‹
SyrBar 4 bietet eine Audition, die Baruch zuteil wird. In ihr werden die vorausgegangenen Befürchtungen Baruchs entkräftet bzw. es wird präzisiert, inwieweit die befürchteten Konsequenzen des Gerichtshandelns Gottes limitiert sind. Festgestellt wird, dass Jerusalem »eine Zeitlang preisgegeben wird«; zugleich wird der Bestand der Welt nicht in Frage gezogen. Dies soll der Sorge Baruchs aus syrBar 3 den Grund entziehen, dass das Schicksal der Menschen an der – aus dem Blickwinkel der Erzählgegenwart zerstörten – Stadt Jerusalem hängt. Die reale Stadt mit ihren jetzt ansichtigen Gebäuden gilt dabei mit Jes 49,16 als von der »auf die Handflächen« Gottes »hingezeichneten« Stadt als unterschieden. Diese ist von Gott im Himmel im Voraus bereitet, sie ist »präexistent« sogar im Verhältnis zur Schaffung des Paradieses.16 Damit wird sichergestellt: Jerusalem entspricht der allerersten und vorgängigen Intentionalität und Gestaltungskraft Gottes. Zugleich gilt nach dem apokalyptischen Schema, dass dieses protologische Jerusalem allein im Himmel offenbar, geschichtlich dagegen noch verborgen ist. Es steht, ebenso wie das Paradies, himmlisch bei Gott bereit. In diese Konstellation erhält der fiktive Baruch Einblick. Die Exklusivität und die Unverbrüchlichkeit dieser protologischen Anlage und Verborgenheit der Stadt erhellen weiterhin daraus, dass sie von Gott Adam, dem ersten Menschen, gezeigt wurde – jedoch allein prälapsarisch, d.h. vor dem Sündenfall. Dies ist Ausdruck der Heiligkeit und der Unterschiedenheit der Stadt von allem Unreinen (vgl. Apk 21f.). Sie ist der Menschheit, repräsentiert durch Adam, allein insofern kompatibel, als diese frei von Sünde ist. Gleiches gilt nicht nur für die Menschen im Allgemeinen, sondern für das Volk Israel im Besonderen. Dies stellen zwei weitere Aussagen des Zeigens der Stadt sicher. Abraham wurde die Schau der Stadt in der Situation von Gen 15, 16 | Nach Söllner 1998: 289, findet sich hier erstmalig im Frühjudentum die Vorstellung eines präexistenten Jerusalems.
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bei einem urtümlichen Opferritus, zuteil, welcher den Bund Gottes mit seinem Volk dokumentiert. Mose wurde das präexistente Jerusalem auf dem Sinai – in der in Ex 25,9.40 erzählten Situation – präsentiert. Diese Offenbarung stand nach der syrischen Baruchapokalypse in einem kultischen Kontext, nämlich dem der Stiftshütte und der zugehörigen Geräte. Mit Abraham und Mose sind die beiden Zentralgestalten der Väter- und Exodusgeschichte schlechthin benannt; diese verbürgen die himmlische Existenz des künftigen/himmlischen Jerusalems, welches von der – zerstörten – realen Stadt unterschieden ist. Mit dem Verweis auf das »Abbild des Zeltes« ist dabei zugleich eine andere kultische Dimension angezeigt, die vom irdischen Tempel unterschieden ist. Stadt und Tempel werden als vorfindliche Größen somit stark relativiert; ihr Verlust kann verarbeitet werden; die Katastrophe von 70 n. Chr. trifft nur eine vordergründige Realität, insofern die »eigentliche« Stadt und ihr »eigentlicher« Kultus seit Anbeginn der Zeit bei Gott aufbewahrt sind. c) Die Erwartung einer »transhistorischen« Stadt verbindet sich im antiken Judentum auch mit messianischen Erwartungen, d.h. mit der Erwartung einer Rettergestalt, die wie der König David Jerusalem in neuer Macht und Pracht wiederherstellen und zugunsten des Volkes intervenieren wird. Im 4. Esrabuch, das wie die syrische Baruchapokalypse die Katastrophe von 70 n. Chr. verarbeitet, ist das Erscheinen der himmlisch schon vorbereiteten, jedoch gegenwärtig noch verborgenen Stadt auf die Erdenzeit des Messias beschränkt.17 In Apk 21f. ist die messianische Ausrichtung dagegen bemerkenswerterweise kaum entwickelt; nachdem Christus mit den Seinen, »Priestern Gottes und Christi« (Apk 20,6), für 1000 Jahre aktiv geherrscht hat, übernimmt der Messias im himmlischen Jerusalem gewissermaßen nur die Funktion eines »sideman«: Es heißt, dass er als »Lamm« mit Gott zusammen auf dem Thron sitzen, d.h. regieren wird; im Zentrum steht, entsprechend der 17 | In 4Esr 7 begegnet die Vorstellung eines messianischen Zwischenreiches auf der Erde vor dem Weltenende, die an Apk 20 erinnert. Hier ist von einem Erscheinen der »unsichtbaren« Stadt (im lateinischen Text von 4Esr 7,26 steht »sponsa«, was soviel wie »gelobt«/»versprochen«/»verlobt« bedeutet) und einem Sich-Zeigen des »verborgenen Landes« die Rede, welche auf die 400-jährige Interimsphase einer messianischen Herrschaft hinzielen. An deren Ende steht – anders als in Apk 20 – der Tod des Messias. Es ist damit also ganz deutlich, dass es sich um ein begrenztes und irdisches epochales Geschehen handelt. Die am Beginn der finalen Geschehnisse erscheinende Stadt wird dabei nicht explizit mit Jerusalem identifiziert; auch bleibt im Text unklar, wie die messianische Gestalt näherhin mit dieser Stadt zusammenhängt. Signifikant ist, dass ihre Existenz als zeitlich begrenzt gedacht ist. Das eschatologisch qualitativ vollgültige Heil wird von der »Stadt« und dem Messias deutlich abgesetzt. Anders als in 4Esr 8,52-54 kommt der »erbauten Stadt« keine positiv-eschatologische Funktion zu. Deutet sich darin ein ›resignativer Zug‹ an (so Söllner 1998: 269)?
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Theozentrik der gesamten Johannesoffenbarung, die These, dass Gott als der »All(es)beherrscher« (Apk 21,22) sich am Ende siegreich und in Herrlichkeit gegen seine Widersacher durchsetzen wird. d) Apokalyptische Texte visieren eine heilvolle Perspektive an; dies ist gegen ein neuzeitliches Missverständnis festzuhalten, wonach »Apokalypse« im Sinne von katastrophaler Vernichtung aufgefasst wird. Allerdings gilt das heilvolle Ziel zunächst für die intendierten Leser apokalyptischer Schriften, für die Gerechten, Gesetzestreuen bzw. die Erwählten. Es kann nur so begriffen werden, indem es zugleich eine unheilvolle Kehrseite hat. Von Gerichtsgeschehen getroffen werden Gruppen oder wird gegebenenfalls die Menschheit, sofern sie sich der Evidenz des göttlichen Geschichtsplanes widersetzt, d.h. im Fall der Johannesoffenbarung sich in Kultus und Lebenspraxis nicht exklusiv zu Christus als »Lamm« hält. Die Kehrseite der Geschichte kann dabei ebenfalls »städtisch« konzeptualisiert werden. In der Johannesoffenbarung wird das himmlische Jerusalem als Anti-Babylon resp. Anti-Rom ausgestaltet; hierin wirken sich die Erfahrungen der Leserschaft mit dem Einfluss Roms und insbesondere des Cäsarenkults in Kleinasien aus.18 Jerusalem als »Braut« wird zum Antonym Roms als der »Hure Babylon«.
4. E LEMENTE DER G ENERIERUNG VON U RBANITÄT IN DER V ISIONSERZ ÄHLUNG A PK 21 F. Das Stadtkonstrukt von Apk 21f. stellt ein ganz eigentümliches mixtum compositum dar. Es basiert auf axiomatisch aufgefassten biblischen Prätexten; es steht in einem breiten und komplexen Strom frühjüdischer Erwartungen für die Zukunft der Stadt. Es nimmt christliche Überzeugungselemente in sich auf. Es reagiert auf Erfahrungen der kleinasiatischen Leserschaft mit der Weltmacht Rom und dem durch sie propagierten Kaiserkult und entwirft eine Kontrastwelt. Zugleich bietet die Vision eine eigentümliche Vermischung von jüdischer und hellenistisch-römischer Kultur. Apk 21f. will eine »wirkliche« Stadt zeigen; im Text wird Urbanität generiert, die Leserinnen und Leser werden bei ihrem Stadt-Wissen und ihren Stadterfahrungen in hellenistisch-römischen Städten angesprochen.19
18 | Zur soziohistorischen Lokalisierung der Johannesoffenbarung (mit weiterer Literatur): Witulski 2007; Ebner 2011. 19 | Zu den exegetischen Detailproblemen des Textes, seiner Gliederung, seiner möglichen literarkritischen Spannungen und seinen religionsgeschichtlichen Hintergründen siehe Aune 1998: 1108-1194; Holtz 2008: 132-141.
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4.1 Die Stadtmauern Nach den Angaben zur Schau der göttlichen Herrlichkeit des aus der himmlischen Welt herabkommenden Jerusalem finden sich in Apk 21,12-14 zunächst Angaben zur Umgrenzung der Stadt, die im Zusammenhang der Maße und Materialien in den Versen 17 und 18 fortgeführt werden. Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen hatten, die mit den sieben letzten Plagen gefüllt waren, und redete mit mir und sprach: ›Komm, ich will dir die Braut, die Frau des Lammes, zeigen!‹ Und er entrückte mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt, Jerusalem, die aus dem Himmel von Gott her herabkommt [vgl. Ez 40,1f.], die die Herrlichkeit Gottes hat. Ihr Lichtglanz ist gleich kostbarstem Edelstein, wie ein glänzender Jaspisstein. [Vgl. Jes 58,8; 60,1f.] Sie hat eine große und hohe Mauer, sie hat zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen sind darauf geschrieben; das sind die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. [Vgl. Ez 40,5; 48,30-35] Von Osten drei Tore und von Norden drei Tore und von Süden drei Tore und von Westen drei Tore. Und die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine und auf ihnen zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. (Apk 21,9-14)
Generell bilden die Mauern das konstitutive und wichtigste Bauwerk einer antiken Stadt 20; sie markieren die Unabhängigkeit des städtischen Gebildes, sie sollen Schutz gewähren und erfüllen auch Funktionen der ökonomischen Regulierung. In ihren Auf- und Ausbau wurde in der Antike entsprechend erheblich investiert. Bei der Zerstörung einer Stadt wurden die Mauern geschleift, wie es im Fall Jerusalems vom point of view des Sprechzeitraums der Johannesoffenbarung mehrfach geschehen war. Im Fall von Neubauten verglich man die Stärke der neuen Mauern mit der der alten, zerstörten. So erreichten etwa die unter Nehemia Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. errichteten Stadtmauern Jerusalems nicht mehr die Dimensionen derer vor der Zerstörung durch die Neubabylonier.21 Stadtmauern waren in der Antike entsprechend ihrer fundamentalen Bedeutung auch religiös kodiert; sie wurden mit der Schutz garantierenden Stadtgottheit in engste Verbindung gebracht, die figürlich oftmals mit der Mauerkrone dargestellt wurde. In der biblischen Literatur können die Mauern Jerusalems als vom Gott Israels selbst gegründet gelten (vgl. Jes 26,1; 49,16; Ps 20 | Anders Platon in den »Nomoi«, der den Verzicht der Spartaner auf Wälle zur Stadtverteidigung lobt, da diese die Bürger der Stadt in Sicherheit wiegen würden, was zum Nachlassen der Verteidigungskraft führe. Wenn die Menschen doch eine Mauer brauchten, so sollten die Wohnbezirke der Stadt mauerförmig gruppiert werden (vgl. Platon, Nomoi 778e-779b). 21 | Zu Jerusalem in der Zeit Esras und Nehemias: Otto 1980: 100-109.
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51,20 u.a.). Die starke, wehrhafte Mauer dient umgekehrt auch als theologische Metapher (vgl. Jes 60,18; Sach 2,9 u.a.). Apk 21 hat hier den Prätext des Verfassungsentwurfes im Ezechielbuch vor Augen (in Ez 48,30-35 fehlen allerdings die Mauern). Wurden Mauern in der Antike in der Regel aus Naturstein oder gebrannter Erde errichtet und mit Lehm oder Zement gefügt, so besteht die Mauer des himmlischen Jerusalem aus Jaspis (Apk 21,11 zunächst in der visuellen Anschauung im Vergleich; 21,18 explizit). Funktion und Bedeutung des Edelsteins sind über den Aspekt der Festigkeit und Kostbarkeit hinaus nur schwer zu präzisieren. Die Edelsteinart ist von biblischen Prätexten her gewonnen (vgl. Jes 54,11f.). Insgesamt sind auch die in Apk 21,19f. genannten Edelsteinarten »ontologisch« kaum sicher zu identifizieren.22 Intendiert ist der summative Effekt des Schönen, Sicheren, kultisch Reinen und Gottgleichen; Edelsteine weisen im Alten Testament und im frühen Judentum in die himmlische Welt (vgl. Ex 24,10; Ez 1,16.22.26; 10,1; Dan 10,6 u.a.m.); die himmlische Provenienz der Stadt dokumentiert sich in ihrer Materialität. In V.14 wird nun dieses Mauerkonstrukt »christianisiert«. Unter Bezug auf das Zwölf-Stämme-Volk bzw. die entsprechende Anzahl der Tore ist in extravaganter Weise davon die Rede, dass die Mauer insgesamt zwölf Grundsteine besitzt. Diese sind mit den Namen der »zwölf Apostel des Lammes« signiert. Schon im frühen Judentum können für die Lehre einer Gruppe grundlegende Gestalten metaphorisch als »Fundamente« angesprochen werden; in Qumran wird z.B. der Gemeinde bzw. den Leitern resp. dem »Lehrer der Gerechtigkeit« eine entsprechend grundlegende Funktion zugeschrieben. An einen solchen Sprachgebrauch schließt das frühchristliche Bekenntnis an. Dieses überlagert in Apk 21 die Realien antiken Städte- und Mauerbaus. Apk 21,14 spiegelt dabei eine bereits fortgeschrittene Stufe frühchristlich ekklesiologischer Vorstellungen. Kennen die ältesten neutestamentlichen Schriften die Zwölfzahl im Blick auf die Apostel noch nicht, so ist das Konstrukt eines Zwölferapostolates hier bereits als etabliert vorausgesetzt; zugleich blickt der Text in der dritten frühchristlichen Generation zurück auf die fundamentale apostolische Anfangszeit. Ähnlich wie im Epheserbrief gilt die christliche Gemeinde – baumetaphorisch – als auf dem Fundament der Apostel (und Propheten) gegründet (vgl. Eph 2,20).
22 | In ihnen kommen nach Böcher 1983: 150 »so gut wie alle Aspekte der alttestamentlich-jüdischen Edelsteinsymbolik« zusammen; vgl. ders. 1982: 266-272; insgesamt: Zwickel 2002.
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4.2 Die Stadttore Umschlossen von den Angaben bezüglich der Mauern stehen in Apk 21,12f. erste Informationen bezüglich der Stadttore. […] sie hat zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen sind darauf geschrieben; das sind die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. Von Osten drei Tore und von Norden drei Tore und von Süden drei Tore und von Westen drei Tore.
Ausgangspunkt der Konzeption von zwölf Toren, die gleichmäßig auf die vier Stadtseiten verteilt sind, ist auch hier der Verfassungsentwurf des Ezechiel (vgl. Ez 40,5; 48,30-35). Im Hintergrund der vergebenen Tornamen (vgl. Apk 21,12) steht die Erwartung, dass die zwölf Stämme Israels je durch ein eigenes Tor in die Stadt ziehen werden, wobei die Stämme in der Apokalypse nicht namentlich genannt sind (zum Ephraimtor vgl. 2Chr 25,23; Neh 8,16; 12,39; zum Benjamintor vgl. Jer 37,13; 38,7; Sach 14,10 u.a.).23 Die Zwölfzahl besitzt dabei für eine antike Leserschaft weitere mögliche Konnotationen. Platon lässt in den Nomoi (vgl. 745b-d) die kretische Kolonie in zwölf Distrikte unterteilt sein, wobei jeder Distrikt einer Gottheit zugewiesen wird (vgl. zu einer entsprechenden Struktur mit zwölf Distrikten auch Nomoi 758d-e). Frühjüdisch-apokalyptische Texte wissen von zwölf Himmelstoren. Nicht ausgeschlossen sind von hier aus auch Assoziationen an den Zodiak (vgl. Apk 12,1).24 Nicht näher bestimmt ist im Text die Funktion der Engel bei/auf den zwölf Toren. Heißt es im Folgenden, dass die Tore stets offenstehen (vgl. Apk 21,25), so wird ihre Funktion als Wächter (zum Wächter auf der Mauer vgl. Jes 62,6 u.a.) obsolet. Dies gilt auch, da in der Logik der Johannesoffenbarung im apokalyptischen Fahrplan alle Feinde vor dem Erscheinen des neuen Himmels und der neuen Erde mit der Himmelsstadt vernichtet worden sind. Doch zeigt das neue Jerusalem insgesamt eine eigentümliche Mischung aus Elementen einer offenen und einer geschlossenen Stadt.25 Diese Mischkonzeption entspricht der Pragmatik der gesamten Johannesoffenbarung: Nicht alle sind im »Buch des Lebens« (Apk 3,5; 13,8; 17,8 u.a.) verzeichnet, nicht alle werden das Bürgerrecht dieser Stadt erlangen. Apk 21,8 spricht im unmittelbar vorausgehenden Kontext – unter Aufnahme von Apk 20 – von denen, die endgültig auf den »zweiten Tod« zugehen, d.h. denen, die an der endzeitlichen Auferstehung 23 | Zum Problem der Reihenfolge der Himmelsrichtungen: Müller-Fieberg 2003: 184f. 24 | Siehe die Diskussion bei Müller-Fieberg 2003: 195-200; Böcher 2010: 19-21, 99. 25 | Unter modernen Vorzeichen könnte man an eine »guarded city« denken, etwa eine nordamerikanische Vorstadt, wie sie von den Bürgern gewünscht wird: Das Viertel ist »sauber« und »sicher«; für alle Fälle aber gibt es eine Bürgerwehr o.ä.
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nicht teilhaben werden. Pragmatisch sollen sich die Leser jedoch darum bemühen, sich in ihrer Orientierung an dem »Lamm« und ihrem Bekenntnis so zu verhalten, dass sie die glückliche Lebensperspektive erreichen – d.h. sachlich: durch die Tore eingehen – werden.
4.3 Die Struktur und Ausmaße der Himmelsstadt Nach einer wiederum an Ez 40 erinnernden Vermessungsszene folgen die Angaben über die Strukturierung und die Maße der gewaltigen Himmelsstadt: Und der, welcher mit mir sprach, hatte einen Messstab, ein goldenes Rohr [vgl. Ez 40,3.5], um damit die Stadt und ihre Tore und ihre Mauer zu vermessen. Und die Stadt ist viereckig [vgl. Ez 43,16] angelegt, und ihre Länge beträgt so viel wie ihre Breite. Und er vermaß die Stadt mit dem Rohr auf zwölftausend Stadien. Die Länge und die Breite und die Höhe sind gleich. Und er maß ihre Mauer [vgl. Ez 40,5] auf einhundertvierundvierzig Ellen – nach Menschenmaß, das heißt nach Engelsmaß. (Apk 21,15-17)
Die Maßeinheit für die Seitenlänge der Stadt wird mit Stadien angegeben. Bei der Mauer sind Ellen genannt. Hierbei sind Engelsmaß und Menschenmaß gleichgeordnet (vgl. Apk 21,17). Die Funktion dieser Gleichordnung im Text bleibt unklar; wahrscheinlich ist, dass sich die Angabe nicht auf die Höhe der Mauer beziehen kann, die sonst im Vergleich zur riesigen Höhe der kubischen Stadt unterdimensioniert bliebe; vielmehr muss es sich um die Bezeichnung der Mauerstärke handeln.26 Angesichts der Tatsache, dass die Elle in der Antike verschieden gemessen wurde – so unterschied man z.B. die sogenannte königliche Elle von der gewöhnlichen Elle –, bleiben insgesamt Unsicherheiten bei der Quantifizierung der genauen Maße.27 Deutlich ist, dass es sich um ideale Zahlenangaben handelt, die die in der Johannesoffenbarung so oft variierte und multiplizierte Zwölfzahl in sich aufnehmen. Und deutlich ist zugleich, dass die Maße hyperbolisch ausgelegt und auf den imposanten Gesamteindruck hin konzipiert sind. Gesteigerte Erstreckungsangaben finden sich auch in jüdisch-apokalyptischen Texten, doch Apk 21f. überbietet die Vorläufertexte bei Weitem; die Sta26 | Dies ist freilich umstritten. Zum Problem der Maße in Apk 21,17: Aune 1998: 1162; Bachmann 2004: 61-82. 27 | Der Verfassungsentwurf des Ezechiel z.B. ist auf die sogenannte königliche Elle zu beziehen, welche einige Zentimeter mehr misst als die reguläre Elle (vgl. Ez 40,5; 43,13; 2Chr 3,3). »Im Unterschied zu anderen Kulturgütern haben die römischen Maße [Elle = 24 Zoll, Fuß = 16 Zoll] den Zusammenbruch des Römischen Reichs nicht überlebt.« (Lichtenberger 2002: 169)
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dienangaben für die Seitenerstreckungen der Stadt ergeben umgerechnet über 2000 Kilometer. Dabei bezieht sich die Angabe auch auf die dritte Dimension, und die Kubusform des himmlischen Jerusalems transzendiert damit jedes in der Antike architektonisch realisierbare Maß.28 Sprechen schon apokalyptische Texte von einer Stadt, die bis an die Wolken reicht, so ist das himmlische Jerusalem von Apk 21f. ein gigantischer Würfel. Man kann insgesamt von einer »Ideologie der kompakten Stadt«29 sprechen. Mit dem Quadrat als Grundriss wird in Apk 21,16 ein Modell gewählt, welches einerseits jüdischen Vorgaben folgt, zum anderen aber auch in der hellenistisch-römischen Städtekultur als ideal gelten kann. D.h., es findet sich auch hier die doppelte Traditionstiefe, die den Text insgesamt kennzeichnet. 1. In der alttestamentlichen Literatur ist vielfach die quadratische Form von Altären bezeugt (vgl. Ex 27,1; 30,1f. u.a.). Im Hintergrund des Quadratrasters von Apk 21f. steht jedoch wiederum zuerst der Verfassungsentwurf des Ezechiel, in dem das Quadrat die Basisstruktur sowohl für die Stadt, für den Tempelbezirk, den Innenhof, den Tempelbau als auch für das Allerheiligste abgibt.30 Diese Vorstellung wurde frühjüdisch in verschiedener Weise fortgeschrieben und weiterentwickelt; in den Qumran-Fragmenten zum neuen Jerusalem sind die zwölf Wohnbereiche in sich quadratisch strukturiert.31 Vor allem spricht jedoch einiges dafür, dass die Fortentwicklung des Quadrates zum Kubus an der Würfelgestalt des Allerheiligsten des salomonischen Tempels gewonnen ist (1Kön 6,20: der Debir in würfelförmiger Gestalt).32 2. Nicht nur in frühjüdischen Texten, sondern auch in nichtjüdischen antiken Zeugnissen gilt das Quadrat als die ideale Form (vgl. Aristoteles, Rhetorik III 11,2 [1412a] u.a.). Dies wird in die Städtebeschreibung und -planung übernommen. Herodot (vgl. I 178) setzt eine quadratische Gestalt für Babylon voraus. Diodorus Siculus weiß vom quadratischen Aufriss der Stadt Ninive (vgl. I 3). 28 | Ein Zug, der ikonographisch zumeist nicht abgebildet wird. Die Volumenangabe, die Ebner 2012: 60, unter Bezug auf Kraybill 1996: 211, annimmt, wonach die Stadt groß genug sei, um das gesamte Mittelmeerbecken samt den meisten umliegenden Ländern auszufüllen, ist allerdings doch übertrieben angesetzt. 29 | Lichtenberger 2002: 163 – hier unterschieden von einer »Ideologie der aufgelockerten Stadt«. 30 | Stadt: Ez 48,16.30-35; Bezirk des Tempels: Ez 42,15-20; Innenhof des Tempels: Ez 40,47; Altar: Ez 41,22; 43,16; Tempelbau: Ez 41,13-15; Allerheiligstes: Ez 41,4. 31 | Vgl. Anm. 9; auch Karrer 2005: 225-259, hier 252-257. 32 | Sim 1996: 105: »Einst war der Name Gottes im kleinen Kubus [1Kön 8,29] existent, nun aber wird Gott in der neuen Welt selbst innerhalb der riesigen, vollkommenen Kubusstadt unter den Menschen weilen.« Zum salomonischen Tempelbau: Zwickel 1999.
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Folgten die hellenistischen Städtegründungen in der Anlage vielfach einem flexiblen rechteckigen Schachbrettmuster, welches häufig – allerdings nur mit partiellem Recht – mit dem Namen des Hippodamos von Milet in Verbindung gebracht wird,33 so gewinnt erst in römischer Zeit die Quadratform immer stärker an Bedeutung, auch wenn der in der weiteren Architekturgeschichte äußerst einflussreiche Römer Vitruv Anfang des ersten Jahrhunderts v. Chr. die kreisförmige und strahlenförmig durch Straßen gegliederte Stadtstruktur favorisiert. Sehr stark verallgemeinert lässt sich sagen, dass der quadratische Rastergrundriss und der Kreis über Jahrhunderte um das Modell der Idealstadt konkurrieren, auch wenn sich das Raster34 stärker durchgesetzt hat. Vor allem Platon35 war mit seiner Favorisierung der zirkulären Gestalt äußerst einflussreich; allerdings gibt es auch bei Platon Mischkonzeptionen. Platons Atlantis, wie er es im unvollendeten Dialog »Kritias« darstellt, ist mit inspiriert von Herodots Beschreibungen von Ekbatana und Babylon und kombiniert ein Kreiskonzept mit einer Rasteranlage von Kanälen.36 Das platonische Kreismodell hat auch auf die christliche Rezeptionsgeschichte des himmlischen Jerusalem nachhaltig eingewirkt (s.u. Punkt 5). Das quadratische Raster ergab sich dagegen aus einer Orientierung römischer Städteneugründungen am Modell des Militärkastells (castra)37, welches – je nach geographischer Lage und Möglichkeiten – ein Quadrat beschrieb, das 33 | Auf ihn wird die Anlage Milets nach der Zerstörung durch die Perser zurückgeführt. Nach Eaton 2003: 29f., hätte Hippodamos allein die Agora in Piräus gestaltet; sein Hauptbestreben habe weniger einer »Rasterung« der Städte entsprochen als vielmehr dem Ziel, »Richtlinien für die ideale Stadt festzulegen, die einen vollkommenen Einklang zwischen der Struktur der Stadt, ihrer Verfassung und der Harmonie des Kosmos gewährleisten sollten […]«. Vgl. zum Rechteck-Modul-System des Hippodamos auch Lichtenberger 2002: 15, 163. 34 | »Der Raster, die orthogonale Anlage mit Parallelstraßen und rechten Winkeln […] scheint die ideale Stadtform schlechthin zu sein. Als Inbegriff der Ordnung stellt es das meistverbreitete, universelle Muster in der Geschichte der Stadt dar […].« (Eaton 2003: 28) 35 | Vgl. Eaton 2003: 26f.; Lichtenberger 2002: 14: »In Platos Idealstadt, welche als Kreisform konzipiert ist, befindet sich im Zentrum die höher gelegene Agora mit den Regierungsgebäuden, Tempeln und Gymnasien, rundum sind die Häuser der Bürger in einem Ring angeordnet, während sich die Handwerker im äußeren Kreis befinden.« 36 | Siehe hierzu Eaton 2003: 32; Atlantis ist dabei keine »Idealstadt«, sondern ein Gebilde, welches am Ende zugrundegeht. 37 | Siehe zum Folgenden mit Abbildungen: Ebner 2012: 44-65; Sim 1996: 103, 137 zu Roma quadrata als archetypischem Konzept für die Anlage römischer Kolonien (vgl. Tacitus, ann. XII 24; Plutarch, Romulus 11 u.a.). Zu möglichen etruskischen Einflüssen auf das römische Konzept: Ebner, a.a.O.: 54f.; Eaton 2003: 34f.
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durch zwei Hauptachsen, die decumani, kreuzförmig untergliedert war.38 Die vom römischen Kaiser Trajan für Veteranen gegründete Stadt Timgad in Nordafrika bildet dieses Grundschema idealtypisch ab; weiter wären Aosta, Colchester und Xanten als Beispiele zu nennen.39 Ist damit das Quadrat der Himmelsstadt in Apk 21f. anschlussfähig für das römische Rastersystem der Kolonialstädte, so bleibt freilich festzuhalten: Die Binnengliederung dieses Rasters, die in der römischen Stadt den Raum hierarchisch ordnete, ist in der Vision der Johannesoffenbarung allenfalls angedeutet. Verbindet man die Tore der Stadt mit Straßen, so kreuzen sich drei mal drei Achsen und ergeben sich insgesamt sechzehn Quartiere. Allerdings wird diese Gliederung im Text nicht explizit gemacht. Ob die in Apk 21,21; 22,2 angesprochene »große Straße« resp. der »Platz« metonymisch für das Straßennetz insgesamt zu nehmen ist40, muss sehr unsicher bleiben. Apk 22,2 betont die mittige Lage, was eher dafür spricht, dass die Leserschaft hier an eine zentrale Agora denken soll.
4.4 Die Materialität der himmlischen Stadt In Apk 21,18-21 schließt eine katalogartige Beschreibung der Materialien an, aus denen die Stadt verfertigt ist: Und der Unterbau ihrer Mauer ist Jaspis, und die Stadt ist von reinem Gold gleich reinem Glaskristall. Die Grundsteine der Mauer sind mit allerlei kostbaren Edelsteinen geschmückt. Der erste Grundstein ist ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalcedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Karneol, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. Und die zwölf Tore sind zwölf Perlen; jedes der Tore war eine Perle. Und die Straße/die Agora der Stadt war reines Gold wie durchsichtiges Glaskristall.
Das Innerste der Himmelsstadt besteht aus reinstem Gold, ihre Mauern sind aus Jaspis errichtet, die zwölf Grundsteine der Mauern sind mit verschiedensten Edelsteinen geschmückt, und die Tore bestehen aus je einer großen Perle. Analysiert man diese visionäre Konstruktion der Baumaterialien, so lassen sich alle so weit festgestellten Merkmale und Tendenzen noch einmal rekapitulieren.
38 | Die quadratische Gesamtanlage mit ihren decumani und cardines wird nach Vitruv dabei so ausgerichtet, dass sie Wind und Witterung keinen direkten Einfall in das Straßensystem ermöglicht. 39 | Vgl. die Abbildung bei Ebner 2012: 47. 40 | So Ebner 2012: 60.
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a) Auch die genannten Materialien sind zuerst »biblisch gewonnen«; in verschiedenster Weise lassen sie sich auf eine Fülle von biblischen Prätexten beziehen, ohne dass ausdrücklich zitiert und eine genaue Kongruenz zu einem bestimmten Text hergestellt wäre (vgl. Jes 54,11f.; Tob 13,20 u.a.); zugleich kommen Traditionen ins Spiel, die sich erst im antiken Judentum entwickelt haben. Hierbei sind die Aspekte der Kostbarkeit, des Wertes, der Beständigkeit, der Schönheit, der Reinheit und des Kultischen bzw. des Göttlichen bestimmend.41 b) Entsprechende Aspekte finden sich auch in paradiesisch-utopischen Städtevisionen in der hellenistisch-römischen Literatur, d.h. auch hier werden Leserinnen und Leser bei einem allgemeinen Stadtwissen angesprochen.42 So entwirft Lukian von Samosata in seinen »Wahren Geschichten« in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. ein parodisches Bild, in dem er mit seinen Gefährten die Insel der Seligen erreicht, auf denen paradiesische Lebensverhältnisse herrschen. In der Nähe der elysischen Gefilde befindet sich eine Stadt aus Gold und Edelsteinen mit Fundamenten aus Elfenbein, Tempeln aus Beryll mit Altären aus Amethyst; die Stadt ist von einem Strom aus Myrrhe umflossen. In dieser Stadt altern die Menschen nicht, und es herrschen konstante Lichtverhältnisse ohne eine Tag-Nacht-Differenz; Fruchtpflanzen tragen mehrfach im Jahr (vgl. Lukian, Verae Historiae II 11-13). c) Auch in Apk 21,11.18-21 ist der Hang zum Hyperbolischen mit Händen zu greifen, wenn etwa die überdimensionierten Tore aus je einer riesigen Perle geformt sind – eine Vorstellung, die erst in rabbinischen Texten Parallelen findet. Es entsteht der Eindruck der Stadt als ein ins Hyperdimensionierte gesteigertes Schmuckgebilde. Materialien, wie sie in Ausnahmefällen bei Gebäuden und Räumen von Königen oder hochgestellten Beamten oder zur Ausgestaltung von Tempeln zum Einsatz kamen, werden massiv und in Reinform verwendet. d) Dies alles kontrastiert den Erfahrungen einer Leserschaft, welche städtische Gebäude aus Lehm, Holz und vielfach unbehauenen Steinen bzw. gebranntem Ziegel kannte.43 Die Himmelsstadt ist materialiter so konstruiert, dass sie nicht mehr von einem Prozess des ständigen »Mehr« an Produktivität und Wertsteigerung abhängt. Eine endgültige »Fülle« ist vorausgesetzt, die 41 | Nicht ausgeschlossen ist, dass bei der Materialienwahl in Apk 21f. auch astrologische Hintergründe eine Rolle spielen. Vgl. die Edelsteine auf der Brustplatte des Hohepriesters nach Ex 28,17-20; 39,10-13, die sowohl von Josephus als auch von Philo auf die zwölf Sternbilder des Tierkreises gedeutet werden. Siehe Söllner 1998: 218-220. 42 | Siehe den Exkurs bei Aune 1998: 1191-1194. 43 | Vgl. das Altargesetz Ex 20,25: »Du sollst meinen Altar nicht bauen als Behauenes […].« (Vgl. Dtn 27,5f.; Jos 8,31; 1Makk 4,47) Sueton, Augustus 16, hebt die Ausstattung Roms mit Marmor hervor.
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sich kritisch zu allem Steigerungs- und Fortschrittsdruck in der Stadtplanung und -gestaltung verhält. Es geht nicht mehr darum, dass Menschen Städte »zukunftsfähig« gestalten müssten, da diese Stadt Zukunft in qualitativ vollgültigem Sinn bereits ist, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass sie von Menschen gefüllt und bestimmt ist, die selbst »Polis« im qualitativ vollgültigen Sinn bilden.44 Gerade in ihrer Materialität wird das himmlische Jerusalem zum Antitypos der Hauptstadt des römischen Imperiums. Gold, Silber, Edelsteine und Perlen sind nach Apk 18,12 ökonomische Güter, mit denen Rom Handel betreibt, um Gewinne zu vermehren, um weiter wachsen zu können etc. Mit Gold, Edelsteinen und Perlen ist nach Apk 17,4 die »Hure Babylon« geziert. »Braut« und »Hure« stehen sich in der Johannesoffenbarung auch materialiter antagonistisch gegenüber.45
4.5 Die Gartenstadt In einer städtischen Vision könnten antike Leserinnen und Leser weitere urbane Bauten und Institutionen selbstverständlich erwarten, etwa Verwaltungsgebäude, Theater, Säulenhallen, Gymnasien, Geschäfte o.ä. Im Text von Apk 21f. ist hier eine Fehlanzeige zu notieren. Für diese Fehlanzeige sind unterschiedliche Gründe zu benennen (s.u. Punkt 4.6). Zunächst hängt sie in Apk 21f. mit der oben angesprochenen Tendenz der Apokalyptik zusammen, Urzeit und Endzeit in eine enge Verbindung zu setzen: Was sich am Ende der Geschichte durchsetzt, entspricht dem uranfänglichen Willen des Schöpfers. Damit werden die Zeiten menschlicher Kulturleistungen gewissermaßen überwölbt. Apk 22 greift, ähnlich wie syrischer Baruch 4 (vgl. oben Punkt 3), auf die Zeit vor jeder menschlichen Produktivität und Kulturerrungenschaften zurück. Die erhoffte Neuschöpfung gestaltet sich im Bezug auf die erste Schöpfung in Gestalt eines Gartens. Das himmlische Jerusalem wird zum neuen Eden.
44 | Hierbei handelt es sich um einen essentiellen Impuls, der auch auf seine kritischen Gehalte gegenüber einem oft nicht mehr reflektierten neuzeitlichen Inkrementierungs- und Fortschrittsdenken zu befragen ist. S.u. Punkt 4.6 sowie den Beitrag von Walter Siebel in diesem Band. 45 | Baugeschichtlich könnte man hier im zeitgenössischen Rom z.B. an die von Nero auf den Trümmern der niedergebrannten Holzstadt errichtete Domus Aurea denken.
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Und er zeigte mir einen Strom von Lebenswasser, klar wie Kristall, der ging aus von dem Thron Gottes und des Lammes. [Vgl. Gen 2,10; Ez 47,1] In der Mitte zwischen ihrer Straße/Agora und dem Strom, diesseits und jenseits, befindet sich Gehölz des Lebens, das zwölf[mal] Früchte trägt, jeden Monat bringt es seine Frucht, und die Blätter des Holzes dienen zur Heilung der Völker. [Vgl. Ez 47,7.12; Gen 2,9; 3,22.24] Und nichts Verfluchtes wird es mehr geben. [Vgl. Sach 14,11] Und der Thron Gottes und des Lammes wird darin sein, und seine Sklaven werden ihm dienen. Und sie werden sein Angesicht schauen [vgl. Ps 17,15; 42,3], und sein Name steht auf ihren Stirnen. (Apk 22,1-4)
Die Motive des Flusses, des Lebensbaumes und der Freiheit von Fluch beziehen sich auf die Paradieserzählung in Gen 2f. Sie werden in Apk 22 auf dem Hintergrund weiterer Prätexte und jüdischer Vorstellungen weiterentwickelt. Die enge Verbindung von Jerusalem und einem paradiesischen Garten besitzt alttestamentliche Ansatzpunkte und weist eine breite frühjüdische Rezeptionsgeschichte auf. Nach Stellen wie Jes 51,3 soll die Wüste Zion zum Garten Eden werden. Im Verfassungsentwurf des Ezechiel werden die Gartenelemente in der priesterlichen Tendenz des Gesamttextes in den Tempelbereich integriert (vgl. Ez 47,1-12). Im Jubiläenbuch gilt der Garten Eden als »das Heilige des Heiligen und Wohnung des Herrn« (Jubiläenbuch 8,19). Im Testament Dan 5,12 sowie im vierten Esrabuch (vgl. 4Esr 8,52-54) werden Stadt und paradiesischer Garten parallelisiert.46 Im syrischen Baruch (zu syrBar 4,1-8 s.o. Punkt 3) sind das paradiesische Eden und die Stadt präexistent, wobei die Stadt noch vor dem Garten geschaffen wurde. a) Apk 22 bindet das Strom-Motiv mit der Vorstellung der Tempelquelle aus Ez 47,1-12 zusammen47; schon bei Ezechiel ist von Früchte tragenden Bäumen beidseitig des aus der Tempelquelle entstehenden Stromes die Rede (vgl. Ez
46 | 4. Esrabuch 8,52-54: »Denn für euch ist das Paradies geöffnet, der Baum des Lebens gepflanzt, die kommende Welt bereitet, die Seligkeit vorbereitet, die Stadt erbaut, die Ruhe zugerüstet, die Güte vollkommen gemacht, die Weisheit vollendet. Die Wurzel [des Bösen] ist vor euch versiegelt, die Krankheit vor euch ausgetilgt, der Tod verborgen; die Unterwelt ist entflohen, die Vergänglichkeit vergessen. Die Schmerzen sind vergangen, und erschienen ist am Ende der Schatz der Unsterblichkeit«; zum Zielpunkt der Unsterblichkeit vgl. 4Esr 7,13: die größere Welt als ›Frucht der Unsterblichkeit‹. 47 | Archäologisch ist die Tempelquelle nicht nachweisbar, sondern Zisternen auf dem Tempelberg, v.a. aus hellenistisch-römischer Zeit; vgl. Aristeasbrief 89: »Das Wasser versiegt nie, da im Innenraum eine natürliche Quelle reichlich sprudelt; dazu gibt es noch wunderbare und unbeschreibliche Wasserbehälter unter der Erde […].«; Tacitus, Historien V 12: »[…] Es gab da eine nie versiegende Quelle, unterirdische künstliche Höhlen im Berggelände, Fischbehälter und zur Aufbewahrung des Regenwassers dienende Zisternen […].«
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47,7.12; zum »Lebenswasser« vgl. auch Sach 14,8, wonach lebendiges Wasser in Jerusalem entspringt). b) Das »Gehölz des Lebens« von Apk 22,2 erinnert als Kollektivbegriff zunächst an den Lebensbaum in Gen 2f. (vgl. Gen 2,9; 3,22.24). Lebensbäume finden sich sodann als Motiv in zahlreichen apokalyptischen Texten. Im äthiopischen Henochbuch 25,4f. ist der Lebensbaum sogar mobil. Er wird aus dem Süden von den Edelsteinbergen weg zum Tempel versetzt. So wie der Baum transplantiert wird, zieht auch Gott von seinem Thron auf dem mittleren der Edelsteinberge nach Jerusalem hin, zur Eröffnung des eigentlichen Gerichts. 48 Die genaue Anordnung des Lebensgehölzes, des Flusses und der Straße bzw. der Agora bleibt dabei in Apk 22,1-3 verschwommen, wie auch die verschiedenen Versuche in der Kunstgeschichte zeigen, sie bildhaft darzustellen. Grund hierfür ist, dass es dem Text auch hier vorrangig darum geht, die verschiedenen biblischen Prätexte und traditionellen Vorstellungen zusammenund übereinanderzublenden. c) Verbunden werden diese Motive in Apk 22,3 zusätzlich mit der Aussage aus Sach 14,11: »und nichts Verfluchtes wird es mehr geben«. Im Griechischen gibt es dabei auch hier eine Verschiebung in der Terminologie, die mit der Technik der Zusammenblendung der Prätexte zusammenhängt. Bannung und Zerstörung werden dem Wohnen in der erhofften Stadt fremd sein; zugleich wird auch hier der Bezug auf Gen 2f. gewahrt: Das Geschick Adams gilt als überwunden. d) Über diese biblisch-traditionellen Bezugspunkte hinaus vermag die Vision auch hier konkrete urbane Erfahrungen der Leserschaft aufzugreifen – und sie mit Hoffnungsbildern zu kontrastieren. Der Erfahrung von Lebenswasser und fruchtbaren Bäumen im Zentrum der Städte standen städtische Erfahrungen mit mangelhafter Wasserversorgung und Hygiene gegenüber. Die Versorgung mit frischem Trinkwasser sowie die Entsorgung von Kot bildeten in den Städten durchgängig ein Problem, verseuchtes Wasser und auch verdorbene Nahrungsmittel waren häufig Ursache für Erkrankungen – in einer Zeit und Welt, die von Viren oder Bakterien nichts wusste. Demgegenüber haben die Gewächse in der Himmelsstadt medizinische Qualität (vgl. Apk 22,2); das himmlische Jerusalem ist zuletzt eine Stadt, die Menschen heil und gesund macht.49 48 | Zur Baummotivik im salomonischen Tempel: Zwickel 1999: 85-92; zur Granatapfel-Symbolik im Zusammenhang der ehernen Säulen Jachin und Boas: a.a.O.: 113-122. 49 | Ebner 2012: 61 verweist als Kontrast zum Lebenswasser auf eine Notiz Plinius des Jüngeren (Brief X 98), nach dem die hübsche Stadt Amastris zwar eine ordentliche Promenade besessen habe, diese jedoch von einer »scheußlichen Kloake« flankiert gewesen sei, »abstoßend durch ihren unappetitlichen Anblick und verpestend durch ihren ekelhaften Gestank […].« [Übers. H. Kasten]
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4.6 »Religion im urbanen Raum« — Das himmlische Jerusalem als Priesterstadt In der antiken Stadt gibt es – anders als in der neuzeitlichen Stadt – grundsätzlich keine klare Trennung von »profanen« und »religiösen« Vollzügen; das Religiöse erstreckt sich von speziell für Stadtteile zuständigen Gottheiten und Alltagsritualen in der Stadt bis hinein in die religio domestica (Heiligkeit des Herdes, der Türschwelle u.a.). Die Gründung einer Polis setzt grundsätzlich einen städtischen Kult der freien Bürger voraus; ihr entspricht ein zentrales Kultgebäude. In den römischen Städten würde man – entsprechend der Gliederung des römischen Götterpantheons – stets mehrere Tempel und Kultstätten erwarten. Dem Tempel war spezialisiertes Kultpersonal zugeordnet; hierbei war in den Städten eine sehr differenzierte hierarchische Gliederung der Kultfunktionäre vorauszusetzen. Im zeitgenössischen Judentum war der Kultus in Folge einer langen Geschichte in Jerusalem zentriert, hier aber in dem einen Tempel, der in der Gestalt des Zweiten Tempels bis 70 n. Chr. bestand und dessen Betrieb durch den jeweils amtierenden Hohepriester und die weitere kultische Aristokratie gewährleistet wurde. Der Tempel bildet nicht nur das Zentrum des Landes, sondern garantiert im jüdischen Selbstverständnis die Ordnung der Welt. Die frühjüdischen Texte, die wir soweit beleuchtet haben, sind in der Städtekonstruktion auf dieses eine Zentralheiligtum fokussiert. Wir sahen, wie der Verfassungsentwurf des Ezechiel in priesterlicher Perspektive dem Tempel in der Stadt breitesten Raum einräumt. Der Tempel mit den ihm zugeordneten Quartieren und Funktionen beansprucht hier vier Fünftel des Stadtareals; nur hier werden Gebäude, Ausmaße und Zweckbestimmungen näher ausgeführt, nicht bei allen weiteren städtischen Institutionen. Der Tempel wird dabei von der übrigen Stadt sorgsam distanziert und abgeschirmt; in einem Zwischenbereich liegen die Levitenstädte sowie das Wohn- und Wirtschaftsgebiet der Priester (vgl. Ez 45,1-8). Damit sind Tendenzen benannt, die sich in weiteren Texten zum »neuen Jerusalem« ähnlich beobachten lassen. In den QumranTexten über das neue Jerusalem ist ein Drittel des avisierten Stadtgebietes mit dem Tempel angefüllt.50 Demgegenüber bedeutet es in der Visionserzählung von Apk 21f. einen deutlich extravaganten Zug, wenn es heißt: »Und einen Tempel sah ich nicht darin. Denn der Herr, Gott der Allherrscher, ist ihr Tempel und das Lamm.« (Apk 21,22) Eine Spannung ergibt sich auch zum apokalyptischen Fahrplan der Johannesoffenbarung insgesamt, befinden sich doch nach Apk 6,9 die Seelen der Märtyrer unter dem Altar im Himmel, d.h., die Offenbarung setzt in ande50 | Siehe graphische Darstellung bei Ebner 2012: 63.
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ren visionären Partien voraus, dass auch in der himmlischen Welt noch Opfer stattfinden. Die Bedeutung dieser Tempellosigkeit der Stadt ist in der Forschung höchst umstritten. Abgekürzt kann man festhalten: Von einer »Tempelfeindschaft« 51 im Text ist nicht auszugehen. In verfehlter Weise hat die – zumal christliche – Forschung hier im Text der Johannesoffenbarung eine Grundopposition zum Judentum eingetragen. Demgegenüber kann man zunächst geltend machen: Die Johannesoffenbarung steht mit ihrer Vision einer Stadt ohne Tempel im Spektrum der frühjüdischen Schriften nicht so allein, wie man oft gemeint hat. So weist z.B. das »neue Haus« in der Tier-Apokalypse des äthiopischen Henochbuches keinen »Turm«, d.h. in der Symbolsprache des Buches: keinen Tempel, mehr auf.52 Wichtiger aber ist: In Apk 21f. wird die Stadt als ganze zum sakralen Tempelraum. Der Tempel steht nicht mehr in ihr, sondern die Stadt selbst markiert mit ihren Grenzen den Raum eines Allerheiligsten. Die Johannesoffenbarung stellt sich das – wiederum im Anschluss an jüdische Vorstellungen – so vor, dass die Menschen in ihrer Praxis selbst zum »Tempel« werden bzw. die Bewohner der Stadt werden sämtlich und gleichermaßen zu Priestern Gottes resp. des Lammes (vgl. Apk 20,6). Es bedarf keiner Vermittlung mehr in einem speziellen Gebäude. Gott ist den Bürgern der Stadt immerzu und qualitativ vollgültig nahe. Die ständig zugängige Heilswirklichkeit symbolisiert sich im Text in dem gleich mehrfach erwähnten Motiv, dass die himmlische Gottesstadt keine Differenz von Tag und Nacht mehr kennt, sondern stets erleuchtet ist (vgl. Apk 21,23-25; 22,5; Sach 14,7 u.a.). Die Himmelskörper werden als Beleuchtungsinstrumente verzichtbar. Vorausgesetzt ist der enge Bezug von Licht, Leben, göttlicher Herrlichkeit und gewährtem Heil. Und die Stadt bedarf weder der Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. (Apk 21,23; vgl. Jes 60,1.19f.) Und ihre Tore werden bei Tag niemals geschlossen, denn Nacht wird es dort nicht geben. (Apk 21,25) Und es wird keine Nacht mehr geben, und sie bedürfen nicht des Lichtes einer Leuchte oder des Sonnenlichtes, denn der Herr, Gott wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeiten. (Apk 22,5)
Um die Konsequenzen dieser Konzeption noch etwas deutlicher zu machen: Intendiert ist damit nicht allein die Aussage, dass sich in der himmlischen Stadt eine ideale Gestalt menschlicher Gemeinschaft einstellen wird. Vielmehr 51 | So Kraft 1974: 273. 52 | Siehe Söllner 1998: 35-42, 232.
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kommt es zu einer – auch neuzeitlichen Unterscheidungen von »religiös« und »profan« diametral entgegenlaufenden – Purifizierung und Pansakralisierung der urbanen Realität. Es gibt nichts kultisch Indifferentes mehr, es gibt nichts, was von dem zentralen Symbol der Herrschaft Gottes zusammen mit dem »Lamm« auszunehmen wäre. Hiermit erklärt sich zugleich noch einmal aus einer anderen Richtung (s.o. Punkt 4.5), dass sich bestimmte kulturelle Institutionen und Baulichkeiten, die antike Leserinnen und Leser in einer hellenistisch-römischen Stadt erwartet hätten – Theater, Gymnasien, Läden oder auch Thermen mit ihrer Zurschaustellung des menschlichen Körpers – in dieser Stadt nicht finden können. In Apk 21f. verlagern sich die Demarkationslinien zwischen »heilig« und »unheilig« weg von den Tempelschranken hin an die Stadtgrenzen.53 So erklärt sich im Text auch der vordergründig widersprüchliche Befund, dass die Tore der Stadt zwar immer offenstehen (vgl. Jes 60,11a) – sie tun dies einmal, da es keine Feinde mehr gibt, zum anderen aber, um der am Ende des Textes angesprochenen endzeitlichen Wallfahrt der Völker zum Zion Raum zu geben (vgl. Apk 21,3.24-26/Jes 2,2f.; Mi 4,1f. u.a.; anders die Funktion der Tore in Ez 48,31-35), universal können potentiell alle Menschen Bürger werden –, gleichwohl die Mauern zusammen mit den Engeln auf den Toren aber nicht obsolet werden. Die dualistische Unterscheidung von »rein« und »unrein« wird auf die Stadt als ganze übertragen, die durch die Präsenz des Thrones Gottes und des Lammes als geheiligt gilt. Und die Völker werden in ihrem Licht wandeln, und die Könige der Erde bringen ihre Pracht in sie hinein. […] Und man wird die Pracht und die Schätze der Völker in sie hineinbringen. [Vgl. Jes 60,11; Sach 14,7] Und nichts Unreines wird in sie hineinkommen und keiner, der Greuel und Lüge tut, sondern nur diejenigen, die im Lebensbuch des Lammes aufgeschrieben stehen. (Apk 21,24.26f.; vgl. Jes 52,1; Dan 12,1; Ps 69,29 u.a.)
53 | Vgl. im Neuen Testament Gal 4,21-31, wo Paulus innerhalb der probatio des Galaterbriefes keine positiven Aussagen über Jerusalem als Stadt formuliert, sondern vielmehr in einer komplexen Typologie die Schrift als Zeugin gegen die »Gegner« auf den Plan ruft. Auch hier geht es um einen Vorgang der Demarkation, wenn Paulus den Galatern eine Identität zuschreibt, die sie als »frei« von exklusiven Grenzziehungen der Tora definiert. Auf einer ganz anderen Linie liegt der Philipperbrief; wenn Paulus vom himmlischen Politeuma schreibt, so ist hier von Jerusalem ausdrücklich nicht die Rede; vielmehr geht es im lebensweltlichen Kontext der Gemeinde in der römischen Kolonie Philippi um einen politischen Kontrast (vgl. Phil 3,20).
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Es ergibt sich damit im Text ein Konstrukt, das Elemente einer offenen Stadt mit denen einer wehrhaften und geschlossenen Priester-Stadt in eigentümlicher Weise kombiniert. Wir schließen den exegetischen Durchgang durch ausgewählte Merkmale von Urbanität im Text von Apk 21f. damit ab und kommen zu einem Ausblick. Dieser betrifft die in dieser Sektion der Tagung behandelte Frage der medialen Konstruktion.
5. A USBLICK : ZUR MEDIALEN K ONSTRUK TION DES HIMMLISCHEN J ERUSALEM — H ERMENEUTISCHE F R AGEN Apk 21f. bietet einen narrativen Text. Es handelt sich um eine apokalyptische Visionserzählung. Typische Gattungselemente beginnend mit der Einleitung mit »ich sah« über einen Engel als »Reiseführer« und Interpreten bis hin zu Elementen der Audition lassen sich am Text verifizieren. Der Text folgt einem planvollen Nacheinander, in dem die einzelnen Erscheinungen der neuen Stadt dem Blick der Lesenden geöffnet werden. Die Erzählerinstanz lässt sich dabei als allwissender Erzähler ansprechen – auch wenn er im Gesamtverbund der Erzählung nicht alles weiß, jedenfalls hinter seinen Hauptakteur zurücktritt, nämlich die Transzendenz, die sich im apokalyptischen Geschehen wirkmächtig durchsetzt. Der point of view des Erzählers ist der der Übersicht über die Geschehnisse; der »Seher« kann seine Leserschaft an jedem Punkt der Stadtschau in eine Perspektive versetzen, in der sie sich von den einzelnen Bauformen »überzeugen« kann. Zugleich ist er als ein verlässlicher Erzähler anzusprechen, und zwar auch dort, wo es innerhalb der Offenbarung um »echte« Zukunftsbegebenheiten geht. Die Gesamterzählung der Johannesoffenbarung hat ihn in allen ihren Erzählmerkmalen soweit als eine Instanz ausgewiesen, der die Leserschaft auch im finalen visionären Ausblick trauen kann und wird. Die Visionserzählung ist dabei wohlkalkuliert auf ihre intendierte Leserschaft abgestimmt; sie rechnet mit biblisch informierten Leserinnen und Lesern, die die zahlreichen biblischen und traditionellen metaphorischen Anspielungen zu entschlüsseln und die auf sie als christliche communitas gerichteten Signale zu begreifen vermögen. Die hohe Kunst der narratio wäre dabei viel genauer am griechischen Text aufzuweisen; die griechische Sprache eröffnet z.B. mit ihrer höheren Anzahl an Zeitaspekten in den Verbformen ganz andere Möglichkeiten als z.B. das Deutsche oder das Englische; so gesehen ist der Text auch kaum adäquat zu übersetzen. Was im Medium der Visionserzählung von Apk 21f. entsteht, ist das Konstrukt einer Stadt. Die frühchristliche Johannesoffenbarung beteiligt sich an einem lange zurückreichenden und nicht zuletzt in ihrem Gefolge fortge-
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führten Prozess des fiktionalen »making Jerusalem« bzw. »making Jerusalem anew«. In den Prozess dieser Konstruktion fließen verschiedenste Evidenzquellen und Axiome ein. Überblickt man zusammenfassend unsere Resultate, so kann man festhalten: Die Erzählung spricht die emotive Ebene an; in ihrem Hintergrund steht eine lange Geschichte der Klage über Zerstörung, Verlust der Stadt und Trennung von ihr in der Diaspora und im Exil sowie der Hoffnung und der Sehnsucht nach der Mutterstadt und der Beheimatung in ihr; als finaler visionärer Ausblick rechnet der Text mit echter Freude über die Zukunftsgewissheit des Geschauten. Weiterhin fließen soziale Erfahrungen in das Konstrukt ein: Die Himmelsstadt ist eine gelebte Stadt; die Sozialität wird dabei über kultische Kategorien gewonnen: Die Bürgerschaft ist ein Volk von Priestern, sie selbst bilden den Tempel (vgl. 2Kor 6,16). Die implizierte Vorstellung der Egalität dieser priesterlichen Bürgerschaft und der »Demokratisierung« der ursprünglich den Kultfunktionären vorbehaltenen Privilegien wird allerdings im Text kaum ausgeschöpft und entwickelt. Zugleich ist nämlich die Vorstellung der monarchischen Herrschaft Gottes und des Lammes bestimmend; mit dieser Vorstellung vermittelt ist auch, dass die neue Stadt nicht ohne Demarkationslinien auskommt; diese sind zwar nicht mehr ethnisch-national gewonnen, wohl aber religiös: Nur die »Reinen« kommen als Stadtbewohner in Betracht, nur das, was kultisch purifiziert ist, kann in der Stadt Bestand haben. Eigene lebendige Erfahrungen des Verfassers oder seiner (intendierten) Leserschaft mit Jerusalem sind im Text kaum auszumachen; nirgends deutet sich an, dass hier jemand erzählt, der einmal zu einem der jüdischen Hauptfeste in der Stadt war, dort den staunenswerten Tempel selbst gesehen oder ein Opfer finanziert hat o.ä.; wir sahen demgegenüber: Auf der Erfahrungsebene rechnet der Text zwar mit einem städtischen Gewahrsein; doch schließt dies eher bei allgemeinen Erfahrungen von Städtern in der hellenistisch-römischen Zeit an. Die Hauptlast trägt in der Visionserzählung Apk 21f. nicht die soziale, die politische oder die affektive Ebene, sondern die kognitive Konstruktion. Wir sahen: Der Text bietet eine geradezu enzyklopädische Summe von Attributen, Sprachformen und Wissenselementen; er ruft Metaphern wie die der »Braut« oder des »Lammes« auf und verdichtet sie zur Idealstadt, die von Gott selbst gegründet und von ihm geschützt und gefördert ist. Auf der Ebene der kognitiven Konstruktion schreibt das himmlische Jerusalem die Erzählung vom paradiesischen Garten fort. Diese Visionserzählung mit ihrer innovativen Generierung eines Stadtkonstruktes hat – vermittelt über den neutestamentlichen Kanon – seit der Zeit der Alten Kirche eine eminente Wirkungsgeschichte entfaltet. Hierbei wurden nicht allein neue »Posttexte«, die nun auf dem Prätext der Johannesoffenba-
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rung fußten, angestoßen, vielmehr wurde der Text in zahlreichen neuen Medien, z.B. in der Liturgie, in Gesang und Musik inszeniert. Ich möchte dies abschließend anhand weniger Bemerkungen zur Bedeutung von Apk 21f. für den christlichen Kirchenbau zeigen. Im Kirchenbau und in der christlichen Sakralkunst wurde das himmlische Jerusalem medial inszeniert.54 Dies ging einher mit einer Tendenz, Jerusalem in der christlichen Theologie von dem konkreten Ort in Palästina abzulösen und als potentiell an jedem Ort in der Ökumene aktualisierbar zu begreifen.55 Ich führe nur einige wenige, nicht systematisch gewählte baugeschichtliche Beispiele an, ohne diese in ihrer jeweiligen Epoche und ihren kunst- und 54 | »Die Kirche [als Gebäude] wird zum – vorläufigen – Himmlischen Jerusalem.« (Böcher 2010: 100) »Freilich war auch den Bauherren und Handwerkern des Mittelalters stets bewusst, dass die Vollendung des Heils noch ausstehe. Gebaute Ekklesiologie am Leitfaden der Johannes-Offenbarung ist noch immer eschatologische Ekklesiologie […].« (A.a.O.: 22) 55 | Nach Markschies vollzieht sich in der altchristlichen Literatur der ersten Jahrhunderte im Blick auf die konkrete Stadt Jerusalem ein sukzessiver »Realitätsverlust« (2000: 303f. und passim; mit Bezug auf Stroumsa 1999: 34, 37, der von »Entortung« und »Entwurzelung« ausgeht). »In der nachneutestamentlichen antiken christlichen Literatur vor dem vierten Jahrhundert« spiele »das konkrete irdische Jerusalem kaum noch eine theologisch bedeutende Rolle« (Markschies 2000: 305); an der Stadt Palästinas habe man allenfalls ein historisches Interesse bewahrt. Markschies spricht von einer »restlos[en]« Absorbierung der Bedeutung des irdischen Jerusalem, die bereits im Neuen Testament angelegt sei (a.a.O.: 338). Wie auch Markschies selbst notiert, ist das Zeugnis der Väter allerdings nicht so einhellig. So finden sich bleibend auch Stimmen, die die christliche Erwartung auf ein neues, oberes, himmlisches o.ä. Jerusalem mit der konkreten irdischen Stadt in Palästina/Judäa eng verbinden und zusammenhalten. Unter den apokryphen Schriften ist u.a. Epistula Apostolorum 33 (44) anzuführen: »Siehe, aus dem Lande Syrien will ich zusammenzurufen anfangen ein neues Jerusalem.« (Vgl. a.a.O.: 318 Anm. 53) Justin kann Mitte des zweiten Jahrhunderts in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon mit der Ankunft des Parusiechristus in der Stadt Jerusalem rechnen, die nach seiner Erwartung wiederaufgebaut werden wird (vgl. dial. 40,4; 80,1f.5; Markschies 2000: 313). Auch Irenaeus wendet sich ca. 30 Jahre später gegen solche, die das irdische Jerusalem in Folge seiner Zerstörung für christlich-eschatologisch irrelevant halten (»Adhuc et de Hierusalem et de domo audent dicere quoniam, si esset magni regis civitas, non derelinqueretur«; haer. IV 4,1). Himmlisches und irdisches Jerusalem deutlich zusammenhalten kann auch Tertullian; gegen die montanistische Erwartung, das himmlische Jerusalem werde im kleinasiatischen Pepuza bzw. in Tymion erscheinen, postuliert er in seiner Schrift »Contra Marcion« (III 24,3f. [542,18-31]) unter Hinweis auf Ez 48,30-35 und Apk 21,2, die Manifestation Jerusalems sei nirgends anders als dort zu erwarten, wo sich die irdische Stadt dieses Namens findet.
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bauhistorischen Besonderheiten angemessen würdigen zu können. Vielmehr geht es um die Umsetzung der Parameter des Stadtkonstruktes, die wir in der Textanalyse von Apk 21f. kennengelernt haben, als solche. a) Erstens hat die Frage der Sichtbarkeit der Himmelsstadt die Kirchenarchitektur über Jahrhunderte beschäftigt. Für die Anlage von Kirchen auf Bergen oder erhöhten Punkten können baugeschichtlich die verschiedensten Gründe sprechen – angefangen von der Substitution vorausgehender, auch nicht-christlicher Heiligtümer an entsprechend prädestinierten Stätten. Auch muss man sich von der Vorstellung freimachen, es habe zu irgendeiner Zeit der Intention von Kirchenarchitekten oder Bauherren entsprochen, einen Bibeltext im Blick auf dessen Erstsinnpotential gewissermaßen eins zu eins umzusetzen. Fragt man nach biblischen Bezügen für »die Stadt auf dem Berg«, so kommt keineswegs die Johannesoffenbarung allein in Betracht, in der ohnehin offenbleibt, ob das himmlische Jerusalem tatsächlich auf einen Berg (»Zion«) herabkommt – von den Größendimensionen her ist dies schwer vorstellbar. Weitere Prätexte wie etwa das Bildwort Mt 5,14 kommen in Betracht. Doch hat die Vorstellung von »Jerusalem auf dem Zion« vermittelt durch Apk 21f. auf den Kirchenbau eingewirkt. Als Beispiele können der Limburger Dom (1245) oder die Stadtpfarrkirche St. Michael in Schwäbisch Hall (1507) gelten.56 b) Zweitens hat die Frage der vollkommenen Form Kirchenarchitekten seit je beschäftigt. Hierbei konnten sie durch die quadratische Grundstruktur bzw. den Kubus von Apk 21f. Anstöße gewinnen. War die kubische Bauform im Kirchenbau als externe Gestalt nicht umsetzbar bzw. entsprach sie nicht weiteren ästhetischen Desiderata, so spielt der Kubus insbesondere beim Grundriss bzw. der Innenstruktur der romanischen Basilika eine entscheidende Rolle.57 Allerdings stößt man hier zugleich auf die traditionsgeschichtliche und realiengeschichtliche Wurzel der Idealform des Würfels: Sie ist statisch besonders stabil. Wie der Text der Johannesoffenbarung als Medium in die frühjüdische Traditionsgeschichte verwoben ist, so sind spätere bauliche Umsetzungen ihrerseits in Traditionsgeschichten verwoben. Bei der Rezeption der Vorstellung des himmlischen Jerusalem werden dabei in der Alten Kirche vor allem platonische Einflüsse wichtig. Die platonische Vorstellung der urbs caelestis58 ist 56 | Vgl. Böcher 2010: 101, mit Abbildung 24f. 57 | Beispiele für das »gebundene System« sowie weitere kubische Formen bei Böcher 2010: 103f. 58 | Zur altkirchlichen Rezeption von Jerusalem-Vorstellungen vgl. den Überblick bei Thraede 1996: 728-760; zur frühen christlichen Ikonographie: Prigent 2000: 367-403. Nach der platonischen Unterscheidung von himmlischem Urbild und irdischem Abbild gestalten sich vor allem die Aussagen des Origenes über die christlichen Jerusalem-Erwartungen. Origenes wendet sich gegen eine biblizistische, rein am Literalsinn
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kunstgeschichtlich z.B. dort zu erkennen, wo die Form des Kreises für die ideale Stadt die des Quadratrasters ersetzt. Ikonographisch wird das himmlische Jerusalem häufig – gegen den Wortlaut von Apk 21,16 – in ringförmiger Anlage gezeigt (vgl. das himmlische Jerusalem des Domherrn Lambert von Saint-Omer; 1121; vgl. den Radleuchter im Mariendom Hildesheim)59. c) Drittens finden sich Echos der Vision von Apk 21f. in der Erinnerung an das Gründungsgeschehen der Kirche als Gottesstadt. Auch hierbei kommen architektonisch bzw. kunstgeschichtlich weitere biblische Prätexte wie z.B. das Felsenwort in Mt 16,18 in Betracht. Doch hat Apk 21,14 hier in besonderer Weise gewirkt. Otto Böcher nennt als Beispiele einen Sandsteinquader aus dem Fundament der Michaelskirche in Hildesheim mit den Namen »Beniamin« und »S. Matheus A[psotolus]« (1010) sowie die vier Teile des Grundsteins der Augustinerkirche zu Speyer (1265; abgebrochen 1865).60 d) Damit hängt viertens die Inszenierung der Erinnerung an die Gründergestalten engstens zusammen. Die »zwölf Apostel des Lammes« wirken im Kirchenbau in der Ausgestaltung von Stützpfeilern mit apostolischen Figuren nach, wie etwa bei den Pfeilern der Liebfrauenkirche in Trier (kurz vor 1250).61 Damit wird eine Metapher, die die grundlegende Lehrpriorität der Anfangsgestalten zum Ausdruck bringt, gewissermaßen rematerialisiert. e) Fünftens kann man generell in den wuchtigen Kirchenmauern ein Widerlager der Stadtmauern von Apk 21f. als Ausdruck ihrer Geschlossenheit erkennen. Auch die Mauern und die Lasten, die sie zu tragen haben, folgen dabei im Kirchenbau zunächst statischen Gesetzen; ihre größere Leichtigkeit und Durchlässigkeit in der Gotik wird z.B. durch substruktive Anbauten und
orientierte Erwartung, nach der das irdische Jerusalem im Sinn von Apk 21 tatsächlich wiedererbaut werden solle. Das »himmlische Jerusalem« repräsentiert vielmehr tropologisch bzw. spirituell den Ort wahrer Christusrealität (vgl. Markschies 2000: 324-327). Entsprechende Anschauungen haben schon Vorläufer im hellenistischen Judentum. Nach Philo von Alexandria (De somn II 250f.) kann mit der »Stadt Gottes«, die von den Hebräern Jerusalem genannt wird, nicht das aus Holz oder Steinen gefertigte irdische Jerusalem gemeint sein; diese findet sich vielmehr in einer friedfertigen und klarsichtigen bzw. – sachlich – in der vom Logos durchdrungenen Seele. Entsprechenden Vorstellungen steht im Neuen Testament der Hebräerbrief nahe. Nach dem Hebräerbrief haben die Christen »hier« keine Stadt, die bleibt, sondern suchen vielmehr die »künftige« Stadt (Hebr 13,14). Als exemplum hierfür dient Abraham, der noch im verheißenen Land zeltet, um auf die von Gott gegründete Stadt zu warten. Zur Nähe der Aussagen des Hebräerbriefes (Hebr 12,22) zu platonischen Vorstellungen: Merklein 1993: 58f. 59 | Weitere Beispiele bei Böcher 2010: 101f. 60 | Siehe Böcher 2010: 102 mit Abbildung 28f. 61 | Weitere Beispiele bei Böcher 2010: 102f. mit Abbildung 31f.
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Verteilung der Lasten nach außen erreicht.62 Je nachdem erhalten damit die Fenster eine besondere Funktion der Raumwahrnehmung von innen her. Das lichtdurchflutete Kirchenfenster kann ein künstlerisches Medium für die Darstellung der glashaften Gesamtgestalt bzw. der edelsteingeschmückten Mauern und perlenhaften Tore einer Stadt werden, die stets lichthaft ist und keine Nacht kennt (vgl. die Abteikirche Saint-Denis, Mitte des 12. Jh.; Paris, Sainte Chapelle; 1243-1248).63 f) Sechstens besteht die Besonderheit im Text der Johannesoffenbarung darin, dass die fest ummauerte Stadt zwölf Tore besitzt, die nicht verschlossen werden, da es im Aufriss des Erzählplans des Buches keine Feinde mehr gibt bzw. da die Tore für die herzukommenden Völker offenstehen sollen. Die Zwölfzahl der Tore hat dabei in der Regel im Kirchenbau offenbar keine Umsetzung in der Zahl von Eingangstüren gefunden, wohl aber weitere Bauelemente wie die Gestaltung von Außen- und Chorwänden beeinflusst, deren Rundbogen als Tore interpretiert werden konnten. Hierbei konnte die Offenheit der Stadt nach Apk 21f. angezeigt werden (z.B. die Bogen der Galerie der östlichen Chorwand des Wormser Doms; um 1140). Offenheit und Geschlossenheit definierten sich dabei in der mittelalterlichen Kirche unter jurisdiktionellen, amts- und sakramentstheologischen Kriterien völlig anders, als es im judenchristlichen Entwurf der Johannesoffenbarung vorausgesetzt ist. g) Siebtens kommt im sakralen Kirchenbau in vielfältiger Weise der Aspekt der Himmelsstadt voll Kunst bzw. der Stadt selbst als Kunstwerk zum Ausdruck. Die in Apk 21 erwähnten Baumaterialien waren, wie wir sahen, nicht allein vom Text der Johannesoffenbarung her inspiriert, sondern durch eine Vielzahl von biblischen Bezügen. Invarianten bieten die Werthaltigkeit des Goldes und der – wie auch immer im Einzelnen aufgefassten – Edelsteine und Perlen. Entsprechende Materialien zierten nicht allein sakramentale Gegenstände und Gefäße, sondern dienten auch der Wanddekoration. Der Schmuckstückcharakter der Gottesstadt setzt sich über Altäre, Reliquiarien, Monstranzen u.a. bis hin zur Gestaltung von liturgischen Gewändern und von liturgischen Büchern fort (vgl. die aus Gold und Perlen figurierte Himmelsstadt im Codex Aureus; um 870).64 h) In vielfältiger Weise fanden achtens zudem die Lebensmotive des Wassers und des Gartens Eingang in die Gestaltung von Kirchenräumen. Naheliegend war es, dass die interpretatio Christiana das Motiv des Lebenswassers in eine enge Verbindung zur Taufpraxis brachte. Vielfach begegnen Lebenswasser62 | Zum Problem der Beziehung der gotischen Kathedrale auf die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem: Schlink 1997/98: 275-285. 63 | Diskussion und weitere Beispiele bei Böcher 2010: 104f. 64 | Siehe zahlreiche Beispiele bei Böcher 2010: 106-112 (nach diesem habe kein Vers der Apk »eine so große Wirkungsgeschichte aufzuweisen […] wie Apk 21,19f. […]«).
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und Lebensbaummotive an christlichen Taufsteinen bzw. -becken (z.B. der Taufstein aus der Nikolauskapelle des Wormser Domes; um 1485).65 Der Strom bzw. die Tempelquelle wurde in Fußbödenmosaiken abgebildet. Aus dem beständig fruchttragenden »Gehölz« von Apk 22 (VV.2.16b) wurde in der Kirchenkunst der sehr verschieden ausgestaltete und mit unterschiedlichen Bauelementen verbundene Jesse-Baum (z.B. das Sandstein-Relief im nördlichen Seitenschiff des Wormser Doms; 1488).66 Übersieht man das weite und nach Epochen und regional stark differierende Spektrum dieser äußerst facettenreichen Rezeption von Apk 21f. sowie seiner Wirkungs- und Auslegungsgeschichte in der Historie des Kirchenbaus, so sind zuletzt einige hermeneutische Fragen anzuschließen. Der Anspruch, die Vision von Apk 21f. baulich als Himmelsstadt umzusetzen, drängt zu der Frage, wie sich das Kirchengebäude zur faktisch umgebenden oder benachbarten Bürgerstadt verhält. Die Intention, den Menschen die eschatologische Gottesstadt zu eröffnen, lässt sich in einzelnen Epochen der Kirchenhistorie dabei auch als Ausdruck einer mehr oder minder verdeckten Rivalität von Stadt und Kirche beschreiben. Sofern sich die Kirche qua Bauprogramm auf den Anspruch bezieht, selbst Stadt, Polis, in qualitativ vollgültiger Realität zu sein, inkorporiert sie die Stadt, nicht umgekehrt. Sie ist nach eigenem Anspruch die eigentlich wahre Metropolis, Platzhalter und Antizipation der bei Gott verwahrten und für das Ende der Zeit als Ort vollendeten Glücks für die Christen erhofften Stadt. Nicht erst in einer Zeit nach dem Zerbrechen des Corpus Christianum verbinden sich hiermit auch Fragen der Demarkation und Integrationsfähigkeit. Auf jede Epoche und jeden Einzelfall einer Stadtkirche gesehen wäre jeweils genau zu fragen, wie »Unreines«, »Greuel« und »Lüge« (Apk 21,27) als Ausschlusskriterien definiert wurden, inwieweit man den in der Johannesoffenbarung Gott selbst vorbehaltenen liber praescriptus (das Buch des Lebens) kirchlich reklamierte bzw. inwieweit die Gebäude und die in ihnen zusammenkommenden Christinnen und Christen dem Anspruch von Apk 21f. gerecht werden konnten, die Tore für die »Völker« geöffnet zu halten. Städte mit einem solch eminenten Anspruch wie die in Apk 21f. stehen immer auch in der Gefahr der Hybris – man vergleiche die hyperbolischen Stadtdimensionen von Apk 21f. –;67 auch Kirchenbauten wären auf Gefahren 65 | Vgl. Böcher 2010: 117f. 66 | Böcher 2010: 119f. mit weiteren Beispielen und Hintergründen. 67 | Nach Eaton 2003: 10, ist die »Geschichte der idealen Stadt« »[i]n vielen Fällen […] auch eine Geschichte menschlicher Hybris […]«; sie sei geleitet »[…] von der Überzeugung, jener kleinen Elite anzugehören, der allein Einsicht gewährt sei in die universellen Gesetze, denen die Gestaltung idealer Welten zu folgen habe […]«; das Planen »idealer Städte« sei »ein riskantes Unterfangen, das durch Arroganz gegenüber dem Anderen
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der Arroganz und Ausgrenzung anderer bzw. auf die Gefahr zu befragen, inwieweit es – gegen den Text von Apk 21f. – zu einer Entkoppelung von den jüdischen Wurzeln bzw. einer Substitution und Exklusion des für Israel bestimmten Heils kommt, welches von den frühen christlichen Zeugnissen her nicht einfachhin ubiquitär aufzufassen ist, sondern vielmehr an die konkrete Stadt Jerusalem in Palästina gebunden bleibt.68
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und die rücksichtslose Durchsetzung eigener Vorstellungen leicht ins Zerstörerische umschlagen« könne (a.a.O.: 7). 68 | »Golgatha ist nicht überall, sondern es gibt nur Ein Golgatha, und es liegt vor den Toren Jerusalems.« (Jeremias 1979: 295; zit. auch von Markschies 2000: 342) Vgl. Merklein 1993: 57: »[…] [W]ie auf der einen Seite das ›obere Jerusalem‹ der theologische Ermöglichungsgrund menschlicher, an das irdische Jerusalem geknüpfter Hoffnungen ist, so kann auf der anderen Seite diese Hoffnung irdisch nicht anders ergriffen und begriffen werden als im Bilde und mit Hilfe des ›unteren Jerusalem‹«; a.a.O.: 61, zur Apk: »Wie das jetzige Jerusalem steht deshalb auch das neue Jerusalem nicht im Irgendwo und nicht im Überall der eschatologischen Topographie, sondern auf dem Zion […].«
Reinhard von Bendemann | Die ideale Stadt als Mittelpunkt der Welt
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Audiovisuelle Urbanität Praktiken des Sehens und Hörens von Städten Beate Ochsner
1. E INLEITUNG Als eine der am häufigsten gefilmten Städte der Welt verweist das längst zum Image gewordene Paris auf Liebe und Mode, auf Intellektualität und Philosophie, beherbergt es Eliten und Verlierer oder erscheint als »Stadt der Schatten«, die sich in René Clairs berühmtem Blick Sous les toits de Paris (F 1930) als »bald tragisch, bald lächelnd, zumeist aber frivol« (Chirat 1985: 14) entpuppt (vgl. René/Ford 1969; CICIM 1985; Nadeau/Douchet 1987; Descure/Cazassa 2003; Dirk/Sowa 2003; Binh 2005; Ochsner 2011). Von der nicht nachlassenden Faszinationskraft zeugte vor wenigen Jahren erneut Cédric Klapischs Episodenfilm Paris (F 2008). Neben den verschiedenen und z.T. klischiert wirkenden Mikroerzählungen (der verliebte Professor, der herzkranke Tänzer, die einsame ältere Frau etc.) sorgen vor allem die großen Namen des französischen Kinos – von Katrine Viard über Fabrice Luchini bis Juliette Binoche – sowie die unterschiedlich langen Einstellungen, in denen Notre-Dame, Sacré-Coeur, die Tour Montparnasse oder auch der Eiffelturm figurieren, für den Erfolg dieses film choral, der sich letztlich in Form eines emotionalen Stadtführers präsentiert. Eine ähnliche Aussicht bieten auch die verschiedenen Paris-Bilder, die sich vom romantisch-poetischen Parisbild des réalisme poétique der 1930er Jahre sowie das vornehmlich von Amerikanern in Paris oder seiner Außenstelle in Casablanca produzierte melancholisch-schwermütige bis leicht-beschwingte Image der französischen Hauptstadt in der Kriegs- und Nachkriegszeit über die düsteren Montmartrekrimis der 1950er Jahre, einem außer Atem geratenen Paris der Nouvelle Vague bis zu den ungeliebten Kindern des Algerienkrieges, von den Überbleibseln des Mai ’68 über das Cinéma du look der 1980er und dem Cinéma beur der 1990er Jahre bis zu aktuellen multikulturellen und hybriden Formen immer wieder gewandelt hat. Als »Geschichte einer modernen Fee auf den blitzblanken Gassen des Montmartre« (Dirk/Sowa 2003: 22) zaubert der außerordentliche Publikumserfolg über den »fabuleux destin d’Amé-
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lie Poulain« (R: Jean-Pierre Jeunet, F 2001) ein nahezu mytho-poetisch-zeitloses (Bild von) Paris als pars pro toto für die französische Kunst des Lebens und, mit einem ironischen clin d’oeil, der Liebe (Ochsner 2011). Gemeinsam mit der schönen Erzählerin schauen wir von oben auf Paris herab, erhalten durch die narrative wie auch bildästhetische Mittlerposition Amélies (Abbildung 1-2) Einblick in die Köpfe und Herzen seiner Einwohner, teilen ihre Freuden und Leiden und sehnen uns nach dem berühmten, filmisch im Stil der 1950er Jahre gehaltenen Quartier de Montmartre, der Welt Amélies. Das Viertel kann der heutige Parisbesucher übrigens mittlerweile mit Hilfe eines eigens angefertigten Stadtplans »auf den Spuren von Amélie Poulain« erlaufen (Duchrow 2011).
Abbildung 1-2: Stills aus Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (R: Jean-Pierre Jeunet, F 2001).
»Wie transformieren Literatur, Film und digitale Medien urbane Erfahrungen in Sehnsüchte […]?«, fragen die Herausgeber im Vorwort dieses Bandes. Ausgehend von dieser Frage geht es in diesem Beitrag speziell um den Einfluss audiovisueller Gestaltungen und Erfahrbarkeit von Städten auf diese Sehnsüchte. Die im Folgenden aufzuzeigende audiovisuelle Produktion und Aneignung urbaner Räume wird von Praktiken erzeugt, die in gleichem Maße die filmische Stadt beeinflussen, wie sie durch diese konfiguriert werden. So liegt der Fokus auf der von Martina Löw vertretenen These, dass Stadträume nicht ›einfach‹ exis-
Beate Ochsner | Audiovisuelle Urbanität: Praktiken des Sehens und Hörens von Städten
tieren und medial reproduziert, sondern in Verschränkung mit audiovisuellen Praktiken und Zuschauern/Zuhörern/Fußgängern hergestellt werden (vgl. Löw 2001). Diese Praktiken bzw. ihre (Prod-)User (vgl. Bruns 2006) sollen anhand eines Spektrums audiovisueller StadtRäume aufgezeigt werden, die – ohne Steigerungslogik – von klassisch-narrativen Stadtfilmen, über die Herstellung filmischer (Bild-)Räume in frühen Stadtsinfonien bis hin zu situierten Praktiken audiovisueller Urbanität reichen. Dabei geht es nicht um die Frage, ob es sich beim Stadtfilm um ein Genre handelt oder nicht, noch darum, audiovisuelle Produktionen als Belegstellen für kulturwissenschaftliche oder stadtsoziologische Theorien zu begreifen, sondern darum, diejenigen theoretischen Implikationen zu erörtern, die die Relationierung von Stadträumen und audiovisuellen Medien zeitigt. Während die klassische Filmanalyse den aus Erinnerungen, Projektionen und Vorstellungen sedimentierten soziokulturellen Sub- oder Haupttext hermeneutisch zu ergründen versucht, schlagen Medienwissenschaftler vor, filmische bzw. audiovisuelle Räume nicht als bloße Behältnisse oder Hintergrund für Figurenhandlungen zu begreifen, sondern, unter raumtheoretischer Perspektive, auf deren eigene Handlungs- und Reflexionsmacht einzugehen, die sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren speist (vgl. Frahm 2010; Engell 2003). Dabei entstehen reziproke Verflechtungen zwischen menschlichen, dinglichen und medialen Akteuren, die sich im Raum organisieren und umgekehrt durch diesen hergestellt und verdichtet werden. Der audiovisuelle Raum ist mithin weniger als Text oder Erzählung, sondern als Dispositiv oder Agentur zu verstehen (Engell 2010: 138), »innerhalb derer bestimmte Aussagen, Überzeugungen oder ein besonderes Denken« nicht allein einer Figur oder einem Autor, einem Produzenten oder Regisseur zuzuordnen sind, sondern sich im Zusammenspiel innerhalb bestimmter Kontexte, d.h. situiert herstellen bzw. hergestellt werden. Diese Verschränkungen kann man sich als audiovisuelle Praktiken vorstellen, die es anhand der folgenden Beispiele zu beschreiben gilt.
2. V ON DER G ESCHICHTE ZUR S INFONIE Narrativ dominierte Stadtfilme binden in der Regel fragmentierte Schicksale zeitlich wie auch räumlich entweder an den (filmischen) Mythos oder das Klischee einzelner Großstädte1 oder an eine ordnungsstiftende (fiktionale) Meta1 | So eine Reihe von sogenannten Omnibusfilmen wie z.B.: R: Chabrol, Claude/Godard, Jean-Luc/Rohmer, Eric u.a., Paris, vu par, Frankreich 1965, 92 min.; R: Allen, Woody/Coppola, Francis Ford/Scorsese, Martin, New York Stories, USA 1989, 124 min.; R: Coen, Ethan and Joel/van Sant, Gus/Tykwer, Tom u.a., Paris, je t’aime, Frankreich/Deutschland/Liechtenstein/Schweiz 2006, 120 min.; R: Akin, Fatih/Attal, Yvan/ Hughes, Allen u.a., New York, I love you, USA 2008, 103 min., R: Bong, Joon-ho/Carax,
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erzählung zurück. Letztere gilt u.a. auch für die beiden Filme Megacities von Michael Glawogger und den Remix Life in Loops von Tim Novotny.2 In beiden Filmen werden die biographischen Mikrofiktionen durch eine Voice-over, die Montage bzw. die dargestellten Figuren selbst verknüpft, während die Filme im raschen Rhythmus der Megastädte immer wieder auf ihre Über-Lebensgeschichten zurückgreifen, die auf diese Weise zu einer Mega- oder Metaerzählung verschmelzen. Filmästhetisch zeigt sich dies im klassischen Einstellungsprogramm, das von einer Totalen über die Halbtotale und Halbnahe nah an eine Person respektive ihre Geschichte heranführt und in den gleichen Schritten wieder ausleitet (vgl. Ochsner 2012). Beispiel für diese Art filmischer Stadterzählung ist das in Megacities thematisierte, einen Tacostand betreibende Tänzerehepaar. Während der Mann noch erläutert, welche verschiedenen Waren an ihrem Stand angeboten werden, ertönt bereits eine Off-Musik, die zu den Bildern eines Tanzsaals überleitet. Aus der anfänglichen Totalen heraus wird das Paar langsam ins Bildzentrum platziert, eine Halbnahe aus der Szene zuvor, dem Zuhause des Tanzpaares, wird dazwischen geschnitten und die Sequenz endet am erneut aus der Totalen gefilmten Tacostand. So werden Zuhause, Tanzsaal und Tacostand zu einer (akustisch) einheitlichen (Lebens-) Erzählung vernäht, die den Zuschauer mit den beiden Menschen in ihren sozialen Räumen bzw. mit dem Zuschauer zusammenführt. Der in einer anderen Mikrofiktion vorgestellte Bioskopmann, ein ambulanter Filmvorführer, präsentiert das Verfahren in laufenden Bildern (Abbildung 3-4).
Abbildung 3-4: Stills aus Megacities (R: Michael Glawogger, Dokumentarfilm, AU 1998).
Leo/Gondry, Michel u.a., Tokyo!, Japan 2008, 107 min.; der Episodenfilm R: Cédric Klapischs, So ist Paris, Frankreich 2008, 130 min. u.v.a. 2 | Vgl. Glawogger, Michael, Megacities, Österreich, 1998, 90 min.; Novotny, Timo, Life in Loops, Österreich 2006, 80 min.
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Das Vernähen von Bildraum und Geschichte zu einer Bildraumgeschichte ist in den frühen Stadtsinfonien wie Walter Ruttmanns Berlin. Sinfonie einer Großstadt, Dziga Vertovs Städte-Montage Der Mann mit der Kamera sowie in den halb-dokumentarischen, halb-sinfonischen Nachfolgebeispielen Heinrich Hausers, Robert Floreys, Francis Thompsons, Paul Strands, Charles Sheelers, Eli Lotars oder Jean Vigos konstruierten Film-Städten nicht mehr gegeben, der traditionelle »lieu anthropologique« (Augé 1992: 68) verliert sich in der filmischen Spatialisierung, im Rahmen derer der filmische Raum der Figuren zu einem Möglichkeitsraum des Bildes wird.3 Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und Technisierung entstandenen dokumentarischen Stadtsinfonien sind in der Regel musikalisch rhythmisierte Filme über städtisches Leben, die eine ausführlichere Bearbeitung kinematographischer Raumkonstruktionen auf der Basis topologischer Ansätze erlauben. Dies bedeutet, wie Stefan Günzel ausführt, dass der Blick gewendet wird von dem, »wie Raum bedingt, hin zu dem, wie Räumlichkeit bedingt ist« (Günzel 2007: 13, Hervorh. im Original). Damit steht nicht die Beschreibung der Architektur oder räumlichen Ausdehnung noch das Leben der Menschen in der Stadt im Vordergrund der Analyse, vielmehr geht es um raumkonstitutive kulturelle, soziale und medial induzierte Lagebeziehungen. Dabei zeichnen sich die Stadtsinfonien durch relationale bzw. geometrisch geordnete (Bild-)Räume aus, die mit ihren linienförmigen (Ver-)Bindungen von Straßen, Schienen, Auto- und Menschenschlangen, Fahrtwegen, Gehwegen, (Hoch-)Häuserfassaden, Schwing- und Drehtüren, Rohrpoströhren, Telefonfräulein, Telefon- und Stromkabel, die Bilder des Werdens moderner Städte erzeugen. Gegliedert und fragmentarisiert durch horizontale, vertikale oder diagonale Linien, verlängert durch Fluchtlinien, die den Raum ins Bild hinein eröffnen, oder Geraden, die den Zusammenhang zwischen Räumen und Zeiten herstellen, entstehen die bildkompositorischen Linien durch mise-en-scène, Kadrierung, Kamerabewegung und -perspektive, Einstellungswechsel sowie Montage (Abbildungen 5-8, von links nach rechts).
3 | R: Walter Ruttmann, Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, D 1927, 63 min.; R: Dziga Vertov, Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929, 80 min.; R: Heinrich Hauser, Chicago. Weltstadt in Flegeljahren, D 1931, 87 min.; R: Robert Florey, Skyscraper Symphony, USA 1929, 10 min.; R: Francis Thompson, N.Y. N.Y. A Day in New York, USA 1957, 7:30 min.; R: Paul Strand/Charles Sheeler, Manhatta, USA 1921, 9:40 min.; R: Eli Lotar, Aubervilliers, F 1945, 25 min.; R: Jean Vigo, À propos de Nice, F 1930, 25 min.
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Abbildung 5: Still aus Moskwa (R: Michail Kaufman/Ilja Kopalin, UdSSR 1927). Abbildung 6: Still aus Berlin. Sinfonie einer Großstadt (R: Walter Ruttmann, D 1927). Abbildung 7: Still aus À propos de Nice (R: Jean Vigo, F 1930). Abbildung 8: Still aus N.Y. N.Y. A Day in New York (R: Francis Thompson, USA 1957).
Diese Auffälligkeiten sind nun zum einen auf die generelle Bewegungsfaszination früher Filmemacher zurückzuführen, zum anderen verweisen sie auf einen Zusammenhang zwischen Film und Urbanistik oder visueller Soziologie und, last but not least, auf eine filmtheoretische Fragestellung, die eine narratologische Lektüre des Filmes als Text bzw. als Medium der (Ab-) Bildung zur Diskussion stellt. So konstruiert sich die in der Ordnung einer Sinfonie montierte Bilderwelt ihre eigene mediale Wahrnehmungswelt. Ruttmanns Sinfonie wie auch Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera, der in drei verschiedenen Städten, Moskau, Kiew und Odessa, gedreht wurde, wird nicht durch Monumente, Mythen oder Biographien, sondern durch den Wechsel von schnell-langsam-schnell, von Wiederholung, Steigerung und Dehnung sowie eine Montagetaktung rhythmisiert, die einen zeitlichen Bogen vom frühen Morgen mit den im Gleichschritt die Stadt flutenden Massen, über die Mittagspause und das Arbeitsende bis zur abendlichen Freizeitbeschäftigung und dem Zu-Bett-Gehen spannt. Walter Ruttmanns Berlin-Sinfonie mache die Stadt zur Trägerin einer filmischen Hauptrolle, so eine häufig geäußerte These. Doch bis auf wenige Schilder oder wiedererkennbare Gebäude, Straßen und Monumente abgesehen, die den Mythos Berlin womöglich unterstützen, handelt es
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sich bei Ruttmanns Film um die visuelle Sinfonie einer Großstadt als solcher, die – einem komplexen metabolischen Organismus gleich – nach einem bestimmten Rhythmus lebt. Zusammen mit früheren und späteren Großstadtsinfonien prägt Ruttmann auf diese Weise eine filmische Richtung, die befreit von konventionellen narrativen Mustern, teils distanziert registrierend, teils analytisch reflektierend Erscheinungen und Phänomene des Großstadtlebens im Sinne des Lebens der Großstadt erfassen möchte. Tatsächlich lösen die meisten Stadtsinfonien die feststehende, in Zeit und Raum verankerte Bild-Geschichte der Figuren zugunsten der Sichtbarmachung des Typus Großstadtmensch bzw. einer die Großstadt traversierenden Masse(nbewegung) auf. Straßenzüge, Schienenstränge, Strommasten und Menschenansammlungen durchziehen das Bild, übersetzen die Bewegung und gliedern die Fläche in verschiedene, netzförmige Ensembles und Unterensembles. Trotz horizontalen, vertikalen oder diagonalen Ein- und Ausfahrens von Bahnen, Autos, Schiffen oder anderen Fortbewegungsmitteln bleiben die Bilder auffallend flächig. Die sinfonisch orchestrierte und visualisierte Großstadt erweist sich als linienförmiger und geometrischer Klang-Raum, in dem verräumlichende Beziehungen im horizontalen, vertikalen oder diagonalen Durchlauf von Positionen oder (Bild-)Elementen mit minimaler historischer Stabilität entstehen und wieder vergehen. Die Einstellungsgrößen wechseln in der Regel zwischen Totalen und Halbtotalen, nur selten gerät eine emotionalisierende Großaufnahme dazwischen. Tatsächlich scheinen die zuweilen in extremer Aufsicht gezeigten Netzbildungen gelöst von narrativen Funktionen einer ornamentalen Logik zu folgen, die weniger auf Handlungskontinuität oder -realität, denn auf die Darstellung der Dinge und Räume in ihrer Autonomie zielt. Auf diese Weise wird die Bewegung von ihren narrativen, handlungs- oder bildtragenden Funktionen entkoppelt, und die Stadtsinfonien bieten die Möglichkeit, Film »wie eine Kombination von Linien und Räumen in Bewegung außerhalb dessen [zu sehen], was er abbildet und bedeutet« (Bresson 1980: 52). Basierend auf dieser Argumentation erklärt Jean-Luc Godard Freddy Buache, dem Gründer und Kurator der Cinémathèque Suisse, in einem filmischen Schreiben das Scheitern ihres Projektes, einen Auftragsfilm über die Stadt Lausanne zu drehen, die für Godard nicht aus geraden Linien, sondern vielmehr aus »des ronds, des formes« bestehe: »Ça commence quand il n’y a pas de lignes droites, et la ville c’est des lignes droites, c’est devenue des lignes droites. Des lignes droites qui s’entrecroisent, et où tout a un sens.«4 (Godard 1982, TC 00:04:16) Der Film hätte das Grau zwischen Blau und Grün zeigen wollen, der 4 | »Das beginnt, wenn es keine gerade Linien mehr gibt, und die Stadt sind gerade Linien, sie wurde zu geraden Linien. Gerade Linien, die sich kreuzen und wo alles seinen Sinn hat.« [Übersetzung: B.O.]
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Auftrag jedoch bestand darin, einen repräsentativen Film über die 500-Jahrfeier der Stadt abzuliefern. Dies aber war dem Schweizer Regisseur unmöglich gewesen und so können die Bilder des Filmes nur andeuten, was für ein herrlicher Film hätte entstehen können.
3. A UDIOVISUELLE P R AK TIKEN DER U RBANITÄT Während unter dem Begriff Stadtfilm aus Sicht der Filmwissenschaft wie auch der Visuellen Soziologie häufig Spiel-, seltener Dokumentarfilme analysiert werden, stehen Gebrauchsgenres wie städtische Image- und Werbefilme, interaktive Webcamfilme oder auf das auditive Wahrnehmen fokussierte urbane Audio- bzw. Soundwalks seltener im Zentrum der Untersuchungen, wenngleich diese Möglichkeiten vor allem seit der zunehmenden Digitalisierung bzw. der mobile media immer häufiger zur Anwendung kommen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Stadträume hergestellt werden bzw. welche Formen von Eigenzeitlichkeit und -räumlichkeit in bzw. durch die kulturellen, sozialen und medialen Lagebeziehungen entstehen und welche Praktiken diesen Relationen entsprechen. Während die zuvor besprochenen frühen Stadtsinfonien – und vor allem Ruttmann und Vertov – primär in Bezug auf die visuell orientierten und orientierenden Kamera- oder Montagepraktiken, d.h. in Bezug auf die visuelle Produktion von Bewegung und damit Raum(-Zeit) untersucht wurden,5 sollen im Folgenden auditive Techniken und Technologien im Mittelpunkt stehen, die in Verschränkung mit körperlichen Techniken des Gehens als künstlerisch-performative Praxis neue Möglichkeiten von Stadträumen und Stadtraumerfahrung kreieren. Grundlage der meisten Forschungsarbeiten zu dieser Thematik bildet zum einen die Raumtheorie Henri Lefebvres und dessen Programm, den Raum (und gerade nicht die Zeit) als Medium sozialer Veränderungen zu denken. Dabei wird der Raum in der gleichen Weise durch die Praktiken des Gehens oder sozialen Handelns konfiguriert, wie jener das Gehen resp. die Interaktion formt (vgl. de Certeau 1988: 177-238; vgl. auch Augoyard 1979). Gehen ist mithin als performative bzw. operative Handlung begriffen, die den mobilen Raum auszeichnet (vgl. de Certeau 1988: 220ff.). Körperbewegungen zählen für de Certeau ebenso wie narratives Handeln in den Bereich des Veränderungspoten5 | Im Falle Ruttmanns ist diese Entscheidung in Verbindung mit der Konzeption des abstrakten oder absoluten Films als »Malerei mit Zeit« (Walter Ruttmann) zu bringen, die sich dezidiert nicht an den sprach- und narrationsbasierten Vorgängermedien Theater und Literatur, sondern den zeit- bzw. rhythmus- und bildlastigen Künsten Musik und Malerei orientiert. (Vgl. Kiening/Heinrich 2012) Vertovs Theorie des Kinoauges zielt ebenfalls auf das optisch rhythmisierende Element (vgl. Vertov/O’Brien/Michelson 1985).
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tials, wie sich dies weiter unten in Janet Cardiffs Audiowalks zeigt. Gehende – so de Certeau weiter – können sich der potentiellen Machtausübung, d.h. der Kontrolle und Disziplinierung durch das Visuelle, durch die eigene Bewegung entziehen, da ohne den Distanz voraussetzenden panoptischen und gottesähnlichen Blick der Raum nicht mehr sichtbar und undurchschaubar wird. So gerät der »Wille, die Stadt zu sehen« (de Certeau 1988: 181), weniger zu einem Überblick als zu einem Übersehen, blind für die alltäglichen realen Veränderungen in Zeit und Raum. Die Praxis des Gehens hingegen ist de Certeau zufolge weder sicht- noch lesbar, sie kann nicht »in Bildern festgehalten, […] noch in einem Text umschrieben« (de Certeau 1988: 196) werden, weil sie selbst aufgrund ihrer Bewegung den »städtischen Text« schreibt. Insofern wird einem tendenziell passiv gewerteten »lesenden Sehen« ein aktives »schreibendes Gehen der Passanten« entgegengesetzt, das zu diskutieren bleibt (Frahm/ Tietjen o.J.: o.S.). Doch wie verhält es sich mit dem Hören? »Mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang«, so Robert Musil im Prosastück Der Erweckte. Tatsächlich stößt die akustische Dimension des Urbanen bzw. des in Verbindung mit der Philosophie des Gehens bzw. der entsprechenden Medientechnologie ermöglichten mobilen Hörens seit einigen Jahren immer mehr auf Interesse, was u.a. von Dérive, einer Zeitschrift für Stadtforschung aufgegriffen wurde, die in ihrer April-Ausgabe 2007 das Stadt-Hören verhandelt. Freilich gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Formaten und Formen wie z.B. shadow walks, electrical walks, blind walks, audio walks, tourist walks, listening walks o.ä., wie Andra McCartney herausarbeitet.6 So verweist sie zum einen auf historische Vorreiter wie z.B. Walter Ruttmanns mit Hilfe einer Filmkamera aufgenommene Stadtgeräuschemontage Weekend (D 1930),7 Soundversuche vor der Erfindung tragbarer Tonaufnahmegeräte wie New York 19 von Tony Schwartz aus dem Jahr 19468 oder den Fluxus walk 1962-2002.9 Auch frühe Soundspaziergänge, wie Jean Francois Augoyard sie im Rahmen seiner Rhetorik des Gehens entwickelt hat (vgl. Augoyard 1979) oder das von R. Murray Schafer Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren an der Simon Fraser University in Vancouver durchgeführte Projekt Soundwal6 | Der Artikel »Soundwalking: creating moving environmental sound narratives« wird in dem von Sumanth S. Gopinath und Jason Stanyek herauszugebenden The Oxford Handbook of Mobile Music Studies erscheinen (voraussichtliches Erscheinungsdatum April 2013). Derzeit online verfügbar unter: http://soundwalkinginteractions. wordpress.com/2010/09/27/soundwalking-creating-moving-environmental-soundnarratives/13.2.2013). 7 | Anzuhören u.a. unter: www.youtube.com/watch?v=KVZVpAVfZ6M (2.2.2013). 8 | Vgl. hierzu www.tonyschwartz.org/#audio (2.2.2013). 9 | Vgl. hierzu www.mail-archive.com/[email protected]/msg10417.html (2.2.2013).
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king: World Soundscape Project (WSP)10 finden hier entsprechende Würdigung. Doch möchte ich an dieser Stelle nicht näher auf die historischen Wurzeln zurückgehen, sondern direkt zu aktuelleren Audio- und Soundwalk-Projekten überleiten, die durch die mediale Konfigurierung von Audio-Produkt und sich bewegendem Hörer eine strukturelle Analogie zwischen akustischer Wahrnehmung und Gehen oder situationistischem Umherschweifen (oder dérive)11 herstellt. Wenn bei klassischen Studiotonaufnahmen Töne isoliert voneinander und von der Umwelt aufgenommen bzw. Raum-, Neben- oder Störgeräusche eliminiert werden, wenn ethnologische Aufnahmen zwar portables Equipment vorweisen können, es ihnen aber nicht um die akustische Aufnahme der Bewegung des Aufnehmenden bzw. von dessen Umwelt geht, so spielen bei Audio- und Soundwalks nicht nur die Präsenz des Soundwalkers und mithin die Einschreibung des Aufnehmenden bzw. der Aufnahmesituation in die Aufnahme selbst, sondern auch seine akustischen Interaktionen mit dem Raum eine wesentliche Rolle. Neben den portablen Aufnahmegeräten benötigt der Audio- oder Soundwalker demzufolge und im besten Fall auch mobile Wiedergabemedien, wie einen Walkman, einen MP3-Player oder ein Smartphone, die ihm das aktive Mit- oder Nachgehen bzw. -hören ermöglichen. Entsprechende Anweisungen und Orientierungshilfen halten dabei den zuhörenden Mitgeher oder mitgehenden Zuhörer auf dem richtigen Weg. So begrüßt der für einen Audiowalk durch London verantwortliche Rundfunk- und Reisejournalist (just GmbH 2006) den Teilnehmer seines Stadtspazierganges. Danach wird spatial synchronisiert, d.h. wenngleich tatsächlich zu unterschiedlichen Zeiten und mithin disloziert, sollten sich die Touristen bzw. ihr virtuell vorhandener Guide am gleichen Ort befinden, wie der Reiseführer noch vor Beginn des Audiowalks sicherstellt: »Übrigens, im Moment sollten Sie auf dem Trafalgar Square stehen.« Bereits im Vorspann wurde auf die möglichen Gefahren während des Hörens hingewiesen: »Ihre Wahrnehmung könnte beeinträchtigt […] sein […]. Wir wollen doch vermeiden, dass Sie uns unterwegs verlorengehen.« Sodann beginnt der geführte akustische Spaziergang, der seine Zuhörer – wie bei einer Museumsführung – durch den Ausstellungsraum Stadt geleitet. Urbane Geräusche begleiten den gesamten Weg, wenngleich diese im Rahmen musikalischer Einspieler – wie z.B. von Georg Friedrich Händel – gänzlich ausgeblendet werden. Die kanadische Installationskünstlerin und Filmemacherin Janet Cardiff arbeitet seit einigen Jahren zusammen mit George Bures Miller auf dem Ge10 | Vgl. hierzu www.sfu.ca/~truax/wsp.html (2.2.2013). 11 | Debord begriff »dérive« als »Mode de comportement expérimental lié aux conditions de la société urbaine: technique du passage hâtif à travers des ambiances variées. Se dit aussi, plus particulièrement, pour désigner la durée d’un exercice continu de cette expérience.« (International situationniste 1958)
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biet der Audiowalks, wobei das binaurale Aufnahmeverfahren bzw. die Wiedergabe über Kopfhörer dem Zuhörer/Mitgeher einen natürlichen Höreindruck mit genauer Richtungslokalisation ermöglicht. Auf diese Weise wird eine Umgebung, eine persönliche und emotionale Geographie geformt, »that functions as an affective framework for memories and expectations to take on quasi-spatial qualities« (Cardiff/Schaub 2005: 94). Ausgestattet mit MP3-Player, Kopfhörern, einer Straßenkarte und Fotografien macht sich der Soundwalker des Audiowalks Her Long Black Hair,12 geleitet von der Stimme Janet Cardiffs, auf den Weg. Auf der Spur einer rätselhaften dunkelhaarigen Frau nimmt Cardiff ihre Hörer mit auf eine mysteriöse Reise durch den Central Park des 19. Jahrhunderts. Her Long Black Hair entfaltet dabei ein komplexes Sensorium von Zeit, Raum, Klang und Körperlichkeit, das aktuelle mit virtuellen, faktische mit fiktionalen Erfahrungen verwebt. Beide bislang aufgezeigte Formen geführter Spaziergänge kombinieren Sound- mit Audiowalk, d.h. sie verweben Tonerfahrungen bestimmter Orte mit Narrationen zu einem Soundteppich. Die Unterschiede zeigen sich vornehmlich in der Konzeptualisierung und der Intention. Während bei den touristischen Audiowalks die kulturgeschichtliche Erläuterung bzw. die akustische Erfahrbarkeit der entsprechenden Sehenswürdigkeit im Vordergrund steht, es sich mithin um eine Narration handelt, die sich eines Umgebungsgeräusches bedient, so erstellt Cardiff mit ihrer soundtrackartigen Klanglandschaft und den von ihr selbst gesprochenen Audiokommentaren ein »physical cinema« (Cardiff/Schaub 2005: 25). Im Gegensatz zu anderen Aufnahmetechniken, die weitestgehend alle anderen Geräusche zu eliminieren versuchen, erzeugen die Audiowalks von Cardiff jene »strange moments of synchronicity« und »point[s] of friction between you and the world« (ebd.), die die Sinne erweitern und dazu tendieren, die akustische mit der visuellen Erfahrung zu equilibrieren. Gleichzeitig verweist die medial synchronisierte Verschränkung bzw. Narrativierung des eigenen mit fremdem akustischem bzw. körperlichem Erleben auf hybride, sich der Kontrolle entziehende Taktiken. So geht es Mirjam Schaub zufolge nicht um Schaffung einer neuen und die Verdrängung der alten Realität, vielmehr werde jene infiltriert, und die audioscapes beeinflussen direkt dasjenige, was wir zu sehen erwarten. Dabei dirigiert Cardiffs Stimme, sie kontrolliert die Schritte und operiert, so Ralph Fischer, mit einer »spezifischen partizipatorischen Strategie, die den Rezipienten physisch in den performativen Prozess involviert und seine sehr individuelle Erfahrung im öffentlichen 12 | Her Long Black Hair wurde von Janet Cardiff in Zusammenarbeit mit George Bures Miller vom 17.06. bis 13.09.2004 in New York realisiert. Das zusammen mit Mirjam Schaub herausgegebene Künstlerbuch The Walk Book (Cardiff/Schaub 2005) enthält alle Materialien, die den Audiowalk auch nach Ablauf des eigentlichen Projektes ermöglichen.
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Raum provoziert« (Fischer 2010: 210). Doch darf bei all der partizipatorischen Affirmation nicht vergessen werden, dass mediale Zeit-Räume13 – die Zeit und der Raum Cardiffs, ihrer Erzählung und des Hörens – dazwischengeschoben werden. Erst ihre Verschränkung untereinander bzw. ihre Kombination mit der medialen Zurichtung des Hörers ermöglichen diese Art komplexer Erfahrungen: »The virtual recorded soundscape has to mimic the real physical one in order to create a new world as a seamless combination of the two.« Cardiffs Stimme führt, sie operiert mit anderen Stimmen, ihren Anweisungen bzw. Schritten ist zu folgen, während Umweltgeräusche oder Musik häufig im Hintergrund bleiben bzw. dramaturgisch eingesetzt werden. Das Gehen, die körperliche Bewegung im Raum, macht den zeitlich-räumlichkörperlichen Nexus in der Praxis des akustischen Spaziergangs wahrnehmbar. Weniger als akustische Ökologie denn als »ambulatorische Dramaturgie« (Fischer 2010: 211) verstehen sich die ortsspezifischen Audiowalks Cardiffs, die die Medialität der akustischen Wahrnehmung mit der Performativität des (eigenen) Gehens koppeln.14 Während die Stadt im klassisch-narrativen Spielfilms vorwiegend »Handlungsraum für die Figuren ist« (Fabienne Liptay, zit.n. Burkart 2011: 47), scheinen die sensomotorischen Verbindungen zwischen Bild und Handlung in den frühen Sinfonien zu reißen, und die Erfahrung der Stadt wird in bewegte, optisch-akustische Film-Bild-Räume übersetzt. Während beide der hier vorgestellten Varianten von einem klassischen Kinodispositiv ausgehen, in dem der Körper des Zuschauers ruhiggestellt wird, befreien die zuletzt besprochenen »Hörgänge« (Fischer 2010: 206) den Körper des Users. Seine Bewegungen schreiben sich in der medialen Synchronisierung mit denjenigen des Soundwalkers dem Stadtraum ein, seine sinnlichen Wahrnehmungen (Audiowalks sind nicht rein auditiv!) werden gleichzeitig mit jenen des anderen in multisensoriellen, im Falle Cardiffs narrativ organisierten Zeit-Räumen verschränkt. Während an dieser Stelle womöglich vorschnell vom aktive(re)n, über Smartphone digital vernetzbaren und eigenen Content produzierenden Produser (Bruns 2006) gesprochen wird, darf ich zuletzt darauf aufmerksam machen, 13 | Fischer bezeichnet diese als »spektrale Grenz- oder Zwischenräume« (Fischer 2010: 211). 14 | Cardiff stellt im Übrigen auch Videowalks her. Die Partizipierenden erhalten hierfür kleine Videokameras mit Kopfhörern und ein zuvor mit professionellem Equiment aufgenommenes Band: »Then there is an extensive editing process using the acted scenes, sound effects, and video effects to create a continuous motion. The audience follows this prerecorded film on the camera. The architecture in the video stays the same as the physical world, but the people and their actions change, so there is a strange disjunction for the viewer about what is real« (www.cardiffmiller.com/artworks/walks/ video_walk.html [2.2.2013]).
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dass die audiovisuelle Produktion urbaner Erfahrung sich den jeweils spezifischen medialen Möglichkeitsbedingungen verdankt, die sich – mehr oder weniger sichtbar – zurückziehen, um die Sichtbarmachung der zu »materiellen Anordnungen, zu Texten, Bildern, Regimen aller Art« gerinnenden Bilder und Erfahrungen zu realisieren.
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Errichten — erkämpfen — erkunden Zugänge zur Stadt in Computerspielen Britta Neitzel
Erkunden, errichten und erkämpfen sind wohl die drei maßgeblichen Umgangsweisen mit Städten in heutigen Computerspielen. Die Erkundung (nicht nur von Städten) ist Teil von Action-Spielen, Action-Adventures und Rollenspielen, die ich hier trotz aller Unterschiede zusammenfasse, weil die Spielerinnen1 in ihnen einen Avatar steuern, mit dem sie die digitale Umgebung erkunden können. Das Errichten oder Erbauen von Städten ist die Aufgabe von Spielerinnen in Stadt-Simulationen und das Erkämpfen (nicht nur von Städten) in Strategiespielen2 sowie verschiedenen Kriegsspielen, die in das Action-Genre fallen. Will man die Differenzen noch etwas gröber ansetzen, so lässt sich zwischen »in der Stadt sein« und »die Stadt sein« (auf bauen) unterscheiden. Im Folgenden soll den drei Zugangsweisen zur Stadt nachgegangen werden, nicht ohne einige Überlegungen zu Sehnsucht und Spiel, sowie zur (Prä-) Historie der Computerspiele vorauszuschicken.
1 | Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text ausschließlich die weibliche Form verwendet. Soweit sich aus dem Zusammenhang nichts anderes ergibt, ist die männliche Form dabei stets mitgemeint. 2 | An dieser Stelle kann ich nicht auf die unterschiedlichen Genres der Computerspiele eingehen (siehe dazu Beil 2012, Rauscher 2011), sondern möchte nur kurz meine Einteilung begründen: Unter Action-Spiele, Action-Adventures und Rollenspiele fallen auch verschiedene Sub-Genres wie z.B. Sneaker, Shooter und Survival Horror, auch soll an dieser Stelle noch kein Unterschied zwischen Single-Player-Games und Multi-PlayerGames gemacht werden. Simulationen und Strategiespiele beruhen auf ähnlichen Prinzipien, nämlich »harvest (produce), build, destroy«, wobei der Unterschied im »destroy« liegt – das Spielziel von Strategiespielen liegt in der Zerstörung von gegnerischen Anlagen, die auch Städte sein können.
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1. S PIEL UND S EHNSUCHT Sind Spiele Sehnsuchtsmedien? Sehnsucht ist verbunden mit Phantasie, mit dem Verlangen nach etwas, das nicht da ist. Vielleicht ist es einmal da gewesen und nun vergangen, vielleicht ist es noch nicht da, sondern wird für die Zukunft erwünscht und herbeigesehnt, vielleicht befindet es sich an einem anderen Ort, aber nicht hier. Vielleicht ist es aber auch unbekannt, zeitlich und räumlich unscharf, ein Versprechen auf …, nur ein Versprechen, grade das Versprechen und ein Sehnen. Die blaue Blume, der Blick aufs Meer. Wenn es da ist, das, wonach man sich sehnt, so verschwindet die Sehnsucht. Sie löst sich auf, ist weg. Man kann nur das eine oder das andere haben, entweder die Sehnsucht oder das ersehnte Etwas. Sehnsucht hat eine Richtung, sie ist eine Bewegung – egal wohin, aber immer fort vom Hier und Jetzt. Das Spielen ist eine Tätigkeit, also ebenfalls eine Bewegung. Doch es ist eine Bewegung, die in sich selbst zurückkehrt (vgl. Scheuerl 1954: 72). Das Spiel will nirgendwo hin, im Akt des Spielens wird es gegenwärtig, und es will bleiben – für immer. Die ideale Form der »lebenden Gestalt«, die Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen propagiert, vereinigt im Spieltrieb den Lebenstrieb und den Formtrieb. Sie hebt die Zeit in der Zeit auf, verbindet Werden mit absolutem Sein und Veränderung mit Identität (vgl. Schiller 1801: 441). Das Spiel wolle »Ewigkeit«, es sei der »jubelnde Ausdruck« dafür, dass man von aller Notdurft befreit ist (Scheuerl 1954: 71). Ein Zustand eben, in dem der Mensch dann ganz Mensch ist. Csikszentmihalyi (1975) hat diesen Zustand mit dem Begriff flow beschrieben. Im flow würden sich Anforderungen und Fähigkeiten so ergänzen – oder aufeinander einspielen – dass eine Tätigkeit mühelos, fast wie von selbst, ausgeführt wird, dass bei ihrer Ausführung die Zeit (und der Raum) vergessen wird, man ganz im Tun aufgeht. Im Zustand des flow ist man ganz bei sich und doch außer sich, denn die Grenzen zwischen ich und dem anderen fließen ebenfalls. »Der Spielende ist zugleich Subjekt und Objekt eines subjektübergreifenden Spielgeschehens« (Kolb 1990: 166). Die Figur des Spiels beinhaltet also ein Versprechen, ein Versprechen auf das eigentlich Unmögliche – Subjekt und Objekt zugleich sein, hier und doch dort (im Spiel) sein, ganz bei sich und doch außer sich sein, eins sein mit sich und der Welt. Stellen Sehnsucht und Spiel unvereinbare Bewegungen dar – zum einen ein Fortstreben, zum anderen eine auf sich selbst zurückfallende Bewegung –, so treffen doch in diesem Versprechen Sehnsucht und Spiel wieder aufeinander. Wenn die Sehnsucht das Verlangen nach dem Anderen ist, die vergeht, wenn das Andere erreicht ist, so verspricht das Spiel, dass man beides zugleich haben kann. Es wäre damit die Erfüllung aller Sehnsucht (wie der platonische Kugelmensch).
Britta Neit zel | Errichten — erkämpfen — erkunden
2. D IE S EHNSUCHT NACH DEM BESSEREN L EBEN Als noch ein weiter Weg zu einer realistischen Darstellung auf Computermonitoren zurückzulegen war, träumte Howard Rheingold schon seinen Traum von der virtuellen Gemeinschaft im Whole Earth Lectronic Link, der WELL (vgl. Rheingold 1986). Als Bulletin Bord System entworfen, in dem die Mitglieder in verschiedenen Foren diskutieren, Ideen austauschen, Geschäfte machen oder auch nur plaudern, ist die Vorstellung der WELL weniger einer anonymen Großstadt als vielmehr einem Stadtviertel, einer virtuellen Nachbarschaft oder auch dem McLuhanschen global village verbunden. Aber ob Großstadt oder Dorf – diese digitale Umgebung wurde und wird metaphorisch als ein Ort beschrieben, der bewohnt werden kann: The WELL is a territory in its own right, inhabited by people from all over the world. The first WELL computer and modem rack were physically located in Sausalito, California, near the classic rustic houseboat harbor. The WELL’s office is now in the cloud, but the feeling of a distinctive place is just a few keystrokes away, no matter where you are. (www.well.com/aboutwell.html, 21.2.2013)
Eine ähnliche Konzeption liegt auch John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1986) zugrunde. Der Cyberspace »the new home of the mind« sei ein Reich, das aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst bestünde und in dem nur nach der Goldenen Regel gelebt würde. Die Sehnsucht dieser Vorstellungen zielt hier auf ein gemeinschaftliches gutes Leben ab, das sich an einem ganz bestimmten Ort abspielt 3, der bewohnt werden kann, auch wenn eine erdräumliche Lokalisierung nicht möglich ist. Konkreter auf städtische Formen bezogen wurde diese Idee des virtuellen Lebensraums in den ersten Online-Spielen, bzw. Umgebungen mit weniger gesellschaftspolitischem Anspruch, die ungefähr gleichzeitig bzw. – textbasiert – noch etwas früher entstanden als die WELL. 1979 entstand MUD (Multi-User-Dungeon), ein Spiel, das laut einem seiner Programmierer »was little more than a series of interconnected locations where you could move and chat« (Bartle nach Taylor 2006: 22). MUD folgten MUD1, TinyMUD (1989) und MOO (1990) (Muliti User Dungeon object-oriented). Während die ersten MUDs eine Fantasy Umgebung kreierten, in denen die Spielerinnen Drachen und Orcs bekämpften, ging es in den objektorientierten Spielen4 darum, mit3 | Die personelle Verschränkung zwischen den Gründern der WELL und Vertretern der USamerikanischen Kommunenbewegung ist dabei nicht zufällig (vgl. Turner 2005 & 2006). 4 | Während die MUDs als Spiele (Games) gelten können, in denen eine Spielerin ein bestimmtes Spielziel verfolgt, sind die MOOs eher als Rollenspiele zu verstehen, in denen kein klares Spielziel vorgegeben wird.
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einander zu plaudern und die Welt weiter auszubauen – Objektorientierung bezieht sich darauf, dass die Spielerinnen die Möglichkeit hatten, der virtuellen Welt selbst Objekte hinzuzufügen. Während diese Spiele alle rein auf Text basierten, entwickelte Lucasfilm schon 1985 das graphikbasierte Spiel Habitat, das »provided a broad palette of possible activities from which the players could choose« (Morningstar & Farmer 1991: 287). Einerseits sind diese Spiele Vorläufer der MMORPGs (Massive Multiuser Online Role Playing Games), in denen die Spielerinnen in Fantasy-Umgebungen nach wie vor gegen Drachen und Orcs (oder als Orc) kämpfen, andererseits aber sind sie auch Vorläufer der sogenannten Multiversen, wie Second Life, die eben keine Spielziele vorgeben. Waren auch die Begrifflichkeiten für diese digitalen Umgebungen in den 1980er und 1990er Jahren noch fließend – world, game, environment – so zieht sich die Metapher des Wohnens und Bewohnens durch fast alle Beschreibungen. Außerdem zeichnet sich ab, dass ein Attribut der modernen Stadt eine wichtige Rolle für diese Umgebungen spielt – nämlich die Stadt als Treffpunkt und als Ort, der Abwechslung und Unterhaltung bietet. Auf beide Aspekte werde ich unten zurückkommen.
3. E RBAUEN — S TÄDTE AUF ODER AUS Q UADR ATEN Die bekannteste Stadtsimulation ist Sim City, von dem 1989 die erste Version erschien. Es folgten Sim City 2000 (1993), Sim City 3000 (1999) und Sim City 4 (2003) sowie verschiedene Erweiterungen. Im März 2013 erschien die bisher letzte Version, wieder unter dem Titel Sim City. Unterschiede der einzelnen Versionen sind vor allem in der Graphik sowie in verschiedenen Möglichkeiten, Szenarien zu finden. Auch wenn die Werbung zur neuesten Sim City Version mit dem Slogan »Baue die Stadt deiner Träume« wirbt, so war es bisher das Prinzip in allen Spielen, eine funktionierende, d.h. wirtschaftlich rentable Stadt zu bauen – es ist zu bezweifeln, dass sich dies geändert hat. Für die folgende Analyse werde ich mich auf Sim City 4 – Deluxe (inklusive der Rush Hour Erweiterung) beziehen. Die Spielerin beginnt mit einem Stück Land, das sie – bevor sie mit dem Stadtbau beginnt – noch im »Welt-Modus« bearbeiten kann, d.h. Berge hinzufügen oder abtragen, Küsten glätten oder das Land mit Pflanzen und Tieren versehen. Wechselt sie in den »Stadt-Modus«, so sind solche Veränderungen nicht mehr möglich und der Stadtaufbau – sowie die Zeitrechnung – kann beginnen. Ausgestattet mit Startkapital, kann sie nun in der Position des Bürgermeisters Gebiete als Wohn-, Gewerbe- oder Industriegebiete ausweisen. Wenn noch für eine entsprechende Infrastruktur gesorgt wird, nämlich Straßenanbindung und Stromversorgung (später auch Wasserversorgung), werden auf diesen Gebieten automatisch die jeweiligen Gebäude gebaut. Über die Bebauung werden Steuern generiert, so dass wei-
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terer Baugrund ausgewiesen werden kann. Neben der Straßen-, Strom- und Wasseranbindung verlangen die Einwohner der Stadt noch nach Sicherheitskräften, Bildung und Gesundheitsversorgung, so dass nach und nach entsprechende Einrichtungen in der Stadt gebaut werden müssen, da sonst die Einwohner die Stadt verlassen. Dies ist ebenfalls der Fall, wenn die Grundversorgung nicht mehr geleistet wird: Fehlende Instandhaltung der Kraftwerke und Wasserzufuhr führt zur Abwanderung der Industrie und Gewerbegeschäfte, was Arbeitslosigkeit und Abwanderung der Bevölkerung nach sich zieht. Visualisiert wird dies durch entsprechende Symbole – durchgestrichener Wassertropfen, durchgestrichene Aktentasche – oder im Falle des Leerstands durch Schwärzung der Gebäude (vgl. Abb.1). Damit die Stadt dem wenig erstrebenswerten Bankrott entgeht, womit das Spiel verloren ist 5, gilt es, die Ein- und Ausgaben im Gleichgewicht zu halten bzw. einen Überschuss zu erwirtschaften. Doch das sind Notwendigkeiten und Zwänge – wo bleibt die Sehnsucht?
Abbildung 1: Leerstand, Arbeitslosigkeit und Wassermangel in Sim City (Screenshot aus SimCity4 Deluxe Edition (© Electronic Arts).
5 | Allerdings verkündet dies das Spiel nicht durch ein schlichtes »Game over«, sondern ironisch: »Die Stadtfinanzen sind in einem dermaßen schlechten Zustand, dass der Bürgermeister seines Amtes enthoben wurde. Er flieht aus der Stadt und beschließt, es mit einem leichteren Job zu versuchen.« Unter diesem Satz findet sich der Button »Als Senator kandidieren«.
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Wo nun ist in diesem Spiel Sehnsucht zu spüren? Und wonach? Hinter Sim City steht eine Fortschrittsideologie – die Stadt muss wachsen, immer größer werden. Es ist kaum möglich, lediglich eine kleine dörfliche Ansiedlung zu bauen; es sei denn die Spielerin ist in der Lage, die ständigen Forderungen der im Spiel implementierten Berater nach mehr Wachstum zu ignorieren. »Industrie braucht Platz zum Wachsen«, »Sims sind auf der Suche nach Büros«, »Entwicklung neuer Wohngebiete durch knappe Auswahl begrenzt« sind die immer wiederkehrenden Lamenti der Berater. Doch ein ungebremstes »Höher, Schneller, Weiter« ist auch nicht möglich, denn mit zunehmender Größe der Stadt kommen auch Umweltprobleme (Luftverschmutzung, Wasserverschmutzung) sowie Verkehrsprobleme. So gilt es, die Schwerindustrie zurückzubauen und möglichst durch sauberere Hightech-Industrie zu ersetzen und schmutzige, aber billige Kohlekraftwerke durch teure, aber saubere Solarkraftwerke (letzte erfordern jedoch eine relativ hohe Zahl an wohlhabender Bevölkerung). Zur Reduzierung der Verkehrsprobleme, die sich in Staus zeigen, müssen breitere Straßen (die wiederum eine höhere Luftverschmutzung nach sich ziehen) gebaut werden sowie ein System von öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus, Zug, U-Bahn, Hochbahn) angelegt werden. Reichere Bevölkerungsschichten, die für die Solarkraftwerke, sowie zur Generierung von reichen Gewerbegebieten notwendig sind, benutzen jedoch nicht gern öffentliche Verkehrsmittel. Auch wenn ihnen eine direkte U-Bahn Verbindung zwischen Wohnhaus und Arbeitsstätte angeboten wird – sie stehen doch mit ihrem Auto im Stau. Nun könnte eine Spielerin auch auf die reiche Bevölkerung verzichten – die Armen siedeln sich auch in Gebieten mit hoher Luftverschmutzung an und auch arme Wohnviertel bringen Steuereinnahmen, doch die Visualisierung des Spiels arbeitet dagegen: Das Gras ist grüner bei den Reichen. Während wenig bebaute arme Wohnviertel eher in getragenen Farben dargestellt werden, mit gelblichen vertrockneten Rasenflächen, finden sich in den reichen Vierteln hübsche rote Villen, blaue Pools und tiefgrünes Gras (die mittleren Wohnviertel bewegen sich auch visuell zwischen diesen Polen). Reiche und mittlere Wohnhochhäuser bieten eine Variation an Formen und Farben (wobei diese sich zumeist im hellen Farbspektrum bewegen) – arme Wohnhochhäuser sind braun (und umgeben von Betonflächen) (Abbildung 1). Möchte eine Spielerin in Sim City eine Stadt bauen, die derzeit landläufig als »schöne« Stadt bezeichnet werden kann, so muss sie sich der Ideologie des Spiels anpassen. Die Idealstadt in Sim City ist eine Stadt von Reichen, deren breite Straßen von Bäumen und Parks gesäumt sind und deren Bewohner in der Hightech-Industrie oder bei großen Maklerbüros arbeiten. Zudem ist es eine US-amerikanische Stadt auf dem flachen Land: Der Autoverkehr ist die Grundlage der Stadt – kein Gebäude wird entstehen oder bewohnt bleiben, wenn das Grundstück keine Straßenanbindung hat. Gerade Straßen sind erheblich leichter zu bauen als diagonal verlaufende, Hügel oder gar Berge stören
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ebenfalls beim Straßenbau. Der Stil der Häuser ist amerikanischen Städten nachempfunden, und die Nachbarschaftswache, die der Bürgermeister unterstützen kann, um die Sicherheit in der Stadt zu erhöhen, wird vielen Europäern eher suspekt erscheinen. So besteht das Spielen zwischen einem ständigen Austarieren der verschiedenen Anforderungen und Zwänge und dem Versuch, doch eigene Vorstellungen von einer Stadt zu verwirklichen. Dies mag eine Stadt mit hervorragenden öffentlichen Verkehrsmitteln sein, in der jedes Bürohaus eine eigene U-Bahn Station bekommt (und einige Staus ignoriert werden), eine, in der viele Hügel und diagonal verlaufende Straßen zu finden sind, oder eine, die vor allem aus braunen Wohnhäuser besteht, weil diese Gleichartigkeit einen gewissen Reiz ausstrahlt. Eigene Sehnsüchte nach einer idealen Stadt lassen sich in diesem Korsett jedoch nicht verwirklichen, dazu sind die vorgegebenen Anforderungen zu stark. In dieser Beschränkung ist das Spiel nah am Flow, denn es gilt ein Gleichgewicht zu halten, das in Sim City 4 immer wieder von äußeren Faktoren bedroht wird.6 Ein weiteres Spiel, in dem die Spielerinnen nicht nur auf, sondern auch aus Quadraten Städte bauen können, ist Minecraft, das seit seinem ersten Erscheinen 2009 als Independent Game ständig weiterentwickelt wird und inzwischen zu einem sehr erfolgreichen Spiel geworden ist. Minecraft ist keine Stadt-Simulation, keine Spielerin ist gezwungen eine Stadt zu bauen, es ist vielmehr ein digitaler Sandkasten, ein sogenanntes Sandbox-Game, in dem eigentlich fast alles gebaut werden kann – Werkzeuge, Rüstung, Maschinen, Berge, Meere, Wüsten, Bäume, Häuser, Möbel, Schiffe oder auch Achterbahnen … 7 Dazu baut die Spielerin Rohstoffe in Quaderform in ihrer Umgebung ab, speichert (und transformiert) sie in ihrem Inventar und kann sie dann zum Aufbau wieder verwenden. Im Gegensatz zu Sim City wird Minecraft nicht in einer isometrischen Perspektive gespielt, sondern aus der First- bzw. Third-Person-Perspektive, d.h. die Spielerin schaut nicht von oben und außen auf ihre Bauwerke, sondern befindet sich zwischen ihnen. Während in Sim City Verwaltungsakte vollzogen werden (Ausweisen von Baugrund, Kontrolle der Finanzen, …) wird in Minecraft selbst gebuddelt und gebaut, Quader für Quader. Insbesondere in der First-Person-Perspektive (vgl. Abbildung 2) vermittelt das Spiel den Eindruck, als wühle sich die Spielerin selbst – und fast mühelos – durch Erdreich, Fels, Holz – oder was sie sonst noch so vor der Nase haben mag. 6 | In Sim City 2000 war dies noch anders. Hier konnte man das Spiel in einem gewissen austarierten Zustand stundenlang ohne einzugreifen weiter laufen lassen, um die Stadt in Abwesenheit der Spielerin so viel Geld erwirtschaften zu lassen, dass eine besonders teure Anschaffung (z.B. ein Fusionskraftwerk) getätigt werden konnte. 7 | Eine kleine Zusammenstellung findet sich z.B. unter Minecraft unleashed: Best Creations ever (www.youtube.com/watch?v=5PxxzYdlv94 (26.2.2013).
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Abbildung 2: Häuser in Minecraft aus der First-Person-Perspektive (http://blog.grrbrr.de/wp content/uploads/Minecraft2.png), Bearbeitung B.N.
Übt das Graben (mining) eine besondere Faszination aus, so scheint es das Auf bauen (crafting) ebenso zu tun. Die Städte, die in Minecraft entstanden sind, sind weit größer und vielfältiger als die in Sim City – die Spanne reicht von Nachbauten von (realen) Städten wie New York, London oder Peking über Nachbauten von Städten aus anderen Computerspielen (z.B. die Hauptstädte aus World of Warcraft) oder Filmen (Minas Tirith aus der Der Herr der RingeTrilogie oder die Wüstenstadt Alamut aus Prince of Persia – The Sands of Time) zu reinen Phantasiestädten mit Wolkenkratzern bis zum Himmel oder Höhlensystemen bis zum fiktiven Erdmittelpunkt. In Minecraft gibt es keine Luftverschmutzung und keine Verkehrsprobleme, die den Ausbau von Städten verhindern, ebenso wenig gibt es einen bestimmten Stil von Gebäuden – wie in der Computergraphik ist alles aus Pixeln zusammengesetzt. So kann (und wird) alles gebaut werden, nur begrenzt durch die Zeit und Geduld der Spielerinnen. Besonders große Vorhaben werden von mehreren Spielerinnen gemeinsam angegangen, denn Minecraft-Maps können auch heruntergeladen werden, so dass gemeinsam gebaut werden kann, oder eine Spielerin an der Stadt einer anderen weiterbauen kann. Während die Städte in Sim City zuvorderst auf Funktionalität setzen und es erst dann ermöglichen, auch freier zu bauen (auch mit Sim City werden »reale« Städte nachgebaut), ermöglicht es Minecraft von Anfang an, endlich mal zu bauen, ohne auf die Kosten und Folgen zu achten.
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4. E RK ÄMPFEN — S TR ATEGIE UND H ÄUSERK AMPF Gekämpft wird in Computerspielen vor allem in Strategiespielen und Shootern.8 Von Wirtschafts-Simulationen zu Strategiespielen gibt es einen fließenden Übergang, denn während in reinen Wirtschafts-Simulationen nicht gekämpft wird, der Fokus also auf dem Auf bau liegt, ist der Auf bau in Strategiespielen eine notwendige Grundlage für die Eroberung von Land. In einigen Spielen werden dabei Siedlungen und Städte gebaut (z.B. in Die Siedler, Age of Empires oder Civilization), in anderen lediglich militärische Basen (z.B. in Command and Conquer oder Starcraft). Immer haben diese Städte eine militär-strategische Funktion, hier werden sowohl die Ressourcen für die Truppen hergestellt als auch die Truppen selbst – ob es sich nun um anthropomorphe Kämpfer handelt oder um Kriegsmaschinen: Die Kaserne »baut« die Truppen. Bei der Verfolgung des Spielziels, nämlich der Eroberung neuen Territoriums, müssen die Spielerinnen nicht nur versuchen, die gegnerischen Truppen zu schlagen, sondern auch die gegnerischen Siedlungen zu zerstören und so den Gegner von seinen Ressourcen abzuschneiden, ihn kampfunfähig zu machen und schließlich endgültig zu besiegen. Der Auf bau eigener neuer Siedlungen unterstützt auch die Sicherung des eigenen Territoriums. Eine hervorgehobene und in der Computerspiellandschaft auch exzeptionelle Rolle spielen die Städte im rundenbasierten Civilization. Stärker als in anderen Strategiespielen wird hier das Land über die Städte eingenommen. Die Spielerin beginnt in der Rolle einer Herrscherin über eine Zivilisation (Römer, Atzteken, Deutsche, Spanier, …) mit einem Siedler, der eine Stadt gründen wird, in der neue Siedler (und anderes) produziert werden. Über neue Stadtgründungen sowie den Einflussbereich der Städte vergrößert die Herrscherin ihr Territorium, parallel dazu bauen die Computergegner ihre Zivilisation auf. In Civilization IV besteht die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Gewinnbedingungen zu wählen, eine davon ist, dass diejenige Herrscherin gewinnt, zu deren Reich die drei Städte mit dem höchsten Kulturwert gehören. Unter diesen Gewinnbedingungen wird sie versuchen, möglichst viele Gebäude mit hoher kultureller Produktion (religiöse Gebäude, Bildungseinrichtungen, Weltwunder) in drei ihrer Städte zu bauen. Doch auch wenn die anderen Gewinnbedingungen gelten, hat die Kulturproduktion der Städte einen Einfluss auf das Spiel, denn je höher der Kulturausstoß einer Stadt ist, umso größer wird ihr Einflussgebiet. So kann gegnerisches Territorium auch kampflos erobert werden, indem sich das Einflussgebiet ausweitet oder die Bevölkerung gegnerischer Städte überläuft, weil die Stadt attraktiver ist. 8 | Ich fasse an dieser Stelle wieder zusammen und werde auf spezifische Unterschiede zwischen den Spielen der einzelnen Genres nicht eingehen. Computerspielerinnen mögen mir dies verzeihen.
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Abbildung 3: Stadtansicht mit Weltwundern in Civilization III (Sceenshot aus Civilization III ©2KGames. www.the-magicbox.com/forums/showthread.php?t=27359), Bearbeitung B.N. Abbildung 4: Stadtansicht auf der Hauptkarte in Civilization IV (Sceenshot aus Civilization IV ©2KGames. http://dlh.net/new/disp.php?review-civilization4.dat), Bearbeitung B.N.
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In die Funktionalität des Spiels ist also Kulturimperialismus integriert.9 Civilization bietet den Spielerinnen neben dieser strategischen Funktion der Städte auch die Möglichkeit, sich ihre Städte anzusehen. Es ist dies ein Bild, auf dem die Weltwunder der Stadt mit unklarer Proportionalität gezeigt werden (Abbildung 3). Im Vordergrund für die Funktionalität des Spiels steht jedoch die strategische Bedeutung der Städte, die auf der Hauptkarte des Spiels auch nur als Anhäufung von Gebäuden dargestellt werden (Abbildung 4). Shooter benutzen im ggs. zu Strategiespielen Städte nicht als Ressourcenproduktionsstätten, sondern als Umgebung für die Kampfhandlungen. Zumeist in der First-Person-Perspektive gespielt, wird den Spielerinnen nicht die Rolle von Generälen oder Herrscherinnen über Zivilisationen oder Truppen zugeschrieben, sondern einer Kämpferin in der Stadt. In dieser Rolle kämpft sie sich durch Häuserschluchten. Die Städte bieten dabei den (idealen) Hintergrund, um sich zu verstecken und aus dem Hinterhalt zu schießen. Im Gegensatz zu Höhlen oder Systemen von Gängen, die in vielen Shootern (insbesondere älteren) die Umgebung bilden, vermittelt die Stadt den Spielerinnen den Eindruck einer größeren Bewegungsfreiheit. Die Stadt als ganze ist dabei nicht von Relevanz, sondern dient als Schlachtfeld. Bei Weltkriegsshootern bilden zwar reale Städte den Hintergrund für diese Kampfhandlungen, haben aber die gleiche Funktionalität.
5. E RKUNDEN — V ERSUNKENE - UND P HANTASIESTÄDTE Die Möglichkeit zur Erkundung der Spielumgebung gehört zu den Angeboten, die viele Computerspiele machen, seit die Graphikleistung der Computer so weit gestiegen ist, dass sie in der Lage sind, so etwas wie eine digitale Umgebung darzustellen.10 Die Spielerin steuert einen Avatar, mit dem sie sich in der Spielumgebung bewegt und Aufgaben löst. Das Erkunden (und teilweise auch Erkämpfen) der Umgebung gehört dabei nicht immer explizit zu ihren Aufgaben, kann aber oftmals einen Großteil der Spieltätigkeiten ausmachen. Wenn z.B. Lara Croft in Tomb Raider in Atlantis nach dem Scion sucht, so ist 9 | Dieser zeigt sich auch noch auf einer anderen Ebene, denn zu den Weltwundern, die in den Städten gebaut werden können, gehören außer antiken Weltwundern wie den hängenden Gärten oder dem Koloss von Rhodos, und den »neuen« Weltwundern wie Chichén Itzá oder dem Taj Mahal auch Wall Street, der Broadway, Hollywood, Rock’n Roll, das Pentagon und schließlich das Manhattan Project. 10 | Wie oben bei den MUDs angesprochen, gehörte das Erkunden und sich Zurechtfinden auch in der Anfangszeit schon zu den Aufgaben der Spielerinnen, nur wurde die Umgebung eben nicht graphisch, sondern über Text dargestellt (Text-Adventures). Action-Spiele zeigten in der Anfangszeit nur spielrelevante Figuren vor einem schwarzen Hintergrund.
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sie vor allem darum bemüht, sich im dortigen Höhlensystem zurechtzufinden und zu überleben.11 Während Lara Croft nach dem Scion sucht, sucht der Prinz von Persien (im Computerspiel bleibt er namenlos, im Film heißt er Dastan) in Prince of Persia – The Sands of Time nach dem Dolch, der den Sand der Zeit enthält. Dazu begibt er sich in einen orientalischen Palast, in dessen Inneren der Dolch versteckt ist. Der Prinz muss sich durch die Stadt und den Palast zum Dolch vorarbeiten. Ähnlich wie Parcours-Läufer nutzt er dabei alle baulichen Gegebenheiten: Er springt über Vorsprünge, schwingt an Stangen, balanciert über Simse, läuft Wände hoch, um sich dann von ihnen abzustoßen und mit einem Salto auf dem nächsten Vorsprung zu landen. Er kriecht durch Löcher, versteckt sich hinter Mauern oder schwingt tarzangleich an Seilen über Abgründe. Der gleichnamige Film, der auf der Idee des Spiels beruht, gestaltet die Umgebung, in der die Handlung spielt, weiter aus. Der Palast mit dem Dolch liegt in der Wüstenstadt Alamut, die wie ein Traum aus 1001er Nacht wirkt. Der Palast liegt auf einem Berg und erinnert an ein Spiralminarett, zu seinen Füßen die dicht bebaute Stadt mit engen, teilweise überbauten Gassen, mit Menschen übersäten Plätzen, Zwiebeltürmen und orientalischen Märkten (Abbildung 5). Für die Zuschauerinnen ist es ein Leichtes, die Gerüche von orientalischen Gewürzen hinzuzufügen. Diese Stadt erobert Dastan als Vorhut für die Armee seiner Brüder. Dabei tut er das Gleiche wie der Prinz im Spiel: Er klettert, springt, balanciert, kriecht und läuft, weicht Fallen und Gegnern aus, um sein Ziel zu erreichen.
Abbildung 5: Die Wüstenstadt Alamut (Filmstill. http://princeofpersia. wikia.com/wiki/Alamut), Bearbeitung B.N. 11 | Vgl.dazu den Walkthrough zu Level »Atlantis« unter: http://gameguidewiki.de/? title=Tomb_Raider_%E2%80%93_featuring_Lara_Croft_%E2%80%93_Walkthrough_% E2%80%93_Atlantis). Walkthroughs sind detaillierte Wegbeschreibungen von Computerspielen.
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Wo also liegt der Unterschied zwischen dem Computerspiel und dem Film? Im Film folgen die Zuschauerinnen Dastan, sehen ihm dabei zu, wie er unglaubliche Stunts in einer atemberaubenden Kulisse vollbringt. Im Spiel ist die Kulisse – trotz gesteigerter Graphikleistungen der Computer – nicht ganz so atemberaubend, dafür aber sind die Spielerinnen näher beim Prinzen, sie steuern ihn. So affiziert das Schwingen und Springen die Spielerinnen auch körperlich. Die Leiblichkeit der Spielerinnen verschwindet beim Computerspielen nicht, sondern ist Teil des Spielens, wenn die Bewegungen des Avatars mitempfunden werden (vgl. Wiemer 2006). Die Umgebung bekommt dadurch eine haptische Qualität. In Rollenspielen ist es weniger die Haptik, die den Zugang zu einer Stadt bestimmt, als vielmehr die Stadt als Sozialraum. Rollenspiele und (Action-)Adventures ist gemeinsam, dass die Spielerinnen einen Avatar steuern. Während jedoch in (Action-)Adventures das Aussehen und die Fähigkeiten des Avatars festgelegt sind bzw. letztere sich mit den Waffen und Gegenständen, die er im Spiel findet, ändern, wird in Rollenspielen der Avatar selbst verändert – hochgelevelt. Dazu muss er Aufgaben (Quests) lösen, um Erfahrungspunkte zu erhalten. Zudem erhält er für die Erledigung der Aufgaben zumeist auch die jeweilige Spielwährung (oftmals Gold). Diese wiederum kann bei Händlern eingesetzt werden, um den Avatar mit besserer Rüstung und Waffen auszustatten. Die Händler nun finden sich in den Städten der Spielwelt.
Abbildung 6: Imperial City (Screenshot aus The Elder Scrolls IV – Oblivion ©2KGames. www.mobygames.com/game/windows/elder-scrolls-iv-oblivion/ screenshots/gameShotId,157953/(Imperial City)), Bearbeitung B.N.
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In Imperial City (Abbildung 6), der Hauptstadt von Cyrodiil, der FantasyUmgebung in der The Elder Scrolls IV – Oblivion (Ubisoft 2007) angesiedelt ist, gibt es einen ganzen Handelsbezirk und verschiedene andere Stadtviertel mit Verbündeten, Lehrern, Feinden, Questgebern und natürlich einfachen Passanten (Abbildung 7).
Abbildung 7: Leute in Imperial City (www.uesp.net/wiki/Oblivion:The_Imperial_City), Bearbeitung B.N.
Im Lauf des Spiels muss die Spielerin bzw. ihr Avatar immer wieder in diese Hauptstadt zurückkehren, um verschiedene Händler aufzusuchen und Quests zu erledigen u.a. findet auch der Endkampf zur Rettung Cyrodiils in Imperial City statt. Ist die Spielerin zu Beginn des Spiels noch orientierungslos und muss den Stadtplan zu Hilfe nehmen, um den Ort zu finden, den sie aufsuchen will, so wird sie im Verlauf des Spiels routinierter und nach einer Weile – von Norden kommend – an der ersten Kreuzung links abbiegen, dann wieder
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links gehen und sich dann in den dritten Laden begeben, um eine Waffe zu kaufen.12 Die Stadt wird ihr vertraut. In Imperial City kann der Avatar auch sein erstes Haus kaufen, die Stadt also tatsächlich bewohnen. Die Funktionen, die Imperial City für The Elder Scrolls-Oblivion hat, haben auch die Hauptstädte der verschiedenen Fraktionen und Völker im MMORPG World of Warcraft (Blizzard seit 2004). In den Städten finden sich die Händler (diese finden sich allerdings auch in kleineren Städten und Dörfern), Lehrer für Berufe und Klassen, ein Friseur, diverse Gasthäuser und Kneipen, die Bank und das Auktionshaus. Zudem sind sie Verkehrsknotenpunkte mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Schiffe, Luftschiffe und eine U-Bahn) und Portalen in andere Gebiete. Neben der fiktiven sozialen Funktion, die eine Stadt in SinglePlayer-Spielen hat, haben die Hauptstädte in Online-Spielen jedoch noch eine tatsächliche soziale Funktion. In World of Warcraft können bist zu 3500 Spielerinnen gleichzeitig auf einem Server online sein (zumeist sind es weniger) und die Hauptstädte sind die sozialen Treffpunkte, denn alle Spielerinnen müssen immer wieder in diese Städte, um ihre Geschäfte zu tätigen, insbesondere um Waffen und Rüstung umschmieden zu lassen, Gegenstände in der Bank abzulegen13 oder im Auktionshaus zu handeln. Wenn Spielerinnen gerade nichts zu tun haben oder auf eine Instanzgruppe oder einen Raid warten, tun sie dies oftmals, während sich ihr Avatar in einer der Hauptstädte aufhält. Die Hauptstädte werden häufig auch als Treffpunkte vor Raids genutzt, indem eine feste Gruppe von Spielerinnen sich hier versammelt oder aber neue Spielerinnen angesehen und ggf. rekrutiert werden. So sind die Hauptstädte zu den Hauptspielzeiten (abends und am Wochenende) immer besonders belebt. Aktionen von Spielerinnen – seien es spontane Tänze oder auch Werbung – finden hier statt. – Zumindest war es einmal so, denn World of Warcraft hat auch eine Stadtplanung. Diese bezieht sich jedoch weniger auf eine »materielle« Umgestaltung einer Stadt, also das Anlegen neuer Viertel und Straßen, sondern auf die Kanalisierung der Aufenthaltsorte der Spielerinnen. Je nachdem, welche spielrelevanten Möglichkeiten eine Stadt bietet (spezielle Händler, Quests, Verkehrsknotenpunkt), werden sich mehr oder weniger Spielerinnen in der Stadt aufhalten. Diese Möglichkeiten wurden mit jeder neuen Erweiterung von World of Warcraft in eine andere Stadt verlegt, so dass die Spielerinnen jeweils dort zu finden waren. In der Zeit der ersten Version des Spiels (11/2004-12/2006) waren die Hauptstädte der Völker (Sturmwind, Orgrimmar oder Eisenschmiede, Abbildung 7-9) die Zentren des sozialen Lebens, gefolgt von Shattrath in der Scherbenwelt in der Erweiterung The Burning Crusade (1/2007-10/2008) und Dalaran (Abbildung 10) 12 | Obwohl es schon einige Jahre her ist, dass ich das Spiel gespielt habe, kann ich mich doch an den Weg zum Waffenladen erinnern. 13 | In den Banken in World of Warcraft wird kein Geld eingezahlt – dies tragen die Avatare immer bei sich, sondern Gegenstände für späteren Gebrauch aufbewahrt.
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in Wrath of the Lich King (11/2008-11/2010). Cataclysm (10/2010-9/2012) wertete Sturmwind und Orgrimmar wieder auf und die bisher letzte Erweiterung Mists of Pandaria (seit 9/2012) verteilt die Spielerinnen über das ganze Land. Zwar beherbergen die neuen Hauptstädte in Pandaria eine Bank, Rüstungshändler, Handwerkslehrer und Questgeber, jedoch finden sich solche auch bei den verschiedenen Fraktionen verteilt über den Kontinent. Lediglich auf dem Halbhügelmarkt im Tal der Vier Winde – ein paar Flugminuten entfernt von den Hauptstädten Pandarias – stellt sich noch so etwas wie ein Gefühl eines sozialen Treffpunkts ein, denn hier treffen sich alle Spielerinnen eines Servers, um ihr eigenes Feld zu bestellen, auf dem sie Zutaten für stärkendes Essen anbauen können. Jeden Abend wimmelt es hier wie auf einem Wochenmarkt von Spielerinnen, die sich um die Händler drängen, um neues Saatgut zu erwerben.14
Abbildung 8: Sturmwind Tal der Helden (Screenshot aus World of Warcraft ©Blizzard Entertainment. http://immerlicht.over-blog.de/article-endlich-beta-55213763. html), Bearbeitung B.N. Abbildung 9: Orgrimmar (Screenshot aus World of Warcraft ©Blizzard Entertainment. http://wow.gameplorer.de/wow-dynamische-events-als-mittel-gegen-leere-staedte/), Bearbeitung B.N.
Neben ihrer Funktion als Treffpunkt bieten die Städte den Spielerinnen bzw. ihren Avataren aber auch Sicherheit. Die World of Warcraft ist eingebettet in die Feindschaft zwischen der Allianz und der Horde, so dass Spielerinnen auch von der gegnerischen Fraktion angegriffen werden können (und natürlich von computergesteuerten Gegnern).15 Die Städte sind jedoch sicheres Gebiet – wie mittelalterliche Städte sind sie von Verteidigungsanlagen umgeben und von Wachen geschützt. Hier finden sich keine computergesteuerten Gegner, und Spielerinnen der gegnerischen Fraktion können die Stadt nur unter Gefahr für ihr eigenes (Spiel-)Leben betreten. Oder sie schließen sich zu einem Schacht14 | Stand Dezember 2012. 15 | Auf die Erläuterung der Unterschiede zwischen PvE (Player vs. Environment) und PvP (Player vs. Player)-Servern sei an dieser Stelle verzichtet.
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zug zusammen, bei dem sie versuchen, die Anführer der gegnerischen Fraktion in ihrer Stadt zu töten, natürlich nicht ohne auf Widerstand von Seiten der Heimatfraktion zu treffen. Deshalb werden diese Hauptstadt-Raids, die die einzige Möglichkeit bieten, eine gegnerische Hauptstadt auch einmal von innen zu sehen, zumeist für spät nachts angesetzt.
Abbildung 10: Tore von Eisenschmiede im Sonnenuntergang (Screenshot aus World of Warcraft ©Blizzard Entertainment. http://battlemedic.blogspot.de/2010/12/ images-of-azeroth.html), Bearbeitung B.N. Abbildung 11: Dalaran (Screenshot aus World of Warcraft ©Blizzard Entertainment. http://antandyantertainment.wordpress.com/2010/05/21/wrath-of-the-lich-kingretrospective-part-2/), Bearbeitung B.N.
6. C OMPUTERSPIELSTÄDTE ALS S EHNSUCHTSSTÄDTE ? Auf den vorangehenden Seiten war häufig von der Funktionalität von Städten die Rede und wenig von Sehnsucht. Tatsächlich ist das Zusammenführen von Sehnsuchtsstädten und Computerspielen nicht einfach. Denn in Computerspielen als Handlungssystemen geht es ja um das Erreichen eines Ziels und ggf. um die Verwirklichung von Sehnsüchten. Sehnsucht und Funktion gehen jedoch in der Sozialität, die in Online-Spielen entsteht, zusammen. Fand Howard Rheingold in den Diskussionsforen der WELL seine virtuelle Nachbarschaft, so ist zu vermuten, dass viele Online-Spielerinnen diese im Spiel finden. Viele Spielerinnen sind täglich online, so dass sie ihre Mitspielerinnen regelmäßig treffen. Insbesondere sind dies natürlich die Spielerinnen aus der gleichen Gilde, die sich über den Gildenchat unterhalten können, aber nach einer gewissen Zeit erkennt man auch Spielerinnen aus anderen Gilden, insbesondere wenn diese häufig im Handelschannel 16 16 | World of Warcraft hat mehrerer Chat-Kanäle, den Gilden-Chat, Gruppen- und Raidchats, aber auch allgemeine Chats für Gebiete und in den Hauptstädten zusätzlich noch den Handelschat.
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der Hauptstädte aktiv sind. Wenn eine Spielerin wissen möchte, was für eine Stimmung auf dem Server herrscht, kann sie sich mit ihrem Avatar in eine Hauptstadt begeben und den Chat mitlesen (oder auch daran teilnehmen). Setzt man sich in einer erdräumlich verankerten Stadt in ein Straßencafé, um die vorbeiflanierenden Leute in der Stadt zu beobachten, so liest man in World of Warcraft den Handelschannel. Dabei kann man – im Gegensatz zum Straßencafé – auch völlig unbeobachtet bleiben. Diejenigen, die in diesem Channel etwas posten, wissen jedoch natürlich, dass es sich um einen öffentlichen Kanal handelt. Kommuniziert eine Spielerin mit anderen Spielerinnen, so bleibt sie dabei natürlich nicht unbeobachtet, aber doch auf eine spezifische Weise maskiert, denn zunächst einmal kommuniziert sie durch ihren Avatar bzw. unter seinem Namen, was es erleichtert, auch »Fremde« anzusprechen. Ggf. entstehen so im Laufe der Zeit Freundschaften (oder auch Feindschaften), auf jeden Fall aber so etwas wie Vertrautheit mit den anderen Spielerinnen wie auch mit der digitalen Umgebung und den im Spiel dargestellten Städten; und zudem – und dies nicht in erster Linie nur durch die Stadtmauern der Spielstädte – Sicherheit. Im Spiel kann den Spielerinnen nichts passieren (und wenn ihr Avatar stirbt, läuft er als Geist zu seinen körperlichen Überresten und vereinigt sich wieder mit ihnen), hier kennen sie sich aus und sind auf eine ganz eigentümliche Weise zu Hause. Sie sind das Spiel gewohnt und bewohnen das Spiel (vgl. Heidegger 1954: 141) – etwas, das eine erdräumlich verankerte Stadt vielleicht nicht ermöglicht, auch wenn man sich dort körperlich niedergelassen hat. Doch welche Bedeutung haben die mächtigen Tore von Eisenschmiede, die stachelbewehrten Mauern von Orgrimmar, das Tal der Helden von Sturmwind, die in den Himmel aufragenden Türme von Dalaran (das selbst als Insel im Himmel schwebt) oder der mächtige Turm des Palasts von Imperial City? Die Rollenspiele, die häufig in einer Fantasy-Welt angesiedelt sind, legen, auch wenn sie keine Funktionalität für das Spielen hat, großen Wert auf die Gestaltung der Städte. Aber es sind immer noch Rollenspiele und so wird versucht, auch durch die Städte auf die Spezifik der Völker einzugehen. Sturmwind, die Hauptstadt der Menschen, erinnert an mittelalterliche Burg- und Festungsanlagen, Orgrimmar, die Hauptstadt der kriegerischen Orcs, ist zwischen den roten Felsen von Durotar erbaut, Eisenschmiede, die tief in den Fels der Berge von Dun Morogh geschlagene Hauptstadt der Zwerge setzt auf die Mythologie der Zwerge als Bergbauer und Schmiede, und ihr Tor erinnert nicht zufällig an den Eingang der Minen von Moria aus Der Herr der Ringe. Auch die naturverbundenen Nachtelfen und ihre Architektur – in riesige Bäume eingelassene Wohnungen und lichte Pavillons – sind Verwandte der Elben. All diese Städte strahlen Einzigartigkeit und Größe aus. Sie fungieren als Symbole für die Macht und die Stärke(n) der einzelnen Völker. Dass diese Beeindruckungsarchitektur Wirkung zeigt, lässt sich allein daran ablesen, dass jede der Haupt-
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städte aus World of Warcraft in Minecraft – oft auch mehrfach – nachgebaut wurde und die Ergebnisse im Internet präsentiert werden. Nicht nur die Städte in Rollenspielen beziehen sich auf außerspielerische Mythologien. Die Prince of Persia-Reihe, deren erster Teil 1990 herauskam, profitiert auch von der Exotik, die der Nahe Osten und insbesondere das antike Perserreich mit den Geschichten aus Tausendundeine Nacht für den westlichen Kulturkreis verkörpert. Und sicherlich haben auch Filme wie Lawrence of Arabia diesen Mythos weitergetragen. Das Spiel Prince of Persia – The Sands of Time wiederum zog die Verfilmung nach sich, die die Stadt Alamut so hervorhebt. Als Letztes sei in diesem Komplex noch Assassin’s Creed (Ubisoft 2007) genannt, das im Nahen Osten während der Kreuzzüge spielt und in dessen Verlauf die Spielerinnen u.a. nach Damaskus und Jerusalem gelangen. Städte in Computerspielen können zu Sehnsuchtsstädten in anderen medialen Formen werden, so wie auch die Sehnsucht in die Computerspiele zurückwirken kann. Nicht nur das Storytelling wird transmedial (vgl. Jenkins 2006) – auch die Städte.
B IBLIOGR APHIE Barlow, John Perry. 1986. »A Declaration of Independence of Cyberspace«. http://w2.eff.org/Censorship/Internet_censorship_bills/barlow_0296. declaration (6.03.2013). Beil, Benjamin. 2012. »Genrekonzepte des Computerspiels«. In: GamesCoop: Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hamburg: Junius, 13-37. Csikszentmihalyi, Mihaly. 1975. Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta 19966. Heidegger, Martin. 1954. »Bauen, Wohnen, Denken«. In: ders.: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart: Klett-Cotta 2009, 139-156. Jenkins, Henry. 2006. Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York & London: New York University Press. Kolb, Michael. 1990. Spiel als Phänomen – Das Phänomen Spiel. Studien zu phänomenologisch anthropologischen Spieltheorien. Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz. Morningstar, Chip/Farmer, F. Randall. 1991. »The Lessons of Lucasfilm’s Habitat«. In: Benedikt, Michael (Hg.), Cyperspace: First Steps. Cambridge: Mass: MIT Press, 273-301. Rheingold, Howard. 1986. The Virtual Community. Finding Connection in a Computerized World. London: Minerva 1995. Rauscher, Andreas. 2011. Spielerische Fiktionen: Transmediale Genrekonzepte in Videospielen. Marburg: Schüren Verlag. Scheuerl, Hans. 1954. Das Spiel. Weinheim und Basel: Beltz 1990.
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Sehnsuchtspraktiken
Sehnsuchtspraktiken Einführende Überlegungen zu einem »sensibilisierenden Konzept« Mona Motakef und Angelika Münter
Wie und mit welchen Praktiken verleihen Menschen ihren Sehnsüchten an den urbanen Raum Ausdruck? Was für Wünsche und Forderungen kommen in diesen Praktiken zum Ausdruck? Welche Handlungslogiken liegen diesen Bottom-up-Initiativen zugrunde? Welche Vorstellungen vom »Guten Leben« im städtischen Raum lassen sich ableiten? Und wie verändern sie den urbanen Raum? Wo erweist sich der urbane Raum aber auch als sperrig gegenüber Interventionen und somit als unveränderbar? Diese Fragen stehen im Zentrum der Beiträge des folgenden Abschnitts. Doch was bedeutet ›Sehnsuchtspraktik‹? Und worin besteht das Erkenntnispotential des Begriffs? Die Komposition von ›Sehnsucht‹ und ›Praktik‹ mag zunächst verwundern. Der Begriff der Sehnsucht verweist auf »reflexive und evaluative Prozesse«, in denen Wünsche nach alternativen Lebensentwürfen verhandelt werden (vgl. Baltes 2008: 81). Das Grimm’sche Wörterbuch definiert Sehnsucht als »hoher Grad eines heftigen und oft schmerzlichen Verlangens nach etwas, besonders wenn man keine Hoffnung hat, das Verlangte zu erlangen, oder wenn die Erlangung ungewiss, noch entfernt ist« (Grimm 1854/1984). In dieser Lesart gibt es eine Nähe zwischen dem Sehnsuchtsbegriff und dem Begriff der Utopie. In beiden Begriffen kommt zum Ausdruck, dass es nicht möglich ist, ein Ideal zu erreichen. Da versucht wird, auf einen Status quo einzuwirken, wird auch die Bedeutung von Sehnsüchten für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung betont (vgl. Baltes 2008). Charakteristisch ist des Weiteren ihre »Dreizeitigkeit« (ebd.: 80), Sehnsüchte verbinden die Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft. Eine Praktik ist anders als eine Sehnsucht kein reflexiver oder evaluativer Prozess, kein Verlangen oder Ideal, sondern verweist auf etwas Materielles. Mit Andreas Reckwitz lässt sich eine Praktik als eine routinisierte Bewegung und Aktivität des Körpers verstehen. Der ›practical turn‹ (Schatzki/Knorr-Cetina 2000) bildet entsprechend einer Kritik an einer Entmaterialisierung des Sozialen viele sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze (vgl. Reckwitz 2003:
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283). Das Soziale lässt sich in dieser Perspektive eher begreifen, wenn man seine Materialität und seine impliziten nicht rationalistischen Logiken nachvollzieht (vgl. ebd.: 290). Praxistheoretisch interessiert somit nicht, welches Wissen eine Gruppe von Personen besitzt, sondern, »welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt« (ebd.: 292). Während die Sehnsucht die Gegenwart transzendiert, ist eine Praktik zudem an Raum und Zeit gebunden (vgl. ebd.: 289). Die Vergangenheit spielt insofern nur eine Rolle, als dass sich in der vollziehenden Praktik die Reproduzierbarkeit von etwas Vorherigem manifestiert. An das Hier und Jetzt gebunden ist für die Praktik die Unvollständigkeit der Erreichung eines Ideals des Weiteren bedeutungslos. Auch wenn es also durchaus Dimensionen gibt, in denen die Komposition von Sehnsucht und Praktik ›scheppert‹, gehen wir dennoch nicht von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der Begriffe aus. Vielmehr schlagen wir vor, die sich ergebende Spannung als Ausgangspunkt für die Suche nach gegenwärtigen Interventionen in den urbanen Raum zu setzen. Der Begriff der Sehnsuchtspraktik soll also als ›sensibilisierendes Konzept‹ (Blumer 1954: 7) eingeführt werden. Der urbane Raum ist in jüngster Zeit zu einem Schauplatz von Artikulationen von Teilhabeforderungen und Solidaritätsbekundungen geworden, man denke etwa an die Occupy-Proteste in New York, Manila oder Rio de Janeiro bis zu Aktivitäten der Neuen Gartenbewegung wie Community oder Guerilla Gardening oder Interventionen der Strickguerilla. Aus zwei Gründen erscheint uns der Begriff der ›Sehnsuchtspraktik‹ als besonders geeignet, diese gegenwärtigen urbanen Praxen aufzuspüren: Erstens verweist der Begriff der Sehnsucht nicht zwingend auf Große Erzählungen (vgl. Lyotard 1999), wie etwa den Entwurf eines neuen vermeintlich universal übertragbaren Gesellschaftsvertrags, vielmehr kündigt sich hier vorsichtiger eine Bewegung des Unperfekten, eine Ahnung oder ein Sich-Herantasten an. Eine Sehnsucht ist kein selbstbewusst vorgetragener Befehl zur Umsetzung, sondern vielmehr ein von Zweifeln begleitetes Verlangen nach Veränderungen, wobei das Ziel unklar sein kann. Wenn man sich mit gegenwärtigen Einsätzen in den urbanen Raum beschäftigt, wird man feststellen, dass auch hier das Experiment mit offenem Ende strukturgebend ist. Im Urban Gardening und bei den Occupy-Protesten werden Formen des Zusammenlebens vielmehr erprobt, statt nach strengem Plan ausgeführt. Zweitens steht mit der Sehnsuchtspraktik die These in Verbindung, dass Sehnsüchte nach Städten auch eine materielle Dimension haben. Es wäre eine Verzerrung und Verkürzung, würde man z.B. die Occupy-Proteste lediglich anhand ihrer Parolen verstehen oder die Arbeiten der Strickguerilla auf ästhetische Aspekte begrenzen wollen. Charakteristisch für diese neuen Protestformen ist vielmehr ihre praktische und räumliche Dimension, worauf auch der Beitrag von Christa Müller verweist. Diese bildet keine »zwangsläufige
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Begleiterscheinung«, so etwa Mörtenböck und Mooshammer in ihrer Untersuchung über ›Räume des Protests‹, »sondern Programmatik des Geschehens. Occupy artikuliert sich durch seine Verräumlichung.« (2012: 8) Die Zeltlager und Volksküchen, die bei den Occupy-Protesten aufgebaut wurden, lassen sich als »Experimente eines neu arrangierten Zusammenlebens« lesen, die sich an Solidarität orientieren (ebd.: 51). Wie anhand der räumlichen Praxis von Occupy gezeigt werden kann, bildet die Sehnsuchtspraktik keine Utopie. Es werden nicht fiktive Gesellschaftsordnungen entworfen, wie etwa in Thomas Morus’ Utopia, vielmehr lassen sich mit diesem Begriff Praktiken der konkreten Raumaneignung aufspüren. Unter Praktiken der Raumaneignung werden in den Sozial- und Planungswissenschaften ganz allgemein gesprochen Praktiken verstanden, mit denen Individuen und soziale Gruppen in die Konstruktion und Konstitution ihres Lebensraumes eingreifen. Der Begriff betont einerseits die Alltagsebene als wesentliche Produktivkraft von urbanem Raum sowie andererseits die aktive Rolle der beteiligten Subjekte bzw. Gruppen (vgl. Doderer 2003: 23; Wieger 2010: 7). Praktiken der Raumaneignung nehmen damit das alltägliche Handeln der Menschen im Raum bzw. deren »Geographie-Machen« (Werlen 1997) und die dahinter stehenden Handlungslogiken in den Blick. Diese handlungsorientierte Mikroperspektive betrachtet Stadt als einen Raum, der von ihren Bewohnern kognitiv konstruiert ist. Im Gegensatz zum auf umfassende Zukunftsvisionen gerichteten Top-down-Blick der Planer – welcher in diesem Band im Themenfeld Sehnsuchtstechniken diskutiert wird – ist es nach dieser Botttom-up-Logik für gezielte Interventionen in den urbanen Lebensraum (z.B. durch öffentliche Akteure) zunächst entscheidend, die alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungslogiken der Menschen, die in ihm leben, zu verstehen und zu erklären (vgl. Werlen 1997: 25). Interventionen in den urbanen Raum entstehen nach dieser Logik in erster Linie durch eine Vielzahl kleiner Schritte bzw. unabhängig voneinander getroffener Einzelentscheidungen einzelner Akteure. Auch öffentliche Akteure wie die Stadtplanung können hierzu einen Beitrag leisten (vgl. Selle 2005), haben aber nicht – wie in der Vergangenheit häufig unterstellt – jene umfassenden Steuerungskompetenzen, die notwendig wären, um Utopien und Visionen der idealen Stadt im Raum umzusetzen (vgl. Siebel in diesem Band). Vielmehr verändert sich der urbane Raum durch das konkrete – also praktische – Bestreben der Bewohner, den urbanen Raum so zu gestalten, dass er den eigenen urbanen Sehnsüchten oder dem eigenen urbanen Ideal näher kommt. Diese Bestrebungen des Einzelnen können sich zu einem emergenten Muster verdichten und so im Raum als Praktiken der Raumaneignung sichtbar werden. »Praktiken der Raumaneignung kritisieren Räume, die durch institutionalisierte und vorgegebene Strukturen und Ordnungen geprägt sind, stellen diese in Frage und geben Impulse zur Produktion neuer Raumkonzepte und
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gesellschaftlicher Räume.« (Wieger 2010: 7f.) Praktiken der Raumaneignung bilden somit häufig eine Kritik, in einem praktischen Sinne eine Intervention in den urbanen Raum. Unter den vielfältigen Praktiken der Raumaneignung wird in den folgenden Beiträgen vor allem auf die verschiedenen Facetten des Urban Gardenings, vom »nomadischen« Guerilla Gardening bis hin zur verstetigten Form neuer Nachbarschaftsgärten auf Brachflächen, eingegangen. Anhand dieser lässt sich sehr gut der Zusammenhang zwischen Praktiken der Raumaneignung und urbanen Sehnsüchten verdeutlichen. Gemein ist den verschiedenen Formen des Urban Gardening, dass sie der Gestaltung des eigenen Umfelds der Bewohner und damit der Steigerung der Lebensqualität dienen. Gleichzeitig machen diese symbolische Politik, indem sie auf fehlende Lebensqualität und Planungsdefizite in urbanen Räumen verweisen (vgl. Müller 2011). Sie beinhalten damit auch Utopien für eine bessere Gesellschaft bzw. ein besseres Leben in der Stadt. Tucholskys Gedicht »Das Ideal«, welches als Leitspruch für das Symposium Sehnsuchtsstädte, aus dem dieser Band hervorgeht, gewählt wurde, verdeutlicht das Spannungsfeld der Sehnsüchte an ein Leben zwischen Urbanität und ländlicher Idylle, welche in der Summe unerreichbar sind (vgl. Vorwort zu diesem Band). Das Urban Gardening adressiert diese Sehnsucht, indem es bestimmte ländliche Qualitäten in ein besonders urbanes Umfeld integriert. Als Erstes stellt Christa Müller in ihrem Beitrag »Sehnsuchtsstadt statt Landlust« am Beispiel des ›Urban Gardenings‹ neue Formen der Naturbegegnung und damit verbunden Praxen des Selbermachens im städtischen Raum vor. Müller beobachtet in den Praktiken des Selbermachens und Tauschens eine Verschiebung der Statussymbolik hin zu postmateriellen Werten. Die neue Gartenbewegung, die den urbanen Raum verändert, lässt sich mitnichten auf eine Sehnsucht nach Landleben reduzieren. Vielmehr findet in Sehnsuchtspraktiken des Gärtnerns, Tauschens, Selbermachens nicht weniger als eine Dekonstruktion moderner Dichotomien statt: Im ›Urban Gardening‹ werden Dinge wieder zusammengebracht, die im Zuge der Moderne getrennt wurden: Produktion und Konsum, Stadt und Land, Kultur und Natur und schließlich auch Mensch und Tier. Urban Gardening und Praxen des Selbermachens lassen sich vor diesem Hintergrund als Sehnsuchtspraktiken verstehen, die von dem »Verlangen nach Verbundenheit zeugen und von der Sehnsucht, sich mit sich und der Welt wieder neu zu verbinden« (Müller, in diesem Band: 139). Die Praktiken der neuen Gartenbewegung sollen im Folgenden anhand von zwei Beispielen veranschaulicht werden. Zum einen erläutert Patrick Huhn, welche Sehnsüchte im Guerilla Gardening artikuliert werden. Der Autor, selbst bekennender Aktivist, erläutert den Entstehungskontext des Guerilla Gardenings und zeigt eine Breite an Motiven für die »Samenbomben werfenden Gesetzesbrecher« auf. Diese reichen von der Lust am Gärtnern, über den
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Reiz des Illegalen, dem Kampf gehen Landmangel und der Verwahrlosung von Flächen bis zum Wunsch nach Selbstversorgung. Guerilla Gardening verläuft in der Regel zwar ohne vorherige Genehmigung, dennoch gebe es über die positiven Auswirkungen für das Klima, die Natur und die Öffentlichkeit keine Zweifel, so der Guerilla-Gardening-Aktivist. Marco Clausen stellt als zweites Beispiel die Prinzessinnengärten in BerlinKreuzberg vor, das in Deutschland vermutlich bekannteste Urban Gardening Projekt. Wie für Christa Müller auch, demonstriert Urban Gardening für ihn einen »anderen Umgang« mit städtischen Räumen: Im Zentrum steht Teilhabe, Zusammenleben und informelles und erfahrungsbasiertes Lernen. Die Prinzessinnengärten haben sich für ihn als Laboratorium zur Verhandlung der Fragen entwickelt, wie wir arbeiten, lernen und leben wollen. Der Beitrag von Bastian Lange geht über den Fokus der drei vorangegangenen Beiträge auf Urban Gardening hinaus. In seinem Beitrag »Neue Orte des Städtischen durch Soziale Innovationen« argumentiert er, das im Zuge des Wandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft neue Formen des Arbeitens und des Produzierens entstanden sind, die den öffentlichen Raum verändert haben. Diese brechen teilweise mit kapitalistischen Logiken und stellen vielmehr den Gedanken des Commons, eben Praktiken des Selbermachens, Tauschens und Teilens ins Zentrum. Am Beispiel von Co-Working-Spaces wie etwa dem Berliner betahaus, einer Mischung aus Büro und Café, zeigt Lange auf, wie in Verbindung mit digitalen Produktionsweisen neue Kollektive entstanden sind. Lange streicht zwar die besondere Rolle der Kreativwirtschaft als Akteur sozialer Innovationen heraus, zeigt aber zugleich, dass ganz grundlegend und über die Kreativwirtschaft hinaus, Fragen der sozialen Teilhabe an den urbanen Raum neu vorgetragen, geplant und verhandelt werden. Mit der Komposition ›Sehnsuchtspraktiken‹ soll also ein Suchbegriff eingeführt werden, von dem wir uns erhoffen, dass er hilft, gegenwärtige Interventionen in den urbanen Raum differenziert zu beschreiben. Ob dies gelingt oder ob sich andere Begriffe als überlegen erweisen, um den vielschichtigen Wandel in den Städten zu erklären, ist eine andere Frage.
B IBLIOGR APHIE Baltes, Paul B. 2008. »Positionspapier: Entwurf einer Lebensspannen-Psychologie der Sehnsucht – Utopie eines vollkommenen und perfekten Lebens«. In: Psychologische Rundschau, 59 (2): 77-86. Blumer, Herbert. 1954. »What is wrong with social theory?«. In: American Sociological Review, 18: 3-10.
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Sehnsuchtsstadt statt Landlust Wie postindustrielle Sehnsuchtsorte des Selbermachens und der Naturbegegnung neue Bilder von Urbanität entwerfen Christa Müller
»Vergesst die Großstadt!«, ruft der in Berlin lebende amerikanische Journalist Ralph Martin den Lesern der FAZ zu. Junge Amerikaner würden gerade in Scharen hippe Viertel wie Brooklyn verlassen, zögen in Kleinstädte und erfänden dort die »Country Cool-Bohème«. Den Deutschen dagegen fiele nichts Besseres ein, als immer nur seltsame Zeitschriften wie »Landlust« zu lesen (FAZ, 20.1.2013). In der Tat ist die exorbitant hohe Auflage des genannten Magazins beunruhigend. In ihm wird Ausgabe für Ausgabe ein Landleben idyllisiert, das mit der industriellen Intensivlandwirtschaft ungefähr so viel zu tun hat wie eine Drohne mit gewaltfreier Kommunikation. Geschlüpfte Küken picken nicht unbehelligt die ersten Körner in der Sonne, sondern werden, sofern sie das »falsche« Geschlecht haben, täglich auf Fließbändern zum Schreddern transportiert. Vom erbarmungslosen Umgang mit »Nutztieren« soll hier nun aber nicht weiter die Rede sein. Sehr wohl jedoch von Tieren, die die Stadt als Lebensraum wiederentdecken. In Scharen wandern seit geraumer Zeit Wildtiere vom Land in die urbanen Räume. Dort finden sie bessere Lebensbedingungen vor als in den industriell ausgeräumten und überdüngten Monokulturen auf dem Land. Die Artenvielfalt in Großstädten ist inzwischen erheblich größer als in den Kulturlandschaften (vgl. Reichholf 2007). So leben in Berlin die meisten Nachtigallen deutschlandweit, und in München gibt es fast so viele verschiedene Schmetterlinge wie in Naturschutzgebieten, wie die FAZ betont. Die Zeitung kommentiert die Landflucht der Tiere so: »Die Natur erobert sich den Stadtraum zurück, sie will auf dem Land nicht mehr bleiben.« (FAZ, 16.8.2007) Ob Tiere Sehnsüchte haben, können wir nicht wissen. Sie, ebenso wie Pflanzen, um uns zu wissen, ist jedoch Teil einer tiefgehenden menschlichen Sehnsucht. Für den Biologen und Philosophen Andreas Weber, der für eine
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neue Richtung in den Lebenswissenschaften steht, bedeutet der Verlust der Natur im Alltag von Stadtmenschen ebenso wie der Verlust der Artenvielfalt – weit mehr als eine klimatische Katastrophe: Dem Menschen droht ein emotionaler Verlust, der die Grundstruktur seines Wesens angreift […]. Weil alle unsere Eigenschaften, auch die ›menschlichsten‹, letztlich aus einem organischen Boden wachsen, kann sich der Mensch nur dann ganz verstehen, wenn er sich – als Kulturwesen – innerhalb der Natur versteht. Für den Menschen liegt das größte Risiko der Umweltzerstörung darin, dieses Verständnis zu verschütten. (Weber 2008: 18f.)
In dieser Erkenntnis ist sich Weber einig mit der Kuratorin der documenta (13) – die definitiv mein Sehnsuchtsort des Sommers 2012 war. In Kassel wurde in einem umfassenden Sinne die Gestaltung unserer Lebensräume verhandelt, die inneren, aber auch die äußeren, die Städte, die Naturräume, die Welt. Carolyn Christov-Bakargiev wollte das neuzeitliche Weltbild, in dem sich der Mensch zur dominierenden Figur im Mensch-Natur-Verhältnis aufgeschwungen hat, zur Disposition stellen und für eine respektvolle Perspektive auf andere Formen des Seins und die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten plädieren. Sie setzte dabei einen auffallend deutlichen Schwerpunkt auf agrikulturell inspirierte Installationen; ebenso wie auf die politische Bedeutung von Subsistenz. Einer der verwunschensten Orte der documenta entstand durch die Arbeit des Franzosen Pierre Huyghes mit dem Titel »Untilled«, zu Deutsch »unbebaut«. Er schuf Komposthügel, legte Brennnesselpopulationen an, schaffte einen großen Haufen anthrazitfarbenen Splitts in eine verwilderte Fläche in der Aue und verlieh ihr damit eine Crossover-Stimmung zwischen verwildert, ästhetisch und postindustriell. Der Kopf einer liegenden Frauenskulptur fungierte als Bienenstock und wurde unablässig von Bienenschwärmen umflogen. Ganz oben auf dem Splitthaufen thronte zuweilen »Human«, der Hund mit der rosafarbenen Pfote, der dieses Habitat mit einem kleinen braunen Welpen namens Señor und einem meist auf einer Bank schlafenden Menschen teilte. Alle im postindustriellen Refugium kooperierten miteinander; der Mensch fütterte den Hund, die Bienen bestäubten die psychedelisch wirkenden Pflanzen, und die wiederum boten allen Anwesenden ein temporäres Zuhause.
1. L EBENSFREUNDLICHE I NSTALL ATIONEN Wer schon einmal die Installation eines aus Upcycling-Materialien aufgebauten urbanen Gemeinschaftsgartens gesehen hat, fühlt sich von Atmosphäre und Titel der documenta-Installation unweigerlich erinnert. Auch die tatkräftig und kooperativ von vielen geschaffenen Orte des Selbermachens, des selber
Christa Müller | Sehnsuchtsstadt statt Landlust
Anbauens, des Urban Upcyling und der Naturbegegnung auf städtischen Brachen entstehen durch inszenierte Kooperationsformen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen (vgl. Baier/Müller/Werner 2013). Vor dem Hintergrund dieser neuen Praxen sind Sehnsuchtsstädte für mich die Orte, die Menschen und nicht-menschlichen Wesen lebensfreundliche Räume und Umgebungen bieten, die Mitgestaltung, Zugang und Teilhabe ermöglichen. Sehnsuchtsstädte sind insbesondere für Menschen, gleich welcher Herkunft, Orte, in denen sie sich gespiegelt sehen und beheimaten können; und zwar in den Arrangements und Settings, die sie selber bauen und räumlich anordnen. Sehnsuchtsstädte sind keineswegs ferne Utopie. Sie entstehen aktuell in vielen Nischen der Urbanitas. Die Laboratorien der Stadtgesellschaft haben ihre Arbeit aufgenommen. Experimentiert wird mit kollaborativen Formen des Arbeitens und Konsumierens, mit Teilen und Tauschen von Wissen, Dingen, Ideen, der Aneignung von handwerklichen Fähigkeiten, der Öffnung von Design und Schaltplänen, dem Hacken von Waren und von Räumen, der Wiederentdeckung der Commons (vgl. Baier/Müller/Werner 2013).
Abbildung 1: NeuLand Köln (Foto: Stefano Chiolo).
Die neuen Formen des gemeinschaftlichen Gärtnerns sind dabei sicher eine der augenscheinlichsten und komplexesten Formen. Wenn mitten in der Stadt auf Brachflächen oder Parkgaragendächern Gemüse angebaut wird, ist das nicht nur ein unerwartetes, sondern auch ein in vielfältiger Hinsicht sprechendes Ereignis. Galt der Gemüsegarten bis vor Kurzem noch – besonders
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in den Großstädten – als anachronistisches Relikt längst vergangener Zeiten, machen heute die Jungbauern aus Kreuzberg, St. Pauli und Schwabing Furore und kann man die von der Gartenarbeit mitgenommenen Fingernägel getrost wieder in die (allerorten bereitstehenden) Kameras halten. Das ist zeitdiagnostisch insofern eine bemerkenswerte Beobachtung, als es im Verlauf des Modernisierungsprozesses der letzten 50/60 Jahre, zumal in den ländlichen Regionen, zum unverzichtbaren Statussymbol gehörte, den Misthaufen, einst das »Gold des Bauern«, vor der Hoftür verschwinden zu lassen, die Gärten zu betonieren, großes Gerät aufzufahren und demonstrativ zu zeigen, dass man in der Lage war, die Dinge zu kaufen statt selberzumachen (vgl. Müller 1998). Die Distinktionspraxen des demonstrativen Konsums (vgl. Veblen 2007) waren auch Ausdruck davon, dass man Anschluss an den städtischen Lebensstil suchte. Besonders ausgeprägt war die Verachtung für die Provinz in Frankreich; wer etwas werden wollte, befreite sich vom Geruch des Provinziellen und zog nach Paris: »monter à Paris« heißt bis heute das geflügelte Wort. Aber selbst im zentralistischen Frankreich dreht sich der Wind, aktuell wird eine neue Lust am Landleben verbunden mit einer wachsenden Stadtflucht in den gutsituierten Teilen der Mittelschichten vieler westeuropäischer Länder vermeldet. Wesentlich instruktiver als die neue Hinwendung zum Landleben sind jedoch parallel dazu stattfindende Bewegungen, in der ländliche und urbane Lebensstile ineinander und in ein neues Ganzes verschmelzen, wie es sich z.B. im Urban Gardening zeigt (vgl. Müller 2011). Hier geht es nicht um eine verklärende Romantisierung des Landes vom sicheren Hafen der Stadt aus, hier geht es vielmehr um die Sehnsucht nach einer Stadt, die das Land nicht ausbeutet und vergiftet, sondern die es wertschätzt und mit ihm kooperiert, einer Stadt auch, die facettenreicher erlebt werden will und die als pluraler Lebensraum inszeniert wird, und zwar jenseits von Investorenkonzepten und auch jenseits postfordistischer Verwaltungskonstrukte. Was wir hier beobachten, ist eine Verschiebung der Statussymbolik hin zu postmateriellen Werten. Selbermachen, selber anbauen, das bedeutet nicht nur weniger fremdbestimmt zu konsumieren, sondern zugleich auch ein reflektiertes Verhältnis zu vorgefertigten Industrieprodukten wie zur verregelten und durchgeplanten Stadt zu artikulieren, in der fast jede Fläche schon definiert ist. Die Generation Garten schafft ihre eigenen Landschaften, meist an der offiziellen Stadtplanung vorbei. Nachdem seit Mitte der 1990er Jahre die ersten Interkulturellen Gärten, Kiezgärten, Selbsterntegärten und Nachbarschaftsgärten entstanden waren, trat 2009 mit dem Prinzessinnengarten (vgl. Nomadisch Grün 2012) eine auf mobilen und nomadischen Anbau setzende Freiflächenbespielung auf die städtische Bühne. Bald folgten aus Europaletten, Gummireifen, Industrie-
Christa Müller | Sehnsuchtsstadt statt Landlust
planen und Bäckerkisten erbaute Gemeinschaftsgärten auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, auf einem Hamburger Parkgaragendach, auf dem Gelände einer ehemaligen Kölner Brauerei oder auf Zwischennutzungsflächen in Leipzig und München. Die Bricolage aus Transportmitteln, Kisten, Stauden, Brettern, Gehölzen, Tüten, Kübeln und Fässern an all diesen neuen Orten formuliert sehr bewusst ins Bild gesetzte Kommentare auf die sich verabschiedende Epoche der Industriemoderne. Industriemoderne, das bedeutete in den letzten fünf Jahrzehnten eine Optimierung der Naturbeherrschung, die Neustrukturierung der internationalen Arbeitsteilung und die Intensivierung des industriellen Massenkonsums in einem räumlich und zeitlich entgrenzten globalen Kontext. Zeitdiagnostiker belegen die postfordistischen Ausprägungen der Industrie- und Konsumgesellschaft mit Begriffen wie »Dienstleistungsgesellschaft«, »Wissensgesellschaft« oder »Freizeitgesellschaft«. Antworten auf die Frage, woher die Nahrungsmittel und die Ressourcen für den Massenkonsum kommen und zukünftig kommen sollen sowie den Blick auf die zahllosen Verwerfungen dieser Wirtschafts- und Lebensform überließ man über lange Zeit randständigen Diskursen wie dem der Nachhaltigkeit. Genau diese essentiellen Fragen werden heute auf eine bislang unbekannt pragmatische Weise von der urbanen Gartenbewegung aufgegriffen. Es sind gleich mehrere Phänomene, die mit der Bodenständigkeit des Gärtnerns bis dato noch nie in Verbindung gebracht wurden: erstens die eigenwillige Entnahme von ausgedienten Materialien aus dem Alltagsleben der umgebenden Stadt, die umgedeutet werden. Upcycling, das bedeutet, Dinge wieder in Wert zu setzen, die gemäß der industriellen Logik verbraucht und wertlos sind, und zwar ohne dass Geld fließt. Zweitens ist die Bezugnahme auf Guerilla-Taktiken zu erwähnen. Mal bepflanzt man ohne Erlaubnis brachliegende Flächen oder Baumscheiben, mal wirft man Saatbomben in unwirtliches Gelände. Guerilla Gardening trägt dazu bei, gewohnte Blicke zu durchkreuzen und Gewohnheiten in der Wahrnehmung zu irritieren. Und genau damit öffnet sich der Blick auf die Stadt neu, sieht man eine Stadt, in der mitgestaltet und mitbestimmt werden kann. Mitbestimmung wird jedoch nicht, wie in den Vorgängergenerationen, lautstark oder durch offensive Parolen gefordert; die politischen Diskurse laufen nach dem dramatischen Scheitern der Großentwürfe von Gesellschaft nicht mehr über »große Erzählungen«, sie setzen nicht mehr auf die Macht des Wortes, sondern vielmehr auf die Kraft der Zeichen, die geschickt gesetzt werden (vgl. Baier/Müller/Werner 2013).
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Abbildung 2: Installation der Rausfrauen (Foto: Die Rausfrauen).
Ein drittes Phänomen ist das Hacken und die Umdeutung von Orten: Brachflächen, Parkgaragendächer und andere vernachlässigte Orte werden in eigener Regie in grüne, lebensfreundliche Umgebungen verwandelt. Dabei kommt dem Lebensmittelanbau eine besondere Bedeutung zu. Er dient auch dazu, die industrielle Nahrungsmittelproduktion und ihre Handelsketten zu hinterfragen, zu verändern, zu kapern. Das Lernen darüber, wie Nahrungsmittel wachsen, welche Umgebungen und Zutaten sie benötigen, wie sie verarbeitet werden können, ist Teil von Selbstermächtigung. Hier begegnet man grundlegenden Fragen, z.B. der, wem eigentlich der Boden gehört und welchen Vorstellungen von Teilhabe und Wohlstand er in Zukunft dienen soll. Das vierte Phänomen ist die Betonung der Mobilität; der Anbau ist nomadisch, man hält sich die Option offen, mit den Kisten und Behältnissen umzuziehen und andere Orte zu begrünen. Die Umzüge erfolgen allerdings nicht immer freiwillig. Der Berliner Nachbarschaftsgarten »Rosa Rose« wurde 2009 als ehemals besetzte Fläche zwangsgeräumt, um Platz für den Bau eines Wohnhauses zu machen. Aber immerhin geriet der Auszug zur Demonstration für eine nachhaltige Stadtentwicklung von unten, als die Pflanzen zum Überwintern auf »Asylbeete« der vernetzten Berliner Gartenszene gebracht wurden. Die Umzugsparade von Rosa Rose, bei der blumengeschmückte Menschen Gemüsepflanzen, Büsche und Obstbäume auf selbstgebauten Lastenfahrrädern durch Berlin transportierten, war kein unspektakulärer Rückzug; vielmehr wurde der Pflanzentransport zur Inszenierung, zum großen Auftritt gewendet (vgl. Werner 2011: 65). Nicht zuletzt an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr sich die neue urbane Gartenbewegung von ihrem Vorgänger, der
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Kleingartenbewegung, unterscheidet. Sie ist hochgradig performativ, und sie ist auf neue Weise politisch, wie noch zu zeigen sein wird. Ein fünftes Phänomen ist die Kodierung des Sozialen in den neuen Stadthabitaten. Urbane Gemeinschaftsgärten sind radikal inklusiv, man will über die pluralen baulichen Settings eine möglichst breite Vielfalt von Menschen ansprechen und auch zusammenbringen. Viele Projekte verstehen sich explizit als Lern- und Bildungsräume, die von Dilettanten bevölkert werden. Man widmet sich gemeinsam den Dingen und bringt sich gegenseitig etwas bei. Das im Internet vielfach praktizierte Teilen von Kenntnissen migriert in die analogen Räume und wird zur Voraussetzung und Grundlage dafür, sich einander zuzuwenden. Aber nicht unbedingt, um zu sprechen: Die Beteiligten wollen miteinander tätig werden, einen Ort kreieren, verändern, aufbrechen, entmystifizieren, neu aufstellen. Ein sechstes Phänomen, das für die Neuartigkeit des Urban Gardening steht: Die Projekte entstehen bewusst als Hybridräume. Die Akteure mixen unbekümmert großstädtische mit kleinbäuerlichen Ästhetiken. Da steht die Kräuterspirale aus der Permakultur neben Beeteanordnungen aus der Tradition des mitteleuropäischen Bauerngartens und zusammengezimmerten Europalettenbeeten, Tresen aus ausgedienten Bügelbrettern und VerticalFarming-Elemente aus leeren Plastikflaschen finden sich zwischen Kartoffelpflanzen in Reissäcken und Petersilie in Tetrapacks. Wie bei der Landart, wo temporäre Kunstwerke in der sich verändernden Natur entstehen und wieder vergehen, nimmt man hier einen gewissen künstlerischen Kontrollverlust in Kauf. Der aber ist gewollt, weil man den Raum offen lassen will für Formen des Kuratierens, an denen sich alle beteiligen sollen. Nicht zuletzt wegen dieser bewusst produzierten Irritationen und Reibungen belegt die Gartenbewegung derzeit einen Spitzenplatz in der Aufmerksamkeitsökonomie. Das Themenfeld Gärtnern und Subsistenz, jahrzehntelang belegt mit Knappheitsdiskursen und dualistischen Modernisierungsvorstellungen, wird komplett relaunched. Das Bildarchiv der Moderne wird erweitert um genau die Subsistenztätigkeiten, die in den letzten Jahrzehnten schwer belastet waren mit Vorstellungen von Armut und Rückständigkeit und ein tristes Dasein auf den Hinterbühnen des Fortschritts fristeten. Aber es geht um mehr als nur um Sichtbarmachung. Die Akteure der Doit-Yourself-Bewegung, von denen das Urban Gardening ein wichtiger Bestandteil ist, scheinen zu ahnen: Die einzige Chance, dem Kapitalismus die eigene Lebendigkeit und die lebendigen Zusammenhänge des eigenen Daseins vorzuenthalten, ist, Subsistenzräume zu schaffen oder zu schützen, sie der ökonomischen Verwertungslogik, die alles in Ware verwandelt, zu entziehen. Die Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit, nach Natur und nach nicht vom kapitalistischen Markt bestimmten kollaborativen Formen des miteinander Tätigseins lässt sich nur dann erfüllen, wenn man eine zentrale Rolle verlässt: die des
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Konsumenten, und sich in einer Folge von performativen Akten selbst ermächtigt, die Dinge des Lebens wieder in die eigenen Hände zu nehmen.
2. S EHNSUCHT NACH MARK TFREIEN R ÄUMEN Das ist der Hintergrund, auf dem sich über das Selbermachen auch ein neues Politikverständnis formt. Die Kulturwissenschaftler Mörtenböck und Mooshammer zeigen in ihrem Buch Occupy. Räume des Protests, dass die OccupyBewegung sich primär durch Verräumlichung artikuliert; sie wird gelesen als räumliche Aufführung einer Besetzung und zugleich als die Suche nach alternativen Formen des Zusammenlebens im Camp selbst (vgl. Mörtenböck/ Mooshammer 2012: 8). Die Protestbewegung weist einige signifikante Schnittstellen zur UrbanGardening-Bewegung auf, zuvorderst zu nennen sind die Metapher des nomadischen Camps, der Fokus auf Bildung und gemeinsames Lernen, auf Kooperation, auf Selbstversorgung und Selbermachen, auf das strategische Zusammenspiel von Online und Onsite (Mörtenböck/Mooshammer sprechen von punktuellen »Versammlungslogiken«; ebd.: 93), auf die Architektur des Protests als künstlerisches Werk (siehe die Gartenumzugsparade von Rosa Rose) und nicht zuletzt auf die Bezugnahme auf den öffentlichen Raum als Form von Allmende, der kooperativ »bewirtschaftet« wird. Eine weitere Schnittstelle beider Bewegungen liegt in eben dieser Praxis der Verräumlichung. Raum in Anspruch zu nehmen und dort produktive Orte der Stadtnatur zu bauen und zu bespielen, bedeutet immer zwei Dinge zugleich: auf Missstände hinzuweisen und schon im selben Moment und direkt vor Ort Alternativen zu praktizieren. Gleich, ob es um Themen wie Land Grabbing, Stadtökologie, Exklusion, Nachbarschaft, lokalen Wissenstransfer oder interkulturellen Austausch geht: Der Gemeinschaftsgarten ist Transmitter, Beschleuniger, Medium und Plattform zugleich. Man sät, erntet, kocht, reproduziert Saatgut, hält Bienen und Hühner, lädt die Nachbarschaft ein, bringt Menschen verschiedenster Herkünfte zusammen. Und mit jeder dieser Handlungen gibt man ein Statement ab: Eine saisonale Ernährung erfordert Anstrengung, aber sie bietet auch Erfahrungen im kulinarischen Neuland. Im Baumarkt gibt es günstiges Hybridsaatgut, aber der Gebrauch von alten Sorten verleiht Autonomiegefühle und verbindet die eigene Praxis mit Kleinbauernprotesten im globalen Süden. Urbane Lebenswelten sind anonym und eine tiefe Begegnung von Fremden höchst unwahrscheinlich, aber sie kann, vorausgesetzt man inszeniert den richtigen Rahmen, stattfinden; z.B. wenn eine Asylbewerberin aus dem Irak Berliner Hipstern den Anbau von Bio-Paprika erläutert. Die neue Gartenbewegung gärtnert nicht nur, um sich mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen und schöne Orte für alle zu öffnen. Sie tut es auch,
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um sich einen überzeugenden und »geerdeten« Standpunkt aufzubauen, von dem aus sie aus einer entschieden praxisgesättigten Ebene mitreden kann bei Themen wie Lebensmittelproduktion, bäuerliche Landwirtschaft, Biodiversität, Regionalisierung der Nahrungsmittelproduktion und Welternährung. Die urbanen Gärtnerinnen und Gärtner erproben dabei Alternativen zu Konsumangeboten wie Gemüse, das in wasserarmen Weltregionen saisonunabhängig unter Folie gezogen wird, oder zum Sojaanbau für die Schweinemast, für den Urwälder gerodet und Kleinbauern vertrieben werden. Sie testen lokale und saisonale Alternativen zu globalen Verwerfungen, und sie wissen, dass Bilder von 16 verschiedenen regional angepassten Kartoffelsorten sofort auch den Blick auf das dürftige Sortenangebot in den Supermärkten lenken. Mörtenböck und Mooshammer schreiben, dass der Protest von Occupy ein »Symptom tektonischer Verschiebungen im weltweiten sozioökonomischen Gefüge« sei. Die Autoren versuchen die Bewegung nicht anhand ihrer ohnehin kaum vorhandenen Parolen oder Forderungen zu entschlüsseln, sondern anhand der Räume und Bilder, die sie schaffen: Zeltlager, Volksküchen und Universitäten als globale Dörfer der Bewegung, Besetzungen von öffentlichen Räumen wie Parks, Plätzen und anderen Freiräumen, Blockaden, Kunst, Versammlungen. Raum, so schreiben die Autoren, »agiert in diesem Prozess als ein Produktionsmechanismus der symbolischen Sphäre von Politik« (ebd.: 19). Geradezu aus einer anderen Welt klingt gegenüber einer solchen Analyse die Anmerkung eines omnipräsenten Kommentators des deutschen Fernsehens. Peter Scholl-Latour sagte in einer ARD-Talkshow (6.6.2012): »Um eine Revolution zu machen, muss man Schläger und Ganoven haben, und nicht diese idealistischen jungen Leute, die Freunde haben. Auf Facebook.« Dem Desperado des Embedded Journalism fehlt in der Tat jedes Verständnis für die subtile New School des Politischen.
3. N ATUR -K ULTUR -K ONTINUUM In den Räumen des Selbermachens mit ihren gemeinschaftlichen sozialen Praxen werden Bilder von einer Gesellschaft neuen Typs geschaffen und ein anderes Verständnis von Stadt und Urbanität transportiert. In diesem Verständnis ist die Stadt ein Raum, in dem Natur nicht länger als Konterpunkt zur bebauten Fläche fungiert. Die Gartenaktivisten schaffen Freiräume genau dort, wo sie leben. Städtische Natur wird so mehr und mehr zu einem Ort, an dem zentrale Leitunterscheidungen der Moderne kollabieren. Beim Urban Gardening geht es mehr oder weniger explizit darum, die Trennungen und Schnitte, die die erste Moderne auszeichneten, aufzuheben. Seit der Neuzeit bestimmt die Unterscheidung von Natur und Kultur die westliche Wahrnehmung der Welt (vgl. Descola 2011). Die damit einhergehen-
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de anthropozentrische Kategorisierung von nicht-menschlichen Wesen als »unpersönlich« und für menschliche Zwecke ausbeutbar zeitigt weitreichende Folgen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft hätte ohne diese Klassifizierung nicht vonstatten gehen können. In den urbanen Gärten wird sie höchst produktiv unterlaufen: durch den liebevollen Bau von Insektenhotels, das umsichtige Anlegen von Bienenweiden, die engagierte Debatte über artgerechte Hühnerhaltung in der Stadt. All diese harmlos wirkenden Praxen sind der Versuch, Dinge wieder zusammenzubringen, die zuvor getrennt wurden: Produktion von Konsum, Stadt von Land, Kultur von Natur. Sie sind Sehnsuchtspraxen, die von dem Verlangen nach Verbundenheit zeugen und von der Sehnsucht, sich mit sich und der Welt wieder neu zu verbinden. Offenkundig »weiß« eine neue Generation, dass sich der Realisierung dieses Wunsches nur näher kommen lässt, wenn man aufhört, weiterhin die Ratio zu verabsolutieren und stattdessen Erfahrungsräume schafft, die allen Sinneswahrnehmungen ihre Erkenntnisfähigkeit zugestehen. Michel Serres beschreibt in »Die fünf Sinne« die Armut einer Welt, in der Verstehen nur über die Sprache und den Diskurs vorgesehen ist, die uns Halsbänder anlegt und »Hasen und Ziegen ausschließt« und die in letzter Konsequenz dazu führt, dass sich die Sinne in einen »schwarzen Kasten« zurückzogen. Mit paradox erscheinenden und weitreichenden Folgen: »Nie werden wir nach etwas anderem verlangen als danach, dass er sich wieder öffne.« (Serres 1993: 69) Ist es heute soweit? Die documenta (13) mit ihrer Programmatik »Collapse and Recovery«, also Zusammenbruch und Heilung, ist womöglich, wie alle Kunst, ein Seismograph für gesellschaftlichen Wandel. Die Fahnen der Hoffnung sind gehisst, nicht nur auf dem Tempelhofer Feld.
Abbildung 3: Allmende-Kontor, Berlin (Foto: Kerstin Stelmacher).
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B IBLIOGR APHIE Baier, Andrea/Müller, Christa/Werner, Karin. 2013. Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld: transcript. Descola, Philippe. 2011. Jenseits von Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge. 2012. Occupy. Räume des Protests. Bielefeld: transcript. Müller, Christa (Hg.). 2011. Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München: oekom. Müller, Christa. 1998. Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf. Bäuerliche Überlebensstrategien zwischen Weltmarktintegration und Regionalisierung. Frankfurt/New York: Campus. Nomadisch Grün (Hg.). 2012. Prinzessinnengärten. Anders gärtnern in der Stadt. Köln: DuMont. Reichholf, Josef H. 2007. Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. München: oekom. Serres, Michel. 1993. Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Veblen, Thorstein. 2007. Theorie der feinen Leute: eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a.M.: Fischer. Weber, Andreas. 2008. Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin: BvT. Werner, Karin. 2011. »Eigensinnige Beheimatungen. Gemeinschaftsgärten als Orte des Widerstandes gegen die neoliberale Ordnung«. In: Müller, Christa (Hg.), Urban Gardening, 54-75.
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Der Prinzessinnengarten Berlin Nicht Sehnsucht nach dem Land, sondern Sehnsucht nach einer anderen Stadt Marco Clausen Der urbane Garten »Prinzessinnengarten« am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg ist ein Lern- und Begegnungsort. Praktisches Gärtnern, Lernen und Lehren – mit viel Engagement beleben Menschen verschiedenster Hintergründe diesen für alle offenen Garten und setzen sich mit sozialen, ökologischen und politischen Fragen auseinander.
Abbildung 1: Prinzessinnengarten.
Hält man sich an einem Frühsommertag am Moritzplatz in Berlin Kreuzberg auf, dann kann es einem passieren, dass man Zeuge eines bewegenden Schauspiels wird. 10.000 und mehr Bienen sammeln sich in einem Schwarm über dem Platz. Der Anblick überrascht, ist der Platz doch eigentlich das, was man als einen »Unort« bezeichnen könnte. Ein Transitraum, beherrscht von einem
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vielbefahrenen Kreisverkehr. Die Antwort auf die Frage, was die Bienen hierher verschlagen hat, verbirgt sich hinter einem mit Hopfen bewachsenen Bauzaun. Tritt man durch ein Tor, findet man sich unerwartet in einem urbanen Garten wieder. Hier begegnen sich die unterschiedlichsten Menschen, arbeiten und lernen gemeinsam. Mehrere Bienenvölker sorgen für die Bestäubung des lokal angebauten Gemüses. 500 verschiedene Nutzpflanzen wachsen in transportablen Hochbeeten. Frisch geerntet werden Kräuter und Gemüse direkt in einem Gartenrestaurant verarbeitet, das sich in einem umgebauten Überseecontainer befindet.
1. E NGAGEMENT UND L EIDENSCHAF T Seine Existenz verdankt der Prinzessinnengarten dem Engagement von unzähligen Nachbarinnen und Nachbarn, Interessierten, Freundinnen und Freunden. Sie haben im Verlauf von drei Sommern mit ihrer Arbeit, ihrer Leidenschaft, ihren vielfältigen Fähigkeiten und ihren Ideen an dieser zuvor vergessenen, zugewucherten und zugemüllten Fläche eine neue Form von urbanem Grün geschaffen. Keiner von ihnen besitzt ein eigenes Beet. Alle arbeiten gemeinsam daran, diesen für jede und jeden zugänglichen Garten aufzubauen und zu erhalten. Auf diese Art ist ein Ort des sozialen Zusammentreffens und ein Ort des informellen und erfahrungsbasierten Lernens entstanden. Um den selbstorganisierten Garten, der ohne jede Förderung aufgebaut wurde, auch wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten, haben wir ein gemeinnütziges Unternehmen namens Nomadisch Grün gegründet. Einnahmen erzielen wir unter anderem durch die Gartengastronomie oder den Aufbau von weiteren Gärten, etwa an Schulen oder Universitäten.
2. Ö KOLOGISCH - SOZIALE G ÄRTEN IN DER S TADT — KEIN E INZELPHÄNOMEN Dabei ist der Prinzessinnengarten keineswegs eine singuläre Erscheinung. Wir bekommen viele Mails und häufig auch Besuch von Menschen und Initiativen, die in anderen Metropolen der Welt damit beginnen, selbstorganisierte und produktive Formen urbanen Grüns zu kultivieren. Dabei geht es den vielfältigen Akteurinnen und Akteuren neben dem Aspekt der Selbstversorgung auch um eine Reihe weiterer Motive, zu denen Nachbarschaftsaktivierung, Reduzierung von Transportwegen, Selbsthilfe in zerbrechlichen Quartieren, Bildung für nachhaltige Entwicklung oder neue Formen urbanen Zusammenlebens zählen. Sichtbar wird an diesen Orten auch eine andere Vision von Stadt:
Marco Clausen | Der Prinzessinnengar ten Berlin
kleinteilig, nachbarschaftsorientiert, eingebettet in lokale wirtschaftliche und kommunikative Kreisläufe.
Abbildung 2: Prinzessinnengarten.
In ihrer praktischen Tätigkeit greift diese neue Gartenbewegung Themen wie Biodiversität, gesunde Ernährung, Recycling, Umweltgerechtigkeit, Klimawandel oder Ernährungssouveränität auf. Praktisch demonstrieren urbane Gärten einen ökologisch und sozial anderen Umgang mit städtischen Räumen und ihren Bewohnern, leisten ein empowerment sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen und sind Orte, an denen die Möglichkeiten für lokale Mikroökonomien und andere Wohlstandsmodelle ausprobiert werden. Auf eine unaufdringliche und pragmatische Art wird in solchen Gärten die Frage aufgeworfen, wie wir in Zukunft in den Städten leben, wie wir uns ernähren und wie wir lernen wollen.
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Mit Spaten, Pflanzen und Visionen Die globale und lokale Guerilla-Gardening-Bewegung Patrick Huhn
Immer öfter werden brachliegende Flächen auch in Deutschlands Städten illegal bepflanzt und gepflegt. Die Gärtner sind Anhänger der globalen Guerilla-Gardening-Bewegung und verzichten für die Erreichung ihrer Ziele auf jegliche Abstimmung mit Eigentümern und zuständigen Behörden. Die Guerilla-Gärtner handeln hierbei aus einer Sehnsucht heraus und übertreten für die Erfüllung derselben Grenzen und Gesetze. Somit stellt auch Guerilla Gardening eine Praktik für Sehnsüchte nach einem eigenen Garten, einem schöneren Umfeld, nach Selbstversorgung oder dem Bestreben, sich an seinem Wohnort zu erden, dar.
Abbildung 1: Guerilla-Gärtner bei der Arbeit (Quelle: eigene Fotografie).
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1. W AS IST G UERILL A G ARDENING ? Es gibt keine allgemeingültige Definition von Guerilla Gardening. Der Grund für den Mangel einer solchen Erklärung ist, dass Guerilla Gardening eine Graswurzelbewegung ist. Entsprechend fallen viele Variationen dieser Art des Gärtnerns unter einen Begriff. Jeder Gärtner hat seine eigenen Vorstellungen über Guerilla Gardening. Zudem gibt es Guerilla-Gärtner, denen nicht bewusst ist, dass sie Teil einer Bewegung sind (vgl. Akkordeon 04.11.2010). Dies macht eine Abgrenzung zu anderen Formen des Gärtnerns schwer. Eine erste Annäherung an den Begriff kann über die Zerlegung in die einzelnen Bestandteile erfolgen. Der Begriff setzt sich aus den beiden Wörtern Guerilla bzw. in der spanischen Schreibweise Guerrilla und dem englischen Wort Gardening zusammen. Guerrilla ist das Diminutiv von guerra, spanisch, Krieg (vgl. Anonymus 2006a: 565) und bedeutet Kleinkrieg (vgl. Anonymus 1994: 538). Der Begriff wird seit den spanischen Befreiungskämpfen gegen die Fremdherrschaft der Franzosen Anfang des 19. Jahrhunderts verwendet »für bewaffnete Erhebungen gegen Fremd- oder Gewaltherrschaft mit nat., nationalrevolutionärer, sozialrevolutionärer oder sozialist. Zielsetzung« (Anonymus 2006a: 565). Zudem werden die Einheit und die Mitglieder dieser Einheit als Guerilla bezeichnet, wobei die völkerrechtlich korrekte Bezeichnung für die Kämpfer Guerilleros ist. Als Guerillakrieg werden Kampfhandlungen bezeichnet, die von bewaffneten Kämpfern, die nicht Teil einer organisierten Armee sind, in einem vom Feind besetzten Gebiet verübt werden. Diese beweglichen Einheiten kämpfen verstreut und nutzen dabei »die Methoden des Überraschungsangriffes, des Hinterhalts und der Sabotage« (ebd.). Gardening bedeutet auf Deutsch Gartenarbeit und bezeichnet die Arbeit und Aufgaben, die in einem Garten anfallen (vgl. Anonymus 2007: 637). Die Entstehung des Begriffs Guerilla Gardening kann heute nicht mehr genau rekonstruiert werden. Vermutlich geht er aber auf eine Gruppe aus New York in den 1970er Jahren zurück, die sich um die Künstlerin Liz Christy sammelte. Christy selbst gab der Gruppe den Namen Green Guerillas (vgl. Reynolds 2009: 78). Der Begriff Guerilla Gardening tritt weltweit verstärkt seit dem Jahr 2000 auf. In den Medien wird der Begriff nennenswert erstmals im Zusammenhang mit einer Protestaktion zum Maifeiertag 20001 in London 1 | Anlässlich des Maifeiertages wurde im Jahr 2000 in London durch eine Gruppe radikaler Umweltschützer eine Aktion unter dem Namen Guerilla Gardening organisiert. Hierbei wurde eine Fahrraddemonstration veranstaltet, die am Parliament Square endete. Dort wurde der Rasen in der Mitte des Platzes entfernt und durch Apfelbäume, Kräuter, Stangenbohnen und einige Hanfsamen ersetzt. Es wurden weiterhin ein kleiner Teich angelegt und Gartenzwerge aufgestellt. Nach der Aktion blieb eine Matschlandschaft zurück, die nichts mit dem eigentlichen Sinn von Guerilla Gardening zu tun hatte.
Patrick Huhn | Mit Spaten, Pflanzen und Visionen
erwähnt. Diese Aktion wurde von ihren Initiatoren als Guerilla Gardening bezeichnet (ebd.: 83). Von diesem Zeitpunkt an gewann der Begriff immer mehr an Bedeutung. Seit 2004 wird der Begriff durch Richard Reynolds2 offensiv verbreitet.
Abbildung 2: Richard Reynolds (Quelle: Website Chicago Botanic Garden).
Im Oktober dieses Jahres registrierte Reynolds nach seinen ersten Erfahrungen als Wildgärtner einen Blog unter der URL www.guerrillagardening.org (vgl. Reynolds 2009: 85ff.). Reynolds ist als Werbeberater tätig und übertrug den ihm beruflich geläufigen Begriff Guerrilla Advertisement auf seine ungewöhnlichen Aktivitäten. In seinem Verständnis vermittelte der Zusatz Guerrilla lediglich einen Anklang von Illegalität und Überraschung (vgl. Jahnke 2010: 48f.). Somit ist die Bedeutung des Wortes Guerilla in Guerilla Gardening eine andere als im eben skizzierten kriegerischen Sinne. Dennoch wird in Deutschland Dies war zwar die bislang aufsehenerregendste Aktion, aber die Guerilla-GardeningBewegung hat durch die Folgen an Sympathie verloren (vgl. Reynolds 2009: 83f.). 2 | Reynolds ist einer der zentralen Aktivisten des Guerilla Gardening. Er ist Autor von ›Guerilla Gardening – Ein botanisches Manifest‹ (2009).
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oftmals in dem Begriff Guerilla ein kriegerischer Ansatz gesehen (vgl. Jahnke 2010: 76; Heim 13.11.2010). Der Begriff könnte mit der Roten Armee Fraktion assoziiert werden, die sich als Stadtguerilla bezeichnete (vgl. Reynolds 2009: 18). Um den Begriff Guerilla zu vermeiden, wird auch von GartenPiraten und Wildgärtnern gesprochen (vgl. Website Grüne Welle 1; Website Anarchopedia). Allerdings stößt auch der Begriff GartenPiraten aufgrund der jüngsten Fälle von Piraterie vor der somalischen Küste immer öfter auf Ablehnung. Dennoch wird durch die Wahl eines anderen Namens für die Bewegung eine Distanzierung von kriegerischen und kämpferischen Handlungen deutlich. Reynolds spricht von zwei Erzfeinden, denen sich Guerilla-Gärtner entgegenstellen. Diese Feinde sind der Mangel an Land und die Verwahrlosung von Flächen (vgl. Reynolds 2009: 45). Die Gegner sind somit alle Menschen, die Land nicht nachhaltig nutzen oder es verwahrlosen lassen (vgl. ebd.: 45-51). Der konventionelle Weg gegen einen solchen Umgang mit Land vorzugehen, wären Beschwerden bei Behörden und Klagen vor Gericht. Die Erfolgsaussichten eines solchen Vorgehens sind sehr gering, besonders wenn es um Grundstücke in privatem Eigentum geht. Allerdings werden auch bei den Behörden solche Beschwerden zumeist nicht weiter beachtet. Eine solche Beschwerde wurde beispielsweise beim Bezirksamt Berlin-Mitte gegen die Gestaltung des Pariser Platzes in Berlin eingereicht. Hierbei wurden die Grünflächen als trist beschrieben, und es wurde um Verbesserung gebeten. Es wurden sogar detailliert ausgearbeitete Vorschläge für eine neue Gestaltung gemacht. Das Bezirksamt Berlin-Mitte verfolgte die Beschwerde nicht weiter (vgl. Tielscher 01.11.2010). Der konventionelle Weg bietet, wie das Beispiel zeigt, häufig keine Lösung für unzufriedene Bürger. Der alternative Weg ist, selbst aktiv zu werden. In diesem Punkt liegt wieder eine Parallele zu den eben skizzierten Guerillas vor, jedoch gehen die Guerilla-Gärtner gewaltlos vor und sind mit Spaten, Pflanzen und Visionen bewaffnet (vgl. Website Groundswell). Dieses Vorgehen zielt nicht auf gepflegte Flächen ab und soll auch keine Unterwanderung von Besitzverhältnissen darstellen. Im Fokus des Guerilla-Gärtners steht die Revitalisierung vernachlässigter und leerer Flächen (vgl. Johnson 2006: 12). »Ein auf Guerilla-Art ausgefochtener Kampf ist nicht so eindeutig zu erkennen wie eine Konfrontation klassischer Art. Dementsprechend müssen Guerilla-Gärtner auch damit leben, dass der Moment des Sieges weniger genau definiert ist.« (Reynolds 2009: 241) Eine verwahrloste Fläche in einen Garten zu verwandeln ist ein kleiner Sieg und die Guerilla-Gardening-Bewegung beruht auf vielen kleinen, lokalen, voneinander unabhängigen Siegen (vgl. ebd.). Nur so können aus Sicht der Guerilla-Gardening-Bewegung Landmangel und Verwahrlosung bekämpft werden. Auch wenn Reynolds Guerilla Gardening mit Guerillakrieg vergleicht und gewisse Parallelen zu erkennen sind, ist es doch vor allem die eigene Lust am Gärtnern, die den Guerilla-Gärtner antreibt, aktiv zu werden. Andere Motiva-
Patrick Huhn | Mit Spaten, Pflanzen und Visionen
tionen, wie der Reiz des Illegalen, Selbstversorgung oder die Bekämpfung des durch Reynolds benannten Landmangels und der Verwahrlosung, spielen hier ebenfalls eine Rolle. In der Fachliteratur besteht ebenfalls kein Konsens über die Definition von Guerilla Gardening. Reynolds versteht unter Guerilla Gardening »die unerlaubte Kultivierung von Land, das jemand Anderem gehört« (ebd. 2009: 12). David Tracey hingegen definiert Guerilla Gardening als »gardening public space with or without permission« (Tracey 2007: 4), wobei der öffentliche Raum aus Traceys Sicht alle Orte einschließt, die wir als Gesellschaft teilen, inklusive privatem Land, selbst wenn dort der Zugang nur visuell ist. Für Julia Jahnke hingegen ist Guerilla Gardening »das selbstbestimmte und nicht ausdrücklich autorisierte Bepflanzen von nicht-eigenen, öffentlichen und nicht anderweitig genutzten Flächen« (Jahnke 2010: 13). Jahnke ergänzt diese Definition durch den Zusatz, dass Guerilla Gardening auf Flächen stattfindet, »die einem nicht privat-eigen gehören« (Jahnke 03.11.2010). Die drei vorgestellten Definitionen enthalten die gleichen Elemente, unterscheiden sich aber deutlich in ihrem Umgang mit der Erlaubnis zum Gärtnern. Während Reynolds Guerilla Gardening nur auf Flächen anerkennt, auf denen eben diese Tätigkeit nicht erlaubt ist, teilen Tracey und Jahnke diese Meinung nicht. Jahnke drückt sich mit der Formulierung »nicht ausdrücklich autorisierte« (Jahnke 2010: 13) sehr vorsichtig aus und lässt den Leser selbst das ›nicht ausdrücklich untersagte‹ ergänzen. Tracey geht mit diesem Punkt offen um und bezieht alle Gartenaktionen im öffentlichen Raum ein. Er erklärt, dass er Gartenaktionen im öffentlichen Raum auch dann als Guerilla Gardening ansieht, wenn man eine Erlaubnis des Flächeneigentümers für eine gärtnerische Tätigkeit hat (vgl. Tracey 2007: 6). Weiterhin geht nur Jahnke in ihrer Definition auf den Zustand der Aktionsräume ein. Reynolds greift diesen Punkt an anderer Stelle auf, wobei er lediglich sagt, dass er alle Flächen mit gärtnerischem Potential einbezieht, sowohl verwahrloste Flächen als auch bestehende Gärten (vgl. Reynolds 2009: 12). Aus den angeführten Beispielen, der Begriffsherkunft und -entwicklung sowie aus den Erfahrungen, die der Autor in Expertengesprächen mit GuerillaGärtnern und auch bei eigenen Guerilla-Gardening-Aktionen gesammelt hat, lässt sich folgende Definition ableiten: Guerilla Gardening ist das selbstbestimmte, genehmigte und nicht-genehmigte Kultivieren von nicht privat-eigenen Flächen im öffentlichen Raum, die offiziell nicht anders genutzt werden. Das Wort selbstbestimmt hat in dieser Definition mehrere Bedeutungen: Es bedeutet, dass sowohl die Flächenwahl, die Tätigkeit selbst als auch die Ausführung der Kultivierung eine freie und eigene Entscheidung des GuerillaGärtners bzw. einer Gruppe von Guerilla-Gärtnern ist. Es wird das genehmigte und nicht genehmigte Kultivieren aus den gleichen Motiven hinzugezählt, wie
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Tracey sie vertritt. Zudem gibt es genehmigte Gärten, die als Guerilla-Gärten entstanden sind, wie beispielsweise Reynolds erster Garten an seinem Wohnhaus (vgl. Reynolds 2009: 248f.). Die Formulierung nicht privat-eigene Flächen bezieht sich auf die Diskussion zu der Frage: Wem gehört der öffentliche Raum? Es stehen sich hier verschiedene Meinungen gegenüber, wie z.B., dass der »öffentliche Raum eigentlich öffentliches Eigentum ist, also der Öffentlichkeit, bestehend aus allen Bürgern und Bürgerinnen, gehört. In diesem Sinne ist der öffentliche Raum auch unser Eigentum, nur halt nicht unser Privateigentum.« (Jahnke 03.11.2010) Durch die Formulierung nicht privat-eigene Flächen wird unabhängig von der Diskussion deutlich, dass alle Flächen eingeschlossen sind, die kein privates Eigentum des Guerilla-Gärtners sind. Unter dem öffentlichen Raum versteht der Verfasser im Bezug auf Guerilla Gardening denselben Raum wie Tracey. Die durch Guerilla-Gärtner genutzten Flächen dürfen offiziell nicht anders genutzt werden, da es nicht der Sinn des Guerilla Gardening ist, eine für einen bestimmten Zweck vorgesehene und genutzte Fläche umzunutzen. Allerdings zählen Flächen, die zwar für eine bestimmte Nutzung vorgesehen sind, allerdings nicht mehr genutzt werden, durchaus zu den Aktionsräumen der Guerilla-Gärtner. Wichtig ist auch, dass die Nutzung von offizieller Stelle vorgesehen ist, denn auch eine Baumscheibe, die als Fahrradabstellplatz gebraucht wird, unterliegt einer Nutzung, allerdings einer inoffiziellen.
2. W OHER KOMMT G UERILL A G ARDENING ? Die Guerilla-Gardening-Bewegung hat sich erst in den letzten 50 Jahren maßgeblich entwickelt, beginnend mit Guerilla-Gärten in Berkeley und New York, USA. Insbesondere seit dem Jahr 2000 taucht das Phänomen Guerilla Gardening weltweit immer öfter auf, wie erwähnt, zuerst im Zusammenhang mit der traditionellen Demonstration zum Maifeiertag 2000 in London. Seitdem gewinnt die Bewegung deutlich an Anhängern und Bedeutung. Die Verbreitung von Guerilla Gardening in den letzten zehn Jahren ist nicht genau zu rekonstruieren, jedoch spielt hierbei der von Reynolds 2004 eröffnete Blog eine besondere Rolle. Erst durch diesen wurde eine Plattform geschaffen, die es ermöglichte, die vielen isolierten Gruppen miteinander zu vernetzen. Reynolds setzte Links zu anderen Internetseiten, die ihm interessant und wichtig für das Thema Guerilla Gardening erschienen. Somit wurde seine Internetseite wichtiger und vermehrt besucht. Außerdem ergänzte Reynolds den Blog durch ein Forum. Die Medien begannen sich 2006 stark für das Thema und den Blog zu interessieren, wodurch Guerilla Gardening und die durch Reynolds geführte Internetseite ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte und so vielen Menschen den Einstieg in diese Bewegung ermöglichte. Die Aktivitäten und die Zugriffe auf die Guerilla-Gardening-Homepage sind bis heute beständig
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gestiegen. Der Blog hat neben der Vernetzung verschiedener Guerilla-Gärtner auf lokaler und globaler Ebene auch viele Menschen für die Bewegung gewonnen. Die Bewegung wächst weiter und findet inzwischen neue Orte für Vernetzung und Austausch. Eine wichtige Rolle für die Zukunft werden die sozialen Netzwerke einnehmen. Insbesondere auf Facebook entstehen derzeit viele lokal orientierte Gruppen, die sich über diese Netzgemeinschaft organisieren. Die Internetseite guerrillagardening.org ist zu einem so großen Anlaufpunkt für Guerilla-Gärtner aus der ganzen Welt geworden, da es bis 2004 keine vergleichbare Internetseite gab und soziale Plattformen wie Facebook zwar zeitgleich gegründet wurden, aber erst später der breiten Masse zugänglich waren (vgl. Reynolds 29.11.2010).
3. W O FINDE T G UERILL A G ARDENING STAT T ? Guerilla Gardening ist zu einer global vernetzten Bewegung geworden, die auf der ganzen Welt zu finden ist, wie z.B. in England, USA, Kanada, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Österreich, Belgien, Frankreich, Ungarn, Spanien, Russland, Australien, Indien, Japan, Kenia, Südafrika und Deutschland (vgl. Reynolds 2009: 262f.). Die global größte Bedeutung für die Guerilla-GardeningBewegung haben die Städte New York, London und Berlin (vgl. Jahnke 2010: 14). Das Forum für Guerilla Gardening listet für London in etwa 440 Themen mit ca. 1740 Beiträgen und liegt damit nur unwesentlich hinter dem Unterforum für die gesamten USA (610 Themen mit ca. 1950 Beiträgen, vgl. Website Guerrilla Gardening Community). Obwohl die Bewegung ihren Ursprung in New York hat, gibt es dort Guerilla Gardening nicht mehr in dieser Form. Es zeichnet sich stattdessen eine ausgeprägte Community-Gardening-Bewegung3 ab (vgl. Stone 04.11.2010, siehe auch Müller und Clausen in diesem Band). Die Bedeutung New Yorks im Zusammenhang mit Guerilla Gardening ist dennoch unbestreitbar. Das Unterforum für Glasgow im Guerilla-Gardening-Forum wird ebenfalls sehr intensiv genutzt, allerdings wird die Szene dort in der Literatur weit weniger berücksichtigt als die Berliner Bewegung. Wie viele Anhänger die Guerilla-Gardening-Bewegung hat, lässt sich nicht genau beziffern, allerdings nutzen nahezu 40.000 Mitglieder das Forum für Guerilla Gardening. Es werden dort Unterforen für mehr als 50 verschiedene Länder gelistet (vgl. Website Guerilla Gardening Community 1). Obwohl Guerilla Gardening global auftritt, ist es gleichzeitig ein lokales Phänomen, da der Fokus der Gärtner auf einen begrenzten Raum gerichtet ist (vgl. Jahnke 2010: 67).
3 | Ein Community Garden ist ein gemeinschaftlich angelegter und gepflegter Garten.
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Niemand kann genau sagen, wo Guerilla Gardening global und auf Deutschland bezogen lokal auftritt, da es keine verlässlichen Untersuchungen dazu gibt und der Austausch über das Guerilla-Gardening-Forum nicht in alle Richtungen stattfindet. Dennoch bietet das Forum eine gute Möglichkeit, die Bewegung global und lokal einzuordnen. In Deutschland findet Guerilla Gardening bereits in vielen Städten statt. Über das Unterforum für Deutschland organisieren sich Gärtner in allen Teilen des Landes, z.B. in Bielefeld, Chemnitz, Düsseldorf, Essen, Hannover, Magdeburg, München und Stuttgart. Städte mit besonders aktiven Szenen sind neben Berlin Hamburg, Köln und Frankfurt. Dennoch ist der deutsche Teil der Bewegung nicht vergleichbar mit der Ausbreitung und Intensität, die Guerilla Gardening in Großbritannien oder den USA erreicht (vgl. Website Guerrilla Gardening Community).
4. F ÜR WEN IST G UERILL A G ARDENING EINE S EHNSUCHTSPRAKTIK ? Die Bewegung wächst immer weiter, da vor allem junge Menschen Guerilla Gardening für sich entdecken, um sich mit ihrem lokalen Umfeld zu verbinden. Diese Entwicklung ist eine Reaktion auf die hohe Flexibilität, die von jungen Menschen heute erwartet wird (vgl. Website Zeit 1). Doch nicht nur junge Menschen erfreuen sich an dieser Art des Gärtnerns. Guerilla-Gärtner gibt es in allen Alters- und Sozialschichten. So hat Reynolds schon mit einem vierjährigen Mädchen und mit einer 91-jährigen Frau gegärtnert (vgl. Reynolds 2009: 127). So verschieden die Alters- und Sozialstrukturen der Bewegung sind, so facettenreich und differenziert sind die Sehnsüchte, Motivationen und Ziele, die Guerilla-Gärtner mit ihrem Handeln verbinden. Guerilla Gardening ist vor diesem Hintergrund Mittel zum Zweck, diese Sehnsüchte zu stillen und stellt im Kontext der Sehnsuchtsstädte somit eine Sehnsuchtspraktik dar. Eine Sehnsucht ist hierbei nahezu allen Guerilla-Gärtnern gemein: Die Lust am Gärtnern. Auch wenn die Gemeinschaft der Gärtner sehr heterogen ist und Guerilla Gardening global auftritt, sind im Wesentlichen zwei Gruppen zu erkennen. Zum einen sind dies Nutzgärtner und zum anderen Ziergärtner (vgl. Reynolds 2009: 23). Die Nutzgärtner betreiben Guerilla Gardening zu Selbstversorgungszwecken. In ihrem Fokus steht die Produktion von Nahrungsmitteln. Diese Möglichkeit des Guerilla-Gärtnerns zu nutzen kann aus der Not heraus geschehen, um so das Überleben zu ermöglichen (vgl. Reynolds 2009: 24f.). Für diese Zwecke betrieben Bauern in Honduras eine Bananenplantage nach deren Schließung illegal weiter und bauten dort Getreide und Bohnen an. Sie widersetzten sich dem Chiquita-Konzern sowie militärisch unterstützten Räumungen, bei denen 75 Guerilla-Gärtner verletzt und über 100 festgenommen
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wurden (vgl. Corr 1999: 40f.). Nach sechs Jahren Widerstand erhielten sie die Erlaubnis, die Flächen weiter zu bebauen und dort zu leben. Ein ähnliches Beispiel spielte sich in den 1970er Jahren ab, als landlose Mexikaner Ackerland besetzten. Der Präsident gestand den Guerilla-Gärtnern 100.000 ha zu, diese forderten allerdings mehr und besetzten zusätzlich 600.000 ha Land. Die Besetzer wurden militärisch vertrieben und über 100 Menschen starben bei Militärschlägen. In Brasilien wiederum unterstützt die Organisation Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra Landlose bei der gewaltfreien Übernahme ungenutzten Landes durch Wissen über Anbautechniken und der Erwirkung eines rechtmäßigen Status (vgl. Reynold 2009: 24f.).
Abbildung 3: Rotkohl in einem Guerilla-Garten (Quelle: eigene Fotografie).
In Barcelona haben Erwerbslose ein öffentliches Grundstück besetzt, von Müll und Unrat befreit und in einen Gemüsegarten verwandelt. Inzwischen wurde der Garten genehmigt und die Gärtner durften Zäune anlegen, um damit zu verdeutlichen, dass der Garten von der Verwaltung autorisiert ist (vgl. Website Weltspiegel). Neben dem Anbau von Nahrungsmitteln als einzige Möglichkeit zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse kann diese Art des Gärtnerns auch aus dem Wunsch heraus, sich selbst zu versorgen, betrieben werden. Für den Guerilla-Gärtner Hanns Heim war es wichtig Gemüse anzubauen, als er sich im Gemeinschaftsgarten Rosa Rose in Berlin engagierte (vgl. Heim 13.11.2010). Es kann durch diese Subsistenzwirtschaft eine gewisse Unabhängigkeit von Märkten und steigenden Lebensmittelpreisen sowie eine Kontrolle über Herkunft und Anbau der Nahrungsmittel erreicht werden. In England nimmt der Trend zur Selbstversorgung zu. Das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird mehr
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Saatgut für Gemüse als für Blumen gekauft (vgl. Reynolds 2009: 27). In diesen Fällen geschieht es aus einem besonderen ökologischen Bewusstsein heraus, denn diese Gärtner haben für sich erkannt, dass es wichtig für die Entwicklung nachhaltiger Städte ist, wenn der Mensch urbane Landwirtschaft betreibt (vgl. Jahnke 2010: 25). Der Anbau von Gemüse kann aber auch durch Idealismus motiviert sein. »Teile der städtischen Bevölkerung können sich nicht mehr vorstellen, woher die Produkte im Supermarkt kommen und für mich ist Guerilla Gardening eine ganz wichtige Plattform, um diese Stadt-Land-Beziehungen wieder herzustellen.« (Quehenberger 01.11.2010) Die Zahl dieser ökologisch und politisch motivierten Gärtner wächst. Diese Gärtner möchten zeigen, dass es möglich ist, unabhängig von landwirtschaftlichen Konzernen zu leben. Ein Guerilla-Projekt dieser Art ist die Alemany Farm in San Francisco. Die geernteten Produkte werden an die freiwilligen Hilfskräfte und an Familien aus den benachbarten Sozialwohnungen verteilt. Das Projekt wurde inzwischen durch die Stadtverwaltung genehmigt und ist der einzige innerstädtische Landwirtschaftsbetrieb in San Francisco (vgl. Reynold 2009: 29). Die Gruppe der Ziergärtner verfolgt vor allem das Ziel, ihr Umfeld schöner und ansprechender zu gestalten. Dafür setzen sie sich über Grenzen hinweg und verschönern alle Flächen, die ihnen sinnvoll erscheinen. Diese Gruppe ist mit Graffiti-Künstlern vergleichbar, denn sie versuchen einen eintönigen Raum mit Farbe zu gestalten und malen dafür lebende Graffitis (vgl. ebd.: 19f.).
Abbildung 4: Ziergarten (Quelle: Website Flingern).
Eines der besten Beispiele für die Gruppe der Ziergärtner ist Reynolds selbst, da er mit Guerilla Gardening anfing, um sein Wohnquartier zu verschönern.
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Er begann im Oktober 2004 den Müll aus den verwahrlosten Pflanzkästen vor dem Hochhaus, in dem er lebt, zu entfernen. In einer nächtlichen Aktion, um Konflikte mit den Nachbarn und dem Bezirk zu vermeiden, pflanzte er rote Alpenveilchen, Lavendel und drei Kohlbäume (vgl. Reynolds 2009: 85f.). Dieser Teil der Bewegung gärtnert aus der reinen Lust am Gärtnern. Reynolds fasst es in die Worte: »Als ich in diese Hochhauswohnung einzog, hatte ich vergessen, wie viel mir die Gartenarbeit bedeutete.« (Ebd. 2009: 86) Der Wille, etwas zu verschönern, kann nur der Auslöser sein, denn wer keine Freude an der Gartenarbeit hat, wird nicht zum Guerilla-Gärtner, der den öffentlichen Raum verschönert. Ein kleiner Teil der Ziergärtner betreibt die Verschönerung des Umfeldes auch zu wirtschaflichen Zwecken. Besonders kleine Geschäfte und gastronomische Betriebe verschönern Freiräume wie Baumscheiben vor ihren Türen, um so gepflegt und ansprechend und damit auch einladend zu wirken (vgl. ebd.: 36f.). Häufig werden diese beiden Arten auch miteinander verbunden, beispielsweise in Gemeinschaftsgärten wie den in Berlin angelegten Gärten Rosa Rose Garten und Ton, Steine, Gärten. Einige Guerilla-Gärtner verbinden sogar direkt das Nutz- mit dem Ziergärtnern, wie Petrus Akkordeon, der Kartoffeln in Berlin-Neukölln in Blumenkübel auf dem Hermannplatz pflanzte, weil er die Pflanze schön fand (vgl. Akkordeon 04.11.2010). Neben diesen beiden Hauptgruppen gibt es weitere kleine Gruppen in der Guerilla-Gardening-Bewegung. Einige Gärtner möchten in erster Linie Plätze der Zusammenkunft schaffen, an denen jeder verweilen kann, an denen man soziale Kontakte schließen kann oder an denen eine angenehme Atmosphäre herrscht. Diese Gärtner möchten einen Ort der Gemeinschaft kreieren, der jedem kostenlos zur Verfügung steht (vgl. Reynolds 2009: 32). Andere wiederum sehen Gärtnern als sportliche Aktivität und als Möglichkeit, um Stress und Probleme abzubauen. Für sie steht das Training durch die anstrengende körperliche Arbeit oder das Verarbeiten von seelischem Stress im Vordergrund (vgl. ebd.: 35). Manchen Gärtnern ist es auch wichtig, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Ein weiteres Ziel, das Akkordeon mit der Kartoffel-Pflanzung auf dem Hermannplatz verfolgte, war die Inspiration der Menschen, selbst im öffentlichen Raum Gemüse anzupflanzen (vgl. Akkordeon 04.11.2010). Neben der Inspiration soll auch das Gedenken eine Botschaft sein, die durch Guerilla Gardening vermittelt wird, beispielsweise als Gedenkstätte für Opfer von Unfällen oder diskriminierenden und gewalttätigen Übergriffen (vgl. Reynolds 2009: 40f.). Tracey teilt die Guerilla-Gardening-Bewegung ebenfalls in zwei Gruppen ein, wobei er sich allerdings nach dem Auftreten der Guerilla-Gärtner bei der Arbeit richtet. Die erste Gruppe, die er bildet, umfasst Guerilla-Gärtner, die maskiert und zumeist nachts arbeiten. Das Ziel dieser Undercover-Gruppen ist es, eine Aktion möglichst schnell und leise durchzuführen. Tracey verwendet dafür das Motto: »Plant and run.« (Tracey 2007: 11)
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Abbildung 5: Undercover-Gruppe (Quelle: Website Piratesparty).
Beispielsweise bepflanzten zwei Guerilla-Gärtner die Baumscheibe vor ihrem Bürogebäude in Montreal, Kanada, in einer solchen Aktion. Für die Durchführung fassten sie eine Frühlingsnacht ins Auge. Sie beluden ihr Auto mit Gartengeräten, Wasser sowie Pflanzen und fuhren zu ihrem Ziel. Dort angekommen entfernten sie den Müll, bepflanzten die Baumscheibe und fuhren nach dem Bewässern wieder davon (vgl. Website Guerrilla Gardening Troop Digs). In der anderen Gruppe fasst Tracey alle Gärtner zusammen, die ganz offensichtlich zur Tageszeit arbeiten und durch Arbeitskleidung klar als Gärtner erkennbar sind. Für diese Gruppen empfiehlt er Sicherheitswesten, damit sich die Gärtner optisch den Pflegetruppen der Stadt anpassen und nicht mehr als Guerilla-Gärtner erkennbar sind (vgl. Tracey 2007: 11). Die Berliner Guerilla-Gärtnerin Susanne Quehenberger gehört zu dieser Gruppe und begründet dies mit den Worten: »Mir ist es wichtig, dass ich tagsüber gärtnere, da ich nicht nur Pflanzen pflanze, sondern diese Tätigkeit in aller Selbstverständlichkeit durchführen möchte. Ich habe kein Interesse, das heimlich zu machen.« (Quehenberger 01.11.2010)
5. G UERILL A G ARDENING LOK AL : EIN B EISPIEL AUS E NNEPE TAL Im Ruhrgebiet ist die Bewegung noch in der Entstehungsphase. Es gibt in diesem Gebiet durchaus aktive Gärtner, allerdings sind es bis jetzt vor allem Einzelkämpfer. Die Vernetzung über das Guerilla-Gardening-Forum funktioniert noch nicht sehr gut, und viele Anfragen für Aktionen bleiben unbeantwortet. Das Duisburger Unterforum ist im April 2010 online gegangen, das für die Stadt Essen unwesentlich früher. Für Dortmund besteht kein eigenes Unterforum. Alle Diskussionsbeiträge zu Dortmund werden in einem Thema gelistet, das unter Deutschland eingeordnet ist (vgl. Website Guerilla Gardening Communi-
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ty). Als vierte und letzte Stadt aus dem Ruhrgebiet ist Bottrop im Forum vertreten, allerdings nur mit einem einzigen Beitrag (vgl. Website Guerilla Gardening Community). Des Weiteren gibt es eine Facebook-Gruppe für Guerilla Gardening im Ruhrgebiet, welche knapp 100 Mitglieder zählt (vgl. Website Facebook 1). Wie erwähnt, befindet sich die Guerilla-Gardening-Bewegung im Ruhrgebiet derzeit noch in einem Wachstums-Prozess. Es sind bereits eine Vielzahl von Aktionen im Ruhrgebiet durchgeführt worden. Allerdings gibt es kaum Guerilla-Gärtner in dieser Region, die ihre Aktionen im Internet dokumentieren. Auch das Guerilla-Gardening-Forum und Facebook werden hierfür nur in Grundzügen genutzt. Ein Beispiel aus Ennepetal findet sich auf dem Blog gartenstadt2punkt0 – Guerilla Gardening im Pott und soll hier dargestellt werden. Eine Gruppe von Guerilla-Gärtnern ist am Abend des 15. März 2011 in einem Hochbeet des ZOB Ennepetals tätig geworden: Gestern Abend war es soweit, wie angekündigt wurde gestern der Busbahnhof in Ennepetal geentert. Vielmehr wurden die vorhandenen Beete dort begärtnert. Die Ausgangssituation waren zwei großzügig angelegte Hochbeete, einst gestaltet mit verschiedenen Sträuchern und einzelnen Bäumen und schönen Findlingen. Während insbesondere der Kirschlorbeerbestand dem kleineren der beiden Beete eine immergrüne Gestalt verleiht, glänzt das größere mit blanker Erde. Und wo immer ein Guerilla Gärtner blanke Erde findet, eröffnen sich ihm in diesem Möglichkeitsraum unzählige Möglichkeiten. So erging es auch uns vieren gestern. Wir haben für diesen Dig bereits im Vorfeld Osterglocken und Primeln besorgt. Um allerdings diesmal ein dauerhaftes Ergebnis zu erhalten und auch im Sommer durch Blütenexplosionen die Blicke der wartenden Busfahrer und -fahrgäste auf die Beete zu ziehen, gab es zwei Samendosen mit Magareten- und Sonnenblumensamen […]. Ist ja auch gerade die Zeit (eigentlich sollte ich mal was mit Samenbomben machen)! Um die große Fläche ausreichend zu bepflanzen, haben wir die Blumen in mehreren Gruppen als Highlights zwischen die Bäume und Steine gesetzt, so dass sich aus jeder Perspektive bunte Spots ergeben. Wasserspenden für unsere Blumen gab es von einer anliegenden Kneipe und einer Pizzeria. Im Anschluss haben wir das ganze Beet einmal aufgeharkt, Blumensamen gestreut und geschmissen, untergeharkt und angegossen! Das Ergebnis sollte ab Juni/Juli zu sehen sein! Der Busbahnhof ist auch gegen Abend noch sehr belebt. Trotzdem uns viele beobachtet haben, wurden wir aber nur ein Mal angesprochen und vor der Polizei gewarnt. Diese ist allerdings nicht erschienen. Die junge Frau konnten wir leider nicht zum Mitgärtnern überreden, haben ihr aber für ihren weiteren Weg an diesem Abend einige Blumensamen mitgegeben - Nach einer Stunde waren wir mit dieser Aktion durch und sind wieder verschwunden. Wir hoffen, es gefällt den Ennepetalern und den vorbeikommenden ÖPNVNutzern -. (Website gartenstadt2punkt0)
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Abbildung 6, 7 und 8: Dig am ZOB Ennepetal (Quelle: Website Picasa).
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An diesem Beispiel kann das Vorgehen der Guerilla-Gärtner sehr gut nachvollzogen werden. Es handelt sich um eine Gruppe von Ziergärtnern, die nach einer Verschönerung des öffentlichen Raums streben. Zunächst ist hierfür eine Fläche für die Aktion identifiziert worden. In der Regel entdecken Guerilla-Gärtner entsprechende Flächen in alltäglichen Situationen und planen anschließend eine Aktion hierfür. In Ennepetal wurde der Dig zunächst auf guerrillagardening.org und dem Blog gartenstadt2punkt0 angekündigt. Hierdurch sollten weitere Guerilla-Gärtner für die Aktion gewonnen werden. Im Anschluss wurden innerhalb der Gruppe Blumen für die Bepflanzung ausgesucht. Die eigentliche Aktion zum angekündigten Zeitpunkt ist recht schnell abgelaufen und entspricht somit Traceys Gruppierung »Plant and run«. Ein Arrangement der Pflanzen wurde vor Ort festgelegt, anschließend gepflanzt und angegossen. Des Weiteren haben die Guerilla-Gärtner Kontakt mit den Personen vor Ort aufgenommen, soweit diese interessiert waren, um die Idee der Bewegung zu verbreiten.
6. F A ZIT UND A USBLICK : G UERILL A -G ÄRTNER — MEHR ALS S AMENBOMBEN WERFENDE G ESE T ZESBRECHER Die Medien vermittelten in Beiträgen über Guerilla Gardening oftmals ein stark verzerrtes Bild von Samenbomben-werfenden Gesetzesbrechern. Dieses Bild stimmt allerding nicht mit der tatsächlichen, facettenreichen Bewegung überein. Nach eingehender Betrachtung der verschiedenen Gruppen und deren Sehnsüchte und Motivationen kann dieser kriegerische Ansatz entkräftet werden, wenn auch Guerilla-Gärtner einen Teil der Bewegung ausmachen. Vor allem im Hinblick auf die Zukunft und unter Berücksichtigung aktueller Themen wie den Klimawandel und kommunale Haushaltsdefizite wird Guerilla Gardening eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Guerilla Gardening eine von mehreren Gartenbewegungen ist. Besonders an den Beispielen New York und Berlin zeigt sich, dass Guerilla Gardening vielmehr noch eine Frontier-Bewegung ist, auf die andere Gartenbewegungen wie Community Gardens und Urban Agriculture folgen (siehe auch Clausen und Müller in diesem Band). Guerilla Gardening stellt eine sinn- und wirkungsvolle Praktik für die Anhänger der Bewegung dar, um ihren Sehnsüchten nachzugehen. Neben den eigenen Vorteilen ergeben sich hierdurch auch positive Auswirkungen für Klima, Natur und Öffentlichkeit. Durch die zunehmende Verbreitung über Blogs und Facebook findet die Bewegung immer mehr Anhänger und zunehmende Anerkennung in der Öffentlichkeit. Im Kontext der Sehnsuchtsstädte ist anzumerken, dass anhand von Guerilla Gardening und artverwandten Bewegungen wie Guerilla Knitting ein zunehmendes Interesse der Bevölkerung am öffentlichen Raum abzulesen ist.
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Guerilla Gardening bleibt auch in Zukunft ein spannendes Thema, da sich die Bewegung, vor allem in Deutschland, noch in der Entwicklung befindet. Die Effekte der Guerilla-Gardening-Bewegung sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ersichtlich. Thanks to you and people like you in cities all over the world, it will lead to a greener, brighter, happier future for everyone. Welcome to guerilla gardening. (Tracey 2007: 204)
B IBLIOGR APHIE Anonymus. 1994. »Guerilla«. In: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hg.), Duden – Das große Fremdwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. Anonymus. 2006a. »Guerilla«. In: F.A. Brockhaus GmbH (Hg.), Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. 11. Band, 21. Auflage. Leipzig: F.A. Brockhaus GmbH. Anonymus. 2007. »Gartenarbeit«. In: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hg.), Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 6. Auflage. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. Corr, Anders. 1999. No Trepassing! Squatting, Rent Strikes and Land Struggles Worldwide. O.O.: South End Press. Jahnke, Julia. 2010. Guerrilla Gardening anhand von Beispielen in New York, London und Berlin. Tönning, Lübeck, Marburg: Der andere Verlag. Johnson, Lorraine. 2006. »Guerrilla Gardening – Neglected, uncared for parts of the city are targets for creative trowels«. In: Alternatives Journal, 4/5/06, Jg. 32: 10-12. Reynolds, Richard. 2009. Guerilla Gardening – Ein botanisches Manifest. O.O: orange press. Tracey, David. 2007. Guerrilla Gardening – A Manualfesto. Gabriola Island: New Society Publishers.
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G ESPR ÄCHSVERZEICHNIS Akkordeon, Petrus 04.11.2010: Guerilla Gärtner und Künstler. Interview in Berlin. Heim, Hanns 13.11.2010: Guerilla Gärtner. Telefoninterview. Jahnke, Julia 03.11.2010: Guerilla Gärtnerin. Interview in Berlin. Quehenberger, Susanne 01.11.2010: Guerilla Gärtnerin. Interview in Berlin. Reynolds, Richard 29.11.2010: Guerilla Gärtner und Betreiber der Website guerrillagardening.org. Telefoninterview. Stone, Edie 04.11.2010: Direktorin des GreenThumb Community Garden Programs des New York City Department of Parks and Recreation. Interview in Berlin. Tielscher, Heike 01.11.2010: Inspektionsleiterin des Straßen- und Grünflächenamts, Bezirksamt Berlin-Mitte. Interview in Berlin.
Neue Orte des Städtischen durch soziale Innovationen Bastian Lange
1. W ARUM O RTE ? Städtische Orte sind das umstrittene Terrain des urbanisierten 21. Jahrhunderts. Dabei ist das Spektrum enorm: Orte wie der Tarhirplatz in Kairo und der Zuccotti-Park in New York sind mehr als nur öffentliche Orte, sie sind zu Kulminationspunkten neuer gesellschaftlicher Entwürfe avanciert; neue städtische Orte wie »New Downtowns« sind geplante Entwürfe neuer Funktionsmischung, wie sie sich in der Hamburger HafenCity abzeichnen; auf Beteiligung abgestellte Planungs- und Bauvorhaben durch Baugruppen sind Ausdruck eines erhöhten Gestaltungsanspruchs von Wohn- und Lebensraum, wie ebenso der Versuch, Entwicklungs-, Bau- und Planungskosten zu senken; temporäre Kultur- und Stadtteilinitiativen, wie z.B. das jährlich stattfindende Lendwirbel-Festival in Graz, sind Bestrebungen selbstorganisierter transversaler Initiativen, den städtischen Raum temporär zu einer Zone kultureller Interventionen umzuprogrammieren, um dadurch neuen Praktiken der Kulturproduktion und des Stadtlebens zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Die Liste ließe sich beliebig weiterführen, was Marquart/Schreiber auch mit ihrem Buch Ortsregister getan haben (vgl. Marquardt/Schreiber 2012). Diese faktische, aber vor allem auch diskursiv seit einigen Jahren im Fokus von Raumforschung wie Feuilletons, von urbanen Lifestylemedien wie ebenso zivilgesellschaftlichen Anstrengungen stehenden neuen Ortsbezüge geben zumindest zwei beachtenswerte Elemente zum Ausdruck: Zunächst lassen sich derartige Aneignungsformen als exemplarische Geographien der Neuformierungen von Urbanität im 21. Jahrhundert unter gänzlich neuen sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen ansprechen. Die Beispiele zeigen auch, wie in ausnahmslos unterschiedlichen Kontexten Menschen um die Sicherstellung des Zugangs zu öffentlichen Orten im Städtischen als Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe und der Wahrung sozialer Infrastrukturbedürfnisse ringen: politisch, planerisch, kulturell, so-
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zial und ökonomisch. Dabei geht es auch darum, dass die Akzeptanz des öffentlichen Ortes als Polis der europäischen Stadt zum Zweck des Flanierens, Konsumierens und sich Zeigens immer eindringlicher und offensichtlicher zugunsten eines Ortes in der Stadt kippt, an dem existentielle Fragen zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen neu vorgetragen, geplant und verhandelt werden. Junge und alte Stadtbewohner wollen immer nachhaltiger bei der Ausgestaltung von neuen Orten in ihrem nahen Umfeld mitsprechen, wie sie ebenso danach trachten, für sie wichtig und bedeutsam gewordene Orte im Verbund mit kulturellen Errungenschaften zu bewahren. Immer geschickter gelingt es dabei z.B. neuen Protestbürgern, sich gegen ortsverändernde Vorhaben zur Wehr zu setzen und somit lokalen und ortsgebundenen Werten zur Durchsetzung und Anerkennung zu verhelfen. Darüber hinaus zeigen sich aber subkutane Sehnsuchtsbestrebungen, nach der Ära der globalisierten und neoliberalisierten Welt sowie der Multiplizität von analogen und digitalen Netzwerkstrukturen sich wieder eine Welt zu erschaffen, in der das Essen noch so schmeckt, wie es früher selbst gemacht wurde; in diese Welt werden Kanten und Ecken, Spitzen und Kerben gesetzt, um der fehlenden Haptik des digitalen Zeitalters wiederum eine neue alte Griffigkeit zu verleihen: Das fängt mit der Modewelle der Bart tragenden Männer und ihren grobkarierten Holzfällerhemden an, geht weiter zur Suche nach alten aber schmackhaften Nahrungsmitteln und setzt sich im sozialen Bereich in der auffallenden Blüte von vergemeinschaftenden Initiativen fort. Man meint, alle strömen an die Wärme des verlorengegangenen sozialen Lagerfeuers. Aus dieser mitunter wiederbelebten Romantik erwächst eine Suchbewegung nach der richtigen zukünftigen Parzelle, auf der diese sozialen Wiederbeatmungsversuche vollzogen werden. Gestärkt werden diese mannigfaltigen Initiativen aber auch dadurch, dass Dinge des Alltags durch die industriellen Produktionsweisen an Qualität, Passgenauigkeit, Usability oder Geschmack verloren haben. Denn im Zuge der Suche nach der jeweils richtigen Parzelle hat sich auch die anfänglich stichwortgebende Do-it-yourself-Kultur – ursprünglich dem protestierenden Punk in Musik, Mode und Gesellschaft zugeordnet – reformuliert und sich als Quellgrund neuer Produktionslogiken zur Marke Eigenbau (Friebe/Ramge 2008) sowie zur nächsten »industriellen Revolution« (Anderson 2013) gemausert. Ermöglicht durch digitale Vertriebsoptionen wie Etsy, Dawanda und andere Distributions- und Plattformen, hat sich eine sogenannte Maker-Szene als Triebfeder für neue Innovationen entwickelt und der alten Produktionslogik den Kampf angesagt. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei aber nicht nur auf der Wiederaneignung von Produktionsmitteln und Produktionsprozessen, dass sie es eben »selber« machen wollen, sondern eben auch darauf, es »besser« zu machen. Nicht nur Do-it-Yourself, sondern Do-it-better!, lautet die Losung.
Bastian Lange | Neue Or te des Städtischen durch soziale Innovationen
Schon diese zwei diametral gegenüberstehenden Dynamiken geben verdeckte Widerstreite um die Deutungshoheiten dieser hier im Fokus der Argumentation stehenden sozialen Parzellen und sozialen Orte zu erkennen: Denn im Verbund mit einer wachsenden Zahl von urbanen Lebensstilen sowie kulturellen Ansprüchen und Erwartungshaltungen an Funktionalität, Verwertung, Ökonomie und vor allem Sichtbarkeit von Orten überlagern viele Diskurse nur das seit einigen Jahren sich vollziehende sozialräumliche Auseinanderdriften von Arm und Reich. In dieser Folge vollziehen sich räumlich zentrifugale Verdrängungsprozesse der Armen, Alten, Asylanten und Arbeitslosen an den Stadtrand. Sie können nur schwer derartige Gestaltungsprozesse selber in die Hand nehmen, wie es gerade eine hochqualifizierte urbane Lifestyle-Community strickend, gärtnernd, häkelnd und töpfernd für sich sinnstiftend praktiziert. Sozialpolitisch motivierte Initiativgruppen versuchen zweifelsohne mit neuen Formen der spontanen und temporären Raumaneignungen, auf diese politischen Verwerfungen, sozialen Fragmentierungen und kulturellen Exklusionen zu reagieren oder hinzuweisen. Nicht zuletzt diese Praxis zeigt, dass das lange Zeit klar und eindeutig existierende Verhältnis der Stadtbewohner zum Ort zersprungen ist: Es sind immer mehr teilkollektive, ortsbezogene und partikulare Interessengruppen und nicht mehr homogene Ortsansprüche eines fiktiven Stadtbürgers, die sich für ihre generellen spezifischen Interessen einsetzen. Es sind neue Stadtmenschen, die nicht mehr »einheitliche« Anliegen an die Ausgestaltung von städtischen Orten vortragen, sondern ihre Ansprüche aus disruptiven globalen Verwerfungen beziehen: Klimawandel, Energiekrise, Mobilitätsumbau, wirtschaftlicher Strukturwandel veranlassen gezwungenermaßen eine immer größere Anzahl von Menschen, neue Formen der Rückgewinnung von Autonomie im Alltags- wie Erwerbsleben zu erlangen sowie soziale Sinnstiftungsprozesse einzuleiten. Dieser Prozess markiert Eckpunkte einer gegenwärtigen do-it-yourself-praktizierten Krisenbewältigung. Die Politik sowie gemeinwohlorientierte Denkfabriken haben schon vor einigen Jahren begonnen, diese immer eindringlicher sich weltweit von unten vollziehenden Prozesse durch das Schlagwort der sozialen Innovationen wirkmächtig auszuweisen. Innerhalb dieses neuen argumentativen Referenzrahmens bündelt sich die Suche nach neuen gesellschaftlichen Dynamiken, neuen Begründungen, warum der Wiederaufbau des Sozialen eine gute Sache ist. Auf der Basis dieser eingangs skizzierten neuen sozialen Keime wird die Erwartung ausgerufen, dass diese selbstorganisierten sozialen Mikrowelten in die Teilbereiche der desaströsen und krisenhaften Systeme von Ökonomie, Politik, Stadtleben, Gesundheit, Ernährung und Arbeitswelt einwirken sollen und diese positiv beeinflussen und reformieren.
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2. F R AGESTELLUNG Der folgende Beitrag skizziert eine neue Form der sozialen und räumlichen Ortsaneignung und erläutert die dabei wirkenden Prozesse. Anhand des Phänomens Coworking Spaces skizziere ich soziale und ortsspezifische Formierungslogiken neuer Kollektive und zeige anhand dieses spezifischen Phänomens die dabei zum Tragen kommenden Praxisformen, Ortsaneignungen und Selbstbeschreibungen dieser weltweiten Bewegung, so dass klar wird, wie sie in der Lage sind, neue Öffentlichkeiten und Orte in der Stadt herzustellen. Darauf auf bauend bündele ich zum einen die jüngsten sichtbaren Ausdrucksformen von Ortsentwicklungen in Verdichtungsräumen und beziehe diese auf die Frage, inwiefern die dabei zum Tragen kommende ortsformierende Praxis ein Ausdruck sozialer Innovation ist. Dabei fokussiere ich die Vielfältigkeiten dieses breiten Betrachtungsbereichs, indem ich zeige, wie diese sozialen Innovationen durch einerseits stark vernetzte kreative Communities of Practices sowie andererseits durch neue »professionelle Amateure« getragen werden. Dadurch geben sich neue Prozesse der Ortsbildung – so meine leitende Argumentation – als hochgradig vernetzte soziale Bewegungen 2.0 zu erkennen, die zwar in sehr grober und vereinfachender Weise der sogenannten Kultur- und Kreativwirtschaft zugewiesen werden können, mit Hilfe dieses Konzeptes aber mehr als unzureichend beschrieben werden.
3. F ALLSKIZ ZE C OWORKING — SOZIAL- KULTURELLE TECHNIKEN DES TEILENS Das betahaus in Berlin ist eines der größten Coworking Spaces weltweit, mit mittlerweile vier Dependancen in Europa (Sofia, Köln, Hamburg und Barcelona). Rein funktional stellt ein Coworking Space eine Kreuzung zwischen einem Büro und einem Café dar, welches mit dem Preismodell eines Fitnessstudios betrieben wird. Weit wichtiger als die funktionalen Bestandteile des Konzeptes betahaus ist die soziale und professionelle Interaktion zwischen den Nutzern, die auf dieser Basis stattfindet: Innerhalb des betahauses arbeiten flexibel bis zu 200 verschiedene kreative Einzelunternehmer, die sich temporär zu Arbeitsgruppen zusammenschließen und auf diese Weise entweder Kundenaufträge gemeinsam erfüllen, sich gegenseitig zuarbeiten oder Geschäftsmodelle individuell oder gemeinsam entwickeln und Firmen gründen. Die Kernkompetenz des betahauses besteht darin, einer neuen Art von Erwerbstätigen eine angemessene Existenzgrundlage zu bieten. Das betahaus bietet Unterstützung im Bereich Netzwerk, Professionalisierung und Infrastruktur. Der Grund für den Erfolg von betahaus liegt am Wegbrechen klassischer Arbeitsverhältnisse und der zunehmenden Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeits-
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welt. Gebraucht werden dagegen neue, vernetzte und flexible Orte, an denen Ideen schnell, strukturlos und unkompliziert realisiert werden können. Die Grundwerte dieser Orte sind Offenheit, Vernetztheit, Transparenz, Nachhaltigkeit und Kollaboration. Die Macher derartiger Orte agieren wie ›soziale Kuratoren‹ und nicht nur als Vermieter. Sie initiieren, bieten an, schaffen einen sozialen Rahmen und einen konkreten Raum für Begegnung.
4. Ä USSERE M ERKMALE NEUER A RBEITSFORMEN Der Begriff Coworking bedeutet ›nebeneinander arbeiten‹. Doch das wäre nur die eine Seite eines zunehmend um sich greifenden Phänomens. Coworking verbindet Arbeits- und Kommunikationsprozesse, in dem sich diese Praktiken nicht nur digital verorten, sondern ebenso an konkreten Arbeitsräumen. Erstmalig formierten sich Coworking Spaces in den 1990er Jahren in den USA durch lose Netzwerkbeziehungen zwischen Hackern, Computerfreaks und Tech-Freaks. Indem sie sich mit ihren Computern vernetzten, Plattformen im Web auf bauten, verdichteten sie ihre Interaktionsprozesse. Temporären Meetings folgte der Gang in Cafés mit W-Lan-Anschluss. Irgendwann kristallisierte sich die Idee heraus, dass man für diese Praxis ebenso eigene Räume definieren könnte: Die Idee war geboren, die Community existierte und man zog mit seiner Kerngruppe in günstig zu mietende Fabriketagen. Mittlerweile besetzen auch Akteure unter dem Vorzeichen Coworking das Feld, die als Dienstleister Räume aktivieren und den zahlreichen Mikrounternehmern der Kreativwirtschaft günstige und flexibel nutzbare Arbeitsräume anbieten. Sie verfolgen das Ziel, das Konzept des Coworking Space auch für andere Berufsgruppen und Personen in Angestelltenverhältnissen zu öffnen, um eine Flexibilisierung von Arbeitszeit und -raum zu ermöglichen und damit mehr Selbstbestimmung zuzulassen. Als Phänomen entwickelt sich Coworking aber seit einigen Jahren vor allem in den USA, wo erste Pioniere dieser Bewegung die Open-Source-Logik als freie Nutzung und Weiterverarbeitung eines Quellcodes auch auf andere Bereiche ausweiten wollten. Nicht nur Programme und Ideen sollten mit einer Community geteilt und dadurch öffentlich zugänglich werden, sondern auch Arbeitsorte. Inzwischen finden sich entsprechende Coworking Spaces bestens miteinander vernetzt und in unterschiedlichsten Ausprägungen über den gesamten Globus verteilt, vor allem aber in Metropolen. Coworking Spaces bestehen demzufolge aus thematisch fokussierten Communities resp. deren Arbeitsinfrastrukturen. Dazu gehören ein konkreter Arbeitsort und eine digitale Plattform. Der Ort kann flexibel auf die verschiedenen Projektarbeiten abgestimmt werden. Die Arbeitsplätze in Form eines gemieteten Arbeitstischs können kurzfristig und spontan angemietet werden. Die Räume weisen sich oftmals durch einen improvisierten Charakter aus. Ihr
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flexibler Charakter korrespondiert mit dem Anspruch der Nutzer, einen freien Denkraum ebenso wie einen sozialen Raum zu haben, in dem Gespräche möglich sind und der gegebenenfalls auch Rückzugsorte bereithält. Präsentationsräume mit Café- und Loungeanschluss runden die kommunikativen Erwartungshaltungen in der Regel ab. Voneinander unabhängige und projektweise arbeitende Programmierer, Schriftsteller oder Designer teilen sich hier nicht nur gemeinsam eine Büroinfrastruktur, sondern unterstützen sich gegenseitig bei Bedarf auch mit branchenspezifischen Hilfeleistungen. Nebenbei entwickelt sich ein soziales wie berufliches Netz.
5. K RITERIEN , K ATALYSATOREN UND K OMPE TENZPOOLS — C AR S HARING FÜR A RBEITSPL ÄT ZE Ein wesentliches Merkmal von neuen Formen des Arbeitens in Netzwerken ist die lose Kopplung unterschiedlicher Raumprogramme, die sich an dem physischen Ort, dem Coworking Space, berühren und direkt überschneiden. Es sind reale und gleichsam virtuelle Orte der Vergemeinschaftung von sich zunehmend professionalisierenden kreativen Wissensarbeitern. Der Charakter dieser Räume wird wesentlich durch die Operationspraktiken und Prozessverläufe der Wissensarbeiter bestimmt: Sie sind weniger auf Repräsentation ausgerichtet, vielmehr sollen sie aufgrund der flexiblen Nutzungsdauer sachlich und nüchtern drei Dinge bereitstellen: Strom, W-Lan und einen Sitzplatz. Neue Formen des Arbeitens in Netzwerken sind nicht nur eine Reaktion auf kleinteilige und mikrounternehmerische Arbeitsformen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. An diesen Verdichtungsräumen eröffnet sich ein basarartiger Tauschhandel mit immateriellen Gütern und individuellen Kompetenzen. Ein Steuerberater erhält für die Erstellung einer Jahressteuererklärung von einem Webdesigner die Erstellung seiner Visitenkarten im Web, während ein Innenarchitekt bei der Erstellung eines Auftrags mit einem Sounddesigner kooperiert. Im Rahmen dieser neuen Arbeitsformen sind Prozesse des Zufalls, des Spontanen, auf der Basis hochgradig vernetzter Akteure, essentiell. Die Verdichtung an einem Ort hat katalytische Wirkung und kreiert für alle Beteiligten einen strategischen Mehrwert: Die Heterogenität der individuellen Kompetenzen macht nicht nur Spaß, sie generiert neue Formen der Innovation, die als Lowtech im Gegensatz zu den bekannten Hightech und finanzintensiven Innovationsbereichen (Bio-, Nano- oder Halbleitertechnologie) anzusprechen sind.
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6. S OZIALSTATIKER UND B EGEGNUNGSKUR ATOREN Nun zu glauben, ohne externe Steuerung emergieren gleichsam diese neuen Formen des Arbeitens gänzlich spontan, würde übersehen, dass es sich bei diesen neuen Arbeitskulturen im Grunde genommen um kuratorisch inszenierte Orte handelt. Die Betreiber von Coworking Spaces z.B. weisen sich sicher nicht durch rein altruistische Motive aus. Sie haben die richtige Idee zu einem richtigen Zeitpunkt entwickelt und diese in einen sich durch den ökonomischen Wandel transformierenden Stadtkörper platziert. Die dadurch ausgelöste Flexibilität in der Nutzung der zunehmend porösen Stadtstrukturen (Leerstand) erfolgt von unten, und erst langsam erkennen Immobilienbesitzer die Chance, die Kreativen nicht nur als Trockenwohner zu instrumentalisieren, sondern dauerhafte Provisorien der postmodernen Stadtnutzung einzurichten. Dass die entsprechenden Orte durch den verstärkten ›Traffic‹ einer bestimmten Szene gleichzeitig auch sozial, kulturell und damit auch in ihrem monetären Wert aufgewertet werden, ist eine Begleiterscheinung, die gegebenenfalls auch zur Gentrifizierung führen kann. Das Konzept des Coworking ist jedoch so flexibel angelegt, dass es sich an die jeweiligen Gegebenheiten und Veränderungen anzupassen weiß. Auffällig ist, dass sich an diesen Orten schnell ein sozio-kulturelles ›Ökosystem‹ entwickelt.
7. N EUE A RBEIT IN W ERTEGEMEINSCHAF TEN Das Konzept der Coworking Spaces hat unterschiedliche Ausprägungen. Zum einen gibt es Orte, deren Identitäten durch ihre Betreiber herausgearbeitet und mit einer impliziten Wertestruktur versehen werden. Hier wird der Ort gegebenenfalls auch als Marke aufgebaut, unter deren Dach unterschiedliche dort entstandene bzw. durchgeführte Projekte präsentiert werden können. Solche Orte sind in der Regel stark Community-gebunden und treten auch nach außen als eine Wertegemeinschaft auf. Andere Initiativen wiederum sehen sich eher als Bindeglied zwischen Mensch und Ort mit dem Ziel, »neue Orte für neues Arbeiten« zu entwickeln. Hier ist der Anspruch weniger ideologischmarktorientiert als vielmehr pragmatisch: Man sucht Gleichgesinnte außerhalb der eigenen vier Wände. Die Kultur dieser neuen Arbeit reagiert auf die Tatsache, dass immer mehr Menschen die digitalen Möglichkeiten nutzen wollen, um selbstbestimmt und mobil zu arbeiten. Sie wollen dies mit dem Anspruch auf Selbstentfaltung und Autonomie tun, ohne dabei gleichzeitig auf den Mehrwert eines sozialen sowie professionellen Umfeldes zu verzichten. Dieser Anspruch der flexiblen Anbindung an ein Kollektiv bei gleichzeitigem Autonomieerhalt entspricht einem Schwarmverhalten, das sich in Form von Coworking Spaces sowohl physisch
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als auch virtuell manifestiert. Bei diesem Phänomen steht weniger die alte Trennlinie zwischen abhängig arbeitenden Angestellten und Selbstständigen im Vordergrund. Vielmehr verläuft eine neue Trennlinie zwischen Leuten, die ständig erreichbar sein müssen, und Leuten, die selber steuern können, wann und mit wem sie kommunizieren. Letztere werden in der Betakultur der Coworking Spaces, die prozessuales, vernetztes Ad-hoc-Arbeiten möglich macht, einen geeigneten Entfaltungsspielraum finden. Vor dem Hintergrund des komplexen wirtschaftlichen Strukturwandels wird es in Zeiten dramatischer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und raumstruktureller Veränderungen immer eindringlicher darum gehen, nicht mit großen, langfristigen und überkomplexen Lösungen auf hyperkomplexe »wicked problems« zu reagieren. Vielmehr gilt es, den Blick auf selbstorganisierte kleine und feine Lösungsansätze vor Ort zu richten, die mitunter geschickter und tragfähiger Räume aktivieren und neu in Wert setzen können, als dies die heroische Haltung der traditionellen Stadtplanung zu leisten im Stande ist. Coworking könnte dabei zu einem Werkzeug werden, das Erwerbsoptionen und Raumaktivierung kostengünstig, unaufgeregt und lebensnah eröffnet.
8. S OZIALE I NNOVATIONEN Zahlreiche Studien und Politikempfehlungen haben in den vergangenen Jahren versucht, diskursiv den Weg für derartige Bottum-up-Bewegungen, wie die des Coworking, zu formatieren (Nordrhein-Westfalen 2011, Howaldt/Schwarz 2010, OECD 2008, National Endowment for Science 2008). Entsprechend präpariert, oder aber zufällig und unintendiert, wird nun das Feld der Innovation nicht mehr allein denjenigen überlassen, die sich traditionell dafür zuständig fühlen: den Managern und ihren Forschungsabteilungen, den Wissenschaftlern in ihren Labors und Elfenbeintürmen. Denn die in den örtlichen Coworking Spaces sowie auf den digitalen Plattformen des Web 2.0 erprobte Selbstermächtigung professioneller Amateure (NESTA) hat übergegriffen auf andere Institutionen – und dabei den Begriff Social Innovation auf die Agenda gebracht: Dabei ist die doppelte Auslegbarkeit des Begriffs durchaus beabsichtigt: Es geht einerseits um Innovationen, die die Institutionen des Gemeinwesens verbessern und dabei insbesondere die Belange der Schwächeren und Marginalisierten verfolgen. Gleichzeitig ist gemeint, dass diese sozialen Innovationen in einem partizipatorischen Prozess mit vielen Beteiligten entstehen, angepasst und weiterentwickelt werden. Auch hier steht das erprobte Modell der Open-Source-Software Pate, das verschiedene Rollen kennt und unterschiedliche Grade des Engagements zulässt. Bahnbrechendes Beispiel für soziale Innovationen waren die Mikrokredite, die die Grameen Bank seit den 1980ern in Bangladesch eingeführt hat, wofür
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deren Gründer und Erfinder Muahammad Yunnus 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Prinzip hat Yunnus das Verleihen von Geld nicht neu erfunden, aber indem er die Spielregeln änderte, und Kredite in kleiner Stückelung in dörflichen Regionen an Kleingruppen bestehend ausschließlich aus Frauen vergab, hat er eine funktionierende Mechanik gefunden, lokalem Kleinunternehmertum eine tragfähige Basis zu verpassen. Dadurch gelang es, ganze Dörfer und Regionen aus bitterer Armut zu führen und ihnen zu bescheidener Prosperität zu verhelfen. Die eigentliche Innovation dieses Ansatzes ist, die Armen nicht als passive Hilfeempfänger zu adressieren, sondern als potentielle Mikrounternehmer – und darauf ein profitables Geschäftsmodell aufzusatteln. Damit sind die Mikrokredite auch ein richtungsweisendes Modell für eine Bewegung innerhalb der Gründerszene, die gerade in vielen Teilen der Welt starken Zulauf erfährt: Social Entrepreneurship steht für den Gedanken, dass Weltverbesserung und Gewinnstreben keinen Zielkonflikt darstellen müssen, sondern sich gegenseitig begünstigen und verstärken können. Wo früher Modelle der Mildtätigkeit und des ehrenamtlichen Engagements gewählt wurden, um etwas gegen lokale und globale Missstände zu bewirken, wird heute verstärkt danach gesucht, ob sich diesen Missständen mit unternehmerischen Mitteln begegnen lässt. Im Idealfall wird damit nicht nur den Bedürftigen bessere Hilfestellung geleistet, sondern es entstehen auch florierende Unternehmen und Arbeitsplätze. Bislang organisiert sich die deutsche Szene in Eigenregie unter dem Dach globaler Organisationen wie Ashoka oder um lokale Austauschplattformen wie die Stiftung Entrepreneurship und den Betapitch in Berlin herum. Obwohl es zahlreiche Berührungspunkte mit der Kultur- und Kreativwirtschaft, der Sozialpolitik und dem dritten Sektor gibt, hat die Politik bis dato noch nicht die richtigen Begegnungsmomente entwickeln können, um diesen vitalen Bewegungen mehr als symbolische Anerkennung entgegenzubringen. Ein weiteres Beispiel für soziale Innovation, die an den Wurzeln künstlerischen Schaffens ansetzt und damit einen Grundpfeiler kreativer Prozesse neu formuliert sind die Creative Commons. Initiiert vom Stanford Juristen Lawrence Lessig und basierend auf dem Gedanken, dass Kreativität ein liberales und vor allem einfach zu handhabendes Copyright-System braucht, arbeitet diese NonProfit-Organisation daran, das Urheberrecht in den verschiedenen Ländern so anzupassen, dass kreative Ideen und Erzeugnisse freier zirkulieren können und die Urheber einfacher festlegen können, wer unter welchen Bedingungen und zu welchen Zwecken ihr Werk weitergeben und adaptieren kann. Auch hieran zeigt sich, dass es bei sozialen Innovationen oft nicht darum geht, die Dinge grundlegend neu zu erfinden – das bestehende Urheberrecht bleibt ja durch Creative Commons unangetastet –, sondern ein paar Stellschrauben anders zu justieren, die Bündel anders zu schnüren oder bewährte Konzepte in neue Kontexte zu überführen.
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Nicht zuletzt richtet sich der kreative Impetus, vorgefundene Institutionen zu hinterfragen und besser benutzbar zu machen, auf den politischen Prozess selbst. Open Government steht für neue Formen politischer Partizipation, die sich zumeist digitaler Werkzeuge und der Möglichkeiten des Internets bedienen. Wenn Politik und Verwaltung sich auf diesen Prozess einlassen und die entsprechenden Schnittstellen für digitale Bürgerbeteiligung schaffen, lässt sich zivilgesellschaftliches Engagement in ungeahnter Form entfalten, wie viele Beispiele zeigen. Digitale Bürgerhaushalte wie in Köln, Essen oder Solingen erprobten dies und stießen auf rege Beteiligung; dabei stellten sie eine größere Akzeptanz auch für drastische Sparmaßnahmen her. Interaktive Angebote wie fixmystreet.com in Großbritannien zeigen, wie sich Bürger an der Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur beteiligen können, und frankfurt-gestalten.de bringt zum Ausdruck, wie sich die Frankfurter Lokalpolitik in Echtzeit verfolgen lässt. Derartige Open-Source-Projekte finden großes Echo und zeigen auf, dass hier noch enormes Potential verborgen liegt, das durch intelligente und kreative Programmierlösungen erst noch freigesetzt werden muss. Auf dem Weg zu einer weiterführenden staatlichen Akzeptanz und Anerkennung dieser selbstorganisierten emergierenden Keimzellen zeigt sich, wie derartige Projekte im Kern einen immer politischen Wert zum Ausdruck bringen. Derartige soziale Innovationen weisen sich durch eine Dezentrierung politischer Macht aus, sie negieren im praktischen Sinn klassische Top-downWeisungsstrukturen und erkennen in offenen Strukturen die Chance, neue nachhaltige Gemeinwohlstrukturen und Teilhabestrukturen aufzubauen. Dass derartige soziale Innovationen heute nicht in der Art und Weise zu scheitern drohen, wie damals in den 1970er Jahren ähnliche Bewegungen redend und diskutierend zugrundegingen, erklärt sich meiner Meinung nach durch das gestiegene Krisenniveau der 2000er und 2010er Jahre. Während sich in den 1970er Jahren neue Kollektive in der damals vollziehenden diskursiven Neuordnung der Welt und der besseren Gesellschaft verloren, geben sich die nun agierenden sozialen Bewegungen in den 2010er Jahren durch ein hohes Maß an Pragmatismus zu erkennen, mit Hilfe dessen eine neue Generation Wirklichkeitsbehauptung betreibt.
9. TRENDS UND TREIBER NEUER SOZIALER I NNOVATIONEN Dynamisiert und nachgefragt werden derartige soziale Innovationen immer eindeutiger auch durch den sich vollziehenden Wandel in den Organisationen der Wirtschaft, in der ein schleichender Umbau festzustellen ist. Die im Industriezeitalter dominierenden Einheiten des Wirtschaftslebens, Unternehmen und Konzerne, beginnen sich aufzulösen, weil sie immer seltener die beste Antwort auf die Anforderungen volatiler Marktumfelder und kommuni-
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kationsbasierter Wertschöpfung liefern. In den hochproduktiven Segmenten nehmen Routinetätigkeiten immer weiter ab, werden outgesourced oder automatisiert. Projektifizierung lautet das Schlagwort, das bedeutet, dass das Management des Ausnahmefalls immer mehr zur Regel wird. Die Arbeits- und Organisationsweise von Filmteams, Theaterensembles oder Bergsteiger-Expeditionen wird zum Vorbild für immer größere Teile der Wirtschaft. In der Folge werden die Unternehmensgrenzen durchlässiger, und es bilden sich neue Wertschöpfungsnetzwerke z.B. mit Zulieferern. Mit der Projektwirtschaft wächst die zeitkritische Projektarbeit in wechselnden, abteilungs- und organisationsübergreifenden Teams. Der Aufstieg der Projektwirtschaft und die poröser werdenden Außengrenzen von Unternehmen und Organisationen eröffnen Spielräume für laterale Unternehmungen, bei denen unterschiedliche Welten produktiv aufeinanderprallen. Darüber hinaus hat die Digitalisierung in vielen Bereichen seit einigen Jahren auch dafür gesorgt, dass die Nadelöhre des Industriezeitalters wegfallen. Einerseits fallen Markteintrittsbarrieren und der Kapitaleinsatz sinkt. Musik, für die man vor 20 Jahren ein voll ausgerüstetes Tonstudio brauchte, lässt sich heute am Laptop produzieren. Andererseits stehen die Kanäle für Marketing und Vertrieb jetzt durch das Internet potentiell allen offen. In der Summe führt das dazu, dass die Skalenvorteile von Großunternehmen erodieren und die effiziente Betriebsgröße sinkt. Somit wird die Wirtschaftsstruktur insgesamt kleinteiliger und granularer, mikrobusiness und free agents (Soloselbstständige) spielen eine größere Rolle, wie es in der Kultur- und Kreativwirtschaft heute bereits der Fall ist. Der Trend der wachsenden Zahl unternehmerisch Selbstständiger hat sich in den Mitgliedsstaaten der EU seit den 1990er Jahren stetig erhöht. Dieser Trend gilt auch für Deutschland, wo mittlerweile 11 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung selbstständig ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2011). Seit Anfang der 1990er Jahre hat die Selbstständigkeit kontinuierlich zugenommen. Die Anzahl der Selbstständigen hat sich zwischen 1991 und 2010 um 40,2 Prozent erhöht, und zwar von etwas über 3 Mio. auf 4.3 Mio. Im Jahr 2010 waren damit in Deutschland fast 11 Prozent der erwerbsfähigen Personen selbstständig (vgl. Statistisches Bundesamt, Ergebnisse des Mikrozensus 2010). In jüngster Zeit wird nicht mehr nur von »Selbstständigen«, sondern zusätzlich von »Neuen Selbstständigen« gesprochen. Damit wird ein Erwerbstyp beschrieben, der eigenverantwortlich, mit hohen Fachkenntnissen, Innovationsansprüchen und Kreativität oftmals als Solounternehmer agiert und oft von zu Hause oder von neuen Arbeitsorten seiner Tätigkeit nachgeht. Dieser Begriff steht auch für neuartige Tätigkeitsprofile und Marktideen. Die deutliche Zunahme der Gründungen durch die »Neuen Selbstständigen« geht auf sogenannte »moderne Dienstleistungen« zurück. Hierfür spielt ein neues Verständnis der Selbstständigkeit als autonome und kreative Tätigkeit ebenso eine Rolle wie die Chancen des »Quereinstiegs«, die z.B. in Beratungs-, Kultur- und
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Medienberufen gegeben sind. Laut Einschätzungen von DIW-Forschern heißt das, dass sich nahezu jeder fünfte Hochschulabsolvent in der beruflichen Laufbahn selbstständig macht (vgl. Fritsch/Kritikos/Rusakova 2012: 9 auf der Basis von Mikrozensusdaten). Viele und vor allem junge und gutausgebildete Menschen testen ihre Geschäftsideen, indem sie gründen. Dies trifft, wie jüngst eine KfW-Studie zeigt, vor allem in der Kreativwirtschaft zu (vgl. KfW Research – Standpunkt 2011). Mit dieser Kleinteiligkeit geht auch eine neue Art der Entwicklung, Organisation und dem Management von relevantem Wissen einher. Es hebt sich signifikant gegenüber der industriellen Form von Arbeit ab, erfordert andere Kompetenzen und Fähigkeiten sowie Orte des Austauschs und Transfers. Eben weil relevantes Wissen immer eindrücklicher in diesen kleinteiligen Strukturen nicht hierarchisch strukturiert ist, ist es anders als in etablierten kleineren und mittleren Unternehmen sowie Corporate Companies situationsabhängig. Dazu kommt, dass sich in und mit dem Internet neue sowie zugleich offene Kooperations- und Arbeitsformen herausbilden, die unter dem Schlagwort der »Open Innovation« bekannt sind und an die sich neue Kooperationsformen binden. Dies trifft insbesondere für institutionell schwach verankerte oder gänzlich freie Kreativ- und Wissensarbeiter zu, die damit neue Chancen der Profilierung abseits etablierter Berufs- und Karrierewege erfahren. Kreativ- und Wissensarbeiter nutzen dabei Kommunikationsmedien und Social Media, um ihr Know-how besser mit den Expertisen anderer Spezialisten zu verbinden und dabei zu neuem Wissen auf der Basis sogenannter Open-Source-Technologien zu kombinieren (erfolgreiche Beispiele sind die Entwicklungen von Softwareprogrammen wie z.B. dem Internetbrowser Firefox). Möglich sowie interessant für Einkommensoptionen wird dies durch dramatisch gesunkene Transaktionskosten für Koordination und Kommunikation. Dies ermöglicht wiederum die Zusammenarbeit in losen und informellen Projektnetzwerken im Gegensatz zur Berufspraxis in stabilen Hierarchien und preisgesteuerten Märkten (vgl. Benkler 2002, Grabher 2004). Damit geht eine gewandelte und wachsende Bedeutung des Handwerks einher, das zur Kreativ-Disziplin aufsteigt, sofern es das nicht immer schon war. Wir erleben die Renaissance der Manufakturen im digitalen Zeitalter. Es gilt zu verstehen, dass ausgerechnet das Internet traditionelle Gewerbe und Manufakturen gestärkt und wiederbelebt hat, weil es die kritische Masse an Kunden für Nischen- und Liebhaberprodukte weltweit aggregieren kann. Die nächste industrielle Revolution könnte den Kreis schließen und neue postindustrielle Strukturen schaffen, die in vielen Punkten eher Gemeinsamkeiten mit den Verhältnissen vor der ersten industriellen Revolution aufweisen. Auffallend ist, dass sich die Neuerprobungen und Anwendung von Technologien immer eindeutiger im Verbund mit neuen oder alten sozialen Kultur-
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techniken des Teilens verzahnen und erst in und durch diese sozialen Gemeinschaften zur Geltung kommen.
10. N EUE O RTE DER P RODUK TION Sollten Sie z.B. eine neue Ablage für Ihr Handy benötigen, so können Sie diese einfach ausdrucken! Was noch unglaublich klingt, ist in sogenannten Fabrication Laboratories, kurz Fab Labs, möglich. Die Dingfabrik Köln ist beispielsweise eines der ersten Fab Labs in Nordrhein-Westfalen. Es bietet die Möglichkeit, eine individuelle Idee für ein neues Produkt oder eine technische Entwicklung direkt in einen Prototypen umzusetzen und ist somit eine Fabrik, in der fast alles hergestellt und gelernt werden kann. Der Verein Dingfabrik steht für allgemeinen interdisziplinären Austausch in Workshops und Vorträgen und sorgt für die Bereitstellung von computerisierten Werkzeug-Maschinen und einer Bastelwerkstatt. Auch konkrete Planungen zur Einrichtung mit Lasercutter und 3D-Plotter liegen bereits vor. Die Türen der Dingfabrik stehen jedem offen, nicht nur Studenten, Akademikern oder Besitzern von Spezialmaschinen, sondern beispielsweise auch ehrenamtlichen Unterstützern – in pädagogischer, technischer oder finanzieller Hinsicht.
11. A F TER THE HYPE — EINE DIFFERENZIERTE L ESART DER K ULTUR - UND K RE ATIV WIRTSCHAF T Verbindet man die in Teilen sehr euphorische Diskussion um soziale Innovationen mit der nicht minder euphorischen Auseinandersetzung um die sogenannte Kultur- und Kreativwirtschaft, so zeigt sich gerade aus einer stadt- und kulturgeographischen Betrachtung, dass sich im Kern gerade neue kreative und wissensbasierte Professionelle mit einem Anspruch zu erkennen geben, ihre Stadt und ihren städtischen Nahraum (mit) zu gestalten, Arbeiten und Wohnen nicht funktionell getrennt zu haben, sondern verschiedene Funktionsbereiche an einem Ort zu vereinen. Abstrahiert man nun im Folgenden von der eingangs vorgestellten Fallskizze, so zeigt sich generell, dass soziale Innovationen an die Formierung von neuen Gemeinschaften gekoppelt sind. Innerhalb wissens- und ideenbasierter Ökonomien – und damit auch in der sogenannten Kultur- und Kreativwirtschaft – entstehen Kulturen neuer Arbeits- und Lebensformen, die – ob nun im Gewand vorindustrieller Organisationsstrukturen oder als informelle Netzwerke – als Kulturen sozialer Teilhabe beschrieben werden können (vgl. Bergmann/Lange 2011). Sie bemessen sich an der Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen, sich mit seinen kreativen und sozialen Ressourcen in eine Ge-
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meinschaft einzubringen. Damit basiert die kreative Netzwerkgesellschaft in weiten Teilen auf einer Ökonomie der Kontribution (Beitrag) und Reputation (Anerkennung). Formen der Wertschöpfung, die aus der sozialen Sphäre resultieren, werden hervorgebracht und in komplexen, arbeitsteiligen Gemeinschaftsprozessen auch ökonomisch weiterentwickelt. Open Source als Organisationsprinzip ermöglicht eine »kollektive Intelligenz«, in der Solidarität und Wettbewerb Hand in Hand gehen (Friebe/Ramge 2008). Schwarm und Multitude sind in diesem Kontext Begriffe einer Beschreibung neuer Vergemeinschaftungsformen bei gleichzeitigem Erhalt der individuellen Autonomie (diese Begriffe wurden ursprünglich durch verschiedene neo-marxistische Philosophen und Politikwissenschaftler wie Paolo Virno oder Antonio Negri geprägt, werden aber inzwischen selbstverständlich auch von Akteuren im kreativwirtschaftlichen Kontext verwendet). Diese Vergemeinschaftungen funktionieren dabei sowohl virtuell als auch real-wirksam und lassen sich durch den Begriff der Schnittstelle genauer erfassen (vgl. Wellmann 2009). Denn Wachstum und Innovation im wissensorientierten Spätkapitalismus geschehen an den Schnittstellen der verschiedenen Funktionssysteme Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und öffentlicher Sektor. Die Kultur der Schnittstelle markiert gleichsam das Selbstverständnis der Netzwerkgesellschaft. Die Art und Weise, wie produziert und konsumiert, kommuniziert und interagiert wird, hat sich durch die Massennutzung neuer Informationstechnologien und die dadurch sinkenden Transaktionskosten grundlegend verändert. Immer mehr große etablierte Unternehmen nutzen das Wissen und die Kreativität ihrer Kunden, um Produkte weiterzuentwickeln. Unter dem Begriff des »Crowdsourcing« werden so intellektuelle Leistungen ausgelagert bzw. Schwarmintelligenz in bestehende Strukturen eingebunden. Dies funktioniert auch abseits großer Unternehmen im Rahmen selbstorganisierter Netzwerke wie etwa der Open-Source- und Creative-Commons-Bewegung (www.creativecommons.org). Produkte werden dadurch zu Gemeinschaftsleistungen, denn eine solche Form kooperativer Arbeitsteilung lebt von der Wechselwirkung und von komplexen Abstimmungsmechanismen mit anderen. Strategien der gegenseitigen Bewertung und des Peerings machen die Vielfalt navigierbar, erschließen kollektives Wissen und lassen neue Strukturen der Wertschöpfung erkennen. Kennzeichnend für die zugrunde liegenden hybriden Organisationsformen sind dabei ein hoher Grad an Informalität, Fragmentierung und ständiger Transformationsbereitschaft. Die Herausforderungen und damit Potentiale der Zukunft liegen darin, freie Kooperation und kommerzielle Ausrichtung, Gemeinschaftsgedanken und korporative Strukturen in eine Balance zu bringen. Die Steuerung dieses Neben- und Miteinanders unterschiedlicher Kompetenzen und Geschwindigkeiten bedarf einer Steuerungspraxis, die der Kurzfristigkeit und Heterogenität, den instabilen finanziellen Verhältnissen und der immer demokratischeren Gestaltung des
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Marktgeschehens zu begegnen weiß. Wie in einem Ökosystem bedarf es dabei Mechanismen der Selbstregulierung und der Bereitstellung eines Raumes für die Emergenz verschiedener (Un-)Ordnungen.
12. S HARING IS THE NE W BL ACK — K ULTUREN DES S HARINGS ? Die gegenwärtige Krise in Europa gibt Anlass, vertraut gewordene Maximen ökonomischen und sozialen Handelns zu überdenken. Gerade wenn Gewinnmaximierung fraglich wird, Exklusivität von Wissen und Information keinen Wettbewerbsvorteil mehr verschafft, wenn die Komplexität von ökologischen und gesellschaftlichen Problemen nicht mehr mit Hilfe selektiver und technokratischer Expertenlösungen bewerkstelligt werden kann, dann scheint Kollaboration Mehrwert und Sinn zu ergeben. Ob im Bezug auf die Wohnung, den Arbeitsort, das eigene Fachwissen oder Auto, nahezu alle Lebensbereiche erreicht der Trend zum Tauschen. Diese konkreten Praxisformen nicht nur reformbereiter Hipster haben wenig mit neuromantischen Visionen zu tun. Sie sind konkrete Exit-Optionen nach der schattigen Ära des Neoliberalismus. Die Kulturtechniken des Sharings umfassen weite Bereiche von Gütern, Räumen, Prozessen, (Arbeits-)Technologien und Infrastrukturen. Sie aktualisieren und transformieren alte Vorstellungen vom ewigen Besitz, dauerhaft gültigen Technologien und hochpreisigen Investitionen in Räume, Geräte und andere für Arbeitsprozesse wichtige Ressourcen. Als Kulturtechnik des Pops ist das Teilen von musikalischen, textlichen und sprachlichen Artefakten genuin für einen großen Teil unserer gegenwärtigen Kultur verantwortlich. Blickt man zurück, so sind diese sozialen Innovationen, Praktiken des Teilens und Tauschens also und das damit verbundene Neuerfinden von Kultur, immer auch Reaktion auf globale Krisen. Als Reaktion auf die Moderne der 1910er und 1920er Jahre bildeten sich Reformbewegungen: von naturverbundenen Wandergruppen bis hin zu künstlerischen und gestaltenden Experimentiergruppen abseits der unübersichtlichen Großstadt. In den 1960er und 1970er Jahren formierten sich Community-Bewegungen gegen ökologische und politische Krisen und bildeten den argumentativen Boden für die Ökologiebewegung der 1980er Jahre aus. Nun ist es wiederum mehrheitlich eine jüngere Generation in technik- und kreativaffinen Milieus, die sich aufmacht, eine Machbarkeitsbehauptung zu betreiben: dass Teilen nicht nur das Gute und Schöne bedient, ehrenwert ist und moralisch erhebend ist, sondern dass es monetär Sinn macht, sozialen Mehrwert bietet und darüber hinaus auch noch gesellschaftlich en vogue ist. Während die alten Kader der etablierten Funktionssysteme Bankenwelt, Politik und Großhandel um Steuersätze, Schuldentilgung und Kreditrettungsschirme feilschen, hat sich eine wachsende »sharing community« auf den Weg
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gemacht, den Besitzstandswahrern ein alternatives Modell vorzuführen. Diese innovativen Kollaborationsformen finden nicht nur in bekannten Bereichen von Ökologie, Ernährung oder Softwareentwicklung und sogar der Automobilität statt. Bei »Local-Motors« aus Detroit arbeitet eine virtuelle Gruppe an Autoentwicklungen, welche durch crowdfounding zu realen Fahrzeugen werden. Man kollaboriert beim Prototyping von zukunftsfähigen Autos und teilt das Wissen im Zuge der Bewertung anderer Ideen. Auf »Tamyca« teilen die User ganz konkret ihre eigenen Autos in der direkten Nachbarschaft. Insgesamt wächst die Gruppe an Menschen, die lieber Autos teilen, als sie zu besitzen, dass auch BMW und Daimler mit »car2go« und »drivenow« darauf setzen, ihre Modelle nicht nur zum Kauf, sondern auch zur flexiblen Miete anzubieten. Kollaboration avanciert zu einer Grundbedingung sozialer Innovationen. Teilen als Ausdruck selbstbestimmter gesellschaftlicher Praxis bedroht nicht die erworbenen Wissen, Güter und Infrastrukturen, es optimiert sie und schafft soziale Mehrwerte zwischen Menschen mit ähnlichen Zielen und Einstellungen. In diesen Communities wird relativ unideologisch und praxisnah nach alternativen Formen der Wissensproduktion gesucht. Die Suche nach Lösungswegen aus der gegenwärtigen Krise ist also schon in vollem Gange. Bleibt eigentlich nur zu fragen: Was hält uns überhaupt noch auf dem alten Weg?
13. Z USAMMENFASSUNG : NEUE I NNOVATIONSGEOGR APHIEN Mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft ändern sich nicht nur Arbeitsformen, es kommt auch zu einem fundamentalen Umbau städtischer Räume. Neue Raumbedarfe treffen auf große Leerstände in Form alter Industrieareale. Mitunter können durch intelligente Umnutzungen in solchen Strukturen neue Formen des Arbeitens und Produzierens folgen. Dass muss nicht immer durch kapital- und planungsintensive Sciences Parks, Innovationscampus oder Business Districts erfolgen. In jüngster Zeit zeigt sich, dass neue Räume für Wissensarbeiter selbstorganisiert in städtischen Nischen und Leerständen entstehen. Dies liegt ganz wesentlich an den Möglichkeiten, die digitale Produktionsweisen eröffnen. Der Kultur- und Kreativwirtschaft kommt darin gewissermaßen eine Impulsfunktion zu: indem sie unerforschtes Terrain erkundet, urbane Leerstellen aufspürt, mit Möglichkeitsräumen operiert und utopisches Material in verfahrene Situationen einschleust. Sie hilft, unorthodoxe Lösungsansätze zu entwickeln. Ein derart verräumlichter Blick auf neue Prozesse und Praxisformen der Akteure aus der sogenannten Kreativwirtschaft bringt zum Ausdruck, dass meistens ästhetisierende oder kulturalistische Erklärungen bis dato in den
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Vordergrund gerückt wurden, in deren Folge die symbolische Aufwertung von Stadtteilen, ihres Images und ihrer Atmosphäre erwartet wurde (vgl. Böhme 2006). Ebenso wurden mannigfaltig die Aufwertungseffekte und Umwandlungsprozesse beschrieben und in zahlreichen Fallstudien vorgelegt (vgl. Holm 2006). Weitaus seltener ist aber der Blick auf die Varianten der im Zuge der Ortsaneignung erwachsenen Suche nach gesellschaftlicher Teilhabe im Städtischen gerichtet worden, um die Relevanz von Orten als Erklärung zur Ausprägung von neuen Beteiligungs- und Urbanitätsformen des Städtischen im 21. Jahrhundert hervorzuheben. Mehrheitlich wurde bis dato auf Konfliktpotentiale und Konfliktzonen des Städtischen fokussiert, wobei die mitunter sehnsüchtige Suche nach örtlicher und sozialer Bezugnahme weitaus seltener in Augenschein genommen wurde. Denn genau diese stellt einen zentralen Anlass dar, nach neuen Formen der Ortsbildung, der Orts- und Raumaneignung zu fragen: Das Primat der traditionellen Stadtplanung hat sich schon lange auf die Suche gemacht, neue soziale, öffentliche und generell städtische Orte zu planen, die vielfältige Kontakte zwischen unterschiedlichen Lebensstilen zu ermöglichen im Stande sind und die den Nukleus für Kontaktzonen im Städtischen abgeben. Zwischen diesen beiden Polen, im Schnittfeld also der Konflikt- und Kontaktzonen, eröffnet sich die Auseinandersetzung um die Neuformatierung von Orten des Städtischen. Städtische Orte sind dabei Knotenpunkte, an denen Neues erworben und verhandelt werden kann. Diese Erklärung für die Bedeutung von Orten gilt seit der Relevanz von mittelalterlichen Marktplätzen. Ebenso lässt sich begründen, warum weltweit seit mehreren Dekaden ein kontinuierlicher Strom von Menschen in die Ballungsgebiete zieht: Man erwartet positive Effekte hinsichtlich Arbeit, Wissensgenerierung und neuer sozialer Einbettung. Wie aber konkrete städtische Orte jenseits euphorischer Bedeutungen (Hot Spots!) und Zukunftserwartungen (Urban Age!) zu Laboratorien der Zukunft avancieren könnten, ist meistens unklar. Entgegen dieser euphorisierenden und positivistischen Betrachtung erfahren in jüngster Zeit Orte und Räume mit der Verschiebung weg von exklusiven Innovationsprozessen in suburbanen Forschungssilos hin zu städtisch eingebetteten sozialen Innovationsprozessen (siehe Initiativgruppen, Selbstorganisation und Bottum-up-Planungen) eine neue Aufmerksamkeit. Ersichtlich wird das, wenn abseits der festgefahrenen Trampelpfade der Hochglanzprojekte neuer Ortsplanungen eben Orte auf dem Radar von anderen Verantwortungsgemeinschaften erscheinen: Zwischengenutzte Orte, nachbarschaftsorientierte Werkstätten, integrative Fab-Labs, Coworking Spaces, Urban Gardening, Nachbarschaftsgärten u.a. Sie erzählen von der ortsspezifischen Suche nach neuen sozialräumlichen Kontexten und eben konkreten Orten, um sich auszutauschen, zu erproben und abseits der vorgegebenen Routinen Orte zum Experimentieren sowie zum Gestalten aufzufinden.
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Diese Mikro-Orte weisen sich dadurch aus, dass an ihnen eine grundsätzlich neue und notwendige Technik zur Zukunftsgestaltung erlernt werden kann. An diesen Orten sind Improvisationen nicht nur möglich, sie können erspürt, erkannt, erarbeitet und überhaupt erst einmal erprobt werden. Der Charakter dieser Orte weist sich durch flexible und nicht vorgegebene Abgrenzungsroutinen aus, wie wir sie noch zu gut aus der Schule, von Universitäten oder von den etablierten Forschungssilos oder konventionellen Arbeitsorten kennen. An diesen Orten kann Stadt und das Leben und Arbeiten in der Stadt überhaupt erst einmal wieder neu gelernt werden. Richard Sennett hat in jüngster Zeit mit dem Hinweis auf die verschütteten Kulturtechniken der Weitergabe von Erfahrungswissen im handwerklichen Produktionsprozess darauf hingewiesen, dass sich derartige handwerkliche Wissensvermittlungen nicht ortlos vollziehen, sondern z.B. an Werkstätten und Manufakturen gekoppelt sind. Es sind dies die sozialen Relais, an denen fortlaufend Rituale und Kooperationskulturen praktiziert wurden, mit deren Hilfe zum einen Gegenstände hergestellt, repariert und modifiziert werden konnten, in denen aber auch soziale Beziehungen aktualisiert, gepflegt und weiterentwickelt werden konnten. Sennett hat, trotz teilweise wenig systematischer Herangehensweise in seinem Buch »Together« (2012) relativ assoziativ aber gewinnend darauf hingewiesen, wie derartige geteilte Praktiken z.B. zwischen Lehrling und Handwerksmeister mit Ritualen, informellen Gesten immer auch an soziale Räume gekoppelt sind. Die dabei zum Tragen kommenden Kooperationskulturen erfahren in der Diskussion um neue Teilhabepraktiken in den Akteursnetzwerken der Kultur- und Kreativwirtschaft eine neue Relevanz. Was nicht heißt, dass Wettbewerb und Leistungsansprüche durch eine Überbetonung des sozialen Miteinanders keine Bedeutung mehr haben. Neue soziale Orte sind eine Option, um im Ringen um Sichtbarkeit der Kreativakteure mit anderen neue Bündnisse und Allianzen zu erproben, um innerhalb der nach wie vor hochrisikobehafteten Markt- und Produktionsbedingungen ein Mindestmaß an Handlungssicherheit zu erlangen.
14. P ERSPEK TIVE I NNOVATIONSÖKOLOGIEN : EIN V ORSCHL AG FÜR EIN NEUES I NNOVATIONSPAR ADIGMA Die skizzierten Beispiele zeigen, dass Innovationen in komplexen Systemen entstehen, die jenen Ökologien in der freien Wildbahn ähneln. Mit der Wildnis haben es Wirtschaftsförderer und Kulturpolitiker nicht so. Der Einfachheit halber hat man daher lange Zeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft stets Gleiches mit Gleichem Gemessen. Designer wurden wie Erbsen nur als Mitglieder der Branche Design zugeordnet. Diese »Erbsenzählerei« schaffte es, die Verteilung der Branchen abzubilden. Weitergehende Potentialitäten zur Lösung
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von städtischen, sozialen und technischen Problemen fielen dabei allerdings unter den Tisch. Ähnlich erging es anderen Professionen, die in das starre Gerüst der Teilbranche gezwängt wurden, um der Idee des neuen Branchenkonzepts »Kultur- und Kreativwirtschaft« zum zweifelhaften und nur teilweise vorhandenen Erfolg zu verhelfen. Der anhaltende Widerstreit um die Akzeptanz des neuen Branchenkonzepts resultiert ganz wesentlich aus der rigiden Zuordnung von Gleichem zu Gleichem. In jüngster Zeit bemühen sich viele regionale Förderer, junge Kreativagenturen und institutionelle Promotoren, die erweiterten Potentiale und Dienstleistungsfähigkeiten der kreativen Protagonisten zu entwickeln. Man hat erkannt, dass sich Arbeit und Wertschöpfung entlang komplexer Koordinaten in offenen kreativen Milieus vollziehen: Maßgeblich sind kulturelle und soziale Diversität, Arbeit in Netzwerken und der Bedeutungsgewinn von neuen Orten des Austauschs und der Kollaboration. Dort verschränken sich die digitale und die analoge Sphäre. Diese Orte ähneln chaotischen, unbestimmten und oft uneinsehbaren wilden Biotopen. Der britische Berater John Howkins hat vor einigen Jahren das Konzept der Innovation Ecologies im Kern daraufhin ausgerichtet, dass schöpferischkreative und innovative Prozesse und Praktiken als Austauschkreisläufe und komplexe Stoffwechselsysteme zu entwerfen sein müssen. Zentral ist ihm der Verweis auf die Bedeutung von sozialer und kultureller Vielfalt als Umgebungsbedingung. Diese Idee wirft nicht Gleiches mit Gleichem in einen Topf und gaukelt nicht vor, statistische Ordnung ins Chaos zu bringen. Sie interessiert Austauschprozesse zwischen gänzlich unterschiedlichen Akteuren. Überraschungen sind dabei erwünscht! Es geht darum, Orte in den Blick zu nehmen, bei denen unübersichtliche Nachbarschaften aufeinanderprallen. Es wird davon ausgegangen, dass gerade aus Irritationen neue Ideen entstehen. Das junge Paradigma der Innovationsökologien als Verständnisbrille für die Wirkmächtigkeit der kreativen Akteure verbündet sich aktuell mit zwei weiteren Trends: Zum einen verbindet sich diese mit der Forderung, Auswege und Lösungen aus den aktuellen gesellschaftlichen Krisen nicht nur den technologischen Innovationen oder den etablierten Entscheidungskadern zu überlassen: Soziale Innovation lautet daher das Schlagwort. Es geht um Selbstorganisation und neue Nutzungsformen von urbanen Räumen, neue Betreiberstrukturen und die Selbstermächtigung professioneller Amateure durch Plattformen des Web 2.0. Zum anderen erweisen sich Metropolen mehr und mehr als Verhandlungskontexte und Praxislabors, um vor der Nase der etablierten ideenarmen Entscheider die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Urban Gardening, Nischenökonomien, private Bildung, Fab-Labs, Baugruppen und selbstorganisierte Werkstätten vernetzen sich zu Aktionsfeldern und Ideengeneratoren. Die Stadt wird als Innovations-Laboratorium wichtiger denn je.
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Der Perspektivenwechsel der Innovationsökologien löst die Kultur- und Kreativwirtschaft endgültig aus ihren kulturpolitischen und kulturalistischen Verankerungen und rückt sie stärker als bisher ins Zentrum gesellschafts- wie wirtschaftspolitischer Suchprozesse nach Quellen des Neuen. Für die etablierten Entscheider bedeutet dieser Perspektivwechsel erst einmal Umdenken. Müssen sie sich doch auf ein wenig planbares, kollaboratives und unbestimmtes oder gar wildes Handlungsfeld begeben, eben ein schwer zu überschauendes Terrain, das sich immer dynamischer ausbreitet.
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In Europa leben bereits heute über 60 Prozent der Bürger in Städten (vgl. United Nations. World Urbanization 2011). 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU werden dort erwirtschaftet (vgl. Europäische Investitionsbank 2011). Städte sind Motor der Wirtschaft und zugleich Lebensraum der Mehrheit aller Menschen. Konfrontiert mit drängenden Zukunftsfragen, -ängsten und -szenarien wird der gesellschaftliche Ruf nach technologischen, organisatorischen oder systemischen Innovationen für urbane Lebensräume lauter. Dahinter steht die Hoffnung, die vordergründigen Widersprüche zwischen den individuellen bzw. gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Mobilität, Konsum und Lebensqualität auf der einen und Ressourcenschutz, Klimaschutz und Nachhaltigkeit auf der anderen Seite mit Hilfe technischer Innovationen lösen zu können. Die Technik- und Naturwissenschaften erforschen, planen, konstruieren und entwickeln neue Methoden, Werkzeuge und Technologien, die zu neuen Lösungskonzepten befähigen. Damit antizipieren und bestimmen sie zukünftige Lebensräume. Bei der Entwicklung neuer Lösungen folgen Ingenieure und Naturwissenschaftler traditionell einem nüchternen, an Funktionsanforderungen orientierten Vorgehen. Ihr Aufgabenverständnis orientiert sich an der konkreten technischen Problemstellung, den Lösungsanforderungen und Funktions- oder Leistungskriterien. Basierend auf dieser Anforderungsanalyse legen Ingenieure und Naturwissenschaftler die Zielsetzung für ihre Entwicklungsarbeiten fest. Sie entwickeln die Lösung gemäß der Zielsetzung und erproben/validieren sie anschließend experimentell oder an einem Anwendungsfall der Praxis. Überprüft wird dabei die Zielerreichung hinsichtlich des anfangs aufgestellten Anforderungskatalogs. Sehnsüchte und emotionale Bedürfnisse sind von jeher keine Begrifflichkeiten, die den Anforderungskatalog der Technik- und Naturwissenschaften, vielleicht mit Ausnahme bestimmter Aufgabenstellungen im Produktdesign oder der Technikvermarktung, prägen.
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Wie harmonieren diese technisch geprägten Anforderungskataloge und abgeleiteten technisch geprägten Zukunftsvisionen mit den Bedürfnissen bzw. den noch tiefer im Menschen verwurzelten Sehnsüchten in Bezug auf sein Lebensumfeld in der Stadt? Die angesprochenen Sehnsüchte projizieren sich vor allem auf zwei Bereiche, deren Synthese mit dem Entwurf technischer Stadtsysteme durch weitere Diskussion untersucht werden muss:
1. S OZIALES , K OMMUNIK ATION UND P ARTIZIPATION Wie im vorausgehenden Kapitel »Sehnsuchtspraktiken« diskutiert, strebt der Mensch als soziales Wesen nach Partizipation an der Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Dies betrifft nicht nur die Wünsche hinsichtlich der Bürgerbeteiligung an städtischen Planungsprozessen. Das Bedürfnis äußert sich auch in den vielfältigen sozialen Protestformen jüngster Zeit, deren Kritik an den urbanen Raum gerichtet ist. Zu denken ist etwa an die jüngsten »Occupy«- oder »Reclaim the City«-Proteste in zahlreichen Großstädten von New York bis Hamburg sowie die Praktiken der Raumaneignung von Gruppen des Urban Gardening oder des Guerilla Knittings, in denen soziale Gruppen etwa durch Strickarbeiten an Straßenlaternen oder durch Bepflanzung von brachliegenden Flächen städtischen Raum symbolisch besetzen. Hierin drücken sich Bedürfnisse aus, von denen wir heute nicht wissen, wie sie in den entworfenen technisch geprägten Stadtbildern reflektiert sind. Natürlich stehen vielfältige technische Mittel zur Verfügung, um soziale Interaktion und Community-Bildung zu fördern. Man denke nur an soziale Netze, Blogs, Wikis oder andere sogenannte Web-2.0-Angebote im Internet. Jedoch lässt die aktuelle Wahrnehmung der urbanen Protest- oder Gestaltungspraktiken vermuten, dass derart technische Angebote nur in geringem Maße das Wesen dieser neuartigen Muster sozialen Teilhabe- und Teilnahmeverhaltens abbilden können.
2. E MOTIONALER A NSPRUCH , Ä STHE TIK UND D ESIGN Mit steigendem Wohlstand steigt auch das Bedürfnis nach weitergehender Erfüllung menschlicher Sehnsüchte durch Stadtraum, Gebäude, Fahrzeuge, Infrastrukturen und Produkte. Akzeptanz und Unterstützung werden nur Lösungen finden, die auch emotionalen Bedürfnissen und Ansprüchen gerecht werden können. Wir stellen beispielsweise fest, dass dem heutigen Bedürfnis nach Urbanität offensichtlich vor allem Quartiere der Gründerzeit mit hohem Altbaubestand und vermischter Nutzung durch Handel, Handwerk und Wohnen entsprechen. Jedenfalls bilden sich die sogenannten Szeneviertel in vie-
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len deutschen Großstädten vor allem in Quartieren dieser Prägung aus. Diese entsprechen eben nicht dem Prinzip funktionaler Trennung. Die meisten Investoren und Bauträger jedoch sind spezialisiert, entweder auf Büro- oder auf Wohnungsbau (vgl. Rauterberg 2012). Die Stadt New York hat angesichts des prognostizierten Einwohneranstiegs jüngst die gesetzliche Mindestquadratmeterzahl für Wohnungen von 40 qm auf 20,4 qm gesenkt. Für die Gestaltung dieser Mikro-Appartments wurde sogar ein Design-Wettbewerb ausgerufen (vgl. New York CHPC 2013). Zwangsläufig wird man dazu Wohnraum, Haushaltstechnik und Einrichtung auf ihre nutzbaren Funktionen reduzieren müssen. Übrig bleiben auf die technische Funktion minimierte Lösungen. Ob diese gleichzeitig den menschlichen Ansprüchen an emotionaler und persönlicher Gestaltung von Wohnraum entsprechen können, wird sich zeigen müssen. Auch in Deutschland stellt sich eine ähnliche Problematik. Die meisten Neubauten sind noch immer auf Kleinfamilien zugeschnitten, obwohl diese längst die Ausnahme sind. Nur in 20 Prozent aller Haushalte leben noch Kinder (vgl. Statistisches Bundesamt. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2012). Die meisten Wohngrundrisse wollen zu den Lebensgrundrissen nicht mehr recht passen (vgl. Rauterberg 2012). Ein weiteres häufig für die Entwicklung von Städten angeführtes Motiv ist das der »grünen« Stadt. Assoziiert wird mit diesem Begriff das Bild einer nachhaltigen Stadt, das vor allem die Bedürfnisse des Menschen nach hoher Lebensqualität, Gesundheit und Zugang zu Natur- und Erholungsraum aufgreift. Messbar gemacht wird dies über verschiedene Indikatoren zu Aspekten wie saubere Luft, viele Erholungs- und Grünflächen, wenig Verkehr, gute Ausund Weiterbildungsmöglichkeiten, eine hohe Lebenserwartung. Reports wie der Siemens Green City Index (vgl. Siemens AG 2013) oder der Wirtschaftswoche Sustainable City Indikator (vgl. Matthes 2012; Dovern et al. 2012) haben die Nachhaltigkeit internationaler bzw. deutscher Städte anhand solcher Kriterien bewertet. Diese Untersuchungen bewerten vorrangig die Angebotsseite. Bei der Entwicklung grüner Städte geht es jedoch nicht nur darum, städtische Infrastrukturen gemäß nachhaltiger Ansätze aufzubauen und die Angebote und Dienstleistungen von Seiten der kommunalen Träger zu verbessern. Im gleichen Maße ist das individuelle Verhalten der Menschen, welches die vorherrschende Konsumkultur und die Gebrauchsmuster ausmacht, ausschlaggebend für die Nachhaltigkeit von Städten. Gleiches gilt für die Nachhaltigkeit von Geschäftsstrategien und Angebotsgestaltung von Unternehmen. Beides ist bei der Gestaltung neuer Lösungen zu berücksichtigen und Voraussetzung vor allem für die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit neuer Lösungen.
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3. S TÄDTE IM W ANDEL — A NFORDERUNGEN AN DIE TECHNISCHE G ESTALTUNG ZUKÜNF TIGER S TÄDTE Das Ziel, unsere Städte zu CO2-neutralen Städten umzubauen, steht in direktem Zusammenhang mit der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (vgl. Bundesregierung 2011), denn Städte sind Kulminationspunkt vieler Handlungsfelder nachhaltigen Wirtschaftens und Lebens. Es koinzidiert mit der am 8. Juli 2011 beschlossenen Energiewende, die letztlich nicht nur Veränderung auf der Erzeugerseite, sondern auch auf der Abnehmerseite, den Haushalten und Verbrauchern in den Städten, zur Folge hat. Der technologische Forschungsbedarf hinter dieser Zielsetzung ist erkannt: Das System Stadt muss neu gedacht und gelebt werden: von der Mobilität über das effiziente Haus und die Energieversorgung bis hin zu den Fabriken und Arbeitsplätzen. (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012)
Die Anforderungen an die neuen Lösungen ergeben sich über alle Technologiesektoren: Bedarf an zusätzlichem Stadtraum: Städte nehmen lediglich zwei Prozent der Erdoberfläche ein (vgl. Bundesministerium für Umwelt Naturschutz und Reaktorsicherheit 2010), sind aber inzwischen Lebensmittelpunkt für 50 Prozent der Weltbevölkerung. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahrzehnten auf knapp 70 Prozent ansteigen (vgl. United Nations. Department 2011). In Verbindung mit dem Gesamtbevölkerungswachstum auf 9,3 Mrd. im Jahr 2050 (vgl. ebd.) wird sich der Bedarf an Stadtraum in den nächsten Jahrzehnten gegenüber heute verdoppeln. Stadtraum für zusätzliche 3,2 Milliarden Menschen wird weltweit benötigt – vor allem für die Entwicklungsräume und stark wachsenden Volkswirtschaften in Asien und Lateinamerika. In Europa ist vor allem der Umbau der vorhandenen Stadtstrukturen zu nachhaltigen und klimaangepassten Stadtsystemen die zentrale Herausforderung. In Deutschland betrug beispielsweise der Urbanisierungsgrad im Jahr 2010 74 Prozent (vgl. Lexas 2011). Klimawandel und Energiewende: Städte sind gleichzeitig Problemverursacher und Lösungsansatz auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Ca. 80 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen entstehen in Städten (vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland 2010). Gleichzeitig erscheinen Städte als wirksamer Hebel zur Effizienzsteigerung. Großstädte in stark urbanisierten Ländern weisen deutlich geringere CO2-Bilanzen pro Einwohner auf als ihr Umland bzw. als die Gesamtnation (vgl. Yale 2009; Wirtschaftswoche 2011). Einhergehend mit der 2011 beschlossenen Energiewende werden dezentrale
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und autarke lokale Energiesysteme an Bedeutung für die Energieversorgung gewinnen. Diese werden in Zukunft das Stadtbild in Form von Solardächern, Quartierskraftwerken, Fassadenkraftwerken oder anderen dezentralen Erzeugereinheiten prägen.
Abbildung 1: Rurale und urbane Bevölkerung (nach Regionen im Jahr 2005 und 2030) (vgl. United Nations. Department 2011).
Ressourcenverbrauch: Ressourcenverbrauch umfasst den Einsatz von Energie und Rohstoffen, Wasser, Wäldern und Nutzflächen sowie nicht zuletzt der Luft und ihrer Aufnahmefähigkeit für Treibhausgase u.a. in Wertschöpfungsprozessen, für den Konsum oder andere Zwecke unserer Volkswirtschaft. Das Wachstum unserer Städte steht vor allem mit dem Flächenverbrauch in direktem Konflikt. Vor allem Siedlungs- und Verkehrsflächen dehnen sich stetig aus. Im Jahr 2010 lag der Flächenverbrauch in Deutschland bei 87 ha täglich. Bis 2020 möchte die Bundesregierung die Inanspruchnahme neuer Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke auf 30 ha pro Tag begrenzen (vgl. Statistisches Bundesamt. Nachhaltige Entwicklung 2012). Mobilität: Das Weißbuch Verkehr der EU-Kommission sieht bis 2030 die Halbierung der Anzahl von Verbrennungsfahrzeugen in urbanen Zentren Europas vor und bis 2050 den kompletten Umstieg auf emissionsfreie Mobilität für die Städte (vgl. Europäische Kommission 2011: Weissbuch Verkehr). Zuletzt haben die Fortschritte im Bereich der Elektromobilität, der Mikromobilität und neuen Mobilitätsangebote, wie Car-Sharing oder Mieträder für neue Impulse in diesem Bereich gesorgt. Heute ist das individuelle Mobilitätsverhalten stark durch die PKW-Nutzung geprägt, wobei die typischen individuellen Mobilitätsprofile für PKW im städtischen Raum mit im Durchschnitt kurzen Wegen und hohen Standzeiten eigentlich für andere Lösungen prädestiniert
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wären. Die zentrale Herausforderung für die Zukunft liegt deshalb neben der konsequenten Reduktion der CO2-Emissionen einzelner Verkehrsträger, vor allem in der intelligenten intermodalen Vernetzung der Verkehrsträger und in neuen Mobilitätsangeboten und -dienstleistungen für den städtischen Individualverkehr. Güterverkehr und Logistik: Zum städtischen Verkehrsaufkommen trägt neben dem Personenverkehr zusätzlich der Güterverkehr in erheblichem Maße bei. Chronische Verkehrsüberlastung, Verspätungen und Umweltbelastungen wie Feinstaub oder Lärm sind als Symptome bereits heute deutlich spürbar. Luftverschmutzung und Lärmemissionen nehmen von Jahr zu Jahr zu (vgl. Europäische Kommission 2007: Grünbuch). Um diese zukünftig zu senken, müssen logistische Infrastrukturen und Schnittstellen zwischen Fernverkehr und Feindistribution weiterentwickelt und neu gestaltet werden. Urbane Güterverteilzentren und automatisierte öffentliche Warenübergabestationen sollen als zentrale Bündelungspunkte in Zukunft die logistische Abwicklung hoch individualisierter Warenströme ermöglichen, die vor allem durch das zunehmende E-Commerce-Geschäft und neue internetbasierte Konsum- und Dienstleistungsangebote entstehen. Zwischen Handel, Verladern und Logistikdienstleistern ist zukünftig verstärkte Kooperation erforderlich, um Güterströme zu minimalen Verkehrs- und Umweltbelastungen durch den urbanen Raum zu bewegen.
4. U RBANE P RODUK TION Fachkräftemangel, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und absehbare Fortschritte in der Umweltverträglichkeit der Fertigungstechnologien lassen die Ansiedlung von Produktionsbetrieben für geeignete Wertschöpfungsumfänge und Produktionsformen im städtischen Raum wieder attraktiv werden. »Der technologische Fortschritt lässt in vielen Fällen zu, dass auch vermeintlich störende Nachbarschaften von Produktion, Dienstleistung und Wohnen heute wieder möglich sind.« (Bundesministerium für Verkehr Bau und Stadtentwicklung 2011) Produktionsstandort und Stadt funktionieren dabei symbiotisch, indem Abwärme, Energieüberschüsse und vor allem durch Recycling gewonnene Rohstoffe zwischen den städtischen Ver-/Entsorgungssystemen und den Produktionssystemen ausgetauscht werden. In der Versorgung der Produktionsstandorte mit Materialien und Rohstoffen arbeiten Unternehmen und städtische Betriebe eng zusammen. Die gemeinschaftliche Nutzung städtischer Ressourcen (z.B. Umschlagsflächen, Verteilverkehre, Warenübergabesysteme) wird als Mittel zur Effizienzsteigerung und zur Entlastung der städtischen Infrastrukturen eingesetzt.
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5. I NFORMATION UND K OMMUNIK ATION Für den Fortschritt in nahezu allen Technologiesektoren zukünftiger Städte sind aktuelle Informationen, Kommunikation, Datenaustausch und Vernetzung substantiell. Energieversorgung, Mobilität und öffentliche Sicherheit, sie alle benötigen effektive und zuverlässige Informations- und Kommunikationssysteme. Die Stadt vernetzt sich. Dies betrifft nicht nur die Infrastruktursysteme, sondern auch den Menschen selbst. Über die heute schon verbreiteten Endgeräte wie Smartphones, Tablet-PCs oder Notebooks werden sie ebenso wie beispielsweise Fahrzeuge, Straßen, Gebäude oder Haushaltsgeräte in die neue Informations- und Kommunikationsinfrastruktur der Stadt eingebunden. Im Zentrum steht nicht mehr die einfache Verbindung zwischen zwei Personen oder Endgeräten, sondern die Vernetzung unzähliger Nutzer, Geräte und Systeme untereinander.
6. F A ZIT Der Wandel zu nachhaltigen und zukunftsweisenden Städten und urbanen Räumen umfasst sowohl technologische wie auch organisatorische, politische und soziale Dimensionen. Zum einen betrifft dieser Wandel einzelne Technologiebereiche wie Energie, Mobilität oder Gebäudetechnik. Die Anwendung dieser Technologien im Gesamtsystem Stadt findet jedoch nie isoliert, sondern kombiniert und unter wechselseitiger Beeinflussung statt. Deshalb müssen Städte als Gesamtsystem gesehen werden. Eine singuläre Bearbeitung einzelner Handlungsfelder und Planungsbereiche kann keine adäquate Lösung für die bevorstehenden Herausforderungen bereitstellen. Die Verwirklichung der Zukunftsvision einer »CO2-neutralen, energieeffizienten und klimaangepassten Stadt« kann nur gelingen, wenn gleichzeitig die energetische Modernisierung von Gebäuden und Produktionsanlagen, die zukunftsfähige Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität und des Güteraustauschs sowie der Ausbau intelligenter Energienetze gemeinsam und mit einem systemischen Forschungsansatz vorangetrieben werden. Begleitet – wenn nicht sogar gesteuert werden – muss dieser technische Wandel durch die Aufarbeitung der Handlungsfelder im Bereich der sozialen, kulturellen und verhaltenspsychologischen Aspekte beim Umbau unserer Städte. Nur so können einerseits technische Innovationen gelenkt werden, und andererseits Akzeptanz und notwendige Verhaltensweisen für den bevorstehenden Wandel geschaffen werden. Diese Aspekte der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen werden in den folgenden Beiträgen aus der Sicht von Stadtplanung, Industrie sowie Forschung und Entwicklung in einzelnen Technologiefeldern beleuchtet.
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Tobias Hegmanns | Technische Lösungswege zur Gestaltung zukünf tiger Städte
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In welchem Spannungsfeld sich Stadtentwicklung schon immer bewegt hat und welche Sehnsüchte damit verbunden sind, hat Kurt Tucholsky (Tucholsky 1927) sehr treffend beschrieben. Das Ideal Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; Mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, Vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – Aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit: Neun Zimmer, – nein, doch lieber zehn! Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn, …
Auch wenn dieses Gedicht auf lustig-ernste Weise übertreibt: Menschen haben sehr unterschiedliche Wünsche oder Erwartungen an die Stadt. Umgekehrt sollte Stadt alles können, um auf diese unterschiedlichen Sehnsüchte auch Antworten geben zu können. Das aber ist kennzeichnend für das komplexe System Stadt, in dem sich viele unterschiedliche Teilaspekte aufeinander beziehen lassen und dabei untereinander in einem engen Wechselwirkungsverhältnis stehen. Einen »Baukasten« für die derzeitige Vielfalt urbaner Sehnsüchte im System Stadt gibt es nicht. Es soll dennoch der Versuch unternommen werden, einen Ausschnitt aus einem derartigen Baukasten aktueller Sehnsüchte im 21. Jahrhundert wiederzugeben (siehe Anmerkung).
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Abbildung 1: Die Sehnsucht nach der schönen Stadt.
1. S TADTSEHNSÜCHTE — V ERSUCH EINES B AUK ASTENS Die schöne Stadt Eine Stadt soll nicht nur funktionieren, sie soll auch schön sein. Doch was ist eine schöne Stadt? Wie sieht sie aus? Es scheint, als ob diese Frage kaum zu beantworten ist. Und doch drängt sie sich immer wieder auf, sobald in der vertrauten Stadtumgebung wieder etwas entstanden ist, das uns missfällt. Es ist vielleicht der Verlust von Harmonie oder einer gestörten Schönheit in der gebauten Umwelt. »Die Schönheit ist lediglich Verheißung von Glück« (Stendhal 1975: 76) – so nennt es Stendhal in einer Anmerkung seiner Reflexionen »Über die Liebe« – angesichts der vielen Schönheitsideale und Vorstellungen von Glück bleibt damit alles offen. Gibt es nicht wenigstens Kriterien, die die Schönheit eines Ortes messbar machen? Von Messbarkeit kann nicht die Rede sein, wenn Alain de Botton (de Botton 2008) bei Gebäuden von Prinzipien und Tugenden wie Eleganz, Ordnung, Balance oder Kohärenz spricht. Anerkannt schöne Stadträume wie die berühmte Piazza del Campidoglio in Rom können anhand verschiedener Merkmale wie Ordnung und Symmetrie, Hierarchie, Gruppierung und Rhythmus beschrieben werden – aber messbar? Auch das Maß der Komplexität im Verhältnis zur Geordnetheit der Elemente wird in der Wahrnehmungspsycho-
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logie genannt, um sich der Schönheit von Stadträumen anzunähern. Nichtsdestotrotz sind auch dieses allgemeine Prinzipien der Gestaltung, die Schlüssel zur schönen Stadt sein können – keinesfalls aber zu Schönheit führen müssen. Dennoch wirkt sich die Schönheit einer Stadt auf viele Teilaspekte des Gemeinwesens aus (vgl. Schmidt 2011). Schönheit und ihr Einfluss auf den Menschen werden dabei mittelbar messbar, wie sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen – beispielsweise bei der städtebaulichen Kriminalprävention, der Produktivitätserhöhung in einem Bürogebäude oder in der Werterhöhung von Immobilien (vgl. CABE 2001). Auch das Stadtmarketing hat die schöne Stadt längst entdeckt und wirbt mit den schönen Seiten einer Stadt. Es darf nicht unterschlagen werden, dass auch Schönheit ihre dunklen Ecken oder ihre Widerlager braucht, so wie Licht und Schatten untrennbar sind. Insofern kann eine Stadt nicht nur Schönheit verkörpern. Und mehr noch: Eine schöne Stadt kann nicht geschaffen, geplant oder gebaut werden. Es geht viel mehr um die Schaffung von schönen Stadträumen und Bauwerken, Orten letztlich, die diese Verheißung von Glück in uns wecken; denn das haben uns die Neurobiologen gelehrt: Schönheit löst Glückshormone und damit Wohlgefühle aus (vgl. Liessmann 2009; Schmidt/Jammers 2008).
Die Stadt der Kultur Jede Stadt leistet mit ihrer Bevölkerung auch einen Beitrag zur kulturellen Entwicklung. Dieser Beitrag kann mal beschränkt sein auf einen kleinen kulturellen Impuls für eine periphere ländliche Region, ein anderes Mal kann eine Stadt eine dominierende Rolle bekommen, die noch Jahrhunderte später den Lauf der Zeit bestimmt und in ihren musikalischen, literarischen, naturwissenschaftlichen oder philosophischen Äußerungen eine Nation beeinflusst. Die Stadt Weimar ist ein herausragendes Beispiel. In verschiedenen Epochen der vergangenen 300 Jahre war die Stadt immer wieder Anziehungspunkt für einflussreiche Künstler und Architekten, Dichter und Philosophen, Komponisten und Musiker, die deutsche Kultur in vielen Bereichen maßgeblich geprägt haben. Die Stadt steht daher stellvertretend für diesen Teil der deutschen Kultur. Die kulturelle Geschichte einer Stadt ist maßgeblicher Bestandteil der Seele der Stadt (s.u.), der ›genius loci‹ oder der Geist des Ortes meint Ähnliches. Eine Stadtentwicklung der Kultur ist dynamisch und entwickelt sich kontinuierlich weiter, beispielsweise durch das aktuelle Schaffen von Künstlern und Wissenschaftlern, an Hochschulen und Universitäten, in Bibliotheken und in Konzertsälen, in Museen, Ateliers und Akademien. Gerade in der Stadt entwickelt sich – wie in den darstellenden Künsten oder in der Literatur – urbane Kultur weiter fort, in der sich Neues vermischt mit dem Überkommenen (vgl. BMVBS 2012 a). Stadt kann auch gedeutet werden als Stein gewordener Ausdruck der Kultur, als »kulturelles Gedächtnis« (vgl. Assmann 1992; Assmann 2001), das die
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Stadt im Laufe der Zeit prägt und verstärkt. Das historisch gewachsene Stadtbild ist in diesem Sinne zu verstehen als eine gebaute Schichtung des jeweiligen Zeitgeists. Die Auswahlkriterien der UNESCO-Welterbestätten basieren auf diesen Gedanken.
Die Stadt im Klimawandel Der Klimawandel hat auch Deutschland und seine Regionen erreicht. In den nächsten Jahrzehnten werden regional unterschiedliche Ausprägungen extremer Wetterbedingungen eintreten, voraussichtlich wird es wärmer als während der vergangenen 50 Jahre, Unwetter werden häufiger. Die gegenüber dem Umland höheren Temperaturen in der Stadt werden diese Effekte noch verstärken. Das wird auch gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung und gerade ältere Menschen haben können (vgl. MKULNV 2011).
Abbildung 2: Regenerative Energieproduktion vor Ort.
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Das Klima der Zukunft wird in der Stadt gemacht. Ein wesentliches Handlungsfeld ist mit Sicherheit die urbane Energieeffizienz und Energieproduktion. Mit ihren einzelnen Bauten soll die Stadt zu einem Kraftwerk werden und Energie produzieren. Klimagerechte Architektur kann helfen, die Aufheizung der Siedlungsräume zu mindern (vgl. Hausladen et al. 2012). Stadtplanung und Verkehrsplanung können mit integrierten Konzepten zur Mobilität erheblich dazu beitragen. Landschafts- und Freiraumplanung können die Auswirkungen des Klimawandels abmildern (vgl. VCÖ 2012). Der drohende Klimawandel stellt eine neue Aufgabe für die Stadtentwicklung dar. Einerseits ist der Ausstoß der Treibhausgase zu verringern, andererseits ist Stadt dem voraussichtlichen Klimawandel entsprechend zu gestalten. Städte, die jetzt grundsätzlich gegen den Klimawandel handeln, managen, finanzieren und entwerfen, werden letztlich Gewinner sein. Sie werden Orte, an denen zugleich soziale und ökonomische Probleme gelöst sowie eine postfossile Zukunft entwickelt werden können und sich damit eine höhere Lebensqualität anbietet (vgl. BBSR 2012).
Die gesunde Stadt Wohnen ist ein Grundbedürfnis des Menschen – und eine Kernfunktion der Stadt. Da der Wohnungsbau rund drei Viertel der gebauten Substanz einer Stadt ausmacht, muss Stadtentwicklung ein besonderes Augenmerk auf die Qualität haben. Auch wenn gesunde urbane Lebensverhältnisse eine Grundvoraussetzung für das Wohnen sind, weisen Städte oft gesundheitsgefährdende Risiken auf. Lärm, Feinstaub, Hitzeinseln sind als Faktoren zu nennen, die die Bewohner auf unterschiedlichste Weise belasten oder bedrohen. Stadtluft macht krank! Die Sehnsucht nach einer gesund erhaltenden Stadt ist aus dieser Perspektive daher durchaus begründet – Stadtentwicklung kann diese Risiken mindern und abbauen. Als Teil des ›genius loci‹ stellt der urbane Naturraum ein wichtiges Qualitätsmerkmal für die gesund erhaltende Stadt dar (vgl. Norberg-Schulz 1991). Die Bedeutung von Natur im Stadtgefüge und im Wohnumfeld wird für die Gesundheit der Bürger und als Ausgleich für die Hektik, die Belastungen, die Dichte der Stadt und die Lebensqualität insgesamt als außerordentlich wichtig anerkannt. Inzwischen haben Forschungen auch ergeben, dass die qualitative Werterhöhung der Immobilien direkt von der Nähe zu grünen Freiräumen abhängig ist (vgl. CABE [o.J.]; CABE 2009).
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Abbildung 3: Die Sehnsucht nach dem gesund erhaltenden Wohnen in der Stadt.
Der Klang der Stadt Eine Stadt ohne Geräusche ist undenkbar. Jede Stadt besitzt ihr ureigenes Klanggewebe, ihre eigene Klangfarbe als Teil des ›genius loci‹. Das Stadtzentrum bildet dabei das akustische Zentrum, in dem die eigentümliche Geräuschkulisse der betreffenden Stadt existiert. Auf diese Weise entsteht ein »Klangteppich«, eine weitläufige akustische Landschaft (vgl. Hassenpflug 2006). Eine leise Stadt aber bedeutet gewissermaßen den Verlust von Urbanität – sie wirkt nicht mehr lebendig und wird ihrer wesentlichen Äußerungen beraubt. Der Mensch braucht Geräusche in der Stadt auch zu seiner Orientierung. Doch aufdringlicher Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, stört. Subjektiv gesehen fängt Lärm an, wenn ein Geräusch unangenehm oder unerwünscht ist. Das macht die Stadt laut – und den Menschen krank. Die Lärmbelastung hat signifikant erhöhte Gesundheitsrisiken geschaffen, die es nahelegen, Stadt- und Verkehrsplanung wesentlich intensiver zu verknüpfen und in integrierten Konzepten darauf hinzuarbeiten, diese Belastungen zu unterbinden. Aufgrund der psychologischen Vielschichtigkeit des Geräuschspektrums in einer Stadt kann man beispielsweise störenden Lärm durch Schönheit, durch Wohlklang oder andere qualitative Eigenschaften zumindest teilweise ausgleichen (vgl. Bisping 2006).
Die entschleunigte Stadt Stadt ist heutzutage geprägt von einer zunehmenden Eile und Hektik, die sich in vielen Lebensbereichen niederschlägt. Das Tempo der Stadt – nicht nur vordergründig im Verkehrsbereich, sondern auch im weiteren Sinne hinsichtlich
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der Lebensdauer von Bauwerken oder der Veränderungsprozesse – weiter zu beschleunigen hieße, die Stadt immer weniger verständlich zu machen, vor allem aber die umfassende Lebensqualität weiter sinken zu lassen (vgl. Opitz 2011; Müller 2012). Vor diesem Hintergrund wird es hochaktuell, durch gezielte Entschleunigung urbane Hektik und Eile zu mindern. Langsamkeit und Entschleunigung haben nicht mehr den Beigeschmack der Rückständigkeit, viele Menschen suchen wieder eine neue Langsamkeit. Auch die Stadtentwicklung kann einen Beitrag dazu leisten, die Langsamkeit in der Stadt zu erhalten bzw. Entschleunigung zu fördern. Nachhaltige und zukunftsgerichtete Konzepte sind ein Weg, mehr Ruhe in die Stadt zu bringen. Bezogen auf die Mobilität können stadtgerechte, nicht nur auf den motorisierten Individualverkehr auf bauende Konzepte die Hektik im Stadtraum eindämmen.
Die Stadt und das Alter Die Lebenserwartung wächst in Mitteleuropa im Durchschnitt um zwei Monate pro Jahr. Die Menschen, die heute geboren werden, könnten im Durchschnitt ca. 100 Jahre alt werden. Die Bevölkerung wird als Folge des demographischen Wandels im Durchschnitt immer älter. Und weil sich infolge der medizinischen Fortschritte die sogenannte Gebrechlichkeitsphase im Alter eines Menschen gegenüber heute auf ca. ein Jahr verkürzen lässt (vgl. Schmidt/Jammers 2007), kann das erhebliche Konsequenzen auch auf die Stadtentwicklung, Stadt- und Verkehrsplanung und Stadtgestaltung haben. Der öffentliche Raum in der Stadt von 0 bis 100 (Jahre) wird sich rüsten müssen für die Jungen, vor allem aber für die Alten. Es geht darum, auch für die alternde Gesellschaft und die Phase der Altersdemenz den öffentlichen urbanen Raum so zu gestalten, dass möglichst lange die individuelle Selbstbestimmtheit erhalten bleibt und die Würde des alternden Menschen respektiert wird (vgl. Teimann 2012). Es sind neue Nutzungen für alte Menschen notwendig, es sind andere individuelle Verkehrsmittel, die betagte Menschen bedienen können. Es sind sicher auch attraktive, altersgerechte neue Elemente wie Schatten gebende Bäume oder Dächer erforderlich, um den Klimawandel erträglich zu machen. Die Stadt von 0 bis 100 wird keine vollkommen andere sein, aber es wird sich an verschiedenen Stellen der Stadt zeigen, wie sie den unterschiedlichen Altersstufen entgegenkommen kann.
Die Stadt als Arbeitsort Eine ausgeglichene quantitative Relation zwischen arbeitsfähigen Einwohnern und Arbeitsplätzen in einer Stadt ist der Idealfall. Denn dann können Orte entstehen, an denen die Bewohner keine weiten Wege pendeln müssen und
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arbeitsplatznah wohnen können. Doch diesem Grundsatz ist die Stadtentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten nicht gefolgt – im Gegenteil: Die Stadt der langen Wege wurde entwickelt. Der Zwang zur Automobilität in der autogerechten Stadt und der daraus resultierende Urban Sprawl sind sichtbarer Ausdruck dieser Stadtentwicklungspolitik. Heute entspricht das nicht den Sehnsüchten nach der Stadt der kurzen Wege. Der Arbeitsplatz ist für den Menschen ein Ort, an dem er sich acht Stunden und länger aufhält. Noch heute sind es in aller Regel Standorte mit funktionalen »Kisten« für Produktion und Verwaltung oder Gebäudehüllen und Container für Lagerung und Logistik. Auf die Qualität der Arbeitsplätze und ihres Umfeldes wurde von Seiten der Unternehmer und Investoren nur wenig Wert gelegt. Politik und Planung haben sich ebenfalls kaum um die Qualität dieser Orte geschert. Das hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert, denn es sind Unternehmer selbst, die ihren Betrieb qualitativ aufwerten und mit Architektur und Grün Corporate Identity zeigen wollen. Untersuchungen zur Produktivität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in gestalteten Umgebungen geben ihnen Recht: Eine gute innere und äußere architektonische Gestaltung eines Betriebes löst eine bis um 20 Prozent erhöhte Produktivität aus, wie sozial- und arbeitswissenschaftliche Untersuchungen nachweisen (vgl. CABE 2002). Die Unternehmen erwarten diese Qualitäten auch bei benachbarten Betrieben und im städtebaulichen Kontext. Es werden Sehnsüchte nach angenehmen und schönen Arbeitsplätzen geweckt.
Die Stadt der Gäste Eine Stadt mit einer starken touristischen Anziehungskraft hat ein besonderes Flair. Das kann durchaus zweideutig gesehen werden. Einerseits ist Stadttourismus positiv zu sehen, denn die Wirtschaft erhält Impulse, die Infrastruktur wird besser ausgelastet, Arbeitsplätze werden geschaffen, solange Besucher nicht als Störung, sondern als interkulturelle Bereicherung gesehen werden. Wenn eine Stadt auf diese Weise floriert, kann Tourismus zu einem Marketingfaktor werden. Andererseits kann die touristische Attraktivität einer Stadt auch zu einer Belastung führen. Gerade in einer Altstadt der engen Gassen und Plätze, mit einer dichtgedrängten Zahl touristischer Brennpunkte, an denen sich Besuchergruppen stauen, kann der öffentliche Raum überlastet werden. Hier kann die Sehnsucht nach Ruhe und ruhigen Jahreszeiten überwiegen.
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Abbildung 4: Die Sehnsucht nach urbaner Kultur und Gastlichkeit.
Die Anziehungskraft einer Stadt wird letztlich nicht nur durch touristische Magnete bestimmt, auch die Freundlichkeit der Stadtbewohner trägt zur Attraktivität bei. Was nützen attraktive Museen, alte Bauwerke in einem schönen Stadtbild oder längst verblichene Berühmtheiten, wenn die Menschen, denen der Fremde in der Stadt begegnet, nicht eine angemessene Gastfreundschaft an den Tag legen?
Die Mobilität in der Stadt Mobilität stellt eine Grundfunktion der städtischen Entwicklung dar. Sie ist schon seit der Existenz von Städten essentiell für ihre unterschiedlichen Funktionen auf engem Raum. Ohne die Mobilität von Menschen und Gütern ist eine Stadt nicht funktionsfähig. Die Entwicklung einer Stadt gibt dieses Netzwerk von Bewegungsräumen zwischen den Orten unterschiedlicher Funktionen vor. Verändern sich die Funktionen oder deren gesellschaftliche, technische oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen, verändert sich auch die Mobilität und damit die Stadt selbst. Jegliche Entscheidungen zur Mobilität von Menschen und Gütern verändern die Stadt, ebenso wie die bestehende und geplante Stadtstruktur bestimmte Formen der Mobilität vorgibt, ermöglicht oder ausschließt: Damit gilt die Dialektik »Stadt formt Mobilität formt Stadt.« Die funktionsgetrennte Stadt der Charta von Athen erzwingt vom Bewohner lange Wege zwischen den Wohngebieten und den Arbeitsplätzen, den Bildungs- und Freizeiteinrich-
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tungen. Die Stadt der kurzen Wege – eines der derzeit maßgeblichen, urbanen Leitbilder der europäischen Stadt – versucht dagegen durch Postulate wie Mischung der Funktionen, neue Kleinmaßstäblichkeit und andere planerische Kriterien Wege zwischen den Funktionen wieder kürzer, attraktiver und nachhaltiger zu entwickeln. Das sind noch Sehnsüchte, die einen langen Atem brauchen, um die Stadt dahingehend umzubauen. Doch vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit wird sich Stadtverkehr – verantwortlich für ca. ein Drittel des Energieverbrauchs – stark wandeln. Die sogenannte Smart Mobility ist ein wirksamer Ansatz, in dem öffentlicher Nahverkehr, nicht-motorisierte Mobilität mit dem Fahrrad- und Fußgängerverkehr und Car Sharing zu einem integrierten Verkehrskonzept zusammengefügt und mit den Funktionen und Qualitäten der Stadt abgestimmt werden.
Abbildung 5: Multimodale Mobilitätsangebote.
Die Stadt der Widersprüche und Kontraste Jede Stadt trägt Kontraste und Widersprüche in sich, Heterogenität ist auch ein Zeichen städtischer Vielfalt und Durchmischung. Eine Stadt wie München beispielsweise wirbt in einer Imagekampagne mit dem offensichtlichen Kontrast von »Laptop und Lederhose«, Innovation und Tradition werden bewusst als Gegensatz herausgestellt – das ist reizvoll, weil zugleich komplementäre Sehnsüchte angesprochen werden. Manch urbaner Kontrast ist gewollt, um die Vielfalt hervorzuheben, auch um städtische Buntheit zur Schau zu stellen.
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Aber jede Stadt trägt auch besondere Widersprüche in sich, ihre dunklen und wenig geliebten Orte, die nicht »schön« sind und dem gewollten Image der Stadt nicht entsprechen oder aus einem wenig ruhmreichen Kapitel der Stadtgeschichte stammen. Kultur und Unkultur einer Stadt können dabei sehr nah beieinander liegen, ohne dass das auf den ersten Blick sichtbar wird.
Die Seele der Stadt Jede Stadt hat eine Seele (vgl. Wolfrum 2003). Der ›genius loci‹, der Geist eines Ortes oder die besondere Atmosphäre einer Stadt werden durch eine unverwechselbare Vielfalt einzelner Faktoren und deren Zusammenwirken bestimmt (vgl. Berking/Löw 2008). Jede Stadt hat ihre charakteristische Geschichte, ihre besonderen historischen Einflüsse, seien es Einzelpersönlichkeiten aus Kultur, Politik oder Wirtschaft, seien es soziale, naturräumliche oder religiöse Gesichtspunkte. Diese sind Einflussfaktoren, die sich im Laufe der Zeit überlagern und verbinden, die zusammen wirken und sich wechselseitig verstärken und mildern können (vgl. Lynch 1968). »Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile« – der Satz des griechischen Philosophen Aristoteles passt auch hier zum Thema der Seele: Die unterschiedlichen, im Laufe der Geschichte wirksamen Einflüsse formen nach und nach die spürbare Seele der Stadt, schaffen die besondere Atmosphäre, die diese Stadt von jener unterscheidet. Die Seele einer Stadt oder ihre Atmosphäre sind nicht verbal zu beschreiben, es fehlt dazu immer die gelebte Erfahrung, es braucht immer Bilder und alle anderen Sinne, um das Besondere des ›genius loci‹ zu vermitteln.
2. D IE R E ALITÄT : D IE S TADT DES 21 . J AHRHUNDERTS Und das steht den Sehnsüchten gegenüber. Die Stadt des 21. Jahrhunderts ist weitgehend gebaut – mit allen eingebauten Nachteilen. Ein Blick auf die heutige Stadt zeigt den Status. Die im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Städte wurden in weiten Teilen wieder aufgebaut; die Bausubstanz stammt oft aus den 1950er bis 1980er Jahren und entspringt den Sehnsüchten, der zu Beginn der 1930er Jahre formulierten Charta von Athen, die den gegliederten und aufgelockerten Städtebau umfasste, wurde jedoch überlagert von dem anschließenden Leitbild von Urbanität durch Dichte. Die Idee der Funktionstrennung, der großräumig separierten und optimierten, sich gegenseitig nicht störenden Funktionsbereiche in der Stadt ist prägend – grüne Wohngebiete und graue Industriegebiete, konzentrierte Geschäftszentren, organisierte Freizeit- und Erholungsbereiche komplett zu separieren war lange Zeit das Credo der Stadtplanung. Die Funktionsbereiche galt es mit einem leis-
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tungsfähigen und ausufernden Verkehrssystem untereinander zu verknüpfen. Dieses Verkehrssystem erzwingt notgedrungen die Massenmotorisierung der Bewohner, denn die Trennung der Funktionen machen den Weg vom Wohnort zum Einkaufen, zum Arbeitsplatz, zur Freizeit so weit, dass ein Auto unabdingbar notwendig wird. Die Sehnsucht, mit dem technischen Fortschritt auch die Stadt umzugestalten, mit dem Städtebau auch das Leben der Menschen zu verändern, zu verbessern, angenehmer zu machen, wird hier ablesbar. Das ist holzschnittartig dargestellt – doch auf diese Weise entstand die autogerechte Stadt in ihren wesentlichen Infrastrukturen für die unbegrenzte Mobilität jedes einzelnen Bürgers. Das Ergebnis kann man heute landauf landab erleben – es entspricht unseren optimistischen Lebensvorstellungen nach automobiler Freiheit und Unabhängigkeit, unseren von Fortschrittsgläubigkeit geprägten Sehnsüchten nach klinisch sauberen Städten, die von Mobilität geprägt sind – Wolkenkratzern im Hintergrund, raketenförmigen Zügen über und neben dahingleitenden Automobilen: grenzenlose Zukunftsgewissheit.
Abbildung 6: Das Beharrungsvermögen der gebauten Stadt.
Diese Stadt muss nun dringend umgebaut werden, denn sie passt nicht mehr zu dem Verlangen nach mehr Nachhaltigkeit: Klimaschutz und Klimaanpassung, Energieeffizienz und regenerative Energien, sozialer Ausgleich und aneignungsfähige Räume stehen nun im Vordergrund der Ziele und Leitbilder (vgl. Heinrich Böll-Stiftung 2011). Doch Stadt kann nicht im Handumdrehen neuen Sehnsüchten angepasst werden, denn sie lässt sich nicht umbauen wie ein Haus, in das zum Klimaschutz Fenster ausgetauscht, Photovoltaikmodule auf das Dach montiert oder eine neue Heizungsanlage installiert werden. Stadt hat ein ungeheures Beharrungsvermögen: Straßen und Infrastruktur haben über Jahrhunderte Bestand – nicht zuletzt auch, weil hohe Investitionen in der Infrastruktur und dem Gebäudebestand stecken. Geht man davon aus, dass
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sich pro Jahr lediglich 1 bis 1,5 Prozent der Bausubstanz erneuern oder ausgetauschen lassen, kann man die Erneuerungszeit einer Stadt leicht ermessen.
3. S EHNSUCHTSTECHNIKEN IN DER P R A XIS Es zeigt sich, dass die Stadt in ihrer Heterogenität sehr unterschiedliche Wünsche der Bewohner, der Besucher, der Berufspendler, der Altersgruppen, der unterschiedlichen Lifestyles erfüllen muss. Je näher sich der Stadtplaner mit den unterschiedlichen Bewohner- und Interessengruppen und ihren Anliegen auseinandersetzt, desto mehr kristallisiert sich die Vielfältigkeit der Sehnsüchte heraus und desto schwieriger wird die Erfüllung urbaner Sehnsüchte. Entscheidungsprozesse für komplexe Planungsalternativen fallen Politikern und Entscheidungsträgern immer schwerer, weil sie den oft diametral entgegengesetzten Vorstellungen und Visionen der Bürger ratlos gegenüberstehen (vgl. Schorlau 2010).
Abbildung 7: Urban Lifestyles und ihre vielfältigen Stadtsehnsüchte.
Ich selbst bewege mich in diesem Spannungsfeld der Stadtentwicklung einerseits als Stadtplaner und Mediator zwischen Sehnsüchten der Menschen und aktuellen Notwendigkeiten der Stadtentwicklung. Hier geht es um Entscheidungsprozesse, die angestoßen und beflügelt werden müssen. Um diese Entscheidungsprozesse transparent und nachvollziehbar zu machen, sind die Sehnsüchte – d.h. Leitbilder, Ziele, Visionen – unbedingt offenzulegen, und bildhaft darzustellen. Das ist für Bürger und Betroffene ebenso wichtig wie für
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Politiker, Entwickler, Bauherren. Stadtplaner müssen Sehnsuchtstechniken entwickeln, um in diesem Spannungsfeld einen gangbaren Weg zu finden, die unterschiedlichen Formen urbaner Visionen und Sehnsüchte auch zu benennen. Dabei ist immer deutlich zu machen, dass nicht jedes Wunschbild, nicht jede Vision sinnvoll ist. Vieles ist machbar, aber nicht alles ist sinnvoll und sollte realisiert werden. Andererseits arbeite ich als Stadtforscher an der Formulierung wünschenswerter urbaner Zukünfte, um den Notwendigkeiten klimagerechter Stadtentwicklung näher zu kommen, Stadtquartiere an den Klimawandel anzupassen, stadtverträgliche und CO2-reduzierte urbane Mobilitätsformen mit einer förderlichen Raumstruktur zu unterstützen. Dabei denken wir an eine Stadt, die den Menschen nicht krank macht, sondern gesund erhält, die weder »verlärmt« noch mit giftigem Feinstaub belastet ist – wie der oben ausgebreitete Baukasten der Leitbilder oder Stadtsehnsüchte es in aller Vielfalt darstellt. Drei konzeptionelle Ansätze sollen die Spannweite von angewandter Stadtforschung im Kontext urbaner Sehnsüchte skizzieren.
Essener Forum Baukommunikation Stadtplaner, Bauingenieure und Architekten sind sich nur selten der Wechselwirkungen auf den Menschen bewusst, wenn sie Stadträume gestalten oder Häuser bauen. Sie handeln – wie andere Spezialisten – aus der Perspektive ihrer eigenen Profession heraus und sind damit oft erstaunlich blind für die medizinischen, soziologischen, psychologischen, ökonomischen Auswirkungen ihres Tuns. Das hat gravierende Konsequenzen. Denn schließlich prägen Architekten, Ingenieure, Stadt- und Landschaftsplaner mit ihren Entwürfen und Produkten wie keine zweite Berufsgruppe den gebauten Raum, insbesondere den öffentlichen Raum. Da Gebäude, Stadtraum und Infrastrukturen nicht in einem geschlossenen System entstehen, sondern per se eine öffentliche Angelegenheit sind, erscheint es geradezu als eine Verpflichtung, dass sich Architekten, Ingenieure, Stadtund Landschaftsplaner und alle anderen Raumschaffenden künftig stärker mit den Folgen und Chancen ihres Tuns auseinandersetzen, anstatt sich, wie so oft, auf ihre künstlerischen Freiheiten oder ihr hochspezialisiertes Detailwissen zurückzuziehen. Lange hat dieses beinahe autistische Handeln dominiert. Doch Planen und Bauen sind immer auch Dienstleistung für die Gesellschaft und die Öffentlichkeit. Ausgehend von diesem Verständnis kommt es entscheidend darauf an, in den Planungs-, Entscheidungs- und Bauprozess Wissen aus anderen Disziplinen zu integrieren – Wissen über Wirkungen und Erfahrungen, die bereits vorliegen und nun für die Planung fruchtbar gemacht werden müssen. Das geschieht in transdisziplinären Fachdialogen – um andere Gesichtspunkte in die Welt der Experten zu tragen. Das Essener Forum
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Baukommunikation hat es sich zur Aufgabe gemacht, den transdisziplinären Austausch zwischen den Disziplinen zu fördern und Impulse für eine Stadtentwicklung mit neuen Horizonten zu geben (vgl. Essener Forum Baukommunikation 2012). Hier sollen die Augen geöffnet werden für die Sehnsüchte der Bürger, die bisher von Seiten der Bauschaffenden wenig reflektiert wurden, sobald sie das gebaute Produkt abgeliefert haben.
Abbildung 8: Die schöne Stadt und die Stadt als Heimat im Essener Forum Baukommunikation.
Forschungsprojekt Urbane Mobilität in der Stadt 2030 Die vergangenen 100 Jahre Mobilitätsentwicklung haben das Erscheinungsbild unserer Stadtlandschaften sehr einseitig geprägt. Aus welcher Perspektive diese Entwicklung auch betrachtet wird, man kommt zu dem Schluss, dass Städtebau und Mobilität nicht zu trennen sind. Man könnte behaupten, die Stadt – und mit ihr die Gesellschaft, der Zeitgeist und der technische Fortschritt – haben immer wieder neue Formen der Mobilität gefordert oder auch erzwungen: Das dialektische Verhältnis zwischen Stadt und Mobiliät muss mit seiner immensen Wirkung Eingang in die Planungspraxis bekommen. Vor diesem Hintergrund wird in einem von der Stiftung Mercator geförderten Forschungsprojekt (vgl. Schmidt et al. 2013) in der Metropole Ruhr (und exemplarisch in der Stadt Essen) untersucht, welche Wirkungen die Sehnsüchte nach einer neuen urbanen Mobilität haben können: Was beispielsweise würde geschehen, wenn die polyzentrische Region das Mobilitätskonzept Kopenhagens übernähme und 40 Prozent des städtischen Verkehrs mit dem Fahrrad abwickelte? Würde dieses Konzept überhaupt auf den Straßen der Ruhrgebietsstadt funktionieren? Wäre genug Raum für massenhaften Radverkehr? Wie-
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viel Raum wäre für einen motorisierten Individualverkehr noch übrig? Und kleinräumiger gedacht: Welche Potentiale gibt es im Stadtgefüge, um eine höhere Walkability zu erzielen? Wie müssen Stadträume umgestaltet werden, um einen akzeptablen Walkability-Index zu erreichen? Und welche Vorstellungen von Urbanität haben die unterschiedlichen Lebensstile und charakteristischen Milieus des Ruhrgebiets? In welchen Milieus und unter welchen Bedingungen würden Car Sharing und Radfahren akzeptiert und die individuelle Autonutzung abnehmen?
Abbildung 9: Smart Mobility für die Stadt 2030 als intelligentes Vernetzungskonzept.
Die Beantwortung derartiger Fragen soll Aufschluss darüber geben, welche Strategien und welche Mobilitätskonzepte künftig tragfähig sind, um die Sehnsüchte spezifischer ruhrgebietstypischer Stadtbereiche und ihrer Milieus zu treffen, ihre gängigen »kurzhaltigen« Mobilitätsmuster zu wenden und damit eine nachhaltige intelligente Mobilität durchsetzungsfähig zu machen. Es geht dabei nicht nur um die direkten Effekte, eingeschlossen sind selbstverständlich reduzierte CO2-Emissionen, steigende Wohnumfeldqualitäten, die Gesundheit der Bewohner und Qualitäten der gesamten Stadt. Das allerdings sind nicht träumerische grüne Sehnsüchte nach der energieeffizienten Stadt –es soll entscheidungsvorbereitend wirken für eine regionale Mobilitätspolitik, die mehr können muss als nur zu reparieren. Gefragt sind animierende Bilder für die Region im Jahr 2030, um die Sehnsucht nach einer anderen Stadt zu nähren und Entscheidungsprozesse für deren Umsetzung heute einzuleiten.
J. Alexander Schmidt | Urbane Sehnsüchte entwickeln und Entscheidungsprozesse ...
Forschungsprojekt Klima-Initiative Das Projekt Klima-Initiative läuft über fünf Jahre (2011 bis 2016) und ist das Ergebnis des vom BMBF ausgeschriebenen Bundeswettbewerbs »Energieeffiziente Stadt« (vgl. BMBF 2010). Das Projekt ist nicht Hightech-geprägt, sondern stellt den Faktor Mensch in den Vordergrund und verfolgt damit das Ziel, durch die milieuspezifische Adressierung unterschiedlicher Zielgruppen in den Handlungsfeldern Stadtentwicklung, Mobilität, Gebäudesanierung, erneuerbare Energien eine Reduktion des CO2-Ausstoßes von mindestens 40 Prozent bis 2020 im Vergleich zum Jahr 1990 in der Stadt Essen zu realisieren. Das Umsetzungskonzept basiert auf der Grundannahme, dass strukturelle, technologische und energetische Einsparmaßnahmen sich nicht allein auf dem Weg der politischen Steuerung durch staatliche oder kommunale Institutionen »Top-Down« verordnen lassen, sondern komplementär das »Bottom-Up«-Engagement lokaler Akteure und deren eigenverantwortliche Kooperation unabdingbare Voraussetzung ist. Es soll eine für das Ruhrgebiet charakteristische regionale Klimakultur in der Stadt verankert werden, die den Schritt vom Wissen zum Handeln unterstützt. Bürger sollen diesen Ansatz durch ihr Verhalten erfolgreich machen. Auch hier stehen sich die Sehnsüchte vieler Bürger, die Sehnsüchte der Stadtplaner und die Sehnsüchte der Politik gegenüber. Der Ansatz versucht, die Bürger selbst aktiv in den Wandel einzubeziehen und die vielfach noch unausgesprochenen Sehnsüchte durch Beteiligungsprozesse und mit Hilfe von sogenannten Change Agents, Rollenvorbildern, Multiplikatoren zum Erfolg zu führen. Hier geht es letztlich um beides – urbane Sehnsüchte zu beflügeln, zugleich aber auch individuelle und stadteigene Entscheidungsprozesse anzustoßen, denn wenn die Stadt in 20 Jahren eine andere sein soll, muss sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich jetzt entschieden werden.
4. I M R ÜCKBLICK Es gibt vielfältige Ansätze, Sehnsüchte zu aktivieren und zu übersetzen in Bilder, Pläne, Renderings oder in Geschichten zu personifizieren bzw. in Gedichten zu idealisieren. In jedem Fall muss das Entfachen von neuen Sehnsüchten mit einer entsprechenden Verantwortung geschehen, denn enttäuschte Sehnsüchte sind bekanntlich besonders schwer zu tragen. Sowohl vor dem Hintergrund langjähriger Stadtplanungspraxis als auch angewandter Stadtforschung in diesem sehr komplexen Feld der Stadtentwicklung geht es immer um zweierlei – die urbanen Sehnsüchte weiterzuentwickeln, die Vorstellungen von Zukunft anschaulich zu vermitteln, die Wege dorthin nachvollziehbar zu machen und zugleich die notwendigen Entscheidungsprozesse zu beflügeln.
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Abbildung 10: Urbane Orte für die Vielfalt von Stadtsehnsüchten.
Erst das wird dem komplexen System Stadt in Zukunft neue Qualitäten geben und den unabdingbar notwendigen Wandel mit erneuerten Infrastrukturen zur lokalen Energiewende, post-fossilen urbanen Mobilitätskonzepten und einer wachsenden gesellschaftlichen Integration im Respekt vor der kulturellen Identität der europäischen Stadt anstoßen (vgl. BMVBS 2012 b).
A NMERKUNG Wesentliche Teile des Abschnitts »1. Stadtsehnsüchte – Versuch eines Baukastens« basieren auf den vom Verfasser entwickelten Bausteinen für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung in: Stadt Weimar. 2011. Weimar 2030. Integriertes Stadtentwicklungskonzept der Stadt Weimar. Teil B Übergeordnete Leitziele der Stadtentwicklung (B-1 bis B-24).
B IBLIOGR APHIE Assmann, Jan. 1992. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck. Assmann, Aleida. 2001. »Wie wahr sind Erinnerungen«. In: Welzer, Harald (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition.
J. Alexander Schmidt | Urbane Sehnsüchte entwickeln und Entscheidungsprozesse ...
Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.), 2008. Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege der Stadtforschung. Frankfurt a.M.: Campus. Bisping, Rudolf. 2006. »Design von Umweltgeräuschen«. In: Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard (Hg.), Die leise Stadt. Essener Forum Baukommunikation. Essen: red dot edition, 60-67. BMBF/Bundesministerium für Bildung und Forschung. 2010. »Klima-Initiative: Handeln in einer neuen Klimakultur«. https://www.wettbewerb-ener gieeffiziente-stadt.de/wettbewerb/ausgewaehlte-projekte/essen/(01.03.2013); http://klimainitiative-essen.blogspot.de (01.03.2013); www.klimawerkstadt essen.de/klimaprojekte/klima-initiative-essen.html (01.03.2013). BMVBS/Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.), 2012 a. Kommunale Kompetenz Baukultur. Werkzeugkasten Qualitätssicherung. Berlin. BMVBS/BundesministeriumfürVerkehr,BauundStadtentwicklung.2012b.»Städtische Energien. Zukunftsaufgaben der Städte«. Memorandum. www.bmvbs. de/cae/servlet/contentblob/92098/publicationFile/65462/staedtischeenergien-memorandum-de.pdf (01.12.2012). BBSR/Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hg.), 2012. Die CO2-freie Stadt – Wunsch und Wirklichkeit. Informationen zur Raumentwicklung, Heft 5/6.2012. Stuttgart. de Botton, Alain. 2008: Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein. Frankfurt a.M.: Fischer. CABE Commission for Architecture and the Built Environment. 2001. The Value of Good Design. How buildings and space create economic and social value. London: Telford Publishing. CABE Commission for Architecture and the Built Environment. 2002. »The Value of Good Design. How Buildings and Space Create Economic and Social Value«. http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20110118095356/ www.cabe.org.uk/files/the-value-of-good-design.pdf (13.06.2013). CABE Commission for Architecture and the Built Environment. 2009. »Future Health: Sustainable Places for Health and Well-Being«. http://webarchive. nationalarchives.gov.uk/20110118095356/http:/www.cabe.org.uk/files/futurehealth.pdf (13.06.2013). CABE Commission for Architecture and the Built Environment. o.J. »The Value of Public Space«. www.designcouncil.org.uk/Documents/Documents/Pub lications/CABE/the-value-of-public-space.pdf (13.06.2013). Dittrich-Wesbuer, Andrea/Frehn, Michael/Thiemann-Linden, Jörg. 2010. »Mehr Platz für Nahmobilität – Neue Chancen für Stadt und Quartier«. In: SRL (Hg.): Planerin 4_10 Nahmobilität stadt.nah.gut, Berlin, August 2010: 36-37. Essener Forum Baukommunikation. 2012. www.stadtbaukultur-nrw.de/projek te/essenerforumbaukommunikation.htm (01.03.2013). Siehe auch die Publikationen: Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard (Hg. 2007; 2008; 2011)
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Hassenpflug, Dieter. 2006. »Die Lärmverletzlichkeit der ›leisen Stadt‹«. In: Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard (Hg.), Die leise Stadt. Essener Forum Baukommunikation. Essen: red dot edition, 36-43. Hausladen, Gerhard/Liedl, Petra/de Saldanha, Michael. 2012. Klimagerecht Bauen. Ein Handbuch. Berlin: Birkhäuser. Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), 2011. Urban Futures 2050. Szenarien und Lösungen für das Jahrhundert der Städte. Band 18. Berlin. Knoflacher, Hermann. 2012. Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung. Teil 2. Siedlungsplanung. Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Liessmann, Konrad Paul. 2009. Schönheit. Wien: Facultas. Lynch, Kevin. 1968. Das Bild der Stadt. Gütersloh/Berlin/München: Bertelsmann. MKULNV/Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz NRW (Hg.), 2011. Handbuch Stadtklima. Maßnahmen und Handlungskonzepte für Städte und Ballungsräume zur Anpassung an den Klimawandel. Düsseldorf. Müller, Klaus Peter. 2012. Keine Zeit zum Leben. Philosophische Essays zur Zeiterfahrung in der Moderne. Marburg: Tectum. Norberg-Schulz, Christian. 1991. Genius Loci – Landschaft, Lebensraum, Baukunst. Stuttgart: Klett-Cotta. Opitz, Florian. 2011. SPEED – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. München: Riemann. Schmidt, J. Alexander/Jammers, Reinhard (Hg.), 2007. Stadt bis 130. Essener Forum Baukommunikation. Essen: red dot edition. —. 2008. Die schöne Stadt/Beauty and the City. Essener Forum Baukommunikation. Essen: red dot edition. Schmidt, J. Alexander. 2011. »Die schöne Stadt. Schönheit – ein inzwischen wieder salonfähiges Thema«. In: PlanerIn. Städtebau und Stadtplanung. Berlin. 6_2010: 15-17. Schmidt, J. Alexander et al. (2013). Neue Verkehrskonzepte für die Stadt der Zukunft. Forschungsprojekt. Institut für Stadtplanung + Städtebau in Kooperation mit TRC/Transport Research Consulting, Essen und KWI/Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen. 2013 (Publikation in Vorbereitung). Schorlau, Wolfgang (Hg.), 2010. Stuttgart 21. Die Argumente. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Stendhal (d. i. Henri Beyle). 1975. Über die Liebe. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Walter Hoyer. Frankfurt a.M.: Insel. Teimann, Sonia. 2012. Demenz und Freiraumplanung. Berlin: Pro Business. Theobald Tiger [Kurt Tucholsky]: »Das Ideal«, in: »Berliner Illustrirte Zeitung«, 31. Juli 1927, S. 1256; hier zit.n.: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky, Fritz J. Raddatz, Band 5, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975, S. 269.
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VCÖ/VerkehrsClubÖsterreich (Hg.), 2012. Mehr Lebensqualität in Städten durch nachhaltige Mobilität. VCÖ Schriftenreihe »Mobilität der Zukunft«, Heft 1/2012. Wien. Wolfrum, Sophie. 2003. »Haben Städte eine Seele?« www.janson-wolfrum.de/ seele.htm (01.03.2010).
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Technologielösungen für die Stadt der Zukunft Martin Schröder Das Thema »Urbanisierung« ist aktuell Gegenstand vieler Nachhaltigkeitsdiskussionen. Urbanisierung ist ein weltweiter Megatrend, der die Vermehrung und Vergrößerung von Städten nach Zahl, Fläche und Einwohnern beschreibt. Die Prognosen der Vereinten Nationen zeigen: Die Welt wird städtischer. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits heute in Städten und rund zwei Drittel aller weltweit verbrauchten Energie wird in Städten verbraucht. Und der globale Trend der Urbanisierung schreitet weiter voran: Das Londoner Urban Age Project (vgl. Burdett/Sudjic 2007: 27-28) hat errechnet, dass die Stadt Lagos z.B. bis 2015 jede Stunde um 58 Einwohner wächst. Zum Vergleich: London wächst im gleichen Zeitraum lediglich um sechs Einwohner. Bis zum Jahr 2025 wird es mindestens 30 »Megacities« weltweit geben, also Städte mit mehr als zehn Millionen Menschen. Daneben nimmt die Zahl der Städte unter zehn Millionen Einwohner ebenfalls schnell zu. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass es in bereits vier Jahren, also im Jahr 2015, 300 Millionenstädte weltweit geben wird. Das hat besondere Folgen: Das World Economic Forum (vgl. 2011: 8) hat errechnet, dass ein Wachstum der Stadtbevölkerung um 1 Prozent eine Steigerung des städtischen Energieverbrauchs um 2,2 Prozent zur Folge hat. Aufgrund dieser Tatsachen wächst auch die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Städte. Dies ist bereits seit einigen Jahren auf den internationalen Konferenzen der UNO-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und auf den internationalen Nachhaltigkeitsgipfeln zu beobachten. Die Zusammenschlüsse von Städten (z.B. ICLEI, Mayors of the World, International Association of Cities etc.) melden sich mit eigenen Positionen zu Wort und werden neben den verhandelnden Staatenvertretern als neue politische Akteure wahrgenommen. Die Folge: Im letzten Jahr hat die internationale Nachhaltigkeitskonferenz in Rio de Janeiro (der sogenannte »Rio+20-Gipfel«) die wachsende Bedeutung der Städte in ihrem Abschlussdokument »The Future We Want«1 hervorgehoben und den Städten darin ein eigenes Kapitel gewidmet. 1 | https://rio20.un.org/sites/rio20.un.org/files/a-conf.216l-1_english.pdf.pdf
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Das ist aus folgenden Gründen bemerkenswert und richtig: In Städten wird sich entscheiden, ob immer mehr Menschen ihre Hoffnung nach mehr Lebensqualität erfüllt werden kann. Das gilt insbesondere für diejenigen, die in den Entwicklungs- und Schwellenländern vom Land in die Stadt drängen. Außerdem wird sich entscheiden, ob die urbane Verdichtung zu mehr Vernetzung, zu Kreativität und Innovation, und so zu mehr Wachstum und Wohlstand führt. Es geht um eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftens bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcen und zum Nutzen für das Weltklima erhalten wird. Städte sind aus klimapolitischer Sicht von zentraler Bedeutung: Sie zeichnen verantwortlich für mehr als 75 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Dabei decken Städte nur 0,4 Prozent der Erdoberfläche ab. Klar ist, dass Klimawandel und Rohstoff knappheit zum größten Teil durch das Leben in Städten verursacht werden. Das bedeutet aber auch: Bemühungen zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen greifen in Städten in besonderem Maße. Heute sind Städte Impulsgeber unserer Gesellschaft. Die zehn wirtschaftsstärksten Städte der Welt erwirtschaften 20 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Durch ihre Rolle als Kreativ-, Wirtschafts- und Lebenszentren sind sie nicht Hindernis, sondern Ausgangspunkt für nachhaltige Entwicklung. In Zukunft müssen sich Städte »nachhaltig entwickeln«, damit der Weg in eine lebenswerte Zukunft beschritten werden kann. Um dies zu tun und dabei die geschilderten Herausforderungen zu meistern, müssen die Investitionsbedingungen in Städten so gesetzt sein, dass nachhaltige Technologien und intelligente Infrastrukturen zur Anwendung kommen. Es bieten sich zahlreiche technologische Lösungsmöglichkeiten, um die Stadtentwicklung nachhaltiger zu gestalten. Und: Durch die richtigen Investitionen in nachhaltige Gebäude, Mobilität und Energieinfrastrukturen sichern Städte ihre Zukunftsfähigkeit. Im Ausland herrscht besonderes Interesse an deutschen Energieeffizienzund Umwelttechnologien, insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Energiewende. Deutsche Unternehmen verfügen über langjährige Erfahrung im Bereich der »urbanen Technologien«. Sie gehören mit ihren Technologielösungen für die Stadt der Zukunft zu den wichtigsten Akteuren auf dem Weltmarkt: Deutsche Energieeffizienz- und Umwelttechnologien machen heute 16 Prozent des Welthandels aus. Diese Lösungskompetenz kann die Lebensqualität in den Städten verbessern und klimaschädliche Treibhausgasemissionen vermeiden. Für die deutsche Industrie liegt darüber hinaus im Zukunftsfeld »Urbanisierung« eine große Wachstumschance. Laut OECD-Schätzungen belaufen sich die in Städten erforderlichen Infrastrukturinvestitionen bis 2030 auf mehr als 40 Billionen Dollar weltweit (vgl. OECD Programme on Cities and Green Growth 2012). Das sind notwendige Investitionen, um die Energieproduktion und -verteilung, die Wasserver- und -entsorgung, die Gebäudetechnik und die Personen- und Güterverkehre zu-
Mar tin Schröder | Technologielösungen für die Stadt der Zukunf t
kunftsfähig und klimaschonend zu gestalten. Darüber hinaus spielt das Recycling von Elektrogeräten oder Autos und die Gewinnung von Kupfer, Gold oder Aluminium aus Schrott (»Urban Mining«) bei der Schonung der begrenzt verfügbaren Rohstoffe eine besondere Rolle. Um die Stadt der Zukunft zu versorgen, müssen die Energieinfrastrukturen in Zukunft ausgebaut oder modernisiert werden, um eine flexible, effiziente und zuverlässige Energienutzung und -verteilung in dichtbesiedelten Gebieten und Städten sicherzustellen. Der Strombedarf in Städten wird zukünftig auch durch Kraftwerke gedeckt, die fossile Brennstoffe effizienter und mit einem geringen Kohlendioxid-Ausstoß verstromen. Der weltweite Bedarf an Kraftwerkstechnologien wird jährlich um 5 bis 10 Prozent wachsen. Außerdem werden Elemente der dezentralen Energieversorgung und erneuerbare Energiequellen eine entscheidende Rolle spielen. Bis 2025 wird eine Verdrei- bis Versechsfachung des gegenwärtigen globalen Marktvolumens erneuerbarer Energien erwartet. Um ihr ganzes Potential ausspielen zu können, sind neue und von Informationsund Kommunikationstechnologien (IKT) gestützte Managementlösungen vonnöten, die die Einspeisung von erneuerbarem Strom ermöglichen. Außerdem werden im urbanen Kontext Speichertechnologien immer wichtiger. Ihr Einsatz ist wiederum ein Schlüsselbaustein zur Integration erneuerbarer Energien. Denn die Speicherung überschüssigen Stroms (bspw. aus Windkraft) wird zukünftig an Bedeutung gewinnen. Ein weiterer wichtiger Bereich sind die städtischen Gebäude. Heutzutage wird rund 40 Prozent der weltweiten Energie im Gebäudebereich verbraucht. Um diesen Verbrauch in Zukunft spürbar zu senken, gewinnen wärmedämmende Fassaden, energiesparende Kühlung und Heizung, die Integration erneuerbarer Energien und Kraft-Wärme-Kopplung zunehmend an Bedeutung. Es handelt sich hier um eine neue Dimension: In Deutschland wird der Gebäudebestand saniert, doch in den aufstrebenden Städten der Entwicklungs- und Schwellenländer werden oft ganz neue Strukturen geschaffen. Die Hälfte der weltweiten Bautätigkeit wird 2020 in China stattfinden. Stichwort nachhaltiger Verkehr: Gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern ist das Automobil ein Statussymbol. Die Menschen dort haben ein Recht auf individuelle Mobilität. Allerdings gilt es, dieses Bedürfnis nach individueller Mobilität mit der Klimafrage, mit der Energieversorgung und der notwendigen städtebaulichen Infrastruktur zu lösen. Dazu gehören natürlich auch moderne öffentliche Personennahverkehrssysteme. So gibt es beispielsweise in Curitiba (Brasilien) oder Bogotá (Kolumbien) besondere Stadtschnellbussysteme. Dabei können bis zu 25.000 Fahrgäste pro Stunde und Linie in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus transportiert werden. Bei urbaner Mobilität spielt auch das Thema IKT eine besondere Rolle. Durch intelligente Verkehrssysteme werden sich unterschiedliche Verkehrs-
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mittel kombinieren und Wartezeiten verkürzen lassen. Die IKT bietet dem Bürger exakte Informationen für die Wahl der Transportmittel. Beim Güterverkehr geht es darum, die Warenströme innerhalb der Stadt in Zukunft so zu organisieren, dass sie effizient und umweltschonend umgeschlagen werden können und ihren Empfänger möglichst schnell und unkompliziert erreichen. Alle diese Beispiele zeigen: Die deutschen Industrieunternehmen bieten für alle Bereiche Systemlösungen und integrierte Konzepte für wachsende und neu zu errichtende Städte und können auf einen reichen Erfahrungsschatz, der von der Grundstoffproduktion bis zum energieeffizienten Hochtechnologieprodukt reicht, zurückgreifen. Natürlich gibt es keinen Königsweg, keine »One-Size-fits-all«-Lösung. Denn keine Stadt gleicht der anderen. Bei öffentlichen Ausschreibeverfahren oder im Prozess der Infrastrukturplanung sollte die Industrie frühzeitig beteiligt werden. Denn oft ist der Rat der Industrie wertvoll für Stadtverantwortliche. Die Unternehmen wissen oft besser, welcher Stand der Technik sinnvoll ist. In jedem einzelnen Fall geht es darum, Leistungen verschiedener Partner zu einem funktionsfähigen System zu bündeln und diese Konzepte weltweit auf die Märkte zu bringen. Die Industrie ist sich ihrer Verantwortung bewusst und will ihren Beitrag zu nachhaltiger Stadtentwicklung leisten.
B IBLIOGR APHIE Burdett, Ricky/Sudjic, Deyan (Hg.), 2007. The Endless City. The Urban Age Project by the London School of Economics and Deutsche Bank’s Alfred Herrhausen Society. Phaidon Press, Ltd. OECD Programme on Cities and Green Growth. 2012. www.oecd.org/green cities (14.03.2013). World Economic Forum. 2011. A Profitable and Resource Efficient Future. Catalysing Retrofit Finance Investing Commercial Real Estate. http://www 3.weforum.org/docs/WEF_IU_CatalysingRetrofitFinanceInvestingCommer cialRealEstate_Report_2011.pdf (14.03.2013).
Gebäudetechnische Innovationen für die Stadt von morgen Eckhart Hertzsch und Maike Buttler
1. E INLEITUNG Das interdisziplinäre Symposium »Sehnsuchtsstädte – Medien, Praktiken, Techniken« bot Anlass, die Schnittstelle der Sozial- und Ingenieurswissenschaften – Mensch und bebaute Umwelt – zu thematisieren. Einleitend werden Zukunftsfragen, Zukunftsängste und Handlungsbedarf im Gebäudebereich auf globaler Ebene aufgezeigt. Welche Bedeutung hat die Bauwirtschaft und Gebäudenutzung für eine nachhaltige Entwicklung? Darauf auf bauend wird der Status quo im Gebäudebereich dargestellt. Welche Anforderungen haben Menschen an die Bauwerksnutzung? Welcher Ressourcenverbrauch ist damit verbunden? Und welche Strategien und Maßnahmen führen zur Integration beider Aspekte? Im letzten Abschnitt »Welche Zukunftskonzepte – die Zukunft beginnt heute!« wird der Blick vom Bauwerk als Einzelobjekt erweitert auf die Vernetzung im Quartier und in der Stadt. Hier wird dargestellt, welche Funktionen Bauwerke und Bewohnende als Energieverbraucher und Energieerzeuger im Quartier übernehmen können, welche Veränderungen der Stadtgesellschaft denkbar sind und welche Szenarien sich für die Stadtstruktur und den Gebäudebereich ergeben können.
2. Z UKUNF TSFRAGEN , Z UKUNF TSÄNGSTE UND H ANDLUNGSBEDARF Wir bewohnen den wundervollen Planeten Erde. Das Gleichgewicht der Natur wird jedoch massiv durch den Einfluss des Menschen gestört. Die Bevölkerung – vor allem der westlichen Welt – entzieht der Erde ein hohes Maß an Ressourcen und verschmutzt Böden, Gewässer und Luft durch Emissionen und Abfälle. Das Übermaß an Nahrungsmitteln und Konsumgütern auf der einen Seite der Erde steht einem Unterangebot in vielen Ländern auf der anderen Seite gegenüber. »Die Industrieländer nutzen die Ressourcen, als gäbe es vier
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Erden. Doch wir haben nur einen Planeten, mit dem wir sorgsam umgehen müssen. Das heißt nachhaltig leben und wirtschaften.« (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie 2013) Ein Ende des globalen Trends der »Ressourcenausbeutung« ist jedoch zurzeit nicht abzusehen. Im Gegenteil – seit Jahren wächst die Weltbevölkerung stetig an und wird sich in den kommenden Jahren vor allem in Asien, Ozeanien, Afrika sowie Süd- und Zentralamerika zunehmend ausbreiten. Der Zuwachs der Bevölkerung wird sich dabei vor allem in städtischen Gebieten vollziehen. Im europäischen und nordamerikanischen Kontext sind Gründe für die »Rückkehr« der Menschen in die Städte im Wunsch nach neuer Mobilität – auch ohne eigenen PKW – und einem »urbanen Lifestyle« zu finden. In den südlichen Metropolen der Erde hingegen, ist das Ausmaß und die Ausformung der enormen Verstädterung nur schwer vorhersehbar (vgl. Meyer 2012: 13). Um der Verstädterung national zu begegnen, wurde vom deutschen Bundeskabinett am 28. März 2012 ein Aktionsplan im Rahmen der »Hightech-Strategie« beschlossen. Dieser beinhaltet zehn Zukunftsprojekte zur Umsetzung der Innovationspolitik – eines davon ist das Themenfeld »Die CO2-neutrale, energieeffiziente und klimaangepasste Stadt«. Die Stadt wird in den Mittelpunkt gerückt, da ein Großteil des Ressourcenverbrauchs in Deutschland in Städten erfolgt (vgl. Bundesregierung 2012). In Städten leben viele Menschen auf engem Raum und durch die Erstellung, Nutzung und Entsorgung ihrer Behausungen und Arbeitsstätten werden bereits große Mengen an Ressourcen bewegt: So erzeugt der Bau, Betrieb und Abriss von Bauwerken bis zu 40 Prozent des Energieverbrauchs, rund 30 Prozent des Rohstoffverbrauchs und bis zu 40 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland (vgl. Jones Lang LaSalle 2008: 2). Allein Heizungsanlagen sind für rund ein Drittel der verbrauchten Endenergie verantwortlich (vgl. UBA 2010: 10). Hinzu kommen Stoffströme, die durch die Versorgung und Mobilität der Stadtbewohnenden verursacht werden. Daraus folgt, dass Konzepte für nachhaltige Stadtentwicklung besonders relevant sind, um den Ressourcenverbrauch zu reduzieren: Das betrifft nicht nur die Verbesserung der energetischen Gebäudeperformance, sondern auch der effizienten Gestaltung von Energienetzen und die Weiterentwicklung nachhaltiger Mobilität (vgl. Bundesregierung 2012). Städte sind jedoch vor allem Agglomerate unterschiedlicher Menschen, Lebensweisen und Interessen; für die konzeptionelle Entwicklung und auch die Umsetzung neuer Technologien ist das Zusammenwirken von »allen gesellschaftlichen Akteuren und allen Politikfeldern disziplinübergreifend gefragt« (vgl. Bundesregierung 2012).
Eckhar t Her tzsch/Maike Buttler | Gebäudetechnische Innovationen für die Stadt ...
2011
2020
-26,4%
-40%
Primärenergieverbrauch (gegenüber 2008) Energieproduktivität (Endenergieverbrauch)
-6% 2% pro Jahr (2008-2011)
-20%
Brutto-Stromverbrauch (gegenüber 2008) Anteil der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung
-2,1% -15,4% (2010)
-10%
k.A.
-20%
k.A. rund 1% pro Jahr
-
rund -0,5%
-10%
2050
Treibhausgasemission Treibhausgasemissionen (gegenüber 1990)
2030 -55%
2040 -70%
2050 -80% bis -95%
Effizienz -50% 2,1% pro Jahr (2008-2050) -25%
25%
-
Gebäudebstand Wärmebedarf Primärenergiebedarf Sanierungsrate
in der Größenordnung von -80% Verdopplung auf 2% pro Jahr
Verkehrsbereich Endenergieverbrauch (gegenüber 2005) Anzahl Elektrofahrzeuge
ca. 6.600
1 Mio.
20,3%
mind. 35%
2030 6 Mio.
Erneuerbare Energie Anteil Bruttostromverbrauch Anteil Bruttendenergieverbrauch
12,1%
18%
2030 mind. 50% 2030 30%
2040 mind. 65% 2040 40%
2050 mind. 80% 2050 60%
Tabelle 1: »Status Quo und quantitative Ziele der Energiewende« (BMWi/BMU 2012: 16).
Tabelle 1 zeigt die Ziele der Bundesregierung zur Reduzierung des Energieverbrauchs nach Sektoren: Erhöhung der Effizienz bei der Energieerzeugung, Ausbau erneuerbarer Energien, neue Angebote und bessere Vernetzung im Verkehrsbereich und Modernisierung des Gebäudebestands. Es ist bis 2020 (in Bezug auf das Jahr 2011) geplant, den Wärmbedarf im Gebäudebestand bis zu 20 Prozent zu reduzieren. Der Primärenergiebedarf soll bis 2050 sogar bis zu 80 Prozent reduziert werden. Eine Umsetzungsmaßnahme ist die energetische Gebäudemodernisierung. Die Rate soll dafür um 1 Prozent pro Jahr gesteigert werden und ab 2030 jährlich um 2 Prozent (vgl. ebd.).
3. S TATUS QUO IM G EBÄUDEBEREICH — W IDERSPRUCH VON INDIVIDUELLEN B EDÜRFNISSEN DER B E WOHNENDEN UND BAULICHER W IRKLICHKEIT ? Nutzersehnsucht — Gesundheit und Behaglichkeit in Innenräumen Gibt es einen Widerspruch zwischen einem ressourcenschonenden und einem anspruchsvollen, komfortablen Lebensstil der Menschen in Wohngebäuden und Arbeitsstätten? Nutzergesundheit und Komfort in der Gebäudenutzung betrifft z.B. die thermische Behaglichkeit und Belichtung von Räumen. Ferner haben die Qualität der Raumluft, optische Einflüsse wie z.B. die Ästhetik
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eines Raumes und akustische Qualität (Schutz vor Lärmquellen) Einfluss auf das Empfinden von Behaglichkeit. Die thermische Behaglichkeit wird durch physiologische, intermediäre und physikalische Faktoren beeinflusst. Die Faktoren Kleidung und Tätigkeitsgrad hängen vom Menschen selbst ab. Oberflächentemperatur, Lufttemperatur, Feuchte und Geschwindigkeit hängen hingegen von der Klimazone und der baulichen Gestaltung ab. Der Mensch erzeugt durch Stoffwechsel Wärme, deren Überschuss durch Konvektion, Leitung, Strahlung und Verdunstung an die Umgebung abgegeben wird. Die Wärmeproduktion ist dabei vom Tätigkeitsgrad abhängig. Mit den Aktivitätsgraden in Bürogebäuden beispielsweise, die sich in der Regel auf Sitzen, Stehen und Gehen reduzieren, hat der Feuchtigkeitsanteil der Luft nur einen geringen Einfluss auf die thermische Behaglichkeit, da Schwitzen und damit erhöhte Feuchteabgabe erst ab einem höheren Tätigkeitsgrad erfolgen. Einen hohen Einfluss hingegen haben die Temperaturen der Umschließungsflächen, die Lufttemperatur und die Luftbewegung (vgl. Voss et al. 2005: 21).
Komfortsituation in Wohngebäuden In deutschen Städten lässt sich eine Vielzahl an Altbaubeständen mit teils ausgezeichneter funktionaler Qualität finden. Obwohl die Bauwerke, z.B. der Gründerzeit, über 100 Jahre alt sind, eignen sie sich noch heute für die Realisierung verschiedener Wohn- und Arbeitskonzepte. Die relative Größe der Räume (> 20m²), hohe Decken und hohe Fenster tragen dazu bei. Dennoch sind Gebäude älterer Semester, die nicht energetisch modernisiert wurden, durch einen geringen Dämmstandard gekennzeichnet. Selbst ein hoher Wärmeverbrauch bedeutet nicht in jedem Fall, dass thermischer Komfort für Nutzende gegeben ist, wenn ein großer Teil der Heizenergie über Transmission durch Bauteile zur Außenluft verlorengeht. Selbst wenn der Wärmeverlust durch die gleiche Menge an Wärmezufuhr ausgeglichen wird, ist thermischer Innenraumkomfort fraglich. Hohe Temperaturunterschiede zwischen verschiedenen Bauteilen können zu Zuglufterscheinungen führen und auch starke Kälteabstrahlung von Bauteilen führt zu Unbehaglichkeit.
Komfortsituation in Bürogebäuden Ein anderes wichtiges Nutzungsfeld betrifft Bürogebäude. Für Büronutzende ist es wichtig, am Arbeitsplatz eine Raumtemperatur vorzufinden, die ihrem sitzenden Tätigkeitsgrad entspricht, und ausreichend mit Tageslicht, Frischluft und Ausblicken versorgt zu werden. Jedoch können ältere »Glaspaläste« beispielsweise, die nicht modernisiert wurden, im Sommer ein Überhitzungsproblem aufweisen. Zwar sorgen großzügige Verglasungen für einen repräsentativen Charakter, gute Versorgung mit Tageslicht und Ausblicke, dennoch
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können diese Vorzüge mit Nachteilen gekoppelt sein. Das ist z.B. der Fall, wenn kein außen liegender Sonnenschutz installiert wurde. Die kurzwellige Sonnenstrahlung passiert die Glasscheiben ungehindert, trifft auf die Oberflächen im Innenraum und wird absorbiert. Dabei entsteht Wärme, die über ein Lüftungssystem wieder abgeführt werden muss. Durch Einsatz einer Klimaanlage kann die Raumtemperatur auf das gewünschte Maß gekühlt werden. Dennoch kann es in Fassadennähe zu starker Hitzeabstrahlung kommen, die den thermischen Nutzerkomfort vermindert. Außerdem trägt Frischluftversorgung über ein Lüftungssystem statt über die Fassade nicht grundsätzlich zu Nutzerzufriedenheit bei. Zwar mögen die physikalischen Komfortbedingungen optimal sein, jedoch ist das Maß der Einflussnahme von Nutzenden auf das Raumklima – Öffnen von Fenstern, Betätigen von Sonnen- und Blendschutz und Regeln von Heizkörpern – eine wichtige psychologische Komponente, die das Behaglichkeitsempfinden steigert (vgl. BMVBS 2011: 3.1.6).
4. M ASSNAHMEN ZUR S TEIGERUNG VON E NERGIEEFFIZIENZ UND B EHAGLICHKEIT FÜR G EBÄUDE Modernisierung von Wohngebäuden In nicht modernisierten Altbauten ist – wie vorab erwähnt – problematisch, dass der Dämmstandard sehr niedrig sein kann und der Komfort deshalb nicht grundsätzlich gewährleistet ist. Ältere opake und transparente Bauteile können eine hohe Wärmeleitfähigkeit haben. Wärmeverluste können durch neue Fenster und Dämmung von Böden, Fassaden und Dächern reduziert werden. Ein weiterer Schritt ist der Austausch alter ineffizienter durch neue effiziente Heizungssysteme mit Verteilungssystemen mit reduzierten Wärmeverlusten an wenig genutzte oder nicht genutzte Flächen. Bei Niedrigenergiehausstandard kann zudem eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung eingesetzt werden, um Lüftungswärmeverluste zu vermeiden. Trotz Defiziten in der Dämmfähigkeit haben viele Altbauten Attribute, die sich vorteilhaft auf die energetische Performance auswirken können. Gibt es z.B. massive Bauteile, bedeutet dieses eine Speichermasse für Wärme im Winter (und Kälte im Sommer), die phasenverschoben an die Raumluft abgegeben wird. Intelligente Prinzipien, um Wärmeverluste zu vermeiden, sind schon seit langer Zeit bekannt. Beispielsweise das Prinzip der doppelten Haut, deren innen liegende Luftschicht als Pufferzone wirkt. Ein Beispiel hierfür sind die traditionellen Berliner Fenster. Eine wichtige Rolle für die energetische Performance spielt auch der städtische Kontext, z.B. die Fassadenverschattung durch Umgebungsbebauung und Ausrichtung von transparenten Öffnungen nach Himmelsrichtungen. Durch große Südfenster beispielsweise, die im Sommer
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durch das Blätterdach einen Baumes verschattet werden, können bei Besonnung im Winter hohe solare Wärmegewinne eingefahren werden. Das Potential der Reduzierung des Heizwärmeverbrauchs von Altbauten durch energetische Modernisierung liegt durchschnittlich bei rund 70 Prozent. Bei kleinen Wohngebäuden, die im Originalzustand bis 210 kWh pro Quadratmeter und Jahr allein für Heizwärme verbrauchten, ließe sich der Verbrauch sogar auf rund 10 Prozent, sprich auf 25 kWh pro Quadratmeter und Jahr, reduzieren. Innerstädtische Gebäude, die vorab rund 150 kWh/m²a verbrauchten, können nach der Modernisierung bei rund 40 kWh/m²a liegen. Ähnlich verhält sich der Reduzierungsgrad bei großen Gebäudekomplexen (vgl. Erhorn et al. 2008: 57).
Abbildung 1: »Energetische Potentiale im Gebäudebestand« (ebd.).
Für den Vergleich der Energieeffizienz der Gebäudehülle und -technik verschiedener Bauwerke oder den Vergleich verschiedener Modernisierungsmaßnahmen ist der Indikator kWh/m²a, der Endenergiebedarf, aussagekräftig. Für die Aussagekraft der Energieeffizienz eines Bauwerks nach Inbetriebnahme ist der Indikator jedoch nur bedingt hilfreich. Er differenziert beispielsweise nicht, ob sich Nutzende eines Bauwerks sparsam verhalten oder ob ein Bauwerk lediglich wenig genutzt wird. Ein niedriger Energieverbrauch – pro m² und Jahr – kann auch dann erzielt werden, wenn leerstehende Flächen betrieben werden. Schließlich kann für den Gebäudebereich ebenso wie für Produkte (wie Fernseher oder Kühlschränke) der »Rebound-Effekt« (UBA 2012: 20) eintreten: Je mehr gebaute und betriebene Fläche pro Kopf zur Zweckerfüllung von Wohnen (und auch Arbeiten) verbraucht wird, desto geringer fallen Energieeinsparungen durch effiziente Gebäudehüllen und -technik aus. Oder sogar im Gegenteil – der absolute Energieverbrauch steigt weiter an. Demnach
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ist auch in modernisierten Gebäuden das Nutzerverhalten eine entscheidende Einflussgröße. Der »Prebound-Effekt« beschreibt den gegenteiligen Effekt (vgl. Felsmann et al. 2013; University of Cambridge 2012). Durch sparsames Nutzerverhalten kann der Energieverbrauch auch im nicht modernisierten Altbau niedrig ausfallen: In general, the worse a home is thermally, the more the occupants tend to control the amount of heating they use. For financial reasons, they also have to. This challenges the prevailing view that large cuts in energy consumption can be achieved by focusing purely on technical solutions, such as retrofitting homes. In some cases, doing so may bring only half the expected savings, perhaps less. (University of Cambridge 2012)
Modernisierungen von Bürogebäuden Die energetische Modernisierung von Bürogebäuden kann durch verschiedene Maßnahmen realisiert werden. Z.B. kann durch Verringerung der verglasten Fläche, Einsatz von Wärmeschutzgläsern oder Doppelverglasung mit zwischen liegendem Sonnenschutz und Abführung der Luft im Zwischenraum dem Problem der Überhitzung im Sommer entgegengewirkt – und somit auch die Kühllast im Büro verringert werden. Im Winter wiederum unterstützen dieselben Maßnahmen die Reduktion der Transmissionswärmeverluste – und somit auch des Heizwärmebedarfs. Lüftungswärmeverluste können durch Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung vermindert werden. Außen liegender Sonnenschutz kann durch das Prinzip der »Übersteuerung« optimal auf Nutzerbedürfnisse abgestimmt werden: Greifen Büronutzende manuell in die Sonnenschutzsteuerung ein, wird der Automatismus für einige Zeit außer Betrieb gesetzt. Ein positives Beispiel für die Erhöhung des Tageslichtangebots in einem nachhaltigen Bürogebäude ist das Genzyme Center in Cambridge (USA). Es handelt sich um einen Baukörper mit Atrium auf einem nahezu quadratischen Grundriss. Auch zum Atrium hin wurden Besprechungsräume und Arbeitsplätze eingerichtet. Um im Inneren für eine optimale Tageslichtausbeute zu sorgen, wurden mehrere Heliostate (Sonnenlichtspiegel) auf dem Dach installiert. Sie bewegen sich im Tagesverlauf mit der Sonne und spiegeln Licht in das Atrium. Im Atrium trifft das Licht auf Mobiles, die es streuen und in seine spektralen Bestandteile teilen (vgl. Behnisch, Behnisch & Partner 2005: 645649). Auch die außen liegenden Büros sollten optimal mit Tageslicht versorgt werden. Die Sonnenschutzlamellen wurden mit Licht lenkendem Material beschichtet. Ist der Sonnenschutz geschlossen, um Blendung und Überhitzung zu vermeiden, reflektieren die Lamellen das Tageslicht gegen die Decke und von dort wird es weiter in den Raum gestreut (vgl. ebd.). Energetische Modernisierungen von Bürogebäuden erfordern von Eigentümern den Einsatz von Kapital. Die Investitionskosten können sich durch
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Einsparungen bei den Energiebetriebskosten amortisieren – jedoch kann dies unter Umständen einen längeren Zeitraum erfordern. Daher ist es von Vorteil, die Investitionsentscheidung unter Einbezug der Betrachtung des Lebenszyklus und verschiedener Modernisierungsvarianten sorgfältig abzuwägen. Die integrale Betrachtung von Maßnahmen für die Fassadenmodernisierung, technische Gebäudeausrüstung und Lichtkonzepte sind notwendig, um eine optimale Renovierungsstrategie zu entwickeln. Ferner ist die Ermittlung des optimalen Zeitpunktes der nachhaltigen Sanierung von großer Bedeutung. Dieser ergibt sich z.B. aus der Betrachtung des Vermietungsstandes in Kombination mit der Lebensdauer der jeweiligen technischen Komponenten. Ist ein Ende der Lebenszeit wesentlicher und teurer Komponenten – wie z.B. einem Kühlturm – in Sicht, kann es hier zu Einsparungen kommen, die sich durch die veränderte Anlagentechnik infolge der Energiesparmaßnahmen ergeben. Diese Betrachtung der »Gesamtsituation« kann den Nettokapitalwert einer Immobilie entscheidend positiv beeinflussen. Die mit einer Renovierung oft einhergehende Aufwertung einer Immobilie kann darüber hinaus zu Mehreinnahmen in der Vermietung führen, die die Wirtschaftlichkeit des Kapitaleinsatzes zusätzlich verbessern können (vgl. Hertzsch et al. 2012: 189-212).
5. Z UKUNF TSKONZEP TE — DIE Z UKUNF T BEGINNT HEUTE! Plusenergiekonzepte Im vorherigen Kapitel wurde aufgezeigt, wie in Gebäuden der Energieverbrauch gesenkt werden kann. Zukunftsweisende Technologien in Pionierprojekten gehen jedoch bereits einen Schritt weiter: Plusenergiehäuser erzeugen durch den Einsatz erneuerbarer Energien, z.B. durch Stromerzeugung mit Photovoltaik in der Gebäudehülle, in der Jahresbilanz mehr Energie, als sie selbst verbrauchen können, und können Energie in Form von Strom oder Wärme in Versorgungsnetze einspeisen. Jedoch ist die Energie aus erneuerbaren Quellen nicht konstant verfügbar, da sie z.B. vom Sonnenstand und Wetterlage abhängig ist. Somit gewinnt das Gebäude im städtischen Kontext als Energiekonsument und auch als Energielieferant an Bedeutung. Um die Energienutzung zu optimieren, kann das Prinzip »Last folgt Produktion« (Fraunhofer Kompetenzzentrum IT4Energy 2013) angewendet werden. Das bedeutet, dass im Quartier erzeugte Wärme und Strom, für die der Erzeuger aktuell keinen Bedarf hat, dorthin umgeleitet werden, wo aktuell Bedarf besteht. Beispielsweise kann die überschüssige Wärme eines Kaufhauses zur Heizung benachbarter Wohngebäude abgegeben werden. Überschüssige Stromproduktion kann auch zwischengespeichert werden, beispielsweise durch das Aufladen von Elektro-Automobilen.
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Vom Stromanbieter bis zum Endgerät sollen langfristig alle Energie-Akteure in ein intelligentes Stromnetz (»Smart Grid«) integriert werden. Smart Meter erfassen die dafür benötigten Messdaten, die Informationen über Verbrauch und Produktion liefern. (Fraunhofer Kompetenzzentrum IT4Energy 2013)
Prinzipen für nachhaltige Stadtentwicklung Drei wesentliche Wandlungen technischer Systeme beeinflussen zurzeit unsere Städte: technologische Änderungen in verschiedenen Branchen, steigende Änderungsrate (Synchronisation von Innovationszyklen von Gebäuden, Infrastrukturen, Fahrzeugen und IKT & Daten) und Zusammenwachsen getrennter Branchen vom divergenten Technologiemanagement zum konvergenten Technologiemanagement. Die Gesellschaft entwickelt sich derzeitig immer mehr hin zur hochmobilen Wissensgesellschaft. Kommunikation findet abnehmend linear und zunehmend ubiquitär in Echtzeit statt. Die Rollen von Dienstleistungen im städtischen Kontext werden in Netzwerken neu definiert. Gebäudenutzende können gleichzeitig Anbietende und Kunden sein. Wandlungstreiber für die Städte von morgen sind in multiplen Sektoren zu finden. Wie oben dargestellt können sich im Gebäudebereich standardisierte Energieverbraucher hin zu individualisierten Plusenergieerzeugern entwickeln, die sich in ein System aus Nachfrage und Angebot in einem Stadtquartier eingliedern. Erfolgt die Energieerzeugung gegenwärtig vor allem zentralisiert und stark CO2-emittierend oder radioaktive Abfälle erzeugend, reduzierte eine innovative dezentralisierte Erzeugung aus erneuerbaren Energiequellen die Umweltbelastungen. Die Wandlung im Sektor Mobilität liegt in der Entwicklung vom motorisierten Individualverkehr zur Nutzung eines Netzes verschiedener Mobilitätsangebote, wobei die jeweils schnellste, bequemste und umweltfreundlichste Verbindung über eine Datenbank ermittelt werden kann. Jedoch ist die Wissensbasis über die zukünftige Ausrichtung der Städte der Zukunft noch unvollständig; es existiert keine allgemeingültige HandlungsRoadmap. Der Auf bau von Entscheidungskompetenz für kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen ist gefordert. Da Fragen der nachhaltigen Stadtentwicklung viele Sektoren und Akteure betreffen, sind multidisziplinäre Ansätze gefragt. Der »Missing Link« steht für den Vernetzungsbedarf relevanter Akteure. Die Herausforderung liegt darin, Zukunftsthemen interdisziplinär anzugehen und themenübergreifende Leitlinien für zukünftige Aktivitäten zu entwickeln. Städten kann so die Chance eröffnet werden, sich als neue Märkte für Produkt-, Innovations- und Planungsstrategien zu verstehen. Ein Systemansatz in Forschung und Entwicklung kann dafür sorgen, prototypische Ansätze in die Breite zu bringen.
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Fraunhofer-Initiative »Morgenstadt« Antworten auf Zukunftsfragen der Stadtentwicklung versuchen Forschende, Städte und Industriepartner im gemeinsamen Projekt »Morgenstadt« zu finden. Das Projekt ist ein wichtiger Baustein der Hightech-Strategie der Bundesregierung für 2020. Es verfolgt die Ziele, einen »Leitmarkt für nachhaltige Stadtsysteme« zu entwickeln, die »Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft zu vertiefen« und optimierte »Rahmenbedingungen für Innovationen« zu schaffen (vgl. Fraunhofer IAO 2013). Dabei ist das Projekt transdisziplinär ausgerichtet und betrachtet die in Abbildung 2 dargestellten Sektoren.
Abbildung 2: Herausforderungen und Forschungsfelder der »Morgenstadt-Initiative« (Fraunhofer-Institut. 2013. »Forschungsfelder für die Stadt von morgen«).
Mit dem Forschungsvorhaben »Morgenstadt – City Insights« wurde ein Innovationsnetzwerk aus zwölf Fraunhofer-Instituten und 23 Industriepartnern initiiert. Es handelt sich um ein Pionierprojekt als Impulsgeber für neue Forschungsansätze zur Stadt der Zukunft und für urbane Technologien. Ziel ist es, durch die Erforschung heutiger Stadtsysteme, Erfolgsfaktoren für Städte der Zukunft abzuleiten. Dabei liegt der Fokus auf den Schnittstellen von städtischen Organisationsformen und Technologien. Das Innovationsnetzwerk wurde Anfang 2012 gegründet und die Ergebnisse der ersten Phase werden Mitte 2013 erwartet.
Szenarioprozess Morgenstadt Im Rahmen des Morgenstadt-Projekts entwickelte die Fraunhofer-Gesellschaft gemeinsam mit Forschenden und Entscheidungstragenden verschiedene Zu-
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kunftsszenarien als mögliche Leitbilder einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Erste Ergebnisse – aufgeteilt in drei Szenarien – sollen zum Dialog über die Städte der Zukunft anregen. Die Szenarien gehen von jeweils anderen Akteuren als Wandlungstreibenden aus: (1) Das Szenario »Starke Stadt« wird vor allem durch eine starke Stadtverwaltung geprägt. (2) Im Szenario »Starke Bürgerinnen und Bürger« rückt der Gemeinschaftsgedanke innerhalb einer gesamten Stadt in den Mittelpunkt. (3) Das Szenario »Starke Stadtteile« geht von einer starken Bürgergemeinschaft innerhalb von Stadtquartieren aus. Damit verknüpft sind variierende Annahmen der Entwicklungen in den Sektoren: Stadtstruktur, Energie, Mobilität, Produktion/Logistik, Urbane Prozesse/ Organisation, Gebäude, Information/Kommunikation und Sicherheit/Schutz. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Entwicklungsszenarien (Tabelle 2).
Sektoren Stadtstruktur
Energie
Starke Stadt • Erhalt räumlich
Starke Bürger • Durchmischung
getrennter Nutzungsschwerpunkte Wohnen, Gewerbe und Arbeiten;
früherer Nutzungseigene Lebenswelt schwerpunkte aufgrund mit vielfältigen digitaler Vernetzung; Angeboten;
• Attraktive Versorgungs-, Kultur- und Freizeitangebote im Zentrum und an der Peripherie
• Wohnnahe Arbeitsplätze organisiert nach Tätigkeitsschwerpunkten;
• Zentrale Organisation des Energiesystems;
• Weitflächige Nutzung innovativer »Off-grid«Strategien;
• Versorgung durch überregionale emissionsneutrale Energiequellen, ergänzt durch stadtbezogene Systeme
• Spezialisierte Gemeinschaften an der Peripherie
• Haushalte als Konsumenten, autarke Selbstversorger und Prosumenten; • Dezentrale Energiespeicher vernetzt im virtuellen Stadtspeicher
Starke Stadtteile • Stadtteil als
• Stadtteil integrierte Arbeitsprozesse durch Fortschritte in der Informationsund Kommunikationstechnologie
• Quartiersbezogene Versorgungskonzepte je nach Potential und Nutzung; • Vernetzung verschiedener Systeme durch ein Multi-EnergySmart-Grid mit Stadtteilspeicher und Verteilungssystem, genossenschaftlich organisiert
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Sektoren Mobilität
Starke Stadt Starke Bürger • Stadtweites Mobilitäts- • Bewusstseinswandel
Starke Stadtteile • Reduziertes
system mit ausgeprägter zur gemeinschaftlichen MobilitätsaufIntermodalität; Nutzung von Mobilitäts- kommen durch ressourcen; Nutzungskon• Reduktion der MIVzentration im • Vernetzung über Pendlerströme durch Quartier; ÖPNV-Innovationen und Mobilitätsplattform; MIV-Bepreisung;
• Integration der Verkehrsbetriebe in ein zentrales Management
• Betrieb von Teilsystemen durch Elektromobilität und Synthese-Gas
• Mikromobilitätslösungen im Quartier; • Multimodale Mobilitätshubs verbinden Quartiere; • Parkfläche schwindet zugunsten von Freifläche
Produktion/ Logistik
• Entkopplung von Versorgungsprozessen und Lärm t höhere Stadtverträglichkeit; • Produktionsstätten sind stadtintegriert und emissionsneutral
• Veränderung von großen Produktionsstätten zu kleinen urbanen Manufakturen durch Automatisierung und Virtualisierung von Teilprozessen; • Emissionsfreie Produktions- und Logistikprozesse durch Einsatz biobasierter Materialien
Urbane • Reduzierte Prozesse/ Globalisierung von Organisation Wertschöpfungsstrukturen;
• Orientierung der Unternehmen an Angebot und Nachfrage in der Stadt;
• Intensivierung der Kommunikation und gemeinschaftlichen Nutzung von Ressourcen
• Intensivierte Bürgerbeteiligung zu Fragen der Stadtverwaltung, Wertschöpfung und Planung;
• Flexible stadtintegrierte Wertschöpfungsmanufakturen; • Produktion erfolgt in geschlossenen »Cradle-to-Cradle«Kreisläufen; • Abstimmung von Energiebedarf und Angebot mit anderen Quartiersnutzungen • Autarke Organisationsformen im jeweiligen Quartier;
• Aktive Quartiergestaltung durch • Stadtkommunikations- lokale Bevölkerung; plattform verbessert • Externe Produden Wissensaustausch zenten werden (transparent, rechzeitig, durch ein Netzwerk iterativ) von QuartiersProsumenten ersetzt
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Sektoren Gebäude
Starke Stadt • Wichtige Rolle der
Starke Bürger • Unterstützung der
Starke Stadtteile • Definition von
Stadtverwaltung als Immobilienbetreiber;
Bürgerinnen und Bürger bei kleineren Modernisierungsvorhaben durch innovative Finanzierungsmodelle;
Nachhaltigkeitskonzepten und Materialeinsatz für Modernisierungen auf Quartiersebene;
• Umfassende energetische Modernisierung durch Baukastensysteme und Modularisierung;
• Potentiale durch intensive durch Systematisierung Bürgerbeteiligung • Nachverdichtung, und Bündelung von erkennen und nutzen; Dachflächennutzung, innovative Wohnformen Kompetenzen; • »Umweltbilanz• Digitalisierung Wettbewerb« der Energie- und zwischen Ressourcenflüsse verschiedenen auf Stadtteils- und Stadtteilen Quartiersebene Information/ • Einrichtung Kommugroßflächiger, nikation zentral gesteuerter Kommunikationsnetzwerke;
• Zugang zum »Urban Operation System« für alle;
Sicherheit/ Schutz
• Effiziente Sanierung
• Entwicklung einer virtuellen Stadtgemeinschaft mit hohem Verantwortungsbewusstsein für den Umgang mit Daten; • Bürger als mobile Datenlieferanten;
• Ausbau digitaler Bürgerbeteiligung
• Daten stehen geschlossenen Benutzerkreisen zur Verfügung
• Planungs- und Kostensicherheit durch wirkungsvolle Simulationswerkzeuge, interdisziplinäre Planung und frühzeitigen Einbezug der Öffentlichkeit;
• Hohes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Sicherheitsstandards und resilienten Stadtprozessen aufgrund ihrer hohen Autonomie und Selbstverwaltung;
• Weitreichendes Netz von Zustandssensoren zur Echtzeit Auskunft verantwortlicher Behörden über kritische Infrastrukturen
• Verschiedene Sicherheitsansätze werden praktiziert
• »Smart-City«Kommunikation; • Informationshoheit und Datenschutz einzelner Stadtteile; • Neue Partizipationsund Interaktionsplattformen
• Sicherheit als wichtiger Faktor für gemeinschaftliche Investitionen im Stadtteil; • Quartiersbezogene Sicherheitsinfrastrukturen; • Hohe Relevanz der Gestaltung öffentlicher Räume und nachbarschaftlicher Zusammenarbeit
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Essen: Das Ziel der »Klimainitiative Essen« ist die Realisierung der Reduktion von CO2-Emissionen um 40 Prozent bis 2020 (in Bezug auf den Verbrauch von 1990). Das Konzept sieht die Entwicklung einer neuen Klimakultur vor, die sich auf allen städtischen Ebenen vollzieht: der Bürgerinnen und Bürger, privater und gewerblicher Investoren, Unternehmensleitungen und weitere Organisationen und Gemeinschaften der Stadt. Durch den Einbezug der Bürgerinnen und Bürger soll ein Bewusstseinswandel zu energieeffizientem Verhalten im Gebäudebetrieb und nachhaltige Mobilität (z.B. ÖPNV-Fahrgast als Klimaheld) geschaffen werden. Es wird an die Verantwortung der Energiekunden appelliert: Das alltägliche Handeln von Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen soll reflektiert und verbessert werden. Nutzungsoptimierung kommunaler Infrastrukturen, kommunales Energieeffizienz-Controlling, Dienstleistungspakete für die energetische Gebäudemodernisierung und der Ausbau regenerativer Energien ergänzen die Bildungsmaßnahmen (vgl. BMBF 2012: »Klimainitiative Essen«). Stuttgart: Ein anderes Projekt zur Steigerung der kommunalen Energieeffizienz erfolgt in Stuttgart: »Stadt mit Energieeffizienz – SEE Stuttgart«. Das Ziel ist die Senkung des Energieverbrauchs um 20 Prozent in Bezug auf das Jahr 1990. Die angestrebten Einsparungen liegen bei etwa drei Milliarden Kilowattstunden – was dem jährlichen Heizbedarf der gesamten Stadt entspräche. Die Reduzierungen sollen alle relevanten Verbraucher betreffen: Haushalte, Industrie, Verkehr, Gewerbe, Handel, Dienstleistung und öffentliche Gebäude. Es ist geplant, auf Stadtgebietsebene den Energieverbrauch zu bilanzieren und ein Strategiemodell zu entwickeln, das die individuellen Aktivitäten der einzelnen Sektoren berücksichtigt und so Optimierungspotentiale identifiziert. Darauf auf bauend wird eine Roadmap für das Jahr 2050 entwickelt. Evaluierungen und Erfolgskontrollen der Maßnahmen sind Bestandteile der Strategie. Zur Darstellung der Energieflüsse in der Stadt wird durch das Fraunhofer-Institut für Bauphysik ein Computer Tool entwickelt (vgl. Stadt Stuttgart 2013). Wolf hagen: Das Projekt »Wolfhagen 100% EE« beinhaltet Teilziele wie Erhöhung der Modernisierungsaktivitäten, Ausbau erneuerbarer Energien, Integration von Wind- und Solarstrom ins Stromnetz, Förderung von Elektromobilität im ländlichen Raum und Bildung und Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Auch alternative dezentrale Versorgungsstrukturen wie Smart Grids mit Abgleich von Energieangebot und -nachfrage und Kraft-Wärme-KopplungsSysteme werden entwickelt. Windkraft als lokale regenerative Energiequelle soll in Form eines Bürgerwindparks die Versorgung mit Elektroenergie vollständig gewährleisten. Durch Wissenstransfer und Qualifizierungsangebote sollen Hindernisse bei der Konzeption und Implementierung der innovativen Maßnahmen überwunden werden. Bürgerinnen und Bürger, Verwaltung und Wirtschaft sollen gemeinsam an einem Strang ziehen. Wolfhagen strebt bis 2015 eine Vorreiterrolle für kommunale Energieeffizienz an. Schwerpunkte
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des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik bei der Projektbegleitung liegen in der Koordination und Modellierung des Energiesystems und Monitoring der Ziele zur Senkung des Energieverbrauchs und der CO2-Emissionen und des Ausbaus erneuerbarer Energien (vgl. BMBF 2012: »Wolfhagen 100% EE«).
6. Z USAMMENFASSUNG Um uns der Herausforderung der Reduzierung des hohen Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung durch Städte zu stellen, sind wir mit heutigen Technologien bereits in der Lage, den Energiebedarf von Gebäuden stark zu minimieren und im gleichen Zuge den Innenraumkomfort zu verbessern. Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz können im Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen stehen – z.B. durch mehr Tageslicht, weniger Hitze, Frischluft und ein natürliches Raumklima. Zur Effizienzsteigerung im Gebäudebestand sind jedoch auch eine optimierte Gebäudenutzung, Nutzerschulungen und Bewusstseinsveränderungen unerlässlich. Ein weiteres wichtiges Grundprinzip für nachhaltiges Bauen ist die Berücksichtigung des Kontextes – des Klimas, der baulichen Umgebung und der jeweiligen Nutzungskultur. Durch Plusenergiekonzepte und Potentiale in der integralen Betrachtung verschiebt sich der Blick gegenwärtiger Forschungen vom Einzelobjekt hin zur Vernetzung von Bauwerken im Quartier und in der Stadt. Gebäude sind nicht nur mehr Energieverbraucher, sondern auch Energieerzeuger. Durch die Entwicklung innovativer Stromnetze (Smart-Grid), die Informationen über Energieproduktion und Verbrauch erfassen und bedarfsgerecht weiterleiten, können alle »Energieakteure« miteinander verbunden werden. Beispiele für Projekte auf dem Weg zur energieeffizienten Stadtplanung sind Essen, Stuttgart und Wolfhagen. Jedoch sind Wandlungstreiber für nachhaltige Stadtentwicklung über den Gebäude- und Energiebereich hinaus in multiplen Sektoren zu finden, z.B. der Stadtstruktur, Mobilität, Produktion, Logistik, Planungsprozessen und Organisation. Da damit Fragen der nachhaltigen Stadtentwicklung viele Akteure betreffen, liegt die Herausforderung darin, Zukunftsthemen interdisziplinär anzugehen und themenübergreifende Leitlinien für zukünftige Aktivitäten zu entwickeln. Antworten auf Zukunftsfragen der Stadtentwicklung versuchen Forschende, Städte und Industriepartner im gemeinsamen Projekt »Morgenstadt« (Baustein der Hightech-Strategie der Bundesregierung für 2020) zu finden. Mit dem Projekt »Morgenstadt – City Insights« wurde ein Innovationsnetzwerk aus zwölf Fraunhofer-Instituten und 23 Industriepartnern & Städten initiiert. Ziel ist durch die Erforschung heutiger Stadtsysteme, Erfolgsfaktoren für Städte der Zukunft abzuleiten. Dabei liegt der Fokus auf den Schnittstellen von städtischen Organisationsformen und Technologien, um weiter Effizienz-
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potentiale erschließen zu können und dem Ziel einer CO2-neutralen, energieeffizienten und klimaangepassten Stadt ein kleines Stückchen näher zu kommen.
B IBLIOGR APHIE Behnisch, Behnisch & Partner. 2005. »Genzyme Center in Cambridge, USA«. In: Detail, 6 (6): 645-649. BMBF. 2012. »Klimainitiative Essen«. http://klimainitiative-essen.blogspot.de/ (28.03.2013). BMBF. 2012. »Wolfhagen 100% EE«. https://www.wettbewerb-energieeffizientestadt.de/wettbewerb/ausgewaehlte-projekte/wolfhagen/ (28.03.2013). BMWi/BMU (Hg.), 2012. Erster Monitoring-Bericht Energie der Zukunft. Berlin. BMVBS (Hg.), 2011. »Bewertungssystem nachhaltiges Bauen für Bundesgebäude (BNB)«. www.nachhaltigesbauen.de/bewertungssystem-nachhaltigesbauen-fuer-bundesgebaeude-bnb/bnb-buerogebaeude/steckbriefe-bnb2011-1.html (27.03.2013). Bundesregierung (Hg.), 2012. »Die CO2-neutrale, energieeffiziente und klimaangepasste Stadt«. www.hightech-strategie.de/de/50.php (25.03.2012). Erhorn, H./Hauser, G./Nast, P. M./Schmidt, D. 2008. »Energetische Potenziale im Gebäudebestand«. In: ForschungsVerbund Erneuerbare Energien Themen 2008, 54-58. Felsmann, C./Schmidt, J. 2013. Auswirkungen der verbrauchsabhängigen Abrechnung in Abhängigkeit von der energetischen Gebäudequalität. Dresden. Online unter: www.wohnungswirtschaft-heute.de/dokumente/prof-felsmannnutzerverhalten-2013-AbschlussberichtVA.pdf (13.06.2013). Fraunhofer IAO. 2013. »Die Morgenstadtinitiative«. www.morgenstadt.de/de/ morgenstadt-initiative.html (25.03.2013). Fraunhofer Institut. 2013. »Morgenstadt: Szenarioprozess«. www.morgenstadt. de/de/Projektpartner0.html#!tabpanel-1 (27.03.2013). Fraunhofer Institut. 2013. »Forschungsfelder für die Stadt von morgen«. www. morgenstadt.de/de/Forschungsfelder.html (27.03.2013). Fraunhofer Kompetenzzentrum IT4ENERGY. 2013. »Smart Metering«. www. fokus.fraunhofer.de/de/it4energy/index.html (27.03.2013). Hertzsch, E./Heywood, C./Piechowski, M. 2012. »A methodology for evaluating energy efficient office refurbishments as life cycle investments«. In: International Journal for Energy Sector, 6 (2): 189-212. Jones Lang LaSalle (Hg.), 2008. »Ökologische Nachhaltigkeit von Büroimmobilien«. Autor: Matthias Barthauer.
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Meyer, U. 2012. »Die Zukunft der Menschheit ist urban. Grüne Städte oder Metropolen der Kompakt-Klasse«. In: Green Building, 12: 12-14. Stadt Stuttgart. 2013. »Stadt mit Energieeffizienz Stuttgart (SEE)«. www.stutt gart.de/see (28.03.2013). UBA (Hg.), 2010. Nachhaltiges Bauen und Wohnen. Ein Bedürfnisfeld für die Zukunft gestalten. Dessau. UBA (Hg.), 2012. »Glossar zum Ressourcenschutz«. Dessau. Autoren: Kosmol, J.; Kanthak, J.; Herrmann, F.; Golde, M.; Alsleben, C.; Penn-Bressel, G.; Schmitz, S.; Gromke, U. University of Cambridge. 2012. »The prebound effect«. www.cam.ac.uk/research/news/the-prebound-effect/ (28.03.2013). Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. 2013. »Ressourcenverbrauch der Industrieländer«. http://wupperinst.org/home/ (08.04.2013). Voss, K./Löhnert, G./Herkel, S./Wagner, A./Wambsganß, M. 2005. Bürogebäude mit Zukunft. Konzepte – Analysen – Erfahrungen. Freiburg: TÜV Media GmbH.
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Ausblick
»Städte bestehen nicht aus Häusern und Straßen, sondern aus Menschen und ihren Hoffnungen« Walter Siebel
Der Titel meines Vortrags ist ein Zitat, das Augustinus zugeschrieben wird. Es schien mir zum Thema dieses Kongresses – Sehnsuchtsstädte – zu passen. Augustinus definiert Stadt hier anders als gewöhnlich Architekten und Planer, nicht als baulich-physische Struktur, sondern durch das, was Menschen mit der Stadt verbinden: alltägliche Verhaltensweisen, Erinnerungen und eben auch Hoffnungen. Ich werde im ersten Teil die Stadt als einen Ort beschreiben, an den sich vielfältige Hoffnungen geknüpft haben. Danach gehe ich auf Stadtutopien und die ihnen zugeordneten Idealstadtentwürfe genauer ein, um die Ambivalenz solcher Sehnsuchtsorte deutlich zu machen. Zum Schluss werde ich diskutieren, inwieweit eine Verwandtschaft bestehen könnte zwischen dem Denken von Städtebauern des 20. Jahrhunderts und dem der Utopisten. Stadt ist zunächst einmal in einem sehr handfesten Sinn Ort der Hoffnung. Städte entstehen und erhalten sich durch Zuwanderung. Niemand aber nimmt die Mühen der Wanderung in eine Stadt auf sich ohne die Hoffnung, dadurch etwas zu gewinnen. Ohne diese Hoffnung, als Städter ein besseres Leben führen zu können, gäbe es keine Zuwanderung, und ohne Zuwanderung keine Städte. Städte stehen von Beginn an für die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Mit der ersten Stadtgründung bereits war die älteste Emanzipationshoffnung der Menschheit verbunden: die Hoffnung auf Befreiung vom Zwang der Arbeit. Die Bibel nennt Arbeit einen Fluch: »Im Schweiße Deines Angesichts […]« (1. Mose 3.19). Stadt steht für die Hoffnung auf das, was Marx das Reich der Freiheit jenseits des Reichs der Notwendigkeit genannt hat. Städtisches Leben beginnt als ein Schritt in dieses Reich der Freiheit. Stadt wird erst in dem Moment möglich, wo die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung mehr Lebensmittel produziert, als sie selber zum Überleben benötigt. Städtisches Leben beginnt
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als ein Schritt der Emanzipation aus dem Zwang, sich täglich mit einer unbeherrschten Natur auseinandersetzen zu müssen, um zu überleben. Die Stadt beginnt als Befreiung vom Zwang zu notwendiger Arbeit. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb Aristoteles die Bürgerrechte nur jenen zuerkennen wollte, die Muße hatten, also von notwendiger Arbeit befreit waren. In der antiken Polis musste man dazu über Frauen und Sklaven verfügen. Heute benötigt man nur Informationen und Geld, um die städtischen Dienstleistungen nutzen zu können, die einem mit allem und jeden versorgen. Moderne Dienstleistungsstädte sind riesige Maschinen zur Entlastung von Arbeit und Verantwortung. Im Mittelalter wird die europäische Stadt zum Ort der politischen und ökonomischen Emanzipation des Bürgers aus feudaler Herrschaft durch demokratische Selbstverwaltung sowie aus den unproduktiven Kreisläufen der Hauswirtschaft durch Märkte. Heute schließlich machen die Unüberschaubarkeit und Anonymität der Großstadt die dichten sozialen Kontrollen unmöglich, die in dörflichen Nachbarschaften individuelle Differenzierung behindern: Die Großstadt wird zum Ort der Individualisierung. Ohne Stadtluft, die frei macht, gäbe es keine Zuwanderung und ohne Zuwanderung keine Städte. Städte existieren, weil sie Orte der Hoffnung auf Befreiung sind: aus Armut, aus Arbeitszwängen, aus politischer Repression, aus sozialen Kontrollen. Die Stadt in Europa ist von Anfang an verbunden mit zentralen Emanzipationshoffnungen des Menschen. Das ist einer der Gründe, weshalb Gesellschafts-Utopien so oft als Stadtutopien formuliert worden sind. Utopien sind kritische Gegenentwürfe zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Aber wenn die Sehnsucht nach einer besseren Welt im Entwurf einer idealen Stadt bildhafte Gestalt gewinnt, wenn sie konkretisiert und anschaulich wird, zeigt sich auch die tiefe Zwiespältigkeit, die allen Sehnsuchtsorten anhaftet. Ich will versuchen, diese Ambivalenzen deutlich zu machen. Die Utopien sind in die Zukunft verlegte Sehnsuchtsorte. Heimat ist ein in die Vergangenheit projizierter Ort der Sehnsucht. Aber beide – Heimat und Utopie – sind wie alle Sehnsüchte zutiefst ambivalent. Ihre Ambivalenz tritt immer dann zutage, wenn man versucht, solche Orte der Sehnsucht in die Wirklichkeit zu überführen. Heimat ist der Inbegriff des fraglos Geborgenseins in einem Zuhause. Ihr Modell ist die voraussetzungslose Liebe zwischen Mutter und Kind. Die Sehnsucht nach Heimat ist Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Deshalb sind es Erwachsene, die sich nach Heimat sehnen. Kinder wollen so schnell wie möglich die Kindheit verlassen, sie wollen erwachsen sein. Und wenn sie als Erwachsene versuchen, in die Mutter-Kind-Symbiose zurückzukehren, also ihre Sehnsucht nach Heimat zu leben, es wäre Regression. Ähnlich verhält es sich, wenn man versucht, Utopien aus ihrem zeitlichen und räumlichen Nirgendwo in das Hier und Jetzt der Wirklichkeit zu ver-
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setzen. Dass hier auf Erden schon eine bessere Welt möglich sei, wird nach der Antike erst wieder im Humanismus gedacht. Das christliche Mittelalter kannte keine Utopien. Das himmlische Jerusalem ist keine Utopie, sondern ein eschatologisches Konzept: Das himmlische Jerusalem liegt im Jenseits und am Ende aller Zeiten. Erst im 15. Jahrhundert werden Utopien, d.h. weltliche Paradiesvorstellungen denkbar. Utopien sind Kritiken an der gesellschaftlichen Wirklichkeit: •
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gegen die religiöse Legitimation von Herrschaft wird die Behauptung gesetzt, gesellschaftliche Ordnungen könnten wissenschaftlich begründet werden; gegen die Vererbung gesellschaftlicher Privilegien und die Behauptung, die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen müsse durch Leistung gerechtfertigt sein; gegen die Jenseitsorientierung christlicher Paradiesvorstellung und die Behauptung von der Machbarkeit einer besseren Welt: Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten. (Heine 1844)
Schon die frühesten utopischen Entwürfe enthalten weitreichende Emanzipationshoffnungen: wissenschaftliche Bildung für Jedermann, Aufhebung der Arbeitsteilung, Überwindung des Gegensatzes von Stadt und Land, Reduktion des Reichs der Notwendigkeit durch Verkürzung der Arbeitszeit. Und doch entwerfen die Utopien Zukünfte, vor denen man erschrecken kann. Utopien haben ihr Recht als kritische Gegenentwürfe zur Realität. Sie machen exemplarisch deutlich, dass eine andere Gesellschaft denkbar ist. Utopisches Denken praktiziert das, was Robert Musil Möglichkeitssinn genannt hat. Aber wenn sie aus dem Reich des Denkbaren in die Wirklichkeit übersetzt werden, enthüllen sie sich als totalitäre Ordnungsphantasien. Der Entwurf einer idealen Stadt ist ein solcher Schritt aus dem Nirgendwo der Utopie in die Wirklichkeit. Im Entwurf einer idealen Stadt wird eine bessere Welt bildhaft anschaulich, und ihre Anschaulichkeit lässt die Machbarkeit einer besseren Welt glaubhaft erscheinen. Aber im Entwurf der idealen Stadt gewinnt die abstrakte Utopie auch symbolische Gestalt. Und gerade als symbolischer Ausdruck sagt die Idealstadt etwas über den Geist der Utopie aus. Die Stadtentwürfe der Utopisten beruhen fast immer auf einfachsten geometrischen Grundfiguren und mathematischen Formeln: das Quadrat bei Amaurotum (Thomas Morus) und Christianopolis (Johann Valentin Andreae), der Kreis bei Sonnenstaat (Tommaso Campanella) und Atlantis (Plato). Da-
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neben spielen Berechnungen und einfache Zahlen eine große Rolle: Bei Plato und Andreae ist es die zwölf, bei Campanella die drei und die sieben. Das Utopia von Thomas Morus besteht aus 54 identischen Städten, von denen jede nicht mehr als 6000 Einwohner zählt, jede Familie darf nicht weniger als zehn und nicht mehr als 16 Personen umfassen und Charles Fouriers Phalenstère sollte exakt 1620 Einwohner haben, nicht mehr und nicht weniger, was Fourier aus der Zahl der 14 menschlichen Leidenschaften auf ziemlich komplizierte Weise errechnet. Idealstädte sind Sehnsuchtsorte der Rationalität. Inbegriff dieser Rationalität ist die Mathematik. Die Regeln der Mathematik sind zeitlos, und die geometrischen Figuren von Kreis und Quadrat sind vollkommen. D.h.: Man kann sie nicht ändern, ohne sie zu zerstören. Mathematik und Geometrie stehen für die Vollkommenheit der Utopie. Das Vollkommene aber erlaubt keinerlei Abweichung. In Christianopolis ist »das Aussehen der Dinge […] überall gleich« (Andreae, zit.n. Holl 1990: 26). Wer in Morus’ Utopia eine der 54 Städte gesehen hat, der kennt alle, denn sie sind völlig identisch. Die Bewohner von Campanellas Sonnenstaat tragen Uniform und körperliche sowie geistige Unterschiede sollen durch Zuchtwahl ausgemerzt werden. Das kann man als logische Konsequenz dieses utopischen Denkens verstehen, denn angesichts des Vollkommenen sind Differenz und Individualität nur als pathologische Abweichungen denkbar. Utopien sind in die Zukunft projizierte Paradiesvorstellungen, aber aus dem Paradies entkommt man nur durch den Sündenfall und beladen mit dem Fluch Gottes. Utopien sind geschichtslos. Die Utopie liegt nicht nur im räumlichen Nirgendwo, sondern ebenso in einem zeitlichen Nirgends. Idealstädte sind Neugründungen im Niemandsland, in einer Tabula-rasa-Situation. Sie brechen so radikal mit der Vergangenheit, dass nichts davon übrig bleibt. Utopien haben auch keine Zukunft, denn im erreichten Ideal verbietet sich jeder Wandel. Das Vollkommene kann und darf sich nicht ändern. In der Utopie ist Geschichte still gestellt. Umberto Eco hat schon auf den Widerspruch hingewiesen zwischen utopischem Denken und Heraklits These vom ewigen Wandel der Dinge: Alles fließt und nichts bleibt. Angesichts der Unausweichlichkeit sozialen Wandels muss jede ideale Ordnung in totalitäre Repression umschlagen. Utopien ähneln dem, was Goffman totale Institutionen genannt hat: dem Gefängnis, der geschlossenen psychiatrischen Anstalt oder dem Kloster. Das Kloster als soziale Organisation mit seinen auf Statik bedachten Reglementierungen und seinem Antiindividualismus war ein Modell, an dem die Utopisten sich orientiert haben. Die Entwürfe der utopischen Stadt berufen sich auf Mathematik und Geometrie. Sie tun das in der Hoffnung, das geometrisch Einfache und mathematisch Regelhafte sei auch das ästhetisch Schöne, und das ästhetisch Schöne sei
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auch das gesellschaftlich Gute. Die ideale Stadt ist – so das Motto einer Ausstellung über Planstädte – »klar und lichtvoll wie eine Regel« (Badisches Landesmuseum 1990). Die Idealstädte der Utopisten sind Sehnsuchtsorte einer besseren Welt. Aber der Rekurs auf Mathematik und Geometrie enthüllt diese Entwürfe auch als totalitäre Ordnungsphantasien. In diesen Phantasien endgültiger, geometrisch vollkommener Ordnung sind krumme Gassen, generell das Unordentliche ebenso ausgemerzt wie individuelle Differenz, die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft. In Musils Mann ohne Eigenschaften sagt der General Stumm von Bordwehr: Aber jetzt stell Dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie! […] Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. (Musil 1952: 476)
Sie werden vielleicht sagen, Plato, Campanella, die Frühsozialisten, all das sei doch recht weit weg. Sie hätten Recht damit. Aber es besteht eine Affinität des städtebaulichen Denkens im 20. Jahrhundert zu dem der Utopisten, und zwar in eben dieser Verknüpfung von Weltbeglückungshoffnungen mit autoritären Ordnungsphantasien. Die Notwendigkeit, die Stadt zu ordnen, ist der Anfang aller Stadtplanung. Sie beruht zuallererst auf dem universellen Wunsch nach Schönheit der Stadt. Im 19. Jahrhundert sind es dann die katastrophalen hygienischen und sozialen Zustände, heute die Verkehrsprobleme und die Anforderungen des Klimaschutzes, die eine ordnende Planung der Stadt unabweisbar notwendig machen. Aber läuft nicht jeder Ordnungsversuch Gefahr, individuelle Differenz als störende Abweichung auszuschließen, umso mehr, wenn es etwa eine rein ästhetische Ordnung ist, d.h. eine Ordnung, die sich jenseits sozialer Zusammenhänge begründet? Liest man Lampugnanis Ideengeschichte des Städtebaus im 20. Jahrhundert, so schwirrt einem der Kopf von all den Manifesten, in denen ein neues Zeitalter, eine neue Gesellschaft, mindestens aber eine neue Stadt proklamiert wird. Und gerade dann, wenn sie etwa wie Le Corbusier Sachlichkeit, Logik und Rationalität verkünden, kommt das verstiegenste Geschwafel heraus (vgl. Lampugnani 2010: 395f.). Städtebau erscheint in diesen Proklamationen als die Kunst endgültiger Weltverbesserung. Hendrik Andersen z.B. wollte eine Stadt schaffen: die alle wissenschaftlichen, künstlerischen und sportlichen Erfolge der Welt verkörpern und vereinigen und ihre Werke im Hinblick auf die Bedürfnisse und den Fortschritt der Menschheit erproben sollte, mit dem Ziel, sie schließlich, nachdem ihre Vortrefflichkeit
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internationale Anerkennung gefunden hat, weltweit verbreiten zu lassen. (Andersen, zit.n. Lampugnani 2010: 73)
Und solche Weltbeglückung rekurriert dann wie bei den Utopisten auf einfache geometrische Grundformen. Und wie bei den Utopisten gibt es keinen Wandel, jedenfalls keinen strukturellen, allenfalls einen quantitativen Wandel durch die Addition des Immergleichen: Leonidow z.B. will die Trennungen überwinden zwischen »Stadt und Land, zwischen Kultur und Natur, zwischen Architektur und Landschaft, zwischen Arbeit und Muße, zwischen Wohnung und Freiraum. Und zwischen Privatem und Kollektivem.« (Lampugnani 2010: 246) Er entwirft dazu eine Stadt als potentiell unendliche Addition von Quadraten: Erlösung der Welt durch Geometrie. Zwischen der Ordnungsbesessenheit der städtebaulichen Entwürfe und den rigiden Ordnungsvorstellungen totalitärer Ideologien des 20. Jahrhunderts besteht mehr als nur eine metaphorische Ähnlichkeit. Werner Durth und Niels Gutschow haben in ihren Untersuchungen zu Architektur und Städtebau im Dritten Reich auf bedrückende Weise deutlich gemacht, wie sehr Architekten und Städtebauer den Verführungen der Macht unterlagen (vgl. Durth/ Gutschow 1988). Eine Erklärung dafür ist naheliegend: Viele Entwürfe, die Lampugnani referiert, bedürfen zu ihrer Realisierung ein autoritäres Regime, wie es Baron Haussmann bei seiner Umgestaltung von Paris in Gestalt von Napoleon III. voraussetzen konnte. Noch beängstigender wäre allerdings, gäbe es einen geschlossenen Konsens jenseits von Ambivalenz und Widerspruch in der Bevölkerung, der derartige Entwürfe ohne Abstriche und Abänderungen zu realisieren erlauben würde. Aber es gibt noch eine tiefer liegende Erklärung als die Sehnsucht des Architekten nach dem starken Bauherrn, der seinen Entwürfen zur Wirklichkeit verhelfen könnte. Städtebau ist angetreten, die Stadt zu ordnen. Solche Ordnung ist unbezweifelbar notwendig. Aber wenn die unplanbare Komplexität der Stadt im Interesse etwa ihrer ästhetischen Ordnung reduziert wird auf einfache Formeln und Geometrien, dann gerät Stadtplanung in die Nähe zu autoritären Gesellschaftsentwürfen, die ihrerseits der Gesellschaft Ordnung aufzwingen wollen, ob es nun eine ständische Ordnung ist wie in Francos Spanien, eine rassistische wie im Dritten Reich oder eine repressive Gleichheit, wie im Stalinismus. Durth und Gutschow haben die Verführbarkeit von Architekten und Städtebauern begründet mit der »Sehnsucht nach […] einer höheren Ordnung, in der jedes Ding und jeder Mensch an seinem zuvor bestimmten Platz steht, den der Planer schließlich nach seinen Regeln zuzuweisen hat« (Durth/Gutschow 1988: 8). Mathematik und Geometrie stehen für universal- gültige Prinzipien, die den Städtebauer erlösen könnten von allen Ärgernissen: Eigentumsverhältnissen, ökonomischen Interessen, spießigem Geschmack, all den Ambivalen-
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zen und Widersprüchen des städtischen Lebens. Mit der Weltformel, ob nun Quadrat oder goldener Schnitt, flieht der Städtebauer aus der unbegriffenen Komplexität der Stadt in eine harmonische Welt, befreit von dem Zwang, Rücksicht zu nehmen auf all die Realitäten, mit denen er sich sonst alltäglich herumschlagen muss. Seit dem Scheitern des realsozialistischen Experiments sind GesellschaftsUtopien in Verruf geraten. Wenn heute noch gesellschaftliche Zukünfte ausgemalt werden, so sind es Distopien, Schreckensszenarien, wie etwa in dem Film »Blade Runner«. Das mag an der resignierten Einsicht in die Fragwürdigkeit aller Fortschrittshoffnungen liegen. Vielleicht hat die Angst vor möglichen Zukünften auch mit einer Gegenwart zu tun, die zumindest in den entwickelten westlichen Demokratien für eine Mehrheit Lebensmöglichkeiten eröffnet hat, aus denen man sich nicht mehr so gerne in eine utopische Zukunft fortwünschen möchte. Wer heutzutage aus China nach Europa zurückkehrt, dem erscheint hier die idyllische Siedlungslandschaft Wirklichkeit geworden zu sein, die William Morris in seinen News from Nowhere beschrieben hat. Angesichts der Lebensumstände, die hier für eine Mehrheit erreicht sind, weckt die Zukunft eher Verlustängste als Hoffnungen. Darin könnte ein Grund liegen dafür, dass im 20. Jahrhundert nur noch Architektur- und Städtebau-Visionen, weitgehend bereinigt von gesellschaftspolitischen Ideen, außer vielleicht der Hoffnung, die schöne Stadt werde die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen, entworfen worden sind. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gibt es auch keine städtebaulichen Utopien mehr. Lampugnani (2010: 733) schreibt, dass sich große Städte nicht planen, sondern allenfalls steuern lassen und dass der Architekt nicht als Demiurg auftreten, sondern nur in neuralgischen Punkten eingreifen kann, um einem Prozess, den er nicht zu kontrollieren vermag, Logik, Form und Schönheit zu verleihen.
Und er fährt fort (ebd.: 734): Nur im privilegierten Areal vor den Toren der Stadt, nur im Schutz eines klar begrenzten und ausgesonderten Bereichs kann der Architekt noch etwas vollbringen, was in sich kohärent ist und bleiben wird […]. Er ist fernab des Getümmels, aber damit auch des eigentlichen Geschehens der Stadt.
Die moderne Stadtgesellschaft fügt sich nicht mehr in einen städtebaulichen Entwurf. Das ist der wesentliche Grund, weshalb heute Städtebau und Stadtplanung getrennte Wege gehen. Stadtplanung kann sich nicht mehr am architektonischen Entwurf orientieren. Der idealtypische Architekturentwurf unterstellt den potenten Bauherrn, den kompetenten Architekten und ein lee-
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res Zeichenblatt. Das ist das Gott-Vater-Modell der Planung: wonach einer, der alles weiß, über alle Mittel verfügt und weder Widerspruch noch Ambivalenz kennt, auf einer Tabula rasa eine neue Welt erschafft. Dieser Idealtypus von rationaler Planung ist auf Stadt nicht übertragbar, weil 1. es kein omnipotentes Subjekt gibt. Die Mittel sind immer unzureichend und obendrein in der Hand sehr verschiedener Akteure; 2. die Akteure unterschiedliche und sogar widersprüchliche Interessen verfolgen; 3. die Stadt viel zu komplex ist, als dass irgendein Subjekt über adäquates Wissen verfügen könnte; 4. die Stadt ein Prozess ist, dessen Dynamik auch im idealsten Entwurf nicht still gestellt werden könnte; 5. die Stadt niemals Tabula rasa ist. Sie ist immer schon da, entstanden aus geographischen Gegebenheiten, über Jahrhunderte aufgehäuften Investitionen, technischen und militärischen Erfordernissen, ökonomischen Interessen, politischen Machtverhältnissen, aus Geschichten, sozialen Beziehungen und eben auch Hoffnungen. Stadtplanung verfährt heute notwendig inkrementalistisch, in kleinen Schritten, abhelfend und aushelfend, verhandelnd, mehr überredend als befehlend, auf jeden Fall demokratischer als es die großen Gesten der Städtebau-Visionäre erlaubt hätten. Die Ideal-Städte des 20. Jahrhunderts sind wie die der Utopisten antiurbane Entwürfe, sie leugnen das Wesen der Europäischen Stadt. Stadt in Europa ist das Zentrum der gesellschaftlichen Dynamik. Diese Dynamik beruht auf Spannungsverhältnissen zwischen der Präsenz von Geschichte und den Anforderungen der Gegenwart, zwischen der Stadt als Heimat und der Stadt als anonymer Dienstleistungsmaschine, zwischen vertrautem Ort und der Begegnung mit dem Fremden, zwischen Sicherheit und ständiger Verunsicherung im öffentlichen Raum der Stadt, zwischen Ordnung und Chaos. Deshalb hat der Städtebau zwei Ahnherrn, Hipodamos und Dädalos, und sie stehen für zwei paradigmatische Stadtgrundrisse: Hippodamos hat das rationalistische Straßenraster von Milet erfunden, und Dädalos das undurchdringliche Labyrinth von Knossos erbaut. Beide zusammen aber machen erst eine urbane Stadt. Die Stadt als Ort, an dem utopische Sehnsüchte ohne Repression Wirklichkeit geworden sind, müsste sehr widersprüchliche Metaphern von Stadt vereinen: Milet und Knossos, das heilige Jerusalem und das sündige Babel, eine Aufgabe, an der wohl auch der klügste Städtebauer scheitern könnte.
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Ich habe mit einem Zitat von Augustinus begonnen, weil er die Stadt als Ort der Hoffnung definiert. Ich will mit der Jahreslosung der evangelischen Kirche 2013 enden, um daran die notwendigen Schranken der Stadtplanung zu verdeutlichen: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« Man kann diesen Satz aus zwei Perspektiven interpretieren: Einmal aus der traditionellen christlichen Auffassung von der Erde Jammertal, das durchlitten werden müsse, um die eigentliche Heimat des Menschen im Himmel zu gewinnen. Angesichts dieser Abwertung des irdischen Daseins halte ich es lieber mit Heinrich Heine. Aber dass wir hier keine bleibende Stadt haben, und dass wir die zukünftige suchen müssen, kann auch als Mahnung verstanden werden, die eigene begrenzte Gegenwart nicht über die Vergangenheit und nicht über die Zukunft zu stellen. Ich will an einem Beispiel erläutern, was ich damit meine: Ein Schweizer Architekt, der in Basel ein 600 Jahre altes Haus erworben hatte, sagte mir, er sei doch wie jeder Mieter nur ein vorübergehender Nutzer. Wenn er vielleicht 30 Jahre darin leben werde, so sei das nur ein Zwanzigstel der Zeit, die dieses Haus schon existiert habe. Wie könne er sich da das Recht anmaßen, ein solches Haus, das auch nach ihm noch viele Generationen beherbergen werde, seinen flüchtigen Bedürfnissen zu unterwerfen? Derselbe Respekt wäre Planern gegenüber der Stadt abzuverlangen. Die Europäische Stadt ist ein über 1000-jähriges Artefakt. In ihr sind die Geschichten vergangener Generationen ebenso präsent wie die Zukunft der kommenden. Solcher Respekt verlangt höchst widersprüchliche Leistungen: Die vorhandene Stadt so umzubauen, dass sie die Interessen, Bedürfnisse und Hoffnungen der gegenwärtigen Bewohner erfüllt, ohne Geschichte zu vernichten und ohne die Interessen, Bedürfnisse und Hoffnungen, die künftige Bewohner an die Stadt herantragen werden, in jedem Sinne des Wortes zu verbauen.
B IBLIOGR APHIE Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.). 1990. Klar und lichtvoll wie eine Regel. Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Karlsruhe: Braun. Durth, Werner/Gutschow, Niels. 1988. Träume in Trümmern. 2 Bde. Wiesbaden: VS. Heine, Heinrich. 1844. Deutschland. Ein Wintermärchen. Holl, Johann. 1990. »Die historischen Bedingungen der philosophischen Planstadtentwürfe in der frühen Neuzeit«. In: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.), Klar und lichtvoll wie eine Regel. Planstädte der Neuzeit. Karlsruhe: Braun, 9-30.
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Lampugnani, Vittorio Magnago. 2010. Die Stadt im 20. Jahrhundert. 2 Bde. Berlin: Wagenbach. Musil, Robert. 1952. Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt.
Diskussion
JÜRGEN ARING (MODERATOR): Herr Siebel, ich möchte Ihnen ganz herzlich für diesen Vortrag danken, und damit spreche ich allen hier im Saal aus dem Munde. Wir haben viel über Utopie und die utopische Stadt gehört. […] Nun besteht noch die Gelegenheit, ein wenig nachzufragen und zu diskutieren. PUBLIKUM: Der letzte Satz, Herr Siebel, das ist eigentlich der klassische Satz aus dem Brundtlandt-Bericht zur Definition der nachhaltigen Entwicklung, wo es darum geht, die Ressourcen der nächsten Generation aufrechterhalten zu wollen. […] Das war für mich so eine Analogie. War die beabsichtigt oder unbeabsichtigt? Der letzte Satz, der hat mich total begeistert. WALTER SIEBEL: Also natürlich ist das ein Kerngedanke der Ökologie. Wobei mir wichtig ist, dass auch die Vergangenheit nicht in dem Maße beschädigt wird, dass man sich nicht mehr erinnern kann. Und das hat erst mal nichts mit Ökologie zu tun. Mir kommt es darauf an, dieses Spannungsverhältnis deutlich zu machen, in dem Planer heute agieren. Wenn man so redet, wie ich das jetzt versucht habe, dann kann das als ein Appell zu Alltäglichkeiten missverstanden werden und als Aufforderung, sich jeden kritischen Gedanken, der über das jeweils Machbare hinausgeht, zu verbieten. Darin liegt auch der Verlust, wenn Utopien heute nicht mehr formulierbar sind. Utopien waren früher eine Form, sich systematisch zu distanzieren von den vorfindlichen Wirklichkeiten und eben über Möglichkeiten nachzudenken, die grundsätzlich anders sind. Das drohen wir momentan zu verlieren. Aber im ökologischen Denken sind durch und durch utopische Gehalte, z.B. die Versöhnung des Menschen mit der Natur. Eben diese utopische Dimension der Nachhaltigkeitsdiskussion erlaubt, eine kritische Distanz zu wahren und sich nicht gleich zu dem zu verpflichten, was unmittelbar machbar ist. JÜRGEN ARING (MODERATOR): Herr Siebel, Sie haben sich in Ihrem Vortrag auch überhaupt nicht dagegen ausgesprochen, das Bessere zu wollen. […] Sie haben immer nur gesagt, wenn man das in zu vielen Spiralen weiterdreht und
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schließlich in einem absoluten Optimum endet, dann kommt man eben zu den Utopien mit dem Risiko dieser Totalitarität, die mit diesen verbunden ist. Vielleicht ist das das Spannende, das in der heutigen Veranstaltung steckt. Die Tagung steht nicht unter dem Begriff Utopien oder utopische Städte, sondern Sehnsuchtsstädte. Und wenn Sie mit Utopie dieses objektiv Richtige verbinden, das Richtung Totalitäres gehen kann, dann steht aus der Diskussion des heutigen Tages dagegen, dass sich mit Sehnsucht eher das subjektiv Motivierende verbindet. Vielleicht wäre dann die Sehnsuchtsstadt die Denkform, mit der Planer nach vorne schauen, ohne in die Falle der Totalitarität zu tappen. WALTER SIEBEL: Deshalb fand ich sehr schön was Sie, Herr Straub, gesagt haben. Sie haben ja auch von Sehnsucht nach Rationalität gesprochen und dann von der romantischen Sehnsucht, die genau die Gegenseite betont. Und das finde ich, ist wichtig, wenn wir von Sehnsuchtsorten reden. Auf die Stadt übertragen sind es Milet als Muster der rationalen Stadt, die gotische Stadt und der Golem in Prag als Muster des Irrationalen in der Stadt. Auch das sind Sehnsuchtsstädte, aber einer beängstigenden Sehnsucht. Auch das haben Sie auch schon gesagt. Das heilige Jerusalem wäre wahrscheinlich stinklangweilig, also eine Stadt ohne Theater, ohne Rotlichtviertel und ohne Schwimmbäder. Das Wichtigste ist, wenn man von Sehnsucht spricht, sich genau diese Ambivalenz deutlich zu machen, die mit der Romantik erst gegen diese rationalistischen Vorstellungen wieder ins Denken zurückkehrt. ALEXANDER PELLNITZ: Die Stadtutopien des 20. Jahrhunderts haben wir, glaube ich, mittlerweile hinter uns gelassen, vor allem die ganz monotonen Planungen mit ihrer Serialität. Sie haben von der ästhetischen Ordnung in der Stadt und hier vor allem von geometrischen oder mathematischen Formen gesprochen. Aber die ästhetische Ordnung der Städte, so wie wir sie seit Jahrhunderten kennen, ist ja oft gar keine rein geometrische. Trotzdem gibt es eine Ästhetik dieser Städte. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat da nicht anknüpfen können und die Ästhetik dieser Städte einfach nicht aufgenommen und weitergeführt. Also nicht im Sinne einer Generalplanung, aber im Sinne eines Weiterbauens der Städte, so wie sie über Jahrhunderte entstanden sind. Auch dies ist meiner Meinung nach eine Sehnsucht, die man heute hat, eine Sehnsucht nach Schönheit, nach einer Ästhetik, auf die man im Städtebau eingehen müsste. WALTER SIEBEL: Ich hoffe, ich hatte nicht vergessen zu sagen, dass die Ordnung der Stadt zuallererst mit eben diesem, dem Wunsch nach einer ästhetisch-schönen Stadt beginnt. Die hygienischen, sozialen und ökologischen Gründe sind alle erst im 19. und 20. Jahrhundert wirksam geworden. Auch die ästhetische Ordnung ist ein unabweisbar sinnvoller Anspruch. Was ich nur
Diskussion mit Walter Siebel
glaube ist, dass – anders als die Planstädte des Barock – heute die Stadtplanung vor Aufgaben steht, die innerhalb des rein ästhetischen Entwurfs für eine Gesamtstadt nicht mehr zu begreifen sind. Und deshalb halte ich das für sehr konsequent, wenn Lampugnani dafür plädiert Städtebau und Stadtplanung wieder miteinander zu vereinbaren und wieder auf den Architekturentwurf zurückzuführen – aber er widerspricht sich selber, wenn er am Schluss schreibt, dass man etwas in sich Geschlossenes nur noch außerhalb des Getümmels und außerhalb des Geschehens vor den Toren der Stadt schaffen könnte. Dahinter steht diese Vorstellung, das ästhetisch Schöne sei das in sich geschlossene Stadtbild. Das aber ist nicht die einzige Lesart von Ästhetik. Die Schönheit einer Stadt kann ich mir z.B. nicht denken ohne ein Wissen um ihre Geschichte. Dieser Platz von Lucca, der früher ein Theaterplatz war – es gehört dazu, das zu wissen, um ihn überhaupt als schön wahrnehmen zu können. PUBLIKUM: Laufen wir im Moment nicht im Städtebau eher in die andere Richtung, gewachsene Stadtstruktur massiv durch Einzelinteressen zu zerstören? Das bricht doch eigentlich das Bild, das Sie gemalt haben, ein Stück weit auf. Und zwar im negativen Sinne. JÜRGEN ARING (MODERATOR): Das nimmt vielleicht noch Bezug auf die Ökonomisierung, die Sie zum Schluss angesprochen haben. WALTER SIEBEL: In Architekturfragen fühle ich mich nicht sicher. Ich verfüge da eher nur über »Vor«-Urteile, z.B. dass Architektur, vor allem FlagshipArchitektur, sich gar nicht mehr auf den Stadtkontext bezieht, es sind Solitäre, die auf globale Sichtbarkeit und Fotografierbarkeit hin entworfen wurden. Sie negieren geradezu systematisch den Kontext, in dem sie stehen. Stadtplanung müsste die Kraft haben, solche Zerstörung von Geschichte, die ja auch in der Struktur der Stadt angelegt ist, zu verhindern. Aber auch da wieder kommt es mir auf die Ambivalenz an. Man kann auch nicht alles festschreiben. Jeweils in der Auseinandersetzung mit einer konkreten Stadtgestalt ist zu entscheiden, wie man die Anforderungen der Gegenwart berücksichtigen kann, ohne zugleich das Bewusstsein von Geschichte, das in der Stadtstruktur präsent ist, zu zerstören. […] PUBLIKUM: Also ich muss sagen, ich hab ein ganz großes Problem mit dieser sicherlich wichtigen Diskussion über Städte, Städtebau, Stadtplanung auf der einen Seite und über das reale Entwickeln der Städte in unserer Welt auf der anderen Seite. Die entwickeln sich einfach. Wenn ich mir also die Millionen-Städte in China angucke, deren Namen wir nicht mehr kennen oder die Favelas in Südamerika, die wachsen einfach. Da entwickelt sich einfach etwas, und manchmal hab ich den Eindruck, das driftet völlig auseinander, die Dis-
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kussion und die Bilder und die Leitbilder und das, was in der Realität passiert. Und ich bin sozusagen ratlos, wie damit umzugehen ist. JÜRGEN ARING (MODERATOR): Darf ich da noch eine Frage anschließen, die kam mir vorhin am Anfang des Vortrags, als Sie die Verbindung zwischen den Städten und der Wanderung herstellten und sagten, Städte sind Orte der Hoffnung auf Befreiung. Da habe ich auch an diese Zuwanderungsbewegungen in Südamerika in die Favelas gedacht. Und ich habe mich gefragt, ist das nicht die pure Not, dass die Leute zuwandern? Welche Befreiung steckt da noch dadrin? WALTER SIEBEL: Die Bremer Stadtmusikanten sagen, etwas Besseres als den Tod finde ich überall. Ein bisschen Hoffnung muss schon sein, wenn ich mich in Bewegung setze … PUBLIKUM: … natürlich wandern die deswegen dahin, aber die wandern eben einfach und die Städte wachsen einfach. Und ja … WALTER SIEBEL: Sie haben vollkommen Recht – ich habe jetzt gesprochen vor dem Hintergrund einer hochentwickelten Planung, mit einer langen Planungsgeschichte und vor dem Hintergrund der Europäischen Stadt, die sich einer solchen Planung überhaupt noch fügt. Mit unseren Begriffen, auch mit unseren Begriffen von ästhetisch geordneter Stadt, kommen wir gegenüber Städten in Südamerika oder in Asien nicht sehr weit. Auch die Stadtplanung bei uns hat im 19. Jahrhundert gegenüber den damals chaotischen Zuständen angefangen mit sehr vorsichtigen, ordnenden Interventionen, ähnlich wie in einer heutigen Favela elektrische Leitungen oder eine Kanalisation geschaffen werden, also mit Interventionen, die eine unumgänglich notwendige Grundordnung und eine rudimentäre Infrastruktur schaffen. PUBLIKUM: Wie stehen Sie denn zu Rekonstruktion von Städten im Sinne einer Heimatsehnsucht? WALTER SIEBEL: Ich hab ja gesagt, dass Sehnsucht etwas Hochambivalentes ist. Und zurückkehren zu wollen in den früheren Zustand der Kindheit, also einen vergangenen Zustand wieder herstellen zu wollen, ohne dabei zu reflektieren, dass er wirklich vergangen ist, ist Regression. Man kann jetzt lange darüber reden, warum dieser Wunsch so aktuell ist. Das hat viel mit Stadtzerstörung, mit Verlusterfahrungen und sicher auch sehr viel mit einer grundsätzlichen Verunsicherung, etwa auf den Arbeitsmärkten, zu tun, die dann in der Rekonstruktion von Geschichte versucht, ein stabiles Fundament für die eigene Identität zu finden. Das wäre eine psychologische Erklärung, weshalb Rekonstruktion eine mehrheitsfähige Strategie von Stadtplanung ist. Aber die
Diskussion mit Walter Siebel
bruchlose Rekonstruktion – die es übrigens gar nicht gibt, wenn dann gibt es die als Fassadenrekonstruktion und dahinter setzt sich die Ökonomie dann schon durch – eine wirklich bruchlose Rekonstruktion wäre nichts als Regression. Würde man wirklich die mittelalterlichen Häuser in Frankfurt wieder aufbauen, könnte kein Mensch darin arbeiten und wohnen. Insofern ist es schon eine, naja, manchmal etwas gewalttätige Assoziation von Fassade und dahinter liegender moderner Baustruktur. REINHARD VON BENDEMANN: […] Ich hätte so ganz laienhaft von einem Stadtsoziologen die These erwartet, eine Stadt ist zuerst ein Markt. Diese Max Weber’sche These, es gibt irgendwie diese Konsumenten- und Rentnerstädte und das versorgende Umland […]. Und jetzt wollte ich Sie als Experten fragen, spielt eigentlich Max Weber in modernen stadtsoziologischen Konzepten noch irgendeine Rolle? Also das klassische versorgende Umland gibt es ja in dem Sinne gar nicht mehr, Stichwort Globalisierung. Gibt es noch Leute, die sich irgendwie auf Weber beziehen, ist das noch in irgendeiner Weise anschlussfähig? WALTER SIEBEL: Max Webers Stadtdefinition lebt vom gesellschaftlichen Gegensatz von Stadt und Land, den es im Mittelalter, worauf er sich ja bezieht, gegeben hat. Das hatte ich auch gesagt, Stadt war ein revolutionärer Ort. So schreibt es auch Weber. Es war eine andere Organisation von Politik, eine andere Organisation von Ökonomie. Es war ein Gegenentwurf zur feudalistisch-agrarischen Gesellschaft. Diesen Stadt-Land-Gegensatz haben wir nicht mehr. Die dörfliche Ökonomie, die Landwirtschaft, ist genauso marktförmig organisiert wie die städtische. Früher war es Hauswirtschaft auf dem Land und Marktwirtschaft in der Stadt. Die Demokratie ist hoffentlich auch überall genauso präsent wie in Städten, oder sogar noch stärker. Also es gibt nicht mehr diesen gesellschaftlichen Gegensatz, auf den Max Webers Definition noch bezogen ist. Webers Stadtdefinition ist eine historische Definition bezogen auf eine historische Situation. Heute kann man nicht mehr Stadt im Gegensatz zu Land definieren. Wenn Sie z.B. sagen würden, Stadt ist Wohnort derjenigen, die nicht in landwirtschaftlicher Produktion eingebunden sind, wie ich das zu Anfang gemacht habe, so hieße das, wir sind alle Städter, denn nur noch 1,8 Prozent der deutschen Bevölkerung sind in landwirtschaftlicher Produktion beschäftigt. Mit der Gegenüberstellung von Stadt und Land kommen wir nicht mehr zu einer Definition. Und trotzdem kann man an Weber durchaus anknüpfen, nämlich an seine Methode. Ich habe das selber getan beim Versuch, zu definieren, was eine Europäische Stadt ist. Dabei habe ich mich darauf konzentriert, was denn idealtypisch eine Europäische Stadt von Städten in Südamerika oder in Asien unterscheidet, also in anderen als europäischen Kulturen. Erstens also kann man an der Methode festhalten. Und
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zweitens würde ich auch noch nicht den Versuch aufgeben – aber jetzt bitten Sie mich nicht, das zu machen – Stadt zu definieren, nämlich als eine besondere Form der Organisation von Alltagsleben. […] Kurz: Max Weber ist nicht überholt, jedenfalls nicht methodisch. Es gibt einen wunderschönen Satz von Max Weber, wo er von der ewigen Jugendlichkeit der Soziologie spricht, weil sich anders als bei den Naturwissenschaften, unser Gegenstand dauernd verändert und deswegen aus unseren Begriffen immer wieder herauswandert. Deswegen kann Sozialwissenschaft nicht wie die Naturwissenschaften Wissen kontinuierlich anhäufen und so ihrem Gegenstand allmählich immer näher kommen. Wir müssen Begriffe wie Stadt immer wieder neu definieren Es gibt keinen ahistorischen Begriff von Stadt. Wenn man heute Stadt definiert, muss man es anders machen als Max Weber. Und das hat Max Weber auch schon selber gewusst. […] PUBLIKUM: Wenn man neu nachdenken muss über Stadt und wie Stadtplanung heute funktioniert, aber noch immer mit der Methodik arbeitet, die im Prinzip in einer gewissen Zeit entwickelt wurde, müsste man auch nicht noch viel stärker selbstreflexiv die Methodik der Stadtplanung selbst hinterfragen und das, worüber man spricht, den Begriff der Stadt, vielleicht neu denken. Aber auch, wo man vielleicht hin möchte heutzutage? Ich bin in inkrementalistische Zeiten reingekommen in meinem Studium und man fragt sich natürlich schon, warum macht man das? Und wohin möchte man damit? WALTER SIEBEL: Gerade deswegen bin ich so gerne hergekommen, weil ich diese Veranstaltung genau so verstanden habe, dass man über den Inkrementalismus hinausdenken und diese Dimension der Hoffnung auf eine bessere Stadt in das Alltagsgeschäft hinein holen möchte. Soweit ich es kenne, ist in der Stadtplanung gerade in der Absetzung gegenüber dem architektonischen Entwurf auch eine ganze Menge an Selbstreflexion und methodischer Arbeit geleistet worden. PUBLIKUM: […] Sie haben mit Ihrem Vortrag implizit das Ende der Stadt ausgerufen und es bedauert. Sie haben für den Inkrementalismus gesprochen und gleichzeitig gesagt, es wäre vielleicht doch zu kurz gesprungen, wenn man sich immer nur auf das Machbare und den einen nächsten Schritt beschränkt, und jetzt reden wir eben von Zukunft, von Herausforderung, von Hoffnung und bräuchten irgendwie doch so etwas wie Utopien. Da ist ja auch schon die Frage gestellt worden, wie sähe denn das himmlische Jerusalem, das heutzutage kein himmlisches, sondern ein irdisches Jerusalem wäre, im 21. Jahrhundert aus? Ständen dann Begriffe wie »nachhaltig«, »gerecht« oder
Diskussion mit Walter Siebel
solche wie »auf regenerative Energien bezogen« als Rahmenbegriffe da? Also irgendwie haben wir ja Vorstellungen, die nach vorne weisen. Sie haben das so schön dargestellt, was alles zusammengebrochen ist. Welche Ideen haben Sie denn, die dann eben in die Hoffnung führen? Die über diesen kleinen inkrementalistischen Schritt hinausgehen? Die dann eben vielleicht doch zu einer neuen Form von Utopie weisen, die aber nicht totalitär wird. WALTER SIEBEL: Solche Fragen fürchtet man immer, wenn man einen Vortrag gehalten hat. Ich habe gesagt, dass Utopien ihr Recht dort haben – und ich finde, dass sie es auch heute noch haben – wo sie Kritiken der Wirklichkeit sind. Adorno hat gesagt, nur in der reinen Negation könne sich ein Denken über eine bessere Gesellschaft noch halten. So weit würde ich nicht gehen. Aber das man ansetzt, ganz simpel, an den krassen Missständen, die wir in unseren Städten heute haben. Das sind die sozialen Probleme, das sind die ökologischen Probleme, das sind die Verkehrsprobleme. Und dabei sollte man sich nicht verbieten, über segmentäre Lösungen nachzudenken, ohne gleich den Anspruch umfassender Lösungen zu haben wie die Utopien oder die Städtebauvisionen. Aber bei diesen disziplinär, also nur partiell definierten Missständen sollte man sich den Mut erlauben: Was wäre denn eine ideale Lösung für diese Sache? Karl Ganser hat die Strategie der IBA Emscher Park als »perspektivischen Inkrementalismus« beschrieben. Wir haben damals gesagt, wir brauchen eine Vision für das Ruhrgebiet und müssen das Allernächstliegende tun. Vision ist dafür vielleicht ein bisschen zu hochgegriffen, auch ist es keine Erfindung der IBA gewesen – die Engländer haben das schon früher gemacht –, aber die Vorstellung, dass die Relikte der Industriegesellschaft nicht überflüssiger Müll sind, sondern dass sie umdefiniert – romantisiert – werden können, so wie man die Burgen am Rhein romantisiert hat, als Orte, die man ästhetisch betrachten kann, wenn auch unter einer ganz anderen Ästhetik als früher, das war eine der Leitideen der IBA. Der Gasometer ist so ein Beispiel. Das ist eine riesige, hässliche, unproportionale und völlig nutzlose Blechbüchse und sie ist umdefiniert worden zu einem, wie ich finde, sakralen Raum. Entscheidend war, den Gasometer nicht mehr als ein Werkzeug, als ein technisches Instrument zu definieren. Es ist ja vorhin auch von der Definiertheit, von der von Wirklichkeit gesprochen worden. Wenn die IBA etwas geleistet hat, dann war es diese Veränderung der Wahrnehmung von dem, was früher nur als Instrument der Ökonomie begriffen wurde, zu einem ästhetischen Objekt. Es war eine visionäre Perspektive gegen die politischen Realitäten. Die Vision, dass diese Region, die sich nie über ihre Geschichte, sondern immer nur über die Moderne definiert hat, sich ihrer Geschichte bewusst werden und damit auch ein anderes Identitätsbewusstsein entwickeln kann. Man musste die Vorstellung entwickeln, dass diese Region zwar kein Geschichtsbewusstsein hat, aber eine großartige Geschichte repräsentiert, und dann macht man den
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nächsten Schritt und rettet irgendein Industriedenkmal. Da haben Sie ein Beispiel für das, was Ganser »perspektivischer Inkrementalismus« genannt hat. Es ging nicht um ein einzelnes Stahlwerk, sondern darum, dass die Region sich ihre industrielle Vergangenheit als Element eines historischen Bewusstseins bewahrt. JÜRGEN ARING (MODERATOR): Ja, so ist es jetzt nochmal deutlicher geworden, dass Sie vorhin zwar gegen umfassende, endgültige Antworten argumentiert haben, aber nicht gegen weitreichendes Denken. JÜRGEN STRAUB: Also Utopie muss man ja dazu nicht mehr sagen, das haben Sie ja auch deutlich gemacht in Ihrem Vortrag. Und vielleicht, so wie ich Sie verstanden habe, ist es auch nicht ganz richtig zu sagen, wir brauchen »perspektivischen Inkrementalismus«. Was ja wichtig ist an solchen Konzepten, es geht erstens mal darum, die mögliche Multiperspektivität immer im Spiel zu haben, und d.h. auch eine Reflexion auf die eigene Perspektive und auf die Veränderlichkeit und Kontingenz dieser Perspektive. Es kann sein, dass in zwei Jahren diese Perspektive keine mehr ist. Und das, glaube ich, ist ein sehr anderes Konzept als bei utopischen Entwürfen. […] WALTER SIEBEL: Also, ich möchte nicht, dass es in zwei Jahren schon vorbei ist. Das Problem der Utopien war der Anspruch, Recht zu haben, und zwar für immer und ewig. Und das drückt sich aus in der Vorliebe für Quadrat, Kreis oder Kubus. Solche geometrischen Grundformen sind Sinnbild der Vollkommenheit, an der man nichts mehr ändern kann und nichts mehr ändern darf. Und wenn man Vorstellungen von Zukunft aus diesem Geist heraus entwickelt, dann wird es totalitär und dogmatisch. Aber ich würde schon von jedem verlangen, dass er mit dem Anspruch, etwas Richtiges, und dauerhaft Richtiges zu tun, handelt. Nur darf dieser Anspruch nicht so weit gehen, das für richtig Gehaltene gleichsam mit Gewalt durchsetzen zu dürfen, weil es das ewig Richtige wäre. Ich würde schon ganz gerne daran festhalten, dass es so was wie Wahrheit gibt. Und da soll man auch ruhig drauf hinarbeiten. Wenn es dann in 100 Jahren … JÜRGEN ARING (MODERATOR): Das ist kein Plädoyer für kurzfristige Moden … WALTER SIEBEL: … nein, aber auch nicht für völligen Relativismus … JÜRGEN ARING (MODERATOR): … aber vielleicht dafür, dass jede Generation ihren eigenen Zugang dazu findet und diesen Schritt wieder macht.
Diskussion mit Walter Siebel
WALTER SIEBEL: Das haben Sie ja auch nicht so gemeint, sicher, aber ich habe jetzt reagiert auf die Beliebigkeit, die man da rein interpretieren kann … JÜRGEN STRAUB: Ich habe mich gefragt, ob ich Sie richtig verstanden habe. […] Wenn Sie am Schluss sagen, also es geht nicht um Ansprüche oder irgendwie Geltungsansprüche, sondern sagen wir mal eher Wahrheit. Vielleicht auch mal ab und zu um Gestaltungsansprüche, aber Gestaltungsansprüche milderer Art sozusagen. Es geht auch nicht um Relativismus, aber es geht um ein radikalisiertes Kontigenzbewusstsein. Und es ist schon möglich, dass sozusagen das, was jetzt kulturell der Rahmen ist, dass unsere Wahrnehmung des Gasometers oder was auch immer sich reformiert, sich vielleicht schon in zwei oder drei Jahren ändert. Das kann schon sein. Und das hat nichts mit Relativismus zu tun. Das hat mit einem gesteigerten Geschichtsbewusstsein zu tun, das auf sich selber reflektiert. Das ist nicht nur sozusagen »wir schreiben uns jetzt unsere Geschichte und dann haben wir unsere Ordnung«. Es kann auch sein: »wir schreiben unsere Geschichte im Bewusstsein, dass wir sie heute schreiben«. In zwei Jahren kann etwas dann anders sein – nicht total anders, aber etwas anders sein. Und dieses »etwas« kann schon ziemlich wichtig sein. Und auch dieses »wir«. »Wir, das Ruhrgebiet, wir die Metropole, wir die …«. Aber dieses »wir« ist in sich sehr stark differenziert. Und es verändert sich unheimlich schnell. Beide Aspekte gehören dazu: synchrone Diversität und diachrone Kontingenz. Steuerbarkeit heißt ja sehr häufig nachträglich steuerbar. Also ich sage nicht mehr planbar, sondern steuerbar. Aber steuerbar ist genau verbunden mit so einer Einsicht in eben Nicht-Vorhersehbarkeit, Kontingenz. […] Und das ist vielleicht auch eine Frage an den Theologen. Also die Idee der Vervollkommnung im Judentum, im Christentum, ist stark kulturell verankert. Eine starke psychische Disposition, das ist ein Habitus. Und vielleicht geht es auch ein Stück darum. An der Arbeit an diesem Habitus und nicht bloß an der Vollkommenheit im Sinne der Utopisten. Vielleicht ist schon etwas schal an der Idee der Vervollkommnung. WALTER SIEBEL: Eben das wollte ich in meinem Vortrag sagen, dass diese Vorstellung des Vollkommenen geschichtslos ist und totalitäre Ordnungsphantasien dahinter stehen, die keinen Wandel mehr erlauben und keine individuelle Differenz. Aber wie gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Planer sinnvoll handeln kann, ohne gleichsam – wie eine ziemlich starke Taschenlampe – einen Scheinwerfer ins Dunkle vor sich zu haben. Die Richtung, in die er leuchtet, kann er, je länger er arbeitet, ändern wollen oder ändern müssen. Aber er braucht, um halbwegs vernünftig zu sein und nicht nur blind zu reagieren – dann wäre er kein Planer mehr – eine solche Perspektive. Die wird dauernd anzupassen sein. Trotzdem wird er diese Perspektive einer ökologisch nachhaltigeren oder einer sozial gerechteren Stadt haben, und das sind schon
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ziemlich klare Leitplanken für Handeln, die sich nicht von heute auf morgen ändern. Und das zweite: Es ist zwar theoretisch richtig, dass das, was wir über Wirklichkeit sagen, immer auch ein subjektives Konstrukt ist. Aber die Wirklichkeit ist es nicht. Das Ruhrgebiet hat eine sehr spezifische Geschichte, und diese Geschichte wird noch 50 Jahre lang das Ruhrgebiet bestimmen. Die Pfade, auf denen sich das Ruhrgebiet entwickeln kann, ändern sich nicht alle zwei Jahre. Die Realität ist ziemlich stabil und jede Stadt ist eine solche Realität. Normalerweise werden maximal 2 Prozent der Bausubstanz pro Jahr umgebaut oder erneuert. Da können Sie sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis die ganze Stadt umgebaut ist. Wenn man sich die Wegeführung in unseren Städten ansieht, sie sind teilweise 1000 Jahre alt, waren früher Trampelpfade. Städtische Strukturen sind auch von außerordentlicher Stabilität. […] PUBLIKUM: Mittlerweile geht Stadtplanung, wenn die Stadtplaner sich dazu berufen fühlen, in eine partizipatorische Richtung mit Zukunftswerkstätten, und das ist dann ja auch ein reines Träumen und Utopien-Schaffen, woraus dann vielleicht ein integriertes Stadtentwicklungskonzept oder so was entsteht. Und das ist ja dann wiederum nur ein Leitfaden für diese Utopie. Es werden durchaus Utopien geschaffen, die dann nicht in eine totalitäre Richtung abdriften, sondern einfach als Leitfaden für die nächsten 25, 50 Jahre lang gelten könnten. So gesehen sind Utopien ja durchaus nichts Uninteressantes für die moderne Stadtplanung. WALTER SIEBEL: Wenn Sie jetzt nur das Wort Utopie nicht benutzt hätten, hätte ich Ihnen sofort zugestimmt. Stadtentwicklungspläne sind immer Vorstellungen von Zukunft, das ist aber was völlig anderes als Utopie. Und sie werden nicht umsonst fortgeschrieben. PUBLIKUM: Ich meinte auch nicht die Stadtentwicklungspläne an sich und auch nicht das, was daraus entsteht, sondern nur dieses Neue, das man partizipatorisch macht – meinetwegen eine Zukunftswerkstadt. Dann ist ein Teil davon ja erst mal ganz utopisch, was wir denn für unsere Stadt haben möchten. Das ist dann ja eine Art Utopie, die so niemals machbar sein wird, die wird niemals umsetzbar sein. Die Utopie hat als Grundlage die Stadt und steht nicht völlig frei im Raum. Und Ideen daraus kann man nutzen. WALTER SIEBEL: Ich habe ja vorhin auch gesagt, ich kann mir Planung gar nicht vorstellen ohne einen Scheinwerfer in eine Zukunft, der die täglichen Schritte in eine bestimmte Richtung lenkt. Planung ist mehr als bloßes Reagieren. Die IBA hat angefangen mit einem kleinen Büchlein, in dem ein paar Qualitätskriterien standen: ökologische, soziale, kulturelle, bauliche und ökonomische Kriterien, die von den Projekten, die im Rahmen der IBA durch-
Diskussion mit Walter Siebel
geführt würden, erfüllt werden sollten. Das ist auch eine Form von Entwicklungsstrategie, jetzt nicht im Sinne eines räumlich-physischen Planes, aber im Sinne eines Benennens von Kriterien, anhand derer darüber entschieden werden kann, was gemacht wird und was nicht. Wobei es immer interpretationsbedürftig bleibt, was man unter ökologisch nachhaltig bei einem bestimmten Projekt versteht. Außerdem war der Anspruch nicht, hier ein ökologisches Vorzeigeprojekt zu haben, was sozial mies ist, und da irgendein soziales Vorzeigeprojekt, was Umweltschäden produziert […]. Der Anspruch war eine integrierte Planung, was heißt, dass bei jedem einzelnen Projekt Kriterien aus verschiedenen Dimensionen von Stadtentwicklung berücksichtigt werden sollten. Solche Qualitätskriterien zu setzen ist auch eine Form, eine Entwicklungsperspektive zu formulieren, aber eine andere als im klassischen, räumlichen Stadtentwicklungsplan.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Reinhard von Bendemann, promoviert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1995, dort habilitiert 1999; nach Vertretung des Lehrstuhls Wolfgang Schrage Vertretung des Lehrstuhls Peter Lampe an der Christian-Albrechts-Universität Kiel; dort seit Januar 2001 Professor für Neues Testament und hellenistische Zeit und Welt; seit November 2008 Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum für Neues Testament und Judentumskunde. Forschungsschwerpunkte sind u.a. die frühchristliche Evangelienliteratur (Kommentierung des Markusevangeliums im EKK), deuteropaulinische Literatur, Theologie und Hermeneutik des Neuen Testaments sowie der Bereich frühes Christentum und antike Medizin. Marco Thomas Bosshard, geboren 1976 in Zürich, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin, Promotion in Romanischer Philologie 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., seit 2011 Juniorprofessor für iberoromanische Kulturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2007 außerdem verantwortlicher Lektor im Bereich iberoromanische Belletristik für den Verlag Klaus Wagenbach. Monographien: Ästhetik der andinen Avantgarde (Berlin, 2002) und La reterritorialización de lo humano. Una teoría de las vanguardias americanas (Pittsburgh, 2013). Maike Buttler studierte Architektur & Stadtplanung an der Universität Stuttgart und der Bundesuniversität von Rio de Janeiro. Anschließend arbeitete sie in Forschung und Lehre im Bereich Nachhaltiges Bauen am Institut für Bauökonomie der Universität Stuttgart. Gegenwärtig promoviert sie zum Thema »Nutzerorientierte Planung in Bürogebäuden mit Nachhaltigkeits-Zertifikaten«, betreut durch das Umweltbundesamt und Institut für Architekturkommunikation des Karlsruher Instituts für Technologie und ist am Fraunhofer IBP im Geschäftsfeld ›Morgenstadt‹ beschäftigt.
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Marco Clausen ist ursprünglich Historiker, gründete 2009 gemeinsam mit Robert Shaw Nomadisch Grün und den Prinzessinnengarten am Moritzplatz Berlin-Kreuzberg. Er organsiert Veranstaltungen und Workshops zu Themen wie Stadt und Ernährung, Jugendbeteiligung und urbane Landwirtschaft. Er hat als Herausgeber, Autor und Fotograf an dem Buch »Prinzessinnengarten. Anders gärtnern in der Stadt«, erschienen 2012 im Dumont-Buchverlag, mitgewirkt. Jan-Dirk Döhling ist seit 2010 Juniorprofessor für Religion und Literatur des Alten Testaments an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er war von 2004 bis 2007 Kollegiat des Hans von Soden Instituts für Theologische Forschung an der Phillips-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte und Publikationsthemen sind die Emotionen Gottes als Erzählfigur biblischer Literatur (Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel [HBS 61], Freiburg i.Br. 2009), das Verhältnis von Altem Testament und christlicher Predigt sowie die körpersoziologischen Aspekte von Prophetie und prophetischer Literatur. Tobias Hegmanns hat in Dortmund und Atlanta Maschinenbau bzw. Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Am Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik leitet er die Gruppe ›Supply Chain Planung und Strategie‹. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Planungs- und Steuerungsverfahren für Fabrik- und Logistiksysteme, modellbasierten Werkzeuge für die Planung und Simulation sowie IT-Systeme für die Logistik. Er beschäftigt sich auch mit dem Thema Produktion und Logistik in urbanen Räumen und ist als Projektleiter für das Thema Produktion & Logistik in der Fraunhofer Initiative »Fraunhofer Morgenstadt:CityInsights« aktiv. Eckhart Hertzsch promovierte im Bereich der energieeffizienten Gebäudefassaden an der Universität Stuttgart und war in vielfältigen verantwortlichen Positionen in der Industrie im In- und Ausland tätig. Ende 2006 erhielt er den Ruf an die Universität Melbourne, Australien. Dort forschte und lehrte er als Professor in den Bereichen der nachhaltigen Architektur, Gebäude- und Fassadentechnik. Nach circa 20-jähriger Berufserfahrung im Thema Energieeffizienz ist er nun als international anerkannter Experte für das Fraunhofer Institut für Bauphysik in Stuttgart tätig. Er ist dort in leitender Position zuständig für das Forschungsprojekt ›Morgenstadt‹ zur Integration von Hoch-EffizienzGebäuden in eine zukunftsfähige Stadtstruktur. Seit 2013 ist er darüber hinaus der Geschäftsführer der Geschäftsstelle Nationale Plattform Zukunftsstadt.
Autoren- und Herausgeber verzeichnis
Patrick Huhn ist seit 2011 Technischer Referendar der Fachrichtung Städtebau in der Stadt Wolfsburg. Als aktiver Guerilla-Gärtner schreibt er einen Blog über Guerilla Gardening im Ruhrgebiet. Im Frühjahr 2011 hat er sein Studium der Raumplanung an der TU Dortmund mit der Diplomarbeit »Bewaffnet mit Spaten, Pflanzen und Visionen – Guerilla Gardening als Nutzung von Brachflächen« abgeschlossen. Hierfür wurde Patrick Huhn mit dem ImmobilienForschungspreis 2011 der Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung e.V. ausgezeichnet und konnte die Arbeit im gleichen Jahr publizieren. Rebecca Janisch ist seit Ende 2008 akademische Rätin am Interdisciplinary Centre for Advanced Materials Simulation (ICAMS) der Ruhr-Universität Bochum. Ihr wissenschaftlicher Werdegang begann mit Studium der Physik und Promotion in Stuttgart, und führte über Post-Doc Aufenthalte an der University of California Santa Barbara, der Technischen Universität Chemnitz und der Friedrich-Alexander Universität Erlangen schließlich ins Ruhrgebiet. Im Rahmen ihrer Forschung und Publikationen beschäftigt sich Rebecca Janisch mit dem Zusammenhang zwischen dem atomaren Auf bau und den mechanischen und funktionellen Eigenschaften von Materialien. Bastian Lange ist Stadt- und Wirtschaftsgeograph und spezialisiert auf Kreativwirtschaft, Governancefragen, Innovationsprozesse und Raumentwicklung. Er leitet das Forschungs- und Strategieberatungsbüro Multiplicities-Berlin und hatte 2011-2012 eine Gastprofessur an der Humboldt Universität zu Berlin inne. Er befasst sich insbesondere mit sozioökonomischen Transformationsprozessen des kreativen Wissenszeitalters und macht sie für Politik, Wirtschaft und kreative Szenen handhabbar. Bastian Lange hat in Marburg und Edmonton Geographie, Ethnologie und Stadtplanung studiert und an der Johann-Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M., Institut für Geographie, 2006 promoviert. Er ist Mitglied des Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung an der Humboldt Universität zu Berlin. Mona Motakef ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen. Zuvor war sie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), am Essener Kolleg für Geschlechterforschung und am Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) in Berlin beschäftigt. 2009 promovierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2011: Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien in der Organspende. Bielefeld: transcript). In Lehre und Forschung interessiert sie sich für das Verhältnis von Erwerbs- und Reproduktionsarbeiten mit Blick auf Körper, Geschlecht und Ungleichheiten.
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Christa Müller studierte Soziologie in Bielefeld, Marburg und Sevilla, forschte in Spanien, Lateinamerika und Westfalen zu Bauernbewegungen und Modernisierungsprozessen; seit 1999 forscht sie zu urbaner Subsistenz. 2011 gab sie den Band »Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt« heraus und co-kuratierte die Ausstellung »Die Produktive Stadt – Designing for Urban Agriculture« (TU Berlin u. TU München). Aktuell arbeitet sie zu Do-it-yourself-Kulturen als Netzwerke postindustrieller Produktivität. Dazu erschien 2013 bei transcript »Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself« (mit Andrea Baier und Karin Werner). www.anstiftung-ertomis.de; www.urban-gardening.eu. Angelika Münter (Jg. 1978) ist seit 2005 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund und zugleich seit 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund tätig. Sie hat von 1998 bis 2004 Raumplanung an der TU Dortmund studiert und 2011 auch dort zum Thema »Wanderungsentscheidungen von Stadt-Umland-Wanderern« promoviert. Aktuell forscht sie zu den Themen Sub- und Reurbanisierungsprozesse, Metropolisierung und Polyzentralität. Britta Neitzel studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Erlangen, München und Köln. Derzeit vertritt sie die Professur Medienwissenschaft an der Goethe-Universtät Frankfurt und hatte zuvor Beschäftigungen an verschiedenen universitären und außeruniversitären Institutionen im In- und Ausland im Bereich der Medienwissenschaft inne. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel: »Mediale Orte. Raumhybridisierungen analoger und digitaler Medien«. Publikationen (Auswahl): GamesCoop: Theorien des Computerspiels, Hamburg: Junius 2012 (gemeinsam mit B. Beil, Ph. Bojahr, Th. Hensel, T. Schemer Reinhard, J. Venus); Mediale Selbstreferenz: Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics (gemeinsam mit N. Bishara & W. Nöth), Köln 2008; Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen, Univ. Diss., Weimar 2000. Mehr unter: www.brittaneitzel.de Beate Ochsner, Professur für Medienwissenschaft, Universität Konstanz. Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Basel und St. Gallen. Forschungsschwerpunkte: Audiovisuelle Produktion von Dis/Ability; Mediale Partizipationskulturen; Monster/Monstrositäten; Junges deutsches Kino; Intermedialität. Letzte Veröffentlichungen: DeMONSTRAtion, München 2010; Andere Bilder: Zur medialen Produktion von Behinderung, hg. von B. Ochsner/A. Grebe, Bielefeld 2013; »Christian Petzold oder: Die gespenstische Zeit des
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Films«, in: Augenblick: Bilder in Echtzeit, hg. von I. Otto/T. Haupts, Marburg 2012, 63-80; »Von »Urbanomanie« zu Megacities oder: Sinfonische Transformationen«, in: U. Hennigfeld (Hg): Nicht nur Paris, Bielefeld 2012, 193-219; »›Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen‹ (Fini Straubinger). Zum Widerstand der Bilder in Land des Schweigens und der Dunkelheit«, in: Grebe/Ochsner (Hg): Andere Bilder, Bielefeld 2013, 261-281. Alexander Pellnitz ist wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst an der Technischen Universität Dortmund, das er im Jahre 2008 mitgründete. Er hat an der TU Berlin und in Mailand Architektur studiert und ist seit 2004 freischaffender Architekt in der Architektenkammer Berlin. Nach seinem Studium lehrte und forschte er mehrere Jahre in Mailand und Venedig und promovierte an der TU Berlin im Fach Architekturtheorie. 2011 wurde er in die Global Young Faculty der Stiftung Mercator berufen. Im Rahmen seiner Forschungen und Publikationen beschäftigt er sich mit Geschichte und Theorie von Architektur und Städtebau. J. Alexander Schmidt hat seit 1998 den Lehrstuhl »Stadtplanung und Städtebau« an der Universität Duisburg-Essen inne und ist Sprecher des universitären Profilschwerpunkts »Urbane Systeme«. Er studierte an der Universität Stuttgart und an der University of California Berkeley Architektur, Stadtplanung, Urban Design und Umweltpsychologie. Die umfangreiche Planungspraxis als freier Architekt und freier Stadtplaner liegt in den Arbeitsfeldern Stadtentwicklung und Stadtgestaltung. Interdisziplinär ausgerichtete Forschungsschwerpunkte betreffen die Gestaltung der Stadt im Kontext von Gesundheit, Mobilität, Energieeffizienz, Klimaadaptation. Martin Schröder ist seit 2007 Referent in der Abteilung Umwelt, Technik und Nachhaltigkeit im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) e.V. Zuvor arbeitete er im Europäischen Parlament und beim Bundeswirtschaftsministerium. Er studierte an der LMU München und der FU Berlin und hat einen Magister-Abschluss der Politologie, Nordamerikastudien und der Neueren Geschichte. Er hat im BDI die Initiative »Wirtschaft für Klimaschutz« koordiniert und die Erstellung einer Studie zur Treibhausgasemissionsvermeidung in Deutschland verantwortet. Neben internationalen Nachhaltigkeitsprozessen (Rio+20) beschäftigt er sich gegenwärtig mit der technologischen Lösungskompetenz der deutschen Industrie in den Bereichen Mobilität, Energie und Gebäude und nachhaltiger Stadtentwicklung.
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Walter Siebel, geboren 1938, von 1975 bis 2004 Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg. 1989-1995 wissenschaftlicher Direktor der IBA Emscher-Park, 1991 und 1992 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. 1995 Fritz Schumacher Preis, 2004 Schader Preis. Mitglied in DASL, DGS, ARL und verschiedenen wiss. Beiräten. Letzte Buchveröffentlichungen: Die europäische Stadt (2004) und Stadtpolitik (zus. mit Häußermann und Läpple) 2009, beide edition suhrkamp. Jürgen Straub hat seit 2008 den Lehrstuhl für »Sozialtheorie und Sozialpsychologie« an der Ruhr-Universität Bochum inne. Zuvor lehrte er von 2002 bis 2008 »Interkulturelle Kommunikation« an der Technischen Universität Chemnitz. Seit 2004 ist er Vorstandsmitglied der Stiftung für Kulturwissenschaften im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt a.M. Jürgen Straubs zahlreiche Publikationen erstrecken sich auf verschiedenste Bereiche der Sozialforschung und Kulturanalyse, einschließlich (interdisziplinärer) theoretischer und methodologischer Aspekte.
Urban Studies Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner Stadt der Commonisten Neue urbane Räume des Do it yourself Mai 2013, 232 Seiten, kart., 450 farb. Abb., 24,90 €, ISBN 978-3-8376-2367-3
Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1965-2
Anne Huffschmid, Kathrin Wildner (Hg.) Stadtforschung aus Lateinamerika Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios Juni 2013, 464 Seiten, kart., 25,90 €, ISBN 978-3-8376-2313-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz (2. Auflage) 2012, 200 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2
Karin Wilhelm, Kerstin Gust (Hg.) Neue Städte für einen neuen Staat Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung September 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2204-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de