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German Pages 547 Year 1999
FRANK-RÜDIGER JACH
Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa
Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht Herausgegeben von Frank-Rüdiger lach und Siegfried lenkner
Band 2
Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa
Von
Frank-Rüdiger Jach
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Jach, Frank-Rüdiger:
Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa I von Frank-Rüdiger Jach. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht ; Bd. 2) ISBN 3-428-09549-9
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany
© 1999 Duncker &
ISSN 1433-0911 ISBN 3-428-09549-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Vorwort Die vorliegende Monographie ist das Ergebnis einer mehrjährigen Forschungstätigkeit. Die Planung um faßte ursprünglich eine systemvergleichende Untersuchung der Schulverfassungen in den Staaten Westeuropas unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Selbstverantwortung im Bildungswesen. Mit den grundlegenden, das Bildungswesen im besonderen Maße tangierenden, revolutionären Änderungen der Gesellschaftssysteme Ostmitteleuropas mußte das Forschungsvorhaben um einen wesentlichen Aspekt erweitert werden, nämlich die Neuordnung der Bildungssysteme im Rahmen der Demokratisierung dieser Staaten. Begonnen wurde es am Zentrum für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen, und seine Fortsetzung fand es am neu gegründeten Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht e.V. in Hannover. Das Zustandekommen verdanke ich der Unterstützung vieler, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin und die ich hier nur ohne Anspruch auf Vollständigkeit erwähnen kann. Mein besonderer Dank gilt zunächst meiner Frau Hannelore Jach als kritische und kompetente Begleiterin meiner Forschung. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem im besonderen Maße Prof. em. Dr. Siegfried Jenkner, der mir stets wichtige Hinweise und kritische Anstöße gab. Den Kollegen Prof. Dr. Norbert Reich und Prof. Dr. Gert Winter möchte ich für ihre Bereitschaft und ihr Interesse danken, als damalige Direktoren des Zentrums für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen das Projekt an dem Institut anzusiedeln. Mein Dank gilt auch den übrigen Mitarbeitern des Instituts und der Bibliothek für zahlreiche Hinweise und Zuarbeiten. Hier seien insbesondere Heinz Jung und Friedhelm Thralow erwähnt. Des weiteren habe ich den vielen engagierten Menschen zu danken, die für mich Übersetzungen und Berichte aus den verschiedenen Ländern erstellt haben. Erwähnt seien hier beispielhaft Manfred Latuske aus Corno, Italien, Frau Tiiu Bläsi-Käo aus Tartu, Estland, und Frau Prof. Dr. Maria Ziemska aus Warschau, Polen. Frau Barbara Brudlo möchte ich für die sorgfältige Erstellung des Manuskripts danken. Ich widme dieses Buch meinen Kindern Teresa, Charlotta, Constantin und Elsa-Sophie. Hannover, im April 1998
Frank-Rüdiger lach
Inhaltsverzeichnis A.
Einführung
B.
Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft .............. ..
23
I. Die Bedeutung der Diskussion über die Bürgergesellschaft für das Bildungswesen ..................................................................
23
11. Das Konzept der Bürgergesellschaft im Widerstreit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus ........................................ .......
33
III. Schulverfassung in der Bürgergesellschaft in der Überwindung des Theorienstreites zwischen Liberalismus und Kommunitarismus
39
IV. Die Bedeutung der Diskussion um public management und new public administration für die Schul verfassung
54
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule ..........
61
1. Die Autonomie von Schule als Voraussetzung für die "gute" Schule .....................................................................................
67
2. Autonomie als Begriff und Zielorientierung ..........................
74
3. Die Bedeutung der Diskussion über die Autonomie von Schule für das Verhältnis von staatlicher und freier Schule ...
80
4. Alternative Formen der Bildungsfinanzierung in einem autonomen Schulwesen - der Bildungsgutschein .........................
82
VI. Die Schule in freier Trägerschaft als bürgerschaftlich verfaßte Schule ..........................................................................................
84
1. Die Bedeutung und Entwicklung der Schulen in LehrerEltern-Trägerschaft .................................................................
85
2. Die grundrechtliche Gewährleistung der Freiheit des Unterrichts in den Verfassungen der westeuropäischen Staaten
91
3. Die völkerrechtliche und europarechtliche Verankerung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Freiheit des Unterrichts ....................................................
93
a) UN - Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ........................ ................ ............
94
b) Die Garantie der Bildungsfreiheit durch die Europäische Menschenrechtskonvention .............................................. c) Bildungsfreiheit und Europäisches Gemeinschaftsrecht ..
96 98
8
Inhaltsverzeichnis VII. Minderheitenschutz und Schul verfassung
C.
100
VIII. Bürgerschule und europäische Integration ...................................
104
1. Grenzen nationalstaatlicher Bildungspolitik ..........................
104
2. Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Gemeinschaft ........ '" ................................................... ............
111
Systemtheoretische Erfassung der Schulverfassungsstrukturen in Westeuropa .....................................................................................................
117
I. Zur System verwandtschaft europäischer Verfassungstypologien
117
11. Zur Typologie westeuropäischer Schulverfassungen ...................
124
1. Die verschiedenen Grundrichtungen europäischer Schulver-
D.
fassungen ...................................................... ..... ..... ......... .......
124
2. Zum Zusammenhang von Unterrichtsfreiheit, Schulaufsicht und Organisationsstruktur ......................................................
132
3. Schulverfassung und Berechtigungswesen ............................
134
Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa ...........
137
I. Bürgerschaftlich-sozialstaatliche Schulverfassungen ..................
137
1. Das plurale Bildungswesen der Niederlande ..........................
137
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens Unterrichtsfreiheit und horizontales Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der Verfassung von 1917 ........................... b) Die Gewährung von Unterrichtsfreiheit und Schulautonomie als Voraussetzung von Schulvielfalt ............... c) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen der Unterrichtsfreiheit ....................................................... (1) Gründungsfreiheit ..................................................... (2) Die Bezuschussung staatlich-kommunaler Schulen und von Schulen in freier Trägerschaft ..................... d) Struktur der Bildungs'terwaltung und Autonomie der Einzelschule ...................................................................... e) Pädagogische Autonomie, Unterrichtsfreiheit und Berechtigungswesen ......................................................... (1) Unterrichtsfreiheit im Primarbereich ........................ (2) Unterrichtsfreiheit im Sekundarbereich .................... (3) Die Freiheit der Lehrerausbildung ............................ f) Von der staatlichen Schulaufsicht zur Schulberatung ...... g) Abschließende Betrachtungen .... ..... ................... ..............
158 163 164 166 166 169
2. Das Schulwesen in Belgien ....................................................
170
a) Vom zentralistischen zum föderativen Bundesstaat ......... b) Die Dezentralisierung des Bildungswesens .................. ........
170 171
137 139 145 145 147 153
Inhaltsverzeichnis
9
c) Freies Schulwesen und Regionalisierung ......................... d) Die verfassungsrechtliche Gewährung der Unterrichtsfreiheit und des Rechts auf Bildung ................................. e) Schulvielfalt und die Rechtsstellung der freien Schulen ..
175 176 177
11. Das bürgerschaftliche, kommunal-dezentralisierte Bildungssystem in Dänemark ..... ...................... ......... .......... ...................................
181
1. Die historische Entwicklung des Bildungswesens .................
181
2. Dezentralisierung, Vielfalt und pädagogische Autonomie im staatlich-kommunalen Schulwesen ........................................
183
3. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die "bürgerschaftlich-kommunale Schule in Elternträgerschaft" ......................
185
4. Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ...........
188
a) Grundungsfreiheit für Schulen in freier Trägerschaft ....... b) Die staatliche Bezuschussung von Schulen in freier Trägerschaft .............. .............. ..... ..... ...................................... c) Unterrichtsfreiheit und pädagogische Autonomie ............ d) Anerkennung von Lehrerabschlüssen ....... .... ......... ...........
189
5. Perspektiven der Schulverfassung ..........................................
193
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England .....................
195
190 192 193
1. Bürgerschaftliche Strukturen des dezentralen Bildungswesens ....................................................................................
197
a) Die historische Entwicklung der Schul verfassung.............
197
b) "Die Macht der Gemeinden" als traditionelles Merkmal des Schulsystems ....... ................... ............................... ..... c) Schulverwaltung durch die Local Educational Authorities und pädagogische Autonomie der Einzelschule ............... d) Die pädagogische Freiheit der Einzelschule nach dem Refonn Act von 1988 ............................................................ e) Die Stärkung der Selbstverwaltung durch den Refonn Act von 1988 ........................................................................... f) Opting out ............... ......... ........ .............. ..... ............. .........
206 208
g) Die Bedeutung des Refonn Act von 1988 - Marktorientierung des Dienstleistungsbetriebs "Schule" ...................
210
199 201 204
2. Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft ..........
211
a) Voluntary Schools ............................................................ b) Independent Schools ........................................................ c) Die Rechtsstellung der Independent Schools am Beispiel der Waldorfschulen ..........................................................
212 213
3. Paradoxien der konservativen Bildungspolitik .......................
219
IV. Schulverfassung in Irland - die Einheit von Kirche und Staat .....
221
217
lO
Inhaltsverzeichnis 1. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bildungswesens
221
2. Das katholisch-staatliche Bildungswesen ..............................
222
3. Die Rechtsstellung der unabhängigen Schulen ......................
225
4. Pädagogische Freiheit und Grenzen der Schulvielfalt ...........
226
V. Von der zentralistischen zur dezentralen-bürgerschaftlichen Schulverfassung - Der Wandel der Bildungssysteme in Skandinavien ...
226
1. Das norwegische Bildungswesen ...........................................
226
a) Rechtliche Grundlage und Grundstrukturen des Bildungswesens .............................................................................. b) Die Dezentralisierung der Schulverwaltung ..................... c) Autonomie der Einzelschule ............................................. d) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen ..............
226 228 229 230
2. Neue Wege der Schulverfassung in Finnland ........................
233
a) Dezentralisierung der Schul verwaltung und Stärkung der pädagogischen Autonomie im staatlichen Schulwesen .... b) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen .............. (1) Genehmigungsvoraussetzungen und Zulassung nichtstaatlicher Schulen .............. ................... ........... (2) Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen .................. (3) Minderheitenschutz im Schulwesen .......................... c) Auf dem Weg zur bürgerschaftlichen Schule ...................
234 235 236 236 240 240
3. Der Wandel der Schulverfassung in Schweden .....................
241
a) Die Dezentralisierung der Schul struktur .......................... b) Pädagogische Autonomie im kommunalen Schulwesen ... c) Nichtstaatliche Schulen in freier Trägerschaft .... ..... ........ (1) Zur historischen Entwicklung ....... .......... .................. (2) Die staatliche Schulaufsicht über Schulen in freier Trägerschaft ... ................ ............. ..... ................. ........ d) Die bürgerschaftliche Reform des Bildungswesens .........
242 244 245 245 251 251
VI. Die föderale Schul verfassung in der Bundesrepublik Deutschland - im Spannungsverhältnis von Sozialstaat und bürgerschaftlichem Grundrechtsverständnis ................................................................
253
1. Die historische Entwicklung des Bildungswesens .................
253
2. Die Schulaufsicht als Steuerungsinstrument des staatlichen Schulwesens ...........................................................................
255
3. Neuere Entwicklung der Stärkung der Selbstgestaltung und Eigenverantwortung der staatlichen Schule ...........................
259
4. Die Einseitigkeit der bundes deutschen Reformdiskussion .....
262
5. Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ...........
266
a) Die Bedeutung der Schulen in freier Trägerschaft ............
266
Inhaltsverzeichnis
ll
b) Die verfassungs rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gründung und Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft .................................................................................
270
c) Das Recht zur Errichtung und Gründung von Schulen in freier Trägerschaft ............................................................
271
d) Beschränkungen der Gründungsfreiheit für reformpädagogische Grundschulen in freier Trägerschaft ......................
272
e) Leistungsansprüche aus Art. 7 Abs. 4 GG und das Selbstgestaltungsrecht des Schulträgers .......... ........................ ..... (1) Die Ausgestaltung des Kostenerstattungsverfahrens
273 275
(2) Die Zulässigkeit von Wartefristen bis zum Einsetzen der Regelförderung .......... .........................................
278
6. Minderheitenschutz im Bildungswesen .................................
281
a) Das dänische Schulwesen in Schieswig-Hoistein ............
281
b) Das sorbische Schulwesen in Brandenburg und Sachsen.
283
c) Die Rechte der islamischen Schüler .................................
283
7. Die Widersprüchlichkeit bundesdeutscher Schulverfassung ..
284
VII. Zentralistisch-etatistische Schul verfassungen .................. ............
285
1. Das kommunitaristisch-zentralistische Bildungswesen in Frankreich ..............................................................................
285
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens Laizität und Nationalerziehung ........................................
285
b) Der große Kulturstreit um das Verhältnis von staatlicher und katholischer Schule ................................ ....................
287
c) Die laizistische Schule und der Islam ...............................
290
d) Zentralismus und bürokratische Struktur der Bildungsverwaltung .............................................................................
293
e) Dezentralisierungstendenzen im staatlichen Schulsystem
295
f) Die Bedeutung und Ausgestaltung der Schulaufsicht ......
298
g) Mitwirkungsrechte der Eltern ...........................................
299
h) Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft .... (1) Die Bindung der Privatschulen an einen Vertrag mit dem Staat ................................................................... (2) Privatschulwesen und Schulvielfalt .......................... i) Minderheitenschutz im Bildungswesen .............................. j) Die zentralistische Starrheit des Bildungswesens ............
300 302 306 309 310
2. Schulverfassung in Italien ......................................................
311
a) Die zentral staatlichen Strukturen des Bildungswesens ....
311
b) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bildungswesens
313
c) Die Steuerung des staatlichen Schulwesens .....................
314
12
Inhaltsverzeichnis d) Sekundäre Bildungshoheit der autonomen Regionen mit Sonderstatut und Minderheitenschutz .............................. e) Autonomietendenzen im staatlichen Schulwesen ............. f) Die staatliche Schulaufsicht ...................... ........ ............... g) Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft (1) Errichtungsvoraussetzungen für nichtstaatliche Schulen ..................................................................... (2) Schulaufsicht, pädagogische Autonomie und das Anerkennungsverfahren für nichtstaatliche Schulen (3) Staatliche Finanzhilfe für nichtstaatliche Schulen .... h) Zum Verhältnis von Etatismus und Schulvielfalt .............
322 324 325
3. Griechenland ..........................................................................
327
a) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen des Bildungssystems nach Herstellung der Demokratie ......... b) Strukturen der staatlichen Bildungsverwaltung ................ c) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen .............. (1) Die Griindungsfreiheit für Privatschulen .................. (2) Pädagogische Freiheit der Privatschulen ................... (3) Berechtigungswesen und Privatschulfreiheit ............ (4) Die Bezuschussung privater Schulen ........................ d) Perspektiven der Schulverfassung ....................................
327 327 329 330 330 331 331 332
4. Luxemburg .............................................................................
332
a) Die zentrale Steuerung der Bildungsverwaltung .............. b) Die Rechtsstellung der Privatschulen ............................... (1) Griindungsfreiheit ..................................................... (2) Die Bezuschussung von Schulen je nach Vertragsstatus ......................................................................... c) Pädagogische Freiheit und Schulvielfalt ..........................
332 333 333 333 334
5. Das portugiesische Bildungswesen ........................................
334
a) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Schulverfassung ................................................................................... b) Die Struktur der Schulverwaltung und Gestaltungsmöglichkeiten der staatlichen Einzelschule ............................. c) Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ..... (1) Griindungsfreiheit ...................................................... (2) Die Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen ............ d) Entwicklungstendenzen der Schulverfassung ..................
316 317 319 320 320
334 336 337 337 337 339
6. Das spanische Bildungswesen ................................................
340
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens ................ b) Die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen des Bildungswesens ..........................................................
340 341
Inhaltsverzeichnis
13
c) Autonomiestatut und Zuständigkeiten im Bildungswesen d) Reformtendenzen im Bildungswesen ............................... e) Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ..... (1) Grundungsfreiheit ............................. ...... .................. (2) Pädagogische Freiheit, Schul vielfalt und die Bezuschussungsvoraussetzungen für Schulen in freier Trägerschaft .................................................... f) Perspektiven der Schulverfassung ....................................
347 351
VIII. Etatistisch-föderale Schul verfassungen ........................................
351
1. Das Schulwesen in der Schweiz .............................................
351
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens .. ..... ....
351
b) Die kompetenzrechtlichen Regelungen der Bundesverfassung für das Bildungswesen ............................................. c) Das Gebot weltanschaulicher Neutralität in der staatlichen Schule ............................................................................... d) Die staatliche Leitung des Schulwesens ........................... e) Elternrecht und Recht auf Bildung ................................... f) Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Unterrichtsfreiheit ............................................................. (1) Die kantonale Ausgestaltung der Unterrichtsfreiheit (2) Die Zulassung und Genehmigung privater Schulen .. (3) Die staatliche Schulaufsicht über das Privatschulwesen ......................................................................... (4) Die Bezuschussung von Schulen in privater/freier Trägerschaft ...... ..... ............ .......... ............................. (5) Berechtigungswesen ...................... .................... ....... g) Minderheiten im kantonalen Schulwesen ........ ................. h) Perspektiven des Bildungswesens ....................................
342 344 345 346
352 353 355 357 357 359 360 361 361 364 365 365
2. Das österreichische Bildungswesen .......................................
368
a) Verfassungsrechtliche Grundlagen .................................. b) Die bundes staatliche Kompetenzverteilung im Bildungswesen ................................................................................ c) Grenzen und Möglichkeiten einer stärkeren Autonomie der Schule ......................................................................... d) Die Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit ..................... (1) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Unterrichtsfreiheit .............................................................. (2) Die Verleihung des Öffentlichkeits rechts an Schulen in freier Trägerschaft ................................................. (3) Subventionierung der Schulen in freier Trägerschaft (4) Die Ungleichbehandlung kirchlicher und sonstiger Schulen in freier Trägerschaft ...................................
368 369 370 372 372 375 375 376
14
Inhaltsverzeichnis (5) Unterrichts freiheit und staatliche Schulaufsicht e) Die Freiheit des häuslichen Unterrichts ...........................
E.
380 382
f) Minderheitenschutz im Bildungswesen ...........................
383
g) Entwicklungstendenzen im Bildungswesen ..........................
384
Die Demonopolisierung des Bildungswesens und die Entwicklung von Schulvielfalt in den osteuropäischen Staaten ......................................... .
385
I. Die verfassungs rechtlichen Rahmenbedingungen des Systemwandels in den osteuropäischen Staaten ........... ............... .............
385
1. Demokratisierung des Bildungswesens .. ..... ... ....... .................
388
2. Demonopolisierung.. .... ...........................................................
390
3. Pluralisierung ..........................................................................
391
11. Darstellung der Schul verfassungen in den mittelosteuropäischen Staaten ............................... ...........................................................
392
1. Das polnische Bildungswesen ................................................
392
a) Die Entwicklung des Bildungswesens .............................. b) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Reform des Bildungswesens ..................................... ........ ....................
392
c) Das Bildungsgesetz von 1991 als Ausdruck der Vergesellschaftung des staatlichen Bildungswesens ........................ (1) Die Rechtsstellung der öffentlichen Schule .............. (2) Selbstverwaltungsstrukturen der öffentlichen Schulen (3) Die staatliche Schulaufsicht und Möglichkeiten schulischer Selbstverwaltung ................. ......... .......... d) Die Rechtsstellung nichtöffentlicher Schulen .................. (1) Die Gründung nichtöffentlicher Schulen .................. (2) Die Finanzierung der nichtöffentlichen Schulen ....... e) Die Rechtsstellung und Bedeutung der kirchlichen Schulen
394 395 399 400 400 402 402 403 405
f) Minderheitenschutz im Schulwesen .................................
406
g) Elemente einer bürgerschaftlichen Schulverfassung - Die Bedeutung der gesellschaftlichen und nichtöffentlichen Schulen für die Vielfalt im Bildungswesen ......................
406
2. Das ungarische Bildungswesen ..............................................
411
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens ...........
411
b) Pluralisierungstendenzen im sozialistischen Bildungssystem
411
c) Die Entwicklung des Bildungswesens seit 1989 ..............
414
d) Autonomie und Dezentralisierung des Bildungswesens ...
416
e) Formen und Rechtsstatus nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft .. ................................ ....................................
418
f) Minderheitenschulen ............................ ............................
420
g) Bildungspolitische Tendenzen ..........................................
420
Inhaltsverzeichnis 3. Das tschechische Bildungssystem .......................................... a) Zur historischen Entwicklung des tschechoslowakischen Bildungswesens ................................................................ b) Die Bildungsreform im Rahmen der 8ger Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei ................................... c) Bildungspolitische Rahmenbedingungen ......................... d) Selbstverwaltung der staatlichen Schulen ........................ e) Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ..... f) Die Bedeutung und Rechtsstellung der reformpädagogischen Schulen ........................................................ ........ g) Die Bedeutung der kirchlichen Schulen ........................... h) Minderheitenschutz im Schulwesen .... ............................. i) Perspektiven und neuere Entwicklungen der Schulverfassung ................................................................................... 4. Schul verfassung in der Slowakei ............................................ a) b) c) d)
15 421 421 422 425 427 429 431 432 433 433 435
Autonornietendenzen im staatlichen Schulwesen ......... .... Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ..... Rechte der nationalen Minderheiten in der Schule ........... Entwicklungsperspektiven der Schulverfassung ...............
436 437 438 439
5. Schul verfassung in der Russischen Föderation ...................... a) Der Strukturwandel vom sowjetischen zum russischen Bildungswesen .................................................................. b) Die rechtlichen Grundlagen der Reform des russischen Bildungswesens ................................................................ c) Die Grundzüge des Bildungsgesetzes von 1992 ............... (1) Rechtliche Grundlage für Selbstverwaltungsmöglichkeiten im staatlichen Schulwesen ........................ (2) Das Verfahren der Lizensierung, Registrierung, Attestierung und Akkreditierung ... ........................... d) Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft .... e) Minderheitenschutz .......................................................... f) Die Entwicklung von Schulvielfalt .................................. g) Die rechtlichen Konsequenzen der politischen Kontroverse um eine vermeintliche Privatisierung des Bildungswesens ............................................................................... h) Die russische Variante der bürgerschaftlichen Schulverfassung als Bildungsmarkt ....................................................
439 440 442 443 445 448 450 455 456
458 459
6. Die baltischen Staaten .................................................. ..... .....
460
a) Die Neuordnung der Schulverfassung in Estland ............. (1) Grundlagen der Schulverfassung .............................. (2) Unterrichtsfreiheit und Schulen in freier Trägerschaft
460 460 463
16
Inhaltsverzeichnis (3) Perspektiven der Schulverfassung ............................. b) Schulverfassung in Lettland .............................................. c) Schulverfassung in Litauen ..............................................
465 466 467
7. Schulverfassung in Rumänien ................................................
468
a) Normative Grundlagen des Bildungswesens .................... (1) Verfassungsrechtliche Grundlagen ................... ......... (2) Das Unterrichtsgesetz vom 24. Juli 1995 .................. b) Zentrale Steuerung und dezentrale Verwaltung des staatlichen Bildungssystems .................................................... c) Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft .... (1) Gründungsfreiheit ..................................................... (2) Finanzierung privater Schulen .................................. (3) Grenzen der pädagogischen Freiheit und die Aufsicht über die Privatschulen ............................................... d) Das Recht der nationalen Minderheiten ........................... e) Ansätze von Schulvielfalt am Beispiel der Waldorfpädagogik .........................................................................
468 468 469
Schlußbetrachtung - Die bürgerschaftliche Schul verfassung ............... .
479
Literaturverzeichnis ........... ...............................................................................
485
Sachwortregister ...............................................................................................
510
F.
470 471 471 471 472 473 473
A. Einführung Nach einem über 20jährigen Dornröschenschlaf erlebt die Bildungsdiskussion in Deutschland und Europa eine Renaissance. In der allgegenwärtigen Krise unseres Bildungssystems stellt sich die Frage, wie Schule pädagogisch besser, effektiver und kostengünstiger als bisher arbeiten kann. Die Antwort scheint weitestgehend vorgegeben: Die Schule muß selbständiger werden. Der deutsche Bundespräsident Roman Herzog hat mit seinem Plädoyer für einen "Aufbruch in der Bildungspolitik" Bildung zum nationalen Thema gemacht. Seine Forderung, die Schule müsse wertorientierter, praxisbezogener sowie leistungsorientierter und in die Freiheit entlassen werden, fand breite Zustimmung. Daß Herzog zugleich dem die Schulverfassung in Deutschland prägenden Glauben, das beste Bildungssystem könne nur vom Staat kommen, eine Absage erteilt und zur Ermutigung privater Initiativen aufgerufen hat, ist bezeichnenderweise in der bundesdeutschen Diskussion weitestgehend ausgeklammert worden. Die Kritik der gegenwärtigen Schulstrukturen gilt einer Bildungspolitik, die zu einer umfassenden Verrechtlichung und Bürokratisierung des Schulwesens geführt hat und dabei die Lembedürfnisse und Lebenswelt von Kindern zunehmend außer Acht läßt. Sie gilt einer Schule, die hilflos vor der durch die Scheinwelt unserer Mediengesellschaft und das Zerbrechen traditioneller Lebenszusammenhänge ausgelösten Orientierungslosigkeit von Kindern und Jugendlichen, in deren Folge Demotivation und Gewalt hervortreten, steht. Die Kemthese der nachfolgenden Ausführungen lautet, daß allein eine bürgerschaftlieh verfaßte Schule, in der Eltern und Lehrer auf der Basis einer gemeinsamen Grundüberzeugung im Rahmen gesamtgesellschaftlich verbindlicher Ziel vorgaben ein bestimmtes pädagogisches Schulprogramm eigenverantwortlich gestalten, den Anforderungen einer wert- und leistungsorientierten Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft entspricht. Die damit implizierte Wiedergewinnung des Erzieherischen darf aber keine Rückkehr zu traditionellen Autoritätsmustern bedeuten, sondern erfordert in einer pluralistischen Gesellschaft eine Vielfalt pädagogischer Profile. Gerade in einem wertorientierten Unterricht in Pluralität liegt die Herausforderung des Bildungswesens. Die in diesem Zusammenhang erhobene Forderung nach mehr Autonomie oder Selbstgestaltungsrechten der staatlichen Schule ist jedoch lediglich ein Aspekt der notwendigen Reformen. 2 lach
18
A. Einführung
Schulen können den heute an sie gestellten Anforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft nur gerecht werden, wenn anerkannt wird, daß die heutige Gesellschaft mehr denn je eine Verhandlungs-, denn eine Befehlsgesellschaft ist. Damit wandelt sich aber auch zwangsläufig der Rahmen, den man die sog. Schlüsselqualifikation nennt. Verhandlungsgesellschaften brauchen Persönlichkeiten, die gestalterisch tätig und sozialfähig sind und in denen die Selbstentfaltung des Kindes im Vordergrund und Mittelpunkt steht, womit nicht eine schrankenlose Selbstverwirklichung, sondern eine sozialverantwortliche Entwicklung gemeint ist. So bezeichnen Erziehungswissenschaftler wie Hurrelmann die Aufgabe der Schule heute als die Wahrnehmung pädagogischer Dienstleistung, die darin besteht, intellektuelle und soziale Lern- und Entwicklungsprozesse anzustoßen und zu begleiten I. Hierbei verweist Hurrelmann als exponierter Befürworter einer stärkeren Gestaltungsautonomie des staatlichen Schulwesens wie viele andere Autoren auf die besondere Vorbildfunktion der Schulen in freier Trägerschaft für eine Schulreform, weil diese aufgrund der bestehenden pädagogischen, personellen und ausstattungsbezogenen Freiräume wesentlich stärker "kundenorientiert und kundenfreundlich" arbeiten können als staatliche Schulen bisher. Die neue Schule hat eine Zukunft nur als bürgerschaftlich verfaßte Schule. Schulen in freier Trägerschaft und staatlich-kommunale Schulen, die eigenverantwortlich ihren Unterricht gestalten, sind insofern gleichermaßen für die bürgerschaftliche Schule signifikant. Die Schule muß sich von einer "hoheitlichen Unterrichtsanstalt zu einem öffentlichen pädagogischen Dienstleistungszentrum mit neuen Aufgaben und Möglichkeiten in neuen rechtlichen und organisatorischen Formen" wandeln 2 • Das Kennzeichen der Bürgergesellschaft, nämlich die verantwortete Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch direkte Beteiligung der Bürger, ist im Schulwesen von Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland oder Frankreich nur sehr rudimentär ausgeprägt. Dagegen sind innovative Schulsysteme wie in den Niederlanden, Dänemark oder Belgien und zunehmend auch in den übrigen skandinavischen Ländern durch den Wandel von einer etatistischen zu einer bürgerschaftlichen Schule geprägt. Auch in den mittelosteuropäischen Ländern finden sich heute Ansätze einer bürgerschaftlichen Schul verfassung.
I Hurrelmann, Klaus, Schulen sind pädagogische Dienstleistungsunternehmen, DLZ 47/48 1996, S. 24. 2 Jenkner, Siegfried, Wieviel Staat braucht die Schule? Internationale Entwicklungen und Perspektiven. In: BadertscheriGrunder (Hrsg.), Wieviel Staat braucht die Schule?Schulvielfalt und Autonomie im Bildungswesen. BernlStuttgartlWien, 1995, S. 111 (116); in diesem Sinne zu verstehen: Nordrhein-westfälische Bildungskommission, Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft". Neuwied 1995.
A. Einführung
19
In einer Zeit der allgemeinen Legitimationskrise der Schule kann die Schuld für das Versagen der Institution Schule nicht allein dem Staat auferlegt werden. Ist es nicht so, daß in der durch die historische Entwicklung angelegten Trennung der Erziehungsverantwortung zwischen Elternhaus und Schule das Scheitern der Erziehung vorgegeben ist, weil einerseits der Pluralisierung der erzieherischen Wertvorstellungen der Eltern kein Pendant in der Struktur des staatlichen Bildungswesens gegenübersteht und andererseits die Familie sich als Erziehungsträger zunehmend aus der Verantwortung zieht und die Gesellschaft die Schuld für das Versagen der Erziehung vornehmlich der Schule anlastet? Die Frage nach der Bürgerverantwortung für die Schule ist also nicht mit einer einseitigen Schuldzuweisung gegenüber der staatlichen Schule verbunden, sondern sie basiert darauf, ob es sich ein Gemeinwesen wirklich leisten kann, seine gemeinsame Erziehungsverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ohne echte Mitentscheidungsrechte der Lehrer, Eltern, Schüler und Kommunen einer bürokratischen Organisation zu übertragen, deren Handlungsmöglichkeiten aufgrund ihrer spezifischen Struktur als öffentlicher Verwaltungsträger zwangsläufig gering sind. Die Bürgerverantwortung für das Bildungswesen kann sich hierbei auf zwei Ebenen konstituieren: einerseits durch eine stärkere Beteiligung der Eltern innerhalb der staatlichen Schule, andererseits durch die selbstverantwortete Wahrnehmung von Bildung und Erziehung in Schulen in freier Trägerschaft. Bürgerverantwortung umfaßt nicht nur die Teilhabe an staatlichen Einrichtungen, sondern auch die selbstverwaltete Organisation von Bildungsprozessen in Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere wenn diese durch ein besonderes pädagogisches Konzept ausgewiesen sind. Der Schulverfassung kommt hierbei die Aufgabe zu, den Schulträgern die notwendigen Selbstgestaltungsrechte zu sichern und unter Achtung des Grundsatzes der Chancengleichheit den Eltern ein Wahlrecht nicht nur zwischen den verschiedenen Schulen und Schulformen in staatlicher Trägerschaft, sondern auch ein echtes Wahlrecht zwischen staatlicher Schule und Schule in freier Trägerschaft zu ermöglichen. Dieses impliziert Entscheidungsstrukturen, die grundSätzlich - im Rahmen gesetzlicher Mindeststandards - frei von staatlicher Beeinflussung sind. Durch das Recht der freien Schul wahl soll das Bildungswesen stärker nachfrageorientiert und nicht wie das klassisch-etatistische Bildungswesen angebotsorientiert sein. Die damit verbundene Kontroverse "Markt oder Staat" im Bildungswesen, die durch die scheinbar "weltweiten Tendenzen, die Ansätze zu marktorientierten Bildungsreformen erkennen lassen,,3, ausgelöst wurde, ist dabei jedoch nur eine vordergründige Betrachtungsweise der notwendigen Diskussion, ob Bil3 Mitter, Wolfgang, Staat und Markt im internationalen Bildungswesen aus historisch-vergleichender Sicht - Gegner, Konkurrenten, Partner. In: Bildung zwischen Staat und Markt, ZfP, 35. Beiheft. WeinheimlBasel1996, S. 125.
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dung als öffentliche Aufgabe durch staatliche oder freie Träger oder durch eine sinnvolle Partnerschaft verschiedener Institutionen erfüllt werden sollte. Eine stärkere Bürgerbeteiligung im Bildungswesen im Sinne echter Entscheidungsund Mitwirkungsrechte bedeutet nicht zwangsläufig "Vermarktung der Ware Bildung" und ist nicht primär eine Frage der Effizienz des Mitteleinsatzes, sondern eine demokratietheoretische Auseinandersetzung um die Bedeutung der Bürger- oder Zivilgesellschaft in einem sich wandelnden Bildungswesen. Hierbei ist ein Anwachsen des nichtstaatlichen Schulwesens in Form von Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft empirisch in allen europäischen Staaten seit den 60er Jahren nachweisbar. Ebenso ist in allen europäischen Staaten ein Trend zur Stärkung nicht nur der Eigenständigkeit der staatlichen Schule als solcher, sondern auch der Einflußmöglichkeiten der Eltern zu beobachten. Die bundesdeutsche Bildungsdiskussion leidet bisher unter einer Perspektivenverengung, weil sie allein nach mehr Gestaltungsräumen für die staatliche Schule fragt, ohne die bestehende Schulsystemverfassung insgesamt zu hinterfragen, wie es in den meisten anderen europäischen Ländern der Fall ist. Während in anderen europäischen Ländern im Rahmen neuer Formen der staatlichen Daseinsvorsorge unter dem Stichwort "Public Management" sowohl eine umfassende Autonomie der staatlichen Schulen als auch eine weitreichende Gleichstellung der Schulen in freier Trägerschaft mit staatlichen Schulen nicht nur diskutiert, sondern massiv forciert wurde, verharren die deutsche Bildungspolitik ebenso wie weite Teile der Erziehungswissenschaft sowie der Staatsund Verfassungsrechtslehre weitestgehend in ihrem konservativen Staatsrechtsverständnis im Schulwesen. Autonomietendenzen im staatlichen Schulwesen wird der historische Begriff der staatlichen Schulaufsicht, wie er seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 Gültigkeit beansprucht, entgegengehalten, zu weit reichenden Reformüberlegungen werden insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken entgegengesetzt und Schulen in freier Trägerschaft noch immer nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert. Demgegenüber ist es notwendig, die Schulverfassung in einer grundsätzlichen Perspektive im Wandel von der Schule als Angelegenheit des Staates zur Schule in der Bürgergesellschaft zu betrachten. Die nachfolgenden Ausführungen werden nach einer demokratietheoretischen Betrachtung den Blick über die Grenzen öffnen, indem die Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Bürger in den anderen europäischen Ländern unter den entwickelten Fragestellungen näher betrachtet werden. Hierbei stößt die systematisierende Rechtsvergleichung jedoch an soziokulturelle Grenzen, als heute auch in der rechtsvergleichenden Bildungsforschung weitestgehend Konsens in der Einschätzung besteht, "daß ein reiner Vergleich von Systemen, Strukturen, Lehrplänen oder auch von Rechtstiteln oder Fachbegriffen sehr irreführend sein kann. Historische, verfassungsmäßige
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und soziale Unterschiede sind so groß, daß Ähnlichkeiten oder Gegensätze, die zunächst nur vermutet werden, in Wirklichkeit nicht bestehen,,4. Des weiteren muß jede rechtsvergleichende Untersuchung der verschiedenen schulverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für das Verständnis bildungspolitischer Entwicklungen den Grad gesamtgesellschaftlicher Konsensbildung berücksichtigen. Schulpolitische Entscheidungen und Entwicklungen, die in Gesetzen ihren normativen Ausdruck finden, können entweder aufgrund kontroverser Entscheidungsfindung mit einem Durchsetzungspotential der gerade jeweils herrschenden Mehrheit getroffen werden, oder sie können Ausdruck einer besonderen Konsenstheorie dergestalt sein, daß bildungspolitische Änderungen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden müssen. Letzteres bewirkt, daß schulverfassungsrechtliche Strukturen wesentlich schwerer im politischen Prozeß geändert werden können, als dies bei einer kontroversen Entscheidungsfindung der Fall ist. Beispielländer für eine kontroverse Entscheidungsfindung sind aus dieser Sicht England und Frankreich, wo die verschiedenen politischen Lager sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Bedeutung des Staates im Bildungswesen haben und gerade die kontrovers geführte Diskussion über den Reform Act von 1988 in England als Beleg dafür gelten kann, daß für die damit verbundenen weitreichenden Änderungen des britischen Schulwesens kein gesellschaftlicher Konsens bestanden hat. Völlig anders dagegen das Konsensverständnis etwa in Dänemark, wo es "undenkbar (wäre), eine Schulreform ohne die Zustimmung der Opposition im Parlament durchzuführen,,5. Während dieser Konsens in Dänemark auf einem ungeschriebenen, von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verinnerlichten nichtnormativen Verständnis beruht, ist er in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland oder Österreich verfassungsnormativ vorgegeben. In beiden Ländern sind Änderungen der jeweiligen einschlägigen Schulverfassungsartikel, die die Struktur des Bildungswesens ungeachtet der Bundesstaatlichkeit bei der Länder determinieren, nur mit einer verfassungsändemden Mehrheit von 2/3 der Parlamentsabgeordneten möglich. Dies schließt zwar einerseits eine Majorisierung aus, impliziert aber andererseits auch eine gewisse Starrheit gegenüber bildungspolitischen Veränderungen, weil das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein nicht auf einem Konsens in bildungspolitischen Fragen, sondern auf einer Streitdemokratie zwischen den verschiedenen politischen Parteien beruht. Nicht zuletzt muß darauf hingewiesen werden, daß die nachfolgenden Betrachtungen auch davon abhängig waren, inwieweit ein Zugriff auf die jeweili4 Morris, Robert, Die Entwicklung der Bildungssysteme im internationalen Vergleich (Buchbesprechung), RdJB 1995, S. 207 (212). 5 Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark. In: Seyfahrt-Stubenrauch, Eckhardl Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996. Bd. 2, S. 437.
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gen nationalen Gesetze, Veröffentlichungen etc. sprachlich möglich war. So ist an der einen oder anderen Stelle in den Analysen der jeweiligen Länder ein Ungleichgewicht festzustellen, für welches der Autor um Nachsicht bittet.
B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft I. Die Bedeutung der Diskussion über die Bürgergesellschaft für das Bildungswesen In Anknüpfung an traditionelle Pluralismus- und Demokratietheorien hat seit Beginn der 90er Jahre in der allgewärtigen Erkenntnis des Scheiterns klassischetatistischer Staats- und Gesellschaftskonzeptionen eine qualitativ neue Diskussion über das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung in demokratischpluralistischen Gesellschaften eingesetzt. Diese Diskussion polarisiert sich im Kern um die Frage, inwieweit neben die klassischen Formen der parlamentarischen Demokratie und die wesentlich über parteipolitische WiIIensbildungsprozesse verlaufenden Gestaltungskräfte für die verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereiche ein Selbstbestimmungsrecht der Bürger in autonomer Selbstverwaltung treten kann und muß, um der Vielfalt der gesellschaftlichen Wertvorstellungen gerecht zu werden und den Staat von einer nichteinlösbaren Omnipotenz zu entlasten. Diese Diskussion ist gekennzeichnet durch die Begriffe der "CiviI Society", "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft". Ebenso wie es keine einheitliche Terminologie dieses Begriffs gibt, unterscheiden sich die inhaltlichen Konzepte der Zivil- oder Bürgergesellschaft in wesentlichen Punkten. Gesellschaftstheoretisch finden sich sowohl Ansätze des politischen Liberalismus, des Kommunitarismus als auch der kritischen (Demokratie-)Theorie mit teilweise kontroversen Standpunkten I. Minimalkonsens ist dabei ungeachtet aller Unterschiede, daß die Civil Society oder Bürgergesellschaft im Bereich des öffentlichen Sektors, der weder privatistisch noch staatlich verstanden wird, durch die Existenz freier, gemeinwohlorientierter Vereinigungen, die nicht von der Staatsmacht oder partei pol itisch dominanten Interessen bevormundet werden und maßgeblich auf die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durch Selbstgestaltung Einfluß nehmen können, gekennzeichnet ist. Nach Dahrendorf2 wird die Bürgergesellschaft durch drei spezifische Merkmale charakterisiert: erstens, die Vielfalt ihrer Elemente dergestalt, daß es eine Fülle von Organisationen und Institutionen gibt, 1 s. hierzu auch Fein, ElkeiMatzke, Sven, Zivilgesellschaft - Konzept und Bedeutung für die Transformationen in Osteuropa, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Arbeitspapier 7/1997, S. 14 ff. 2 Dahrendorf, Ralf, Der modeme soziale Konflikt: Essay zur Politik der Freiheit. Stuttgart 1992, S. 69 f.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
in denen Menschen im Wege der Selbstdefinition Dimensionen ihrer Lebensinteressen realisieren können; zweitens, die Autonomie dieser Organisationen, d.h. die Unabhängigkeit von einem staatlichen Machtzentrum, und zwar auch dann, wenn sie staatlich finanziert werden; drittens schließlich die Bereitschaft, Gestaltungsaufgaben selbst in die Hand zu nehmen und nicht primär zu fragen, was können andere, insbesondere der Staat für mich tun. Die Theorie der Ziviloder Bürgergesellschaft will damit sowohl Bürgernähe in Verantwortungsethik etablieren als auch kulturellen wie ethnischen Minderheiten oder marginalisierten Gruppen Artikulationsmöglichkeiten gewähren und parteipolitisch determinierten Machtstrukturen entgegenwirken. Ziel ist dabei letztendlich die Vergesellschaftung staatlicher Politikbereiche, einschließlich der Daseinsvorgsorge, die entweder vom Staat nicht ausreichend, d.h. problemadäquat, gelöst werden oder die durch eine partei politisch-staatliche Dominanz der Selbstdefinition und Partizipation der gesellschaftlichen Gruppen zuwiderlaufen. Die Forderung nach einer Neubelebung der Bürgergesellschaft als aktive Gestaltungspartizipation ist verfassungstheoretisch nicht nur die Konsequenz der Erkenntnis, daß sich eine freiheitliche Verfassung nur "am Leben erhalten (kann), wenn die Demokratie fest in einer Civil Society verankert ist,,3, sondern versucht die zunehmende Brüchigkeit der Legitimation staatlichen Handeins allein über Formen der repräsentativen Demokratie, die in einem teilweise dramatischen Rückgang der Wahlbeteiligung in allen demokratisch-repräsentativ verfaßten Staaten zum Ausdruck kommt, zu kompensieren. Hierzu bedarf es kleiner, überschaubarer Handlungszusammenhänge und Netzwerke, die nach dem Grundsatz der Subsidiarität Aufgaben der Daseinsvorsorge solange eigenverantwortlich wahrnehmen sollen und dürfen, wie sie in einer Gemeinwohlorientierung auf der Basis eines gesamtgesellschaftlichen common sense weder eine Partikularisierung noch eine soziale Elitenbildung betreiben. Angesichts des zunehmenden Scheiterns staatlich-zentralistischer Bildungspolitik, die wie kaum ein anderer Politikbereich auch in den westeuropäischen Verfassungsstaaten den Anspruch eines umfassenden Herrschaftsmonopols stellte, wobei die nichtstaatliche Schule allenfalls als notwendiges Übel bzw. Begleiterscheinung des verfassungsrechtlich garantierten Elternrechts LV.m. der Glaubensfreiheit akzeptiert wurde, ist heute die Frage der eigenverantwortlichen Wahrnehmung von Schule durch kleinere gesellschaftliche Gruppen, die eine bestimmte kulturell-pädagogische Identität in Anerkennung des normativ gesicherten commen sense artikulieren wollen, virulenter denn je. Um so erstaunlicher ist es, daß die Diskussion über die Bürgergesellschaft zumindest in Deutschland die Frage der Schulverfassung hinsichtlich der möglichen Bedeu3 Dahrendorf, Ralf, Die gefährdete Civil Society. In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - Castelgandolfo-Gespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 247 (157).
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tung nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft und der Idee des aktiv partizipierenden Bürgers in selbstorganisierten Assoziationen bislang weitestgehend außer acht läßt. Hierbei wird nachfolgend im wesentlichen im Sinne eines normativen Ansatzes danach gefragt, inwieweit im Verhältnis zwischen staatlicher Regulierung und gesellschaftlichem Pluralismus eine Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstverantwortung besteht, die gleichwohl der sozialstaatlichen Verpflichtung der Sicherung von Chancengleichheit gerecht wird. Insofern knüpft der Begriff der Bürgergesellschaft analytisch an die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft an, ohne jedoch beide Bereiche statisch von einander abzugrenzen, und eröffnet so die Möglichkeit von Willensbildungsprozessen von der Gesellschaft zum Staat hin4 . Perspektivisch geht es um die Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung in dem Gedanken, "daß die Gesellschaft nicht identisch ist mit ihrer politischen Organisation,,5 und gesellschaftliche Lebensbereiche nicht primär für die Bürger, sondern durch die Bürger selbst gestaltet werden sollten. Den Kern und die substantielle Grundlage der Bürgergesellschaft bilden insofern nicht mehr primär die ökonomisch determinierten Waren- und Tauschverhältnisse der klassisch als "bürgerliche Gesellschaft" definierten kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern in Weiterentwicklung des auf die ökonomische Sphäre begrenzten Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft wird die Zivil- oder Bürgergesellschaft geprägt durch gesellschaftliche Assoziationen, die sich eben gerade nicht im Rahmen eines unmittelbar ökonomisch geprägten Beziehungsgeflechts konstituieren, sondern die sich im weitesten Sinne an der kulturellen, religiösen und humanitären Weiterentwicklung der Gesellschaft unabhängig von staatlichen Instanzen beteiligen wollen und deren Selbstverständnis von dem gleichberechtigten Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe, kultureller Handlungsorientierungen und weltanschaulich-existentieller Grundorientierungen geprägt wird 6 . In diesem Kontext kann man zwar formal von einer Bürgergesellschaft schon immer dann reden, wenn es die Möglichkeit an sich gibt, vom Staat unabhängige Organisationen zu gründen und zu unterhalten. Substantiell strebt eine Gesellschaft jedoch nur dann zur Bürgergesellschaft oder Civil Society (im engeren Sinne), wenn "die Gesamtheit der Vereinigungen den Gang der staatlichen Politik signifikant bestimmen oder modulieren kann"?, wobei der Begriff 4
s. hierzu näher lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot. Berlin
1991, S. 13 ff.
S Taylor, Charles, Die Beschwörung der Ci vii Society. In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - Castelgandolfo-Gespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 52 (62). 6 s. hierzu Haberl1UJS, Jürgen, Faktizität und Geltung - Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. FrankfurtJM. 1992, S. 443 ff. 7 Taylor, Charles, Die Beschwörung der Ci vii Society, S. 52 (57).
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
der Vereinigung in dem hier gemeinten Gedankengang nicht im Sinne des Parteien- und Verbändestaates gedacht und auf diesen reduziert werden darf, sondern die Möglichkeit der bürgernahen Selbstdefinition insbesondere in Form von Selbstverwaltungskörperschaften meint. In dem Begriff der Bürgergesellschaft liegt damit eine wesentliche Erweiterung des klassischen Prinzips der liberalen, durch das Gestaltungsmonopol der jeweils herrschenden politischen Mehrheit geprägten parlamentarischen Demokratie, die über das Instrumentarium eines umfassenden Grundrechtsschutzes die Sicherung eines autonomen Lebensraumes vor der gesetzgebenden Mehrheit anstrebte 8 . Das Modell des Bürgergesellschaft will dieses Konzept der Sicherung individueller Freiheit in ein prozeduales Beteiligungsverfahren zugunsten aller Bürger unabhängig von politischen Mehrheiten weiterentwickeln und beschränkt damit die Funktion des Staates wesentlich auf die Ressourcensteuerung und die - gleichwohl unabdingbare und nicht in Frage gestellte - Gemeinwohlsicherung. Hierbei greifen zwei Aspekte ineinander. Zum einen geht es um die Gewährleistung von - wie ich es nennen möchte - aktiven Bürgerrechten, die tendenziell darauf abzielt, die Bürger selbst Herrschaft im Sinne von Gestaltungsbefugnissen ausüben zu lassen9 , um von der einseitig ökonomischen zur politischen bürgerlichen Gesellschaft zu gelangen. In diesem Sinne wäre die Aufgabe der Grundrechte funktionell darin zu sehen, prozedual auch im Schulwesen Pluralität im Sinne einer Selbstorganisationsfähigkeit zu gewähren lO . Damit verbunden ist der Aspekt der Dezentralisierung 1\ um die für autonome Entscheidungen notwendigen Willensbildungsprozesse nah an den jeweiligen Lebensbereichen treffen zu können, womit sich beide Aspekte mit dem Gedanken der Subsidiarität verbinden. Staatstheoretisch und bildungspolitisch korrespondiert das Prinzip der Bürgergesellschaft hierbei eng mit dem demokratietheoretischen Selbstverständnis des säkularisierten Subsidiaritätsprinzips 12, bei dem das Prinzip der gesell8 Zum traditionellen Verständnis in europäischer Dimension s. Mayer-Tasch, P.C., Europäische Verfassungshomogenität als politisches Erbe. In: ders., Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975, S. 27. 9 s. hierzu Koselleck, Reinhart, Drei bürgerliche Welten? In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - Castelgandolfo-Gespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 118 (120 f.). \0 Vgl. schon lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, in rechtstheoretischer Perspektive s. hierzu auch Ladeur, Karl-Heinz, Postmoderne Rechtstheorie. Berlin 1992, S. 185 (206). 11 Auf die besondere Bedeutung der lokalen Selbstverwaltung für die (amerikanische) Civil society weist Dahrendorf hin, Dahrendorf, Ralf, Die gefährdete Civil Society, S 247 (259). 12 Zu den Ursprüngen und der verengenden Interpretation durch die katholische Soziallehre s. lach, Frank-Rüdiger, Das neue Subsidiaritätsprinzip im Gemeinschaftsrecht, RdJB 1992, S. 493 f.; lenkner, Siegfried, "Respektierung der Vielfalt" und "Subsidiari-
I. Diskussion über die Bürgergesellschaft
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schaftlichen Selbstorganisation als horizontales Subsidiaritätsprinzip von grundlegender legitimatorischer Bedeutung ist und das vertikale Subsidiaritätsprinzip im Sinne möglichst weitreichender Dezentralisierung entscheidend erweitert l3 : ,,Auch die 'CiviI Society' ist als ein außerstaatlicher Integrationszusarnmenhang ohne Subsidiarität nicht denk- und/oder machbar".l4 Das Subsidiaritätsprinzip, das ungeachtet der verschiedensten Interpretationsmuster als Minimalkonsens für die Organisation von Staat und Gesellschaft vom prinzipiellen Vorrang der jeweils kleineren oder dem zu regelnden Sachgebiet näheren Einheit vor der Regelung durch eine größere Einheit ausgeht, solange die Aufgabe dort adäquat gelöst werden kann, wird gegenwärtig allgemein als ein konstitutionelles Instrument gesehen, die Vielfalt Europas im europäischen Integrationsprozeß zu wahren und einer Kompetenzanmaßung der Organe der Europäischen Gemeinschaft entgegen zu wirken. Vergegenwärtigt man sich die Ursprünge des Subsidiaritätsprinzips, welches sich schon bei Thomas von Aquin findet und in der Staatsrechtslehre des Liberalismus entwickelt l5 und später von der katholischen Soziallehre aufgegriffen wurde, so zeigt sich, daß sich das klassische Verständnis von Subsidiarität keinesfalls nur auf das Verhältnis von Bundesstaatlichkeit zu föderalen und regionalen Untergliederungen, also das Problem der staatlichen Dezentralisierung, beschränkt, sondern staatsrechts theoretisch wesentlich durch die Frage des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum geprägt ist l6 . Auch in der bildungspolitischen Diskussion gewinnt das Subsidiaritätsprinzip wieder an Bedeutung 17 • Das horizontale Subsidiaritätsprinzip ist hierbei davon geprägt, daß "vor allem auch die hergebrachten Vorstellungen von der tät" als Grundprinzipien der Bildungspolitik in der Europäischen Gemeinschaft. In:
Neumbach, Ulrich (Hrsg.), Informationes Theologiae Europae. FrankfurtlM., u. a. 1993,
S. 163 (164 ff.). 13 s. hierzu lach, Frank-Rüdiger, Das neue Subsidiaritätsprinzip, S.493 (494); lenkner, Siegfried, Europäische Perspektiven der Freiheit der Erziehung, PSOW 1993, S. 55 (59); Waschkuhn, Arno, Was ist Subsidiarität. Opladen 1995, S. 109 ff. 14 Waschkuhn, Arno, S. 122. 15 Zu den über die päpstlichen Enzyklika hinausgehenden Ursprüngen bis hin zu Thomas von Aquin s. Blanke, Hermann-Josef, Das Subsidiaritätsprinzip als Schranke des europäischen Gemeinschaftsrechts?, ZG 1991, S. 133 (134), Fn. 9; Herzog, Roman, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, Der Staat 1963, (Anm. 1), S.399, Fn. 1; Hochbaum, Ingo, Kohäsion und Subsidiarität, DÖV 1992, S. 285 (288); bezogen auf das Bildungswesen s. hierzu auch Bärmeier, Erich, Liberalität im Bildungswesen, Liberal 1995, S. 24 (25), der auf die liberalen Konzeptionen von Humboldts, vom Steins und Schleichermachers hinweist. 16 s. hierzu Herzog, Roman, S. 399 ff. sowie die grundlegende Arbeit von lsensee, Josef, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968. 17 Hierzu grundlegend auch lenkner, Siegfried, Respektierung der Vielfalt, S. 163 ff.; s. a. Füssel, Hans-Peter, Von der verwalteten Schule, Pädagogisches Forum 1996, S. 67 (69).
B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
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Souveränität der Staatsgewalt in Frage gestellt werden,,18 und bei "diesem Verständnis ... nicht mehr die Aufgabenträger, sondern die Aufgaben gegliedert (werden),,19. Das horizontale Subsidiaritätsprinzip betont - über den föderalen Aspekt hinaus - den prinzipiellen Vorrang individueller Handlungsautonomie und beschränkt staatliche Handlungsformen generell auf eine lediglich subsidiäre Stufe. Hierbei sind insbesondere die gegenüber der Interpretation des Subsidiaritätsprinzips durch die katholische Soziallehre vorgebrachten Einwände und der darin gesehenen Tendenzen, das staatliche Machtmonopol in Frage zu stellen2o, insoweit berechtigt, als es dieser im Gegensatz zum liberalen Verständnis des Subsidiaritätsprinzips nicht um individuelle und gesellschaftliche Handlungsautonomie geht, sondern um die "Rückbindung" des einzelnen an die verbindlichen Glaubenssätze der Kirche und die daraus folgende Weisungsgebundenheit für das Individuum als Ausdruck der dem Staat vorgelagerten, von Gott geschaffenen objektiven Weltordnung. Aufgrund der unabdingbaren Voraussetzung der institutionellen Sicherung pluralistischer Strukturen für die Verwirklichung der Zivil- oder Bürgergesellschaft ist der moderne Verfassungsstaat nicht allein wegen seiner demokratischen Willensbildungsprozesse legitimiert, die es der parlamentarischen Mehrheit jeweils gestatten würden, ihre weltanschaulichen Wertvorstellungen majorisierend mittels Politik umzusetzen, sondern der moderne Staat erfährt seine innere Legitimation aus seiner weltanschaulichen Neutralität, die nur - sehr begrenzt - auf der Basis der Menschenrechte und des Toleranzgebotes moralischethische Prinzipien als verfassungsrechtlich bindend konstituieren kann. Diese ist jedoch in der Bürgergesellschaft nicht als negative Neutralität zu definieren, sondern kann nur als positive Neutralität in dem Sinne verstanden werden, daß der Staat verpflichtet ist, sich in neutraler Akzeptanz einer Bewertung oder Bevorzugung verschiedener weltanschaulicher, religiöser oder pädagogischer Wertorientierungen zu enthalten und allen Richtungen gleichberechtigt ihre Verwirklichung zu ermöglichen. In diesem Sinne lebt die Bürgergesellschaft von dem Prinzip des kulturellen Trägerpluralismus als Strukturelement eines offenen Kulturverfassungsverständnisses 21 . Das Prinzip der Bürgergesellschaft und seine Verpflichtung auf den politischen Pluralismus war der Focus der Demokratiebewegung in den osteuropäischen Staaten als Gegenpol zur Macht des kommunistischen Staates22 . Ziel war Herzog, Roman, S. 417. Herzog, Roman, S. 406 f. 20 s. Herzog, Roman, S. 399. 21 In diesem Sinne schon Häberle, Peter, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöffR 32/1983, S. 304 (328). 22 s. hierzu von Beyme, Klaus, Systemwechsel in Osteuropa. FrankfurtlM. 1994, S. 101; Kahl, Wolfgang, Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassun18
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und ist die Etablierung einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Bürger aus ihrer Objektstellung befreit und als selbstverantwortlich handelnde Subjekte an dem politischen und gesellschaftlichen Leben aktiv selbstgestaltend mitwirken können. Dieses Ziel ist kennzeichnend nicht nur für die Neugestaltung der osteuropäischen Staaten, sondern zugleich Herausforderung für die Weiterentwicklung der westlichen Demokratien. "Die moderne Demokratie besteht in der Selbstorganisation einer Bürgerschaft im Medium positiven Rechts".23 Mit der Etablierung pluralistischer, demokratischer Strukturen hat sich in den mittelosteuropäischen Staaten mit einer Verzögerung von über 130 Jahren gegenüber den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Gesellschaft in neuer Weise konstituiert. Die Bürgerrechtsbewegungen in diesen Staaten proklamierten die Bürgerverantwortung als Verfassungsprinzip und haben damit eine besondere Qualität gehabt, deren politische Realisation heute freilich weitestgehend durch die Transformationsprozesse aus den westeuropäischen Staaten und den Vereinigten Staaten von Amerika und der damit einhergehenden Gleichsetzung von Markt und Freiheit determiniert scheint. In Abkehr von der sozialistisch-materialistischen Gesellschaftstheorie, die den Staat als Instrument zur Formung eines universalistischen gesellschaftlichen Einheitswillens zur widerspruchsfreien Transformation der gesellschaftlich herrschenden Wertvorstellungen nicht zuletzt mittels Schule benutzte, für die abweichende kulturelle und pädagogische Konzepte und Realitäten keine Legitimation besaßen, geht das Prinzip der Zivil- oder Bürgergesellschaft gerade von der Legitimität unterschiedlicher kultureller und damit auch pädagogischer Wertvorstellungen aus. In diesem Sinne ist der Begriff der Bürgergesellschaft auch durch die westeuropäischen Intellektuellen aufgenommen worden, um jenseits gescheiterter sozialistischer Utopien die erstarrten westlichen Demokratien weiterzuentwickeln und an die seit den 70er Jahren sich entwickelnde politische Kultur der nichtstaatlichen Selbstorganisation auf freiwilliger Basis anzuknüpfen und diese in ein gesellschaftspolitisches Konzept zu transformieren24 . Dementsprechend konstituiert Dahrendorf die historische Erfahrung, daß "monopolitische Herrschaft, sei sie autoritär oder totalitär, immer Gefahr (läuft), einen Irrtum zur Staatsräson zu erheben ... Sinn der Demokratie ist es, die Möglichkeit zu schaffen, Regierungen abzulösen, ohne daß Blut fließt oder unnötiges Leid verursacht wird ... Sinn der Bürgergesellschaft ist es, vielen Gruppen Luft zum Atmen und zum Wirken zu eröffnen, so daß keine sich als gen Osteuropas: Eine Studie am Beispiel Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Russland. Berlin, 1994, S. 64; Geremek, Bronislav, Die Grenzen Europas - Ein Gespräch. In: Foucher, M./Geremek, B., Freibeuter 52/1992, Osteuropa - Eine Entgiftung, S. 33 (35).
23 Brunkhorst, Hauke, Demokratie als Solidarität unter Fremden - Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus,. In: Aus Politik und Zeitgeschehen B 36/1996, S. 21 (26). 24 Hierzu kril. von Beyme, Klaus, S. 104 f.
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Tyrann aufspielen kann,,25. Für die Bürgergesellschaft ist die Anerkennung des pluralistischen Prinzips und der Autonomie der einzelnen gesellschaftlichen Mitglieder, Gruppen und Gemeinschaften ungeachtet einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft als Einheit und der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Minimalkonsenses schlechthin konstituierend26 . Hierbei ist nochmals darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Bürgergesellschaft nicht gleichzusetzen ist mit dem der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung, sondern der Begriff der Bürgergesellschaft geht aus von einem Verständnis einer Gesellschaft, die durch die Existenz autonomer, d.h. nicht staatlich oder in anderer Weise zentral geleiteter Organisationen und Institutionen des Volkswillens geprägt ist und so in der Verbindung mit dem demokratischen Prinzip Freiheit27 durch politische Bürgerrechte im Sinne von Teilhaberechten28 verwirklicht. Ziel und Selbstverständnis der Bürgergesellschaft sind zugleich pluralistisch und anti-etatistisch. "Es soll Formen der Assoziation geben, nationale, regionale, lokale, berufliche, die freiwillig, authentisch, demokratisch und, zuerst und zuletzt, nicht kontrolliert oder manipuliert sind von der Partei oder ihrem Staat,,29. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Verfassungen und Gesellschaften in Westeuropa, so zeigt sich jedoch, daß ungeachtet des gemeinsamen Grundkonsenses sehr unterschiedliche Vorstellungen in den einzelnen Staaten darüber herrschen, wieweit diese Prinzipien der Bürgergesellschaft wirksam werden sollen. Unter diesen Aspekten spielte der Begriff der Bürgergesellschaft nicht nur für die gesamtgesellschaftlichen Umwandlungsprozesse in Osteuropa eine herausragende Rolle, sondern war für die Neuordnung der Bildungssysteme in den osteuropäischen Staaten ein Schlüsselbegriff von besonderer Bedeutung, der insbesondere die Forderung nach einer Entstaatlichung und Dezentralisierung von Bildungsprozessen zum Gegenstand hatte3o . Dahrendorf, Ralf, Der modeme soziale Konflikt, S. 261. s. hierzu Shits, Edward, Was ist eine Civil Society? In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - Castelgandolfo-Gespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 20 ff. 27 Dahrendorf, Ralf, Die gefährdete Ci vii Society, S. 247 (255, 261 f.). 28 Dahrendorf, Ralf, Die gefährdete Civil Society, S. 247 (255). 29 Dahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt, S. 68, unter Bezugnahme auf 25
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Timothy Garton Ash. 30 s. z. B. zur ungarischen Entwicklung Bessenyei, Istvan, Bildungspolitik zur Zeit der politischen Wende in Ungarn. In: Anweiler, Oskar (Hrsg.), Systemwandel im Bildungs- und Erziehungswesen in Mittel- und Osteuropa. Berlin, 1992, S. 152; zur polnischen Entwicklung s. Geremek, Bronislaw, Die Civil Society gegen den Kommunismus: Polens Botschaft In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - Castelgandolfo-Gespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 264 (271); Jenkner, Siegfried, Europäische Perspektiven, S. 55 (60).
I. Diskussion über die Bürgergesellschaft
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Vergleicht man die verschiedenen Bildungssysteme innerhalb Westeuropas und innerhalb der sich entwickelnden differenzierten Strukturen in den osteuropäischen Staaten, so zeigt sich, daß diese in einem Annexverhältnis zu dem zu stehen scheinen, wie Bürgergesellschaft unter dem Aspekt der Autonomisierung von gesellschaftlichen Lebensbereichen - in sehr unterschiedlicher Weise3! - verstanden wird. An der Frage der Autonomie von Schule und der Verwirklichung schulischer Vielfalt im Sinne wertbezogener Erziehungsprozesse manifestiert sich das grundlegende Spannungsverhältnis der Bürgergesellschaft zwischen Autonomiesierungsansprüchen, denen die Gefahr des Partikularismus und damit der Destabilisierung innezuwohnen scheinen, und den Ansprüchen gesarntstaatlicher Basiswerte. So sehen die Befürworter eines staatlichen Schulsystems in der Schule eine sozial allgemein bindende soziale Institution, deren Aufgabe es sei, "sich vermittels eines Systems öffentlicher Schulen mit der Vermittlung von Wertvorstellungen, Wissen und Können für alle zu befassen, wobei Aspekte von Minioritätenkulturen den Entscheidungen innerhalb des Schulcurriculums überlassen bleiben sollten oder von der Familie und anderen außerschulischen Gruppen zu übernehmen seien,,32, m.a.W. in der schulischen Gesarntstruktur keinen eigenständigen Verwirklichungsanspruch haben sollen. Demgegenüber insistiert das Prinzip der Schul vielfalt auf der gleichberechtigten Realisierung, nicht nur Berücksichtigung und Tolerierung unterschiedlicher kultureller Identitäten hinsichtlich der Tradierung pädagogischer Wertvorstellungen, die - um Mißverständnissen vorzubeugen - in den gesamtgesellschaftlichen Konsens des zivilisatorischen Minimums eingebunden sein müssen. Dies bedeutet, daß gesamtgesellschaftlich zwar ein Konsens hinsichtlich des übergeordneten, allgemeinen Erziehungsauftrags herrschen muß, daß es jedoch den gesellschaftlichen Gruppen selbst überlassen sein muß, wie dieses Ziel pädagogisch umgesetzt wird und mit welchen Binnendifferenzierungen Erziehungsziele wie Mündigkeit besetzt werden. Insofern ist Schul vielfalt als Basis der Bürgergesellschaft in der Ablehnung eines kulturellen Universalismus nicht lediglich als atomisierender Partikularismus und Individualismus zu verstehen, die zu gesellschaftlicher Instabilität führen, sondern verwirklicht einen "gelebten Basiskonsens" i. Seiner identifikatorisch gesetzten Gemeinsamkeie 3, der jedoch seine Existenzberechtigung selbst erst aus der Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit individueller Selbstverwirklichung innerhalb unseres Verständnisses von Menschenwürde erfährt. 31 s. hierzu Taylor, Charles, Die Beschwörung der Civil Society, S. 52 (68 ff.), der die Konstruktion von Civil Society in einen L- (Lockes) und einen M-Strang (Montesquieu) unterscheidet. 32 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität. Ein internationaler OECD-Bericht. FrankfurtlM. 1991, S. 143. 33 s. hierzu Reese-Schäfer, Walter, Verfassungsgebung aus gelebter Tradition. In: Kreuder, Thomas (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan. Marburg 1992, S. 42 (44).
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Das politische Konzept der Bürgergesellschaft zielt zunächst auf "die Garantie der zumindest begrenzten Autonomie für Organisationen, die zwar staatliche Mittel in Anspruch nehmen, aber nicht zugleich Staatseinrichtungen sind,,34. Es ist in der Begründung staatlicher Leistungspflichten zugleich die gesellschaftlich gebotene Weiterentwicklung traditioneller Grundrechtstheorie. Indem die staatliche Schule nicht mehr als Vermittlungsinstanz einer staatlich repräsentierten homogenen Werttradition in der Erziehung fungieren kann, verlangt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit über seinen Abwehrcharakter hinaus zur Sicherung der Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft institutionalisierte Möglichkeiten der Selbstdefinition, die über den Abwehrcharakter der Grundrechte hinausgehen und durch das Neutralitätsgebot im staatlichen Schulwesen nicht adäquat ausgefüllt werden können 35 . Deshalb ist es demokratietheoretisch mit dem Grundsatz der Bürgergesellschaft unvereinbar, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen sich einem staatlichen Schulmonopol unterwerfen oder sich nach staatlich vorgegebenen Unterrichtskonzeptionen verbindlich ausrichten müßten. Letztlich fragt die Schule der Bürger- oder Zivilgesellschaft dabei nach einer ,,zivilisierung der Politik und ihres Staates,,36. Bürgerverantwortung im Bildungswesen kann sich nur dort manifestieren, wo strukturell die Möglichkeit von Schulviel falt besteht. In einem unitaristischen Bildungswesen ist Bürgerbeteiligung weder erforderlich noch wünschenswert. Schulvielfalt kann sich aber strukturell nur dort entwickeln, wo Schulfreiheit durch Organisation und Verfahren normativ abgesichert ist. Hierbei scheint die Geschichte der Pädagogik zu belegen, daß die traditionelle Schulverfassung des bürokratischen Modells Äquivalent einer bestimmten pädagogischen Richtungsorientierung ist, innerhalb derer die Reformpädagogik auf der Strecke bleibt, weil diese zur Verwirklichung eine freiheitliche Schulsystemverfassung brauche7. Diese scheinbar auf den Streit traditionelle Pädagogik (was ist dies überhaupt?) versus Reformpädagogik ausgerichtete Gegenüberstellung wird jedoch durch ein übergreifendes pädagogisches Argument entschärft, nämlich durch die neueren Erkenntnisse der Bildungsforschung und Organisationsentwicklungsforschung, daß Bildungsprozesse jeglicher Art (also egal ob reformpädagogisch oder traditionell) nur dort gelingen können, wo eine gemeinsame Grundüberzeugung im Sinne eines gemeinsamen Ethos an einer Schule herrscht und eine freiheitliche Schulsystemverfassung nicht mehr nur Dahrendorf, Ralf, Der modeme soziale Konflikt, S. 271. lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, s. hierzu auch Ladeur, Karl-Heinz, Postmoderne Rechtstheorie, S. 183 ff. (206). 36 Wilke, Helmut, Ironie des Staates - Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt/M. 1996, S. 58. 37 Berg, Hans-Christoph, Schulfreiheit als reformpädagogische Zukunftsaufgabe. In: Röhrs, H./Lenhart, V. (Hrsg.), Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 217. 34
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11. Das Konzept der Bürgergesellschaft im Widerstreit
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eine Frage der Verwirklichung der Ideale der Reformpädagogik als einer pädagogischen Schule, sondern des Erfolges von Bildungsprozessen schlechthin ist. Hierbei ist aber wohl unbestritten, daß von den reformpädagogischen Schulen in freier Trägerschaft wesentliche Impulse für die gegenwärtig auch im Staatsschulwesen praktizierte Öffnung der Schule für neue, insbesondere handlungs- und umfeldbezogene Lernkonzeptionen, ausgehen. In dem hier vertretenen Modell bleiben staatliche und freie Schule gleichberechtigte Konstitutionsmomente der Schulsystemverfassung. Die Bürgergesellschaft lebt von der Möglichkeit der Selbstbestimmung, unterscheidet sich von der Marktgesellschaft jedoch dadurch, daß der Staat seine sozialstaatliche Funktion beibehält. Deshalb bedeutet Chancengleichheit in der Bürgergesellschaft im Bildungswesen auch einerseits chancengleicher Zugang zu allen angebotenen Schulformen unter gleichen materiellen Bedingungen und andererseits die Sicherstellung der schulischen Grundversorgung durch staatlich gelenkte Bildungseinrichtungen. Aufgabe des Staates bleibt es darüber hinaus, Chancengleichheit sicherzustellen und - was nicht übersehen werden darf - durch einen gemeinsamen Mindeststandard eine kulturelle Spaltung, die durch Schul vielfalt nicht zwangsläufig eintritt, aber ohne Gegensteuerung dazu führen kann, zu vermeiden.
11. Das Konzept der Bürgergesellschaft im Widerstreit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus Gleichzeitig mit der Diskussion über die Bürgergesellschaft oder Zivilgesellschaft ist von Amerika eine grundSätzliche staats theoretische Debatte über das Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung und gesellschaftlichem Gemeinsinn nach Europa, insbesondere auch nach Deutschland, getragen worden, die die gesellschaftspolitische Kontroverse der letzten Jahre im Diskurs über Liberalismus und Kommunitarismus dominiert. Jedoch ist diese Debatte für die bildungspolitische Diskussion in Deutschland und in den anderen europäischen Ländern in ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die gegenwärtigen Reformbemühungen, insbesondere um die "Autonomie" der staatlichen Schule und die Bedeutung von Schulen in freier Trägerschaft, bisher weder adäquat erkannt noch systematisch aufgearbeitet worden. Ausgangspunkt dieses Diskurses ist die Auseinandersetzung des Kommunitarismus mit dem herausragendsten liberalen Theoretiker John Rawls und seiner "Theorie der Gerechtigkeit". Der Vorwurf des Komrnunitarismus lautet, der politische Liberalismus führe vor dem Hintergrund eines (postmodernen) Werterelativismus, der die Demokratie auf bloße Verfahrensregeln reduziere, zu einer Atomisierung der Gesellschaft, die die Verantwortung der Bürger für das
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Gemeinwesen in einer den gesellschaftlichen Zusammenhalt existentiell gefährdenden Art und Weise aushöhle 38 • Hierbei ist das Feld der komrnunitaristisehen Kritik sehr weit gestreut und reicht von neokonservativer Wertekritik bis hin zu Ansätzen linksrepublikanischer Basisdemokratiemodelle. Bei alledem hat die kommunitaristische Kritik jedoch einen gemeinsamen Nenner: Durch eine Stärkung des Gemeinsinns müsse der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt werden, der durch einen wirtschaftspolitisch geprägten Neoliberalismus zerstört zu werden bedroht sei. Gegen diese Kritik am Liberalismus wenden sich Theoretiker wie Praktiker desselben mit der Erwiderung, diese Kritik des Kommunitarismus gehe am Wesen des staatstheoretisch gedachten Liberalismus vorbei, der stets Freiheit und Verantwortung als Einheit verstehe39 . Kernthese des Kommunitarismus ist dabei, daß die Integration eines politischen Gemeinwesens nur auf der Basis einer kulturell-sittlichen Gemeinschaft erfolgen könne. Der Pluralismus moderner Gesellschaften sei zwar eine wichtige Grundlage der Freiheit, doch dürfe die Idee des Gemeinwohls, die die Vielfalt partikularer Interessen reguliere, nicht noch weiter ausgehöhlt werden, da die Integrationskräfte heutiger Gesellschaften, die Gesellschaft und Nation einen, geschwunden seien40 • Das Pendel im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft sei zu weit in Richtung des ersteren ausgeschlagen. Doch in der Lösung dieses Problems gibt es auch innerhalb der komrnunitaristisehen Theorie keinen 'Königsweg' . Während der dogmatische Kommunitarismus hieraus die Notwendigkeit einer Identität der Wertvorstellungen des einzelnen und der Allgemeinheit fordert, versucht ein republikanisch orientierter Kommunitarismus diese Einheit nicht primär durch allgemeinverbindliche Werte, sondern durch Partizipation herzustellen41 • Das Prinzip der Bürgergesellschaft korrespondiert nach der hier vertretenen Ansicht sowohl mit den Gerechtigkeitsvorstellungen des politischen Liberalismus, wie sie von Rawls grundlegend erarbeitet wurden, als auch mit theoretischen Ansätzen eines prozedualen Kommunitarismus bzw. einer kommunitären oder deliberativen Demokratie. Nach Rawls ist das Faktum des Pluralismus "dauerhaftes Merkmal der politischen Kultur moderner Demokratien,,42. Diesen Pluralismus sieht Rawls dadurch charakterisiert, daß innerhalb eines - wie ich 38 s. hierzu als exponiertem Vertreter Taylor, Charles, Negative Freiheit?, 2. Auf!. FrankfurtlM., 1995, S. 176 f. (292 ff.). 39 s. hierzu im einzelnen die Beiträge in Chatzimarkakis, GeorgiosIHinte, Holger, Freiheit und Gemeinsinn - Vertragen sich Liberalismus und Kommunitarismus? Bonn 1997. 40 s. stellvertr. als exponiertem Vertreter des Kommunitarismus Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Stuttgart 1995, S. 17 (30). 41 s. hierzu auch Forst, Rainer, Kontexte der Gerechtigkeit. FrankfurtlM. 1996, S. 161 (355). 42 Rawls, lohn, Die Idee des politischen Liberalismus. FrankfurtlM. 1992, S. 298.
11. Das Konzept der Bürgergesellschaft im Widerstreit
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es nennen möchte - zivilisatorischen Mindeststandards eine Vielzahl grundsätzlich voneinander divergierender und in der konkreten Lebenswelt inkommensurabler Vorstellungen einer Konzeption "des Guten" nebeneinander existieren43 und es eine Frage der "politischen Gerechtigkeit" ist, inwieweit die Grundstrukturen des Verfassungsstaates den institutionellen Rahmen dafür schaffen, "innerhalb dessen die natürlichen Gaben und Fähigkeiten der Individuen entwickelt und ausgeübt werden und in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen existieren ,,44. Während der politische Liberalismus den Grundsatz des Pluralismus als existentielles Legitimationselement moderner Gesellschaft mit einbezieht, sieht der Kommunitarismus in kultureller Vielfalt per se ein - mehr oder weniger zu akzeptierendes Übel moderner Gesellschaften. Der Kommunitarismus ist von daher strukturell als dogmatische Position pluralismusfeindlich, weil er zu einem Sittlichkeitspositivismus neigt, der apriori auf der Seite der Mehrheit stehend Minderheitenrechte tendenziell negiert. Dies ist in unserem Zusammenhang deshalb von besonderer Bedeutung, weil er das Ziel des "Gemeinschaftsmenschen" über erziehungspolitische Programme der Wertevermittlung zu verwirklichen sucht45 . Hinsichtlich der Sicherung des notwendigen gesellschaftlichen Konsenses geht auch Rawls davon aus, daß ungeachtet der verschiedenen Konzeptionen "des Guten" als "widerstreitender und inkommensurabler Vorstellungen von der Bedeutung, dem Wert und dem Zweck menschlichen Lebens,,46 ein übergreifender gesellschaftlicher Grundkonsens unerläßlich ist, der allerdings primär prozedual und nicht wertmaterial bestimmt ist47 . Insofern ist Rawls zuzustimmen, daß "das Problem der Gerechtigkeit (darin) besteht ... , faire Bedingungen sozialer Kooperation festzulegen,,48, andererseits bleibt es jedoch auch in diesem Rahmen notwendig, für den spezifischen gesellschaftlichen Lebensbereich eine hinreichend konkretisierte Antwort auf die notwendige Bestimmtheit des common sense zu geben, um zu verhindern, daß mangels eines gesellschaftlichen Basiskonsenses eine gesellschaftliche Instabilität eintritt49 . Zudem bleibt zu fragen, inwieweit die Pluralität moderner europäischer Gesellschaften wirklich durch verschiedene widerstreitende und miteinander inkommensurable Rawls, John, S. 174 (288, 298). Rawls, John, S. 173. 45 Kersting, Wolfgang, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. FrankfurtlM. 1997, S. 407 ff. 46 s. Rawls, John, S. 298. 47 Rawls, John, S. 299 ff. 48 Rawls, John, S. 303. 43
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s. hierzu zur amerikanischen Diskussion zwischen Communitarians und Liberals
Reese-Schäfer, Walter, Verfassungsgebung, S. 42 ff. (44).
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Konzeptionen des Guten über den Sinn und Zweck menschlicher Existenz geprägt wird50 oder ob diese selbst nicht vielmehr nur integraler Bestandteil eines gemeinsamen kulturellen Erbes Europas sind, das gerade durch die Vielfalt der Lebensentwürfe auf der Basis einer gemeinsamen Tradition, wie sie in den Menschenrechten und dem übergreifenden Toleranzgebot zum Ausdruck kommen, geprägt wird. Daher stellen verschiedene Lebensentwürfe und Weltanschauungen, die in sich zwar miteinander in existenzphilosophischer Sicht inkommensurabel sein mögen und sich insofern zu einer kulturellen Vielfalt weiterentwickelt und verselbständigt haben, gleichwohl als - und nur dann vom common sense getragen dar, wenn sie sich selbst der Achtung der Menschenrechte und dem Toleranzgebot unterwerfen. Insofern ist die kulturelle Vielfalt Europas nicht durch moralische und weltanschauliche Beliebigkeit geprägt, sondern auf einen gemeinsamen Brennpunkt eines unabdingbaren Verhaltens- und Verfahrenskodex zurückzuführen, der jedoch nicht auf eine bestimmte Morallehre, etwa die christliche abendländische Tradition des Begriffs der Person und seiner Würde im Sinne des Personalismus, verengt werden darf51 • Es ist hier nicht der Ort nachzuvollziehen, inwieweit sich Rawls grundsätzlicher Ansatz von einer formal-prozedualen "Theorie der Gerechtigkeit" zu einem materiellen Gerechtigkeitsbegriff, in dem wesentliche Elemente der Pluralismustheorie Eingang gefunden haben, weiterentwickelt hat52 . Unzweifelhaft ist jedoch, daß der politische Liberalismus als Antwort auf die Herausforderungen des Pluralismus zu verstehen ist und seine Hauptsorge einem politischen Konsens gilt, der allen Bürgern ohne Ansehen ihrer kulturellen Herkunft, religiösen Überzeugung und individuellen Lebensführung gleiche Freiheiten sichert53 . Hierbei liegt die Schwäche des Wirtschaftsliberalismus in einer Verengung der Perspektive auf die Gegenpole Staat und Markt. Dabei zeigt jedoch die jüngere Diskussion, daß es durchaus Ansätze eines kommunitaristischen Liberalismus gibt, der die Frage des politischen Liberalismus neu formuliert und insofern Anknüpfungspunkte an den Kommunitarismus im Sinne eines minimalen gemeinsamen Wertekonsenses aufzeigt54 • Diese Frage sieht auch Rawls, John, S. 298, Anm. 7. Deutlich wird dies am Beispiel des Erziehungsziel "Mündigkeit", welches unter dem Aspekt des Rechts des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit alle schulische Erziehungs- und Unterrichtsarbeit bindend prägt, wobei allerdings über die Frage, wie sich dieses Erziehungsziel erreichen läßt, gesellschaftlich differente und zum Teil pädagogisch miteinander inkommensurable Vorstellungen bestehen, s. hierzu näher lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 65 ff. 52 s. hierzu Geis, Max-Emanuel, Das revidierte Konzept der "Gerechtigkeit als Faimeß" bei John Rawls - materielle oder prozeduale Gerechtigkeitstheorie?, JZ 1995, S. 324 ff. 53 Habennas, Jürgen, Die Einbeziehung des Anderen. FrankfurtlM. 1996, S. 99. 54 In diesem Sinne die Diskussion bei Chatzimarkakis. GeorgiosIHinte, Holger, Freiheit und Gemeinsinn. 50 51
11. Das Konzept der Bürgergesellschaft im Widerstreit
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Ohne daß es Gegenstand dieser Arbeit sein könnte, in eine umfassende staatstheoretische Darstellung der Debatte um das Verhältnis von Kommunitarismus und Liberalismus eintreten zu können, offenbart jedoch schon allein die Tatsache, daß sowohl Kommunitaristen als auch Liberale die Prinzipien der Dezentralisierung und Subsidiarität zu Kernanliegen ihres Konzepts des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft machen, daß in dieser Debatte das eigentliche geistige Fundament für die gegenwärtigen bildungspolitischen Fragen liegt und eine wirklich weitreichende Vision über das Bildungswesen der Zukunft im 21. Jahrhundert ohne eine grundlegende Orientierung über das Verhältnis Bürger, Staat und Gesellschaft nicht gelingen kann. Der Liberalismus Rawls gründet in der abstrakten Autonomievorstellung des Individuums und einem prozedualen Verfassungsverständnis, welches nicht von einer gemeinsamen und geschlossenen Wertgemeinschaft der Gesellschaft ausgeht, sondern "unterschiedliche gesellschaftliche Interessen grundsätzlich anerkennt, ohne sie überwinden zu wollen. Im Gegenteil: Pluralität und Differenz sind gewissermaßen der Motor und das Lebenselixier der liberalen Gesellschaft,,55. Doch der Preis, der gesellschaftlich für diesen Pluralismus zu zahlen ist, scheint vorgegeben: "die definitive Umstellung von Solidarität unter Freunden auf Solidarität unter Fremden,,56. Dieses Spannungsverhältnis muß um so virulenter werden, je mehr sich die Wertvorstellungen einer Gesellschaft pluralisieren, wie es im Ausklang der Postmoderne zweifelsfrei in den westlichen Staaten der Fall ist. Demgegenüber wenden die Kommunitaristen als kritische Wegbegleiter des Liberalismus 57 , die sich wie ihr Wegbereiter Charles Taylor weder der konservativen noch der marxistischen Liberalismuskritik zuordnen lassen58 , ein, der Liberalismus sei Wegbereiter der Entfremdung, Endsolidarisierung und Atomisierung der westlichen Gesellschaften, weil ihr unbedingter Pluralismus und seine Marktorientierung zur Verwirklichung privater Freiheit Gemeinsc~aftswerte und -tugenden wie Solidarität, Moralität und sozialgebundene Freiheit im Sinne gemeiner Grundwerte vernachlässige59. Selbst wenn man davon ausgeht, daß Rawls' Theorie der Gerechtigkeit in übersteigerter Form die Vorstellung eines aus allen Bedingtheiten herausgelösten Vernunftwesens, welches die gemeinschaftsbildenden Werte vernachlässige, verkörpere 60, korrespondiert das übergreifende Modell der Bürgergesell55 Probst, Lothar, Gesellschaft versus Gemeinschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3611995, S. 29 (32). 56 Brunkhorst, Hauke, Demokratie als Solidarität, S. 26 unter Bezugnahme auf Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, S. 374 (442). 57 Probst, Lothar, Gesellschaft, S. 34. 58 Brunkhorst, Hauke, Demokratie als Solidarität, S. 21. 59 Vgl. hierzu Tönnies, Sybille, Kommunitarismus - diesseits und jenseits des Ozeans. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36/1996, S. 13 (15). 60 Hierzu insbesondere Sandei, Michael, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge University Press. LondonlNew York 1982; Taylor, Charles, Negative Freiheit?, S. 166 (169, 173f.).
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
schaft mit dem Konzept des politischen Liberalismus und mit diskurstheoretischen Überlegungen, die dadurch charakterisiert werden, daß "die Verfassung unter den Bedingungen des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus ... nicht als eine konkrete Gesamtrechtsordnung begriffen werden (darf), die der Gesellschaft apriori eine bestimmte Lebensfonn überstülpt. Vielmehr legt die Verfassung politische Verfahren fest, nach denen die Staatsbürger in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts kooperativ und mit Aussicht auf Erfolg das Projekt verfolgen können, gerechte (und das heißt: jeweils gerechtere) Lebensverhältnisse herzustellen,,61. Das hier vertretene Konzept der Bürgergesellschaft versucht den Streit zwischen kommunitaristischer und liberaler Perspektive in dem Bemühen, einen übergreifenden, weltanschauungsneutralen Konsens in Grundfragen der politischen Gerechtigkeit zu erzielen, der den Anforderungen des religiösen und kulturellen Pluralismus moderner Gesellschaften gerecht wird62, zu überwinden. Hierbei liegt die Stärke des partizipatorischen republikanisch-kommun itaristischen Ansatzes vor allem darin, daß für "die Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung ... eine autonome, von öffentlicher Administration und wirtschaftsgesellschaftlichem Privatverkehr unabhängige gesellschaftliche Basis angenommen (wird), die die politische Kommunikation davor bewahrt, vom Staatsapparat aufgesogen oder an die Struktur des Marktes assimiliert zu werden. In der republikanischen Konzeption gewinnen die politische Öffentlichkeit und, als deren Unterbau, die Zivilgesellschaft eine strategische Bedeutung. Beide sollen der Verständigungspraxis der Staatsbürger ihre Integrationskraft und Autonomie sichern,,63. Aus staatsrechtlicher Sicht gilt es deshalb, eine Staatstheorie als eine "nichtetatistische Demokratiekonzeption" zu entwickeln, in deren Selbstverständnis "eine Vielheit von Individuen mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interessen, Werten, Hoffnungen und Erwartungen" nicht als Gefährdung der gesellschaftlichen Integrationsfahigkeit erscheint, sondern für die Demokratie eine genuin eigene, zu schützende Qualität besitzt: "Demokratie bedeutet hier die Offenheit der politischen Strukturen für die Wahrnehmung und Verarbeitung dieser gesellschaftlichen Vielfalt. Sie verlangt die Bereitstellung und das Funktionieren von Einflußkanälen, mittels derer die Bürger auf die Prozesse politischer Entscheidung einwirken können. Demokratie ist in diesem Modell eine Verwirklichung bürgerschaftlicher Freiheit und bildet daher keinen kategorialen Gegensatz zu der Sphäre der grundrechtlich geschützten freien Zivilgesellschaft. Der bürgerliche Status ('citizenship') beruht nicht nur auf der abstrakten 61 Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, S. 320; s. hierzu auch lach, FrankRüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 30 ff. (59 ff.). 62 s. hierzu auch Habermas, Jürgen, Die Einbeziehung, S. 97. 63 Habermas, Jürgen, Die Einbeziehung, S. 278.
III. Schulverfassung in der Bürgergesellschaft
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Gleichheit, die aus der gleichen Zugehörigkeit zum Staatenverband resultiert, sondern gründet in der Vielfalt der gesellschaftlichen Lebenssphären, die nach diesem Demokratiekonzept in der Sphäre der Politikformulierung präsent sein müssen,,64. In dem Widerstreit zwischen Kommunitarismus und Liberalismus wird eine antietatistische, partizipatorische Demokratie, die gleichermaßen die kulturelle Vielfalt und Bedeutung der universellen Freiheitsrechte einerseits und die notwendige Integration und Solidarität der Gesellschaft andererseits anerkennt und damit mit dem Begriff und Verständnis der Bürgergesellschaft in wesentlichen Punkten übereinstimmt, auch als Theorie der deliberativen oder kommunitären Demokratie verstanden. Danach wird Integration wesentlich nicht durch vorgegebene abstrakte Wertediktionen, sondern durch aktive Teilhabe erreicht: "Die identitätsstiftende Gemeinsamkeit ist im öffentlichen politischen Bereich nicht die des Konsenses, sondern die des Sichkümmerns, des Sichkümmerns um die allgemeinen Belange in einer bestimmten, in ihren Erfahrungs-, Verständigungs- und Bewertungsweisen durch geschichtliche und kulturelle Überlieferung geprägten Gesellschaft. ... Die komm unitäre Demokratie ... läßt die Volkssouveränität doppelt auftreten: institutionell verfaßt und vielstimmig ungeordnet,,65. Hierbei muß sich das Konzept der deliberativen bzw. kommunitären Demokratie allerdings entgegenhalten lassen, daß es im Vergleich zum Verständnis der aktiven Bürgergesellschaft und Selbstorganisation primär auf die Teilnahme am politischen Prozeß setzt und somit keinesfalls garantiert, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nach der Entscheidungsfindung auch angemessene Formen der Selbstgestaltung besitzen.
III. Schulverfassung in der Bürgergesellschaft in der Überwindung des Theorienstreites zwischen Liberalismus und Kommunitarismus Für den Kommunitarismus kommt der moralischen Erziehung in Schule und Familie eine zentrale Bedeutung für die Wiedergewinnung gemeinsamer, gemeinwohlorientierter Werte ZU 66 . Die Schule hat dabei aus kommunitaristischer Sicht zwei grundlegende Anforderungen zu erfüllen: elementare Persönlichkeitsmerkmale selbständiger Individuen zu entwicklen und zentrale Werte zu 64 Preuß, Ulrich K., Chancen und Grenzen einer Verfassungsgebung für Europa. In: ders.lZüm, M., Probleme einer Verfassung für Europa, ZERP-Diskussionspapier 3/1995, S. 41 (63 f.). 65 Kersting, Wolfgang, Recht, S. 486 f.; aus verfassungstheoretischer Sicht; s. hierzu auch Frankenberg, Günter, Die Verfassung der Republik - Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft. FrankfurtlM. 1997, S. 47 (50, 55). 66 Etzioni, Amitai, Die Entdeckung, S. 105 ff.
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
internalisieren. Dies ist insofern richtig, als Erziehung nur auf der Basis einer gemeinsamen Werteorientierung von Eltern, Lehrern und Schülern möglich ist. Gleichzeitig ist jedoch zu betonen, daß es nicht gilt, allein die Forderung nach einer wertorientierten Erziehung zu stellen, sondern es ist notwendig, ein angemessenes Verhältnis von zentralen Werten und Pluralität herzustellen. Zentrale Werte können insofern nur die Grundrechte, das Toleranzgebot und Indoktrinationsverbot sowie die Pflicht des Staates sein, daß Kind mündig werden zu lassen bzw. es zur Mündigkeit zu befähigen. Die Herausforderung moderner Gesellschaften liegt daher nicht allein in der Forderung nach einer stärkeren Wertorientierung der Schule, sondern in einer pluralistischen Gesellschaft erfordert diese eine Vielfalt pädagogischer Profile. In der Gewährung eines wertorientierten Unterrichts in Pluralität liegt die Herausforderung des Bildungswesens der Zukunft. Will man die Diskussion liberalistische versus komm unitaristische Gesellschaftstheorie auf den Bereich des Bildungswesens transformieren, so stehen beide Position als Antipole gedacht durchaus für unterschiedliche bildungspolitische Modelle. Während das kommunitaristische Denken sich für eine Stärkung der Bürgerverantwortung durch eine Beteiligung der Betroffenen, sprich der Einzelschule, der Eltern, Lehrer und Schüler innerhalb der bestehenden Institution staatliche Schule einsetzt und gleichzeitig für einen verbindlichen Wertekonsens plädiert, glaubt der Neoliberalismus wirtschaftspolitischer Prägung durch die Einführung eines MarktrnodelIs im Bildungswesen über eine Stärkung der Konkurrenz eine stärkere Bürgerorientierung zu erreichen. Beide Denkansätze sind, wie zu zeigen sein wird, jedoch in ihrer dogmatischen Position zu einseitig gedacht. Sie sind aber gleichwohl einer sinnvollen Synthese zuführbar. Die Frage der Schul verfassung scheint dabei besonders geeignet, den herrschenden Theorienstreit zwischen Liberalismustheorie - insbesondere vertreten durch Rawls - und der von kommunitaristischer Seite her erhobenen Kritik unter dem Gesichtspunkt der Selbstorganisationsfahigkeit in der Bürgergesellschaft zu entschärfen und einer synthetischen Lösung zuzuführen. Die allseits geforderte Stärkung der Verantwortung der Bürgergesellschaft in der schulischen Erziehung geht dabei aber deutlich über die traditionelle Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft hinaus, die sich auf das Indoktrinationsverbot und den Grundsatz weltanschaulicher Pluralität in seiner dem okratietheoretischen Begründung reduziert, wonach der Staat für die Vielfalt der Wertvorstellungen "offen" zu sein hat, ohne daß daraus eine bürgerschaftsrechtliche Selbstgestaltungsbefugnis erwachsen würde, sondern der Staat als Vertreter des Allgemeininteresses fungiert. In diesem Sinne hat Popper in seiner Ideologiekritik recht, daß eine offene Gesellschaft als verantwortliche Pluralität einen neuen Weg zwischen Staatsherrschaft im Bildungswesen und "laissez faire" gehen muß, die im (Früh-)Humboldtschen Sinne anerkennt, daß zwar ein legitimes staatliches Interesse an einer in allgemeinen Zielen festgelegten Erziehung und Persönlichkeitsbildung auf der Basis des zivilisatorischen
1II. Schulverfassung in der Bürgergesellschaft
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Minimums notwendig und legitim ist, daß dieses Ziel aber nicht bedeutet, "Staatsbeamten die Macht (zu geben), Seelen zu formen und zu bestimmen, wie die Wissenschaft gelehrt werden soll,,67. So legt auch Popper wie viele Pädagogen seinem Konzept einer offenen Gesellschaft ein Erziehungssystem zugrunde, welches anerkennt, daß "der Staat dafür zu sorgen hat, daß alle erzieherischen Möglichkeiten allen offen stehen. Ein zu großes Ausmaß an Staatsaufsicht in Angelegenheiten der Erziehung ist jedoch eine verhängnisvolle Gefahr für die Freiheit, denn es führt dazu, daß die Menschen einseitig doktrinär beeinflußt werden,,68. Er knüpft damit an eine bekannte liberale Bildungstheorie des jungen Humboldt in seinem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen69 , an, die - symptomatisch in dessen Person - in Deutschland nur eine kurze Blüte hatte70, aber heute im Rahmen einer neuen staatstheoretischen Grundsatzdebatte an ungeahnter Aktualität gewinnt. Alle ernstzunehmenden Autoren, die sich mit der Frage einer pluralistischen Schul verfassung auseinandersetzen, gehen von einem als unabdingbar gesetzten common sense im Sinne gemeinsamer Mindeststandards (z. B. Bindung an die Grundrechte bzw. Grundrechte als Erziehungsziel Mündigkeit, Geltung des Toleranzgebotes und Indoktrinationsverbots, Kulturtechniken und Fremdsprachen als unabdingbares Wissen) aus, gewähren aber den gesellschaftlichen Gruppen das Recht der Selbstdefinition, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Demgegenüber versteht die konservative Staatsrechtslehre insbesondere über Erziehungsziele das Grundgesetz als geschlossene Wertordnung christlich-personaler Werte, außerhalb derer für Pluralismus wenig Raum ist71 • Die Bürgergesellschaft aber lebt gerade von der Selbstdefinition ihrer Bürger und kann deshalb das Grundgesetz nicht als geschlossenes Erziehungsprogramm begreifen, sondern ist offen für alle Erziehungskonzeptionen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung und die in ihr enthaltenen Grundrechte als Basis der Erziehung anerkennen. Deshalb ist der an sich berechtigten kommunitaristischen Kritik des Werteverlustes entgegenzuhalten, daß der Vielfalt einer Gesellschaft allein mit der 67 Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Auf!. Tübingen 1992, Bd. I, S. 157. 68 Popper, Karl R., S. 133. 69 von Humboldt, Wilhelm, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792). In: Menschenbildung und Staatsverfassung, Texte zur Rechtsphilosophie. FreiburglBerlin 1994, S. 28 (82 ff.). 70 Bekanntlich hat sich Humboldt in seiner Funktion als preußischer Bildungsminister in seiner Einstellung grundlegend gewandelt. 71 Mit der Konsequenz, emanzipatorische Erziehung für verfassungswidrig zu erklären, z. B. Friesecke, AlbrechtiFriesecke, Gisela, Rechtliche Grenzen emanzipatorischer Erziehung im staatlichen Schulwesen, DÖV 1996, S. 639 ff.; s. hierzu grundsätzlich lach, Frank-Rüdiger, Die Bedeutung des Neutralitäts- und Toleranzgebots bei der Entscheidung über die Zulassung eines Schulbuchs zum Unterrichtsgebrauch, RdJB 1989, S. 210 ff.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Forderung nach zentralen Werten nicht Rechnung getragen wird, sondern auch gemeinsame Werte in einer pluralistischen Gesellschaft erfordern eine Vielfalt pädagogischer Profile und einen werteorientierten Unterricht in Pluralität. So richtig der Ansatz Etzionis ist, die kommunale Schule und die Schulgemeinschaft durch echte Beteiligungsrechte der Eltern zu stärken72 , so muß doch das kommunitaristische Anliegen der Vielfalt in der Einheit73 als Konstitutionsmoment pluralistischer Gesellschaften zumindest in den europäischen Staaten scheitern, wenn der Kommunitarismus allein die staatliche Schule als richtigen Ort der Werteerziehung auf der Basis eines zentralistischen, nationalen Lehrplans französischer Prägung ansieht und das Prinzip der Schulwahlfreiheit ablehne4 • Ebenso wie die kommunitaristische Kritik der Schule trotz defizitärer Ansätze einen positiven Beitrag für die Erneuerung der Schul verfassung geben kann, gilt dies auch für den politischen (nicht wirtschaftlichen) Liberalismus, der die Frage der Schul verfassung heute entgegen seiner historischen Ursprünge weitestgehend ausgeblendet hat. Dies gilt auch für die Gerechtigkeitstheorie Rawls. Auch wenn für Rawls im Mittelpunkt seiner "Gerechtigkeitstheorie" in der Verbindung grundrechtlicher Freiheit und sozialstaatlicher Kompensationsaufgaben die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte stehen, gibt Rawls Pluralismusansatz auch für die Frage der Tradierung kultureller Wertvorstellungen mittels schulischer Erziehungsprozesse wesentliche Legitimitätsargumente für ein nichtetatistisches plurales Bildungswesen, etwa hinsichtlich der Umsetzung gesamtgesellschaftlich anerkannter Erziehungsziele wie dem der Mündigkeit, welches mit der Theorie einer Bürgergesellschaft kompatibel ist. Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargelegt75 , daß die hiermit korrespondierende Konzeption von Schul vielfalt ihre demokratietheoretische Legitimation darin findet, daß der modeme Staat nicht mehr als ein Vertreter eines vermeintlich existierenden gesamtgesellschaftlichen Gemeininteresses zu verstehen ist, sondern in der Demokratie der Bürgergesellschaft als Garant für die Verwirklichung verschiedener gesellschaftlicher Wertvorstellungen auf der Basis eines verbindlichen common sense zu verstehen ist. Gleichwohl ist dieses Konzept der Schulvielfalt stets auf einen gemeinsamen Grundwertekonsens ausgerichtet. In diesem Sinne ist dem Pluralitätskonzept des Liberalismus eine doppelte Grenze gezogen. Zum einen muß auch ein solches Konzept dem schulischen Pluralismus innerhalb des gesellschaftlichen Konsenses der als gemeinsam verbindlich gesetzten Erziehungsziele verhaftet bleiben, zum anderen darf Bildung nicht den Mechanismen des Marktes als Ausdruck gesellschaftlicher Freiheit überlassen werden, sondern bedarf der sozialstaatlichen Steuerung und Kompensation. Etzioni, Amitai, Die Entdeckung, S. 167. Etzioni, Amitai, Die Entdeckung, S. 144 (174, 184). 74 Etzioni, Amitai, Die Entdeckung, S. 188 (254). 75 lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 13 ff. (65 ff.). 72
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III. Schulverfassung in der Bürgergesellschaft
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In der Kritik eines überzogenen Liberalismuskonzepts im Bildungswesen hat dies zur Konsequenz, daß nicht uneingeschränkte Freiheit, sondern öffentlich verfaßte Freiheit herrscht. Dies bedeutet, daß Unterrichts- und Erziehungskonzeptionen als Schulvielfalt weder im Sinne einer Beliebigkeit verstanden noch dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden dürfen. Das verfassungstheoretische Freiheitsproblem beginnt allerdings bei der Definition der gemeinsamen verbindlichen Grundwerte. Hier kann ein kommunitaristischer Ansatz freiheitsgefährdend sein, wenn - wie es in der Kritik der sog. Kruzifixentscheidung zum Ausdruck kommt - der gemeinsame Grundwertekodex zu eng gezogen wird. Die Schwäche des Kommunitarismus liegt daher in der Gefahr eines Grundwertediktats, seine strukturelle Stärke in dem Erkennen der Notwendigkeit der öffentlichen Selbstorganisation der Bürger im Politischen durch die Wiederbelebung und Stärkung partizipativer Elemente und damit einer gesellschaftlichen Wiederbelebung des politischen Subsidiaritätsprinzips und des Solidaritätsprinzips. Die Schwäche des Liberalismus liegt demgegenüber in der zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaft darin, daß dieser durch das für alle verbindliche Gesetz und seine starke Ausrichtung auf das Modell der repräsentativen Demokratie und eines liberalen Marktmodells seinen eigenen Anspruch, universelle Freiheit zu gewährleisten, nicht mehr einlösen kann, weil er die Voraussetzungen der Ausübung von Freiheit selbst nicht zu gewähren vermag. Für die Frage der Bildungsfreiheit ist deshalb unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten entscheidend, daß der kommunitaristische Ansatz Schulvielfalt und Autonomie der Einzelschule auf die staatliche Schule beschränken will und der Grundsatz der Autonomie der Schule als bildungspolitische Antwort auf das zunehmende Versagen der staatlichen Schule mit dem Ziel angestrebt wird, die zunehmende Bedeutung, Nachfrage und Akzeptanz insbesondere der wertepluralistischen Schulen in freier Trägerschaft zurückzudrängen und das staatliche Schulwesen dadurch zu stärken, daß der Eindruck erweckt wird, daß diese Schulen "den öffentlichen Schulen heute nur noch wenig hinzufügen" und allenfalls eine "Vorreiterrolle in einer liberalen Schulentwicklung spielen" können 76 • Der kommunitaristische Ansatz vernachlässigt die Perspektive, daß Schulen in freier Trägerschaft als nicht gewinnorientierte Institutionen bzw. Assoziationen sehr wohl eine am Gemeinwohl orientierte SelbstverwaItungseinrichtung der Bürgergesellschaft sein können. Darüber hinaus verkennt er die notwendige Bedeutung des Pluralismusgebots für eine aktive Bürgergesellschaft, wenn er für die vermeintliche Stärkung des Gemeinsinns ein einheitliches Wertsystem der schulischen Erziehung auf der Basis zentraler Lehrpläne und zentraler staatlicher Prüfung fordert. Hier wandeln sich Freiheitsrechte in neue etatisti76 Lenhardt, Gero, Bürgerlicher Universalismus und staatliche Schule, RdJB 1996, S. 301 (308).
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
sche Hierarchien, in denen der Bürger nicht als Träger eigener Rechte, nämlich der Selbstbestimmung im Bildungswesen auf der Basis eines gemeinsamen Wertekonsenses, der Verfassung, sondern als tugendpflichtiger Mitwirkender an staatlich vorgegebenen Sinn zielen wirken soII 77 • Bürgerrechte beschränken sich danach auf die Mitwirkung in der staatlichen Schule. Diese letztlich etatistische Sichtweise des kommunitaristischen Ansatzes ist auch die Grundtendenz der SchulgesetznoveIIierungen der jüngsten Zeit und liegt auch dem Konzept der Bildungskommission NRW zugrunde. Dezentralisierung und Subsidiarität werden hier beschränkt auf das staatliche Schulwesen, ohne anzuerkennen oder gar perspektivisch zu thematisieren, daß gerade Schulen in Elternträgerschaft eigenverantwortliches Handeln in Bürgerverantwortung prägen 78 . So beschränkt sich die gegenwärtige politische Debatte über die "Autonomie von Schule" in Deutschland auf einen verkürzten kommunitarischen Ansatz, der in der traditioneIlen Struktur staatlichen Schulehaltens verhaftet bleibt und aIIein keinesfaIIs eine antizipatorische Perspektive für eine Schule der BürgergeseIIschaft entwirft. Hierzu würde vielmehr gehören, die geseIIschaftliche Schule in Eltern-Lehrer-Trägerschaft, also die gemeinnützige, nicht gewinnorientierte Erziehungsgemeinschaft von Bürgern, als gleichberechtigte Elemente der Schulverfassung anzuerkennen. Eine Beschränkung der Bürgerverantwortung im Bildungswesen auf die staatliche Schule wäre also die Umdrehung des freiheitlichen Gedankens der BürgergeseIIschaft, wenn ihre Protagonisten sie nur deshalb fordern, um den sich ausbreitenden Schulen in Elternträgerschaft das Potential und die Nachfrageakzeptanz abzuschneiden. Dies heißt nicht, daß damit der Selbstverwaltungsgedanke der staatlichen Schule beschränkt werden solIte, verbietet aber Restriktionen gegenüber Schulen in freier Trägerschaft mit dem Hinweis, im staatlichen Schulwesen gäbe es ja im Rahmen der sich entwickelnden vielfältigen Schulprogramme und Wahlmöglichkeiten eine hinreichende Vielfalt, die die Existenzberechtigung bzw. die Bezuschussung staatlicherseits als überflüssig erscheinen lasse. Hierbei übersieht der kommunitaristische Ansatz, daß es dem Ansatz der BürgergeseIIschaft zuwiderläuft, über eine Stärkung der Selbstverwaltungsmöglichkeiten der staatlichen Schule die Schulen in freier Trägerschaft schwächen zu woIIen. Schulpluralismus ist demgegenüber ein universales Konzept, welches die Vielfalt pädagogischer Konzeptionen unter gleichen sozialstaatlichen Bedingungen unabhängig von der Rechtsträgerschaft verwirklichen will. Damit geht dieses Konzept von Schulvielfalt über eine verengte kommunita77 s. hierzu Doering, Detmar, Alte Gefahr in neuem Gewande? In: Chatzimarkakis, GeorgioslHinte, Holger, Freiheit und Gemeinsinn - Vertragen sich Liberalismus und
Kommunitarismus? Bonn 1997, S. 24 (34) in Auseinandersetzung mit Etzioni. 78 s. hierzu auch Richter, Ingo, Die Privatschule als "Schule der Zukunft? In: lach, Frank-Rüdiger/lenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von 1.P. Vogel. Berlin 1998, S. 17 ff.
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ristische Sichtweise hinaus, grenzt sich aber gleichzeitig von einem liberalistischen Marktmodell der Bildungsgesellschaft ab. Hierbei zeigt gerade die Diskussion um Schulvielfalt, daß die verschiedenen Vorstellungen der Bürgergesellschaft und der verworrene und z. T. verschwommene, weil von Scheinwidersprüchen beherrschte Theorienstreit zwischen Liberalisten und Kommunitaristen zu einer sozialgebundenen Pluralismustheorie weiterentwickelt werden können, wenn Wertepluralismus und Sozialgebundenheit nicht als Gegenpole, sondern als einander bedingende Konstitutionsmomente moderner Demokratien aufgefaßt werden. Bei alledem muß deutlich bleiben, daß ein Marktmodell, welches auch die Gemeinnützigkeit von schulischen Einrichtungen zugunsten einer Gewinnorientierung beseitigen würde, der gebotenen Sozialpflichtigkeit nicht entsprechen könnte. Auf der anderen Seite ist es notwendig, Schulen in Elternträgerschaft über die Mitwirkung der Eltern in der staatliche Schule hinaus als Bereich des selbstverantworteten Bürgerengagements in Selbstverwaltung anzuerkennen. Damit solche Schulen aber allen Kindern zugänglich bleiben, dürfen sie nicht nach Gewinnmaximierungsgesichtspunkten einem freien Markt überlassen bleiben, sondern erfordern eine sozialstaatliche Rahmengesetzgebung, die die ausreichende finanzielle Ausstattung und den freien Besuch durch alle Kinder dem Grunde nach sicherstellt. Vergegenwärtigt man sich die Grundorientierung liberaler Gesellschaftstheorie bezogen auf die Schulverfassung, so ist das liberale Modell im Grunde auf eine umfassende Entstaatlichung des Bildungswesens ausgerichtet. Eine umfassende Privatisierung von Bildung und Erziehung kann jedoch die Strukturprobleme moderner Bildungssysteme nicht lösen, weil Bildung den Status als öffentliche Aufgabe nicht verlieren darf und Bildung und Erziehung nicht dem Kalkül des Marktes geopfert werden dürfen. Anderseits beschränkt sich die kommunitaristische Sichtweise im wesentlichen darauf, durch die Betonung gemeinschaftsbezogener Werte eine stärkere Einbindung der Eltern, Lehrer und Schüler in die staatliche Schule anzustreben, ohne zu erkennen, daß die selbstverwaltete Schule in freier Trägerschaft durchaus gemeinwohlorientiert arbeitet und ausgerichtet ist. Es gilt daher, kommunitaristische und liberale Konzeptionen der Bürgergesellschaft dahingehend zu vereinen, daß die staatliche Schule weiter ihrem Grundversorgungsauftrag unter Stärkung der Autonomie der Einzelschule nachzukommen hat, gleichzeitig aber die nichtstaatliche Schule in Lehrer-Eltern-Trägerschaft als gemeinnützige Institution hinsichtlich ihrer rechtlichen und materiellen Rahmenbedingungen der staatlichen Schule insoweit gleichzustellen ist, daß grundsätzlich alle Bürger von ihrem freien Wahlrecht der Schulart, nicht nur der Schulform, Gebrauch machen können. Die Bürgergesellschaft lebt von der mündigen Eigenverantwortlichkeit ihrer Bürger auch in der Erziehung. Insofern korrespondiert ein demokratietheoretisch begründetes Modell der "bürgerschaftlichen Schule" mit diskursethischen Überlegungen, wie sie bei Habermas zum Ausdruck kommen, wenn diese darin gründen, den modemen
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Staat als ein plurales Gebilde zu begreifen, in dem verschiedene Lebensformen gleichberechtigt koexistieren. Zugleich muß aber auch Schulvielfalt einer verbindlichen Moralität im Sinne des Verfassungspatriotismus unterliegen, d. h. der Verbindlichkeit der durch die Verfassung gesetzten Verfahren und Prinzipien. Habermas geht dabei aber entscheidend über eine kommunitaristische Sichtweise hinaus, indem er Grundrechte nicht als "privatistische" Relikte betrachtet, sondern in den Mittelpunkt seines deliberativen Modells stellt und diese über eine reine Abwehrfunktion im Sinne gesellschaftlicher Kommunikationsfähigkeit begreift79 • Hierzu gehört dann aber auch eine positive Funktion der Bildungsfreiheit als Kommunikations- und Identitätsform pluraler Wertvorstellungen. In dem heute auch für die Schule zentralen Problem horizontaler gesellschaftlicher Differenzierung und Pluralität geht es darum, daß im "Rahmen der von allen anzuerkennenden allgemeinen Menschenrechte und der Regeln der Demokratie ... eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen nicht nur überhaupt möglich, sondern auch in friedlicher Form gestaltbar sein (soll),,80. Schauplatz dessen kann jedoch kein wie auch immer gearteter Handelsmarkt der Ware Bildung, sondern nur die verantwortungsvolle Wahrnehmung des öffentlichen Gutes Bildung und Erziehung in bürgerschaftlicher Selbstverantwortung in sozialstaatlicher Eingebundenheit sein. Hierbei korrespondiert die schulverfassungsrechtliche Konkretisierung des Konzepts der Bürgergesellschaft mit dem Ansatz der Zivilgesellschaft und seinem deliberativen Modell, als es die Rechte der Gesellschaft zur autonomen Selbstdefinition zumindest im kulturellen Bereich anerkennt. Jedoch ist dies nicht auf die Beteiligung an der gesamtstaatlichen Willensbildung durch Wahlen im Rahmen des politischen Prozesses und kollektive Mitwirkungsrechte innerhalb der verschiedenen staatlichen Institutionen begrenzt81 , sondern die Selbstorganisationsfähigkeit und -möglichkeit der Gesellschaft wird weiter gefaßt. Gleichwohl verbinden sich beide Ansätze in dem Selbstverständnis, daß es ungeachtet der Existenzberechtigung pluraler Lebensformen einen verbindlich gesetzten Grundkonsens über bestimmte Prinzipien geben muß, mit anderen Worten, Freiheit und Vielfalt nicht Beliebigkeit bedeuten. Autoren wie Schweitzer verweisen in diesem Zusammenhang zu Recht für die Aufgaben einer Schule in der Pluralität auf die der Diskursethik zugrundeliegende Unterscheidung einer verbindlichen Moralität und einer gesellschaftlich akzeptierten Sittlichkeit unterschiedlicher Lebensformen82, und so kommt 79 Habennas, Jürgen, Die Einbeziehung, S 287; s. hierzu auch ausführlich Forst, Rainer, Kontexte, S. 347 ff.; Gerstenberg, Oliver, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. FrankfurtlM. 1997. 80 Schweitzer, Friedrich, Moralerziehung in der Pluralität: Schule, Staat und Gesellschaft zwischen Toleranz und Sittlichkeit, Neue Sammlung 1995, S. 111 (117). 81 Habermas spricht insoweit z. B. von der "veranstalteten Präsenzöffentlichkeit von Elternabenden", Habennas, Jürgen, Faktizität, S. 452. 82 Schweitzer, Friedrich, S. 118.
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er zu dem Schluß, daß ungeachtet eines verbindlich gesetzten zivilisatorischen Mindeststandards der "Rückgriff auf eine gesellschaftlich vorgegebene, angeblich selbstverständliche Sittlichkeit ... die Spannung zwischen staatlichem Erziehungsauftrag und Neutralitätspflicht heute nicht mehr lösen (kann), da sich die Gesellschaft selbst nur in pluraler Fonn darstellt"s3. Dementsprechend müssen pluralisierende Lösungsmuster jenseits kultureller und religiöser Homogenität oder einer staatlich begründeten Wertgebungskompetenz der Schule gesucht werden, für die das duale Modell der Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der Bürger durch Schulen in freier Trägerschaft und Stärkung der Autonomie der staatlichen Schule unter stärkerer Einbeziehung der Eltern zumindest Ansätze zur Lösung enthalten 84 . In dem Bereich der Schulverfassung kann der modeme Staat seine innere Legitimität auch nicht über ein rein parlamentarisch prozeduales Verfahren herstellen, weil Schule als Institution nicht weltanschaulich neutral sein kann. Das besondere Problem der (unzureichenden bzw. fehlenden) Legitimität staatlichen Schulehaltens besteht darin, daß der modeme Staat zwar gehalten ist, weltanschauliche Neutralität zu wahren, jedoch die Vennittlung von Werten bei der Unterrichtung und Erziehung von Schülern und damit das Gelingen des pädagogischen Prozesses schlechthin nur auf der Basis einer gemeinsam gesetzten Weltanschauung im weiteren Sinne möglich ist, so daß die Funktion des Staates nicht in einer pädagogisch-weltanschaulichen materiellen Trägerschaft von Schulen, sondern allein in einer Ressourcenvergabe, Koordinierungs- und auch Standardisierungs- und Mißbrauchsabwehrfunktion für solche Bereiche, die nicht die existentiell-weltanschauliche Ausrichtung der Erziehung betreffen, liegen kann, um eine zu weitgehende gesellschaftliche Inkohärenz zu verhindern. Allein eine den Staat verpflichtende Innenpluralität der von ihm unterhaltenden Schule ist unter dem Gesichtspunkt der Bürgergesellschaft defizitär, weil es der Bürgergesellschaft um aktive Selbstverwirklichung und nicht um passive Berücksichtigung gesellschaftlicher Wertvorstellungen geht. In diesem Sinne ist ein pluralistisches Schulwesen geradezu Voraussetzung für die von den Kommunitaristen eingeforderte sozialkommunikative Kompetenz von Bürgern, die in einer offenen Gesellschaft auf diskursiv-argumentative Kommunikation und Partizipation ausgerichtet ist. Die pluralistische Schulverfassung bleibt zugleich öffentliche Schulverfassung, das heißt, sie begreift Schule als eine wenn auch nicht staatliche, so doch öffentliche Angelegenheit, die sich den Wirtschaftsmechanismen und -interessen des Marktes bewußt entzieht. Chancengleichheit im Sinne gleichen unentgeltlichen Zugangs zu allen Bildungseinrichtungen ist conditio sine qua non der sozialstaatlich verpflichteten pluralistischen Schulverfassung. Insofern ist die "Bürgerschule" idealtypischer Aus83 84
Schweitzer, Friedrich, S. 121. Schweitzer, Friedrich, S. 124 f., wobei Schweitzer für die Schulen eine Art "Ethik-
Kommission" fordert.
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druck der Zivilgesellschaft: "Ihren institutionellen Kern bilden jene nichtstaatlichen und nichtökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der GeseIlschaftskomponente der Lebenswelt verankern. Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten. Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert". 85 Die Frage der Strukturbedingungen für einen an den common sense gebundenen Pluralismus kann im Zusammenhang dieser Untersuchung im Bereich der kulturellen Freiheiten dahingehend konkretisierend beantwortet werden, daß es zwar für alle gesellschaftlichen Gruppen einen verbindlichen Grundkonsens über die schulischen Verkehrsformen, Erziehungsziele und die Unterrichtsinhalte im Sinne eines Basiskonsenses zur Befähigung der Teilhabe am öffentlichen Prozeß des gesellschaftlichen Lebens geben muß - im Sinne Rawls die Befähigung zu sozialer Kooperation 86 -, daß aber innerhalb dieses Rahmens die Frage der pädagogischen und methodischen Umsetzung ebenso wie die der weltanschaulichen Ausrichtung dieses Unterrichts der Selbstdefinition der Bürger obliegt, und das Verfassungsrecht die strukturellen Bedingungen dafür schaffen muß, damit verschiedene pädagogische und weltanschauliche Grundüberzeugungen gesellschaftlich wirksam werden können, wenn sie von den bildungspolitischen Vorstellungen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit abweichen. Deshalb kann unter verfassungsrechtlichen Aspekten unter dem Gesichtspunkt der kulturellen und weltanschaulichen Vielfalt im Bildungswesen auch das besondere Spannungsverhältnis mit islamischen Schulen und Erziehungsvorstellungen nicht etwa deshalb entstehen, weil diese nicht der christlich-abendländischen Tradition verhaftet sind, sondern allein an der Frage, inwieweit fundamentalistische Strömungen gegen die Grund- und Menschenrechte und das Toleranzgebot verstoßen. Nach dem Prinzip der pluralistischen Bürgergesellschaft bleibt zwar dem Staat und der parlamentarisch legitimierten politischen Mehrheit die Befugnis, ihre bildungspolitischen Vorstellungen als ein in sich geschlossenes pädagogisches und strukturelles Konzept im staatlichen Schulwesen zu realisieren, wobei dieses selbstverständlich an den Grundsatz des Minderheitenschutzes gebunden ist, gleichzeitig erfordert jedoch der Grundsatz der politischen Gerechtigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft faire Rahmenbedingungen, unter denen es möglich ist, daß die voneinander abweichenden Vorstellungen sich 85 86
Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, S. 434 f. Rawls, lohn, S. 175.
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selbst verwirklichen können. Doch bei alledem gilt es auch zu betonen, daß Bildungsfreiheit und Bildungsmarkt keine identischen Begriffe sind, gar der Bildungsmarkt dem mit dem Begriff der Bürgergesellschaft verbundenen Grundsatz der Solidarität mit dem Schwächeren zuwiderläuft. Die modeme Bürgergesellschaft muß im Bildungswesen Freiheit und Gleichheit zusammenführen. Dem Staat obliegt daher weiterhin die schulische Grundversorgung, aber er muß im Rahmen der Gleichwertigkeit aller Bildungseinrichtungen dort, wo Bürger es umsetzen, stärkere Möglichkeiten der Dezentralisierung und der Bürgerverantwortung als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzps ohne materielle oder rechtliche Diskriminierung zulassen. Dies erfordert eine rechtliche und materielle Gleichstellung von Schulen unabhängig von ihrer Trägerschaft, da nur so die Kontinuität des schulischen Prozesses unabhängig von politischen Mehrheiten gewährleistet ist, und macht das Recht auf Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft zu einem unabdingbaren Konstitutionsmoment einer freiheitlichen Bürgergesellschaft, da die Tradierung kultureller Werte mittels Schule als ein Kernbereich gesellschaftlicher Identität moderner pluralistischer Staaten angesehen werden muß. Diese Tradierung gesellschaftlich legitimer Wertvorstellungen allen Bürgern unter gleichen Bedingungen zu ermöglichen, findet seine staatstheoretische Begründung in der Verpflichtung des Gemeinwesens, Pluralität als sinnstiftendes gesellschaftliches und staatliches Ordnungsmoment anzuerkennen und durch eine Politik der gerechten Ressourcensteuerung dazu beizutragen, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen von kulturellen und bildungspolitischen Benachteiligungen und Inkohärenzen entlastet werden. Damit wird der Gegensatz von staatlicher und privater Schule aufgehoben, beide Schulträger wandeln sich zu "der öffentlichen Schule". Das besondere Problem liegt hierbei darin, daß die Aufgabe der Schule, neben der Wissensvermittlung dem Kind durch die Vermittlung von und Auseinandersetzung mit Werten die eigene Identitätsfindung zu ermöglichen, nur auf der Grundlage einer gemeinsamen weltanschaulichen oder pädagogischen Grundüberzeugung der am pädagogischen Prozeß Beteiligten erreichbar ist. Aufgabe der Bildungspolitik ist es hierbei, je nach politischem Standpunkt für bestimmte Grundüberzeugungen einzutreten, die jeweils letztlich auf einer allgemeinen moralischen Vorstellung des Wertes und Zwecks menschlicher Existenz beruhen. Aufgabe des Verfassungsrechts zur institutionellen Sicherung politischer Gerechtigkeit ist es demgegenüber, nicht eine oder gar die herrschende Grundüberzeugung zu sanktionieren, sondern den politischen und weltanschaulichen Minderheiten die Möglichkeit der Identitätssicherung unabhängig von staatlicher Gestaltungsmacht auf der Basis politischer Mehrheiten zu sichern. Verfassungsdogmatisch findet dies seine Rechtfertigung darin, daß die "Gleichheit des Gesetzes niemals ausreichend (ist), um die Minderheit wirklich vor Diskriminierung zu schützen. Die Natur des für alle geltenden Gesetzes bedeutet ja typischerweise, daß es sich an den Eigenschaften der Mehr4 Jach
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heit orientiert. Daraus folgt, daß ein an den Mehrheitsmerkmalen orientiertes allgemeines Gesetz die Minderheit äußerst ungleich treffen kann ...87 Gleichwohl wäre es jedoch verfehlt anzunehmen, die Rolle des Staates und der demokratisch legitimierten politischen Mehrheit reduziere sich damit auf die Frage der - wohl möglich wechselnden - staatlichen oder nichtstaatlichen Trägerschaft einer Schule. Die politische Legitimation impliziert bildungspolitisch eine Koordinationslegitimation der politisch Mehrheit für den verbindlich zu setzenden Mindeststandard und gewährt dieser daher die Möglichkeit, unter Beachtung des Prinzips der Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) von Bildungsgängen die qualitativen Mindeststandards normativ festzusetzen und die Kriterien für eine Mißbrauchsabwehr zu definieren. Zum anderen aber verwehrt das Prinzip der Bürgerschule es dem Staat, in sich geschlossene pädagogische Konzeptionen universalistisch verbindlich zu machen oder die Bürger zu zwingen, sich einerdurch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Träger angebotenen - bestimmten pädagogischen Konzeption anschließen zu müssen. Die staatlich-kommunale Schulträgerschaft erfährt ihre Legitimation daher auch in der Möglichkeit der Selbstverwaltung der einzelnen Schule in ihrer kommunalen Eingebundenheit der Bürger. Diese bestimmen jedoch nach dem Prinzip der Bürgergesellschaft innerhalb weit zu setzender Rahmenvorgaben selbst und mit wandelnden Möglichkeiten Struktur, pädagogische Konzeption und Inhalte des Unterrichts der einzelnen Schule und unterscheiden sich damit grundlegend auch von nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft, die einer in sich geschlossenen weltanschaulichen oder pädagogischen Konzeption verpflichtet sind. Hierbei darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß dem Staat unter dem Gesichtspunkt des sozialen Rechtsstaates bei alledem die Aufgabe der Sicherung der Chancengleichheit obliegt. Diese Verpflichtung kann aber nicht auf die Zurverfügungstellung eines unentgeltlichen staatlichen Schulsystems reduziert werden, sondern erfordert, da es unter dem Gesichtspunkt der politischen Gerechtigkeit in einer Bürgergesellschaft keine unterschiedliche Wertigkeit der Ausübung des Rechts auf Bildung nach pädagogischer Konzeption oder Trägerschaft geben darf, die Gewährung gleicher Bedingungen für alle bei der Ausübung ihres Rechts auf Bildung. Dies impliziert die gleichberechtigte materielle Ausstattung staatlicher Schulen und nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft auf der einen Seite. Auf der anderen Seite bedeutet die mit dem Prinzip der Bürgergesellschaft implizierte Bürgerverantwortung aber auch die Bereitschaft, für besondere zusätzliche Unterrichtsangebote im Wege der Eigenfinanzierung so aufzukommen, daß gleichwohl alle Bürger unabhängig von ihrem Einkommen davon Gebrauch machen können, indem die Besserverdienenden die Last der Eltern, die hierzu nicht in der Lage sind, mittragen. 87 Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. 2, Vorwort, S. VII.
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Die Idee der Bürgergesellschaft korrespondiert daher auch im Bildungswesen mit einem gesellschaftstheoretischen Selbstverständnis, welches gleichermaßen die Polarität zwischen Universalismus und Relativismus auf der einen und die Kontroverse zwischen "puren" Liberalisten versus "dogmatischen" Kommunitaristen auf der anderen Seite zugunsten einer sozialstaatlich eingebundenen Pluralismustheorie transzendieren will, die einen Ausgleich zwischen Einheit und Diversität erreicht, indem ein bestimmter Kernbestand an Kulturtechniken als Minimalkonsens innerhalb der Gesellschaft für das Bildungswesen als verbindlich anerkannt wird (Vermittlung der Sprech-, Lese- und Schreibfertigkeit als Voraussetzung individueller und gesellschaftlicher Kommunikation, Kenntnis des politischen, ökologischen, ökonomischen und rechtlichen Systems, insbesondere unter Bindung an die Grund- und Menschenrechte als Recht des Kindes auf Findung seiner eigenen Identität und die BeHihigung zur Reflexion eigener Standpunkte und Handlungsweisen unter Anerkennung der Verfahren gesamtgesellschaftlicher Willensbildung), aber auch ein Mehr als ein solches verbindliches Minimum mit den Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr zu vereinen ist88 • Bei alledem kann es nicht um eine Abschaffung der staatlichen Schule gehen, sondern darum, wo möglich, Selbstentfaltungsinitiative in und neben dem staatlichen Schulsystem zuzulassen. Hierbei ist auch zu bedenken, daß nach Untersuchungen aus den 80er Jahren sich nicht allgemein sagen läßt, daß die durchschnittliche Qualität im privaten Schulwesen höher als die im öffentlichen ist89 . Dies ist zwar richtig, wenn man den Maßstab der staatlichen Schule zugrunde legt, doch ist für die Andersartigkeit von Erziehungszielen wie etwa Rücksichtnahme auf Schwächere versus Durchsetzungsfahigkeit ein einheitlicher Bewertungsmaßstab kaum möglich, der meßbar wäre. Geprägt wird das bürgerschaftliche Verständnis der Schulverfassung von einem Gesellschaftsmodell, das davon ausgeht, daß die gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht durch eine vom Staat tradierte allgemeinverbindliche kulturelle Identität, sondern durch unterschiedliche, nach Selbstverwirklichung strebende kulturelle Identitäten bestimmt werden und sich die Willens bildung von der Gesellschaft zum Staat hin zu vollziehen habe und nicht umgekehrt der Staat universalisierte Erziehungs- und Unterrichtskonzeptionen durchsetzt und abweichende und alternative pädagogische Konzepte in das Reservat der Privatschulen verweist, die damit wie in der Bundesrepublik zwangsläufig nicht nur angesichts der notwendigen Erhebung von Schulgeld zu Mittelstandsschu88 s. hierzu auch aus niederländischer Sicht Meijer, Wilna AJ., Allgemeine Bildung: Balance zwischen Gemeinsamkeit und Diversität. In: Lassahn, R./Ojenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtlM. u. a., 1994, S. 87 (88, 91 ff.). 89 James, Estelle, Public and Private Education in International Perspective. In: Boyd. W.L./James, E./Cibulka, I.G .• Private Schools and Public Policy. London 1989, S. 213 ff.
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len, sondern auch zu pädagogischen Eliteschulen werden 90 • Hierbei bleibt das Prinzip gleichwertig statt gleichartig tragende Säule der Bildungspolitik und verhindern rechtliche Regelungen im Rahmen der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge undemokratische Tendenzen der Elitebildung, indem die Schulen prinzipiell für jedermann offen und zugänglich sein müssen. Damit ist der Schulverfassung der Bürgergesellschaft die Aufgabe zuteil, Wahlfreiheit jenseits sozialer Elitenbildung prozedual zu sichern, indem alle Schulen die gleichen materiellen Ausgangsbedingungen haben und Wahlfreiheit nicht zu einem "Vernichtungskampf' zwischen Schulen führt. In ihren Vorschlägen für das "Bildungswesen der Zukunft,,91 haben die Professoren des College de France Mitte der achtziger Jahre zwei wesentliche Momente für die notwendige Erneuerung des Bildungswesens in Frankreich benannt, deren Bedeutung weit über Frankreich hinausragt. Danach sollte zum einen das "Bildungswesen den Gegensatz von Liberalismus und Etatismus überwinden, indem es die Bedingungen für einen wirklichen Wettstreit autonomer und verschiedenartiger Institutionen schafft,,92, und zum anderen von der "monistischen Vorstellung von Intelligenz,,93 Abstand nehmen und anerkennen, daß zur Förderung der Kreativität und Vielseitigkeit der kindlichen Persönlichkeit neben das abstrakt-kognitive Lernen ein selbsttätig-sinnliches treten muß, in dem insbesondere auch handwerkliche und künstlerische Tätigkeiten ihren Raum haben 94 . Diese Vorschläge erinnern - wie Egon Becker zu Recht feststellt - in ihrer pädagogischen Utopie "in vielen Punkten an die Entwürfe der AlternativPädagogik", auch wenn sie letztendlich am Primat der wissenschaftlichen Rationalität festhalten 95 . Die Professoren des College de France formulieren damit zwei Elemente, die insbesondere die Reformpädagogik seit jeher als wesentliche Vorgaben für eine umfassende Persönlichkeitsentfaltung des Kindes ansieht. Neben eine die Autonomie der pädagogischen Arbeit gewährende Schulverfassung muß danach eine der kindlichen Entwicklung gemäße inhaltlichen Form des Lernens treten, die Sinne und Geist gleichermaßen erfaßt. Die Diskussion über eine Neuorientierung der Bildungspolitik ist keinesfalls national begrenzt, sondern bestimmt die Diskussion in allen europäischen Län90 s. hierzu näher lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 15 ff OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 141 ff. 91 Vorschläge für das Bildungswesen der Zukunft - Auf Wunsch des Präsidenten erarbeitet von den Professoren des College de France. In: Müller-Rolli (Hrsg.), Das Bildun§swesen der Zukunft. Stuttgart 1987, S. 253 ff. 9 Müller-Rolli (Hrsg.), S. 264. 93 Müller-Rolli (Hrsg.), S. 258. 94 Müller-Rolli (Hrsg.), S. 260 f. 95 Recker, Egon, Paradoxien kultureller Modemisierung. In: Müller-Rolli (Hrsg.), Das Bildungswesen der Zukunft. Stuttgart 1987, S. 33 (47).
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dem sowie in den USA und Kanada96 und bestimmt auch in der bundesrepublikanischen Diskussion die Frage nach der Verbesserung der Schulqualität. In diesem Kontext gewinnen in der allgemeinen bildungspolitischen97 und bildungsrechtlichen 98 bis hin zur bildungsökonomischen Diskussion99 vor allem die Aspekte des grundsätzlichen Verhältnisses von Staat, Gesellschaft, Individuum sowie die Fragen der Entstaatlichung von Bildungsprozessen im Sinne von Unterrichtsfreiheit, Autonomie der Einzelschule, Dezentralisierung und Pluralisierung von Erziehungsprozessen im Sinne schulischer Vielfalt zunehmend an Bedeutung und lassen die Notwendigkeit von Modifikationen der herrschenden Bildungsstrukturen erkennen. Dies drückt sich sowohl in der Forderung nach einer Entstaatlichung des Bildungswesens im Sinne eines gleichberechtigten Wettbewerbs zwischen staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft als auch durch einen grundsätzlichen Wandel der Rolle und Bedeutung der Schulaufsicht in Richtung einer stärkeren Selbständigkeit der staatlichen Schule aus.
96 So auch die Einschätzung von Liket, Theo, Freiere Schulen und kontrolliertere Universitäten in Holland - Die autonome Schule und die Rolle der Staatsaufsicht, Pädago~isches Forum 1992 (81). 9 Z. B. du Bois-Reymond, Manuela, Lernen für Europa - Die Ohnmacht der (Pflicht)Schule, Frankfurter Rundschau v. 22.4.1992, S. 16; Glaser, Roland, Weniger Staat schafft bessere Schulen, FAZ v. 12.1.1994, S. 26; Mahlmann, Friedrich, Laßt tausend Blumen blühen!, DIE ZEIT 9/1994, v. 25.2.1994, S. 51. 98 s. hierzu in internationaler Dimension z. B. Jenkner, Siegfried, Entwicklung der Schulverfassung im internationalen Vergleich. In: Füssel, Hans-Peter/Leschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr.40), S. 40 ff. m.w.H.; Karpen, Ulrich, Staatliche Lenkung und Überwachung des Bildungswesens, RdJB 1990, S. 419 ff.; Likel, Theo, Freiere Schulen, S. 81 ff. Unter bundesrepublikanischer Sicht s. Jach, FrankRüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot; Ladeur, Karl-Heinz, Schulvielfalt und staatliche Schulaufsicht, RdJB 1991, S. 263. Demgegenüber beklagt Berg noch 1990 das große Forschungsdefizit im Bereich der pluralistischen Schulverfassungsforschung, Berg, Hans-Christoph, Bilanz und Perspektiven der Reformpädagogik, ZfP 1990, S. 877 (884). Zu den Defiziten schulverfassungsrechtlicher Forschung in internationaler Dimension s. a. Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht. In: Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 72 f. 99 s. Melck, Antony, Von der normativen Theorie zur Politischen Ökonomie: Public Choice im Schulwesen, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik (ZfW), 1991, S. 271. Sehr weitgehend sind in der bildungsökonomischen Perspektive insbesondere die Reformvorschläge von Straubhaar, ThomasIWinz, Manfred, Reform des Bildungswesens - Kontroverse Aspekte aus ökonomischer Sicht. BernlStuttgartlWien 1992, die für eine völlige Entsstaatlichung des Bildungsangebots und eine Finanzierung des allgemeinbildenden Schulwesens über Bildungsgutscheine plädieren.
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IV. Die Bedeutung der Diskussion um public management und new public administration für die Schulverfassung Schulehalten gilt in Deutschland traditionell als staatliche Aufgabe in Form des VerwaltungshandeIns. Nicht zuletzt durch die zunehmende Angespanntheit der öffentlichen Haushalte hat in der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion in den letzten Jahren die Frage nach der Effizienz öffentlichen Verwaltungshandelns einen grundlegenden Perspektivenwechsel ausgelöst, der insbesondere auch die Frage nach dem Input-output-Verhältnis stellt. Die zentralen Leitbilder bei der Suche nach neuen Steuerungsmodellen des Verwaltungshandelns sind dabei unter dem Stichwort "public management" geprägt durch die Forderungen nach Entbürokratisierung, Dezentralisierung und "Steering at distance" statt unmittelbarer Kontrolle von Verwaltungseinheiten \()(). Schlagwortartig läßt sich die Diskussion um die Einführung eines public management mit der Forderung nach einem Paradigmenwechsel umschreiben: die Umwandlung der durch ein bürokratisches und hierarchisches System geprägten öffentlichen Verwaltung hin zu einem kostenbewußten Dienstleistungsunternehmen mit dezentralen Führungs- und Organisationsstrukturen 101. An die Stelle einer auf arbeitsplatzbezogene Ordnungsmäßigkeit angelegte Verwaltungsstruktur soll eine prozeßhafte Qualitätsorganisation treten l02 . Diese Diskussion ist ausgegangen in europäischer Perspektive im wesentlichen von den skandinavischen Ländern, England und besonders den Niederlandenim. Sie erreicht jetzt auch die bundesdeutsche Bildungsverwaltung und wird dort - insoweit wesentlich verkürzt gegenüber der Bedeutung des public management in anderen europäischen Ländern - durch die Zielorientierungen "dezentrale Fach- und Ressourcenverantwortung", "Budgetierung" und "Outputorientierung" geprägt lO4 • Ziel ist es, ein ganzheitliches System der Verwaltungssteuerung zu erreichen, das auf einer dezentralen Führungs- und Organisationsstruktur mit Ergebnisverantwortung jeder Verwaltungseinheit basiert. In diesem Sinne wird die scheinbar pädagogische Diskussion um die 'Autonomie von Schule' überlagert durch die grundsätzliche Diskussion um neue Formen des VerwaltungshandeIns. 100 Burlwrd, Christoph/Ro(ff, Hans-Günter, Steuerleute auf neuem Kurs? Funktionen und Perspektiven der Schulaufsicht für die Schulentwicklung. In: Ro(ff, Hans-Günter u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimIMünchen 1994, S. 205
(207).
101 s. hierzu Banner, Gerhard, Neue Trends im kommunalen Management, VOP 1994, S. 5. 102 Banner, Gerhard, S. 10. 103 Banner, Gerhard, S. 10. 104 Vgl. hierzu Ollech-Preuss, Sabine, Kundschaft, Herr Lehrer!, RdJB 1997, S. 179.
IV. Die Bedeutung der Diskussion
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Wesentliches Mittel zur Umsetzung des "Neuen Steuerungsmodells" soll die Befähigung zum public management, also einem öffentlichen Dienstleistungsmanagement sein, wobei die Frage nach den inhaltlichen und konzeptionellen Grundlagen eines solchen gesamtgesellschaftIich noch unklar zu sein scheint, obgleich die genannten Schlagwörter seit geraumer Zeit die verwaltungswissenschaftIiche Diskussion bestimmen. Die deutsche Diskussion reduziert sich dabei wesentlich auf eine Effizienzund Qualitätssteigerung innerhalb der bestehenden Angebotsschule des Staates. In den anderen europäischen Ländern wurden jedoch nicht nur die Möglichkeiten der Umsetzung dieser Zielvorgaben durch "Neue Steuerungsm:odelle" für die Verwaltung diskutiert, sondern auch entscheidende Erfahrungen gemacht, die zumindest in der Bundesrepublik Deutschland weitestgehend ausgeblendet werden. Die Diskussion über public management ist in diesen Ländern vor allem im Bildungsbereich entwickelt worden in Verbindung mit dem Schlagwort des "parental choice", welches gleichberechtigt neben einer Effektivierung der staatlichen Bildungsverwaltung angestrebt wurde. Zielvorgaben waren eine Konsolidierung der zu expansiven Haushalte bei gleichzeitiger Dezentralisierung der Verwaltungseinheiten mit dem Ziel, auf der Ebene der Einzelschule ganzheitliche Managementverantwortung zu schaffen,,105, die in einer persönlichen Ergebnisverantwortung lO6 ihren Ausdruck findet, und zugleich eine Dienstleistungsorientierung im Sinne einer Wahlfreiheit der Eltern und Schüler zwischen allen Bildungseinrichtungen unabhängig von der Trägerschaft zu im wesentlichen gleichen Konditionen. Im Mittelpunkt dieses neuen Steuerungsmodells stehen damit eine Nachfrageorientierung und das Zusammenführen der Fach- und Ressourcenverantwortung sowie die Ums teuerung von der Input- zur Outputsteuerung, wobei Leistungen der Verwaltung als definierbare Produkte verstanden werden, die in das Rechnungswesen integriert sind lO7 • Betrachtet man die Hintergründe der Forderung nach Einführung eines "public management" so wird deutlich, daß diese Diskussion im wesentlichen durch drei Faktoren bestimmt wird. Zum l:inen durch die Frage, inwieweit die Öffentliche Verwaltung dem Gebot der Effizienz genügt, also eine mehr haushalts politisch-ökonomische Fragestellung, die angesichts immer knapper werdender Haushaltsmittel bei gleichzeitigem Ansteigen der Kosten zunehmend virulent wird. Zum zweiten durch die Frage der Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter und Eingebundenheit in hierarchische Entscheidungsstrukturen, die bisher persönliche Verantwortlichkeit, Kostenbewußtsein und Identifikation mit 105
Banner, Gerhard, S. 6.
Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt), Das neue Steuerungsmodell. Köln 1983, S. 18. 107 Vgl. Kommunale Gemeinschaftsstelle, S. 18 ff. 106
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der Tätigkeit weitestgehend unmöglich machen. Hier verbindet sich ganz deutlich die Frage des "Neuen Steuerungsmodells" mit dem Rechtsstatus des einzelnen. Wer dem Weisungsrecht des Vorgesetzten unterliegt, kann schwerlich eine eigene Verantwortlichkeit entwickeln. Dies betrifft also auch das klassische Feld des Rechts des öffentlichen Dienstes. Zum dritten fällt in dieser Diskussion aber auch immer das Schlagwort vom "Dienstleistungsunternehmen" Öffentliche Verwaltung, das die Bürger nicht mehr als Objekt staatlichen Handelns und Wohlwollens begreift, sondern umgekehrt staatliches Handeln an den vom Bürger selbst definierten Interessen ausrichten will, der Staat als Dienstleister, der die Nachfrage der Bürger befriedigt - public choice ist hier das Stichwort der wissenschaftlichen Diskussion. Die Reformüberlegungen knüpfen an eine in den USA und anderen westund nordeuropäischen Nachbarländern schon seit BeginnlMitte der 80er Jahre geführte Diskussion und dort gemachte praktische Erfahrungen an, die in engem Zusammenhang mit der Diskussion um die Bürgergesellschaft im Diskurs zwischen Liberalismus und Kommunitarismus stehen. In der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion werden die unterschiedlichen Positionen durch die Begriffe (new) public management und new public administration beschrieben. Die Theorie des (new) public management ist wesentlich durch die Adaption marktwirtschaftlicher Kriterien für das Verwaltungshandeln geprägt und nimmt damit in Verbindung mit der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Mitarbeiter Elemente des liberalen Ansatzes der Bürgergesellschaft in den Bereich der Daseinsvorsorge auf. Demgegenüber orientiert sich die Theorie der new public administration am kommunitaristischen Verständnis der Zivilgesellschaft. Hierbei sind analog der Diskussion zwischen Liberalisten und Kommunitaristen heide Positionen durch eine zu überwindende Einseitigkeit gep:ägt. Die Theorie des (new) public management betont einseitig die marktwirtschaftlichen Prinzipien, wobei z. B. Wettbewerb und eine verwaltungsmäßige Deregulierung durchaus mit einer starken staatlichen Steuerung auf der globalen Entscheidungsebene verbunden werden, damit also bürgerschaftliche Selbstbestimmung nicht substantiell erweitert wird. Demgegenüber erkennt zwar der komm unitaristische Ansatz der new public administration die Grundsätze der Subsidiarität und der individuellen und gesellschaftlichen Selbstgestaltung in einer sozialstaatlichen Perspektive an, tendiert jedoch in seiner vermeintlichen Gemeinwohlorientierung zu einer Überbetonung unitaristischer Einheitswerte, die die kulturelle wie die pädagogische Vielfalt und Freiheit beschränken 108 . Dieser reduziert wie Etzioni das Prinzip der Autonomie von Schule einseitig auf mögliche Beteiligungsformen der Eltern in der staatlichen Schule mit zentralen Vorgaben der Wertorientierung und des Curriculums. 108 s. hierzu auch Budaus, Dietrich/Grüning, Gemod, Kommunitarismus - eine Refonnperspektive?, eine kritische Analyse kommunitaristischer Vorstellungen zur Gesellschafts- und Verwaltungsrefonn. Berlin 1997, S. 52 f. (60 ff., 78, 91).
IV. Die Bedeutung der Diskussion
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Spätestens bei diesem Punkt wird die Frage nach 'public management' oder 'new public administration' auch eine gesellschaftstheoretische und staatsrechtliche Frage, weil es um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum geht. Mit anderen Worten, inwieweit sollen sich staatliche Willensbildungsprozesse vom Bürger und der Gesellschaft hin zum Staat und nicht umgedreht vom Staat zur Gesellschaft und zu den Bürgern hin vollziehen. Insofern ist auch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion anerkannt, daß Voraussetzung für die in diesem Zusammenhang diskutierte Frage der pädagogisch-administrativen 'Autonomie von Schule' die "Entwicklung eines grundlegenden autonomie-orientierten Gesellschafts- bzw. Staatsverständnisses" ist 109. Dieses autonomie-orientierte Staatsverständnis muß auch im Zusammenhang der generellen Diskussion über neue Formen des Verwaltungshandelns dem grundlegenden Wandel von hierarchisch-universellen zu plural-eigenständigen Strukturen subsidiärer Vernetzungen der Gesellschaft Rechnung tragen und erfordert nicht zuletzt im Bereich der Bildung und Erziehung den Abschied vom autoritären Primat der Politik zugunsten eines Systems kontrollierter Selbststeuerung autonomer Subsysteme jenseits bloßer Marktmechanismen. Hierbei liegt die Ironie des Staates darin l1o , daß die rechtliche Überformung der Erziehung "Innovationen, Phantasie, Selbstorganisation und die Mobilisierung eigener Ressourcen eher hemmt als unterstützt oder gar in produktive Bahnen lenkt"lll. Hierbei weist Wilke zu Recht darauf hin, daß im traditionellen Steuerungsmodell auch im demokratisch-rechtsstaatlich verfaßten Staat nicht nur "die Gefahr einer benevolent gemeinten Erziehungsdiktatur,,112 droht, sondern daß sich zugleich der "Mythos des Staates als einer dem gesellschaftlichen Interessenstreit übergeordneten eigenständigen Realität" aufgelöst hat l13 und komplexe Systeme von einer hierarchischen Spitze aus nicht mehr adäquat gesteuert werden können 114 • All diese Zielvorgaben müssen sich jedoch im Bildungswesen daran messen lassen, daß Bildung als öffentliche Aufgabe zwar nicht zwangsläufig in den traditionellen starren Formen staatlichen Verwaltungshandelns erfolgen muß, aber als öffentliches Gut gerade dadurch charakterisiert ist, daß sie von der Aufgabe her bestimmt wird und nicht von den den Marktmechanismen zugrundeliegenden Kriterien der Wirtschaftlichkeit. Insofern bleibt das öffentliche 109 Paschen, Harm, Bedingte Plausibilitätsgewichtungen heterogener Argumente. In: Paschen, Harm/Wigger, Lothar (Hrsg.), Schulautonomie als Entscheidungsproblem. WeinheimIMünchen 1996, S. II (17). HO Wilke, Helmut, Ironie des Staates, S. 121 (126 f., 143, 153, 173,201 f.). 111 Wilke, Helmut, S. 192. 112 Wilke, Helmut, S. 314. 113 Wilke, Helmut, S. 91. 114 Wilke, Helmut, S. 68.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Bildungswesen, welches staatliche wie freie Träger umfaßt, gerade für die Wahrnehmung solcher Aufgaben bestimmt, die der Markt und private Wirtschaftsunternehmen allein nicht erbringen können, weil diese Aufgaben entweder einer Gewinnerzielungsabsicht nicht zugänglich sind oder marktmäßig nur in einem mit sozialstaatlichen Geboten wie der Chancengleichheit unverträglichen Maße. Deshalb werden auch öffentliche Leistungen wie Bildung und Erziehung nicht primär für den Markt freier Abnehmer, sondern für den gesellschaftlichen Bedarf produziert und unterliegen - im Gegensatz zu privatwirtschaftlichen Unternehmensformen und -orientierungen - einer gesellschaftlichen Kontrolle. Damit ist vorgegeben, daß sich Kriterien der privatwirtschaftlichen Unternehmens- und Managementführung nur bedingt und nur in begrenztem Maße auf den Bereich des Bildungswesens übertragen lassen. Sie unterliegen stets dem Vereinbarkeitsgebot 'Gemeinwohlaufgaben und Gemeinnützigkeit'. Dies bedeutet, es muß sichergestellt sein, daß die im demokratischen Rechtsstaat erforderlichen öffentlich-rechtlichen Verfahren zur Entscheidungsfindung prinzipiell und substantiell erhalten bleiben. Gleichzeitig muß klargestellt werden, daß der Kostenbegriff im öffentlichen Bildungswesen über den betriebswirtschaftlichen Kostenbegriff hinausreicht 1l5 • Aus diesem Grunde werden auch die Bildungsziele nicht allein von Wirtschaftlichkeitskriterien her definiert, sondern von demokratisch legitimierten Politikvorgaben, innerhalb derer aber in der Tat soviel marktwirtschaftliches Verhalten möglich sein sollte, wie es sich mit der Gemeinwohlorientierung verträgt. Dies bedeutet zugleich, daß aus staatsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht überhaupt nichts gegen umfassende Ressourcenverantwortung und Wettbewerb zwischen einzelnen Schulen einzuwenden ist, sofern sie dem demokratischen Prinzip, dem Gebot der Chancengleichheit und dem Gemeinwohlprinzip Rechnung tragen. Womöglich, ist insoweit marktwirtschaftliches Verhalten im Sinne effektiven und kostenbewußten Verhaltens notwendig und zu fördern. Gleichzeitig aber muß gesellschaftlicher Konsens herrschen, daß die Vermittlung von Bildung als öffentliche Dienstleistung keine Ware im Sinne des Marktes ist. Insofern ist "public management" nur dann als positives Instrumentarium der Bildungsreform zu begreifen, wenn einer eindimensionalen betriebswirtschaftlichen Vorgehensweise etwa bei der Produktdefinition und dem Kostendenken entgegengewirkt wird. Andererseits müssen die Protagonisten der 'new public administration' anerkennen, daß öffentliche Aufgaben nicht stets staatliche, in eine Entscheidungshierarchie eingebundene Aufgaben sein müssen, bei der der einzelne keine oder nur eine geringe Verantwortung für sein Handeln trägt 1l6 , sondern diese sehr wohl in einem pluralistischen Organi115 s. hierzu Pitschas, Rainer, Die Jugendverwaltung im marktwirtschaftlichen Wettbewerb?, DÖV 1994, S. 973 (980). 116 s. hierzu Pitschas, Rainer, S. 980 ff.
IV. Die Bedeutung der Diskussion
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sationsmodell auch durch nichtstaatliche, freie Träger wahrgenommen werden können. Damit stehen Wirtschaftlichkeit und die rechtliche Festlegung von Entscheidungsverfahren gleichermaßen für die Etablierung eines "public management" oder einer "new public administration" in einem unmittelbaren Wechselverhältnis. Die Zielvorgaben schulischer Bildung und Erziehung können nur durch eine rechtlich vorgegebene Prozedualisierung legitimiert werden, d. h., das Recht bleibt in den Ziel vorgaben der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie die Grundlage allen Gesetzes- und Verwaltungshandelns eines reformierten Bildungssystems, muß aber hierbei wesentlich größere Freiräume und Eigenverantwortlichkeiten als bisher sichern. Auf dieser Basis gilt es eine Verstärkung des Verfassungs auftrages der Schulvielfalt und des Wirtschaftlichkeitsgebotes und einer neuen Verwaltungskultur im Sinne eines kundenorientierten Dienstleistungsunternehmens zu erreichen, bei der dem Staat primär die Aufgabe der gerechten Ressourcenverteilung und die prozeduale Sicherung von Chancengleichheit obliegt. Damit ist strukturell eine Basis für den sich vollziehenden Wertewandel im Verhältnis BürgerNerwaltung dahingehend, daß ein Rücktritt des materiellen Rechts zugunsten von Konsens- und Legitimationsstrategien zu erkennen ist, gegeben 117. Dienstleistungsorientierung zugunsten des Bürgers heißt dann aber auch, ihn nicht primär als Marktteilnehmer zu sehen, sondern als Träger von subjektiven Rechten in der sozialen Wirklichkeit, rechtstheoretisch gesehen impliziert daher die Forderung einer stärkeren Bürgerorientierung insofern die Forderung nach einer Stärkung der Teilhaberechte des Bürgers. Ihr zugrunde liegt ein Verständnis der Gesellschaft, in der staatliches Handeln dem Bürger dient, und zwar nicht in einem etatistischen Sinne, daß der Staat schon per se weiß, was gut für seine Bürger ist, sondern in dem Sinne, daß der Staat Ressourcen zur Verfügung stellt, die der weitgehenden Selbstdefinition des Bürgers überlassen bleiben bzw. Möglichkeiten der aktiven Bürgerbeteiligung bieten. Insofern kann man sagen, daß die "Bürgerorientierung der Öffentlichen Verwaltung" in ihrem Wandel zu einem gemeinwohlorientierten Dienstleistungsunternehmen insbesondere im Bildungswesen eine sozialstaatliche Weiterentwicklung der Grundideen der Bürgergesellschaft darstellt. Der angestrebte Wandel der Bildungsverwaltung ist in dieser Form ein Struktur- und verwaltungssoziokulturell gar ein Kulturwandel. Ein solcher kann stets nur entwicklungsmäßig und prozeßhaft verlaufen. Dies macht deutlich, daß der angestrebte Wechsel zu einer stärkeren Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Schule sich step by step vollziehen sollte, freilich dabei in Schritten, die groß genug sind, diesen Strukturwandel auch wirklich substantiell einzulei-
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s. hierzu Pitschas, Rainer, S. 974.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
ten. Hierbei geht es vor allem auch darum, Entwicklungspotentiale zu entfalten, die man verbauen kann, wenn ein Strukturwandel von oben diktiert wird. Deshalb kann der erste Schritt nur darin bestehen, die betriebs wirtschaftliche Kompetenz im Sinne der Befähigung zu output-orientierten Produktkosten, dezentralen Managementfähigkeiten und bürgerorientiertem Handeln gleichberechtigt zu verstärken und gleichzeitig Eltern und Schülern unter gleichen Bedingungen ein volles Wahlrecht zwischen den verschiedenen Schulen unabhängig von ihrer Trägerschaft zu gewähren, so daß die Schulen insoweit, ohne in unmittelbare Existenznot zu gelangen, Rückmeldungen einer Bürgerakzeptanz haben. Danach soll sich staatliche Ressourcenvergabe einerseits an den Bedürfnissen der Dienstleistungsempfänger orientieren und zum anderen über exakte Produktbeschreibungen definiert werden, wie teuer eigentlich die vom Staat erbrachten Dienstleistungen sind. Damit eng verbunden ist die Frage, ob bestimmte Dienstleistungen nicht günstiger durch Private vorgenommen werden können. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist unzweifelhaft die Lage der öffentlichen Haushalte, die einerseits zu Kosteneinsparungen zwingt und andererseits in der Suche nach Alternativen zu Überlegungen der Ausweitung des privaten Sektors auch im Bildungswesen führt 11 8. Hierbei ist die Aussage von Budde und Klemm, die Annahme, die Ausweitung des Privatschulwesens bringe eine nennenswerte Entlastung der öffentlichen Haushalte, sei falsch l19 , zunächst vordergründig. Dies mag zwar angesichts des gegenwärtigen Standes von ca. 6 % Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft auf den Gesamtetat des Bildungswesens zutreffen, doch verkennen die Überlegungen, daß die Effizienzfrage primär eine strukturelle und nur sekundär eine relativ bezogen auf den Gesamthaushalt ist. In diesem Zusammenhang ist interessant, die Kosten pro Schüler im Vergleich einer staatlichen und einer sog. privaten Schule zu sehen. So haben Untersuchungen ergeben, daß bei einem Vergleich der Schulbetriebskosten staatlicher Gesamtschulen und Gymnasien mit der Sekundarstufe von Waldorfschulen bezogen auf das Jahr 1991 die Kosten in der Gesamtschule 12.450 DM, die eines Gymnasiasten 11.781 DM und die eines Waldorfschülers nur 9.276 DM betragen, wovon bei einem Waldorfschüler fast 40 % durch Eltembeiträge und Spenden aufgebracht werden müssen l20 . Zwar berücksichtigen diese Untersu118 s. hierzu Budde, HennanniKlemm, Klaus, Zur Entwicklung der Bildungsfinanzierung: Stagnierende Bildungsausgaben - Privatisierung - Aufgabenreduzierung. In: Ralf!, Hans-Günter u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd.8. Weinheiml München 1994, S. 99 ff. 119 Budde. HennanniKlemm, Klaus, S. 106. 120 Schmitz, U., Privatinitiative hilft sparen - Kosten pro Schüler im Vergleich. In: didacta aktuell, Februar 1994, S. 26 f. Undifferenziert erscheint in diesem Zusammenhang die von Budde. HennanniKlemm, Klaus, S. 106, aufgestellte Behauptung, die Eigen leistung der Schulträger liege in der Regel unter 10 %. Diese Behauptung kann sich
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule
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chungen noch nicht die Kosten für den Fall, daß die Lehrergehälter an Waldorfschulen denen des staatlichen Schulwesens entsprechen, doch ist kompensierend dazu zu bedenken, daß in den Berechnungen der Kosten für staatliche Schulen Aufwendungen für Studienseminare, Prüfungsämter, Landesinstitute und die Schulaufsicht nicht erfaßt werden l21 .
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule Was bis in die 90er Jahre hinein als Privileg der Reformschulen in ElternLehrer-Trägerschaft galt - Selbstverwaltung, pädagogische Selbstbestimmung, das Bestehen einer echten Schulgemeinschaft - scheint nunmehr auch das staatliche Schulwesen zu erreichen. Die Schule befindet sich gegenwärtig als Institution in der größten Umbruchphase seit den sechziger Jahren, "denn ein Gespenst geht um in Europa: die immer mehr um sich greifende Tendenz erweiterter schulischer Autonomie"l22. Dieses Zauberwort hat die bildungspolitische Diskussion über die Rolle des Staates in der Erziehung in Westeuropa wieder zum Erwachen gebracht. In allen europäischen Ländern ist die Schulaufsicht als Steuerungsinstrument des Staates im Bildungswesen einem tiefgreifenden Wandel ausgesetzt 123 . In der Bundesrepublik Deutschland wird damit explizit eine Diskussion wieder aufgenommen, die einer Wellenbewegung zu unterliegen scheint. Nach der von Helmut Becker eingeleiteten Kritik an der den pädagogischen Notwendigkeiten nicht gerecht werdenden "verwaltenden Schule" in den 50er Jahren l24 und dem gescheiterten Versuch des Bildungsgesarntplans des Deutschen Bildungsrates und seiner Vorschläge zur Stärkung der Selbständigkeit der Einzelschule und der Partizipationsmöglichkeiten der Schüler, Lehrer und Eltern in den 70er Jahren l25 sowie den Reformallein auf die gesetzliche Ausgestaltung des Defizitdeckungsverfahrens NRW beziehen, wo jedoch faktisch über die Nichtanerkennung von deckungsfahigen Kosten ein wesentlich höherer Eigenteil bewirkt wird. 121 Vgl. Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Neuwied, 1995, S. 207 f. 122 Avenarius, Hermann, Schulische Selbstverwaltung - Grenzen und Möglichkeiten, RdJB 1994, S. 256. 123 s. hierzu u. a. Burkard, ChristophIRoW: Hans-Günter, S. 207 ff. 124 Becker, Hellmut, Die verwaltete Schule. In: Kulturpolitik und Schule. Stuttgart 1956, S. 33 ff.
125 Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission, Stuttgart 1970; ders., Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil I: Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern. Empfehlungen der Bildungskommission, Stuttgart 1973; s. zur Geschichte und zum Scheitern dieser Reformvorschläge Jenkner, Siegfried, Auf dem Weg zu einer freiheitlichen Schulverfassung, Erziehungskunst 1996,
S. 514 (516 ff.).
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vorschlägen der Schulrechtskommission des Deutschen Juristentages 1981 126 wird die Diskussion über eine verstärkte Selbständigkeit der staatlichen Schule durch die seit Beginn der 90er Jahre allgemein geführte Diskussion über die "Autonomie von Schule" wieder aufgenommen. Hierbei sollte eines von vornherein klar sein. Wird das Prinzip der Autonomie von Schule wirklich substantiell umgesetzt, so stellt dies für die bundesrepublikanische Bildungspolitik einen grundlegenden Paradigmen wechsel dar, weil Autonomie von Schule den Wandel von der staatlichen Ausübung der Schulhoheit, die nicht nur das inhaltliche Bestimmungsrecht über die Bildungs ziele und Lerninhalte umfaßt, sondern auch deren Umsetzung durch Curricula, Lehrpläne, Stundentafeln, die Zulassung von Lernmitteln und Schulbüchern bis hin zur Ordnung der inneren Schulverfassung zwischen Eltern, Lehrern und Schülern, hin zur Begrenzung auf die echte Schulaufsicht bedeutet, d. h. die öffentliche Kontrolle über die sich selbstverwaltende Schule. Die Diskussion um Autonomie von Schule ist keinesfalls national begrenzt, sondern bestimmt die gesamte bildungspolitische Diskussion sowohl in den westeuropäischen, zunehmend aber auch in den mittelosteuropäischen Staaten, z. B. in Polen, als auch die amerikanische und kanadische Diskussion. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, sowohl die Grundlinien der Diskussion um Autonomie von Schule über den bundesrepublikanischen Aspekt hinaus zu beleuchten als auch auf die zu vernehmende Kritik an dem Konzept einer autonomen Schule einzugehen. Die Diskussion ist hierbei ausgelöst worden durch die Erkenntnis, daß die großen Reformziele der 70er Jahre - sozial verantwortliche Mündigkeit und Erreichung von realer Chancengleichheit - allein durch eine Expansion von Bildungsangeboten und die Einführung neuer Schulformen auf der Basis detailliert vorgegebener Curricula nur unzureichend in der Schul wirklichkeit umgesetzt werden konnten. Ein Grund hierfür war und ist, daß die Schule als bürokratische Verwaltungseinheit, die hierarchischen Strukturen unterworfen ist, sich nicht adäquat den konkreten Problemen vor Ort stellen kann und sich Schule so immer mehr von der Lebenswelt der Schüler entfernte. Insbesondere die damit einhergehende Verrechtlichung von Schule und die Ausdifferenzierung und Ausweitung des Leistungsmessungssystems, die real nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einem permanenten Selektionsdruck geführt haben, haben die Einzelschule und den einzelnen Lehrer und die einzelne Lehrerin zunehmend zum Ausführungsorgan behördlich vorgegebener Zielstrategien werden lassen, die oftmals der Wirklichkeit des Lehrers und der Schüler nicht entsprachen, was zwangs126 Deutscher Juristentag (Hrsg.), Schule im Rechtsstaat, Bd. I. Entwurf für ein Landesschulgesetz. Bericht der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages. München 1981.
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läufig zu Demotivation sowohl auf seiten der Lehrer als auch der Schüler führen mußte. Dies hat zu der für die pädagogische Arbeit von Schulen problematischen Situation geführt, daß "unter den gegenwärtigen Bedingungen Lehrkräfte dazu (neigen), Lehrpläne eher unter juristischen denn unter pädagogischen Aspekten zu lesen,,127. Gleichzeitig hat die Bildungsforschung allerdings festgestellt, daß für die Persönlichkeitsentfaltung der Kinder nicht zentrale Vorgaben wie Lehrpläne oder Curricula entscheidend sind, sondern daß es primär darauf ankommt, wie die Qualität der Einzelschule zu beurteilen ist. Hierbei hat sich gezeigt, daß es gute oder weniger gute Schulen in jeder Schulform gibt, so daß es der Notwendigkeit bedurfte, sich näher damit zu beschäftigen, durch welche Merkmale die Qualität des Lebens- und Lernraumes Schule bestimmt wird. Für den Schulerfolg und die Schulqualität sind danach zwar äußere Sozialisationsbedingungen wie Elternhaus, soziale Umgebung etc. wesentlich, diese hängen aber keinesfalls monokausal von diesen ab. Vielmehr haben die Untersuchungen - deren Ergebnisse von der OECD länderübergreifend in einer Studie über Schule und Schulqualität bestätigt wurden l28 - gezeigt, daß dem Schul- und Lernklima eine wesentliche Rolle für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit zukommt und die Qualität einer Schule wesentlich von einer ihr zuzurechnenden unverwechselbaren Individualität im Sinne einer eigenen Profilbildung abhängt, die von einer selbstbestimmten und kommunikativen Ethik getragen wird l29 , wodurch insbesondere auch eine Identifizierung und damit ein stärkeres Engagement der Eltern mit der Einzelschule erreicht werden. Auch in der bundesrepublikanischen bildungspolitischen Diskussion wird seit Mitte der 80er Jahre der Ruf nach einer verstärkten Autonomie der Einzelschule zunehmend erhoben 130. Dies ist Ausdruck einer grundsätzlichen Neuorientierung, die durch das Schlagwort "von der Schulstruktur zur Schulkultur"J3) 127 Haenisch, Hans, Wirkungsweise und Wirkungsgrad von Richtlinien und Lehrplänen, Pädagogisches Forum 1993, S. 28. 128 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 117 f. (167 ff.). 129 s. hierzu Berg, Hans-ChristophiSteffen, U. (Hrsg.), Schulqualität und Schulvielfalt - Das Saarbrücker Schulgüte-Symposium '88, Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung. Wiesbaden 1991; Kleinschmied, Gottfried, Schulautonomie und Schulqualität, Pädagogisches Forum 1993, S. 32 ff.; Risse, Erika, Profilbildung - ein Weg zur Selbstmoti vation von Schulen, Pädagogisches Forum 1993, S. 18 ff.; Steffens. Ulrich/Bargel, T. (Hrsg.), Schulleben und Schulorganisation, Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung. Wiesbaden 1988. 130 Zusammen zum Stand der Diskussion s. Steffens, Ulrich, Schulqualität und Schulkultur. Perspektiven der Verbesserung von Schule, ZBV 1992, S. 24 ff.; Bönsch, Manfred, Was ist eine gute Schule? Ein Literaturbericht, ZBV 1992, S. 45 ff. 131 Leschinsky, Achim, Dezentralisierung im Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland. In: Posch, Peter/Altrichter, Herbert. Schulautonomie in Österreich. Klagenfurt 1993, S. 229.
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geprägt ist. Autonomie der Schule soll dabei ein Mittel zur Verbesserung der Schulqualität durch schulindividuelle Profilbildung sein und knüpft sowohl an westeuropäische Erfahrungen wie in den Niederlanden 132 als auch an das amerikanische Modell der "effektiven Schule"I33 an I34 . Als Grundbedingung der autonomen Schule ist dabei von der Möglichkeit der Erarbeitung einer eigenen Schulkultur und eines eigenständigen Schulkonzepts auf der Basis eines pädagogisch und strukturell gesicherten Gestaltungsspielraums auszugehen, um Schulen zu unverwechselbaren "Individualitäten mit eigenem Profil" und einem spezifischen Ethos, Geist und Klima werden zu lassen 135. Eine Verwirklichung dieses Ansatzes der autonomen Schule setzt eine grundlegende Änderung der Strukturbedingungen staatlichen Schulehaltens voraus, da nach gegenwärtigem Rechtsverständnis die Schulaufsicht des Staates vor allem durch die Befugnis zur inhaltlichen Determinierung des schulischen Geschehens im Sinne umfassender Gestaltungsrechte geprägt wird I36 • Rechtlich bedeutet dies insbesondere die Notwendigkeit, die Autonomie der Einzelschule durch eine Reduzierung der Gestaltungs- und Eingriffsrechte der staatlichen Schulaufsicht zu sichern. Hierbei stehen die traditionellen Vertreter einer umfassenden staatlichen Gestaltungsbefugnis im Bildungswesen schon bei Fuß, um Entwicklungstendenzen in Richtung Autonomie Einhalt zu gebieten. Das traditionelle Verständnis der staatlichen Schulaufsicht gemäß Art. 7 Abs. 1 GG stehe einer "Autonomie der Schule" im rechtlichen Sinne, d. h. als selbständige juristische Person des öffentlichen Rechts mit der Befugnis, ihre Angelegenheiten durch Satzungsrecht selbst zu regeln und die staatliche Schulaufsicht auf eine Rechtsaufsicht zu beschränken, entgegen I37 • Hiermit lebt der alte Streit, ob Art. 7 Abs. 1 GG eine veränderte Auslegung der staatlichen Schulaufsicht, die Selbstverwaltungsrechte beinhaltet, zuläßtI38 , neu auf. Gleichwohl wird aber auch von den Vertretern des klassischen Schulaufsichtsbegriffs die Ansicht vertreten, mit den gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland sich abzeichnenden Entwicklungen zu einer Stärkung der Selbstgestaltungsrechte der Einzelschule durch die Lockerung der Lehrpläne und der s. hierzu Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 ff. Steffens, Ulrich, S. 24 (25); zur Rezeption in der angelsächsischen Diskussion s. die Nachweise bei Leschinsky, Achim, Dezentralisierung im Schulsystem, S. 229 (230). 134 Zur internationalen Dimension s. OECD-Bericht. 135 Bönsch, Manfred, S. 45 (47). 136 s. hierzu ausführlich lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 8 ff. 131 s. hierzu vor allem Avenarius, Hermann, Schulische Selbstverwaltung, S.256 (260 ff.); ders., Schulautonomie und Grundgesetz, Pädagogisches Forum 1995, S. 64 f.; Klaus Stern im Gespräch mit Horst Wollenweber, Stern. Klaus, Zur "Autonomie" von Schule aus verfassungsrechtlicher Sicht, Realschule in Deutschland, 1995, S. 27 ff. 138 Bejahend schon früher lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot. m.w.N., aus jüngster Zeit Füssel, Hans-Peter, Von der Verwalteten Schule, S. 67 (68). 132 133
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Stundentafeln sowie der Erweiterung der Eigenverantwortung der Einzelschule bei der Mittelbewirtschaftung und der Stärkung der Einflußnahme der Einzelschule auf das Lehrpersonal seien die verfassungsrechtlichen Grenzen möglicher schulischer Selbstverwaltung noch nicht überschritten 139 • Bildungspolitisch hat die bundesdeutsche Diskussion über die Autonomie von Schule inzwischen einen gewissen "Sättigungsgrad" erreicht. Nach den Novellierungen einzelner Schulgesetze ist mit der Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen die Perspektive für die Reformierung des bundesdeutschen Bildungssystems, soweit einzelne Bundesländer den Gedanken der "Autonomie der Schule" aufnehmen wollen, relativ klar konturierbar. Demnach soll das Schulwesen in gesamtstaatlicher Verantwortung verbleibend in ein neues Steuerungsmodell überführt werden, in dem die einzelne Schule einen rechtlich gesicherten Freiraum zur Einzelgestaltung hat, innerhalb dessen die Schule sich unter vorgegebenen Rahmenbedingungen selbst Regeln und Profilierungen geben kann und für die getroffenen Entscheidungen auch verantwortlich ist l40 . Ziel ist danach nicht die "autonome" Schule, sondern eine nur relative eigenständige Handlungfreiheit, die als "Teilautonomie", besser als Gewährung von Selbstgestaltungsrechten, verstanden wird 141. Teilautonomie kann insofern nur dahingehend verstanden werden, daß auch diese Schule als nichtrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts ihr Handeln an staatlich gesetzten Rahmenvorgaben auszurichten hat l42 . Das neue Steuerungskonzept von Schulen zielt danach zwar auf eine Delegation von bisher der Schulaufsicht vorbehaltenen Entscheidungsrechten auf die Ebenen der Einzelschulen und der Schulträger, zielt aber nicht auf eine Selbststeuerung der im System professionell Tätigen. Staatliche Rahmenbedingungen sollen erhalten, dabei aber so gefaßt sein, "daß sie zwar als 'Spielregeln' Grenzen setzen und Standards sichern, aber Selbstregulierung, Selbstverpflichtung und Selbstbindung wirksam entfalten helfen,,143. Dieses Verständnis der Selbstgestaltungsrechte hält sogar an der Fachaufsicht des Staates fest, will diese freilich umgestalten von einem Modell der 139 Avenarius, Hermann, »Schulautonomie« und Grundgesetz, S.64 (65 f.); enger dagegen schon Stern, Klaus, S. 27 (30), der verfassungsrechtliche Bedenken schon gegenüber den gegenwärtigen Neuerung erhebt. 140 Bildungskommission NRW, S. 61 f. 141 Bildungskommission NRW, S. 65; s. hierzu auch Geis, Max-Emanuel, Möglichkeiten und Grenzen schulischer Partizipationsregelungen am Beispiel der sog. Schulkonferenz. In: lach, Frank-Rüdiger/lenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule, S. 31 ff.; Hufen, Friedhelm, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen schulischer Selbstgestaltung. In: lach, Frank-Rüdiger/lenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule, S. 51 ff. 142 Vgl. Füssel, Hans-Peter, Von der verwalteten Schule, S. 67 (68). 143 Bildungskommission NRW, S. 155. 5 Jach
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hierarchisch-bürokratischen Ausübung und Durchsetzung von Weisungen zu einem "Instrument aktiver Qualitätssorge und Qualitätssicherung" in Form eines Unterstützungs- und Beratungssystems l44 . Diese Neugestaltung der staatlichen Schulaufsicht, die für die Qualitätssicherung wesentlich auf die Instrumente der Selbstevaluation, eine externe Evaluation durch einen neugeschaffenen staatlichen Pädagogischen Dienst und eine Berichterstattung setzt, will zugleich die Finanzierungsformen ändern, indem an die Stelle des Zweckbindungs verfahrens bei der Finanzierung eine Pauschalfinanzierung tritt, die den Schulen auch in der Mittelverwendung eigene Gestaltungs- und Verantwortungsräume schafft l45 . Hierbei sollen die ökonomischen Grundlagen des Bildungswesens insofern unangetastet bleiben, als in der Absage an eine Marktsteuerung der Staat verpflichtet bleibt, durch eine primär öffentliche Finanzierung durch den Landeshaushalt und die Kommunen eine finanzielle Grundversorgung der Schulen sicherzustellen und einheitliche Finanzierungsvoraussetzungen für Schulen und Schulträger zu schaffen und Mindeststandards zu garantieren 146, wobei der nichtstaatliche Sektor zunächst ausgeklammert bleibt. Es gilt sich aber zu vergegenwärtigen, daß damit keinesfalls ein Verlust der staatlichen Steuerungsfahigkeit im Bildungswesen angestrebt wird, vielmehr gibt der Staat "zwar Durchsteuerungskompetenzen ab, er gewinnt aber Steuerungsfähigkeit zurück, indem er sich auf das konzentriert, was Parlament, Regierung und Behörden tatsächlich leisten können und was als wesentliche Zielsetzungen und Rahmenbedingungen auf der zentralen Ebene verantwortet werden muß", wozu insbesondere gleichwertige, nicht gleichartige Bildungsstandards zu rechnen sind 147. Dabei ist ungeachtet der Reichweite über Möglichkeiten der schulischen ,,Autonomie" in bundesrepublikanischer Perspektive stets zu beachten, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine mögliche Selbständigkeit der Einzelschule nicht dazu herhalten darf, die durch das Demokratieprinzip begründete Verantwortlichkeit des Parlaments für die bildungspolitischen Grundentscheidungen in Frage zu stellen 148, welche jedoch gegenwärtig auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen wird. ,,Autonomie" oder "Selbständigkeit" meint stets die eigenverantwortliche Ausfüllung durch den Gesetzgeber verbindlich normierter allgemeiner Rahmenvorgaben. Der Ruf nach Beachtung des Primats des Gesetzgebers scheint jedoch bei Kritikern einer stärkeren Selbstgestaltung entgegen der eigenen Intention, gegen den Abbau einer rechtlichen Überreglementierung keine Einwände zu erheben l49 , dazu zu dienen, Reformen enge Grenzen zu ziehen. Bildungskommission NRW, S. 66. Bildungskommission NRW, S. 203 ff. 146 Bildungskommission NRW, S. 212 f. 147 Bildungskommission NRW, S. 66. 148 Diese Gefahr sehen die Kritiker wie Avenarius, Hermann, »Schul autonomie« und Grundgesetz, S. 64 (65). 149 Avenarius, Hermann, »Schulautonomie« und Grundgesetz, S. 65. 144 145
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In gesamteuropäischer Perspektive l50 lassen sich in der Diskussion über die Autonomie von Schule zwei gegenläufige Tendenzen beobachten, die es auseinander zu halten gilt. "Einerseits läßt sich in den Bildungssystemen eine Tendenz zur Dezentralisierung der haushalts- und verwaltungstechnischen Aufgaben feststellen. Auf der anderen Seite läßt sich in einigen Ländern bei der Curriculumgestaltung eine Tendenz zur Zentralisierung beobachten,,151. Die Perspektive der Autonomie der Einzelschule beschränkt sich nicht nur auf die westeuropäischen und sonstige OECD-Staaten, sondern bestimmt auch die bildungspolitische Diskussion in den osteuropäischen Staaten zumindest soweit, daß sich "die Institution Schule ... von den direkten, zentral bestimmten, administrativen Einmischungen des Zentrums befreien (muß)"I52. Gleichwohl wird hier die Frage der Autonomie weitergehender und grundsätzlicher verstanden als in der westeuropäischen Diskussion. Autonomie beinhaltet danach grundsätzlich "die rechtliche Sicherung der Selbständigkeit auf verschiedenen Ebenen: Gründungsfreiheit für jede Rechtsperson, Freiheit der Forschung und der Lehre (einschließlich der Schulen, F.-RJ.), die finanzielle Autonomie für die Schulen,,153 und weist damit zu Recht eine perspektivisch weitergehende Dimension der Diskussion über die Autonomie von Schule auf. Hierbei ist es im Verhältnis zur Bildungspolitik und etwaigen Kompetenzen der Europäischen Union im Bildungswesen, insbesondere im allgemeinbildenden Schulwesen, evident, daß es "allen Bestrebungen, den Bildungseinrichtungen und Schulen mehr Autonomie zukommen zu lassen, (widerspräche), wenn zugleich eine gesamteuropäische zentralistische Bildungspolitik zugelassen wird,,154.
1. Die Autonomie von Schule als Voraussetzung für die "gute" Schule In der Frage nach dem grundlegenden Verhältnis der Schul verfassung zu dem Selbstverständnis der Grundsätze der Bürgergesellschaft hat das Strukturelement der "Autonomie" systemtheoretisch eine herausragende Bedeutung. Dieses ist gleichzeitig auch das bestimmende Moment für die Diskussion über 150 s. hierzu die Untersuchungen von Hopes, Clive (Ed.), School Inspectorates in the Member States of the European Community, 8 Bd. FrankfurtlM. 1991. 151 Eurydice (Hrsg.), Verwa1tungs- und Eva1uierungsstrukturen von Primar- und Sekundarschulen in den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Brüssel 1992, S. 8. 152 Bessenyei, Istvan, Vom Chaos in eine neue Ordnung - Die Wende, die Schule und die Politik in Ungarn, S.5, Vortragsmanuskript, gehalten auf dem Symposium "Die Rolle der Bildung für das Zusammenwachsen in Europa", Evangelische Akademie Loccum, 20.-22.3.1992. 153 Bessenyei, Istvan, Vom Chaos in eine neue Ordnung, S. 5. 154 Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, Schulleiter-Handbuch. Braunschweig 1993, S. 61.
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die Entwicklung der Schulstrukturen der Bildungssysteme der europäischen Staaten, ohne daß hierbei in der bildungspolitischen Diskussion eine unmittelbare Beziehung hierzu deutlich wird. Die Frage nach der "Autonomie der Schule" wird überwiegend primär auf die Zweckrationalität des Bildungswesens beschränkt und tangiert grundlegende demokratietheoretisch begründete Aspekte nur am Rande. Im allgemeinen geht es schlicht um die - berechtigte Frage, wie können die Ergebnisse schulischer Arbeit verbessert werden. Nach den weitreichenden Bildungsreformbestrebungen der 70er Jahre, die vor allem durch eine Expansion von Bildungsangeboten und neuen Schulformen bei gleichzeitiger zentraler Steuerung der Reformmaßnahmen versuchten, Chancengleichheit auf der Basis allgemeinverbindlicher Curricula herzustellen, hat sich seit den 80er Jahren die Diskussion angesichts einer ernüchternden Erkenntnis über die nur geringfügigen Erfolge dieser Reformbestrebungen in allen europäischen Staaten auf die Frage verlagert, welche strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen für eine "gute Schule" gegeben sein müßten, um den allgemeinen Bildungszielen und einer umfassenden Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes gerecht zu werden. Eine kritische Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Bildungsstrukturen sowohl in den westeuropäischen Staaten als auch den außereuropäischen Staaten mit einer demokratisch-parlamentarischen Tradition läßt nämlich unzweifelhaft die sehr defizitäre Implementation dieser Ziele auch in den traditionell demokratisch-parlamentarisch verfaßten Ländern erkennen. Die westeuropäischen Bildungssysteme werden ihren eigenen Ansprüchen wie denen der Verwirklichung von Chancengleichheit und der vollen Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes nur bedingt gerecht155 • Die Reformpolitik der letzten 20 Jahre in den westeuropäischen Ländern, die mit dem Ziel der Verwirklichung von Chancengleichheit angetreten war, ist 155 Ausdruck dessen sind insbes. Erscheinungsformen von Schulversagen, allgemeiner Demotivierung der Schüler und zunehmender Gewalt in der Schule. s. hierzu von Hentig, Hartmut, Schule neu denken. MünchenlWien 1993, S. 11 ff.; Hurrelmann, Klaus, Aggression und Gewalt in der Schule - Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen, Pädagogisches Forum 1992, S. 65 ff. Auf politischer Ebene wird dieses Problem zwar zunehmend gesehen, und entsprechende "Programme" zur Bekämpfung insbes. der Gewaltbereitschaft von Schülern werden "aufgelegt" - s. hierzu Etzold, Sabine, Gewalt an den Schulen, DIE ZEIT 4511992, S. 45 -, jedoch setzen diese lediglich auf Aufklärungskampagnen und sind von daher letztendlich hilflos, weil sie die diversen Ursachen von Gewalt lediglich auf der Erscheinungsebene zu kompensieren versuchen. Zu den bedenklichen Ausformungen der Gewalt an bundesdeutschen Schulen s. a. DER SPIEGEL 42/1992. Die internationale Dimension dieser Tendenzen belegt die OECDStudie über die Qualität von Schulen: "Der Schwerpunkt kann wechseln, so gibt es Einschüchterung und Vandalismus in Frankreich und der Schweiz, Schikanen in Norwegen und Finnland, Schulschwänzen in Dänemark, Gewalt gegen Lehrer und Schüler im Vereinigten Königreich, aber es gibt einen Konsens unter Erziehungswissenschaftlern, daß Störungen tatsächlich ein Problem sind.", OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 119, unter Bezug auf Steed, D., Disruptive Pupils, Disruptive Schools: Which is the Chicken? Which is the Egg?, Educational Research, Vol. 27, Nr. I, S. 3.
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule
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hierbei letztlich gescheitert. Auf der einen Seite konnte das Refonnziel - Abbau der sozialen Selektivität des Bildungswesens - selbst in Ländern mit flächendeckenden Gesamtschulsystemen nicht erreicht werden I56 . Auf der anderen Seite hat die mit dem Prinzip der Chancengleichheit verknüpfte Perspektive "der einen gemeinsamen Schule für alle,,157 mit einem standardisierten Leistungsmessungssystem und allgemeinverbindlicher Curricula ein offenes und vielfältiges Schulwesen ebenso verhindert wie pädagogische Autonomie des Lehrers oder der Einzelschule, die es den Schülern hätten ennöglichen können, nichtstandardisierte Erfahrungen im Lebensbereich Schule zu machen. Kritiker gehen dabei sogar soweit, die Institution (Pflicht-)Schule als solche in Frage zu stellen, wenn konstatiert wird, daß "seit dem Scheitern der sozialdemokratischen Bildungsrefonnen der siebziger Jahre in vielen europäischen Ländern", die zum Ziel hatten, die historisch-national verfaßte Schule von innen heraus zu modernisieren und ihr eine strukturellorganisatorische zeitangemessene Fonn zu geben, die Schule ihr Monopol verloren habe, Kinder und Jugendliche in sinnvolle und sinnhafte Lernprozesse zu integrieren 158 . Hierbei geht es in einer kritischen Bestandsaufnahme nicht darum, die Reformziele als solche generell in Frage zu stellen oder eine bestimmte konservative bildungspolitische Grundkonzeption als in sich geschlossenes, allgemeinverbindliches Gegenmodell zu generalisieren l59 , sondern zu analysieren, inwieweit eine unitaristische Bildungspolitik überhaupt in der Lage ist, den Anforderungen der Individualisierung von Lebensentwürfen in einer freiheitlichen Gesellschaft gerecht zu werden. So kommt auch eine OECD-Studie über die Qualität schulischer Bildung zu dem vorsichtig fonnulierten Ergebnis, daß die Qualität des Unterrichts "vennutlich eher auf einer ,,Problemlösungspädagogik" als auf einer Art starrem Curriculum, das zentral vorgeschrieben wird und mit traditionellen Lehrmethoden verbunden ist,,16o, beruht. Hierbei liegt ein Perspektivenwechsel insbesondere insofern vor, als die Einzelschule als ,,Motor der Entwicklung" verstanden wird und die Reformmöglichkeiten des Gesamtsystems in enger Abhängigkeit von den Refonnfähigkeiten der Einzelschule gesehen werden l61 . 156 s. Leschinsky, Achim, Schultheorie und Schulverfassung. In: Füssel, HansPeter/Leschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wievie1 Freiheit braucht die
Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 19 f. Auch für die Bundesrepublik Deutschland kann es als empirisch gesicherter Befund gelten, daß "die Schulreform der siebziger Jahre trotz intensiver Anstrengungen nur bescheidene Erfolge gebracht hat: Der Anteil der Arbeiterkinder, die zum Gymnasium gehen (7. Klasse), ist zwischen 1972 und 1990 von 6,3 % auf ganze 12,9 % gestiegen ... Richtig ist wohl, daß diese Reform nicht realisiert wurde", so Tillmann, Hans-Jürgen, Autonomie der Schule, Zeitschrift für Pädagogik 11/1993, S. 6 (8) m.w.N. aus der erziehungswissenschaftlichen Literatur. 157 s. Leschinsky, Achim, Schultheorie und Schulverfassung, S. 23. 158 du Bois-Reymond, Manuela, S. 16. 159 s. a. Leschinsky, Achim, Schultheorie und Schulverfassung, S. 32. 160 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 110. 161 Burkard, ChristophIRo(ff, Hans-Günter, S. 205.
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Insofern läßt sich nicht nur das Nichteinlösen von Reformzielen feststellen, sondern vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher und lebensweltlicher Verhältnisse, die im wesentlichen im Zerfall traditioneller Familienund damit Betreuungsstrukturen zum Ausdruck begründet liegen, kommen der Schule neue Aufgaben zu, die es erforderlich machen, vom Modell der traditionellen Unterrichts- und Lernschule Abstand zu nehmen und Perspektiven für die Erweiterung des Bereichs der schulischen Erfahrung zum Lern- und Lebensraum zu eröffnen, in dem neben den traditionellen Aufgaben der Erziehung und Unterrichtung auch die Beratung und Betreuung von Schülern in ihrer gesamten Lebenswirklichkeit notwendig werden l62 . Damit wird die "Öffnung der Schule gegenüber dem sozialen, ökologischen und kulturellen Umfeld, gegenüber außerschulischen Instanzen und Personen sowie ... die Mitarbeit der Eltern zu einem unabdingbaren Konstitutionsmoment einer neuen Schulkultur, die die bisherige Staatspädagogik der Reformpädagogik annähert,,163. Hierbei liegt es auf der Hand, daß universalistisch-zentralistische Bildungsstrukturen einer lebensweltbezogenen Schulkultur prinzipiell entgegenstehen müssen. Die Diskussion um die Autonomie von Schule ist damit zugleich der Versuch einer Antwort auf sich wandelnde gesellschaftliche Rahmenbedingungen, innerhalb derer eine statische Lernkultur sowohl aufgrund gewandelter Sozialisationsbedingungen als auch einer umfassenden Individualisierung von Lebensentwürfen und Wertorientierungen ihre Legitimation verloren hat und die es erfordert, daß sowohl die Institutionen als auch der Einzelne flexibel und selbstgestaltend auf Lebenssituationen Einfluß nehmen l64 . Die Diskussion über die Autonomie von Schule ist damit auch zugleich eine Diskussion über die Verwirklichung von Schulvielfalt, die der Pluralisierung von Lebensformen gerecht zu werden versucht und Pluralisierung wie in der Denkschrift der Nordrhein-westfälischen Bildungskommission zum Ausdruck kommend als Erweiterung der individuellen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten und Verbesserung der Chancen für ein selbstbestimmtes Leben begreift l65 . Dies kann die Schule nur dann, wenn sie nicht in ein hierarchisch vorgegebenes Konzept verpflichtend eingebunden ist, sondern selbst situationsbezogen kreativ handeln kann. Dies betrifft aber nicht nur den pädagogischen Prozeß im engeren Sinne, sondern zugleich die Legitimation staatlichen Schulehaltens insgesamt. Eine statische Lernkultur ist zugleich durch das Modell einer staatlichen Rechenschaftslegung geprägt, d. h., diese erfolgt durch eine vorgebende hierarchische 162 s. hierzu Braun, Kar1-Heinz, Die Unterrichts schule am Ausgang ihrer Epoche, Neue Sammlung 1993, S. 71 ff. (81). 163 Braun, Kar1-Heinz, S. 87, unter Verweis auf den Versuch des neuen hessischen Schulgesetzes, dieses Anliegen nonnativ zum Ausdruck zu bringen. 164 s. hierzu Posch, PeterlAltrichter, Herbert, S. 64 (67, 71 f.). 165 Bildungskommission NRW, S. 25.
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule
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Bürokratie und gewinnt ihre Legitimation schon allein aus der Einhaltung von Rechtsvorschriften, wogegen die professionell (durch Selbstkontrolle der Lehrer) und konsumeristisch (durch Schüler und Eltern entweder über Mitbestimmungsrechte oder freie Auswahlrechte zwischen verschiedenen inhaltlichen Optionen) kontrollierte Rechenschaftslegung zurücktritt l66 . Mit der Stärkung der Autonomie der Schule rückt damit der eigentliche pädagogische Prozeß in den Mittelpunkt der Legitimation. Schule legitimiert sich damit nicht mehr daher, daß der Lehrer als staatliches Organ handelt, das allein aus der staatlichen Tätigkeit heraus legitimiert ist, sondern Schule erfährt ihre Rechtfertigung daraus, daß sie sich an den pädagogischen Anforderungen der Betroffenen orientiert und diese versucht zu bedienen. Damit ist ein grundlegender Wandel der Strukturierung von Willensbildungsprozessen impliziert, als diese nicht mehr von oben nach unten, sondern umgedreht verlaufen. In diesem Sinne wandelt sich Schule damit von der Staatsanstalt zum schulischen Dienstleistungsbetrieb, was jedoch keinesfalls heißt, daß Bildung damit zur Ware wird. Insofern verwirklicht das Konzept der (teil-)autonomen Schule im staatlichen Schulwesen einen wesentlichen Gedanken, der, worauf die Reformkommission Nordrhein-Westfalen zu Recht hinweist, nicht nur die Rollen der Beteiligten von einem Verfahren der Hierarchie, Weisung und Genehmigung in ein Verhalten der kommunikativen Kooperation in Form von Beratung, Unterstützung und Überzeugung überführt, sondern intendiert einen "Wechsel der Grundorientierung: Erforderlich ist ein am Prinzip der Selbstorganisation und am Subsidiaritätsgedanken orientierter Umbau der gegenwärtigen Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen. Dies schließt eine Umkehrung der bisherigen primären 'Zuständigkeitsvermutung' ein: Nicht bei den staatlichen Aufsichtsbehörden - und hier möglichst weit oben im System - wird die größte Kompetenz zur Lösung der Probleme angenommen, sondern zunächst bei den Beteiligten und Betroffenen vor Ort"167. Daneben lassen sich in der internationalen Diskussion über die Autonomie von Schule auch Tendenzen erkennen, die von einer Marktorientierung geprägt sind. Danach soll eine stärkere Eigenständigkeit der Schule die Konkurrenz der einzelnen Schulen erhöhen, um eine Qualitäts- und Effizienzsteigerung schulischer Systeme zu erreichen l68 . Demgegenüber geht die demokratietheoretisch begründete Perspektive von Autonomie nicht von Effizienzgesichtspunkten aus, sondern versucht, demokratische Prinzipien wie basisorientierte Selbst166 Vgl. Posch, Peter/Altrichter, Herbert, S. 43. 167 Bildungskommission NRW, S. 154. 168 s. hierzu bezogen auf Österreich Posch, Peter/Altrichter, Herbert, S. 12; Sertl, Michael, Kurze Geschichte der Autonomiediskussion in Österreich. In: Posch, Peter/ Altrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich, Bd. I der Reihe "Bildungsforschung" des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 2. Auf). Klagenfurt 1993, S. 88 (92 ff.).
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
und Mitbestimmung, reale Chancengleichheit durch freie Schulwahl unter gleichen Bedingungen und Zurückdrängung des Parteieneinflusses und seiner hegemonialen Gestaltungsansprüche zu verwirklichen 169. Unter den dieser Arbeit zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen und staatsrechtlichen Überlegungen über das Selbstbestimmungsrecht der Bürger im Bildungswesen müssen primär solche demokratietheoretischen Aspekte relevant sein, da sich allein hieraus das Prinzip der mit der Autonomie der Schule angestrebten "Staatsferne" der Schule unter Respektierung der Vielfalt gesellschaftlicher Erziehungsvorstellungen normativ begründen läßt. Ein reines Marktmodell bietet dagegen keinen Schutz vor umfassenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsansprüchen, weil diese auch in einem Marktsystem bei umfassender staatlicher Determinierung von Erziehungsvorgaben möglich wäre und lediglich die diversen Einheiten um die beste Realisierung dieser Vorgaben konkurrieren würden. Gleichwohl scheinen auch die gängige Differenzierungen zwischen Markt- und Demokratiemodell fragwürdig, wenn etwa Prinzipien wie die Profilbildung der einzelnen Schule und die Einführung von Bildungsgutscheinen dem Marktmodell zugerechnet werden 170. Eine Entwicklung zur Dezentralisierung und Autonomiesierung der Einzelschule findet sich tendenziell in allen OECD-Staaten, wobei der internationale OECD-Bericht über die Qualität schulischer Bildung hinsichtlich der Notwendigkeit eines curricularen Minimalkonsenses darlegt, daß ein "allgemeines Kerncurriculum ... nicht unbedingt auch ein gleichförmiges Curriculum (ist). Ein wesentliches Element der Kunst der Curriculumplanung ist es, eine Vielfalt von Wegen in die wichtigsten Gebiete von Wissen, Fertigkeit und Wertvorstellung zu bieten und ebenso auch verschiedene Wege hinaus, die dazu verhelfen können, die individuellen Interessen und Fähigkeiten bis zur höchstmöglichen Stufe zu entwickeln. Einiges von dieser Art Differenzierung kann auf nationaler Ebene stattfinden, aber es ist wahrscheinlich am effektivsten, wenn es auf der Schulebene geplant und durchgesetzt wird, jeweils differenziert für spezifische individuelle und gruppenbezogene Bedürfnisse"l7I. In einer grundlegenden von Eurydice veröffentlichten Studie über die "Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen von Primar- und Sekundarschulen in den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft 1990", fassen die Autoren für die Bildungssysteme dieser Länder folgende grundlegende Entwicklungstendenzen zusammen, die sich in den letzten Jahren noch verstärkt haben: - "Die Schule ist dabei, zur zentralen Einheit des Schulverwaltungssystems zu werden, sei es durch Übertragung von Zuständigkeiten des Bildungsministe169 170 171
s. hierzu am Beispiel Österreichs Sertl, Michael, S. 95. So Sertl, Michael, S. 94. OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 95.
V. Die Autonomiediskussion als Ausdruck der Bürgerschule
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riums (in traditionell zentralisierten Ländern) oder von regionalen oder lokalen Behörden (in traditionell dezentralisierten Ländern). Diese Dezentralisierung (oder Redezentralisierung) kommt im wesentlichen durch zwei Arten von Maßnahmen zum Ausdruck: Erhöhung der finanziellen (und sonstigen) Ressourcen, über die die Schule selbst verfügen kann, und eine größere Entscheidungsbefugnis der Schulkonferenz; Stärkung der Schulautonomie durch die Möglichkeit der Planung und Durchführung eines 'Schulprojektes' , das die Besonderheiten der Schule und ihres Umfeldes berücksichtigt und zur Vielschichtigkeit des nationalen Bildungssystems beiträgt. - Eltern und andere Vertreter des öffentlichen Lebens gewinnen verstärkten Einfluß auf die Festlegung der Zielsetzungen, die von der Schule (im Rahmen ihrer Autonomie) erreicht werden sollen, sowie auf die Kontrolle über deren Umsetzung und die Ergebnisse .... - Die Schulverwaltung (der Einzelschule, F.-RJ.) wird zu einem wichtigen Faktor bei der Definition von Strategien zur Weiterentwicklung der Schulorganisation, zur Verbesserung ihrer Effektivität und zum Erreichen eines hervorragenden Leistungsniveaus .... - Die Stärkung der Schulautonomie und das Interesse an der Effektivität und Qualität der schulischen Arbeit führen dazu, daß Fragen der Schulevaluierung größere Aufmerksamkeit geschenkt wird .... Das Aufsichtssystem, seine Inhalte und Methoden unterscheiden sich in den einzelnen Mitgliedstaaten. Allen Aufsichtssystemen scheint jedoch gemeinsam zu sein, daß sie nach und nach den Schwerpunkt der Aufsicht von der Lehrerbeurteilung zur Evaluierung des Schulbetriebs als Ganzes verlagern. Auf der anderen Seite entstehen in verschiedenen Mitgliedstaaten eine Reihe von Initiativen zur Entwicklung der 'Selbstkontrolle' und 'Selbstevaluierung' der Schulen,,172. Burkhard und Rolff kommen zu dem Ergebnis, daß der europaweite Wandel der Schulaufsicht in drei verschiedenen Richtungen verläuft: zum einen die Stärkung der regelmäßigen externen Schulinspektionen (England); zum anderen der Verbund interner Evaluation durch Schulen und anschließender Evaluation durch die Schulaufsicht (Niederlande) oder drittens konsequente interne Evaluation mit Abschaffung der Schulaufsicht, die Schulbesuche durch nichthierarchische Expertenkommissionen zuläßt (Schweden). Hierbei zeige die erziehungs wissenschaftliche Forschung, daß "Selbstevaluation viel einflußreicher auf die Schulentwicklung ist als bloß externe Evaluation,,173. Des weiteren kommen sie zu dem Schluß, daß "der Preis der Abschwächung oder Abschaffung der Schulaufsicht ein zentrales Testsystem mit bürokratischem Anstrich" ist 174 . 172
Eurydice (Hrsg.), S. 135 f.
Budde, HerrnanniKlemm, Klaus, S. 225. 174 Budde, HerrnanniKlemm, Klaus, S. 226. 173
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft 2. Autonomie als Begriff und Zielorientierung
Bei der Diskussion um Autonomie von Schule stellt sich zunächst die Frage, ob diese einen Selbstzweck an sich oder ein Mittel zur Erreichung eines näher zu definierenden Zwecks darstellt. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer näheren Präzisierung des Begriffs der Autonomie. Zunächst ist in (staats-)rechtlicher Kategorie der Begriff der Autonomie vom Begriff der Dezentralisierung zu unterscheiden, da es nicht ausreicht zu dezentralisieren, um Autonomie zu erreichen 175. Marx und van Ojen 176 haben zu Recht darauf hingewiesen, daß durch Dezentralisierung die Regulierung durch die Obrigkeit nicht geringer wird, weil im Falle der Dezentralisierung lediglich einer niedrigeren Behörde die Aufgabe zukommt, Regeln inhaltlich zu bestimmen, ohne daß der eigene Spielraum der einzelnen Schule größer wird, und Dezentralisierung sogar zu einer Vermehrung von Reglementierung führen kann. Autonomie der Schule erfordert vielmehr darüber hinausgehend Deregulierung, d. h. Abbau rechtlicher Regelungen und Vorgaben, die es der einzelnen Schule ermöglicht, "eigene strategische Entscheidungen treffen" zu können 117. Autonomie von Schule hat danach verschiedene Dimensionen. Autonomie bedeutet zunächst auf der Einzelschulebene eine rechtlich gesicherte pädagogische und verwaltungsmäßige Eigenständigkeit. Auf der Makroebene der gesamtgesellschaftlichen Schulverfassung ist Autonomie von Schule ein unverzichtbares Strukturelement für Schulvielfalt. In dieser Dualität polarisiert sich die Diskussion um Autonomie von Schule um drei Kernbereiche: die Diskussion um pädagogische Autonomie im engeren Sinne; die verwaltungstheoretische und -praktische Frage nach Möglichkeiten der Selbstverwaltung der Einzelschule; die demokratietheoretische und rechtswissenschaftliche Diskussion um die Rolle der Schulaufsicht. Im Rahmen einer verfassungsrechtlich orientierten Studie über "Schulautonomie" kann hierbei nur ein Überblick über die wesentlichen Bestandteile einer zumindest "teilautonomen" Schule gegeben werden 178 • Ziel der Stärkung der Selbstgestaltung und Selbstverantwortungsmöglichkeiten ist danach Pasch, PeterlAltrichter, Herbert, S. 57. Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., Dezentralisation, Deregulierung und Autonomisierung im niederländischen Schulsystem. In: Pasch, PeterlAltrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich. Klagenfurt 1993, S. 161 (162 ff.). 177 Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., S. 165. 175
176
178 Näher zu den verschiedenen Ausgestaltungsformen z. B. Bildungskommission NRW, S. 151 ff. (213).
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im Unterrichtsangebot die Ennöglichung von bestimmten inhaltlichen Schwerpunkten und Zusatzangeboten durch die Reduzierung der verbindlichen Mindeststandards bei gleichzeitiger Gewährung von eigenbestimmten Unterrichtsangeboten (Profilbildung); die Erarbeitung eines Schulprogramms; in der Unterrichtsgestaltung die Gewährung weitreichender Freiräume, wie angestrebte Bildungsziele erreicht werden, insbesondere welcher Lernmittel und -methoden sich sowohl eine Schule oder der einzelne Lehrer bedient, wobei eine Rückkoppelung an die Fachkonferenz notwendig ist. Dies betrifft sowohl die Stundentafel wie auch Regelunterrichtsvorgaben bis hin zum Verzicht auf getrennte Fächer im 45-Minuten-Takt und die Ennöglichung eines fächerübergreifenden Epochenunterrichts. Es umfaßt aber auch die Möglichkeit, in Anknüpfung an refonnpädagogische Modelle unter dem Stichwort ganzheitlicher Unterricht etwa handwerklich-künstlerische Lernvorgänge den abstrakt-kognitiven gleichzustellen und zumindest teilweise einen unter Verzicht auf Selektionsmechanismen angelegten Unterricht zu praktizieren; - die Möglichkeit, außerschulische Lebensbereiche etwa des Stadtteils in das Schulleben zu integrieren; ein eigenständiges Bestimmungsrecht der Schulkonferenz über die inneren Strukturen der Schule, d. h. die Installierung eines demokratisch legitimierten Selbstverwaltungsprozesses unter Einbeziehung aller Betroffenen sowie eine Stärkung der Mitbestimmungsrechte der Schule bei der Einstellung von Lehrern, wenn diese Schule ein bestimmtes pädagogisches Konzept verwirklicht; - die Entscheidungsbefugnis über die Verwendung der zugewiesenen Mittel sowohl im Bereich der Personalressourcen als auch der Sachmittel, wobei die Möglichkeit einer Substituierung von Personal- und Sachmitteln bestehen soll. Alle diese Aspekte hätten sich zu manifestieren in einem Schul programm und würden bedeuten, daß nach Offenlegung gegenüber der Öffentlichkeit Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen pädagogischen Profilen bestehen, wobei die Gleichwertigkeit - nicht jedoch die Gleichartigkeit - und Offenheit der einzelnen Bildungsinstitutionen gewährleistet sein müssen. Die Diskussion um Autonomie von Schule ist daher primär entstanden in der Diskussion um die Voraussetzungen für eine 'gute Schule'. Sie ist damit primär eine pädagogische Diskussion und darf nur in nachgerückter Perspektive als organisationstheoretische oder rechtswissenschaftliche verstanden werden. Gleichwohl stellt sich damit die grundlegende Frage der nonnativen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die notwendig sind, um solchennaßen Schule zu gestalten.
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Dies setzt insbesondere voraus, daß sich Schulen normativ abgesichert im Wege der Selbstdefinition ein eigenständiges pädagogisches Konzept erarbeiten und ein solches realisieren können. Beispielhaft hierfür ist die neuere Schulentwicklung in Holland, wie sie im Basisschulgesetz von 1985 ihren Ausdruck gefunden hat. Danach sind die Schulen zwar weiterhin an die relativ weit gefaßten Rahmenvorgaben und selbstverständlich insbesondere an die durch den Gesetzgeber normierten demokratischen Erziehungsziele und Organisationsstrukturen gebunden, die sicherstellen, daß alle Schulen für jedermann zugänglich bleiben, doch verläuft der pädagogisch-administrative Entwicklungsgang genau entgegengesetzt den bundesrepublikanischen Verhältnissen. Die einzelne Schule gibt sich selbst ein Schulprogramm, welches ihre pädagogischen und inhaltlichen Ziele und Methoden festlegt, und erst im nachhinein wird dies von der Schulaufsicht daraufhin überprüft, ob dieses Schulprogramm mit den allgemeinen Rahmenvorgaben übereinstimmt. Ist dies der Fall, enthält sich die Schulaufsicht jeglicher eingreifenden Standardisierung. Hierbei ist es den Schulen auch möglich, etwa vom Jahrgangsklassenprinzip Abstand zu nehmen und bis zur achten Klasse auf die Vergabe von Zeugnissen zu verzichten. Die Niederlande weisen sich nicht nur durch ihre starke Stellung von reformpädagogisch orientierten Schulen in freier Trägerschaft aus, sondern auch im Bereich der staatlichen Basisschulen besteht ein weitreichendes Angebot von Schulvielfalt, so daß ca. 10 % der Basisschulen in den Niederlanden ein eigenständiges pädagogisches Profil verfolgen, wovon etwa die Hälfte reformpädagogisch orientiert ist. Auch in Dänemark lassen sich ähnliche Strukturelemente finden. Für die im wesentlichen kommunal bestimmte Folkesskole besteht ein erheblicher pädagogischer Gestaltungsspielraum, der es den Schulen sowohl ermöglicht, auf die spezifischen Bedürfnisse der konkreten Schule in ihrem sozialen Umfeld einzugehen - insbesondere deshalb, weil die allgemeinen Bildungsziele sowie Leitlinien für die Curricula und Unterrichtshilfen zwar vom Bildungsministerium zentral erlassen werden, jedoch nur Empfehlungscharakter haben und ihre Verbindlichkeit erst durch entsprechende Verordnungen der Gemeinde erhalten, die wiederum so auf die spezifischen Bedürfnisse der Schule reagieren kann. Dieses Modell der autonomen Schule basiert nicht nur auf der organisationssoziologischen Erkenntnis, daß eine von den Beteiligten selbst definierte und getragene Einheit effektiver und motivierter arbeitet als eine hierarchisch untergliederte und administrativ geführte 179, sondern verwirklicht damit auf der Makroebene strukturell eine Schulvielfalt, die die Wahl zwischen verschiedenen, wirklich voneinander abweichenden pädagogischen Konzepten ermöglicht. 179 Dies ist organisationssoziologisch ein wesentliches Argument für die Einführung des sog. Neuen Steuerungsmodells in der bundesdeutschen Verwaltung.
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In diesem Kontext gilt es festzuhalten, daß Schulvielfalt nicht nur konstituierendes Moment einer freien Schul wahl ist, sondern daß Wettbewerb im Sinne einer Marktkonkurrenz nicht mit Schulpluralismus gleichzusehen ist und allein ein System der freien Schulwahl als solches noch kein Grarant für Schul vielfalt ist l80 . Voraussetzung hierfür ist vielmehr ein gleichberechtigtes Nebeneinander .verschiedener pädagogischer Konzeptionen unabhängig von ihrer Trägerschaft. Zentraler Begriff ist hierbei der des parental choice, welcher nicht darauf zu reduzieren ist, daß dies "der sicherste Weg zur Evaluation einer vergleichbaren Qualität von Schulen wäre,,181, sondern zugleich von grundlegenden demokratietheoretischen Überlegungen bestimmt wird. Danach sollen Staat und Gesetzgebung grundsätzlich die Divergenz gesellschaftlich bestehender Wertvorstellung über die Voraussetzungen einer "guten Schule" akzeptieren und die Möglichkeit struktureller Schulvielfalt sichern. Insofern ist die Autonomiediskussion entgegen dem ersten Anschein nicht primär auf die pädagogische Freiheit des individuellen Lehrers als Person gerichtet, sondern eingebunden in ein strukturell sich an einer Außenpluralität der verschiedenen Träger orientierenden Schulpolitik. Insofern weist Marx zu Recht darauf hin, daß "Schulautonomie impliziert, daß Lehrer als einzelne weniger autonom sind zugunsten einer gemeinsam entwickelten Schulpolitik 'mit eigenem profiI,,,182. Hierbei intendiert das Konzept der autonomen Schule, im Gegensatz zu den von ihren Kritikern befürchteten zunehmenden qualitativen Diversität der einzelnen Schulen je nach ihrer sozialen Eingebundenheit l83 , gerade die Möglichkeit des Ausgleichs sozialer Disparitäten, wie sie durch das Prinzip der Stadtteilschule und deren sozial unausgeglichener Zusammensetzung produziert wird. Nur eine dezentrale Steuerung des Bildungswesens ist in der Lage, auf die spezifischen sozialen Probleme der einzelnen Schule adäquat zu reagieren und sich auf das spezifische Klientel in einem benachteiligten Umfeld pädagogisch und schulorganisatorisch einzustellen l84 . Dieses bedeutet unter kompensatorischen Gesichtspunkten aber auch, daß zukünftig "neben eine eher quantitativ orientierte Entwicklungsplanung ... die gezielte Förderung von Schulen in 180 s. hierzu OECD/CERI, (Hrsg.), Freie Schulwahl im internationalen Vergleich. FrankfurtlM. 1996, S. 18 f. (50, 71). 181 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S'. 141. 182 Marx, Ernst, Bedingungen der Schulautonomisierung in Holland, Erziehung heute 311993, S. 23. 183 s. hierzu Ludwig, Ulrich, Autonome Schul-GmbH?, Hamburger Lehrerzeitung 1993, S. 18 f.; Sievers, Hans-Peter, Selbstverwaltete demokratische Schulen, Hamburger Lehrerzeitung 1993, S. 15 (17). 184 s. hierzu Pfister, JürgenIWeishaupt, Horst, Schulische Autonomie - Organsiatorische Aspekte der Schulqualität. In: Steffens, UlrichIBargel, T. (Hrsg.), Schulleben und Schulorganisation, Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung. Wiesbaden 1988, S. 123 (125 ff.).
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benachteiligten Umwelten durch zentrale Schulbehörden (Schulfinanzierung) treten (sollte). Solche Schulen ... brauchen unter Umständen mehr Lehrer und höhere materielle Zuwendungen als Schulen der gleichen Schulform in privilegierten Umwelten"l85. Mit diesem Modell der autonomen Schule wandelt sich grundsätzlich die Rolle der Schulaufsicht. Diese ist nicht mehr primär steuernd und leitend, sondern beratend tätig l86 . Gleichzeitig wandelt sich damit rechtlich ihre Funktion von der umfassenden Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht zur Aufsicht im klassischen Sinne, der Rechtsaufsicht. Diese sichert die demokratische und sozialstaatliehe Eingebundenheit auch der autonomen Schule, ohne ihr die Möglichkeit der Selbstdefinition zu nehmen, die unter starker Beteiligung von Eltern und Schülern und innerhalb demokratischer Schulstrukturen hinsichtlich der Rolle des Schulleiters erfolgen müßte l87 . Die Befähigung und Schaffung der strukturellen Voraussetzungen dafür, daß die Schule die sich ihr stellenden grundsätzlich neuen Erziehungs- und Betreuungsaufgaben mittels einer flexiblen Reaktionsfähigkeit der Einzelschule und auf das soziale Umfeld wahrnehmen kann, ist angesichts des damit einhergehenden grundSätzlichen Paradigmenwechsels nur bei einer gleichzeitigen grundlegenden Reform der schulverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen möglich. Neben diesem von mir gleichermaßen demokratietheoretisch wie pädagogisch begründeten Konzept der Autonomie von Schule besteht jedoch auch eine andere Konzeption der Autonomie von Schule, die sich weniger als ein pädagogisches, denn als ein haushaltspolitisch-marktöffnendes versteht. Marktöffnung in dem Sinne, daß die Finanzierung von Schule durch nicht durch den Bildungsauftrag gedeckte Dienstleistungsangebote wie Computerkurse für Eltern und Firmenkontrakte erfolgen sollen, um den Staatshaushalt zu entlasten l88 . Solche Tendenzen und Intentionen erscheinen im Hinblick auf die Notwendigkeit, einer Vermarktung von Bildung entgegenzuwirken, bedenklich. Die damit versteckt angestrebte Entlastung der Bildungshaushalte durch die Möglichkeit der Eigenmitteleinwerbung birgt erhebliche Gefahren in sich. Deshalb ist es notwendig, die Diskussion um die pädagogische Autonomie von Schule zu trennen von der dem Staat und den Kommunen weiterhin alleinverSteffens. Ulrich/Bargel, T. (Hrsg.), S. 135. s. hierzu Geldschläger, Peter, Selbsteuerung der Schulen - Ziel der Schulaufsicht?, Pädagogisches Forum 1993, S. 11 ff.; Rolf!, Hans-Günter, Selbstorganisation und 185
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Schulaufsicht, Pädagogisches Forum 1993, S. 27 f. 187 Zur Rolle des Schulleiters im europäischen Vergleich s. Eurydice (Hrsg.), S. 76 ff. 188 Zu der insofern berechtigten Kritik zur behördeninternen Diskussion über Sinn und Zielorientierung einer stärkeren Autonomie der Schulen im Lande Hamburg s. Ludwig, Ulrich, S. 18 f.; Sievers, Hans-Peter, S. 15 ff.
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antwortlich obliegenden Verpflichtung für die personelle und sachliche Ausstattung der Schulen, um sozial unverträgliche Verzerrungen etwa durch Tendenzen wie in Großbritannien, wo es gesponsorte Schulen und nichtgesponsorte Schulen gibt, zu vermeiden. Dies hat aber nichts mit der Richtigkeit des Ansatzes zu tun, den Schulen ein Selbstbestimmungsrecht auch über die ihr zugewiesenen Mittel zu geben, um diese, ihren individuellen pädagogischen Notwendigkeiten entsprechend einsetzen zu können. In diesem Zusammenhang ist es völlig verfehlt - wie es jedoch einzelne Kritiker tun -, die in der bundesdeutschen Erziehungs- und Rechtswissenschaft sich entwickelnde Diskussion über die Autonomie von Schulen als Marktöffnungsstrategie im Sinne des Thatcherismus zu begreifen. Hierbei ging es in der Tat nicht um pädagogische Autonomie, diese wurde vielmehr durch das National Curriculum und einen permanenten Selektionsdruck im Zuge des reform act von 1988 versucht zu beschränken, sondern um den Versuch, einerseits die Macht der lokalen Behörden, die zum größten Teil der Labour Party nahestanden, zu untergraben und zum anderen Bildung zur Ware zu machen. Deshalb ist es etwa für die bundesdeutsche Diskussion unbedingt notwendig, die rechtlichen Voraussetzungen für die Möglichkeit der pädagogischen Autonomie und Selbstverwaltung der Einzelschule bis hin zur Mittelverwendung zu schaffen, bei der Mittelbeschaffung und Vergabe jedoch unbedingt am Grundsatz der sozial staatlichen Einstandspflicht des Staates, wonach jede Schule eine prinzipiell gleiche Ausstattung haben und für jedermann offen sein muß, festzuhalten und dieses prozedual zu sichern. Hierbei zeigen die Erfahrungen aus Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden, daß mit der Profilbildung keinesfalls eine soziale Selektivität verbunden ist, die über das Maß an sozialer Selektivität hinausgehen würde, welche sich durch die soziostrukturelle Zusammensetzung von Stadtteilschulen ergibt. Daß auch in Deutschland positive Ansätze für mehr pädagogische Autonomie realisierbar sind, zeigt sich in den Bemühungen mehrerer sozialdemokratisch (mit-)regierter Bundesländer, insbesondere in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Bremen l89 . Angesichts der preußisch-absolutistischen Tradition staatlichen Schulehaltens in Deutschland scheint ein Paradigmenwechsel von der Staatsschule zur autonomen Selbstverwaltungsschule für die traditionelle Schulrechtslehre und Bildungspolitik kaum vorstellbar, im internationalen Kontext ist er längst überfällig und demokratietheoretisch sollte man sich auf das besinnen, was in anderen gesellschaftlichen Bereichen längst selbstverständlich ist: daß sich die Willensbildung von unten nach oben vollzieht, die Betroffenen autonom unter Akzeptanz der Vielfalt dieser Gesellschaft ihre Interessen definieren und der Staat 189 Zu den Ursprüngen der Autonomiediskussion in Deutschland s. Braun, KarlHeinz, S. 71 ff.
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sich auf eine regulierende Ausgleichsfunktion unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten beschränkt, wobei sichergestellt sein muß, daß das Schulwesen nicht dem wirtschaftlichen Kalkül des Marktes zum Opfer fällt. Bei alledem muß das von mir skizzierte und befürwortete pädagogischdemokratische Konzept der autonomen Schule scheitern, wenn es nicht von den Lehrern selbst getragen wird. Die Gefahr der Nichtakzeptanz besteht dabei um so stärker, je mehr in der Lehrerschaft der Eindruck entsteht, der Staat wolle seine haushaltspolitischen Schwierigkeiten und insbesondere seine Verantwortung hierfür nach unten - sprich auf die Einzelschule - abwälzen. Bei alledem müßte diese gesamte Neukonzeption jedoch eingebettet sein in eine stärkere kommunale Beteiligung an den inneren Schulangelegenheiten, um einer Atomisierung der Einzelschule entgegenzuwirken.
3. Die Bedeutung der Diskussion über die Autonomie von Schule für das Verhältnis von staatlicher und freier Schule Denkt man das Prinzip der autonomen Schule strukturell, so wird deutlich, daß damit der Gegensatz von staatlicher und freier Schule zumindest abnimmt und zugleich "mit der Autonomisierung die 'psychologische' Distanz zwischen Staat und Schule zunimmt"I90. Wenn staatlichen Schulen ebenso wie freien Schulen die Möglichkeit eigenverantwortlicher Schulgestaltung auf der Basis bestimmter Grund- und Minimalanforderungen gegeben wird, so ist dies ein erster Schritt der Entstaatlichung von Schule in Richtung auf ihre Vergesellschaftung 191 und die Transformation der Freiräume von Schulen in freier Trägerschaft auf das staatliche Schulwesen l92 , bei der das Prinzip der Gleichartigkeit durch das der Gleichwertigkeit von Schulen als Strukturprinzip für das gesamte Schulwesen ersetzt und Pluralismus unabhängig von der Trägerschaft zum bestimmenden Konstitutionsmoment der Schulverfassung wird. Die Frage der Trägerschaft ist in einem autonomisierten Schulwesen deshalb sekundär, weil die Strukturprinzipien der pädagogischen, haushaltsrechtlichen und verwaltungsmäßigen Autonomie sowohl für die autonome staatliche als auch die freie Schule signifikant sind. Ein solchermaßen konzipiertes Schulwesen nimmt bewußt Abstand von einer zentralistischen Schulkultur, die vom Leitbild und Ideal eines prinzipiell richtigen Weges zur Erreichung gesellschaftlich verbindPosch, PeterlAltrichter, Herbert, S. 42. Grundlegend hierzu lach, Frank-Rüdiger, Vom staatlichen Schulsystem zum öffentlichen Schulwesen, Diss. Bremen 1988. 192 In diesem Sinne Vogel, J.P., Die Privatschulbestimmungen des Grundgesetzes Ein Verfassungsmodell für das gesamte Schulwesen. In: Berg, Hans-ChristophlSteJfen, U. (Hrsg.), Schulqualität und Schulvielfalt - Das Saarbrücker Schulgüte-Symposium '88, Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung. Wiesbaden 1991, S. 73 ff. 190
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licher Erziehungs- und Bildungsziele ausgeht, und orientiert sich statt dessen an einer gleichberechtigten Plurifonnität der Ziele und Arbeitsweise von Schule. Die staatliche Schule behält ihre Legitimation dann vor allem darin, eine schulische Grundversorgung dort sicherzustellen, wo die gesellschaftliche Selbstorganisation dieses nicht mehr gewährleistet. Dies ist sowohl dort der Fall, wo Schulen einschließlich der Lehrer und Eltern kein besonderes pädagogisches Profil im Sinne einer besonderen pädagogischen Prägung anstreben, oder wo die gesellschaftliche Selbstorganisation nicht gewährleistet, ein ausreichendes Schulangebot sicherzustellen. Zudem kommt im Prinzip der autonomen Schule die staats- und verfassungsrechtliche Dimension der Verstärkung der Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern zum Ausdruck. Die Forderung nach einer Autonomie der Schule zur Verwirklichung pädagogischer Vielfalt findet neben bildungspolitischen, bildungssoziologischen und bildungsökonomischen Erwägungen seine verfassungsrechtliche Grundlage in der Verpflichtung des Staates, ein Bildungswesen bereit zu stellen, in dem die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im Rahmen eines allgemeinverbindlichen Mindeststandards im Wege der Selbstdefinition über die Erziehung und den Bildungsweg ihrer Kinder entscheiden können l93 . Diese Pflicht des Staates, durch entsprechende organisationsrechtliche Regelungen schulische Vielfalt zu ennöglichen, rechtfertigt es bei struktureller Umsetzung des Prinzips der Autonomie der Einzelschule in verwaltungsmäßiger, curricularer und pädagogischer Hinsicht nicht, bestimmte Träger von Schulen statusmäßig unterschiedlich zu behandeln, sondern erfordert vielmehr eine Gleichbehandlung, wenn die Schulen gleichennaßen dieselben Gleichwertigkeitsanforderungen erfüllen. Dies wird bildungstheoretisch unterstützt durch Darlegungen, die Marx und van Ojen in bezug auf das niederländische Bildungswesen ausgeführt haben. Danach gibt es verschiedene Schulorganisationsmodelle für das Prinzip "autonome Schule"I94, die unter rechtlichen Aspekten Gleichbehandlung erfordern. Hierbei entspricht das Modell der kooperativ sich regulierenden Organisation dem Modell der Schule, das heute durch Schulen in freier Trägerschaft repräsentiert wird, nämlich solche Schulen, die von einer von Eltern, Lehrern und Schulleitung gemeinsam getragenen pädagogisch-weltanschaulichen Basis geprägt werden l95 , also eine bestimmte pädagogische oder weltanschauliche Richtung repräsentieren. Dies können entweder religiös oder laizistisch geprägte Unterrichtskonzeptionen sein oder aber eben auch refonnpädagogische im Sinne dessen, was man "Waldorfschulen", "Montessorischulen", "Freinetschulen" etc. nennt. 193
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Grundlegend lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot. Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., S. 172 ff. Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., S. 175 f.
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Denkt man in diesem Sinne das Modell der autonomen Schule konsequent, kann nicht mehr von einer privaten Trägerschaft im Sinne der Wahrnehmung von Sonderinteressen gesprochen werden, sondern diese Schulformen sind neben den anderen Modellen - der "lernenden Organisation" und der "segmentierten Organisation" - gleichberechtigter Bestandteil des öffentlichen Bildungswesens. Damit kann der Anspruch des Prinzips der autonomen Schule, eine freie Schulwahl unter Wahrung des Prinzips der Chancengleichheit zu gewähren, eine unterschiedliche materielle und rechtliche Behandlung von Schulen allein nach ihrer Trägerschaft nicht mehr rechtfertigen. In diesem Kontext hat die Diskussion über "die Autonomie von Schule" eine doppelte Dimension. Zum einen hängt sie eng zusammen mit allgemeinen Demonopolisierungs- und Deregulierungstendenzen im Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge und zielt auf die allgemeine Frage, ob öffentliche Aufgaben wirklich vorrangig durch den Staat wahrgenommen werden müssen oder dies nicht ebenso effektiv durch nichtstaatliche Träger geschehen kann, eine Perspektive also, bei der sich plurale Trägerschaft des Bildungswesens und staatliche Finanzierung nicht ausschließen. Zum anderen beinhaltet die Autonomiediskussion die Frage der Selbstverwaltungsmöglichkeiten der staatlichen Schule, in ihrer radikalsten Ausprägung das Recht, sich aus ihrem Dasein als eine nichtrechtsfahige Anstalt des Staates zu befreien l96 . 4. Alternative Formen der Bildungsfinanzierung in einem autonomen Schulwesen - der Bildungsgutschein
Eine besondere Bedeutung für Schulvielfalt und Wahlfreiheit in einem autonomen Bildungswesen könnte der Idee des Bildungsgutscheins zukommen. Dieses aus den Vereinigten Staaten stammende Prinzip des "Voucher,,197 ist dergestalt konzipiert, daß allen Eltern bzw. Schülern ein bestimmter Betrag in Form eines Gutscheins zur Verfügung gestellt wird, der ganz oder zu einem Teil den Kosten entspricht, die für einen Schüler an einer staatlichen Schule aufzubringen sind. Mit diesem Gutschein können die Eltern dann entscheiden, für welche Schule, staatlich oder nichtstaatlich, dieser Gutschein verwandt werden soll. Die Schulen finanzieren sich nicht durch globale staatliche Mittelzuweisungen, sondern durch Schulbeiträge, für die der Bildungsgutschein eingelöst werden kann. In letzter Konsequenz geht dieses Modell von der völligen Autonomie der Einzelschule und der freien Schulwahl der Eltern aus. s. hierzu Hensel, Horst, Die Autonome Öffentliche Schule, München 1995. Erstmals entwickelt bei Friedman, Milton, Capitalism and Freedom, Chicago/ London 1962, S. 89 ff.; zum Stand der amerikanischen Diskussion s. Straubhaar. Thomas/Winz, Manfred, S. 116 ff.; eine umfassende Darstellung findet sich bei Maurer, Mathias. 196 197
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In den Vereinigten Staaten ist dieses Modell in mehreren Staaten eingeführt worden und gewährt eine Teilwahlfreiheit dergestalt, daß die Eltern zwischen allen öffentlichen, d. h. staatlichen oder kommunalen, Schulen des Landes frei wählen können l98 • Obgleich die Möglichkeit der Einlösung von Bildungsgutscheinen auch bei Privatschulen auf ganz wenige Experimente beschränkt (z. B. in Milwaukee, Minneapolis und Kansas City) ist l99 , können von diesem Prinzip wichtige Impulse auch für die europäische und bundesrepublikanische200 Diskussion ausgehen, obgleich zu konstatieren ist, daß die Untersuchungsergebnisse aufgrund ihrer restriktiven Rahmenbedingungen, insbesondere die Begrenzung des Prinzips der freien Schulwahl auf öffentliche Schulen, nur bedingt Aufschluß über die sozialen Auswirkungen eines Bildungsgutscheinsystems zulassen 201 . Den weitestgehenden Vorschlag in diese Richtung haben jüngst Straubhaar und Winz aus einer bildungsökonomischen Perspektive gemacht202 . Diese haben in ihren Reformvorschlägen unter Bezugnahme auf andere Untersuchungen dargelegt, daß "das System des staatlich finanzierten Bildungsangebots ... nicht in der Lage (ist), das Ziel der Chancengleichheit zu erfüllen. Wie verschiedene Untersuchungen ergeben haben, läuft das heutige Finanzierungssystem den ursprünglichen sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen (sogar, F.-RJ.) entgegen,,203, weil "öffentliche Bildungsausgaben keinesfalls zwangsläufig zu Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der sozial Schwächeren führen und die generelle Subventionierung des Bildungsangebots statt der Bildungsnachfrage zu einer indirekten Subventionierung der sozial Bessergestellten und die Bildungsangebote stärker in Anspruch Nehmenden durch die sozial Schwachen führt,,204. Da die Koppelung von staatlichem Bildungsangebot und staatlicher Bildungsfinanzierung sachlich nicht zwingend, ökonomisch ineffizient und sozial ungerecht sei 205 , plädieren sie für eine staatliche Finanzierung der Bildungsnachfrage statt des Bildungsangebots206 über Bildungsgutscheine, die bei den sich über Schulgelder (Beiträge) zu finanzierenden Bildungsinstitutionen einzulösen s. hierzu Richter, Ingo, Bildungsrecht und Bildungspolitik, RdJB 1992, S. 547 (548). Richter, Ingo, S. 548. 200 A. A. Richter, Ingo, S. 549. 198 199
201 Zudem müßte untersucht werden, ob ein Bildungsgutscheinsystem nicht gerade wegen der Benachteiligung kleinerer Schulen den Intentionen von Schulvielfalt entgegenstehen könnte. 202 Straubhaar, ThomasIWinz. Manfred. die Autoren beziehen sich im wesentlichen auf die Schweiz. Zur Schweizer Diskussion um den Bildungsgutschein s. schon Seiler, Ueli. In Richtung mündige Gesellschaft - Die Praktizierbarkeit des Bildungsgutscheins, Schweizerische Lehrerzeitung 5/1980. 203 Straubhaar. ThomasIWinz, Manfred, S. 128. 204 Straubhaar. ThomasIWinz. Manfred, S. 109. 205 Straubhaar. ThomasIWinz. Manfred, S. 22. 206 Straubhaar, ThomasIWinz, Manfred, S. 92.
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wären, wobei eventuell eintretende negative Effekte ungleicher Bildungschancen, die durch unterschiedlich hohe Schulgelder entstehen könnten, durch kompensatorische staatliche Maßnahmen ausgeglichen werden müßten 207 . Hierbei plädieren sie für eine verfassungsmäßige Kodifizierung dieser Art der Bildungsfinanzierung, um sie den Konflikten "polit-ökonomischer Eigenziele" der jeweiligen gesellschaftlichen Interessengruppen zu entziehen208 • Es soll und kann nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein, zu beurteilen, ob das Modell des Bildungsgutscheins tatsächlich zu mehr Effizienz und mehr sozialer Gerechtigkeit führt. Entscheidend ist, daß Untersuchungen wie die von Straubhaar/Winz auch bildungsökonomisch die bildungspolitische These belegen, daß die Verstaatlichung des Bildungswesens keinesfalls notwendig und kausal zwingend für die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit im Bildungswesen ist, sondern daß entstaatlichte Formen des Bildungswesens sehr wohl dem Anspruch sozialer Gerechtigkeit genügen können. Darüber hinaus wäre zu untersuchen, inwieweit eine Politik, die - an statt freie Schulen direkt zu unterstützen - es dem einzelnen durch individuelle Bezuschussung ermöglicht, eine freie Schule zu besuchen, das Potential hat, systematische Veränderungen im Verhältnis von staatlicher und freier Schule zu bewirken, als nämlich damit ein Vordringen privater Vorsorge aufgrund freier Entscheidung des einzelnen möglich ist209 •
VI. Die Schule in freier Trägerschaft als bürgerschaftlich verfaßte Schule In einem Europa der Bürger, nicht der Nationalstaaten, stellt sich die Frage der Freiheit der Erziehung in neuer Dimension. Sie stellt sich einerseits im Vergleich mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in dem Versuch, die ineffektiven und kostensprengenden nationalen Bildungssysteme zu reformieren, aber andererseits auch in der Frage eines europäischen Grundrechtekatalogs. Will Europa wirklich zu einer politischen europäischen Union zusammenwachsen, so muß es sich eine Verfassung der Bürger geben, die deren Grundrechte sichert. Die Freiheit der Erziehung und des Unterrichts ist gerade im Vergleich mit den Erfahrungen in den totalitären Staaten der ehemals sozialistischen Staaten Grundbaustein jeder freiheitlich demokratischen Verfassungsordnung für ein vereintes Europa. Europas Einigung muß dabei dem hohen Grundrechtsstandard Rechnung tragen, wie er sich in einigen Ländern entwickelt hat. 207 208 209
Straubhaar, ThomasIWinz, Manfred, S. 111 ff. Straubhaar, ThomasIWinz, Manfred, S. 130.
Dies gilt insbesondere für die Stipendienzuschüsse in England.
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1. Die Bedeutung und Entwicklung der Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft Seit Ende der siebziger Jahre haben in allen europäischen Ländern, insbesondere auch im deutschsprachigen Raum, Schulgründungen in selbstverwalteter Eltern-Lehrer-Trägerschaft - sofern ihnen nicht die Genehmigung verweigert wird - sprunghaft zugenommen, obgleich ungeachtet dessen nur 6 % der Schüler in den alten Bundesländern und ca. 1 % der Schüler in den neuen Bundesländern210 Schulen in freier Trägerschaft besuchen211 • Es handelt sich hierbei um Schulgründungen, bei denen Lehrer und Eltern als Bürger Verantwortung für die Verwirklichung pädagogischer Ideale und Zielvorstellungen übernehmen wollen, die sie weder im staatlichen noch im kirchlichen Schulwesen verwirklicht sehen. Charakteristisch für diese ist, daß es ihnen nicht um Elitenbildung oder die Durchsetzung christlicher versus weltlicher Erziehungsziele geht, sondern um die Verwirklichung bestimmter pädagogischer Grundsätze "vom Kinde aus", für die in der Tradition des frühen Humboldt die Herrschaftsgewalt des Staates über die Schule als unüberwindbares Hindernis erscheint. Gesellschaftlich wird die Funktion des Staates gegenüber der Schule neu definiert: nicht nur die schon von der Reformpädagogik der 20er Jahre her bekannte Forderung, daß Schule nicht als bloßer Bestandteil des staatlichen Verwaltungshandelns und seiner hierarchischen Entscheidungsstrukturen gesehen werden dürfe und zur Verwirklichung ihres Auftrages pädagogische und verwaltungsmäßige Selbstbestimmungsmöglichkeiten brauche, steht im Vordergrund, sondern das Vertrauen an staatliche Steuerungsmechanismen im Bildungswesen wird generell aufgekündigt. Angesichts der Tatsache, daß das staatliche Schulwesen in den 70er Jahren alle Reformansätze in der Formalität des Streites über Bildungsgänge und Abschlüsse und Gesamtschule versus dreigliederiges Schulsystem erstickt hat, ohne die innere Schulreform, das lebendige Lernen, zu verwirklichen, greifen die Eltern zur Selbstorganisation. Nach einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklung nehmen diese Schulen in freier Trägerschaft in der gesellschaftlichen Akzeptanz deutlich ZU 212 • Dieser Wunsch nach Selbstverwaltung und Selbstorganisation des Bildungswesens in Bürgerhand hat jedoch in Deutschland mit weitreichenden Schwierigkeiten rechtlicher und finanzieller Art zu kämpfen. Dies hat zum einen seinen Grund in der restriktiven Genehmigungspraxis für solche Schulen, 210 Eine Ausnahme ist Sachsen, wo jede 14. Schule eine Privatschule ist, allerdings nur 2,7 % der Schüler eine solche besuchen. 211 Bundesverband Deutscher Privatschulen, VDP, Informationsdienst, 15/1995, S. 1. 212 Rolff u. a. haben festgestellt, daß im Jahre 1993 mit 19 % der Anteil der Bürger, die explizit mehr Privatschulen befürworten, gegenüber den VOljahren deutlich gestiegen ist, Rolff, Hans-Günter u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimlMünchen 1994, S. 52.
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zum anderen liegt es an der materiellen Belastung der Eltern, die im Bundesdurchschnitt ein Drittel der laufenden Kosten des Schulbetriebs selbst zahlen und zudem in erheblichem Maße die Schulbaukosten durch Spenden finanzieren müssen. Im Schuljahr 1994/95 besuchten in der Bundesrepublik Deutschland rund 470.000 Schüler eine der insgesamt 2.082 Privatschulen, von denen lediglich 114 Schulen sich in den neuen Bundesländern befanden. Von den rund 470.000 Schülern besuchten 44 % ein Gymnasium, 13 % eine Freie Waldorfschule und 10 % eine private Sonderschule2l3 • Der alte Gegensatz von Staat und Kirche ist spätestens seit den 70er Jahren für die Charakterisierung der Gegenüberstellung von Staats- und Privatschule überholt. Aus einer Dualität ist eine Trinität geworden, nämlich die staatlichkommunalen Schulen, die kirchlichen Schulen und die Schulen in freier LehrerEltern-Trägerschaft. Letztere geprägt nicht durch monistische Wertvorstellungen, die sie in der Schule als Weltanschauung vennitteln wollen, sondern als Schulen besonderer pädagogischer Prägung, die weltanschaulich offen eine besondere Pädagogik im Interesse des Kindes verwirklichen wollen. Diese Schulen unterscheiden sich von kirchlichen Schulen sowohl in ihrer pädagogischen Zielrichtung als auch in ihren rechtlichen und materiellen Voraussetzungen von kirchlichen Schulen in so erheblichem Maße, daß es nicht mehr gerechtfertigt erscheint, von einem einheitlichen Bereich der Privatschulen zu sprechen. Deutlich wird dies z. B. daran, daß kirchliche Volks(Grund-) schulen uneingeschränkt zu genehmigen sind, während Grundschulen in Eltemträgerschaft einem oft sehr restriktiv ausgelegten Genehmigungsvorbehalt unterliegen und von den Eltern ein erheblich höheres Schulgeld, welches sich i.d.R. pro Kind zwischen 180 und 250 DM bewegt, erheben müssen. Diese Schulen in Elternträgerschaft unterscheiden sich von kirchlichen Schulen nicht nur dadurch, daß sie sich als weltanschaulich pluralistisch verstehen und nicht auf bestimmte geschlossene Wertsysteme hin ihre Kinder erziehen wollen, sondern diese Schulen sind für ihre Gründung und den Aufbau des Schulbetriebs in wesentlich stärkerem Maße auf die auch finanzielle Einsatzund Opferbereitschaft angewiesen, als dies für Eltern von Kindern, die kirchlichen Schulen besuchen, der Fall ist. Nicht nur, daß diesen "Schulgründern" im Gegensatz zu kirchlichen Schulen i.d.R. kein Stiftungsvermögen oder ein sonstiges Vermögen zur Verfügung steht, auf das sie sich stützen könnten, um die Schule nebst allen notwendigen Investitionen ins Leben zu rufen, sondern auch das zu erhebende notwendige Schulgeld für den laufenden Schulbetrieb ist zumindest in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich höher als an kirchlichen Schulen. Während z. B. katholische Schulen, allerdings um den Preis des Rückgriffes auf das Kirchensteueraufkommen, oftmals nur ein Schulgeld zwi213
Angabe des Statistischen Bundesamtes, zit. nach DLZ 2/1996, S. 3.
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sehen 20 und 50 DM im Monat erheben, liegt dies bei Schulen in Lehrer-ElternTrägerschaft im Durchschnitt bei ca. 200 DM im Monat pro Kind 214 • Dies hat natürlich zur Folge, daß Schulen in Elternträgerschaft zumindest tendenziell dem Vorwurf ausgesetzt sind, sie seien "typische Mittelstands- bzw. akademische Eliteschulen,,215. Ein Vorwurf, der nur dadurch aufrecht erhalten werden kann, weil die Schulen in Elternträgerschaft in einer Weise bezuschußt werden, die sie zwingt, ein Schulgeld in solcher Höhe zu erheben, obgleich sie von ihrem Selbstverständnis her am liebsten auf Schulgeld verzichten ~ürden, um wirklich jedem Bürger offenzustehen. Für nichtkonfessionelle SchUlen in Lehrer-Eitern-Trägerschaft trifft jedenfalls das traditionelle Bild der nrivatschule und die klassische Lastenverteilung nicht zu: ,,Nach dem 'herkömmlichen Bild der Privatschule' brachte der Träger die Eigenleistung aus seinem Vermögen auf; für den laufenden Schulbetrieb konnte er Schulgeld erheben. Dieses Bild hatte Theodor Heuss vor Augen, als er im Parlamentarischen Rat eine Unterstützung der Privatschulen aus öffentlichen Mitteln für eine vollkommene Unmöglichkeit hielt,,216. Bürgerschule meint also in erster Linie die Schule in Lehrer-Eltern-Trägerschaft, nicht die kirchliche Schule. Damit soll nicht die Existenzberechtigung und Notwendigkeit kirchlicher Schulen für ein freies Bildungswesen in Frage gestellt werden, sondern strukturell eine neue Betrachtungsweise des Verhältnisses von staatlich-kommunaler und nichtstaatlicher Schule ermöglicht werden. Auch wenn diesen Schulen in Lehrer-EItern-Trägerschaft strukturell in der Betrachtung das überwiegende Interesse gilt, ist die damit verbundene Frage der Bildungsfreiheit eine grundsätzliche, die die Existenzbedingungen kirchlicher Schulen miteinschließt. Bildungsfreiheit bedeutet immer zugleich die Frage, wieviel Staat braucht die Schule? Sollen Eltern und Kinder frei die Schule ihrer Wahl besuchen können, so umfaßt dies auch das Recht der Eltern, die eine kirchlich orientierte Erziehung ihrer Kinder wünschen, eine solche Schule frei wählen zu können. Bildungsfreiheit hat also eine doppelte Perspektive. Zum einen ist sie ein objektives Element einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft, zum anderen ein subjektives Grundrecht. Die Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft sind eine besondere Ausprägung der bürgerschaftlichen Schule, aber keinesfalls ihr einziger Typus. Die Schule 214 Von ähnlichen Zahlen geht auch aus Hurrelmann, Klaus, Schulen sind pädagogische Dienstleistungsunternehmen, DLZ Nr. 47/481996, S. 24. 215 s. hierzu Glenn, Charles, Educational freedom in Eastem Europe. Washington D.C. 1994, S. 291 unter Bezugnahme auf die empirischen Daten von Ulrich, Heiner, Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung. WeinheirnlMünchen 1987. 216 Vogel, I.P., Entwicklung des Finanzhilferechts der Schulen in freier Trägerschaft vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 8.4.1987 bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 9.3.1994. In: Müller, FriedrichlJeand'Heur, Bemd, Zukunftsperspektiven der Freien Schulen, 2. Auf!. Berlin 1996, S. 167 (185).
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in der Bürgergesellschaft verlangt nach allgemeingesellschaftlichem Engagement der Bürger auf allen Ebenen. Hierzu kann ebenso die kommunalöffentliche Schule als auch die kirchliche Schule gehören. Schule der Bürgergesellschaft ist die staatliche Schule allerdings nur dann, wenn sie, anders als in Deutschland oder Frankreich, den Hegemonialanspruch der jeweiligen politischen Mehrheit nachrangig hinter das Selbstverwaltungsrecht der einzelnen Schule in didaktischer, pädagogischer, verwaltungsmäßiger und haushaltsrechtlicher Hinsicht stellt. Die "Bürgerschule" darf dabei die Frage der Chancengleichheit nicht außer acht lassen. Diese Perspektive kann sich nicht nur gegen den Staat in der Forderung nach einer ausreichenden Finanzierung zur Vermeidung sozialer Selektionen richten, sondern diese Schulen müssen sich angesichts ihres weitgehenden Rechts, ihre Schüler nach dem Prinzip der positiven Auslese selbst auszusuchen, kritisch ihrer Mittelschichtsorientierung in der Elternschaft stellen, um ihren Anspruch einzulösen, keine Privatschulen, sondern allgemeingesellschaftliche Schulen zu sein. Hierbei ist nicht zu verkennen, daß der ganz überwiegende Teil des nichtstaatlichen Unterrichts jedoch nicht von Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft unterhalten wird, sondern von der katholischen Kirche, die 85 % der sog. privaten Bildung in der Europäischen Gemeinschaft umfaßt und mit mehr als 10 Millionen Schülern in den voruniversitären Bildungsabschnitten 15 % aller Schüler in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschult. Hierbei kommen die Schüler an katholischen Schulen nach Untersuchungen von Erziehungswissenschaftlern häufig aus benachteiligten Schichten217 • Aus Sicht dieser Schulen besteht in Europa ein starkes Nord-Süd-Gefalle dergestalt, daß "die Länder Mittel- und Nordeuropas ... die Freiheit der Bildung weitestgehend anerkennen" und die Bildungseinrichtungen finanzieren, sofern sie den gesetzlichen Mindestanforderungen unterliegen, während "in südlichen Ländern wie Spanien, Frankreich, Italien, Portugal und Griechenland die Freiheit der Bildung aus verschiedenen Gründen - fehlende ökonomische Ressourcen oder die Präferenz einer offiziellen Bildung seitens der Regierung - schamlos eingeschränkt" wird218 • Betrachtet man die Bildungssysteme näher und stellt nicht auf die alte Dualität des Streites zwischen Staat und Kirche um die Vormacht über das Bildungswesen ab, sondern untersucht das Bürgerrecht auf Bildungsfreiheit als Selbstbestimmungsrecht insbesondere auch im pädagogischen Bereich, so 217 Mason, Peter, Elitism and Patterns of Independent Education. In: Boyd, W.L.lCibulka, I.G., Private Schools And Public Policy. London 1989, S. 315 ff. 218 So auch die Einschätzung von Jimenez, Santiago Martin, Die wünschenswerte Harmonisierung der Bildungssysteme in der europäischen Union. In: Lassahn, R./Ojenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtJM. u. a., 1994, S. 133 (140) insgesamt für das
nichtstaatliche Schulwesen.
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zeichnen sich differenzierendere Gesichtspunkte einer typisierenden Betrachtung ab als aus nur konfessioneller-katholischer Sicht. Nimmt man für eine vergleichende Analyse den Begriff der Bildungsfreiheit zum Ausgangspunkt, so lassen sich hierunter verschiedene grundrechtliche Gewährleistungen fassen. Zum einen die Gründungsfreiheit für Schulen in freier Trägerschaft. Des weiteren gehört hierzu die Frage der Unterrichtsfreiheit i.S des Rechts eines eigenständigen pädagogischen Profils und der Vermittlung bestimmter weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen. Drittens gehört hierzu schließlich die Frage der finanziellen Grundausstattung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, inwieweit den Staat die Pflicht trifft, alle nichtstaatlichen Schulen gleichermaßen zu bezuschussen. Ausdruck für den Selbstgestaltungswillen der Bürger ist die Tatsache, daß überall in Europa seit 1970 mit erstaunlichen Wachstumsraten reformpädagogische Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft gegründet wurden. Hierzu gehören insbesondere die Freien Waldorfschulen, die Montessorischulen und die freien Alternativschulen, anhand derer im nachfolgenden im besonderen die "Bürgerschule" im Bereich der Schulen in freier Trägerschaft exemplarisch dargestellt werden soll. Besonders deutlich wird dies an den Waldorfschulen zum einen, weil diese Schulen zahlenmäßig und pädagogisch den größten Einfluß nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland widerspiegeln und weil zum anderen die rechtlichen Rahmenbedingungen VOn nichtstaatlichen Schulen aufgrund der zur Verfügung stehenden Literatur und der Tatsache, daß es diese Schulen in allen europäischen Ländern gibt, an diesem Schultypus am besten rechtsvergleichend darzustellen ist. Während weltweit diese Schulform von 150 Schulen im Jahre 1970 auf über 600 Schulen im Jahre 1992 stieg, sind die Wachstumsraten in der Bundesrepublik noch signifikanter. Nicht nur das Anwachsen der Zahl der Schulen zwischen dem "gesellschaftlichen Aufbruchsjahr von 28 Schulen im Jahre 1968 auf 162 im Jahre 1996219 (die Entwicklungsstufen im einzelnen: von 24 im Jahre 1951 über 31 im Jahre 1970,69 im Jahre 1980 auf 154 im Jahre 1994 mit Wachstumsraten VOn fünf neugegründeten Schulen seit den 70er Jahren jährlich) ist hierbei interessant, sondern daß im Gegensatz zu den früheren Schulgründungen diese seit 1970 zunehmend nicht durch Lehrer-, sondern durch Elterninitiativen zustande kamen 220 und 95 % dieser Eltern keine Anthroposophen sind221 . Hierbei sind im Rahmen der deutschen Einheit innerhalb der neuen Bundesländer 15 Waldorfschulen bis zum Schuljahr 1997/98 entstanden. 219 Leist, Manfred, 50 Jahre Bund der Freien Waldorfschulen, Erziehungskunst 1996, S. 532 (539). 220 Leber, Stefan, Waldorfschule heute, Stuttgart 1994, S. 44. 221 Hardorp, Detlef, "Entstaatlichung von Schule - Chance oder Risiko für Qualität?", Erziehungskunst 1996, S. 418 (421).
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Hierbei ist die Frage der Reichweite der Gewährung von Unterrichtsfreiheit in ihrer Relevanz für das pädagogische Wirken exemplarisch daran zu sehen, daß unter dem Aspekt von Schulvielfalt die weit überwiegende Mehrzahl der ca. 1.300 reformpädagogischen Schulen in Europa, die erziehungswissenschaftIich in etwa 15 bis 20 Schularten unterteilt werden 222 , fast alle den Status von nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft haben. Dies gilt z. B. für die Waldorfschulen, von denen im Oktober 1996 in Belgien 20, Deutschland 162, Dänemark 16, Estland 7, Finnland 17, Frankreich 11, Großbritannien 19, Nordirland 1, Schottland 1, Irland 2, Italien 13, Kroatien 1, Lettland 4, Liechtenstein I, Luxemburg I, Niederlande 96, Norwegen 24, Österreich 10, Polen 3, Portugal 1, Rumänien 5, Russland 18, Schweden 24, Schweiz 37, Slowenien 1, Spanien 2, Tschechien 7 und Ungarn 7 Schulen existierten223 • Dies bedeutet, daß eine pädagogische Konzeption wie die der WaIdorfpädagogik in Westeuropa traditionell primär im Bereich des nichtstaatlichen Schulwesens Verwirklichung findet, so daß es für die Ausübung der Grundrechte von Eltern und Schülern von besonderer Relevanz ist, unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen sie die Verwirklichung ihrer pädagogischen Grundeinstellung realisieren können. Hierbei ist entscheidend zu berücksichtigen, daß bis auf Ausnahmen wie in der Schweiz, wo im Kanton Bern über hundert Lehrer an staatlichen Schulen mit Elementen der Waldorfpädagogik arbeiten 224 , und in Rußland und Rumänien, wo die Waldorfpädagogik als staatlicher Schulversuch klassenweise in über 80 Experimentalklassen in staatlichen Schulen erprobt wird225 , diese als geschlossenes pädagogisches Konzept - ungeachtet dessen, daß einzelne Elemente der Waldorfpädagogik sicher das staatliche Unterrichtswesen beeinflußt haben - im staatlichen Schulwesen keinen Platz haben. Interessant ist in diesem Kontext für mögliche innovative Tendenzen, daß 1991 in den USA im Bundesstaat Milwaukee mit der Einführung eines Urban Waldorf Program "zum ersten Mal eine Waldorfschule im Rahmen des staatlichen Schulwesens gegründet" wurde 226 , welches angesichts der sozialen und finanziellen Rahmenbedingungen diese Schulform für ganz neue Bevölkerungskreise öffnet227 • 222 223
Berg, Hans-Christoph, Suchlinien. NeuwiedlKrifteVBerlin 1993, S. 139. Maurer, Mathias, Anzahl der Waldorfschulen, Erziehungskunst 1997, S. 81 (ohne
Berücksichtigung der Waldorfklassen in staatlichen Schulen). 224 s. hierzu näher Bühler, Ernst, Waldorfpädagogik in staatlichen Schulen der Schweiz, Erziehungskunst 1992, S. 456 ff. 225 Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1993. In Erziehungskunst 1993, S. 1377 (1406): "In Rumänien werden inzwischen etwa 2.800 Kinder in über 80 WaIdorfexperimentaIklassen und 50 Kindergartengruppen unterrichtet. An manchen Schulen wie z. B. in Bukarest und in Jasi umfaßt der Aufbau bereits fünf Klassenstufen. 226 s. hierzu näher Staley, Betty, Das "Urban WaIdorf Program", Erziehungskunst 1993, S. 67 ff. 227 Die amerikanischen Waldorfschulen erhalten als Privatschulen keine staatliche Unterstützung und müssen somit von der Elternschaft finanziert werden, Staley, Betty,
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In internationaler Perspektive ist dabei für die noch andauernden Wandlungsprozesse in den mittelosteuropäischen Ländern signifikant, daß in allen Ländern dort Waldorfschulen nach der Wende schnell Eingang in das Bildungssystem fanden (Budapest 1990, 1991 in Estland und Rumänien, 1992 in Moskau, Petersburg, Warschau und Prag und nachfolgend in den neu gegründeten Staaten Kroatien, Slowenien, Georgien, Annenien, Ukraine, Moldavien und Kirgistan)228. Dies geschah wiederum in rechtlichen Formen, die aus bundesdeutschen Verhältnissen überraschen: nämlich nicht nur als Schule in freier Trägerschaft, sondern oftmals auch als Versuchsklassen integriert ins staatliche Schulsystem.
2. Die grundrechtliche Gewährleistung der Freiheit des Unterrichts in den Verfassungen der westeuropäischen Staaten Das Recht der Freiheit der Erziehung ist im GeItungsbereich der Europäischen Gemeinschaft und den übrigen westeuropäischen Staaten als Grundrecht anerkannt und zählt auch in den Ländern, wo es nicht ausdrücklich verfassungsrechtlich normiert ist, zu den klassischen Freiheitsrechten229 . Es ist so Bestandteil eines gesamteuropäischen Verfassungsrechts und mitkonstituierend für "die kulturelle Einheit Europas, die den Wurzelboden des gemeineuropäischen Verfassungsrechts bildet,,230. Das Grundrecht der Freiheit der Erziehung im Sinne des Rechts der Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft (sog. Privatschulen) und das Recht, in diesen Schulen einen eigenverantwortlich geprägten Unterricht zu erteilen, findet sich explizit oder implizit in Art. 17 § 1 der belgischen Verfassung, § 76 der dänischen Verfassung, Art. 7 Abs. 4 und 5 GG, Art. 16 Abs. 1 und 8 der Verfassung Griechenlands, Art. 42 Abs. 1 bis 3 der irischen, Art. 33 der italienischen, Art. 23 der luxemburgischen, Art. 23 Die Geschichte des amerikanischen Schulwesens, Erziehungskunst 1993, S. 7 (8); Barnes, Henry, Die Ursprünge der Waldorfschulbewegung und die Herausforderungen der Gegenwart, Erziehungskunst 1993 (Themenheft USA), S. 23 -, so daß diese Schulen bei Schulgeldern zwischen 3.000 und 10.000 Dollar jährlich pro Kind, ungeachtet der Tatsache, daß über Schulgeldermäßigungen und Schulgelderlaß versucht wird, diese Schule auch für Familien mit geringerem Einkommen offen zu halten, die Tendenz von zumindest sozial-wirtschaftlichen Eliteschulen haben (müssen) - Fulmer, Carol, Die Finanzierung der amerikanischen Waldorfschulen, Erziehungskunst 1993, S. 39 (40). 228 Leber, Stefan, Waldorfschule heute, S. 48. 229 de Witte, BrunoiPost, Harry, Educational and Cultural Rights. In: Cassese/ClaphamlWeiier (eds.): Human Rights and the European Community: The Substantive Law. Baden Baden 1991, Vol. III, S. 130. 230 Häberle, Peter, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S.261 (267).
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Abs.2 i.V.m. Abs. 5 bis 7 der niederländischen, Art. 43 Abs. 1 und 4 der portugiesischen sowie Art. 27 Abs. 1,3 und 6 der spanischen Verfassung. Daneben enthalten die meisten europäischen Verfassungen ein explizites Recht auf Bildung oder Erziehung, so Art. 17 § 3 belgisehe Verfassung, Art. 76 dänische Verfassung, Art. 16 Abs.4 griechische Verfassung, Art. 73 Abs. 1 portugiesische Verfassung, Art. 27 Abs. 1 spanische Verfassung. Darüber hinaus finden sich - aufgrund der besonderen föderalen Struktur des deutschen Bundesstaates - Verbürgungen eines Rechts auf Bildung in verschiedenen Landes verfassungen. Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Absicherung der Unterrichtsfreiheit in ganz Europa ist die Bedeutung der nichtstaatlichen Schulen in Europa sehr unterschiedlich. Dementsprechend reicht ihr Anteil von 1 % (Schweden) über 5 % (Bundesrepublik Deutschland) bis hin zu 75 % (Niederlandei31 . Nun kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, daß das sog. Privatschulwesen in der Bundesrepublik Deutschland zahlenmäßig gleichsam marginal ist. Diese Marginalität drückt sich freilich auch in Deutschland heute schon dergestalt aus, daß über 500.000 Schüler an privaten allgemeinbildenden Schulen und zudem 130.000 Schüler an privaten beruflichen Schulen unterrichtet werden, also ca. jeder 20. Schüler lernt an einer nichtstaatlichen Schule. Nimmt man hierbei die Vergleichszahlen für die jüngste Entwicklung in Deutschland, so besuchen heute ca. 12 % aller Gymnasiasten Privatschulen. Besuchten 1960 2 % aller Schüler - in Zahlen 277.000 - Privatschulen, so sind es heute bei 5 % 500.000 an allgemeinbildenden und 130.000 Schüler an beruflichen Privatschulen. Gab es 1960 12.000 Waldorfschüler, so waren es im Schuljahr 1996/97 66.372 Schüler232 • Dabei verkennt die traditionelle staatsbezogene bundesdeutsche Sichtweise oftmals, daß in anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden und Belgien heute schon mehr als die Hälfte aller Schüler Schulen in freier Trägerschaft besuchen, ohne daß in diesen Ländern eine Gefährdung der öffentlichen Erziehung zu erkennen wäre 233 . s. a. Berg, Hans-Christoph, Suchlinien, S. 132. Nach Budde, HennanniKlemm, Klaus, S. 111. 233 Der Anteil von sog. Privatschulen unterteilt nach Primarschulen (P) und Sekundarschulen (S) im Jahr 1989 betrug in Belgien P 56,0 % S 66,7 % Dänemark P 9,7 % S 15,5 % Deutschland P 1,8 % S 8,1 % S 21,1 % Frankreich P 14,8 Griechenland P 6,6 % S 3,7% Irland P 100 % 87,1 % Italien P 7,5 % 86,5 % Luxemburg P 0,7 % S 73,4 % Niederlande P 68,8 % 231
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3. Die völkerrechtliche und europarechtliche Verankerung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Freiheit des Unterrichts Der europäische Einigungsprozeß wird ungeachtet der verschiedenen kulturellen Traditionen durch ein gemeinsames Minimalethos der Unterrichtsfreiheit getragen, wie es insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention seinen Ausdruck gefunden hat. In verschiedenen völkerrechtlichen und europarechtlichen Übereinkommen finden sich Verbürgungen des Rechts auf Bildung und Freiheit der Erziehung. In europäischer Dimension sind hier besonders Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 20. März 1952234 , die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Freiheit der Erziehung in der Europäischen Gemeinschaft vom 14.3.1984235 , die Erklärung des Europäischen Parlaments über die Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989 236 , das Abschlußdokument des Wiener Folgetreffens der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 15.1.1989237 sowie das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE 238 zu erwähnen. P 1,1 % S 4,5 % Norwegen Österreich P 3,9 % S 7,4 % Spanien P 34,5 % S 32,4 % Schweden P 0,9 % S 1,2 % Schweiz P 2,4 % S 6,3 % Türkei P 0,6 % S 3,5 % Vereinigtes Königreich P 4,8 % S 9,0 % nach Budde, Hermann/Klemm, Klaus, S. 111. 234 Art. 2: Das Recht auf Bildung darf niemanden verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen; s. hierzu und zur Rechtsprechung des EGRM de Witte, BrunoiPost, Harry, S. 134. 235 ABI. EG Nr. C 104/69 v. 14. März 1984. 236 Abgedruckt in NVwZ 1991, S. 759. Der einschlägige Art. 16 lautet: Abs. 1: Jeder hat das Recht auf Bildung und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten. Abs. 2: Die freie Schul wahl ist gewährleistet. Abs. 3 Das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder gemäß ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen wird geWährleistet. 237 Die einschlägige Formulierung lautet: Die Teilnehmerstaaten 63 .... werden gewährleisten, daß allen ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status die verschiedenen Arten und Stufen von Bildungseinrichtungen zugänglich sind. 238 Abdruck in EuGRZ 1990, S. 239, insbesondere Ziffern 13 (Rechte des Kindes), 26 (Lehre demokratischer Werte, Institutionen und Praktiken in Bildungseinrichtungen), 32 LV.m. 32.2 (Schutz von nationalen Minderheiten und ihr Recht eigene Bildungseinrichtungen zu unterhalten und zu gründen) sowie 40.3 (Erziehung zu Toleranz und Verständigung gegenüber Fremdenhaß Diskriminierung von Minderheiten und Totalitarismus).
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Darüber hinaus sind verschiedene Erklärungen und Übereinkommen der UNO zu erwähnen, insbesondere Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Februar 1948;Art. 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966, die Erklärung der Rechte des Kindes vom 20. November 1959 sowie das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, wo in Art. 29 Abs. 2 ausdrücklich das Recht zur Gründung und Unterhaltung von Schulen in freier Trägerschaft garantiert wird. Für die europäische, insbesondere osteuropäische Verfassungsentwicklung kommt in diesem Ensemble internationaler völkerrechtlicher Vereinbarungen der Europäischen Menschenrechtskonvention eine herausragende Bedeutung zu, die sich auch darin manifestiert, daß die Europäischen Menschenrechtskonvention als völkervertragsrechtliches Gesetzeswerk samt der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in vielen osteuropäischen Verfassungstexten und auch in ostdeutschen Landesverfassungsentwürfen entweder in Gestalt expliziter Rezeption oder der Sache nach zur Leitmaxime der Grundrechtskataloge geworden ist239 . a) UN - Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Das Recht der Bildungs- und Unterrichtsfreiheit im Sinne einer Absage an ein staatliches Schulmonopol gehört zum gemeinsamen menschen- und grundrechtlichen Ensemble der Völkergemeinschaft. Dieses Recht ist jedoch primär als Abwehrrecht konzipiert und begründet keine unmittelbaren Leistungsansprüche nichtstaatlicher Schulen. Ausdruck dessen ist zunächst das - völkerrechtlich unverbindliche - in Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wozu auch die Freiheit gehört, seine Religion oder Weltanschauung privat oder öffentlich durch Unterricht zu bekunden. Ferner anerkennt Art. 26 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht eines jeden auf Bildung sowie gern. Abs. 3 das vorrangige Recht der Eltern, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll. Völkerrechtlich verbindlich erweitert wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die beiden sog. Menschenrechtspakte vom 16. Dezember 1966, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (sog. Zivilpakt) sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (sog. Sozialpakt). Während der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte in Art. 18 Abs.4 als Abwehrrecht gegen staatliche Zugriffe die Verpflichtung der Vertrags staaten normiert, die Freiheit 239 Häberle, Peter, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 (1037).
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der Eltern, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen und insofern nur eine das elterliche Erziehungsrecht betreffende Regelung enthält, anerkennt Art. 13 Abs. 3 und 4 des Sozialpaktes explizit das Grundrecht der Bildungsfreiheit im Sinne eines Abwehrrechts gegen staatliche Eingriffe. Danach verpflichten sich die Vertragsstaaten nach Abs. 3, die Freiheit der Eltern zu achten, für ihre Kinder andere als öffentliche Schulen zu wählen, die den vom Staat gegebenenfalls festgesetzten oder gebilligten bildungspolitischen Mindestnormen entsprechen. Diese Bestimmung wie auch die anderen des Art. 13 dürfen von den Vertragsstaaten nicht dahin ausgelegt werden, daß sie die Freiheit natürlicher oder juristischer Personen beeinträchtigen, Bildungseinrichtungen zu gründen und zu leiten, sofern die in Abs. 1 dieser Vorschrift niedergelegten Grundsätze beachtet werden und die in solchen Einrichtungen vermittelte Bildung den vom Staat gegebenenfalls festgesetzten Mindestnormen entspricht. Nach Abs. 1 des Art. 13 erkennen die Staaten das Recht eines jeden auf Bildung an und stimmen darin überein, daß die Bildung auf die volle Entfaltung der Persönlichkeit und des Bewußtseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Grundrechten und Menschenrechten stärken muß. Ferner bindet Art. 13 Abs. 1 den Bildungsauftrag an das Ziel, jedem eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu ermöglichen und daß die Staaten Verständnis, Toleranz, Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Unterhaltung des Friedens unterstützen. Soweit nichtstaatliche Schulen diesen Bildungszielen nicht zuwiderlaufen, darf ihre Gründung und Unterhaltung nicht behindert werden. Der Sozialpakt normiert damit ein auch für die Gewährung der Unterrichtsfreiheit notwendiges "zivilisatorisches Minimum", welches als eine unproblematische Sicherung gegen eine den Gedanken der Menschen- und Bürgerrechte widersprechende Instrumentalisierung der Bildungsfreiheit zu sehen ist. Unzweifelhaft stellt der Sozialpakt danach eine völkerrechtliche Absage an ein staatliches Schulmonopol dar. Nach h.M. lassen sich daraus jedoch keine Leistungsrechte auf staatliche Zuwendungen herleiten. Gleichwohl wird die Ansicht vertreten, diese Vorschrift begründe "eine Verhaltenspflicht, die (die Staaten, F.-R.J.) dazu zwinge, die geeigneten und ihnen zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um die Privatschulen in der Weise zu subventionieren, damit die Eltern von dem ihnen in Art. 13 Abs. 3 d Sozialpakt rechtlich zustehenden Wahlrecht auch faktisch Gebrauch machen können,,24o. Nach Auffassung des UN-Ausschusses für Menschenrechte stellt es keine Verletzung des Diskriminierungsverbots gern. Art. 5 Abs. 4 des Fakultativprotokolls zu dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte dar, wenn der Staat in einem Erziehungssystem, welches sowohl private als auch öffentliche Erziehung vorsieht, nicht die gleiche Höhe der Unterstützung für die 240
Mascello, Bruno, Elternrecht und Privatschulfreiheit. SI. Gallen 1995, S. 185 f.
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bei den Arten von Einrichtungen gewährt, wenn das private System nicht staatlicher Aufsicht unterliegt24l . Auch die UN-Kinderkonvention vom 20. November 1989 anerkennt, daß das Recht auf Bildung und die Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes und seiner Fähigkeiten in Achtung der Menschen- und Grundrechte, seiner kulturellen Identität, den nationalen Werten seines Landes und in Vorbereitung auf ein verantwortungs bewußtes Leben in einer freien Gesellschaft nicht so ausgelegt werden darf, daß sie die Freiheit natürlicher oder juristischer Personen beeinträchtigen, Bildungseinrichtungen zu gründen und zu führen, sofern die vorstehend genannten Grundsätze des Abs. 1 beachtet werden und die in solchen Einrichtungen vermittelte Bildung den vom Staat gegebenenfalls festgelegten Mindestnormen entspricht. Ebenso betont die UNESCO in ihrer Konvention gegen die Diskriminierung im Bildungswesen vom 14. Dezember 1960 den Grundsatz der Bildungsfreiheit. Danach stellt es gern. Art. 2 lit. c) keine Diskriminierung dar, wenn der Staat es zuläßt, private Bildungsanstalten zu schaffen und zu unterhalten, sofern ihr Ziel nicht auf den Ausschluß irgendeiner Personengruppe, sondern darauf gerichtet ist, zusätzliche Bildungsmöglichkeiten zu den durch staatliche Stellen bereitgestellten zu bieten, und sofern solche Anstalten in Übereinstimmung mit dieser Zielsetzung geführt werden und die dort vermittelte Bildung den Normen entspricht, die die zuständigen Behörden, insbesondere für die Bildung auf gleichen Ebenen, festgelegt oder genehmigt haben. Dementsprechend kommen die Vertragsstaaten gern. Art. 5 lit. b) überein, daß es wesentlich ist, die Freiheit der Eltern zu achten, andere als die behördlich unterhaltenen Bildungsanstalten zu wählen, die aber den Mindestnormen entsprechen, die die zuständigen Behörden genehmigt oder festgelegt haben. Auch diese Konvention beinhaltet ein Abwehrrecht gegen ein staatliches Schulmonopol. Es gewährt aber keine unmittelbaren Leistungsansprüche auf finanzielle Zuwendungen seitens des Staates, wohl aber einen vertragspolitischen Auftrag in diese Richtung 242 . b) Die Garantie der Bildungs/reiheit durch die Europäische Menschenrechtskonvention
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält in Art. 9 lediglich das Recht auf privaten oder öffentlichen Unterricht einer Religion oder Weltanschauung, nicht jedoch das Recht auf Errichtung und Unterhaltung nichtstaatlicher Schulen. Aus diesem Grunde ist die Europäische Menschenrechtskonvention um Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls und ein dort normiertes Recht auf Bildung und das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen 241
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UN-Ausschuß für Menschenrechte, EuGRZ 1990, S. 22 f. Mascello, Bruno, S. 190.
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sicherzustellen, erweitert worden. Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls gewährt damit zunächst ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht. Darüber hinaus ist anerkannt, daß Satz 1 und 2 als einheitliches Grundrecht zu verstehen sind, welches nicht zwischen öffentlichem und privatem Erziehungswesen unterscheidet. Dementsprechend schließt Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls auch die Privatschulfreiheit im Sinne eines Rechts auf Gründung und Zugang zu nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen ein. Allerdings wird in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der h.L. eine staatliche Pflicht zur Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen vernein~3. In einer neueren Entscheidung244 zur Ungleichbehandlung von kirchlichen Schulen und sonstigen Schulen in freier Trägerschaft in Österreich hat die Europäische Kommission diese Rechtsprechung nicht nur bestätigt, sondern keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK darin gesehen, daß in Österreich die Personalkosten katholischer Schulen staatlich getragen werden, während andere Privatschulen, selbst wenn ihnen das Öffentlichkeitsrecht verliehen ist, einen solchen Anspruch nicht haben. Nach dieser Rechtsprechung folgt aus Art. 14 der EMRK zwar ungeachtet der Tatsache, daß aus Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls keine Rechtsgrundlage für eine Unterstützung einer bestimmten Art von Unterricht folge, gleichwohl die Verpflichtung, daß jede Form von Unterstützung in nicht-diskriminierender Weise in Hinsicht auf die Religion und die sonstigen Anschauungen zu erfolgen habe. Dies verbiete jede Ungleichbehandlung ohne objektive und begründete Rechtfertigung vergleichbarer Personen und Sachverhalte. Da jedoch in Österreich kirchliche Schulen im Gegensatz zu den das Verfahren betreffenden Freien AIternativschulen seit einer beachtlichen Zeit eine große Anzahl von Schülern beschulen und der österreichische Verwaltungsgerichtshof zu Recht einen Bedarf an Freien Alternativschulen im Sinne des Privatschulgesetzes als Bezuschussungsvoraussetzung verneint habe, liege eine unzulässige Diskriminierung nicht vor. Die Frage des Bedarfs sei nicht nur als durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage konstituiert anzusehen, sondern auch vom Standpunkt des Staates aus bzw. von der Last, die sie für ihn darstellt. Im Gegensatz zu den Freien Alternativschulen würde ein Wegfall der kirchlichen Schulen eine beträchtliche Belastung des Staates darstellen, so daß deren Bezuschussung keinen Mißbrauch des Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls darstelle. Die Entscheidung der Kammer zeigt deutlich, daß auch innerhalb des nichtstaatlichen Schulwesens eine Ungleichbehandlung von kirchlichen Schulen und Schulen in Elternträgerschaft rechtlich sanktioniert wird. Der Hoffnung, über die Rechtsprechung der Europäischen Kommission bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Gleichbehandlung von kirchliAusführlicher hierzu Mascello, Bruno, S. 196. Std. Rechtspr.; s. jüngst Kammerentscheidung Nr. 19315/92 und 23419/94 v. 6.9.1995 m.w.N. 243
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chen Schulen und Schulen in Elternträgerschaft zu erreichen, sind damit deutliche Grenzen gesetzt worden. So erweist sich die Rechtsprechung der Europäischen Menschenrechtskommission in seiner weitgehenden Negation staatlicher Leistungspflichten im Hinblick auf das für ein pluralistisches Bildungswesen notwendige gleichberechtigte Nebeneinander von staatlicher, kirchlicher und Lehrer-Eltern-Schule als etatistisch-kirchlich orientiert und einem Verständnis der bürgerschaftlichen Schulverfassung unaufgeschlossen. Bildungspolitisch muß man sich vergegenwärtigen, daß eine andere Entscheidung der Kammer weitreichende finanzielle Auswirkungen auf andere, insbesondere die romanischen Ländern zur Folge gehabt hätte, da auch in anderen europäischen Ländern die kirchlichen Schulen im Gegensatz zu den Schulen in Elternträgerschaft Zuschüsse erhalten. c) Bildungsfreiheit und Europäisches Gemeinschaftsrecht
Obgleich der EG-Vertrag keine Grundrechte beinhaltet, ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) allgemein anerkannt, daß auch auf EG-Ebene ein allgemeiner Grundrechtsschutz gilt, dessen Reichweite sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt. Danach ist das Recht auf Gründung und Unterhaltung von privaten Bildungseinrichtungen allgemein in seiner Komponente des status negativus, also eines Abwehrrechts gegen staatliche Eingriffe anerkannt. Darüber hinaus ist aber gemeinschaftsrechtlich kein Anspruch auf staatliche Leistungen unmittelbar zu entnehmen, sondern ergibt sich nach bisheriger Rechtslage nur aufgrund nationalen Verfassungsrechts. Nach der Rechtsprechung des EuGH fallt der allgemeinbildende Unterricht im Rahmen des nationalen staatlichen Bildungssystems nicht unter die Dienstleistungsfreiheit des EG-Vertrages, weil es an dem Merkmal der Entgeltlichkeit fehlt. Zum einen wolle der Staat durch die Errichtung eines solchen Systems keine gewinnbringende Tätigkeit aufnehmen, sondern auf sozialem, kulturellem und bildungspolitischem Gebiet seine Aufgaben gegenüber den Bürgern erfüllen, zum anderen werde dieses System in der Regel aus dem Staatshaushalt und nicht von den Eltern oder Schülern finanziert. Hieran ändere sich auch nichts, wenn die Schüler oder Eltern manchmal Gebühren oder ein Schulgeld zahlen müßten, um in gewissem Umfang zu den Kosten für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Systems beizutragen245 • Danach fällt unter die Dienstleistungsfreiheit traditionell nur der Unterricht an sog. Privatschulen und umfaßt sowohl die aktive wie die passive Dienstleistung, also die Ausübung und die Entgegennahme von Unterricht, so daß der EG-Vertrag insoweit nur be245 EuGH, EuGRZ 1994, S. 115 (Wirth) unter Bezugnahme auf EuGH, Slg. 1988, S. 5365, Rdnr. 17-19 (Humbel).
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dingt Ansatzpunkte für eine bürgerschaftliche Schul verfassung in europäischer Dimension beinhaltet. Weitergehende Perspektiven enthält demgegenüber insbesondere die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Freiheit der Erziehung in der Europäischen Gemeinschaft vom 14. März 1984246 • Diese fordert die Gewährleistung der Freiheit der Erziehung und des Unterrichts und erkennt das Recht der Eröffnung und des Betriebs einer Schule an, welches neben einem Wahlrecht der Eltern die Verpflichtung des Staates enthält, die dafür nötigen Einrichtungen öffentlicher oder freier Trägerschaft zu ermöglichen. Dies beinhaltet die staatliche Anerkennung freigegründeter Schulen, die die gesetzlich festgelegten, sachlichen Voraussetzungen dafür erfüIlen mit dem Recht, die gleichen Berechtigungen wie staatliche Schulen zu verleihen. Zugleich fordert das Europäische Parlament in dieser Entschließung die praktische Wahrnehmung dieses Rechts auch finanzieIl zu ermöglichen und den Schulen die zur Durchführung ihrer Aufgaben und zur ErfüIlung ihrer Pflichten erforderlichen öffentlichen Zuschüsse ohne Diskriminierung der Organisatoren, der Eltern, der Schüler und des Personals zu den gleichen Bedingungen zu gewähren, wie sie die entsprechenden öffentlichen Unterrichtsanstalten genießen, was jedoch nicht ausschließt, daß von den frei gegründeten Schulen ein gewisser Eigenbetrag als Ausdruck der Eigenverantwortlichkeit und zur Unterstützung ihrer Unabhängigkeit zu fordern ist. Obgleich an die Mitgliedstaaten gerichtet, sind diese Grundsätze bis heute von diesen in etlichen Ländern nicht umgesetzt worden. In diesem Sinne verwirklicht das Europäische Parlament mit seiner Entschließung aus dem Jahre 1984 den Grundsatz der Subsidiarität über das Verhältnis Gemeinschaft versus Nationalstaaten auf der Ebene europäischer Bürgerrechte. Sofern ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, der für die VoIlendung einer Europäischen Union unabdingbar ist, erarbeitet wird, hat das Europäische Parlament hinsichtlich des Grundrechts der Bildungsfreiheit einen weitreichenden und der Tradition der meisten Mitgliedstaaten entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt, der in eine grundrechtliche Form gebracht werden könnte und ein Beweis dafür ist, daß die europäische Einigung auch zu einem Bürgerrecht jenseits nationalstaatlicher Zweckinteressen führen könnte. Darüber hinaus enthält auch die Rechtsprechung des EuGH trotz seiner Nichtanwendung der Grundsätze der Dienstleistungsfreiheit auf das staatliche Bildungswesen interessante Ansätze einer Entstaatlichung der dem klassischen Verwaltungsdenken zugeordneten Hierarchisierung und Monopolisierung von Bildung als hoheitlicher Aufgabe etwa im herrschenden Verständnis bundesdeutscher Staats- und BildungsrechtIer. 246 Abgedruckt bei Femandez, AlfredlJenkner, Siegfried (Hrsg.), International declarations and conventions on the right to education and the freedom of education, Schriftenreihe des European Forum for Freedom in Education, Bd. 8, S. 273.
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Der EuGH betont in seiner Rechtsprechung, daß weder die Tätigkeit als Lehrkraft für das höhere Lehramt noch eine solche an Grundschulen als solche unter den Begriff der Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten im Sinne des Art. 48 Abs. 4 EGV, wonach die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung finden, fällt 247 • Dieses Urteil ist von Bedeutung nicht nur für die Verwirklichung der Freizügigkeit für Lehrer und die mögliche Bereicherung der nationalen Bildungssysteme durch die Weitergabe von Erfahrungen jenseits der allein nationalstaatlich geprägten Sichtweise, sondern durch die Tatsache, daß der Europäische Gerichtshof den Bereich Bildung aus seiner Umklammerung als hoheitsrechtliche Tätigkeit entrückt und damit Partizipationsmöglicheiten eröffnet. Zwar erkennt der EuGH den Schutz der nationalen Identität als rechtmäßiges Ziel der Mitgliedstaaten an und betont, daß Staatsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten ebenso wie die eigenen Staatsangehörigen alle Einstellungsvoraussetzungen im Hinblick auf die Erfahrung, Ausbildung und Sprachkenntnisse erfüllen müssen, eröffnet jedoch mit seinem Urteil eine neue Perspektive, als nämlich weite Teile des Bildungswesens aus ihrer Betrachtung als hoheitsrechtliche Tätigkeit gelöst werden und sich damit die Frage der gesellschaftlichen Selbstbestimmung im Bildungswesen in neuer Qualität darstellt. Wenn nämlich weite Bereiche der Lehrtätigkeit keine hoheitsrechtliche Aufgabe darstellen, so ist eine MonopolsteIlung weder faktisch noch rechtlich zu rechtfertigen. Dies muß mittelfristig nicht nur zu einem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern zu einem weitreichenden Gleichbehandlungsgebot aller Bildungsträger unabhängig von ihrer Trägerschaft führen. Hoheitliche Befugnisse finden danach eine Rechtfertigung durch staatliche Vorgaben nur noch in Bereichen wie dem Letztentscheidungsrecht im Berechtigungswesen.
VII. Minderheitenschutz und Schulverfassung Im klassischen Nationalstaat stellt sich die Frage des Minderheitenschutzes insbesondere im Bildungswesen. Überall dort, wo ethnische, religiöse oder nationale Minderheiten leben, ist die Frage der Tradierung ihrer spezifischen Werte und ihrer Sprache zentrales Thema ihrer Identitätswahrung. Mit den umfassenden Migrationsprozessen der letzten Jahrzehnte und der damit einhergehenden Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft ist der Geltungsanspruch für nationale Minderheiten von zunehmender Bedeutung für das Sozialgefüge und seine Inte247 EuGH Urteil- Rs C-473/93 - v. 2.7.1996 - Kommission ./. Luxemburg und Urteil- Rs C-290/94 - v. 2.7.1996 - Kommission ./. Griechische Republik.
VII. Minderheitenschutz und Schul verfassung
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grationsfähigkeit. Hierbei stellt sich die Frage des Minderheitenschutzes im Bildungswesen in doppelter Perspektive. Einerseits geht es um den Schutz nationaler Minderheiten innerhalb des (national-)staatlich geprägten Schulsystems, andererseits um ihr Recht, eigene Schulen zu unterhalten. Diese Fragen werden mit dem Prozeß der europäischen Integration und seinen umfassenden Wanderungsbewegungen immer evidenter und verlangen ein von nationalstaatlichen Eigeninteressen unabhängiges Recht auf Bildung der Bürger Europas. Eine solches Eigenrecht setzt den Abschied von unitarischen Herrschaftsansprüchen im Bildungswesen voraus und erfordert die Akzeptanz einer Pädagogik der Diversität, die gerade dadurch den Grundsatz der Chancengleichheit einlösen muß, daß "nur Minderheiten mit Rechten und mit Erfolgschancen ... in einer multikulturellen Gesellschaft und Schule überhaupt mitreden und mitgestalten (können)", wobei Minderheit zunächst die sprachlich-kulturelle Minderheit meint248 • Gerade für traditionell marginalisierte Gruppen wie ethnische Minderheiten ist die Zivil- oder Bürgergesellschaft konstituierendes Moment einer aktiven Partizipation sowie Repräsentation und Artikulation ihrer Interessen249 • Eine aktive Politik des Minderheitenschutzes ist dabei Angriffen verschiedenster Richtungen ausgesetzt. Neokonservative Bildungspolitik befürchtet einen Werte-Relativismus und ein Zurückdrängen klassischer Sozialisationsmuster und propagiert daher ein übergreifendes Allgemeininteresse des Staates und seine Aufgabe der staatlich über das Bildungswesen gesteuerten Wahrung der traditionellen Werte. Ein Beispiel hierfür ist England, wo zwar traditionell im britischen Schulwesen eine Achtung kultureller Vielfalt gegeben ist, aber "durch die Aufstellung einheitlicher Bildungsziele, unter denen der Gedanke der Vielfalt nur noch den Charakter einer Fußnote hat", werden im Rahmen des National Curriculum "die Herkunftssprachen zurückgedrängt, die multikulturellen Projekte unter Druck gesetzt und die Finanzierungsmöglichkeiten für zweisprachige Lehrer erheblich beschniuen,,25o. Auf der anderen Seite kritisieren Vertreter einer universalistischen Gesellschafts- und Bildungstheorie wie die Kommunitaristen konservativer Prägung Ansätze zum Minderheitenschutz wie die interkulturelle Pädagogik dahingehend, daß diese die Gefahren der Desintegration forciere 251 • Hierbei zeigt sich, daß etatistische Staaten wie Frankreich einen starken Assimilierungsdruck auf Minderheiten wie die islamische Bevölkerung ausüben, 248 Allemann-Ghionda, Christina, Die Schweiz und ihr Bildungswesen: von Babylonia zu MultKulti, Zeitschrift für Pädagogik 1994, S. 127 (141). 249 Fein, EIkeiMatzke, Sven, S. 38. 250 Reich, Hans H., Interkulturelle Pädagogik - eine Zwischenbilanz, Zeitschrift für Pädagogik 1994, S. 9 (20). 251 Reich, Hans H., S. 22.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
indem es ihnen im Gegensatz zu pluralistisch organisierten Staaten wie den Niederlanden, Belgien oder Dänemark weder möglich ist, eigene Schulen zu unterhalten, noch in ihrer religiösen Spezifität im staatlichen Schulwesen Akzeptanz zu finden. So belegen erziehungswissenschaftliche Untersuchungen, daß gerade in Frankreich die Schulaufsicht auf ein universalistisches Verständnis angeblich "weltoffener Bildung" zielt, die noch in den 90er Jahren die Priorität von Bildung und Erziehung in der Herausbildung einer nationalen Identität sieht, die dem "Kult der Verschiedenheit und "dem überstarken Respekt vor der Identität der Kinder fremder Herkunft" Einhalt gebieten will 252 • Auf europäischer Ebene ist der Minderheitenschutz grundSätzlich sowohl im Rahmen der europäischen Menschenrechtskonvention als auch durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. November 1992 anerkannt. Im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention findet Art. 2 des Zusatzprotokolls i.V.m. Art. 14 der Konvention Anwendung auch auf die Minderheiten. Danach gewährt Art. 2 Zusatzprotokoll ein Recht auf Bildung, welches für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung impliziert, dafür Sorge zu tragen, daß den Minderheiten wie der Mehrheitsbevölkerung Bildungsanstalten zur Verfügung stehen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates wollte den Minderheitenschutz durch eine Empfehlung für ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über Minderheitenrechte konkretisieren, ohne daß dies bis dato verwirklicht wurde. Danach sollen Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, ihre Muttersprache zu lernen und an entsprechenden Schulen und staatlichen Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Des weiteren haben danach Angehörige nationaler Minderheiten das Recht, im Rahmen des staatlichen Rechtssystems ihre eigenen Schulen und Unterrichts- und Ausbildungseinrichtungen zu gründen und zu unterhalten 253 • Der Grundsatz des Minderheitenschutzes im Bildungswesen in Anerkennung des Rechts ethnischer oder nationaler Minderheiten, eigene Schulen zu unterhalten, ist auch völkerrechtlich abgesichert. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. c. der Konvention der UNESCO gegen die Diskriminierung im Bildungswesen vom 14. Dezember 1960 erkennen die Staaten den Angehörigen nationaler Minderheiten das Recht zu, ihre eigene Erziehungsarbeit zu leisten, hierbei Schulen zu unterhalten und abhängig von der innerstaatlichen Politik in Erziehungsfragen entsprechend dem Bildungsniveau staatlicher Schulen ihre eigene Sprache zu gebrauchen und zu lehren, sofern hierbei kein Zwang zum Besuch dieser Schulen bzw. dahingehend ausgeübt wird, Angehörige der Minderheit daran zu hindern, die Kultur und Sprache der gesamten Gemeinschaft zu verstehen. m Reich, Hans H., S. 18. Empfehlung v. 1.2.1993, zit. nach Fernandez, Alfred/Jenkner, Siegfried (Hrsg.), S.268. 253
VII. Minderheitenschutz und Schul verfassung
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Gemäß Art. 4 Abs. 4 der Erklärung der UN vom 18.12.1992 über die Rechte von Personen, die ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten angehören, sollen die Staaten, soweit angezeigt, Maßnahmen im Bereich des Bildungs wesens ergreifen, um die Kenntnis der Geschichte, der Traditionen, der Sprache und der Kultur der in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Minderheiten zu fördern, wobei den Angehörigen von Minderheiten angemessene Bedingungen geboten werden sollen, Kenntnisse über die Gesellschaft als Ganzes zu erwerben. Hiermit wird zwar nicht das Recht auf Unterhaltung eigener Schulen völkerrechtlich verankert, aber der Grundsatz der Selbstbestimmung von ethnischen Minderheiten anerkannt. Nach Art. 8 der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen verpflichten sich die Vertragsstaaten, den Minderheiten - soweit genügend Schüler vorhanden sind - in einem erheblichen Teil des Primar- und Sekundarunterrichts in den betreffenden Regional- oder Minderheitensprachen anzubieten und die betreffenden Regional- und Minderheitensprachen als Bestandteil des Lehrplans vorzusehen sowie für den Unterricht der Geschichte und Kultur, die durch die Regional- oder Minderheitensprache zum Ausdruck gebracht werden, Sorge zu tragen. Erweitert wurde diese Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten des Europarates durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten gern. Art. 13 der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten vom 10. November 1994, wonach die vertrag schließenden Parteien im Rahmen ihres Bildungswesens anerkennen, daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, ihre eigenen privaten allgemeinbildenen und beruflichen Ausbildungsstätten zu errichten und zu betreiben. Allerdings unterliegt diese Rahmenkonvention der deutlichen Einschränkung, daß die Ausübung dieses Rechts für die vertragschließenden Parteien keinerlei finanzielle Verpflichtungen zur Folge haben darf. Die diversen Konventionen des Europarates zur Minderheitenfrage machen deutlich, daß das Recht der Minderheiten eine Leistungs- und Vorhaltepflicht zugunsten minderheitlichen Unterrichts im staatlichen Schulwesen beinhaltet. Im Bereich der unmittelbaren Selbstbestimmung der Minderheiten, nämlich dort, wo es darum geht, eigene Schule!', zu gründen und zu unterhalten, bleiben die völkerrechtlichen Obligationen auf der Ebene eines bloßen Abwehrrechts stehen. Der Staat darf den nationalen und ethnischen Minderheiten den Betrieb eigener Schulen nicht untersagen, Leistungsansprüche auf finanzielle Zuwendungen folgen daraus nach ganz h.M. jedoch nicht. Damit verlagert der Menschenrechtsschutz diese Frage ganz auf die Ebene des nationalen Verfassungsrechts. Obgleich für den europäischen Einigungsprozeß Einigkeit in der Verbindlichkeit der Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention als unmittelbar geltenden Rechts im Sinne einer Bürgerrechtsgemeinschaft besteht, muß mit Dahrendorf konstatiert werden, daß dieser Minimalkonsens für die Verteidigung der Rechte von Minderheiten nicht ausreichen kann: ,,Es geht vielmehr
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VIII. Bürgerschule und europäische Integration
darum, Gemeinwesen zu erhalten und vielfach überhaupt erst zu schaffen, in denen Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller, religiöser Zugehörigkeit gleiche Rechte und Teilnahmechancen genießen,,254. Dementsprechend konstituiert auch der von der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) vorgelegte Entwurf einer "Konvention über die Grundrechte der europäischen Volksgruppen,,255 in Art. 8 "Recht auf Schule" nicht nur nach Abs. 1 das Recht der Volksgruppen und ihrer Angehörigen auf Unterricht in der Muttersprache und nach Abs. 3 die Zuständigkeit der Gruppen für die Lehrpläne, Bestellung der Lehrpersonen und Schulaufsicht im Rahmen der allgemeinen Prinzipien der staatlichen Schulgesetzgebung, sondern nach Abs. 4 die Pflicht des Staates, wenn er der Finanzierung des Unterrichtswesens der einzelnen Volksgruppen nicht nachkommen kann, den Schülern, die dies wünschen, den Besuch von Privatschulen zu ermöglichen. Diese Regelung ist zwar angesichts ihrer interpretativen Erklärung durch die Autoren dahingehend, daß die Privatschulen der Gruppen mindestens im sei ben Ausmaß zu fördern oder zu finanzieren sind, in welchem die Privatschulen allgemein von einem Teilnehmerstaat gefördert oder finanziert werden 256 , unzureichend, weil allein eine den staatlichen Schulen entsprechende Finanzierung den gleichberechtigten Status der Schulen der ethnischen Minderheiten begründen würde und die Gleichstellung mit sonstigen Privatschulen die Schulen der Volksgruppen insoweit indirekt diskriminiert, als die Gruppenangehörigen für den Besuch ihrer Schulen besondere Aufwendungen erbringen müssen, soweit es sich nicht um staatliche Schulen handelt. Zudem ist zu bedenken, daß der Privatschulvorbehalt nur greift, wenn der Staat seiner grundsätzlichen Finanzierungspflicht im staatlichen Schulwesen nicht nachkommen kann, d. h., der Entwurf geht vom Vorrang des staatlichen Schulwesens aus. Gleichwohl ist dieser Entwurf der weitestgehende ,,realpolitische" Ansatz zur Sicherung der Schulen von Minderheiten.
VIII. Bürgerschule und europäische Integration 1. Grenzen nationaIstaatIicher Bildungspolitik
Der europäische Integrationsprozeß steht seit den Maastrichter Beschlüssen vor einer grundlegenden Neuorientierung von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union, d. h. einem über wirtschaftliche Zweckinteressen hinausgehenden Einigungsprozeß. Dieser Einigungsprozeß ist weDahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt, S. 264. Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) (Hrsg.), Ennacora. FelixlPan, Christoph, Grundrechte der europäischen Volksgruppen. Wien 1993. 256 Ennacora. FelixlPan, Christoph. S. 42, Interpretative Erklärung zu Art. 8 Abs. 4. 254
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VIII. Bürgerschule und europäische Integration
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sentlich von der Erkenntnis bestimmt, daß traditionelle national staatliche Handlungspolitiken keine adäquaten Lösungsmöglichkeiten mehr für die Zukunftsprobleme Europas bieten. In seinen historischen Ursprüngen war europäische Bildungspolitik zunächst darauf ausgerichtet, die Voraussetzungen für die Wahrnehmung insbesondere einer der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, nämlich die Freiheit der Arbeitnehmer und der Selbständigen zu gewährleisten. Aus diesem Grund konnte die Freiheit der Berufsausübung nicht ohne Auswirkungen auf die Berufsausbildung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bleiben. Dies fand in Art. 128 EWGV seinen Ausdruck, wonach die Gemeinschaft zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Politik, die zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes beitragen kann, ermächtigt wurde. Diese Ermächtigung wurde bekanntlich insbesondere durch den Europäischen Gerichtshof extensiv interpretiert und wirkte sich bis in das Hochschulstudium und selbst das allgemeinbildende Schulwesen aus, sofern in diesem Elemente der Berufsausbildung zu finden waren. Dies hatte nicht nur eine umfassende Anwendung des Diskriminierungsverbots aus Art. 7 EWGV im Bereich des Bildungswesens, sondern auch die Ermächtigung von verschiedenen Förderprogrammen im Bereich Bildung durch die EG zur Folge. Mit zunehmender Ausweitung der Gemeinschaft in Richtung einer Politischen Union ist nicht nur die ..Gemeinschaftsfähigkeit" der Bürger gefordert, sondern mit dem europäischen Integrationsprozeß werden, unabhängig von der Frage, auf welcher Ebene welche Kompetenzen im Bildungsbereich ausgeübt werden sollen, auch traditionelle nationalstaatliche Legitimationszusammenhänge staatlichen Schulehaltens in Frage gestellt, weil tendenziell eine zunehmende ..Entkoppelung von Staat und Nation" festzustellen ist257 , ohne daß an diese Stelle die Fiktion oder Realität eines neuen europäischen Nationalstaates zu setzen wäre, solange ,,Europa - anders als die Nationalstaaten - weder sprachlich und kulturell noch politisch und bildungspolitisch vergleichbare Voraussetzungen im Sinne einer gemeinsamen Identität und Erfahrung" besitzt258 • Unabhängig von systemtheoretischen Überlegungen stellt sich sowohl in west- als auch in osteuropäischer Dimension die Frage nach der Rolle der Schule im Zusammenwachsen der europäischen Völker im Rahmen der europäischen Integration. Hierbei geht es zum einen um die Bedeutung des Bildungswesens für die Konstituierung einer europäischen Kultur- und Wertgemeinschaft als geistige Basis der europäischen Integration 259 , die die mehr als Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 3. Schleicher, Klaus (Hrsg.), S. 2. 259 s. hierzu Berggreen, Ingeborg, EG und Bildungspolitik - Aushöhlung des Föderalismus. In: Eisenmann, Peter/Rill, Bemd (Hrsg.), Das Europa der Zukunft. Regensburg 1992, S. 10 (11). 257 258
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
tausendjährige gemeinsame kulturelle Tradition Europas 260 in eine gemeinsame politische Einheit überführen soll. Zum anderen stellt sich die Frage, welchen Einfluß der europäische Integrationsprozeß und die mit diesem intendierte Neuorientierung schulischer Bildungsprozesse261 auf die Entwicklung des Schulverfassungsrechts unter den aufgeworfenen Fragen von Pluralität, Dezentralisierung, Deregulierung, Autonomie und Unterrichts freiheit hat und ob "die internationalen Diskussionen und Entwicklungen ... zu der Einsicht (führen), daß eine freiheitliche Erziehung und Schulverfassung die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erfordert,,262. Für die europäische Integration wird als unabdingbare Strukturbedingung allseits die Beachtung des Prinzips der "Vielfalt in der Einheit" als Grundordnungsprinzip des europäischen Selbstverständnisses angemahnt263 . Danach soll ein zentralistisch gesteuertes europäisches Einheitsbildungssystem auch zukünftig undenkbar sein und die Vielfalt der verschiedenen nationalen Bildungssysteme erhalten bleiben 264 . Zudem ist zu konstatieren, daß "die Bejahung von Pluralität, Respekt und Toleranz ... charakteristisch für die abendländische Kultur und ihr Konzept von Erziehung und Bildung (ist),,265. Gleichzeitig muß aber auch allen Beteiligten bewußt sein, daß die Erziehungsziele des traditionellen Nationalstaates europäischer Prägung auch im Bildungswesen überholt sind. Die damit sich abzeichnende und sich entwikkelnde kulturelle Vielfalt innerhalb eines politischen Gemeinwesens, welches 260 Mayer-Tasch, P.c., Europäische Verfassungshomogenität, S. 1. 261 Diese kommt insbesondere zum Ausdruck in den mittelfristigen Leitlinien der EG-Kommission, EG-Kommission, Leitlinien für die allgemeine und berufliche Bildung in der Europäischen Gemeinschaft v. 2.6.1989, KOM 1989, S. 236. 262 Jenkner, Siegfried, Entwicklung der Schulverfassung, S. 48. 263 s. hierzu aus der schier unbegrenzten Anzahl bildungspolitischer Proklamationen, die die Achtung der regionalen und nationalen Vielfalt der Bildungssysteme beschwört: Blanke, Hermann-Josef, Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgemeinschaft. KölnlBerlinIBonnlMünchen 1994 (Kölner Schriften zum Europarecht Bd.41), der insbesondere mit seiner Aussage, daß das "Ziel europäischer Bildungs- und Kulturpolitik nicht die "Europäisierung" der nationalen Bildungs- und Kulturpolitiken (sein könne), sondern nur die Herstellung von "Europafähigkeit" dieser nationalen Domänen", S. 105, stellvertretend für eine in der deutschsprachigen Literatur weitgehende Ablehnung einer (rechtlichen) Harmonisierung der Bildungspolitik in Europa steht; Czysz, Armin, Bildungspolitische Rahmenbedingungen in der Europäischen Union. In: Timmermann, Heiner, Bildung in der europäischen Union. Berlin 1995, S. 21 (23): "Die 'Einheit in der Vielfalt' ist der einzig gangbare Weg, um auf der einen Seite die europäische Integration weiterzuführen und auf der anderen Seite die nationale oder auch regionale Identität der Mitgliedstaaten zu bewahren." Insbesondere die deutschen Bundesländer haben sich stets für die kulturelle Vielfalt im Sinne der Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten, Länder und Regionen stark gemacht; Fechner, Frank, Einwirkungen des Europarechts auf die nationale Bildungspolitik. In: Lassahn, R.IOfenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtlM. u. a., 1994, S. 17 (34). 264 Czysz, Armin, S. 23. 265 Meijer, Wilna A.J., Allgemeine Bildung, S. 87 (89).
VIII. Bürgerschule und europäische Integration
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durchaus eine gemeinsame verfassungspatriotische Bindung insbesondere an die Errungenschaften westlicher Demokratien wie Rechtsstaatlichkeit, Geltung der Grund- und Menschenrechte, Sozialstaatlichkeit aufweist, hat zum Bildungs wesen einen zentralen Relationspunkt: Die kulturelle Vereinheitlichung der Bürger des klassischen Nationalstaates oblag dem staatlichen Bildungswesen mittels der Schulpflicht266 • Mit dem Wegfall des kulturellen Unitarismus als Grundmuster der Vergesellschaftung und der Erhebung der kulturellen Vielfalt auch innerhalb der Nationalstaaten zum erstrebenswerten Zustand, verliert nicht nur die klassische Rechtfertigung staatlichen Schulehaltens ihre Legitimation, sondern wird die Frage der rechtlichen Sicherung kultureller Vielfalt im Sinne der Prozedualisierung kultureller Freiheit gerade im Bildungswesen evident. Schulvielfalt als kulturelle Vielfalt steht deshalb vor der schwierigen Balance zwischen geschlossener Wertorientierung und Selbstentfaltung, die es rechtlich auszugestalten gilt. Dies, verbunden mit dem Grundsatz der Chancengleichheit, ist eine explizit staatliche Aufgabe im Bildungswesen und steht einer völligen Entstaatlichung des Bildungswesens oder gar einer Vermarktung entgegen. Zudem reichen die klassischen nationalstaatlichen Steuerungsmechanismen, die ganz auf die Ausbildung einer nationalen, nicht einer europäischen Identität ausgerichtet waren, für die Einigung Europas nicht mehr aus, weil sich mit Maßnahmen im staatlichen und zwischenstaatlichen Herrschaftsbereich allein die Integration Europas nicht wirksam genug betreiben lassen wird und es eines neuen Universalismus jenseits nationalstaatlichen Denkens bedarf, um eine Erziehung und Bildung zur Gemeinschaftsfähigkeit zu erreichen 267 • Diese Gemeinschaftsfähigkeit hat sich aber nicht nur in den Unterrichtsinhalten zu manifestieren, sondern stellt angesichts der Tatsache, daß mit den Maastrichter Verträgen erstmals eine, wenn auch begrenzte, Kompetenz der EG im Bereich der allgemeinbildenden Schulen geschaffen wurde, die Frage nach gemeinsamen oder unterschiedlichen Schulverfassungsstrukturen. Dies insbesondere auch deshalb, weil in Art. F Abs. 2 des Maastrichter Vertrages die gemeinsamen konstitutionellen Traditionen der Mitgliedstaaten und damit die in den einzelnen Verfassungen niedergelegten Grundsätze und die dort garantierten Grundrechte in dem Sinne zur Grundlage der Europäischen Union gemacht worden sind, als die Union die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze der Gemeinschaftsrechte ergeben, zu achten verpflichtet ist. In diesem Kontext stellt sich die Frage, welches die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen insbesondere im Hinblick auf die Bildungsfreiheit in Europa sind. 266 Vgl. hierzu Giesen, Bernhard, Kulturelle Vielfalt und die Einheit der Moderne. In: Lassahn. R./Ojenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtlM. u. a., 1994, S. 93 (98). 267 Kohlhase, Norbert, Einheit in der Vielfalt - Essays zur Europäischen Geschichte,
Kultur und Gesellschaft. Baden-Baden 1988, S. 49.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Die Forderung nach Sicherungen des Status quo der gegenwärtigen Bildungsstrukturen, etwa durch die deutschen Bundesländer, ist danach richtigerweise als Absage an eine zentralistische Bildungspolitik zu verstehen, die aus der Sicht der jeweiligen Nationalstaaten und deren Kultusbürokratien Gestaltungsbereiche zu verteidigen versucht. Sie vermag jedoch keine Antwort darauf zu geben, wie von einem "Europa der Bürger" her die Vielfalt in der Einheit auszusehen hat. Vielfalt in der Einheit kann als Bürgerrecht in europäischer Dimension nur heißen, daß die Bürger unabhängig von ihrer nationalstaatlichen Zugehörigkeit zwischen verschiedenen pädagogischen Optionen wählen können. Damit würden aber gerade nationalstaatliche Bestimmungsrechte, die dieses Bürgerrecht einschränken, in Frage gestellt. Entgegen dem ersten Anschein des scheinbar so unzweifelhaften und bürgernahen Arguments der Vielfalt in der Einheit als Konstitutionsmoment des europäischen Integrationsprozesses trägt diese Forderung in ihrem herrschenden Verständnis durchaus eine sehr konservative und auf die Sicherung nationalstaatlicher Machtbefugnisse gerichtete Komponente in sich. Europäische Einigung und Integration im Interesse der Bürger erfordern auch im Bildungswesen nicht eine Zementierung des Status quo der nationalstaatlichen Herrschaftsrechte über das Bildungswesen, sondern eine Harmonisierung dergestalt, daß es allen Bürgern in Europa möglich sein muß, ihr Recht auf Bildungsfreiheit wahrzunehmen. Dies zeigt deutlich, daß sich auch im Bereich der Bildung die grundlegende Frage stellt, wie eine europäische Einigung Bürgerrechte sichern bzw. konstituieren kann, und verstärkt die Notwendigkeit der Forderung eines Grundrechtskatalogs als Grundlage der europäischen Einigung, zumal der Maastrichter Vertrag sich zwar der Frage der Qualität der Bildung und der europäischen Dimension des Unterrichts angenommen hat, die Frage der Freiheit der Bildung im Sinne des Rechts der Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen und nichtkommunalen Bildungseinrichtungen durch juristische oder natürliche Personen jedoch bewußt ignoriert hat268 . Mit dieser Dualität entsteht zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zwischen unitarisierenden Tendenzen der europäischen Integration und der Vielfalt von Bildungsvorstellungen und ihren Strukturbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, die es auf ihre innere Kohärenz zu untersuchen gilt und das die Frage nach der Bedeutung rechtlicher Normierungen aufwirft. Dabei geht es nicht primär um Kompetenzabgrenzungsfragen im Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten sowie des Verhältnisses von Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus zueinander und den Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Bildungssysteme, sondern um grundlegende verfassungs-, staats- und demokratietheoretische Fragestellungen, wie in den einzelnen Mitgliedstaaten das Verhältnis Schule - Staat - Gesellschaft gelöst worden 268
(139).
s. hierzu Jimenez, Santiago Martin, Die wünschenswerte Harrnonisierung, S. 133
VIII. Bürgerschule und europäische Integration
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ist und wie sich diese Grundkonstellation in einem gesamteuropäischen Verfassungsstaat darstellen könnte. Die Forderung nach der Begrenzung gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzen insbesondere durch Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zur Erhaltung der "Vielfalt in der Einheit", ist zwar einerseits notwendig, um die verschiedenen kulturell-ethnischen Identitäten und Traditionen zu bewahren, aber andererseits darf nicht vergessen werden, daß die Geschichte der nationalstaatlichen Instrumentalisierung von Schule stets auf die Herausbildung eines Nationalbewußtseins im Sinne der verbindlichen Tradierung bestimmter Werthaltungen gerichtet war, weIches der Gemeinschaftsfähigkeit im Sinne der Akzeptanz und Gleichberechtigung anderer kultureIIer Werthaltungen von Minderheiten schon im eigenen Land in den meisten Ländern Europas entgegenstand. Diese Minderheiten wurden allenfalls im Bereich des nichtstaatlichen Schulwesens geduldet, dann aber in allen Ländern bis auf die Niederlande und Belgien unter substantieIIen Einschränkungen und Ungleichbehandlungen gegenüber dem staatlichen Schulwesen. Die Zurückstellung nationalstaatlicher Eigeninteressen und Traditionen ist danach nicht nur eine Voraussetzung für eine europäische Bildungspolitik, die die Unterschiedlichkeit der verschiedenen nationalen Bildungssysteme dadurch akzeptiert, daß an sich unterschiedliche, ungleichartige Bildungsstrukturen und die daraus erzielten Berechtigungen als gleichwertig anerkennt. Darüber hinaus muß Europa als zukunftsoffene und freiheitlich zu gestaltende Aufgabe mit kultureIIen Optionen im Rahmen gemeinsamer Bürgerfreiheiten verstanden werden, an der sich Bürger je nach kulturellem Kontext beteiligen können"z69. Dies bedeutet, daß das Prinzip der kultureIIen Vielfalt seinen Bezugspunkt und seine Legitimität nicht allein in staats organisatorischen Einheiten der Kommune, der Region, des Landes oder Staates findet, sondern "der europäische Bürger" und sein kulturelles Selbstverständnis über die Grenze des Nationalstaates hinaus und unabhängig davon sind Ausgangspunkt der zu sichernden kultureIIen Vielfalt Europas, weil das gesamte kulturelle Erbe Europas gleichwertig nebeneinander steht und keine Bildungstradition vor der anderen Vorrang beanspruchen kann. Wenn aber alle Bildungstraditionen grundsätzlich von gleicher Wertigkeit sind, so sind sie auch grundsätzlich hinsichtlich der materieIIen und sonstigen Voraussetzungen gleich zu behandeln. Mit der Europäisierung des Bildungsraums Schule kann danach für die Unterhaltung von Schulen nicht mehr entscheidend sein, ob eine Institution von einer (national)staatlichen Trägerschaft geprägt wird, weil mit einem europäischen Bildungsraum die klassische Definition, wonach die staatliche Schule "einen aus der Staatsgewalt abgeleiteten Bildungsauftrag erfüllt,.270, obsolet Schleicher, Klaus (Hrsg.), S. 21. Maunz, Theodor, Kommentierung zu Art. 7 GG. In: ders./Dürig, G., Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. München 1980; s. a. RandelzhoJer, AlbrechtlWein, Michael, Ausbildungsreform und Bestandsschutz im Privatschulbereich. Berlin 1989, S. 37. 269 270
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B. Schul verfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
werden muß. Der Bildungsauftrag der Schule muß gerade über die Interessen der nationalen Staatsgewalt hinausgehen und die Prinzipien des nationalen mit denen der Staaten- und Weltgemeinschaft verbinden 27I • Dies erfordert - wie Shadrikov zu Recht bemerkt - nicht nur "ein neues Selbstverständnis ethnokultureller Bedürfnisse wie Beziehungen", sondern zugleich eine "neue Bildungskonzeption ... Bildung darf nicht länger nur ein Mittel zur Aufklärung des Individuums sein, sondern muß eine Strategie zur Kulturentwicklung und zur Ausformung eines Weltverständnisses werden, das den Einzelmenschen einschließt,,272. Mit der Befreiung des Bildungswesens von nationalstaatlichen Zweckinteressen und Denkmustern tritt die sozial verantwortliche, zur kommunikativen Selbstgestaltung fähige und von nationalstaatlicher Zentrierung befreite Individualität in den Mittelpunkt des Bildungsprozesses. An die Stelle der nationalen Selbstbestimmung tritt damit die gesellschaftliche Selbstbestimmung europäischer kultureller Identitäten. Demgegenüber kann es keinesfalls darum gehen, Freizügigkeit in Europa durch ein hegemoniales, allgemein verbindliches und sich an einseitigen wirtschaftlichen Verwertungsinteressen ausgerichtetes Curriculum herzustellen. Die Legitimität europäischer Bildungspolitik stellt sich damit auch nicht über eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments her, sondern allein durch eine prozeduale Sicherung kultureller Vielfalt im Bildungswesen, in dem die Bürger und nicht die Nationalstaaten Orientierungspunkt kultureller Identität sind. Dementsprechend ist nur folgerichtig, daß nicht nur die reformpädagogisch orientierten freien Schulen in Europa, die sich organisatorisch im Europäischen Forum für Freiheit im Bildungswesen zusammengeschlossen haben, die gleichberechtigte Stellung und Finanzierung von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft fordern 273 , sondern auch von kirchlicher Seite die Forderung nach umfassender Gleichstellung staatlicher und nichtstaatlicher Schulen gefordert wird: "Die Integration der Europäischen Gemeinschaft, eines Europa der Freiheit, muß darauf angelegt sein, eine nationale Bildungspolitik zu überwinden, die die staatlichen Schulen auf Kosten der freien Schulen zu stärken sucht. Die Schul vielfalt, die darin besteht, daß verschiedene Schulen mit eigenen Erziehungsprojekten nebeneinander existieren, muß ein Charakteristikum eines Europa der Bildung werden,,274. 271 In diesem Sinne Shadrikov, Vladimir D., Bildungspolitik im Spannungsfeld nationaler Vielfalt und staatlicher Einheit. In: Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 279 (290). 272 Shadrikov, Vladimir D., S. 287. 273 s. hierzu die diversen Beiträge in: Fuchs, Eginhard (Hrsg.), Für Freiheit im Bildungswesen! - Gesprächsbeiträge und Erklärungen, Schriftenreihe des Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen (FlFIFIE) Bd. 4. FrankfurtlM. 1993. 274 Jimenez, Santiago Martin: Die katholischen Schulen in Europa - Wirklichkeit, gemeinsame Initiativen, Perspektiven für die Zukunft. In: Engagement. Münster 1991, Heft I, S.55 (64); zit. nach Jenkner, Siegfried, ..Respektierung der Vielfalt", S. 163 (178) mit weiteren Ausführungen hierzu.
VIII. Bürgerschule und europäische Integration
III
"Vielfalt in der Einheit" meint also nicht nur eine strukturelle Schranke auf dem Weg von den Nationalstaaten zum großen europäischen Staatenverbund bzw. Bundesstaat, sondern kann sich nur dann entfalten, wenn dieses Prinzip entgegen den derzeit vorherrschenden ökonomisch und zentralistisch-administrativ geprägten Handlungsmodellen als Demokratisierung und Pluralisierung des Lebensraums Schule begriffen wird. Und so bleibt auch, solange "der Nationalstaat alleiniges Orientierungsfeld und Legitimationsbasis für politisches Handeln ist, ". die Durchsetzung integrationspolitischer Ziele und Maßnahmen schwierig"m, weil ihnen die Akzeptanz der Bürger Europas fehlen muß.
2. Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Gemeinschaft Die Forderung nach einer Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWGVertrag gehörte spätestens seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahre 1986, mit der der Weg von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Politischen Union eingeleitet wurde, zu einem der wesentlichen Rechtsinstitute, mit denen die deutschen Bundesländer einer weiteren Aushöhlung ihrer Kompetenzen durch den europäischen Integrationsprozeß entgegenwirken wollten276 • Anlaß und Sorge waren vor allem befürchtete Eingriffe in das Kernstück ihrer Eigenstaatlichkeit, die Kulturhoheit, insbesondere durch die EG-Medienpolitik - hier vor allem in Form der Verabschiedung der EGRundfunkrichtlinie277 -, aber auch durch die Bildungspolitik der Europäischen
275 Mickel, Wolfgang, Didaktische Grundlagen einer Erziehung zu Europa. In: Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 245 (249 f.). 276 Hierzu sind eine Reihe von Entschließungen des Bundesrates und der Ministerpräsidenten der Länder ergangen; zu nennen wären insbesondere die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zur Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa v. 7.6.1990 und v. 20.121.12.1990 sowie die Entschließungen des Bundesrates v. 6.4.1990 (BR-Drs. 198/90), v. 24.8.1990 (BR-Drs. 550/90) und v. 9.11.1990 (BR-Drs. 780/90) sowie die Entschließungen der verschiedenen Konferenzen "Europa der Regionen", in denen die Bundesländer erfolgreich ihre Positionsbestimmungen einbrachten s. hierzu Borchmann, Michael, Konferenzen ,,Europa der Regionen in München und Brüssel, DÖV 1990, S. 879 ff.; zu den politischen Forderungen der deutschen Länder zur Politischen Union s. zusammenfassend ders., Doppelter Föderalismus in Europa Die Forderungen der deutschen Länder zur Politischen Union, Europa-Archiv 1991, S. 340 ff. 277 AmBL. EG Nr. L 298/23 v. 3.10.1989. s. hierzu insbesondere die Bundesratsbeschlüsse v. 20.2.1987 (BR-Drs. 259/86) und v. 22.9.1989 (BR-Drs. 462/89). Die bayerische Staatsregierung hatte im einstweiligen Anordnungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - erfolglos - versucht, die Zustimmung der Bundesregierung zur EGRundfunkrichtlinie zu unterbinden, BVerfGE 80,74; das Hauptsacheverfahren ist gegenwärtig noch anhängig. s. hierzu auch Memminger, Gerhard, Bedeutung des Verfassungsrechtsstreits zur EG-Rundfunkrichtlinie, DÖV 1989, S. 846 ff.
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Gemeinschaft 278 • Ziel der Forderung nach Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag war es, durch eine Begrenzung der Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane sowohl eine im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG bedenkliche weitere Erosion der Rechte der Bundesländer zu verhindern279 , als auch generell zentralistischen Tendenzen des europäischen Integrationsprozesses zur Wahrung der kulturellen "Vielfalt in der Einheit" entgegenzuwirken, so daß das Subsidiaritätsprinzip auf der einen und die Prinzipien des Föderalismus und Regionalismus auf der anderen Seite untrennbar miteinander verbunden scheinen 280 • Rechtspolitisch ist dabei die Sicherung des föderalen Gleichgewichts zu einer Schlüsselfrage für die institutionelle Weiterentwicklung der Gemeinschaft geworden 281 • Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips ist danach eng verbunden mit der Forderung nach einer dreistufigen föderalen Gliederung einer zukünftigen Europäischen Union und der verfahrensmäßigen Absicherung von Initiativ- und Mitwirkungsrechten der Länder und Regionen auf europäischer Ebene 282 . 278 s. hierzu den Beschluß des Bundesrates v. 14.10.1988 zur Mitteilung der Kommission über die Bildung in der Europäischen Gemeinschaft (Mittelfristige Perspektiven: 1989-1992) - KOM (88) 280 end. (BR-Drs. 281/88). Oppermann, Thomas, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung. Bonn 1987; s. hierzu aus der umfangreichen Literatur statt vieler Schröder, Meinhard, Europäische Bildungspolitik und bundesstaatliehe Ordnung. Baden-Baden 1990, mit Besprechung lach, FrankRüdiger, Europäische Bildungspolitik (Rezension), RdJB 1991, S. 310 ff. 279 Explizit hierzu Edelstein, Claus, Verlust der Bundesstaatlichkeit? - Kompetenzverluste der Länder im kulturellen Sektor vor dem Hintergrund des Art. 79 Abs. 3 GG, NVwZ 1989, S. 323. 280 So auch Gegenstand der allgemeinen Diskussion: Bauer, Joachim (Hrsg.), Europa der Regionen. Berlin 1991; Benz, Arthur, Perspektiven des Föderalismus in Deutschland, DÖV 1991, S.586; Blanke, a.a.O., (Anm. 4), S. 144; Constantinesco, Vlad, "Subsidiarität": Magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union?, EuZW 1991, S. 561 (562); Everling, Ulrich, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft. In: Hailbronner, K.lRess, G./Stein, T. (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung Festschrift für Karl Doehring. BerlinlHeidelberg 1989, S. 179, (180, 195); Hailbronner, Kay, Die deutschen Bundesländer in der EG, JZ 1990, S. 149 (153); Heintzen, Markus, Subsidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, S. 317; Knemeyer, FranzLudwig, Subsidiarität-Föderalismus, Dezentralisation, DVBl. 1990, S.449 (450); Kutscha, Martin, Demokratischer Zentralismus? - Vom zweifelhaften Schicksal bundesdeutscher Verfassungsprinzipien bei der EG-Integration, KJ 1990, S. 425 (432); Merten, Detlef (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bi!~ung. Berlin 1990; Petersen, Ulrich, Zur Rolle der Regionen im künftigen Europa, DOV 1991, S.278 (280 f.); Pechstein, Matthias, Subsidiarität der EG-Medienpolitik?, DÖV 1991, S.535; Schink, Alexander, Die europäische Regionalisierung, DVBl. 1992, S. 385 ff.; Wuenneling, Joachim, Föderalismus und Regionalismus in Europa, BayVBl. 1990, S. 489 ff. 281 Günth~r F. Schäfer, Die institutionelle Weiterentwicklung der E~ropäischen Gemeinschaft: Uberlegungen zu neuen Strukturen der EG-Institutionen, DOV 1991, S. 261 (267). Daß das föderale Gleichgewicht zu einer Schlüsselfrage für den europäischen Integrationsprozeß geworden ist, wird durch das negative dänische Referendum zu den Maastrichter Beschlüssen deutlich sichtbar. 282 s. Petersen, Ulrich, S. 279.
VIII. Bürgerschule und europäische Integration
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Hierbei ist die europarechtliche Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip als "ein Mittel zur Existenzbewahrung staatlicher Föderativstrukturen mit eigenem staatlichem Charakter innerhalb des europäischen Integrationsprozesses" in seinem Ausgangspunkt zwar primär durch die Probleme der in Europa ohne Entsprechung bestehenden föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland geprägt worden 283 , und so verwundert es nicht, daß dieses in seiner europarechtlichen Interpretation auf einen - auch wenn die Europäische Gemeinschaft davon noch ein gutes Stück entfernt ist - föderalen Bundesstaat ausgerichtete und insofern "aus der deutschen Rechtskultur" stammende Verfassungsprinzip "in den anderen Mitgliedstaaten ... bis vor kurzem fast unbekannt war,,284, obgleich es an sich ein ureuropäisches Prinzip darstellt. Anknüpfungspunkt aus bundesdeutscher Verfassungssicht ist dabei der in Art. 72 GG zum Ausdruck kommende Gedanke einer lediglich subsidiären Gesetzgebungsbefugnis des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Über diesen spezifisch bundesdeutschen Aspekt hinaus hat sich das Subsidiaritätsprinzip zwischenzeitlich zu einern anerkannten Konstitutionselement für die europäische Integration entwickelt und erfährt "als Schlüsselbegriff in der europarechtlichen Diskussion" sowohl in den übrigen Mitgliedstaaten als auch bei den Organen der Europäischen Gemeinschaft (EG) - Parlament, Kommission und Rat - allseitige Akzeptanz28S • Das Subsidiaritätsprinzip wird dabei von den Mitgliedstaaten der EG als ein Mittel zur Sicherung ihrer Eigenstaatlichkeit angesehen und von der EG als ein Element zur strukturellen Begrenzung von Kompetenzen grundSätzlich akzeptiert. Dem föderalen Aspekt der Wahrung der Rechte der Bundesländer aus bundesdeutscher Sicht entspricht dabei in den anderen Mitgliedstaaten über die Wahrung der Eigenrechte der bisherigen Nationalstaaten hinaus die Sicherung von Zuständigkeiten zugunsten autonomer Regionen wie in Spanien oder anderer regionaler und kommunaler Gebietskörperschaften. Insofern soll das Subsidiaritätsprinzip unter föderalen Aspekten eine duale Funktion erfüllen: Es soll einerseits die Rechte der Mitgliedstaaten gegenüber der Inanspruchnahme von Kompetenzen der EG schützen und andererseits darüber hinaus die in den Mitgliedstaaten vorhandenen dezentralen Staatsstrukturen respektieren und bewahren. Allerdings besteht z. T. ein sehr unterschiedliches Verständnis bei den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen darüber, was die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzabgrenzungsnonn konkret für Rechtsfolgen entfaltet. Das Subsidiaritätsprinzip vennag als politische Leitorientierung zentralistischen Tendenzen im europäischen Integrationsprozeß wenn nicht schon Einhalt zu gebieten, so doch ein Gegengewicht zu diesen aufzubauen. Als Rechtsprinzip entfaltet es weiterhin allenfalls im Verhältnis Europäische Gemeinschaft! 283 284 285
Constantinesco, Vlad, S. 562. Constantinesco, V1ad, S. 561. Heintzen, Markus S. 317.
8 Jach
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B. Schulverfassung, Unterrichtsfreiheit und Bürgergesellschaft
Mitgliedstaat Wirkungen einer Kompetenzbegrenzung. Die von den Bundesländern angestrebte umfassende Sicherung ihrer Kompetenzen im Sinne einer Ausschließlichkeitszuständigkeit, insbesondere im Bildungs- und Kulturbereich, läßt sich schon im gegenwärtigen Stadium des Integrationsprozesses ungeachtet der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips nicht erreichen. Allerdings ist zu konstatieren, daß die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips auf der Stufe eines föderalen Bundesstaates Europa, wenn dieser Weg denn gegangen würde, durchaus als ein Sicherungsinstrument für die Erhaltung zumindest von Teilkompetenzen der Bundesländer geeignet ist, das einen weiteren Machtverlust des Bundes auf dem Weg in den Europäischen Bundesstaat überleben könnte. Hierbei wäre es angesichts der dem Grunde nach allseits, also auch insbesondere bei der EGKommission, vorhandenen Akzeptanz des Subsidiaritätsprinzips verfehlt, nur auf die lustitiabilität dieses Rechtsgrundsatzes zu schauen. Über die Fragen der Sicherung des Föderalismus im europäischen Integrationsprozeß hinaus wirft das Subsidiaritätsprinzip als liberales (horizontales) Prinzip die grundsätzliche Frage auf, inwieweit im Verhältnis Staat/Gesellschaft nicht generell den Bürgern stärker als bisher die autonome Gestaltung von Handlungsräumen zu gewährleisten ist286 • so daß Subsidiarität im Sinne eines möglichst weitreichenden Zurücktretens des Staates bei der Gestaltung von gesellschaftlichen Lebensräumen zur Ermöglichung von Autonomie keinesfalls auf das Verhältnis der Gemeinschaft zum Nationalstaat zu beschränken ist, sondern gerade auch die innerstaatliche Organisations gewalt im Hinblick auf einen europäischen Bundesstaat in Frage stellt287 . Hierbei wird die Frage nach eigenbestimmter individueller und gesellschaftlicher Handlungsautonomie immer virulenter, je größer die politische und institutionelle Einheit voranschreitet, um den Ansprüchen einer pluralistischen und bürgernahen Organisationsform jenseits des zentralistischen Versorgungsstaates zu entsprechen. Die Bundesländer haben damit in ihrer Forderung nach Subsidiarität eine wesentliche, über ihre eigene Besitzstandswahrung hinausgehende, Dimension des europäischen Einigungsprozesses ins Bewußtsein gerückt, die bei einer substantiellen Umsetzung die innere Legitimität der Europäischen Union entscheidend stärken könnte. Ansätze hierfür sind auch in den Maastrichter Beschlüssen erkennbar, so z. B. in den Ausführungen zum sozialen Dialog, wie sie in dem Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten getroffen wurden. Dies gilt auch für die mit Art. 3b Abs. 2 EWGV korrespondierende Formulierung in Art. A Abs. 2 VEU, wonach "dieser Vertrag ... eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer 286 In diesem Sinne Erdmenger, Jürgen, Verfassungsfragen der europäischen Integration. In: Leber, Stefan (Hrsg.), Der Staat. Stuttgart 1992, S. 266 (291). 287 s. hierzu für den Bereich des Bildungswesens lach, Frank-Rüdiger, Grenzen der nationalstaatlichen Monopolisierung von Bildung im Prozeß der europäischen Integrationen. In: Winter, Gerd (Hrsg.), Die EG und das Öffentliche (ZERP DP 7/1991). Bremen 1991, S. 63 (72 ff.).
VIII. Bürgerschule und europäische Integration
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immer engeren Union zwischen den Völkern Europas dar(stellt), in der die Entscheidungen möglichst nahe bei den Bürgern getroffen werden". Dies ist zwar nicht als Subsidiarität im klassischen (horizontalen) Sinne zu verstehen, weil die Entscheidungen "nahe bei", aber nicht primär "von" den Bürgern getroffen werden. Zugleich kommt damit aber in der Absage an zentral staatliche Tendenzen - über das in der Europapolitik allgemein vertretende Prinzip: "Soviel Kompetenzen in Brüssel wie nötig, soviel Kompetenzen vor Ort wie möglich" hinausgehend - das horizontale Subsidiaritätsprinzip zumindest ansatzweise im Vertragstext zum Ausdruck. Das Subsidiaritätsprinzip ist in seiner vertikalen Dimension nicht auf den Grundsatz des Föderalismus und der Dezentralisierung der supranationalen Organisationsmacht EG aus der einseitigen Sicht der Bundesländer zu beschränken, sondern diese müssen sich vor dem Hintergrund der Bildungssysteme in den anderen Mitgliedstaaten fragen lassen, wieso die Dezentralisierung bei dieser eindringlichen Proklamierung des Subsidiaritätsprinzips im Bildungswesen in der Bundesrepublik auf der mittleren Ebene endet und sich nicht wie in anderen Mitgliedstaaten der EG bis auf die kommunale Ebene fortsetzt.
c. Systemtheoretische Erfassung der Schulverfassungsstrukturen in Westeuropa I. Zur Systemverwandtschaft europäischer Verfassungstypologien Die westeuropäischen Verfassungsstaaten sind ungeachtet verschiedener Strukturmerkmale etwa hinsichtlich der Stellung des Staatsoberhauptes und der Repräsentativorgane nicht nur durch ihre Homogenität als jeweils liberaldemokratische Regime gekennzeichnet, die sich durch freie Wahlen und die Gewährleistung von Grundrechten auszeichnen\ sondern erscheinen auf den ersten Blick auch als eine kulturelle Homogenität, weshalb Europa nicht nur als ein geographischer, sondern auch als ein kultureller Begriff verstanden wird2 • Bei der Konstitutionalisierung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstrukturen in Osteuropa ist unzweifelhaft, daß diese Länder sowohl in verfassungsstaatlicher als auch in kultureller Dimension an diese westeuropäische Kultur- und Verfassungstradition anknüpfen wollen3 . Als gemeinsames Kulturerbe Westeuropas läßt sich im Bereich der Schulverfassung konstatieren, daß global in der Orientierung schulischer Bildungsund Sozialisationsprozesse an dem Ziel der Heranführung des Kindes zu einer mündigen, sozial verantwortlichen und toleranten, freien Individualität die Perspektiven der künftigen Bildungspolitik in einem vereinten Europa zu sehen sind. Damit korrespondiert in der Absage an ein staatliches Schulmoriopol sowohl das Recht der Eltern, die Grundentscheidung über die Erziehung ihrer Kinder durch das Recht der freien Wahl der Schule, einschließlich des Rechts zur Gründung von Schulen in freier Trägerschaft, zu treffen, als auch das Recht des Kindes auf Findung seiner eigenen Identität im Sinne eines Rechts auf umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit sowie das Recht der pädagogischen Freiheit des Lehrers im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Ungeachtet dieser gemeinsamen Kultur- und Verfassungstradition beschreiten die westeuropäischen Staaten gleichwohl sehr unterschiedliche Wege der Verwirklichung dieser Prinzipien. Insbesondere läßt sich konstatieren, daß die 1 Gabriel,
Oscar. W., Die EG-Staaten im Vergleich, Opladen 1992, S. 12. Gabriel, Oscar. W., S. 11. 3 Hierzu grundsätzlich Preuß, Ulrich K, Constitutional Aspects of the Making of Democracy in the Post-Communist Societies ofEastem Europe, ZERP DP 2/1993. 2
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C. Systemtheoretische Erfassung der Schulverfassungsstrukturen
Struktur der Schulverfassung von einer liberalen bis hin zu einer etatistischen Tradition reicht und auch im Grade der Zentralisierung bzw. Dezentralisierung erhebliche Strukturunterschiede festzustellen sind. Dies korrespondiert zunächst mit der allgemeinen Feststellung, daß auch die repräsentativ - demokratischen Verfassungsstaaten Westeuropas in ihrer Binnenstruktur vielfältige Erscheinungsformen aufweisen. Für die Typologisierung der verschiedenen Schul verfassungen scheint danach auch das Verständnis und die Bedeutung des allgemeinen staatsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips von entscheidender Relevanz. Hierbei liegt dessen Bedeutung für die Gewährleistung von Unterrichts- und Bildungsfreiheit weniger in seinem Verständnis als vertikales, die Staatsaufgaben lediglich dezentralisierendes Prinzip, sondern in seinem Verständnis als horizontales Subsidiaritätsprinzip, wonach die Aufgaben als solche möglichst weitestgehend dem staatlichen Bereich entzogen und den Bürgern im Wege der Einräumung von Selbstgestaltungsmöglichkeiten zugeordnet werden4 • Hierbei wird schon im Ansatz deutlich, daß insofern ein enges Annexverhältnis zwischen dem horizontalen Subsidiaritätsprinzip und den Grundzügen der Bürgergesellschaft bzw. Zivilgesellschaft besteht, welches durch die jeweilige Bedeutung und Ausprägung der sozial staatlichen Komponente unterschiedlich ausdifferenziert erscheint. Als ein bildungspolitisches Beispiel für ein solchermaßen verstandenes Subsidiaritätsprinzip kann das niederländische Bildungswesen gelten, wo zunächst das horizontale Subsidiaritätsprinzip durch die 1917 in der Verfassung gewährleistete Gleichstellung staatlicher und nichtstaatlicher Schulen verankert und in den letzten 15 Jahren das vertikale Subsidiaritätsprinzip durch eine weitreichende Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen auf die niedrigste Ebene, die Einzelschule, verwirklicht wurde: "In den neuen Gesetzen wird nur noch das geregelt, was wirklich erforderlich ist - alles andere liegt in den Händen der Schulen selbst. Damit wird die Verantwortung für die meisten Angelegenheiten auf die niedrigste Ebene übertragen"s. Die legitimatorische Begründung eines solchermaßen dezentralisierten und demonopolisierten Schulwesens leitet sich dabei nicht primär aus staatsorganisatorischen, sondern aus demokratietheoretischen Überlegungen her: "In einem pluralistisch-demokratischen Staat darf auch das Schulsystem 'pluriform' sein: Eltern und Schüler haben das Recht, ihre Schule, die sie aus Gründen der Lebensanschauung, des Leistungsangebotes o.ä. wollen, frei auszuwählen, es gibt keine bürokratischen Einschränkungen, .. mehr,,6, 4 s. hierzu lach, Frank-Rüdiger, Das neue Subsidiaritätsprinzip im Gemeinschaftsrecht, RdJB 1992, S. 493 (494). S Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, Schulleiter-Handbuch 66, Schule von innen verändern, Braunschweig 1993, S. 61 (63). 6 Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung.
I. System verwandtschaft europäischer Verfassungstypologien
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Versucht man jedoch eine allgemeine Typologie der politischen Systeme der westeuropäischen Verfassungsstaaten in Relation zu den Schulverfassungsstrukturen und dem Anliegen einer Typologisierung derselben zu setzen, so stellt sich das Ergebnis ein, daß die politischen Systeme im allgemeinen und die spezifischen Schulverfassungsstrukturen im besonderen in hohem Maße miteinander korrespondieren. In Anlehnung an die Untersuchungen von Lijphare hat Gabriel 8 die politischen Systeme der Mitgliedstaaten der EG in drei Grundtypen unterschieden, nämlich die Wettbewerbsdemokratie, die Konsensdemokratie und einen Mischtyp derselben, die sich wiederum in unitaristische, föderative und unitaristischföderative Strukturen unterteilen 9• Hierbei stellt sich heraus, daß die politischen Systeme, die Lijphart und Gabriel als Konsensdemokratie bezeichnen, durch diejenigen Staaten repräsentiert werden, die durch eine bürgerschaftliche Schulverfassungstradition, in der der Staat kein umfassendes Macht- und Gestaltungsmonopol für das Schulwesen für sich beansprucht, sondern den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auch im Schulwesen die Möglichkeit gibt, gleichberechtigt neben dem staatlichen Schulwesen ihre pädagogischen Wertorientierungen zu verwirklichen, gekennzeichnet werden. Es handelt sich dabei um Belgien, die Niederlande und Dänemark, die im europäischen Kontext allesamt nicht nur als in ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert verankert JO, sondern zugleich als bürgerschaftliche Schul verfassungen zu charakterisieren sind, die gleichwohl keinesfalls als konfliktfreie oder als idealtypische Schulverfassungen verstanden werden sollen. Dagegen weisen die im 20. Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeiteten Verfassungen wie die italienische Verfassung von 1948, das Bonner Grundgesetz von 1949, die griechische Verfassung von 1975, die portugiesische Verfassung von 1976 und die spanische Verfassung von 1978 eher, wenn auch abgeschwächte, etatistische Tendenzen auf. Im Vergleich der historischen Entwicklung der westeuropäischen Staaten zeigt sich, daß das Prinzip der Bildungsfreiheit in den Ländern am stärksten zum Ausdruck kommt, in denen im 19. Jahrhundert die bürgerliche Revolution nicht gescheitert ist, sondern gesiegt hatll . Hierbei gilt für Länder mit einer 7 Lijphart, Arend, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Govemment in Twenty-One Countries. New HavenlLondon: Yale University Press 1984. 8 Gabriel, Oscar W., S. 14. 9 Gabriel, Oscar W., S. 14. 10 Kimmei, Adolf, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Verfassungsstrukturen. In: Gabriel, Oscar W., Die EG-Staaten im Vergleich, Opladen 1992, S. 23 (24). 11 Hierauf weist zu Recht Jenkner in seiner Abschiedsvorleseung im PB Erziehungswissenschaften I an der Universität Hannover v. 2.2.1996 hin, Jenkner, Siegfried, Vortragsmanuskript, S. 4.
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C. Systemtheoretische Erfassung der Schulverfassungsstrukturen
bürgerschaftlichen oder liberal-subsidiären Schulverfassungstraditition, also traditionell Großbritannien und Irland ebenso wie Dänemark, Belgien und die Niederlande, daß es sich allesamt um Länder handelt, die durch eine stetige, von tiefen Krisen weitgehend freie Entwicklung des politischen und demokratischen Systems geprägt sind 12 . Martin McLean hat insofern gezeigt, daß dementsprechend in Europa drei Curriculumtraditionen nebeneinander bestehen, die wiederum auf drei verschiedene nationale Erkenntnistheorien der höchsten Ziele des Wissenserwerbs zurückgehen\3. Danach besteht in Europa der auf Wissenserwerb und Standardisierung ausgerichtete rationale Enzyklopädismus insbesondere französischer Prägung, in dem das individuelle und intuitive Lernen weniger Beachtung findet und Emotionen und Gefühle als weniger wichtig gelten, neben einer auf Individualisierung und Handlungsorientierung ausgerichteten humanistischen Tradition englischer Prägung und einer kindzentrierten und gemeinwesenorientierten Curriculumorientierung, wie sie sich insbesondere in Dänemark findet und bei der emotionale und soziale Handlungsorientierungen neben den kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten wesentlich stärker betont werden. Diese verschiedenen, kulturell bedingten, Curriculumtraditionen, hinter denen sich grundlegende Wertvorstellungen verbergen, lassen sich nicht in ein zentrales europäisches Curriculum transfonnieren, sondern erfordern "eine Vielzahl separater europäischer Curricula", die sich "von unten nach oben entwickeln, anstatt von oben (d. h. auf nationaler, regionaler oder europäischer Ebene) verordnet zu werden,,14. Eine Ausnahme in dieser Gesamtschau stellt allerdings die irische Verfassung dar, die sich keiner stringenten Verfassungstypologie unterwirft l5 . So i~t Irland zwar als Wettbewerbs- und nicht als Konsensdemokratie zu charakterisieren l6 , gleichwohl begrenzt sich die Rolle des Staates in der schulischen und außerschulischen Erziehung auf eine lediglich explizit horizontal subsidiäre Funktion 17, ohne ansonsten in einer liberalen Verfassungstradition zu stehen 18 . Seinen Grund hat dies in dem im westeuropäischen Kontext beispiellosen Gelingen der katholischen Kirche, der irischen Verfassung den "Stempel des die irische Gesellschaft prägenden Katholizismus,,19 zu geben 20. Kimmel, Adolf, S. 23 (42). McLean, Martin, Das europäische Curriculum. In: Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 261 (266 ff.). 14 McLean, Martin, S. 275. 15 So auch Kimmei, Adolf, S. 23 (26). 16 Gabriel, Oscar W., S. 14. 17 Kimmel, Adolf, S. 23 (30). 18 Kimmel, Adolf, S. 26. 19 Kimmel, Adolf, S. 26. 12 13
I. Systemverwandtschaft europäischer Verfassungstypologien
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Bei dem Versuch einer Typologie der Schulverfassungsstrukturen der verschiedenen europäischen Staaten unter dem Gesichtspunkt, in welchem Ausmaß in den einzelnen Ländern staatliche Steuerungsmechanismen normativ vorgegeben sind und inwieweit in den Ländern gesellschaftliche und individuelle Handlungsautonornie besteht, zeigt sich ferner ein interessantes Annexverhältnis zwischen den Bereichen der Bildungspolitik und dem grundsätzlichen staatstheoretischen Verständnis von Wohlfahrts- und Sozialpolitik im weiteren Sinne. Länder, in denen wie in Deutschland und Frankreich Sozialpolitik traditionell in der Form einer stark verrechtlichen sozialstaatlichen Kodifizierung im Sinne rechtlich normierter Statusrechte betrieben wird - Leibfried nennt dies die kontinentale Konzeption des Sozialstaates2! -, sind durch eine mehr oder weniger etatistische Schulsystemverfassung geprägt, die darin begründet ist, daß es der autoritäre Staat des 19. Jahrhunderts war, der zur Befriedigung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Errichtung von Institutionen der staatlichen Daseinsvorsorge auf seine Fahnen schrieb22 • Die damit implizierte autoritäre, staatsbezogene Struktur dieser Institutionen lebt bis heute fort und ist an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt. Demgegenüber steht die angelsächsische Konzeption des Wohlfahrtsstaats, die weniger durch rechtlich normativ gesicherten Statusansprüche im Sinne einklagbarer subjektiver Rechte geprägt ist, sondern auf die nicht justitiable Befriedigungsleistung abstellt und in deren Tradition sich neben Großbritannien auch Irland, Dänemark und die Niederlande finden 23 , die bezeichnenderweise auch durch eine liberale oder bürgerschaftliche Schulsystemverfassung geprägt sind. Dies belegt, wie weit ein ausgeprägtes konstitutionelles Sozialstaatsverständnis bis auf die Organisation der einzelnen Politiken "durchschlägt" und die damit einhergehende sozialpolitische Sichtweise von Erziehungs- und Bildungssystemen in diesen Ländern mit einem hohen Grad an Verrechtlichung zur Verwirklichung von vermeintlicher Chancengleichheit nur um den Preis der Reduzierung gesellschaftlicher und individueller Handlungsfreiräume möglich ist. Hierbei ist jedoch zu fragen, ob eine rechtliche Kodifizierung von staatlicher Schulhoheit und das Zurückdrängen von gesellschaftlicher Selbstorganisation insbesondere vor dem Hintergrund der Bildungsreformpolitik der 70er Jahre überhaupt das geeignete Instrument ist, sozialpolitischen Zielsetzungen wie die der Verwirklichung von Chancengleichheit zur Realisierung zu verhelfen. Die 20 Dies gilt nicht nur für das Erziehungs- und Bildungswesen, sondern auch für andere Bereiche wie die verfassungsrechtlich normierten Regelungen zur Abtreibung, Auflösung der Ehe durch Scheidung sowie der Meinungs- und Pressefreiheit, s. KimmeI, Adolf, S. 30. 21 Leibfried, Stefan, Social Europe. Welfare State Trajectories of the European Community. In: OttolFlösseer (Ed.), How to Organize Prevention. BerlinlNew York 1992, S. 17 (31). 22 Koch, Claus, Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat. Leviathan 1995, S. 78 (80). 23 Leibfried, Stefan, S. 31.
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C. Systemtheoretische Erfassung der Schulverfassungsstrukturen
hier vertretene Gegenthese lautet vielmehr, daß sowohl sozialvergleichende Betrachtungen der Bildungssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten als auch die Ergebnisse erziehungswissenschaftlicher und organisationswissenschaftlicher Untersuchungen über die Qualität von Schule zeigen, daß mit dem Zurückdrängen staatlicher Gestaltungsbefugnisse im Schulwesen keinesfalls zwangsläufig eine zunehmende soziale Selektivität einsetzt, sondern vielmehr überhaupt erst Entfaltungsmöglichkeiten als Voraussetzung für Chancengleichheit freigesetzt werden. Insbesondere das niederländische Schulwesen, welches sich überwiegend in freier Trägerschaft befindet, ist im Vergleich zum bundesdeutschen ein Beispiel dafür, daß weder eine Autonomie der Einzelschule noch eine dominante Stellung von Schulen in freier Trägerschaft Tendenzen sozialer Privilegierung hervorrufen oder verstärken, noch daß Anzeichen dafür zu finden wären, "daß die soziale Auslese im niederländischen Schulwesen schärfer ist als im bundesdeutschen,,24. Wenn dies aber so ist, und die Untersuchungen über das niederländische Bildungswesen belegen dies, dann ist die Legitimationsbasis für ein staatliches Schulehalten, die primär in der sozialstaatlichen Sicherungsfunktion für die Herstellung von Chancengleichheit und die Vermeidung sozialer Disparitäten gesehen wird, nachhaltig erschüttert. In diesem Kontext ist besonders interessant, daß die Niederlande als Vorreiter der europäischen Diskussion über "Autonomie im Bildungswesen" dieses Konzept in eine grundlegende Neustrukturierung des Sozialstaates eingebunden haben, die angesichts einer dramatischen Haushaltslage schon Anfang der 80er I ahre - und nicht erst wie in Deutschland zu Beginn der 90er Iahre - nachhaltige Reformen eines "überbordeten Versorgungsstaates" erforderten, die heute in einem erheblichen Rückgang des Haushaltsdefizits und einer Schaffung neuer Arbeitsplätze ihren Ausdruck finden 25 . Unabhängig von den einzelstaatlichen Strukturmerkmalen schlägt die Diskussion über Struktur und Grenzen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates hierbei bis hin zur Frage der Autonomie der Schule und den verschiedenen zugrundeliegenden Argumentationszusammenhängen durch. Während die eher marktorientierte Begründung der Autonomie von Schule auf Marktkräfte zur Entlastung eines überforderten Sozial- und Wohlfahrtsstaates setzt, insofern als Ausdruck vom vielseits proklamierten "Ende des Wohlfahrtsstaates" gesehen werden kann, geht die hier vertretene demokratietheoretische Begründung von Schulautonomie weiterhin von einer sozialstaatlichen Sicherungsfunktion der materiellen Grundversorgung von Schulen aus, überläßt aber den gesellschaft24 Tillmann, Hans-Jürgen, Autonomie der Schule, Zeitschrift für Pädagogik 1111993, S. 6 (7 f.). 25 s. hierzu Pinzler, Petra, Genesung auf holländisch, DIE ZEIT, 3/1997, S. 15 f.
I. Systemverwandtschaft europäischer Verfassungstypologien
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lichen Kräften im Sinne der Bürgergesellschaft die Ausgestaltung verschiedener pluraler Handlungsmodelle dergestalt, daß dem Staat und dem Gesetzgeber die Aufgabe obliegt, dort, wo Bürger aus einer bestimmten pädagogischen Intention heraus aktiv werden, die materiellen und rechtlichen Rahmenbedingungen hierfür durch die Gleichstellung von Schulen unabhängig von ihrer Trägerschaft zu gewährleisten. Deshalb verbleibt aus demokratietheoretischer Sicht, ungeachtet der Autonomie von Schule, dem Staat die Aufgabe der finanziellen Verantwortung für das Schulwesen, und diese kann nicht auf die Kommune oder gar Private übertragen werden, weil nur so vermeidbar ist, daß es reiche und arme Schulen gibt. Diese demokratietheoretische Begründung von Schulvielfalt ist nicht gleichzusetzen mit der Steuerung des Bildungswesens durch Marktmechanismen, wie sie sich in Europa in der neueren Bildungspolitik insbesondere in England durch den Reform Act von 1988 widerspiegelt und auch in der amerikanischen Diskussion insbesondere durch die Arbeit von Chubb und Moe über die Bedeutung von Marktmechanismen für das Bildungswesen26 zunehmend an Einfluß gewinnt. Der demokratietheoretischen Begründung von Schulvielfalt geht es nicht primär um die Präferenz einer bestimmten Form der Schulträgerschaft, sondern darum, unabhängig von der Form der Trägerschaft den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter Beibehaltung der sozialstaatlichen Einstandspflicht des Staates die Möglichkeit der gleichberechtigten Realisierung verschiedener pädagogischer Profile zu geben. Gegenstand dieser Untersuchung sind daher auch nicht primär die "nichtstaatlichen" Schulen in ihrer Gesamtheit, sondern ein besonderes Augenmerk gilt denjenigen Schulen, in denen sich Bürger in freier Trägerschaft zusammenschließen, um eine bestimmte pädagogische Schulkonzeption gemeinsam zu verwirklichen. In diesem Sinne unterteilt sich das Schulwesen der Bürgergesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts - im Gegensatz zu dem allein bestimmenden Gegensatz von staatlicher und kirchlicher Schule zum Ende des vorherigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts - in die staatlich-kommunalen, die kirchlichen und die unabhängigen Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft mit besonderer pädagogischer Prägung. Dem folgend ist die alte Trennung zwischen Staat und Kirche als Bestimmungspunkt für die Rechtsstellung von nichtstaatlichen Schulen, die in den verschiedenen europäischen Ländern zu völlig unterschiedlichen Regelungen insbesondere hinsichtlich der Finanzierung kirchlicher und anderer nichtstaatlicher Schulen geführt hat, überholt27 • 26 Chubb, John E./Moe, Terry M., Politics, Markets and America's Schools. Washington D.C. 1990, die mit ihrer Arbeit den Beweis zu bringen versuchen, daß ein marktgesteuertes Schulwesen einem staatlichen strukturell überlegen ist. 27 s. hierzu auch de Winter, Reiner/Heringa, Aalt Willern, Private Schools and State Intervention, Maastricht Journal 1994, S. 316 (325).
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11. Zur Typologie westeuropäischer Schulverfassungen 1. Die verschiedenen Grundrichtungen europäischer Schulverfassungen In europäischer Dimension lassen sich ungeachtet aller strukturellen Unterschiede in ihrer normativen Ausgestaltung verschiedene Grundrichtungen von Schulverfassungen erkennen. Hierbei handelt es sich zum einen um eine zentralistisch und etatistisch orientierte Schulverfassungstradition, wie sie etwa für Frankreich kennzeichnend ist. Demgegenüber steht eine explizit bürgerschaftliche Schulverfassungstradition, die den gesellschaftlichen Kräften weitgehenden Einfluß auf des Bildungswesen ermöglicht und die Rolle des Staates auf die Gewährleistung von Mindeststandards beschränkt, wie es sich z. B. in Dänemark, Belgien und den Niederlanden, aber auch zumindest partiell unter - wie noch zu zeigen sein wird - grundsätzlich sich wandelnden Bedingungen in Großbritannien darstellt. Dazwischen finden wir eine Schulverfassungstradition, die mit der Konstituierung föderalistischer Staatsstrukturen und der Absage an ein staatliches Schulmonopol bedingt Handlungspielräume im Sinne schulischer Vielfalt ermöglicht, dabei aber gleichwohl arn Vorrang der schulischen Bildung und Erziehung als einer öffentlichen Angelegenheit in der Verantwortung des Staates festhält. Exemplarisch hierfür stehen die Schulverfassungen der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und Österreichs28 • Parallel zu dieser Makrostruktur lassen sich hinsichtlich der Festlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen für das staatliche und nichtstaatliche Schulwesen und die Verwaltung der Bildungssysteme in Anlehnung an eine vergleichende Analyse der EG-Kommission über die Verwaltungs strukturen von Primar- und Sekundarschulen in den Mitgliedstaaten der EG drei unterschiedliche Typisierungen von Systemen der Bildungsverwaltung feststellen: überwiegend zentralistische, weitgehend dezentrale und die Mischform einer zugleich zentral und regionalen Bildungsverwaltung29 . In Anlehnung an den Begriff der Bildungsverwaltung, wie er im Rahmen der vergleichenden Analysen der EG-Kommission benutzt und verstanden wird30, werden im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung und Darstellung über Inhalt und Reichweite der gesellschaftlichen Selbstverwaltung in den europäischen Staaten gleichermaßen der rechtliche Aspekt im engeren Sinne, also der der normativen Ausgestaltung der Schulverwaltung und 28 s. hierzu auch Jach, Frank-RüdigeriJenkner, Siegfried, Schulverfassungen in Europa - ein problemorientierter Überblick. In: Klaßen, Th.F.lSkiera, E. (Hrsg.), Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, 2. Auf!. Hohengehren 1993, S. 39 f. 29 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen von Primar- und Sekundarschulen in den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Brüssel 1992, S. 34. 30 Eurydice (Hrsg.), S. 34.
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Schulaufsicht sowie die Rechtsstellung des nichtstaatlichen Sektors, der bildungsökonomische Aspekt der Finanzierung von Schulen und der pädagogische Aspekt der Freiheit bei der Festlegung der Bildungsziele und Lehrpläne zu untersuchen sein. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Schulverfassungen und Schulgesetze verschiedener europäischer Länder daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie Handlungsräume für pädagogische und strukturelle Vielfalt eröffnen, insbesondere inwieweit in den einzelnen Schulverfassungen neben dem Prinzip der Unterrichtsfreiheit Elemente staatlicher Dezentralisierung, gesellschaftlicher Partizipation an staatlichen Entscheidungen und Formen gesellschaftlicher Selbstverwaltung3l normativ zum Ausdruck kommen. Hierbei wird sich zeigen, daß sich die einzelnen Schulverfassungen und Bildungssysteme stark voneinander unterscheiden und ein identisches Bildungssystem nicht einmal bei zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vorliegt32 • So variiert etwa der Anteil von Schulen in freier Trägerschaft im Vergleich zu staatlich-kommunalen Schulen in den einzelnen europäischen Ländern zwischen 1 % und 70 % und unterliegen diese Schulen materiellrechtlich in den verschiedenen Ländern völlig unterschiedlichen Bedingungen. Gleichwohl lassen sich verschiedene Grundrichtungen in Europa erkennen, innerhalb derer die einzelnen Schul verfassungen Systemverwandtschaften aufweisen. Hierbei ist methodisch davon auszugehen, daß in der Rechtswissenschaft hinsichtlich der vergleichenden Schulverfassungsforschung erhebliche Defizite bestehen, dies um so mehr, als sich "weniger in den Institutionen als vielmehr in dem System der Gesetze und Rechtsvorschriften ... der Charakter einer Schulverfassung (offenbart)'.33. Hierbei liegt die besondere Problematik für die vergleichende rechtswissenschaftliche Forschung darin, daß die Regulierungswirkungen der einzelnen verfassungsrechtlichen, gesetzlichen und sonstigen normativen Vorschriften nur aus dem Gesamtkontext der jeweiligen Rechtssysteme verständlich werden und von daher nur bedingt normimmanent interpretiert werden können 34 • Die rechtsvergleichende Verfassungsforschung 31 Zu diesen kategorialen Zuordnungen s. Jenkner, Siegfried, Entwicklung der Schulverfassung im internationalen Vergleich. In: Füssel, Hans-Peter/Leschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 46 f. 32 Bever, Sigrun, Die Rolle des Bildungsrechts im Prozeß der Europäischen Integration. Bochum 1987, S. 84. 33 Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht und am Beispiel der Situation in England, den Niederlanden und der UdSSR. In: Füssel, HansPeter/Leschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 73. 34 Zur Problematik s. a. Glowka, Detlef, S. 76.
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muß daher stets berücksichtigen, daß "derselbe Verfassungstext, etwa ein einzelnes Grundrecht, von Verfassungsstaat zu Verfassungsstaat verschiedene Inhalte haben" kann 35 • In einer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung des Schulwesens in den verschiedenen Ländern zeigt sich, daß die Gestaltungsbefugnisse des Staates im Schulwesen entscheidend für die Beantwortung der Frage sind, inwieweit es in den jeweiligen Schulsystemen der einzelnen Länder möglich ist, pluralistische und dezentrale Schulstrukturen zu verwirklichen. Hierbei zeigt eine Analyse der schulverfassungsrechtlichen Vorgaben für die verschiedenen Bildungssysteme, daß die Realisierungsmöglichkeiten wesentlich von der normativen Sicherung der Autonomie der Einzelschule und einer Begrenzung der Einflußmöglichkeiten des Staates auf die pädagogische Arbeit innerhalb des staatlichen Schulwesens sowie von der Rechtsstellung und den Gestaltungsmöglichkeiten nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere den ca. 1.200 sog. reformpädagogischen und alternativen Schulen im westeuropäischen Bereich36 , abhängt, deren zunehmende Bedeutung auch in Osteuropa deutlich hervortritt37 , wobei insbesondere in Skandinavien (Schweden, Finnland und Norwegen) in den letzten Jahren grundlegende Systemveränderungen festzustellen sind. Insofern weist der OECD-Bericht über die Qualität von Schulen unter dem Aspekt der Wahlfreiheit auf Norwegen und Finnland als zwei Staaten hin, wo Schulen in freier Trägerschaft durch eine grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik seit Mitte der 80er Jahre im Grundsatz die gleiche volle öffentliche Unterstützung wie staatliche Schulen erhalten, wenn sie den gesamtstaatlich definierten Maßstäben der Gleichwertigkeit - nicht der Gleichartigkeit genügen 38 • Dieser bildungspolitischen Neuorientierung hat sich inzwischen auch Schweden angeschlossen. Der Maßstab der gleichen finanziellen Unterstützung ist aber insofern relativiert, als die Schulen in freier Trägerschaft real nicht 100 % der vergleichbaren Kosten staatlicher Schüler erhalten, sondern nur 85 % derselben mit der für diese Länder insoweit prinzipiell zu akzeptierenden Begründung, daß das staatliche Schulwesen flächendeckend angeboten werden müsse und insofern etwa in dünnbesiedelten Gebieten des Nordens dieser Län35 Häberle, Peter, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 (1035). 36 Diese Zahl nennt Berg, Hans Christoph, Bilanz und Perspektiven der Reformpädagogik, ZfP 1990, S. 877; diese Zahl dürfte inzwischen bei 1.300 liegen und in der Betrachtung um die osteuropäischen Staaten zu ergänzen seien, in denen reformpädagogische Schulen zunehmend ihre pädagogische Wirkung entfalten. 37 s. Jenkner, Siegfried, Reformpädagogik und Schulverfassung in Osteuropa, Pädagogisches Forum 1991, S. 188. 38 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität. Ein internationaler OECD-Bericht. FrankfurtlM. 1991, S. 143. f.
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der höhere Kosten verursache als Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft, die nur entsprechend der Nachfrage gegründet werden und sich so um die Metropolen und dichter besiedelten Gebiete konzentrieren. So versucht man in Norwegen das tendenziell angelegte Spannungsverhältnis zwischen Schulvielfalt als Ausdruck von Wahlfreiheit und dem Verständnis der Schule als einer sozial bindenden Institution in der Form gerecht zu werden, daß gesamtstaatlich durch finanzielle Förderung ein Schulsystem geschaffen wird, "in dem die Schulen soweit als möglich von gleicher Qualität sind, und ein Konkurrenzkampf zwischen den Schulen bewußt nicht unterstützt" wird39 • Eine ähnliche Entwicklung ist in Schweden festzustellen. Untersucht man die Schul verfassungen der europäischen Staaten in ihrem Annexverhältnis zu dem in den jeweiligen Ländern herrschenden übergreifenden Staats- und Verfassungsverständnis, so zeigt sich gleichwohl, daß allein die Tatsache der zentralstaatlichen Bildungsplanung und -politik als solche für die Beantwortung der Frage, inwieweit in den einzelnen Ländern die Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstdefinition von Bildungsprozessen und Erziehungszielen besteht, wenig aussagekräftig ist. So sind zwar Frankreich und die Niederlande beide gleichermaßen durch ein an sich zentralistisches Bildungssystem geprägt, doch lassen diese in extremem Maße unterschiedliche rechtlich normierte und gesicherte Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbststeuerung zu. Dies bestätigt die These, daß die verschiedenen Konzeptionen von Schul verfassung nur verständlich vor dem gesamten Kontext des Staatsverständnisses der einzelnen Ländern sind. Damit versteht sich die Untersuchung nicht nur als Betrachtung eines Ausschnitts VOn Staats- und Gesellschaftsorganisation, sondern es wird weiterhin die These vertreten, daß sich insbesondere am Beispiel der Schulverfassung insgesamt und der Rechtsstellung der freien Schulen im besonderen exemplarisch sowohl das grundlegende Staats- und Gesellschaftsverständnis als auch einzelner übergreifender Politikbereiche, wie etwa der Sozialpolitik, widerspiegelt. In diesem Sinne ist Häberle zuzustimmen, daß Rechtsvergleichung nur als Kulturvergleichung gelingen kann, "wenn sie das Typische und IndividuellEigene des im engeren oder weiteren Sinne 'benachbarten' Verfassungsstaates beobachtet und verarbeitet,,40, weil die Verfassung "nicht nur juristischer Text bzw. normatives 'Regelwerk' (ist), sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen,,41.
39 40 41
OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 143. Häberle, Peter, S. 1033 (1036). Häberle, Peter, S. 1034.
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Deutlich werden die grundlegenden Unterschiede der schulverfassungsrechtlichen Grundkonzeptionen schon in der Gegenüberstellung der Schul verfassungsartikel in den verschiedenen Ländern. Während die bundesrepublikanische Verfassung in ihrer etatistischen Grundkonzeption in Art. 7 Abs. 1 GG im wahrsten Sinne des Wortes - normiert: "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates", zeigt sich die liberale Grundkonzeption des niederländischen Schulverfassungsrechts durch die Gegenüberstellung der entsprechenden Regelung in Art. 23 Abs. 1 der Verfassung, wo es heißt: "Das Unterrichtswesen ist Gegenstand ständiger Sorge der Regierung". In der Differenzierung zwischen der "Aufsicht über" oder der "Sorge um" die Schule klingt schon deutlich das unterschiedliche Selbstverständnis beider Verfassungsurkunden als Selbstverständnis gesellschaftlich-staatlicher Organisationsform an. Noch weiter geht unter liberal-individualistischen Gesichtspunkten die dänische Verfassung, indem diese explizit als echte Grundrechte nur das Recht des Kindes auf unentgeltlichen Volksschulunterricht und das Recht der Eltern, ihre Kinder selber zu unterrichten, zum Gegenstand hat. Versucht man die unterschiedlichen Schulverfassungsstrukturen der einzelnen Länder in einen grundsätzlichen staatstheoretischen Kontext zu stellen, so zeigt sich gleichwohl, daß im wesentlichen folgende Grundtypen der Schulverfassung zu erkennen sind: die demokratisch etatistisch-zentralistische, die bürgerschaftlich-liberal-subsidiäre und die Mischformen einer zwar vom Vorrang der staatlichen Schulen ausgehenden, aber gleichzeitig unter Berücksichtigung sozial staatlicher Belange die Unterrichtsfreiheit akzeptierende dezentralisierte Schulverfassung sowie die unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Freiheit die Gleichwertigkeit von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen akzeptierende, sozialstaatlich aber defizitär ausgebildete Schulverfassung. Hierbei ist die Kategorisierung angesichts der sich erst in der Entwicklung befindenden konstitutionellen Rahmenbedingungen in Osteuropa zwangsläufig zunächst auf die westeuropäischen Staaten beschränkt, wobei sich jedoch auch für die osteuropäischen Schulverfassungsstrukturen zumindest Entwicklungstendenzen aufzeigen lassen. Legt man die von mir entwickelten Kriterien von Unterrichtsfreiheit und Sozialstaatlichkeit im Sinne der staatlichen Sicherung allgemeiner Zugänglichkeit und eines umfassenden Wahlrechts zwischen allen Schulen durch materielle Unterstützung nichtstaatlicher Schulen gleichermaßen zu Grunde, so ergibt sich die Notwendigkeit weitergehender Differenzierung als wir sie z. B. bei Richter finden 42. 42 Richter, Ingo, Educational Decision-Making in Open Societies, Legal and Procedural Requirements - Western Europe. In. International Symposium on Law and Education (Tagungsband des Max Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin 1993), S. 2 ff.
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Richter unterscheidet die in Westeuropa vorherrschenden Schulverfassungsstrukturen in ein dreigeteiltes Modell: das administrative, das konstitutionelle und das contraktistische. Diese Kategorisierung als solche erscheint relativ unproblematisch und korrespondiert im Grundsatz mit den von mir vorstehend dargelegten Kategorien zumindest in der Entsprechung des adminstrativen als etatistisches Modell einerseits und dem bürgerschaftlich-subsidiär-liberalen als contraktistisches Modell andererseits. Richter sieht das adminstrative Modell in seiner heutigen Erscheinungsform insbesondere durch Frankreich und die romanischen Staaten repräsentiert, obgleich es auch in diesen Ländern nicht in ,,reiner" Form anzutreffen ist43 . Dieses geht in seiner "Idealverfassung" vom Schulmonopol des Staates aus, um dem Grundsatz der gleichen Rechte und Chancen für alle zu entsprechen, und negiert sowohl hinsichtlich der Erziehungsziele und Methoden als auch der Ausgestaltung des Schullebens weitestgehend Mitwirkungsrechte von Schülern, Eltern und Lehrern44 • Dieses administrativ-etatistische Modell, das durch eine" präventive Qualitätsüberwachung" auf der Basis "eines sehr detaillierten Systems von Zielsetzungen und Reglementierungen mit einer sehr kleinen Variationsbreite" gekennzeichnet ist45 , bedarf nicht nur einer weitreichenden rechtlichen Steuerung von Bildungsprozessen, sondern sieht Schule als Bestandteil des staatlichen Verwaltungsapparates und funktioniert besonders gut "in stabilen Gesellschaften mit einer relativ einförmigen Bevölkerung, wo relativ ähnliche Normen und Werte, Traditionen und Gewohnheiten bestehen,,46. Es korrespondiert also mit einem einseitigen kommunitaristischen Selbstverständnis von Gesellschaft und ist mit pluriformen Wertorientierungen nicht kompatibel. Das konstitutionelle Modell Richters stimmt unter der uns besonders interessierenden Frage nach den Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des gesamtstaatlichen Zusammenhangs von Bildungssystemen mit dem adminstrativen Modell in einem entscheidenden Punkt, dem Vorrang der staatlichen Schule vor anderen Schulträgern47 , überein. Nichtstaatliche Schulen in privater oder freier Trägerschaft sind danach als Ausdruck partikularer Interessen idealiter diskreditiert und unerwünscht48 . Der wesentliche Unterschied zum adminstrativen Modell liegt hier43 Richter, Ingo, S. 12. 44 Richter, Ingo, S. 5 f. 45 Liket, Theo, Schulaufsicht in zwei europäischen Ländern: Niederlande und Frankreich, Pädagogisches Forum 1993, S. 185 (187). 46 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 188. 47 s. Richter, Ingo, S. 8. 48 Richter, Ingo, S. 6 f. 9 lach
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bei darin, daß es Statusrechte der am Schulleben Beteiligten anerkennt. Nach Richters Kategorien finden wir das konstitutionelle Modell in Deutschland, Österreich und der Schweiz49 • Entscheidend unter dem Gesichtspunkt der Bürgergesellschaft und sich am Beispiel Frankreichs wie Österreichs manifestierend ist dabei die Tatsache, daß sowohl das administrative wie auch das konstitutionelle Modell dazu geführt haben, daß bis heute der Gegensatz von Staat und Kirche weiterhin dominant für die Zweiteilung des Schulwesens geblieben ist. Dem Staat ist es nicht gelungen, die Macht der Kirche im Privatschulsektor zu brechen, aber die starke reglementierende Ausrichtung der Bildungspolitik hat dazu geführt, daß sich weder im staatlichen noch im nichtstaatlichen Bereich säkularisierte Formen vielfältiger Erziehung entwickeln konnten. Die Selbstbestimmung der Bürger im Schul- und Bildungswesen ist in Frankreich als dem in der Verfassungstradition dem Laizismus am stärksten verhafteten Land paradoxerweise um den Preis der Befriedung der Kirchen verhindert bzw. auf den kirchlichen Bereich beschränkt worden. Im Gegensatz zu Frankreich und Österreich sind in der Bundesrepublik Deutschland jedoch die reformpädagogischen Schulen in EItern-Lehrer-Trägerschaft hinsichtlich der Bezuschussung den kirchlichen Schulen weitestgehend gleichgestellt, so daß diesbezüglich Richters Kategorien weitergehender Differenzierung bedürfen. Das contraktistische Modell Richters wird zunächst von einer systemimmanenten Prämisse bestimmt: dem Wahlrecht der Eltern zwischen verschiedenen Optionen (parental choice). Richter unterscheidet das contraktistische Modell in zwei Subsysteme, das Marktmodell und das Korporationsmode1l 5o. Ersteres sieht er durch ein System charakterisert, in dem außerhalb öffentlich-rechtlicher Organisationsformen private Anbieter ihre Dienstleistungen zu ihren Bedingungen anbieten und im freien Spiel von Angebot und Nachfrage über Akzeptanz und Preise entschieden wird 51 • Dagegen ist das Korporationsmodell in eine öffentlich-rechtliche Organisationsform eingebunden, in dem öffentliche Organisationen mit dem Staat oder untereinander verhandeln, unter welchen Bedingungen sie den Bürgern Dienstleistungen anbieten52 . Als solches entspricht das contraktistische Modell am ehesten dem Modell der Bürgergesellschaft im Bildungswesen, in dem weder der Staat vorrangig selbst Träger von Bildungsinstitutionen ist, noch die Verwaltung die Bildungsprozesse und -strukturen inhaltlich determiniert, sondern sich auf eine gesamt-
Richter, so Richter, SI Richter, S2 Richter,
49
Ingo, S. 13. Ingo, S. 9. Ingo, S. 9 f. Ingo, S. 9.
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staatliche Sicherungsfunktion, die die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger und gesellschaftlichen Gruppen achtet, zurückzieht53 • Richters Unterteilung in ein Markt- und ein Korporationsmodell überrascht allerdings, weil sich in den Schulverfassungen Europas ein Marktmodell m.E. nicht ausmachen läßt. Auch private Schulen sind in den Schul verfassungen Europas ungeachtet ihrer privatrechtlichen Trägerschaft als integraler Bestandteil des öffentlichen Schulwesens anerkannt und über das Berechtigungswesen und die gesetzlich normierten Gleichwertigkeitsvoraussetzungen für die Gewährung von Subventionen in dieses eingebunden, so daß es auch bei einer privaten Trägerschaft nicht gerechtfertigt erscheint, diese mit einem Marktmodell gleichzusetzen. Die Differenzierung von Richter ist aber vor allem auch deshalb problematisch, weil sie mit einer nicht bestehenden Dualität, nämlich entweder private oder öffentliche Institution, arbeitet und unterstellt, heide Formen würden in sich geschlossene Modelle darstellen, welche allenfalls Variationen und Mischformen voneinander aufweisen. Dies ist jedoch unzutreffend, weil das Korporationsmodell bzw. - wie in den Ausführungen dieser Arbeit benannt - die bürgerschaftliche Schulverfassung durch eine ihr genuine Mischform bei der Strukturelemente geprägt ist. Danach stehen staatliche und nichtstaatliche Bildungsinstitutionen bewußt gleichberechtigt nebeneinander, wobei die nichtstaatlichen Institutionen sowohl freie als auch kirchliche und kommunale Träger umfassen. Die von Richter als Korporationsmodell bezeichnete Schulverfassung ist also realiter gleichzusetzen mit dem Contraktmodell und umfaßt das gleichberechtigte Nebeneinander der freien, kirchlichen und kommunal-öffentlichen sowie staatlichen Träger, bei dem im Sinne der Bürgergesellschaft die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter Akzeptanz und Achtung des notwendigen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhaltes im Wege der Selbstdefinition ihre Vorstellungen der Tradierung kultureller Werte autonom verwirklichen können. Hierbei entspricht ein solches Modell der Schul verfassung einer Gesellschaftsstruktur "in Ländern mit einer heterogenen Bevölkerung, in denen verschiedene lebensanschauliche Überzeugungen nebeneinander anerkannt sind,,54, und korrespondiert mit den Entwicklungstendenzen moderner demokratischer Gesellschaften im Sinne der Bürgergesellschaft. Die Schulverfassung der Bürgergesellschaft, wie sie im Contraktmodell zum Ausdruck kommt, wird durch eine gleichberechtigte Stellung von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen und zugleich eine starke Autonomisierung der
53 54
Richter, Ingo, S. 3 f. Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (188).
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staatlich-kommunalen Einzelschule bestimmt. Damit wird auch die Perspektive für das Contraktmodell der Zukunft klar: Nicht die Trägerschaft ist entscheidend, sondern die Möglichkeit, daß Bürger - Eltern und Lehrer unter Mitbestimmung der Schüler - im Wege der Selbstdefinition ihre Form der Schule wählen und gestalten, um den gesamtstaatlich vorgegebenen Mindestzielen und -standards zu genügen. Perspektivisch kann dies nur auf die Aufhebung der Trennung von staatlicher und privater Schule hinauslaufen. In diesem Sinne weist Mitter zu Recht darauf hin, daß häufig - absichtlich oder unabsichtlich übersehen werde, daß Autonomie des staatlichen Schulwesens und Privatschulwesen nicht notwendigerweise mit Marktsteuerung kongruieren und Bildung auch oder gerade im Rahmen zivilgesellschaftlicher Autonomie ein öffentliches Gut bleibt55 .
2. Zum Zusammenhang von Unterrichtsfreiheit, Schulaufsicht und Organisationsstruktur Die nachfolgend dargelegten Untersuchungen werden bestätigen, daß zwischen der Organisations struktur eines Bildungswesens und der Art seiner Evaluation und Überwachung enge Systemzusammenhänge bestehen, mit anderen Worten, die Frage, ob ein Bildungssystem zentralistisch strukturiert ist oder nicht, nicht lediglich eine Frage der Verwaltungszusammenfassung oder der Verwaltungsdezentralisierung ist, sondern pädagogische Prozesse entscheidend determiniert. Zentralistische Bildungssysteme gehen nicht nur von der Annahme aus, es gebe prinzipiell einen "besten" Weg der schulischen Sozialisation, sondern sind von einem tiefen Mißtrauen dem pädagogischen Prozeß gegenüber geprägt. Je zentralistischer die Länder, desto größer die präventivlenkende Kontrolle 56 und desto weniger Möglichkeiten der einzelnen Schule zur Herausbildung der eigenen Schulidentität, die wiederum als Voraussetzung für gelungene pädagogische Prozesse gelten muß. Hieraus folgen weitere unabdingbare Strukturelemente für ein plurales Bildungswesen. Die zentralistische Steuerung ist eng verbunden mit der Weisungsabhängigkeit von Lehrern und Schulleitern, die an die allgemeine Verwaltungshierarchie und insbesondere den Beamtenstatus gebunden sind. Im internationalen Vergleich wird deutlich, daß nicht nur die Herauslösung der - sich von der eingreifenden Schulaufsicht zur beratenden Schulbegleitung wandelnden - Schulinspektion aus der allgemeinen Verwaltungshierarchie notwendig ist, um diskursive For5S Mitter, Wolfgang, Staat und Markt im internationalen Bildungswesen aus historisch-vergleichender Sicht - Gegner, Konkurrenten, Partner? In: Bildung zwischen Staat und Markt, Zeitschrift für Pädagogik, 35. Beiheft Weinheim, Basel 1996, S. 125 (138 ff.). S6 SO auch Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 44.
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men der Schulbegleitung zu entwickeln, sondern daß der Beamtenstatus, insbesondere in der Form zentraler Zuteilung an einzelne Schulen und der dienstrechtlichen Beurteilung einzelner Lehrer, mit dem Prinzip der autonomen Schule nicht vereinbar sind. Die Ersetzung der regulierenden und eingreifenden Staatsaufsicht hat jedoch nicht nur mittels diskursiver Beratungstätigkeit und Überwachung der gesetzlichen Rahmenvorgaben zu erfolgen, sondern stellt neue Anforderungen an die Herstellung von "Öffentlichkeit" im Bildungswesen. Schulen müssen sich danach nicht nur ein der Öffentlichkeit zugängliches Schulprogramm geben, sondern es stellt sich die Frage, inwieweit schulische Qualität der Öffentlichkeit vermittelbar sein muß, d. h. inwieweit Berichte der Inspektion der Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Liket weist zu Recht auf die Gefahren einer Vermarktung von Bildung durch Veröffentlichung von Inspektionsberichten wie in England (im Gegensatz zu den Niederlanden) hin, die sich an vermeintlich objektiven Erfolgskriterien im Sinne vordergründiger Leistungserfolge orientiert57 . Interessant sind in diesem Kontext insbesondere Untersuchungen, wonach die höchste Leistungsfarugkeit von Schülern nicht in den zentralistischen Bildungssystemen mit starker staatlicher Steuerung, sondern in Holland und Schweden erreicht werden 58 . Damit korrespondiert im Umkehrschluß, daß ebenso wie in Frankreich in der Bundesrepublik Deutschland als einem auf Länderebene als zentralistisch einzuordnendes Schulsystem "die insgesamt noch immer beträchtlichen Schulversagerquoten (Klassenwiederholung, Schulwechsel, Schulentlassung ohne Abschluß) auf dringenden Förderungsbedarf' verweisen 59 . Strukturell ist dabei zu erkennen, daß Schulen in freier Trägerschaft, sowohl kirchliche als auch nichtkirchliche Träger, dort besondere Bedeutung haben, wo schon traditionell innerhalb eines nationalstaatlichen Gebildes eine besondere kulturelle Heterogenität der verschiedenen Gesellschaftsgruppen herrscht, die dominierende Gruppe oder Gruppen aber nicht darauf aus sind, ihre spezifischen Wertvorstellungen den anderen gesellschaftlichen Gruppen aufzuzwingen. Hierbei ist traditionell die Heterogenität aufgrund tiefliegender religiöser, sprachlicher oder ethnischer Unterschiede begründet6o . 57
Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 117 (266 f.).
Empirische Untersuchungen des Educational Testing Service, unter Bezugnahme auf Liket, zit. nach Hardorp, Detlef, "Entstaatlichung von Schule - Chance oder Risiko für Qualität? - Ein Bericht aus Halle, Erziehungskunst 1996, S. 418 (419 f.). 59 Holtappeis, Heinz GünterlRösner, Ernst, Schulen im Verbund. In: Rolff, HansGünter u. a (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimlMünchen 1994, S.57. 60 s. hierzu Jarnes, Estelle, Public and Private Education in International Perspective. In: Boyd, W.L.lJames, E./Cibulka, G., Private Schools and Public Policy. London 1989, 58
S. 213 ff.
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Diese traditionelle Diversität hat sich in den letzten 15 Jahren radikal dadurch erweitert, daß auch innerhalb bisher relativ homogener gesellschaftlicher Nationalstaaten sich in sprachlicher, religiöser oder ethnischer Hinsicht eine Vielfalt verschiedener Wertvorstellungen entwickelt hat, die zum Kennzeichen gegenwärtiger, postmoderner Gesellschaften im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft geworden ist. 3. Schulverfassung und Berechtigungswesen
Schulverfassungen im Sinne der Bürgergesellschaft scheinen zudem im Berechtigungswesen stärker dereguliert als etatistische Schul verfassungen. Länder, denen gesellschaftliche Selbstbestimmung vor staatliche Regulierung geht, sind auch im staatlichen Schulbereich wesentlich durch Gesamtschulsysteme mit einer Ausweitung der Primarstufe bis in die 6. Klasse und zumindest bis zu dieser Klassenstufe fehlende oder deutlich abgemilderte Selektionsmechanismen wie Abschaffung von Zensurenzeugnissen oder Sitzenbleiben geprägt. Im Vordergrund steht individuelle Förderung bei gleichzeitiger sozialer Gesamtverfassung des Schulverbandes statt leistungsbezogener Selektion. Im Rahmen einer vergleichenden Typisierung der Schulverfassungsstrukturen besteht des weiteren ein auffälliges Korrespondenzverhältnis zwischen der Selektivität des Schulwesens und dem Grad der Zentralisierung. Länder mit einer traditionell dezentralisierten (England, Dänemark, Norwegen) oder zentralbürgerschaftlichen Schulverfassungstradition (Niederlande) sind durch eine integrierte Grundbildung gekennzeichnet, während Länder mit einer traditionell zentralistischen oder etatistischen Schulverfassungstradition (Deutschland, Frankreich, Portugal, nicht jedoch Italien und Spanien) durch ein selektives Schulsystem geprägt sind. Hier zeigt sich die doppelte Moral und Paradoxie etatistischer Schulverfassungen. Diese geben vor, um den Erhalt der Chancengleichheit und zur Vermeidung sozialer Selektion am universalistischen Modell der Einheitsschule festhalten zu wollen, und erreichen, wie sich am Beispiel Frankreichs zeigt und was tendenziell auch auf die Bundesrepublik Deutschland übertragbar ist, durch ein für diese Länder typisches extensives Berechtigungs- und Selektionswesen genau das Gegenteil des Intendierten, nämlich über die frühe leistungsbezogene Selektion eine soziale Selektion. Dies legt die Vermutung nahe, daß Schulverfassungen, in denen die Selbstbestimmung der Bürger einen hohen Stellenwert einnimmt, zugleich stärker kindzentriert sind als etatistische Schul verfassungen. Zugleich liegen verschiedenen Schulverfassungsmodellen unterschiedliche Funktionsbereiche der Schul-
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aufsicht zugrunde61 • Während die administrativ-etatistische Schulverfassung die regulierende, steuernde Funktion der Schulaufsicht betont, geht das bürgerschaftIiche Modell der Schulverfassung von einer begrenzten Mißbrauchskontrollfunktion mit diskursiver Beratungsfunktion aus. Am weitesten scheinen in dieser Beziehung die skandinavischen Länder wie Dänemark und Norwegen zu gehen, wo entweder Abschlußprüfungen freiwillig sind wie in Dänemark oder auch Abschlüsse, die auf einer besonderen pädagogischen Prägung einer Schule beruhen - wie der Abschluß an den Waldorfschulen -, als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt werden.
61
s. a. Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (188).
D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa I. Bürgerscbaftlicb-sozialstaatlicbe Scbulverfassungen 1. Das plurale Bildungswesen der Niederlande a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens Unterrichtsfreiheit und horizontales Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der Verfassung von 1917
Die historische Entwicklung des Bildungswesens in den Niederlanden ist gekennzeichnet durch einen Wandel der Schulverfassung von einer zentralistischen, staatlich-säkularisierten Schulerziehung napoleonischer Prägung zu Beginn des 19. Jahrhunderts) hin zu einem hochentwickelten pluralistisch ausgerichteten Schulwesen auf der Basis einer starken Stellung der Schulen in freier Trägerschaft und der kirchlichen Schulen 2. Nachdem zunächst im 18. Jahrhundert die Vormachtstellung der Kirche im Bereich des Schulwesens zurückgedrängt wurde und die Verfassung von 1798 die Bildung in die Verantwortung des Staates legte und zeitweise sogar zu einem Verbot privater, d. h., kirchlicher Schulen führte, konstituierte die bürgerlich-liberale Verfassung von 1848 das klassische Grundrecht der Unterrichtsfreiheit, demzufolge jedermann ohne eine staatliche Genehmigung Unterricht erteilen darf. Allerdings behielt sich der Staat Kontrollrechte hinsichtlich der Unterrichtsqualität vor und verbürgte keinen Anspruch auf staatliche Finanzierung der Privatschulen. Die Schulverfassungsfrage führte zu heftigen Kontroversen zwischen der kirchlichen Fraktion von Katholiken und Calvinisten auf der einen und zunächst den Liberalen und später auch den Sozialisten auf der anderen Seite und endete schließlich in dem in Art. 208 der Verfassung von 1917 niedergelegten Ergeb-
) Liket, Theo, Autonome Schule und Qualitätskontrolle in den Niederlanden, RdJB 1993, S. 335 (337). 2 s. hierzu farnes, Estelle, The Netherlands: Benefits and costs of privatized public services - lessons from the Dutch educational system. In: Walford, Geoffrey, Private schools in ten countries - policy and practice. LondonlNew York 1989, S. 179; Liket, Theo, Schulaufsicht in zwei europäischen Ländern: Niederlande und Frankreich, Pädagogisches Forum 1993, S. 185.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
nis des sog. Schulkampfes3 , in dem letztendlich die christlichen Parteien die Oberhand behielten. Dieser Schulartikel beinhaltete die ausdrückliche Anerkennung des Rechts der Eltern auf einen Unterricht für ihre Kinder, der mit ihren Grundüberzeugungen übereinstimmt, und die völlige materielle Gleichbehandlung im Grundschulbereich von staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft. Seit 1917 stehen demnach in den Niederlanden die "öffentliche" Schule mit "Achtung vor jedermanns religiöser Überzeugung" und "private" Schulen mit eigener weltanschaulicher und religiöser Ausrichtung gleichberechtigt nebeneinander. Für diese materielle Gleichstellung und die Gründungsfreiheit für kirchliche Schulen sicherte sich der Staat jedoch ein umfassendes Aufsichtsrecht über alle Schulen, das durch eine staatlich organisierte Schulinspektion ausgeübt wurde4 • Diese Grundentscheidung der Verfassung wurde im Jahre 1920 durch das Unterrichtsgesetz implementiert und ermöglichte es Eltern, die sich zur Gründung einer Schule auf einer gemeinsamen pädagogischen oder weltanschaulichreligiösen Basis zusammenschlossen, ihr Anliegen mit einem Minimum an organisatorischen und politischen Fähigkeiten5 zu realisieren. Das Unterrichts gesetz von 1920 legte insoweit den Grundstein für die vollständige staatliche Finanzierung der privaten Schulen in den Niederlanden, wonach der Staat die Lehrergehälter direkt zahlt und die Stadtgemeinde die Kosten des Schulgebäudes und anderer Investitionen trägt6 . Mit dieser materiellen Gleichstellung beider Schulträgerformen wandelte sich das Verhältnis von privaten und öffentlichen Schulen in den Niederlanden grundlegend. Während im Jahre 1910 im Primarbereich der Anteil der öffentlichen Schulen noch 68 % und der Anteil der privaten Schulen lediglich 32 % betragen hatte, drehte sich dieses Verhältnis schon 1930 exakt um 7 . Inzwischen liegt der Prozentsatz nichtstaatlicher Schulen in
3 s. hierzu Brinkmann, Günter, Niederlande. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 4. Aufl. WeinheimIBasel 1996, S. 125; Brinkmann, Günter/de Rijcke, Ferry, Bildungswesen im Spannungsfeld von Demokratisierung und Privatisierung: das Beispiel Niederlande, TC 1996, S. 40 ff.; James, Estelle, S. 179 f.; Jeukens, HJ.M./Simons, D./de Jong, H.G., Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich in den Niederlanden, EuGRZ 1981, S.667; Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185; Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 371 f. 4 s. hierzu Brinkmann, Günterlde Rijcke, Ferry, S. 41 ff.; Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, Schulleiter-Handbuch. Braunschweig 1993, S. 61 (62). 5 James, Estelle, S. 182. 6 James, Estelle, S. 182 (184). 7 James, Estelle, S. 183.
I. Bürgerschaftlich-sozialstaatliche Schulverfassungen: Niederlande
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den Niederlanden bei ca. 70 %, wobei im Primarbereich der Anteil bei ca. 69 % und im Sekundarbereich bei ca. 73,5 % liegt8 • b) Die Gewährung von Unterrichts/reiheit und Schulautonomie als Voraussetzung von Schulvielfalt Diese historisch im europäischen Kontext weit zurückliegende Verankerung der Unterrichtsfreiheit hat schon zu Beginn dieses Jahrhunderts dazu geführt, daß sich neben den kirchlichen Schulen verschiedene "alternative" nichtstaatliche Schulformen entwickeln konnten, die der Reformpädagogik zuzuordnen sind. So wurden schon 1919 die erste Montessori-Volksschule, 1923 die erste Waldorfschule, 1925 mehrere Daltonplan-Schulen und 1930 das erste Montessori-Gymnasium gegründet, die sich bis heute in großem Maße verbreitert haben. Zudem ist nach dem Zweiten Weltkrieg das Reformmodell der Jenaplanschule nach Peter Petersen in großer Zahl rezipiert worden, von denen es heute ca. 250 Basisschulen und 2 Sekundarschulen gibt9 • Im Zuge der Pluralisierung multikultureller Lebenszusammenhänge sind darüber hinaus zu Beginn der 90er Jahre islamische und hinduistische Schulen entstanden lO • Im Jahre 1996 bestanden so neben den über 250 Jenaplanschulen nach einer Untersuchung von Skiera in den Niederlanden 160 Montessorischulen, davon 13 Sekundarschulen, 100 Daltonschulen, davon 10 Sekundarschulen, 80 Waldorfschulen (Vrije School), 10 Freinetschulen und ca. 25 weitere explizit reformpädagogische Schulen eigener Prägung!!. Insgesamt ist dabei ein Ansteigen der reformpädagogischen Schulen von etwa 200 im Jahre 1975 auf etwa 600 im Jahre 1996 festzustellen, d. h., wie in den anderen europäischen Ländern eine erhebliche Zunahme der Schulen in Elternträgerschaft 12 • In der vergleichenden Bildungsforschung ist allgemein anerkannt, daß die Niederlande ein Beispiel der Wechselwirkung von staatlich normativen Rahmenbedingungen und Schul vielfalt dergestalt sind, daß die "Freiheit des Unter8 Weiß, ManfrediSteinert, Markt und Privatisierung im Bildungsbereich: Internationale Tendenzen, TC 1996, S. I (4); s. a. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen von Primar- und Sekundarschulen in den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Brüsse11992, S. 31. 9 Zeiten- und Zahlenangaben nach Rang, Adalbert, Reformpädagogik in den Niederlanden. In: Pehnke, Andreas (Hrsg.), Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe. NeuwiedlKrifteVBerlin 1992, S. 34 (36 f.), und Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 366. 10 Hopes, Clive (Ed.), School Inspectorates in the Member States of the European Community, - The Netherlands, 8 Bd. FrankfurtlM. 1991, S.4; Vaessen, Ad. J. M., Entwicklungen im Schulmanagement der Niederlande, Pädagogisches Forum 1994,
S.203. 11 Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 366 f. 12 Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 375.
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richts" Rechtsgrundlage der bestehenden Schulvielfalt ist J3 • So wäre die Entwicklung zur jetzt bestehenden pädagogischen Vielfalt im Schulwesen ohne das im niederländischen Grundgesetz verankerte Prinzip der Schulfreiheit nicht möglich gewesen und ist die schulische Vielfalt in hohem Maße Ausdruck einer kulturellen Vielfalt l4 • Dabei ist nicht zu verkennen, daß das niederländische Schulwesen in seiner historischen Entwicklung durchaus ambivalente Charakteristika aufweist. Zum einen ist zwar das Bildungswesen wie auch die Gesellschaft insgesamt 15 von einer weitreichenden Toleranz gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen geprägt, zum anderen ist aber auch nicht zu verkennen, daß eine "Versäulung" der holländischen Gesellschaft bis in die 70er Jahre zu einem relativ abgeschlossenen Nebeneinander der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen schon in der Schule geführt hat l6 . Gleichwohl scheint es, daß in den Niederlanden in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend pädagogische Kriterien weltanschauliche Verkrustungen aufgebrochen haben, so daß gegenwärtig primär pädagogische und nicht religiös-weltanschauliche Kriterien für die Wahl der Schule ausschlaggebend sind 17 und die strukturelle "Versäulung" des niederländischen Bildungssystems die pädagogische Autonomie des Lehrers und die pädagogische Qualität der einzelnen Schule nicht angetastet hat lS , sondern vielmehr zu einer Vielfältigkeit verschiedenster Schulkonzeptionen geführt hat, die als einzigartig angesehen wird l9 . Hierbei zeigt sich, daß auch die Wahl einer religiösen Schule nicht unbedingt mit dem Wunsch nach religiöser Trennung zusammenhängt, sondern die Kinder auf diese Schulen geschickt werden, weil diese den Ruf haben, persönlicher, flexibler und weniger bürokratisch zu sein und mehr als staatliche Schulen auf die Wünsche der Eltern einzugehen20 • 13 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 126; Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 372. 14 Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 365. 15 Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen der Niederlande - Geschichte, Struktur und Reform. Gießen 1996, S. 117. 16 James, Estelle, S. 196. Man spricht im allgemeinen von drei Säulen: der katholischen, der evangelischen und der weltlichen Gruppe. 17 Vgl. Brinkmann, Günterlde Rijcke, Ferry, S. 42; Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 29. 18 Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 15. 19 Blaauwendraat, E., Das plurale System der Lehrerbildungseinrichtungen der Niederlande und die wechselseitige staatliche Anerkennung der Abschlüsse, Vortragsmanuskript des 6. Kolloquiums Schule und Staat des Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen, v. 7.-11.5.1992 in Poljce, Slowenien, geht davon aus, daß wahrscheinlich in keinem anderen Land der Welt eine dem niederländischen Bildungswesen vergleichbare Vielfältigkeit im Unterricht anzutreffen ist. 20 James, Estelle, S. 196.
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Insofern besteht die sog. Versäulung der niederländischen Gesellschaft im Bildungswesen nicht lediglich in der Dreiteilung staatlich-kommunal - katholisch - evangelisch, sondern daneben steht als vierte Gruppe die des "besonderen neutralen Unterrichts". Dabei handelt es sich um jene Schulen in freier Trägerschaft, die von Bürgern gegründet wurden und sich als Schulträger zusammengeschlossen haben, um eine bestimmte Pädagogik zu verwirklichen, wie die Jenaplanschulen, Montessorischulen, die Waldorfschulen und die freien Alternativschulen 21 • Für das niederländische Bildungswesen ist im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern bezeichnend, daß diese Schulen, zu denen auch die sonstigen Schulen der Reformpädagogik zu rechnen sind, ungeachtet ihrer Trägerschaft "was ihre Philosophie betrifft, am besten mit öffentlichen Schulen verglichen werden" können 22• Dies ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Bewußtseins über die Bedeutung des Prinzips der sich selbstgestaltenden Bürgergesellschaft im Sinne einer die Gesamtinteressen integrierenden Konzeption der Unterrichtsfreiheit. Die reformpädagogischen Schulen machen von der Trägerschaft her insgesamt ca. 5 % der Schulen in den Niederlanden aus, wobei aber stets zu vergegenwärtigen ist, daß darüber hinaus auch in staatlichkommunalen Schulen z. B. Montessori-, Daltonplan- oder die in den Niederlanden sehr populäre Jenaplanpädagogik verwirklicht wird23 . Darüber hinaus sind in den letzten Jahren etliche islamische und hinduistische Schulen zu den traditionellen kirchlichen Schulen hinzugekommen. Das Merkmal der Schulvielfalt bezieht sich insofern in den Niederlanden auf zwei Komplexe. Zum einen auf die weltanschaulich-religiöse Grundrichtung der Schulen, zum anderen auf Schulen mit spezifisch pädagogisch-didaktischer Unterrichtskonzeption unabhängig von weltanschaulich-religiösen Grundüberzeugungen. So gibt es in religiöser Hinsicht gleichberechtigt nebeneinander die neutralen staatlichen Schulen sowie private katholische, protestantische (von "progressiv" bis orthodox calvinistisch), islamische (von modem bis fundamentalistisch), jüdische (von liberal bis orthodox), hinduistische Schulen bis hin zu einer Jogaschule. Daneben findet sich die besondere pädagogische Konzeption - etwa der Jenplanschulen - sowohl im öffentlich-staatlichen Unterricht als auch in katholischen und protestantischen Schulen24 . Die schulische Vielfalt besteht demnach ungeachtet der Dominanz der katholischen und evangelischen Schulen dem Grunde nach auch im religiösen und weltanschaulichen Bereich.
21 s. Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (186); ders., Freiheit und Verantwortung: Das niederländische Modell des Bildungswesens. Gütersloh 1993, S. 28. 22 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (186). 23 Bühler, Angelika/Fuchs, Jochen, Bildungswesen in der Europäischen Union: Holland, DLZ 32/33 1995, S. 6. 24 Blaauwendraat, E., Vortragsmanuskript, S. 4.
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So gibt es in den Niederlanden Hindu- und Moslemschulen ebenso wie Schulen für transzendentale Meditation oder Platonschulen25 • Die Niederlande sind unzweifelhaft in Europa das Land, in dem die größte Vielfalt im Bildungswesen herrscht26 . Bildungspolitisch widerlegen die Niederlande darüber hinaus, daß eine starke Stellung der Schulen in freier Trägerschaft zu einer verstärkten gesellschaftlichen Sonderung und Selektion führt. Die Untersuchung von James über das niederländische Privatschulwesen kommt insofern zu dem Schluß, daß zwar kulturell eine gewisse Versäulung durch die exponierte Stellung der katholischen Schulen gegeben sei, das Privatschulwesen innerhalb des niederländische Bildungswesen jedoch nicht zu einer Klassen- oder Standesschule geführt habe 27 • Diese Ansicht wird auch von niederländischen Bildungsforschern geteilt28 • Zudem ist allgemein anerkannt, daß die niederländischen Schulen in freier Trägerschaft mehr multikulturelle Erziehung leisten als die staatlichen Schulen29 • Kennzeichnend für das niederländische Bildungswesen ist jedoch nicht eine umfassend individuelle Bildungsfreiheit, die über das subjektive Recht gewährleistet ist, sondern eine zunächst weltanschaulich-religiös konzipierte Pluralität, wonach verschiedenen gesellschaftlich anerkannten Wertorientierungen quasi gesellschaftsvertraglich ein Selbstverwirklichungsrecht zugestanden wurde. Dieses war aber bisher gleichzeitig ein Exklusivrecht dergestalt, daß eine besondere Richtung des Unterrichts vorliegen mußte, um staatlich anerkannt und finanziert zu werden. Während dies zunächst nur den konfessionellen Schulen zu Gute kam, weitete sich dieser Grundsatz später auch auf Schulen besonderer pädagogischer Prägung als einer "besonderen" Richtung aus. Gleichwohl behielt sich der Staat aber immer einen Beurteilungsspielraum für die Anerkennung solcher Schulen offen. So wurden den Freien Waldorfschulen Zuschüsse für die Unterstufe seit 1948, für die Oberstufe jedoch erst ab 1970 gewährt. Mit der zunehmenden multikulturellen Entwicklung der niederländischen Gesellschaft, geprägt durch die starke Zunahme allochthoner Bevölkerungsgruppen, verstärkt sich auch in den Niederlanden das Problem der Definition der "besonderen Richtung". Aus Anlaß der Klärung dieser Frage in einem Genehmigungsverfahren für eine islamische und eine hinduistische Schule, die in ihrem Konzept von den bestehenden 29 islamischen und drei hinduistischen Basisschulen abweichen, stellte sich dem Bildungsministerium die Frage der 25 Benstz, Ulrich, Internationales Symposium "Recht und Bildung", RdJB 1993, S. 288 (298). 26 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 125 (126). 27 farnes, Estelle, S. 194 (196). 28 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185. 29 Benstz, Ulrich, S. 288 (298).
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Anerkennung einer "besonderen Richtung". Zur Klärung dieser Frage hat der niederländische Bildungsrat (Onderwijsraad) im Januar 1996 ein Gutachten vorgelegt, welches den Vorschlag einer Vereinfachung der Zulassung und Genehmigung von Schulen in freier Trägerschaft beinhaltete. Danach sollen Schulen nicht mehr den Nachweis einer "besonderen Richtung" erbringen müssen, sondern Neugründungen seien allein bei Nachweis eines entsprechenden Bedarfs in der Bevölkerung zu genehmigen, da es nicht Aufgabe der Schulverwaltung sei, über das Genehmigungsverfahren die inhaltliche Ausformung der Pluralität des Bildungswesens zu steuem30. Hierin drückt sich die zunehmende Pluralisierung auch der niederländischen Gesellschaft aus, als nämlich neben die klassischen Richtungen islamische, hinduistische u. a. hinzugetreten sind und sich die Frage stellt, ob das Anerkennen einer "besonderen Richtung" als Zulassungsvoraussetzung den gesellschaftlichen Erfordernissen noch gerecht wird, da nur Schulen mit einer anerkannten Richtung die Privilegien staatlicher Zuschüsse bis hin zur Erstattung der Fahrtkosten für Schüler erhalten. Ungeachtet solcher Probleme sind die Schulverfassungsstrukturen in den Niederlanden positiv zu bewerten, welches vor allem in dem freiheitlichen Selbstverständnis der niederländischen Schulverfassungstradition begründet ise 1• Danach ist das Grundrecht der Unterrichtsfreiheit darauf gerichtet, ein großes Maß an Schulvielfalt zu gewährleisten und hierfür die notwendigen Voraussetzungen zu sichern32 . Rechtlich ist insoweit in Abweichung von bundesdeutschem Verfassungsrecht allerdings zu bedenken, daß "nach niederländischem Verfassungsrecht das Argument der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen nicht bei Gericht vorgebracht werden kann,,33 und nicht die Verfassung, sondern allein die Unterrichtsgesetze, die die Bestimmungen des Art. 208 der
30 s. hierzu Brüll, Ramon, Niederlande: Bildungsrat empfiehlt vereinfachte Grundvoraussetzungen für Schulneugründungen, Vortragsmanuskript eines gleichlautenden Vortrages, gehalten am 24.11.1996 in Bochum auf dem Kolloquium des FJFIFIE; Leue, J.M.G., The meaning of govemment legislation and funding for primary and secondary schools with a religious character in the Netherlands, Vortrags manuskript, gehalten auf dem Colloquium "The ambigiuos embrace of govemment, Erasmus Universität Rotterdam, 22.-24.11.1996. 31 s. hierzu Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht und am Beispiel der Situation in England, den Niederlanden und der UdSSR. In: Füssel, HansPeter/Leschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 84: ,,Eine ins Detail gehende juristische Beschreibung der niederländischen Schulverfassung hätte unbedingt die dahinterstehende Mentalität einzubeziehen". 32 Akkermanns, P.W.C., Onderwijs als constitutioneel Probleem. Alphen aan den Rijn
1980, S. 110. 33 leukens, HJ.M./Simons, D./de long, H.G., S. 668.
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niederländischen Verfassung ausfüllen und näher regeln, subjektive Ansprüche auf staatliche Leistungen begründen können34 . Das niederländische Schulwesen gilt in der europäischen Diskussion über eine neue Organisations entwicklung des staatlichen Schulwesens allgemein als Vorbild, wobei allerdings in der bundesdeutschen Rezeption durch die Vertreter einer etatistischen Schulverfassungstheorie von Schulautonomie bzw. Selbstgestaltung von Schule die Besonderheit der Grundstruktur des niederländischen Bildungswesens bewußt ausgeklammert wird: daß nämlich die allgemein als vorbildlich angesehene Autonomie der Schule in den Niederlanden auf dem Prinzip der Unterrichtsfreiheit basiert und es sich bei der "autonomen" Schule in den Niederlande im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland eben nicht um eine nichtrechtsfahige Anstalt des öffentlichen Rechts, sondern in der Regel um eine Schule in freier Trägerschaft handelt. Es ist schon erstaunlich, wie dieser wesentliche Aspekt ausgeklammert wird, wenn z. B. wie durch die Länder Niedersachsen, Bremen und Hamburg oder die nordrhein-westfälische Bildungskommission das niederländische Modell als vorbildlich rezipiert wird. Andererseits sind die Niederlande kein unbeschränktes Mekka der Unterrichtsfreiheit, sondern sie wird auch in den Niederlanden durch die Diskussion um die Einheitlichkeit und Effektivierung des Bildungswesens determiniert. So ist der Grundsatz der Unterrichtsfreiheit im wesentlichen als ein Prinzip der weltanschaulichen und methodischen Richtungsfreiheit, nicht des Curriculum zu verstehen. Insofern ist für das niederländische Bildungswesen trotz seiner bestehenden Vielfalt verschiedener Schulrichtungen charakteristisch, "daß die dezentrale Verwaltung der Schulen und das Prinzip der Vielfalt an die eindeutig zentralistische Bildungspolitik des niederländischen Parlaments und des Unterrichtsministeriums gekoppelt sind,,35. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Schulvielfalt, Schulselbstverwaltung und zentraler Steuerung ist seit Mitte der 80er Jahre zwar auf eine Stärkung der Autonomie der Einzelschule gerichtet, doch ist dies keineswegs ein geradliniger Prozeß der pädagogischen Deregulierung. Des weiteren wird mit den in den Niederlanden eingeführten neuen Managementstrukturen nicht nur die Stärkung der Autonomie der Einzelschule angestrebt, sondern die Regierung unterstützt insbesondere Zusammenlegungen kleiner Schulen zu großen Schuleinheiten, um über den Betriebsgrößenvorteil Kosten zu sparen 36 , obgleich die pädagogische Diskussion dieser Tendenz zuwiderläuft. So ist auch das Bild des traditionellen Schulleiters als primus inter pares dem Schulleitungsmanagement gewichen, mit der Folge, daß der Schulleiter zumindest an größeren Schulen nicht mehr unterrichtet, sondern nur noch Manaleukens, HJ.M./Simons, D./de long, H.G., S. 669. Brinkmann, Günter/de Rijcke, Ferry, S. 43. 36 Vaessen, Ad. J. M., S. 203 (206). 34 3S
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gementfunktionen wahrnimme 7 • Bei alledem ist zu bedenken, daß ungeachtet der Freiheit der Einzelschule der Staat keinesfalls die Qualitätskontrolle über das Bildungswesen verlieren möchte und die Freiheit der Unterrichtsgestaltung durch ein teilzentralistisches (50 %) Prüfungswesen kompensiert. Ferner wird gegenwärtig versucht, auf curricularem Wege eine Vereinheitlichung des Sekundarschulwesens hinsichtlich einer verbindlichen Basisbildung zu erreichen38 • Die umfassende Gleichstellung von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen kommt normativ darin zum Ausdruck, daß alle Gesetze, Dekrete und Verordnungen, die von den zentralen Organen erlassen werden, für das öffentliche wie das private Schulwesen gleichermaßen bindend sind, so daß es einer Sondergesetzgebung im Sinne besonderer Privatschulgesetze wie in der Bundesrepublik Deutschland nicht bedarf. Gleichwohl müssen aber private Schulen spezielle Bedingungen erfüllen, um staatliche Zuschüsse zu erhalten. Dementsprechend sind auch die überwiegende Zahl der Lehrer keine Beamten und werden noch nicht einmal dem öffentlichen Dienst zugerechnet, weil Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen privatrechtlicher Vereinigungen oder Stiftungen, also die sog. privaten Unterrichtsanstalten, nicht dem öffentlichen Dienst zugehörig angesehen werden. Obgleich damit scheinbar Vertragsfreiheit hinsichtlich der Beschäftigungsmodalitäten an der einzelnen Schule herrscht, ist diese jedoch eingeschränkt, weil über die Zuschüsse eine weitgehende Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Regelungen für vergleichbares Personal an öffentlich-rechtlichen Unterrichtsanstalten festgelegt wird 39 . c) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen der Unterrichtsfreiheit (1) Gründungsfreiheit
Nach Art.23 Abs.2 der niederländischen Verfassung (NL-Verf.) vom 29.10.1987 besteht unter dem Vorbehalt der behördlichen Aufsicht und der gesetzlich bestimmten Unterrichts arten Unterrichtsfreiheit. Das heißt, Schulen in freier Trägerschaft können unbeschadet der staatlichen Aufsicht und der Prüfung der fachlichen und sittlichen Eignung der Lehrkräfte grundsätzlich ohne behördliche Genehmigung gegründet werden, entscheiden frei über ihre religiöse oder weltanschauliche Orientierung und sind im Prinzip in der Gestaltung ih-
37
Vgl. Fuchs, Jochen, Das Bildungswesen in den Niederlanden, Schulmanagement
1992, S. 38 (39); Vaessen, Ad. J. M., S. 203 (206). 38 Brinknumn, Günter/de Rijcke, Ferry, S. 43. 39 Jeukens, H.I.M., Landesbericht Niederlande. In: Kaiser/Mayer/Ule, Recht und
System des öffentlichen Dienstes in den Ländern Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Niederlande. Baden-Baden 1973, S. 281 (283). Nach der damaligen Gesetzeslage wurde das Allgemeine Pensionsgesetz für öffentliche Bedienstete gar unmittelbar auch auf privatrechtliche Schulträger angewandt. 10 Jach
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res Unterrichts frei 4o• wobei die von den Privatschulen ausgestellten Zeugnisse denen der anderen öffentlichen Schulen gleichwertig sind41 • Diese Freiheit des Unterrichts ist jedoch nicht im Sinne eines umfassenden individuellen Freiheitsrechts der Eltern zu verstehen. sondern ist im wesentlichen eine institutionalisierte Freiheitsgarantie. Diese beinhaltet. daß der Staat sehr wohl im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens "die besondere Richtung" des Unterrichts anerkennen muß. damit die Schule Zuschüsse gewährt bekommt. Art. 23 der niederländischen Verfassung garantiert danach nicht das Recht der Eltern. aus freiem Entschluß bei entsprechendem Bedarf eine Schule in Elternträgerschaft zu gründen. sondern die Schule muß eine besondere weltanschauliche. religiöse oder pädagogische Richtung aufweisen. Hierin liegt bezogen auf das Elternrecht eine restriktive Interpretation des Art. 23 NL-Verf.• die gegenwärtig Gegenstand einer kontroversen verfassungsrechtlichen Diskussion darüber. inwieweit die GTÜndungsfreiheit des Art. 23 NL-Verf. auch Rechte der Eltern begründet. ist. Insgesamt steht die niederländische Verfassung unter einem weitreichenden Gesetzesvorbehalt. der durch die allgemeinen Formulierungen des Verfassungstextes für die Ausgestaltung des Grundrechts der Bildungsfreiheit von erheblicher Bedeutung ist. so daß die Substanz und Reichweite dieses Grundrechts wesentlich durch das einfache Gesetz bestimmt werden und damit natürlich in gewissem Rahmen disponibel und vom Willen des Gesetzgebers abhängig sind. So hat der Gesetzgeber weitreichende Steuerungsmöglichkeiten insbesondere durch die Festlegung der Unterrichtsstandards und der notwendigen Qualität des Unterrichts sowie der Aufsicht über die Schulen. Die Freiheit des Unterrichts äußert sich in den Niederlanden durch die drei Kategorien: "Freiheit der Stiftung". "Freiheit der Richtung" und "Freiheit der Einrichtung". Hierbei besteht die Freiheit der Stiftung darin. daß bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Schule. d. h .• Schulbau. Bezahlung der Lehrkräfte und Unterhaltung der Schule. vollständig aus öffentlichen Mitteln. und zwar nach dem gleichen Maßstab wie die im allgemeinen von den Gemeinden unterhaltenen "öffentlichen" Schulen. finanziert werden42 • Freiheit der Richtung bezieht sich auf die pädagogische. religiöse und weltanschauliche Grundorientierung. die der Schul vorstand selbst festlegen kann. Freiheit der Einrichtung meint schließlich das Recht der Schul vorstände. autonom über die 40 Vgl. hierzu leukens, H.J.M.lSimons, D.lde long, H.G., S.669; Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 22 D. Freiheit des Unterrichts. S. 1. 41 Eurydice (Hrsg.). Der Aufbau des Bildungswesens in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Briisse11986. S. 135; Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 22 D. Freiheit des Unterrichts. S. 3. 42 Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande. S. 372.
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Wahl der Lehnnittel und Anstellung der Lehrkräfte zu entscheiden und die methodischen und organisatorischen Grundentscheidungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben selbst zu treffen43 • Die Verbürgung der Unterrichtsfreiheit findet einfachgesetzlich seine Grundlage zunächst in Art 11 i.V.m. Art. 3 WBO (Basisschulgesetz, d. h., Klassen 1-8). Nach Art. 3 WBO setzt die Veranstaltung von Schulunterricht personell in der Person des Lehrers lediglich eine Erklärung der Geeignetheit (Benehmen) gemäß dem Gesetz Wet op de justiele documentatie (STh 1955, 395 - Nr. 1) und einen Befähigungsnachweis gern. Art. 116 WBO (Nr.2) sowie die Tatsache, daß der Unterrichtende nicht kraft richterlicher Entscheidung vom Unterrichten ausgeschlossen ist (Nr. 3), voraus. Allerdings hängt die Errichtung einer subventionierten Schule von der Erreichung einer bestimmten Schülerzahl ab, wobei die normativ festgelegten Voraussetzungen für nichtstaatliche Schulen niedriger als die für staatliche liegen können, sofern die entsprechende Gemeinde die Errichtung als notwendig erachtet, um einen entsprechenden Bedarf zu decken44 , nach der sog. ,,200er-Regelung". So ist durch ein Gesetz zur Finanzierung der Primarschulen im Jahre 1992 eine Beschränkung der Bildungsfreiheit rechtlich verankert worden, als nämlich nur solche Schulen in freier Trägerschaft finanziert werden, die bestimmten Anforderungen, z. B. einer Mindestschülerzahl von 200, entsprechen. Dies ist deshalb problematisch, weil damit die alte Regelung, wonach in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern die Mindestzahl 125 Schüler und in kleinen Orten 50 Schüler betrug45 , erheblich erhöht wurde und für die Schul vielfalt in den Niederlanden traditionell gerade eine Vielzahl kleiner Schulen typisch ist46 • (2) Die Bezuschussung staatlich-kommunaler Schulen und von Schulen in freier Trägerschaft Nach Art. 23 Abs.7 der niederländischen Verfassung wird der private allgemeinbildende Grundschulunterricht, der die durch Gesetz festzulegenden Bedingungen erfüllt, nach demselben Maßstab aus öffentlichen Mitteln finanziert wie der öffentliche Unterricht. Damit sind die Schulen in freier Trägerschaft im Grundschulbereich den staatlichen Schulen verfassungsrechtlich finanziell gleichgestellt, sofern sie einen "entsprechenden" Unterricht, welcher in deutschen Verfassungskategorien an den Begriff der "Gleichwertigkeit", nicht Hierzu Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 373. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status des privaten Bildungswesens in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Brüssel 1992, S. 70. 45 Regierungsinformationsamt der Niederlande, Die Niederlande in der Gegenwart, Teil 4 Bildungswesen, 1959, S. 4. 46 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 125 (128). 43
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der "Gleichartigkeit" anknüpft, anbieten. Hierbei unterliegen gern. Art. 23 Abs.5 NL-Verf. die Anforderungen, die an die Qualität des Unterrichts zu stellen sind, wenn dieser ganz oder teilweise aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. einem Regelungsvorbehalt des Gesetzgebers, der aber gehalten ist, bei der Ausgestaltung dieser Anforderungen die Freiheit der religiösen und weltanschaulichen Ausrichtung der Schule zu gewährleisten. Diese allgemeinen Bedingungen betreffen Regelungen über die Zulassung von Schülern, den gemeinnützigen Status der Schule, die Mitgliedschaft des Schulverwaltungsrates in der Berufungskommission der Schule, aber auch inhaltliche Anforderungen hinsichtlich der Qualifikation der Lehrer, der einzuhaltenden Pflichtfächer und der Anforderungen an AbschlußpTÜfungen 47 • Nach Abs. 6 der Vorschrift muß bei der Sicherung der gleichen Qualität von privatem und öffentlichem Unterricht insbesondere die Freiheit des privaten Unterrichts bei der Wahl der Lehrmittel und der Anstellung der Lehrkräfte gewährleistet sein. Die finanzielle Gleichstellung von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen betrifft sowohl die Primar- als auch die Sekundarbildung, setzt aber voraus, daß bestimmte gesetzliche Bedingungen oder Verwaltungsvorschriften vom Schulträger erfüllt werden. Eine verfassungsrechtlich verbürgte Gleichstellung der Sekundarschulen besteht hierbei nicht, unterliegt also einem einfachgesetzlichen Regelungsvorbehalt. Die Höhe der gewährten Zuschüsse richtet sich nach den Vorgaben des staatlich-kommunalen Schulwesens, d. h., die Kosten für die Gebäude, die Ausstattung, das Personal und die sonstigen Betriebskosten werden nach den Kosten des entsprechenden staatlichen Typs berechnet, wobei die Gehälter der Lehrer und das technische Personal vom Staat an den jeweiligen Schulträger überwiesen werden und die Rechtsstellung der Lehrer durch den entsprechenden Erlaß für Lehrer an staatlichen Schulen festgelegt wird48 • Der staatlichen Bezuschussung unterliegen dabei über die Gemeinden auch die Bau- und Instandsetzungskosten der Schule sowie die Verwaltungskosten49 . Die Bezahlung der Lehrer erfolgt unabhängig vom Status der Schule direkt vom Staat50 . Diese Bezuschussung in Form von Pauschalbeträgen, die sich am Unterricht staatlicher Schulen orientiert, obgleich diese eine Minderheit darstellen, hat zur Folge, daß die meisten Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung für abweichende Unterrichtsteile von den Eltern freiwillige Beiträge erbitten, ohne daß eine rechtlich verbindliche Verpflichtung der Eltern, diese zu leisten, besteht. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 70. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 70 f. 49 Bühler, Angelika/Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 6. 50 Bühler, Angelika/Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 6. 47
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Entsprechend den allgemeinen Autonomietendenzen in den Niederlanden genießen die Schulen in freier Trägerschaft heute einen relativ weiten Spielraum. Allerdings wäre es ein Fehlschluß anzunehmen, der "private" Unterricht sei in den Niederlanden hinsichtlich der Finanzierungsvoraussetzungen keinerlei Restriktionen ausgesetzt. Diese bestehen zumindest partiell auch dort und ergeben sich rechtlich aus der Auslegung der Abs. 5-7 des Art. 23 NL-Verf. und dem dort normierten Finanzierungsvorbehalt, daß die vom Gesetz festzulegende Qualität des ganz oder teilweise aus öffentlichen Mitteln finanzierten allgemeinbildenden Grundschulunterrichts gewährleistet ist. Obgleich die Verfassung insoweit nur die finanzielle Gleichstellung des staatlichen und privaten Elementarunterrichts bis zum 6. Schuljahr vorschreibt und gern. Art. 23 Abs. 7 Satz. 2 NL-Verf. es dem Gesetzgeber überläßt, unter welchen Bedingungen der allgemeinbildende Sekundarunterricht an Schulen in freier Trägerschaft subventioniert wird, besteht diese materielle Gleichstellung für alle Schulstufen des niederländischen Schulwesens51 • Somit gelten in den Niederlanden für die Finanzierung öffentlicher Schulen und Schulen in freier Trägerschaft "die gleichen Kriterien: Der Unterricht für schulpflichtige Kinder52 ist kostenlos; für nicht mehr schulpflichtige Kinder ist Schulgeld zu zahlen; Bemessungsgrundlage für das Schulgeld ist die von den Eltern zu entrichtende Einkommen- und Vermögensteuer"53. Bei der Finanzierung ist daher zu beachten, daß die Schüler ab dem 16. Lebensjahr mit dem Ende der Schulpflicht ein Schulgeld in Höhe von 1.600 Gulden ähnlich einer Immatrikulationsgebühr selbst bezahlen müssen, welches für finanzschwache Familien erstattet werden kann. Die materielle Gleichstellung aller Schulen wird aber faktisch erheblich erschwert durch die Besteuerung der Schulträger. Diese richtet sich nach dem Wert des Schulgebäudes, was insbesondere in zentralen Lagen zu erheblichen Finanzproblemen führen kann. Entgegen der früheren Gesetzeslage, wo nach dem "Abrechnungssystem" jeder Haushaltsposten genau festgelegt war und das Geld nur zu einem genau bestimmten Zweck verwendet werden durfte, erfolgt die Finanzierung seit den 80er Jahren durch ein Pauschalsystem, bei dem die Schule bzw. die Schulleitung auf der Basis einer eigenen Mehrjahresplanung das Geld nach eigenen
51 leukens, H.J.M./Simons, D./de long, H.G., S.667; Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 28. 52 Die Schulpflicht beginnt in den Niederlanden im Alter von fünf Jahren und endet nach 12 Jahren Vollzeitschulpflicht (8 Jahre Primarschule und 4 Jahre Sekundarschule), s. Lernke, Dietrich, Bildungspolitik in Europa - Perspektiven für das Jahr 2000. Hamburg 1992, S. 132. 53 Lernke, Dietrich, S. 131.
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Entscheidungen ausgeben kann, wobei in bestimmten Grenzen auch Personalund Sachmittel gegeneinander ausgetauscht werden können 54 . Für die Stärkung der Autonomie der Einzelschule war ein wesentliches Element die Gewährung einer der einzelnen Schule zur freien Disposition zur Verfügung stehenden Pauschalfinanzierung über mehrere Jahre hinweg. War zuvor das Finanzierungssystem durch eine "sehr differenzierte Haushaltsmittelzuweisung (gekennzeichnet, F.-RJ.), nach der die Mittel nur zweckgebunden vergeben werden durften" und bei der alles "bis ins Kleinste vorgegeben festgelegt wurde", so daß den Schulen jeglicher finanzieller Spielraum fehlte und Haushaltsmittel nicht ins nächste Jahr übertragen werden konnten, so wurde schon Ende der 80er Jahre damit begonnen, die Autonomie der Schule durch die Zuweisung von Globaletats und das Recht, über die Verwendung der Personalund Sachkosten eigenverantwortlich zu entscheiden55 , zu stärken. Die Gehälter der Lehrkräfte werden in gleicher Höhe - ungeachtet, ob es sich um eine Schule in öffentlicher oder freier Trägerschaft handelt, - von der Zentralregierung bezahlt, und es gelten die gleichen Besoldungsstufen und Arbeitsbedingungen56 • Hierbei konnte traditionell jede Schule im Rahmen eines sog. Erklärungssystems Lehrer einstellen und das Ministerium für die Lohnkosten in Anspruch nehmen, während die Gemeinden für die Betriebskosten im Wege einer zweckgebundenen Mittelzuweisung aufkamen. Im Rahmen einer Stärkung nicht nur der Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule sondern auch ihrer Rechenschaftspflicht ist dieses Finanzierungssystem erheblich geändert worden und von einem Erklärungssystem zu einem Pauschalzuweisungssystem umgewandelt worden. Grundsätzlich werden nunmehr alle Mittel von der Zentralregierung bereitgestellt und unterschieden in die Personalkostenfinanzierung, die Betriebs- und Gebäudefinanzierung und eine Pauschalfinanzierung. Diese drei nebeneinanderstehenden Finanzierungssysteme gewähren den Schulen eine weitreichende Autonomie nicht nur hinsichtlich des Personaleinsatzes, sondern die den Schulen zugestandene Pauschalfinanzierung gewährt einen gewissen Freiraum dahingehend, wie die im Jahreshaushalt vorgesehenen Mittel auf die Personal- und Betriebskosten verteilt werden57 • Hierbei ist aber stets zu beachten, daß ein wesentlicher Hauptgrund für die Einführung des neuen Pauschalsystems darin zu sehen ist, daß das alte Erklärungssystem in seinen Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 35 f. Burkard, Christoph/Ro(ff, Hans-Günter, Steuerleute auf neuem Kurs? Funktionen und Perspektiven der Schulaufsicht für die Schulentwicklung. In: Ro(ff, Hans-Günter u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimlMünchen 1994, S. 216. 56 Europäische Kommission (Hrsg.), Strukturen der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Europäischen Union, 2. Aufl. Brüssel 1995, S. 281. 57 s. hierzu Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 128; Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 280. 54
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finanziellen Belastungen außer Kontrolle geraten war, weil es etwa auch dann gegriffen hat, wenn bei sinkender Schülerzahl sich die Schüler-Lehrer-Relation in einer Art und Weise verminderte, daß zu viele Lehrer an der Schule beschäftigt waren. Auch für diese LehrersteIlen mußte die Zentralregierung aufkommen. In diesem Sinn kann man auch Likets Werk ,,Freiheit und Verantwortung" dahingehend verstehen, daß von einer pädagogisch-ideologisch pluralistischen Gesinnungsethik zu einer haushaltsrechtlichen Verantwortungsethik umgeschwenkt werden soll. Hierbei ist der entscheidende Unterschied etwa zur bundesrepublikanischen Situation, daß trotz dieser Einführung effektiverer Formen des public management die pädagogische Freiheit als Ori~ntierungs wert Ausgangspunkt aller Überlegungen ist, während in der Bundesrepublik nicht die Gewährung von Bildungsfreiheit, sondern die Einsparung von Haushaltsmitteln im Vordergrund zu stehen scheint. Dies ist zwar auch ein legitimes politisches Ziel, doch Haushaltsautonomie ist im niederländischen System ohne pädagogische Autonomie nicht denkbar. Im Rahmen der Abkehr von der Zweckbindung der Mittelzuweisung erhalten die Schulen im Zuge der Reform ab 1995 einen Pauschalbetrag, mit dem sie selbständig Prioritäten setzen können, wofür sie ihre Mittel verwenden und die sie ins nächste Jahr übertragen können, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, Mittelkürzungen hinnehmen zu müssenS8 • Hierbei haben die Schulen umfassende Gestaltungsfreiheit, Mittel für Änderungen ihrer Organisationsstruktur einzusetzen und "beispielsweise auf einen Stellvertreter (des Schulleiters, ERJ.) zu verzichten und den eingesparten Differenzbetrag für Personal, Material oder anderes zu verwenden"s9. Die Niederlande bieten auch hinsichtlich der bundesrepublikanische Ausgestaltung der Privatschulfinanzierung für neugegründete Schulen einen interessanten Vergleich. Während in der Bundesrepublik durch sog. Wartefristen die Gründung von Schulen in Elternträgerschaft finanzkräftigen Eltern vorbehalten bleibt, das Sonderungsverbot partiell außer Kraft setzt und zudem zu einer hohen Verschuldung nach Ablauf der Wartefrist führt, haben auch die Niederlande den Einsatz öffentlicher Mittel von der Solidität der Gründung abhängig gemacht, aber ohne die soziale Selektivität einer Schulgründung bzw. ohne eine faktische Teilerrichtungssperre. So mußte nach dem alten Elementarschulgesetz eine mit Aufnahme des Unterrichtsbetriebs bezuschußte Schule als eine Art Bürgschaft 15 % der voraussichtlichen Baukosten an die Gemeinde bezahlen, die sie nach zwanzig Jahren zurückgezahlt bekommen hat, wenn sich ihre Bewährung eingestellt hatte.
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Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 62 (64). Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 64.
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Hinsichtlich ihres Finanzierungssystems sind die Niederlande sowohl ein positives Beispiel dafür, daß die bürgerschaftIiche Schule die gleichberechtigte Förderung von Schulen unabhängig von der Trägerschaft mit einem sozialverträglichen finanziellen Eigenengagement der Bürger verbinden kann, als auch ein Beleg für die These, daß der Staat durch eine unzureichende Bezuschussung von Schulen in freier Trägerschaft mit der entstehenden Notwendigkeit der Erhebung eines nicht unerheblichen Schulgeldes die oft kritisierte ,,Mittelstandsschule" erst selbst produziert. Verbunden mit den notwendigen sozialstaatlichen Sicherungsinstrumenten dergestalt, daß es Schulen in freier Trägerschaft, die in geringem Umfang Schulgeld nur für besondere pädagogische außercurriculare Veranstaltungen bzw. Einrichtungen erheben können6o, gesetzlich untersagt ist, Schüler wegen Nichtzahlung dieses Schulgeldes der Schule zu verweisen61 , und dem Verbot für Schulen in freier Trägerschaft, ihren Lehrern zusätzlich zur vom Staat direkt bezahlten Vergütung weitere finanzielle Zuwendungen (mit dem Ziel der "Abwerbung guter Lehrer") zu machen62 , können so Schulen in freier Trägerschaft zu öffentlichen Schulen im Sinne einer jedem Bürger unabhängig von seinen Vermögensverhältnissen offenstehenden Institution werden. Dementsprechend sind die Schulen verpflichtet, etwaige Schulgelder so gering zu halten, daß die Schule für jedermann zugänglich bleibt, bzw. ist es ihnen verwehrt, einem - insbesondere schulpflichtigen - Schüler die Zulassung zu einer Schule zu verweigern, weil dieser bzw. seine Eltern das Schulgeld nicht bezahlen können 63 . Eine besondere Problematik liegt in der Tendenz der Zusammenlegung von Schulen, wodurch Schulen auch für bestehende Schulstufen nur dann Zuschüsse erhalten, wenn sie eine bestimmte Schülerzahl erreichen. Die notwendige Schülerzahl richtet sich hierbei nach der Bevölkerungsdichte. Hierdurch kann es z. B. vorkommen, daß eine WaIdorfoberstufe mit 200 Schülern keine Zuschüsse erhält bzw. nur dann, wenn sie sich mit einer anderen Schule verwaltungsmäßig zusammenschließt. Hierbei entstehen Probleme dann, wenn in dem durch die Gesetzgebung angestrebten Gesamtverbund mit unterschiedlichen pädagogischen Richtungen als Angebot eines Schulverbundes mit gemeinsamer Administration unterschiedliche Formen der Selbstverwaltung miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Die grundsätzlich 100 %ige Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft ist allerdings ungeachtet der "Tauglichkeit" des Unterrichts im Sinne der Qualitätssicherung an drei Bedingungen gebunden: Die Schule ist verpflichtet, Benstz, Ulrich, S. 288 (298); James, Estelle, S. 185. Vgl. James, Estelle, S. 186. 62 James, Estelle, S. 184. 63 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 127. 60 61
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die allgemeinen Gesetze einzuhalten; die Schule ist verpflichtet, am Ende der Sekundarstufe an einer zentralen nationalen Abschlußprüfung teilzunehmen, die 50 % der Endbeurteilung ausmacht; und schließlich ist die Schule verpflichtet, an der nationalen, schulübergreifenden Inspektion teilzunehmen 64 • So kommt denn auch Skiera als exponierter Kenner des niederländischen Bildungswesens zu dem Schluß, daß sich der Staat mit dem Prinzip der Unterrichts- und Schulfreiheit keineswegs aus der Schulaufsicht und der Bildungspolitik zurückgezogen hat und die gesetzlichen Vorschriften "in der Tat eine erhebliche Einschränkung der ,,Freiheit der Einrichtung" bedeuten", indem z. B. für jeden Schultyp die zu unterrichtenden Fächer und Lernbereiche vorgeschrieben sind65 • Gleichwohl konstatiert auch er, daß aufgrund fehlender detailliert ausgearbeiteter allgemeiner Lehrpläne, wie in anderen europäischen Ländern, eine "bemerkenswerte Eigenständigkeit bezüglich der Entwicklung und Gestaltung des schulischen Binnenraumes gegeben" ist, die im Sinne pädagogischer Konsensbildung durch die Auswahlmöglichkeiten bei der Zusammensetzung der Kollegien erleichtert wird66 . d) Struktur der Bildungsverwaltung und Autonomie der Einzelschule
Ein deutlicher Unterschied zur bundesdeutschen Diskussion über neue Formen der Schulverfassung und Möglichkeiten der Selbstverwaltung von Schule besteht nicht nur in einem zeitlichen Moment darin, daß die niederländische Autonomie-Diskussion schon vor 15 Jahren einsetzte und schon Mitte der 80er Jahre normativ umgesetzt wurde, sondern ihr Ansatzpunkt war grundverschieden von der bundesdeutschen Perspektive. Die deutsche Diskussion wird - wesentlich forciert nicht durch die Pädagogen, sondern die Bildungsverwaltung aufgrund ökonomischer Aspekte vorangetrieben. In den Niederlanden waren demgegenüber die Anerkennung des liberalen Bildungspluralismus als Antwort auf geänderte gesellschaftliche Verhältnisse, nämlich eine Vielfalt von Erziehungsvorstellungen in einer multikulturellen Gesellschaft, für die eingeleiteten Reformen ausschlaggebend67 . Das heutige niederländische Bildungswesen ist durch eine weitreichende Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen geprägt. In den letzten 15 Jahren sind zuvor zentral staatlich ausgeübte Entscheidungsbefugnisse weitestgehend auf die Einzelschule verlagert worden. Die umfassende Stärkung der
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Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 15.
Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 373. Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Niederlande, S. 373. 67 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Innovative Schulsysteme im internationalen Vergleich, Bd. 1 Dokumentation zur internationalen Recherche. Gütersloh 1996, S. 44 65 66
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Autonomie der Einzelschule hat z. B. die Grundstruktur des niederländischen Bildungswesens dahingehend geändert, daß sich die Funktion der Schulaufsicht von einer Kontroll- zu einer Beratungsfunktion gewandelt hat, die - ähnlich wie ursprünglich in England Her Majesty's Inspectorate -, relativ unabhängig ist und so gut wie keine direkten Befugnisse gegenüber der Einzelschule hat68 • Die Ausgestaltung der einzelnen Elemente des niederländischen Bildungswesens hat eine reichhaltige Schulvielfalt hervorgebracht, die zuweilen als vorbildlich für die anderen europäischen Länder angesehen wird69 • Diese Schulvielfalt liegt vor allem in einer weitreichenden Gewährleistung der pädagogischen Unterrichtsfreiheit, die dadurch zum Ausdruck kommt, daß kein landesweites Curriculum besteht70 und die rechtlichen Rahmenvorgaben keine für die Einzelschule konkret verbindlichen Vorschriften zu religiösen, politischen und didaktischen Aspekten der Unterrichtsgestaltung normieren. Diese pädagogische Autonomie der Einzelschule findet ihre Entsprechung in dem Status der Lehrer, die keine Beamten sind und durch den jeweiligen Schulvorstand der einzelnen Schule ernannt werden 71. Zudem können die Schulen seit Ende der 80er Jahre selbst über die Verwendung nicht nur der Sach-, sondern auch der Personalmittel selbst entscheiden und die Lehrergehälter relativ frei aushandeln72 • Die strukturelle Sicherung pluralistischer Schul- und Selbstverwaltung geht dabei bis hin zu den gesetzlichen Vorgaben für die Mitbestimmung in den Schulen. So besteht ein Mitbestimmungsgesetz, welches die Mitbestimmung der am Schulleben Beteiligten grundSätzlich vorschreibt, aber hierfür vier verschiedene Modelle vorsieht, zwischen denen die Schulen wählen können. Darüber hinaus sind die Schulen berechtigt, ein eigenes, ihrem pädagogischen Profil entsprechendes Mitbestimmungsmodell zu entwickeln, welches aber, sofern es von den vier Grundmodellen abweicht, genehmigt werden muß. Insbesondere von den sog. "traditionellen Reformschulen" in freier Trägerschaft, wozu die Montessori-, Rudolf-Steiner (Waldorf-), Freinet-, Daltonplanund Jenaplanschulen gehören, sind weitreichende Impulse für das gesamte Schulwesen ausgegangen, die im Jahre 1985 zu einer Reform des Primarunterrichts und einer Neufassung des Gesetzes über den Primarunterricht, das Wet op het Basisonderwijs (WBO) geführt haben73 und Ausdruck dessen sind, daß "sich in den Niederlanden in den siebziger Jahren die Konzeption von der autos. a. Burkard, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 217. Vgl. Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 1. 70 Liket, Theo, Autonome Schule, S. 335 (337). 71 Liket, Theo, Autonome Schule, S. 335 (337). 72 Burkard, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 217. 73 s. a. Lemke, Dietrich, Bildungspolitik in Europa, S. 130. 68
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nomen Schule" dem Prinzip nach im gesamten Schulwesen durchgesetzt hat74 . Das Prinzip der autonomen Schule ist dabei in den Niederlanden nicht lediglich als Instrument zur Effizienz- und Qualitätssteigerung75 zu sehen, sondern ist integraler Bestandteil einer auf Pluralisierung ausgerichteten Bildungspolitik, "die tausend Blumen blühen läßt, die persönlichen Vorzügen und Unterschieden gegenüber tolerant ist und der Ansicht ist, daß es im Unterricht keine einförmige Methode gibt, wie Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen an die folgenden Generationen übertragen werden sollten,,76. Getragen wurde das Konzept der autonomen Schule durch die Überzeugung, daß sich - sowohl im staatlichen wie im nichtstaatlichen Schulwesen - der Staat ,Jn der Regulierung auf wenige wichtige Forderungen beschränken und im übrigen den Organisationen einen größeren Spielraum bewilligen sollte", innerhalb dessen diese, "abgestimmt auf eigene Situationen und Interessen, eigene Strategien entwickeln" können77 . Ursprung dieser Überlegungen für eine neue Struktur des traditionell zentral staatlichen niederländischen Bildungswesens war die Erkenntnis, daß allein eine Dezentralisierung die Regulierung durch die Obrigkeit nicht geringer werden läßt, sondern daß es hierzu einer Deregulierung bedarf, die den Entscheidungsspielraum der Einzelschule stärkt78 • Diese Deregulierung, die zwar auf Kundenorientierung und Rechenschaftspflicht der einzelnen Schule ausgerichtet ist79 , ist jedoch nicht dahingehend zu verstehen, daß damit Bildungsprozesse den freien Kräfteverhältnissen des Marktes ohne sozialstaatliehe kompensatorische Regulierung überlassen werden sollten. Vielmehr war das Ziel der Deregulierungspolitik des niederländischen Bildungswesens die bewußte Beschränkung der Gesetzgebung auf Minimalstandards, die im Interesse der gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit des Bildungswesens und der sozialen Gerechtigkeit notwendigerweise geregelt werden müssen 80. Liket ersetzt daher auch bewußt den Begriff der Deregulierung durch den der "selektiven Steuerung,,81. Hierbei geht der Prozeß der Autonomisierung der einzelnen Schule einher mit einer Auflösung der Versäulung
74
7S
tung.
Glowlw, Detlef, Schul verfassung in internationaler Sicht, S. 83. ZU diesen Gesichtspunkten vgl. die Studie Liket, Theo, Freiheit und Verantwor-
Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (188). Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., Dezentralisation, Deregulierung und Autonomisierung im niederländischen Schulsystem. In: Posch, Peter/Altrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich. Klagenfurt 1993, S. 161 (169). 78 Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., S. 162 ff. 79 Burlwrd, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 215. 80 Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 61 (63). 81 Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 39. 76 77
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des niederländischen Bildungswesens und verstärkt die Tendenzen seiner Säkularisierung82 . Das niederländische Bildungssystem steht damit in einem besonderen Spannungsverhältnis der zentralstaatlichen Rahmensteuerung auf der einen und einer umfassenden Unterrichtsfreiheit und Autonomie der Einzelschule auf der anderen Seite. Hierbei bezieht sich die zentralstaatliche Rahmensteuerung lediglich auf die allgemeinen Bildungsziele, die durch Kernziele konkretisiert werden, während die einzelne Schule weitestgehende Freiheit hat, wie sie diese Rahmenvorgaben erfüllen will. Insbesondere Primarschulen können ihre Unterrichtsmethoden, den Inhalt ihres Lehrplanes und die Lehrmaterialien frei wählen 83 . Im Sinne dieser Deregulierung wurden die Vorgaben des Basisschulgesetzes dahingehend verändert, daß diese den Schulen weitestgehende Selbständigkeit einräumen sollten, um auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler einzugehen. Den Schulen ist es danach möglich, vom festen Muster von Schulstunden und Pflichtwochenstunden abzuweichen, wenn nur eine bestimmte Jahresgesamtwochenzahl, die im Gesetz festgelegt ist, eingehalten wird. Hierbei handelt es sich nicht nur um organisatorische, sondern zugleich auch um substantielle pädagogische Freiräume. Deutlich wird dies in Art. 8 WBO. Diese Vorschrift hat nach Abs. 2 als Orientierungspunkt schulischer Erziehung nicht nur die gleichberechtigte Entwicklung der emotionalen, verstandesmäßigen und kreativen Fähigkeiten neben dem Erwerb praktischer Kenntnisse zum Ziel, sondern gibt der Schule durch die Regelung des Abs. 1, wonach der Unterricht derartig einzurichten ist, daß die Schüler einen ununterbrochenen Entwicklungsprozeß durchlaufen können, der auf die Entwicklung des Schülers abzustellen ist, die Möglichkeit, Unterricht unabhängig vom Jahrgangsprinzip zu veranstalten. So ist es möglich, in der achtjährigen Grundschule auch im kommunalen Schulwesen "ohne äußere Differenzierung, ohne Zeugnisdruck und ohne 'Sitzenbleiben'" auszukommen 84 . Zudem normiert das Unterrichtsgesetz in deutlicher Abkehr nationalstaatlicher Erziehungsorientierungen in Abs. 3 der Vorschrift den Grundsatz, daß der Unterricht sich an dem Aufwachsen der Schüler in einer multikulturellen Gesellschaft zu orientieren hat. Die EG-Kommission ist in einer vergleichenden Studie über die Verwaltungsstrukturen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu dem Ergebnis gekommen, daß die "Bildungsverwaltungsstrukturen (der Niederlande, F.-RJ.) nur schwer mit denen der anderen Mitgliedstaaten zu vergleichen sind,,85. Dies liegt vor allem daran, daß die wenigsten Schulen kommunale bzw. Hopes, Clive (Ed.), S. 13. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 286. 84 Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 83. 85 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 55.
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staatliche Schulen und somit die Verwaltungs-, Planungs- und Gestaltungsbefugnisse der staatlichen Schulbehörde beschränkt sind. Auch soweit es sich nicht um Schulen der Gemeinschaften (protestantisch, katholisch oder konfessionell ungebunden) handelt, sind die meisten "öffentlichen" Schulen nicht staatlich, sondern kommunal getragen. Hierbei werden die öffentlichen, nichtstaatlichen Schulen direkt von dem Organ verwaltet, was die Aufgaben der Schulkonferenz wahrnimmt86 • Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ist die Schulkonferenz jedoch kein internes, sondern ein externes Organ der Schule, welches den Träger vertritt, dem die Schule untersteht. Bei privaten Schulen setzt sich dieses Organ aus Vertretern der Eltern, der lokalen Schulbehörde und von Vertretern aus Wirtschaft und Kultur, nicht aber aus Lehrern, Schulleiter oder Schülern zusammen und ist verwaltungsmäßig für die Einstellung der Lehrer, die Berufung des Schulleiters, die Verwaltung der staatlichen Subventionen und die Kriterien für die Aufnahme der Schüler zuständig. Daneben besteht ein Mitwirkungsausschuß" (Medezeggenschapsraad), der sich aus Eltern, Lehrern und Schülern zusammensetzt und beratende Funktion insbesondere in pädagogischen Fragen hat8? Mit diesem zusammen kommen der Schulkonferenz über die verwaltungsmäßigen Befugnisse weitreichende Rechte in curricularer Hinsicht zu, insbesondere beschließt sie innerhalb des gesetzten gesamtstaatlichen Rahmens auf der Basis des Schularbeitsplans die Unterrichts- und Erziehungsziele, die pädagogische Organisation des Unterrichts und die Lehrinhalte und -methoden einschließlich der Anschaffung und Benutzung von Lehr- und Lernmitteln und nimmt Aufgaben der Evaluierung der schulischen Arbeit wahr88 • Mit dem Wandel der Schulverwaltung hat sich auch die Rolle des Schulleiters grundlegend geändert. Dieser ist nicht mehr primär pädagogisch tätig, sondern Schulleiter bzw. Schulleitung übernimmt zunehmend administrative Verantwortung und Leitungstätigkeit, die als Managementfunktionen verstanden werden und die Stellung der Schulleitung im Rahmen der zunehmenden Dezentralisierung stärkt89 . Hierbei besteht eine Tendenz zu kollegialen Formen der Schulleitung, in denen verschiedene Verantwortungsteams etwa für die Bereiche Erziehung, Finanzen und Personal bestehen90• Insgesamt ist die Struktur der Bildungsverwaltung auf die vier Ebenen Zentralbehörde, Provinzen, Gemeinden und Schulträger verteilt. Hierbei ist die Gesamtstruktur durchaus zentralstaatlich ausgerichtet. Das Ministerium für UnterEurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 55. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 72. 88 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 75. 89 Vgl. von Rooijen, Anton A., Unsere Schule: Ein Blick auf heute und morgen!, Pädagogisches Forum 1990, S. 51. 90 Vaessen, Ad. J. M., S. 203 (206). 86
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richt und Wissenschaften hat die Grundsatzlenkung der Organisation, Planung und Finanzierung, der Verwaltung der staatlich-kommunalen Schulen, der Schulaufsicht und des Prüfungswesens inne. Hierbei wird die Schulaufsicht von einer eigenständigen Aufsichtsbehörde, die insbesondere der Qualitätsverbesserung verpflichtet ist, wahrgenommen. Entscheidend ist jedoch, daß diese zentralstaatlichen Vorgaben sehr weit gefaßt sind und damit den unteren Ebenen erhebliche Gestaltungsräume verbleiben. Demgegenüber haben die Provinzen nur geringe Aufgaben im Rahmen der Aufsicht etwa hinsichtlich der Frage eines ausreichenden Schulangebotes. Die Gemeinden sind Träger der öffentlichen Schulen und verwalten die Schulen in ihrem Amtsbezirk. Den kommunalen Behörden obliegt im wesentlichen die Überwachung der Einhaltung der Unterrichtspflicht sowie die Verteilung der Finanzmittel 91 • Die stärkste Stellung nehmen die Schulträger, also je nach Trägerschaft entweder die Gemeinden, Stiftungen oder Vereine ein. Der Schulträger ist das Entscheidungsorgan der Schule. Er verwaltet und leitet die Schule und entscheidet u. a. über die Aufnahme der Schüler, die Anstellung und Entlassung von Lehrern, die Aufstellung des Schularbeitsplanes, des Stundenplans und der Schulordnung sowie über die Lehrmittel. Hierbei bleibt der Schulträger für den Schulbetrieb verantwortlich, auch wenn bestimmte Aufgaben an den Schulleiter delegiert werden können 92 . Dementsprechend kommt Brinkmann zu der Einschätzung, daß die Autonomie- und Dezentralisierungstendenzen nicht auf die einzelne Schule in Form des Schulleiters und des Kollegiums ausgerichtet sind, sondern auf den jeweiligen Schulträger93 • Mehrere private Schulen haben oft einen gemeinsamen Vorstand 94 • e) Pädagogische Autonomie, Unterrichts/reiheit und Berechtigungswesen
Die Unterrichtsfreiheit ist zwar strukturell grundsätzlich dadurch gewährleistet, daß die Abschlüsse der genehmigten Schulen in freier Trägerschaft denen der staatlichen Schulen gleichwertig sind95 , doch wird die Unterrichtsfreiheit insofern relativiert, als am Ende des Sekundarunterrichts ein staatlich kontrolliertes Nationalexamen abgelegt werden muß, daß paritätisch aus einer zentral erstellten Multiple-choice Prüfung und einer von der jeweiligen Schule autonom festgelegten Endnote für die einzelnen Fächer besteht und bewertet wird96 • Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die staatlichen Vorgaben für die UnterHopes, Clive (Ed.), S. 19. Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 128 f. 93 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 129. 94 Marx, E.C.H.lvan Ojen, Q.H.I.M., S. 163. 95 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 71. 96 s. Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 62. 91
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richtsgestaltung als Rahmenbedingungen in der Sekundarschule stärker reglementiert sind als in der Basisschule, als nämlich vier Fünftel des Unterrichtsprogramms inhaltlich determiniert sind97 . Die Unterrichtsfreiheit im Primarbereich wird zudem dadurch erleichtert, daß die Notengebung im traditionellen Sinne abgeschafft und durch Beurteilungsbögen ersetzt wurde, welches faktisch zu einem Verzicht auf das "Sitzenbleiben" geführt hat, und erst in den letzten drei Primarklassen ein differenziertes Leistungsbewertungssystem eingeführt wurde, ohne daß allerdings ein Abschlußzeugnis in der Primarstufe ausgestellt wird98 • Die pädagogische Freiheit der Schulen in freier Trägerschaft besteht im wesentlichen in der Richtungsfreiheit des Schulträgers, der einen besonderen religiösen, weltanschaulichen oder pädagogischen Ansatz verfolgen darf. Die Ausgestaltung bestimmt sich nach den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen und wird im wesentlichen durch das Recht der Schulkonferenz auf Erstellung eines eigenen Schularbeitsplanes geprägt. Hierbei verfolgt der niederländische Gesetzgeber trotz der Richtungsfreiheit eine andere curriculare Freiheit als etwa der bundesdeutsche Gesetzgeber hinsichtlich des pädagogischen Selbstbestimmungsbereichs von Ersatzschulen. Die Schulen in den Niederlanden, insbesondere im Sekundarbereich, haben nicht die Möglichkeit der umfassenden Selbstgestaltung hinsichtlich ihrer Unterrichtsorganisation, sondern sie sind zu ca. 80 % der Unterrichtsstunden an ein Basiscurriculum gebunden und haben im Restbereich von 20 % die Möglichkeiten, eigenständige Erziehungs- und Unterrichtsprofile zu verwirklichen. Im Basisschulbereich umfaßt dieses Gestaltungsrecht etwa 7 Unterrichtsstunden pro Woche, wobei die curriculare Freiheit in der Basisschule insgesamt größer ist als im Sekundarbereich. Das Kerncurriculum umfaßt fünfzehn Pflichtfacher, wobei für jedes dieser Fächer Kernziele festgelegt werden, die der Schüler am Ende der Basisschulzeit erreicht haben muß und deren Erreichen die Schule in Form eines Lernerfolgs gesetzlich zu überprüfen verpflichtet ist. Während die eigene Profilbildung in der inhaltlichen Ausrichtung demnach grundsätzlich nur innerhalb des 20 %igen Wahl unterrichts möglich ist, wobei allerdings Schulen des besonderen Unterrichts die Möglichkeit haben, in begrenztem Umfang eigene Kemziele im Pflichtbereich zu formulieren, besteht didaktisch für die Schulen ein umfassender Freiraum, wie die Vorgaben des Kerncurriculums umzusetzen sind. So können die Schulen selbst entscheiden, innerhalb welchen Zeitraumes von insgesamt 5 Jahren in ihrem Unterricht die Kernziele erreicht werden, also ob in zwei oder vier Jahren 99 • Bühler, Angelika/Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 6. Bühler, Angelika/Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 6. 99 Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 132 f.; Hopes, Clive (Ed.), S. 42. 97
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Die Verknüpfung der finanziellen Gleichstellung VOn staatlichen und privaten Schulen mit der Einhaltung der vom Gesetz festgelegten Qualität des Unterrichts hat in den Niederlanden zu einer mit dem Begriff der "Tauglichkeitsanforderungen" zu umschreibenden Rechtslage geführt 1OO, die Gegenstand einer breit und kontrovers geführten Diskussion darüber ist, wie weit der Staat die Richtung des "besonderen" (privaten/freien) Unterrichts bestimmen darflOl und inwieweit sich dies mit den Freiheitsgarantien für den besonderen Unterricht und sein Recht darauf, in diesem Unterricht eine eigene Vision im Hinblick auf den Sinn menschlicher Existenz zum Ausdruck zu bringen und den Unterricht nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, verträgt lO2 • Unter Tauglichkeit ist dabei der Teil der Qualitätsvorsorge zu verstehen, der von den Behörden gezielt beeinflußt werden kann und darf103 • Hierfür steht dem Staat ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, mit dem insgesamt die Qualität des Unterrichts gesteuert werden soll. Liket lO4 umschreibt dieses wie folgt: 1. Formulierung staatlicher Bildungsziele in der Gesetzgebung; 2. gesetzliche Anforderungen auf dem Gebiet der Planungsdokumente und Evaluationsberichte; 3. Finanzierungssystem der Bildung; 4. globale Bildungsziele in Form VOn "allgemeinen Lernzielen"; 5. staatliche Abschlußprüfungen und Diplom-Bedingungen; 6. Aufbau und Qualitätsüberwachung der Lehrerausbildungen; 7. Subventionierung der vermittelnden Instanzen in der "Versorgungsstruktur": Forschung, Lehrplanentwicklung, Prüfungsentwicklung, Begleitung, Weiterbildung; 8. Unterrichtsinspektion; 9. diverse andere Unterrichtsvorschriften. 100 Hierzu Akkennanns, P.W.c., S. 17 (29); Mentink, Dick., Orde in onderwijsbe1eid. De weue1ijke regeling van deugdelijkheidseisen als grondweUelijk prob1eem, Dissertation. Deventer 1989, insbs. S. 33 (37,41); Drop, H., Allgemene in1eiding onderwijsrecht. Zwolle 1985, S. 180; s. hierzu auch Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 137, unter Hinweis auf das Scheveninger Abkommen von 1993 zur Qualitätssicherung von autonomen Schulen. 101 Akkermanns, P.W.c., S. 15. 102 Akkennanns, P.W.C., S. 17.; s. hierzu auch den Hinweis von Brinkmann, Günter, Niederlande, S. 129, auf eine vom Bildungsministerium in Auftrag gegebene Studie von 1994, die "zahlreiche Empfehlungen zur Verbesserung des Primarunterrichts" und die Forderung nach Einführung einer systematischen, permanenten Qualitätskontrolle beinhaltet. 103 Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 135. 104 Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 135.
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Das Problem der Tauglichkeitsanforderungen besteht insoweit weniger darin, daß allgemeine Anforderungen etwa in Hinblick auf die "Sittlichkeit" und Qualifikation der Lehrkräfte erhoben werden lO5 , als vielmehr darin, daß in den Unterrichtsgesetzen darüber hinaus spezielle Tauglichkeitsanforderungen aufgestellt werden, die nach Ansicht einzelner Schulträger unmittelbar die Existenz und Organisation der Schule betreffen, und die Unterrichtsgesetze als Voraussetzung für die Gewährung von Subventionen zahlreiche Vorschriften enthalten, die die Freiheit der Unterrichtsgestaltung einschränken 106. So kann zwar in Holland jeder eine Schule unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen gründen, doch können die Bedingungen erschwert werden, wenn staatliche Zuschüsse in Anspruch genommen werden. Diese Instrumentalisierung der Bezuschussung ist jedoch als ultima ratio auf die Qualitätssicherung des Unterrichts gerichtet und zielt nicht auf eine Universalisierung von Bildungsprozessen dergestalt, daß die freien Träger dem Lehrplan staatlicher Schulen folgen müßten. Bevor eine Schule in freier Trägerschaft ihren Bezuschussungsanspruch verliert, ist eine in die Ausgestaltung des niederländischen Schulaufsichts(beratungs)systems eingebundene Regulierungsphase vorgesehen, die von Liket ausführlich dargelegt wird und ihn zu dem Schluß kommen läßt, daß die ,,Erfahrungen im niederländischen Bildungssystem zeigen ... , daß Schulen es nie soweit kommen lassen werden,,107. Gleichwohl kann eine gegründete Schule, wenn sie zu wenige Schüler hat, nach einiger Zeit auch das Recht auf Subventionen verlieren lO8 • Inwieweit in diesem Kontext in den bestehenden speziellen Tauglichkeitsanforderungen eine substantielle, über das allgemeine Ziel, ein einheitliches Lehrund Bildungsangebot aller Schulen zu gewährleisten, hinausgehende Beeinträchtigung der pädagogischen Autonomie liegt, bleibt ein kontrovers diskutiertes Thema in den Niederlanden, welches insbesondere in der parlamentarischen Beratung über ein neues Unterrichts gesetz, welches auch die Freiheit der Unterrichtsgestaltung hinsichtlich der Freiheit der Festlegung der Unterrichtsinhalte neu ordnen sollte, an Aktualität gewonnen hat. Hierbei liegt das Spannungsverhältnis zwischen den einerseits zentralen Vorgaben, die etwa durch den von Schulen einzuhaltenden allgemeinen Lehrplan und einheitliche Abschlußprüfungen geprägt sind, und der gleichwohl gewährten Freiheit der Schulen, den Unterricht nach eigenen Vorstellungen zu gestalten 109. Diese Frage dürfte sich zukünftig im Umgang mit neuen Technologien wieder verschärfen. So sind die Niederlande als ein Land, in dem schon stärker als in der Bundesrepublik Deutschland der Einsatz von Computern forciert wird, in einem vorprograrnmierVgl. Mentink, Dick., S. 33. Mentink, Dick., S. 33. 107 Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 121. 108 s. Marx, E.C.H.lvan Ojen, Q.H.I.M., S. 167 Anm. 21. 109 Vgl. hierzu auch James, Estelle, S. 187 f. 105
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ten Konflikt, wenn sich eine bestehende Tendenz zur verbindlichen Einführung eines Unterrichtssegments ICT (Information and Communication Technology) auch im Basisschulbereich durchsetzen und in Widerspruch zu reformpädagogischen Auffassungen zum Computereinsatz in der Grundschule führen würde. Insofern wird von reformpädagogischen Unterrichtskonzeptionen sowohl der Waldorfschulen als auch der Jenaplanschulen geltend gemacht, daß es gelte, englischen Entwicklungen einer Dezentralisierung der VelWaltungsstrukturen bei gleichzeitiger Rezentralisierung der inhaltlichen Vorgaben entgegenzuwirken. Als einen solchen Schritt sehen diese Schulen z. B. auch die Verpflichtung, die Lernschritte eines jeden Schülers vollständig zu protokollieren. Insbesondere die Frage, inwieweit die Schulen in freier Trägerschaft über die allgemeinen Bildungsziele hinaus auf "allgemeine Lernziele" verpflichtet werden sollen, ist Gegenstand der Kontroverse. Die Schulen in freier Trägerschaft sehen hierin operationalisierte Ziele, die ihre Unterrichtsfreiheit zu weit einschränken. Als Kompromiß, der allerdings gleichwohl die Qualität des Unterrichts durch die Formulierung etwas detaillierterer Zielsetzungen (neuerdings "Kernziele" anstatt "allgemeiner Lernziele" genannt) direkt vom Staat beeinflußt, wurde die Einführung von "Kernzielen" normativ verankert, die die Vergleichbarkeit der Bildungsqualität sichern sollen l1O . Neben der Festlegung der Kernziele nimmt der Staat durch die Prüfungsprogramme der landesweiten Abschlußprüfungen, die sehr detailliert sind und 50 % der Abschlußprüfungen ausmachen, "direkten Einfluß auf die Qualitätsüberwachung" 111. In den Niederlanden scheint das besondere Spannungsverhältnis darin zu liegen, daß weltanschaulich zwar der Grundsatz der Pluralität anerkannt ist, aber den Schulen in freier Trägerschaft pädagogische Freiheit nur soweit gewährt wird, wie sie im staatlich-kommunalen Schulsystem Eingang findet. Insofern kann man davon sprechen, daß die Freiheit, die Kinder nach den eigenen, elterlichen, religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen zu unterrichten, prägend für das niederländische Bildungssystem ist l12 , der Grundsatz der pädagogischen Freiheit jedoch nicht in gleicher Weise umfassend gewährleistet ist. Dies liegt vor allem darin begründet, daß ,,(De)regulierung durch die zentrale Obrigkeit ... für die öffentlichen Schulen im Prinzip dasselbe wie für die privaten Schulen (bedeutet)"ll3 und "die niederländische Schul gesetzgebung ... eine Mischung von einerseits Freiheit der Schulgründung, Schulrichtung und des Schulunterrichts (ist) und andererseits von mehr oder weniger weitgehenden gesetzlichen Regulierungen" gekennzeichnet wird und "durch die Art der Vgl. Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 140. Liket, Theo, Freiheit und Verantwortung, S. 142. 112 Vgl. Karpen, Ulrich, Staatliche Lenkung und Überwachung des Bildungswesens, RdJB 1990, S. 419 (431). 113 Marx, E.C.H./van Ojen, Q.H.I.M., S. 163. 110 111
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staatlich-finanziellen Unterstützungen (im Prinzip 100 %) ... in der Praxis der Einfluß der zentralen Obrigkeit auf die öffentlichen Schulen wohl größer, aber nicht viel größer als auf die privaten Schulen (ist)"u4. Insofern ist zwar das Prinzip der Unterrichstfreiheit LS der Gründungsfreiheit umfassend gewährleistet, doch unterliegt dieses zentralstaatlich festgelegten gesetzlichen Standards. Diese werden durch das Ministerium für Bildung und Wissenschaft verbindlich auferlegt und steuern über die Anforderungen an die Schulabschlußprüfungen die Unterrichtsinhalte, so daß insbesondere die Bestimmungen, die mögliche Fächerkombinationen, die Mindestunterrichtszeit jedes Faches und die Prüfungsgegenstände regeln, die curriculare Freiheit beschränken u5 . (1) Unterrichtsfreiheit im Primarbereich Die materiell-rechtliche Grundlage für die Unterrichtsfreiheit im Primarbereich findet die Ausgestaltung der Unterrichtsarbeit im Basisschulbereich für alle Schulen in Art. 11 WBO. Danach hat die Schule gern. Abs. 1 einen zu erstellen, der einen Überblick über die Organisation und den Inhalt des Unterrichts gibt und sicherstellt, daß gern. dem Prinzip der achtjährigen "Basisschool" die Schüler bis zum 12. Lebensjahr im Prinzip innerhalb einer Periode von 8 aneinanderpassenden Jahren die Schule durchlaufen können, wobei dies bisher etwa für Waldorfschulen eine zweijährige Kindergartenzeit für die Vier- bis Sechsjährigen mitumfassen kann. Der Schularbeitsplan muß gern. Art. 11 Abs. 2 WBO zumindest die Lehr- und Entwicklungsziele, die Auswahl und den Umfang des Lehrstoffes, die didaktischen Arbeitsformen einschließlich Maßnahmen zur Integration lernbehinderter Schüler sowie die Schulorganisation einschließlich der Art und Weise der Elternbeteiligung und der Verwendung von staatlich gewährten Vergünstigungen für bestimmte Schüler und Zielgruppen sowie die Art und Weise der Überprüfung der Lernerfolge der Schüler aufführen. Dieser Schularbeitsplan stellt das wesentliche Instrumentarium zur Sicherung der pädagogischen Autonomie der einzelnen Schule dar. "Der "Schoolwerkplan" ist eine "Offerte" an Eltern und Gesellschaft und wird von dem Schulvorstand (privat oder Gemeinde) festgestellt. Die Schulaufsicht vergleicht dieses Angebot mit den gesetzlichen Vorschriften, gibt aber kein Urteil über den weiteren Inhalt des Plans ab. Von dem Moment an, zu dem der Plan (vom) Schulvorstand beschlossen worden ist, gilt er als eigene Regelgebung der Schule; er ersetzt insofern eine zentrale Regelung auf staatlicher Ebene"u6. Marx, E.C.H.lvan Ojen, Q.H.I.M., S. 167. Vgl. Hopes, Clive (Ed.), S. 4. 116 Liket, Theo, Freiere Schulen und kontrolliertere Universitäten in Holland - Die autonome Schule und die Rolle der Staatsaufsicht, Pädagogisches Forum 1992, S. 81 (82). 114 115
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Insofern ist die - im Prinzip zutreffende - Ansicht zu relativieren, daß die gesetzlichen Rahmenvorgaben "deutlich in den täglichen Schul betrieb ein(greifen). Sie betreffen vorgeschriebene Fächer der Stundentafeln der verschiedenen Schulformen, Fächerkombinationen, die Zahl der Wochenstunden pro Fach, Richtlinien und Lehrpläne sowie schulinterne und zentrale Prüfungen. Die Vorgaben sind sowohl für die öffentlichen als auch für die privaten Schulen bindend. ,,117 Diese Rahmenvorgaben finden sich insbesondere in Art. 8 WBO, der die Unterrichtsziele normiert, sowie in Art. 9 WBO, der den verbindlichen Fächerkanon festschreibt. Insgesamt ist der Einschätzung Likets zuzustimmen, daß im Gesetz zwar sehr global die Hauptzielsetzungen des Unterrichts normiert sind, innerhalb dieser aber die Schulen sowohl in der Schulorganisation als auch in der Gestaltung des Unterrichts relativ frei sind 1l8 , was u. a. daran deutlich wird, daß die Grundschulen - unter dem Vorbehalt der entsprechenden Qualifikation und der Einhaltung der haushaltsrechtlichen Vorgaben - autonom über die Anstellung der Lehrer entscheiden können ll9 • Insbesondere die Grundschulen können so ihr individuelles Profil entwickeln 120. (2) Unterrichtsfreiheit im Sekundarbereich Entgegen dem weiten Gestaltungsspielraum im Basisschulbereich scheint dagegen die pädagogische Freiheit im Sekundarbereich wesentlich eingeschränkter und lassen sich sogar Tendenzen einer Rezentralisierung erkennen. So ist mit dem Unterrichtsgesetz für die Sekundarstufe von 1992 (',Basisvorming") für Schuljahr 1993/94 erstmals ein nationaler Lehrplan für die Sekundarstufe erlassen worden, der allgemein als drastischer (durchgreifender) Wechsel für das Curriculum im Sekundarbereich bezeichnet121 und von Kritikern als gravierender Einschnitt in das Modell niederländischer Schul vielfalt in Form gleichberechtigt nebeneinander stehender pädagogischer Konzepte angesehen wird 122. Insbesondere wird geltend gemacht, daß das Basisvorming für
Lernke, Dietrich, S. 130 f. Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 (82); ebenso Glowka, DetIef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 83. 119 Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 (82). 120 Glowka, DetIef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 83. 121 Broekhof, Kees, Introduction of an national core curriculum in lower secondary schools. In Council of Europe, Newsletter 211993, S. 26. 122 s. Näf, Martin, Holland: Zwangsmodernisierung der holländischen Gesellschaft? Ein nationaler Lehrplan engt den Spielraum für eigene Schulgestaltung ein, endlich 311993, S. 27. 117
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die Sekundarstufe die Grundsätze ethnischer, linguistischer und kultureller Pluralität ignoriere 123 • Dieser nationale Lehrplan, der einen verbindlichen Kanon von 15 Fächern vorschreibt und zum Ziel hat, das kognitive Niveau zu sichern und insofern auch Lernzielangaben für die einzelnen Fächer vorgibt, läßt gleichwohl noch einen eigenen Raum für die einzelne Schule zur Verwirklichung ihres eigenen Profils. Dies betrifft sowohl seinen Inhalt als auch die pädagogische Umsetzung dieses Lehrplans, und dies gilt ebenfalls für die zeitliche wie auch didaktischpädagogische Umsetzung. So gibt der Lehrplan der einzelnen Schule die Möglichkeit, den Lehrplan, der auf drei Jahre ausgerichtet ist, entweder in zwei Jahren zu absolvieren, oder aber auch leistungsschwächeren Schülern einen Zeitraum von vier Jahren zur Absolvierung zu gewähren. Entscheidend ist allein, daß die Gesamtzahl der für die einzelnen Fächer insgesamt vorgesehenen Unterrichtsstunden erreicht wird. Welcher Lehrmethoden sich die einzelne Schule bedient, wird von dem Lehrplan nicht tangiert, soweit die Rahmenvorgaben eingehalten werden. Darüber hinaus regelt der Lehrplan nur 80 % der Unterrichtszeit und überläßt die inhaltliche Gestaltung der übrigen Unterrichtsstunden der einzelnen Schule ihrem Profil entsprechend. Ferner ist es möglich, daß eine Schule dem staatlichen Lehrplan nicht folgt und nach einem eigenen Lehrplan arbeitet. Dies setzt voraus, daß das Niveau dieses Lehrplans dem staatlichen Lehrplan gleichwertig ist, und unterliegt dem Genehmigungsvorbehalt der Schulbehörde l24 • Im Sekundarbereich führt ein Mischprüfungssystem aus schulinterner und zentral staatlich gesteuerter schriftlicher Prüfung zu einer indirekten Harmonisierung, die sicher mitausschlaggebend für die von freien Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung, wie den Waldorfschulen, erhobenen Vorwürfe einer Aushöhlung der Unterrichtsfreiheit beiträgt. Allerdings muß auch hier berücksichtigt werden, daß selbst das System der Leistungsüberprüfung nur mit einem Minimum an Selektionsmechanismen verbunden ist und der einzelnen Schule auch in diesem Bereich ein weiter Handlungsspielraum verbleibt. So sind die Leistungsüberprüfungen hinsichtlich des Erreichens der durch den nationalen Lehrplan vorgegebenen allgemeinen Lernziele im Bereich der Sekundarstufe lohne selektive Wirkung für den weiteren Bildungsweg des einzelnen Schülers, und die Schulen haben verschiedene Optionen für die Auswertung und Verwendung der nach Abschluß einer bestimmten Lerneinheit vom National Institute for Educational Measurement erarbeiteten Tests. Die Testergebnisse müssen zwar der Schulbehörde übermittelt werden, doch entscheidet die ein123 Meijer, Wilna A.J., Al1gemeine Bildung: Balance zwischen Gemeinsamkeit und Diversität. In: Lassahn, R.lOfenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtJM. u. a. 1994,
S. 87 (88). 124 Näf, Martin, Hol1and, S. 28.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
zeine Schule je nach Schulprofil darüber, ob diese für Notenzeugnisse benutzt werden, Eingang in schriftliche Berichtszeugnisse finden oder gänzlich unberücksichtigt bleiben. (3) Die Freiheit der Lehrerausbildung
Zur liberalen Schulverfassung der Niederlände gehört auch, daß die Schulen in freier Trägerschaft eigene subventionierte und mit Qualifikationsberechtigungen ausgestattete Ausbildungsstätten für ihre Lehrer unterhalten können 125 . Dies ermöglicht es Schulen mit einer eigenständigen, besonderen pädagogischen Prägung, die Lehrerausbildung praxisgerecht anzulegen 126 . Entsprechend dem allgemeinen Grundsatz der Richtungsfreiheit haben die Schulen auch das Recht der freien Lehrerwahl in bezug auf die besondere Richtung des Unterrichts. Insbesondere in religiös gebundenen Schulen wie den katholischen, hat der Schulträger das Recht, nicht-katholische Lehrer abzulehnen. f) Von der staatlichen Schulaufsicht zur Schulberatung Mit den grundlegenden Wandelungen des niederländischen Bildungswesens, die in den letzten 15 Jahren zu einer umfassenden Autonomie der Einzelschule unabhängig von ihrer Trägerschaft geführt haben, hat sich auch die Funktion der Schulaufsicht gewandelt. Vor dem Hintergrund der relativ weitgehenden Autonomie der Schulen bei der Ausgestaltung ihrer Unterrichts- und Erziehungstätigkeit ist es nicht verwunderlich, daß das Schulwesen der Niederlande nicht wie in der Bundesrepublik Deutschland von einem extensiven Verständnis der staatlichen Schulaufsicht, die als Schulhoheit zugleich auch in die unmittelbare Unterrichtsgestaltung eingreift, geprägt ist, sondern Schulaufsicht in erster Linie als Aufgabe der Weiterentwicklung des Unterrichts durch Schulbesuche und die Erörterung von Problemen und die Aussprache von Empfehlungen gesehen wird. "Die Schulaufsicht in den Niederlanden ist heute nicht mehr eine exekutive Verwaltung, sie hat nicht mehr das Recht, etwas durchzusetzen; die Schulaufsicht berät die Schulen, aber dieser Rat muß von den Schulen nicht angenommen werden ... Ihre Funktion hat sich völlig gewandelt, sie geht stärker in die britische Richtung, und das bedeutet: 'no power, but influence,,,127. Der Einfluß, den die Schulaufsicht gleichwohl ausübt, gründet sich hierbei nicht auf exekutive Befugnisse, sondern auf die ihr mit der Beratungsfunktion zugekommene Möglichkeit diskursiver statt regulativer Problemlösung, die auf James, Estelle, S. 188; Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 72 f. s. hierzu Blaauwendrat, E., Vortragsmanuskript. 127 Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 61 (65 f.). 125
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einem fundierten Fachwissen und innovativen Lösungsansätzen seitens der Schulaufsicht basiert 128 . Erst sekundär kommt der Aspekt der Rechtsaufsicht im Hinblick auf die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbestimmungen für die Qualität des Unterrichts hinzu 129, die in der Pflicht der Schule, alle zwei Jahre einen Bericht abzuliefern, in dem die Ziele des Schularbeitsplans beschrieben und der Unterrichtserfolg dargelegt werden müssen 130, zum Ausdruck kommt. In den Niederlanden hat sich die Schulaufsicht gegenüber dem klassischen Eingriffscharakter fundamental in den letzten Jahren geändert 131 und sich in ein nach Ansicht von Skiera "vorbildliches und ... in Europa einmaliges" System der Schtilbegleitung und Schulberatung entwickelt\32, welches mit einem umfassenden System der Selbstevaluierung statt Fremdevaluierung korrespondiert. Die nach der Verfassung durch Gesetz zu regelnde Ausgestaltung der Schulaufsicht, die durch Gesetz im Jahre 1990 dem neuen Selbstverständnis entsprechend u\ll1strukturiert wurde und die Zahl der Aufsichtsbeamten deutlich reduziert hat; beschränkt sich danach auf die Sicherung der Einhaltung der Rechtsvorschriften, die Information über die Bildungssituation der einzelnen Schule durch Schulbesuche und die Beratung der Lehrkörper und der zuständigen regionalen und lokalen Behörden sowie des Unterrichtsministeriums l33 . Die normative Ausgestaltung der Sicherung pädagogischer Autonomie der Einzelschule gegenüber der staatlichen Schulaufsicht ist zwar gegenwärtig auf den Basisschulbereich begrenzt, doch ist beabsichtigt, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen auch für das Sekundarschulwesen einzuführen \34. Wesentlicher Anhaltspunkt für die schulaufsichtliche Tätigkeit ist hierbei der Schularbeitsplan, der damit sowohl der internen als auch der externen Evaluation dient und auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben hin überprüft wird\35. Der entscheidende Unterschied zu zentralistisch-etatistischen Schulaufsichtsstrukturen liegt darin, daß die Inspektion in keinem Fall direkt in den
128
Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 61 (65 f.).
Vgl. Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 42 D, Die Schulaufsicht in den Niederlanden, S. 1; Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 22 D, Freiheit des Unterrichts, S. 1. 130 Liket, Theo, Zwischen Autonomie und Verantwortung, S. 66. 131 Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 (84). 132 Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 131. 133 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (188 f.). 134 Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 (82). 135 Vgl. Hopes, Clive (Ed.), S. 56. 129
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Unterricht eingreifen kann. sondern nur berät und gegebenenfalls Berichte verfaßt. wenn mit dem Schulträger Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit etwa des Schularbeitsplans mit gesetzlichen Vorschriften bestehen. Sofern Rechtsvorschriften verletzt sind. entscheiden andere Institutionen wie der Unterrichtsrat oder der Minister über die zu treffenden Maßnahmen. für die der Minister dem Parlament gegenüber verantwortlich zeichnet 136 • Hierbei liegt es in der Konsequenz dieses Verständnisses von Schulbegleitung durch externe Evaluation. daß die Schulinspektion nicht mehr Teil der Verwaltungseinheit des Bildungsministeriums ist 137 • Insgesamt scheinen die Reformen seit 1985 zumindest für die staatlichen Schulen auf die Gewährung einer größeren Autonomie und eine Begrenzung der staatlichen Schulaufsicht gerichtet zu sein 138 • Hauptfunktion von Schulaufsicht ist danach die Schulberatung und Evaluation der einzelnen Schule innerhalb autonomer Entscheidungsprozesse. nur bei bleibenden Verstößen gegen das Gesetz berichtet die Schulaufsicht dem Minister. was in der Praxis selten vorkommt139 • Zudem umfaßt diese nicht die Dienstaufsicht über den einzelnen Lehrer. welche nicht der Inspektion. sondern dem Schulträger obliegt. und ist von daher nicht auf die Beurteilung des einzelnen Lehrers gerichtet l40 . Dementsprechend stellt die Schule zunächst autonom ihren Arbeitsplan auf. der nach Art. 13 WBO bei Beanstandungen durch den Schulinspektor lediglich beraten wird und gern. Abs. 4 nur im Falle einer bestehenbleibenden Nichtübereinstimmung dem Unterrichtsminister vorgelegt wird. der wiederum die bindende Entscheidung des Unterrichtsrates einzuholen hat. sofern er die Bedenken des aufsichtsübenden Schulinspektors teilt. Da innerhalb dieses Systems der staatlichen Schulaufsicht die Rahmenbedingungen - insbesondere etwa im Vergleich zu bundesrepublikanischen oder französischen Verhältnissen - relativ weit gefaßt sind und keine den bundesdeutschen Lehrplänen und Curricula vergleichbaren detaillierten Vorgaben enthalten. die für die Schulen verbindlich wären l41 • können sowohl die privaten als auch die staatlichen und kommunalen Schulen weitestgehend selbständig dahingehend arbeiten. wie die für die einzelnen Schularten vorgegebenen
Vgl. Liket. Theo. Freiheit und Verantwortung. S. 147 ff. Liket. Theo. Freiheit und Verantwortung. S. 150 138 s. Liket. Theo. Freiere Schulen. S. 81 f. 139 Liket. Theo. Freiere Schulen. S. 81 (83). 140 Liket. Theo. Schulaufsicht. S. 185 (189). 141 Skiera. Ehrenhard. Das Bildungswesen. S. 29. 136 137
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Lernziele erreicht werden l42 , und ihren Unterricht innerhalb der bestehenden Rahrnenbedingungen frei und eigenverantwortlich gestalten 143. g) Abschließende Betrachtungen
Die niederländische Verfassungsrechtslage, die zu einer Gleichstellung des öffentlichen und privaten Unterrichts führte, steht insoweit exemplarisch für eine bürgerschaftliche Schul verfassung, als nämlich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in gegenseitiger Solidarität und Achtung zum Wohl der Allgemeinheit Eigenverantwortung im Bildungswesen übernommen haben. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird dabei zu Recht die besondere Bedeutung des "holländischen Schulfriedensschlusses von 1917" für die Entwicklung von Schulvielfalt im allgemeinen und die Wirkungsmöglichkeiten der Reformpädagogik im besonderen hervorgehoben 144. Dies kommt auch in einer Schulsystemstruktur zum Ausdruck, die auf selektive Momente so weit wie möglich verzichtet, indem das Schulsystem von großer Durchlässigkeit und einer spät einsetzenden Spezialisierung geprägt ist. Damit korrespondiert die Erkenntnis, daß in den Niederlanden ein starkes Engagement für Fragen der Bildung und der Schule als Ausdruck alter "Bürgertradition" gepflegt wird l45 . Allerdings besteht für die Unterrichtsfreiheit der Schulen in freier Trägerschaft ein relativ ausgeprägtes Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den staatlichen Schulen, da sie weitestgehend den Anforderungen der staatlichen Schulen entsprechen müssen, um die staatlichen Zuschüsse zu erhalten l46 . Insofern kann man davon sprechen, daß das niederländische Bildungswesen durch eine 'abgeleitete' Unterrichtsfreiheit geprägt wird. Doch bei alledem beschränkt sich "die nationale Reglementierung ... auf eine die wesentlichen Bedingungen schaffende, globale Gesetzgebung und auf eine Anzahl von sekundären Vorschriften, die dazu führen, daß die in eigener Verantwortlichkeit ausgeführte Unterrichtsphilosophie einer tiefgehenden Kontrolle danach unterworfen ist,,147.
142 Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 22 D, Freiheit des Unterrichts, S. 3. 143 Niederländisches Ministerium für Unterricht und Wissenschaft, Docinform Nr. 42 D, Die Schulaufsicht in den Niederlanden, S. 2; s. a. Skiera, Ehrenhard, Das Bildungswesen, S. 29 (43); s. a. Liket, Theo, Freiere Schulen, S. 81 (82). 144 Berg, Hans-Christoph, Bilanz und Perspektiven der Reformpädagogik, ZfP 1990, S. 877 (878); s. hierzu auch Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulfreiheit in den Niederlanden - Das konstitutionelle Prinzip der "vrijheid van onderwijs" als Bedingung reformpädagogischer Entwicklungen, Pädagogisches Forum 1991, S. 183; s. a. Rang, Adalbert, S. 34 ff. 145 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), S. 42. 146 s. a. Karpen, Ulrich, S. 419 (427). 147 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (188).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Resümierend läßt sich das niederländische Bildungswesen dahingehend charakterisieren, daß zentralstaatlich die Bildungsziele verbindlich festgelegt und auch durch landesweite Abschlußprüfungen überprüft werden, die einzelnen Schulen jedoch frei sind, in welcher Art und Weise, mit welchen Unterrichtsmethoden und welchen Unterrichtsformen und -instrumenten sie dies erreichen wollen. 2. Das Schulwesen in Belgien Das Schulwesen in Belgien ist gekennzeichnet durch eine weitreichende Regionalisierung und den Grundsatz der Freiheit des Unterrichts.
a) Vom zentralistischen zum föderativen Bundesstaat Das belgische Schulwesen ist ein Spiegelbild der komplizierten Organisation des belgischen Staatswesens, welches durch das Nebeneinander der drei kulturell definierten Gemeinschaften mit den offiziellen Landessprachen Französisch, Niederländisch und Deutsch geprägt ist. Bis zum Jahre 1970 war Belgien ein in den Strukturen durch die Verfassung von 1831 festgelegter territorial dezentralisierter Einheitsstaat l48 , der sich durch vier aufeinanderfolgende und miteinander verbundene Verfassungsreformen in den Jahren 1970, 1980, 1988 und 1993, die zur koordinierten Verfassung Belgiens vom 17.2.1994 führten, zu einem durch getrennte Sprach- und Kulturgemeinschaften und Regionen gekennzeichneten föderalen Staat, der sich in eine Föderation von je drei Regionen und Gemeinschaften unterteilt, entwickelt hat l49 . Die Verfassungsreform basiert auf der Gründung und Existenz von den drei autonomen Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel und einer damit einhergehenden Verstärkung der verfassungsmäßigen Stellung der drei kulturellen Gemeinschaften (niederländisch-, französisch-, und deutschsprachige Gemeinschaft) innerhalb der vier Sprachgebiete, wobei die Region Brüssel zweisprachig ist (französisch-niederländisch) und die flämische Region und kulturelle Gemeinschaft identisch sind, weshalb man heute von nur fünf Teilstaaten spricht, die alle ihre eigenen Regierungen und Parlamente haben. Der Anteil der niederländischsprachigen Flamen umfaßt ca. 59 %, der französischsprachigen Wallonen einschließlich französischsprachiger Brüsseler ca. 40 % und der Deutschsprachigen ca. 1 % der Bevölkerung l50 • 148 Alen, Andre, Belgien: Ein zweigliedriger und zentrifugaler Föderalismus, ZaöRV 50/1990, S. 501 (502,504 f.). 149 Alen, Andre, S. 515 ff. 150 Mathiak, Robert, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Belgien. In: Frowein, Jochen Abr., Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. I, S. I (2).
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Bei den Gemeinschaften und Regionen handelt es sich nach Abschluß der Verfassungsreformen um "autonome Rechtspersonen, die einerseits über eigene gesetzgebende und ausführende Organe und andererseits über eine gesetzgebende Befugnis und eine finanzielle Autonomie verfügen,,151. Die kulturell und sprachlich definierten Gemeinschaften verfügen über eigenständige Befugnisse im Hinblick auf kulturelle-, unterrichts- und personenbezogene (insbesondere hinsichtlich der sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) Angelegenheiten, während den territorial definierten Regionen "Befugnisse in bezug auf die Raumordnung, die Umwelt, den Landschafts- und Naturschutz, das Wohnungswesen, die Wasserpolitik, die Wirtschaft, die Energiepolitik, die untergeordneten Behörden, die Beschäftigungspolitik, die öffentlichen Arbeiten und das Verkehrswesen" zukommen 152. Obgleich die ca. 70.000 deutschsprachigen Belgier zu der wallonischen Region gehören, verbleiben ihnen damit wie den Flamen und Wallonen eigenständige Rechte insbesondere im Erziehungswesen. b) Die Dezentralisierung des Bildungswesens
Die durch die Verfassungsreform eingeführten föderativen Staatsstrukturen führten auch zu einer Dezentralisierung des belgischen Bildungswesens. Hierbei haben die Autonomieansprüche der Gemeinschaften in den letzten 30 Jahren einen umfassenden Dezentralisierungsprozeß in Gang gesetzt, der durch die verschiedenen Verfassungsreformen auch im Schulwesen seinen Ausdruck gefunden hat. Bis in die 50er Jahre unterstand das gesamte Bildungswesen - dem Konzept des einheitlichen Nationalstaates folgend - allein dem für das ganze Land zuständigen belgischen Bildungsminister. Da die einzelnen Gemeinschaften jedoch in einer zentralstaatlichen Steuerung und Organisation des Bildungswesens ihre Eigenständigkeit nicht genügend gesichert und gewahrt sahen, forderten die Gemeinschaften für sich jeweils getrennte Unterrichtsministerien, in Folge dessen die Kompetenzen geteilt wurden und zwei Minister - je einer für die französisch- und deutschsprachigen 153 und einer für die niederländischsprachigen Schulen - für das Bildungswesen zuständig waren. Diese Dezentralisierung der Kompetenzen für das Bildungswesen blieb jedoch nicht auf der nationalstaatlichen Ebene stehen, sondern mit der zunehmenden Konstituierung von Eigenzuständigkeiten der Gemeinschaften begann ein fortwährender Prozeß der Verlagerung der Zuständigkeiten vom Nationalstaat auf die föderalen Untergliederungen. Mit dem Schulpakt von 1958 wurden zur Sicherung des Grundsatzes der freien Schulwahl, der gesellschaftlich tief verankert ist, in den 151 152
Alen, Andre, S. 530. Alen, Andre, S. 534.
153 Diese nehmen nur einen geringen Prozentsatz der Schüler, derzeit etwa 0,5 %, auf, so daß hierfür kein eigenes Unterrichtsministerium geschaffen wurde.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
drei Landessprachen je nach Trägerschaft verschiedene Unterrichtsnetze konstituiert, denen festgesetzte Bezuschussungen zukommen. Auf der einen Seite das offizielle Unterrichts wesen, bestehend aus Schulen der Gemeinschaften oder Schulen der Gemeinden oder Provinzen, sowie das freie, subventionierte Schulnetz, welche als Grundbasis entweder eine bestimmte religiöse Basis haben oder aber eine bestimmte reformpädagogische Schulkonzeption wie die Waldorf- oder Montessorischulen darstellen I54 • Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der drei Kulturgemeinschaften durch die Verfassungsreform im Jahre 1970 wurde verfassungsrechtlich die Teilung der Kompetenzen im Bildungswesen einerseits sanktioniert, soweit sie schon Bestand hatte, und andererseits der Grundstein für eine völlige Trennung der verschiedenen Bildungssysteme gelegt. So wurden die Gemeinschaften durch die Verfassungsreform von 1970 "befugt, in ihrem territorialen Zuständigkeitsbereich Dekrete mit Gesetzeskraft in kulturellen Angelegenheiten sowie, wenn auch in beschränktem Maße, im Unterrichtswesen und im Sprachgebrauch zu verabschieden"l55. Die nächste Stufe dieses Transformationsprozesses war die mit der Verfassungsreform von 1980 korrespondierende Einrichtung von (zwei) eigenen Unterrichtsministerien in den Gemeinschaften neben den zentralstaatlichen Unterrichtsministerien. Der entscheidende Schritt zur Dezentralisierung und Regionalisierung wurde schließlich mit der Verfassungsreform von 1988 eingeleitet, in deren Folge die Kompetenzen für das gesamte Bildungswesens weitestgehend auf die Gemeinschaften übergegangen sind und die Bildungsminister auf zentralstaatlicher Ebene abgeschafft wurden. Mit den Verfassungsreformen von 1970, 1980 und 1988 hat sich die Struktur des belgischen Bildungswesens grundsätzlich geändert. Bis dahin war eine zentralstaatliche Organisation kennzeichnend für die Struktur des Bildungswesens, innerhalb derer den kommunalen Behörden und den Provinzen nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Selbstverwaltung eingeräumt wurden 156. Noch bis 1988 stand das Bildungswesen weitestgehend unter der Aufsicht des Zentralstaates, auch wenn das Bildungswesen schon lange Zeit vorher den verschiedenen nationalen Gemeinschaften und der Einwohner- und Sprachstruktur Belgiens entsprechend geprägt gewesen ist. Innerhalb dieser verschiedenen Sprachgemeinschaften bestanden in Belgien auch vor der Verfassungsreform für die verschiedenen sprachlichen und kulturellen Gemeinschaften getrennte Bildungssysteme, wobei das "niederländische" knapp 60 %, das "französische" 154 Spies-Bong, Gertrud, Länderstudie Belgien. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 389. 155 Alen, Andre, S. 516 f. 156 Lemke, Dietrich, S.24; Mason, Peter, Independent Education, ISIS Document No. 34, I sI edition, London 1992, S. 6.
I. Bürgerschaftlich-sozialstaatliche Schulverfassungen: Belgien
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gut 40 % und das "deutsche" 0,5 % der Schülerpopulation ausmachen I57 • Danach unterhalten die drei kulturellen und sprachlichen Gemeinschaften voneinander getrennte Bildungssysteme, die in ihrem Nebeneinander z. B. dadurch gekennzeichnet sind, daß es ungeachtet der Sprachenvielfalt in Belgien keine bilingualen oder trilingualen Schulen gibt 158 . Mit der Verfassungsreform von 1988 ist jedoch der substantielle Schritt zu autonomen Bildungssystemen der verschiedenen Gemeinschaften getan worden. Hierbei liegen die legislativen Zuständigkeiten nunmehr beim Rat der jeweiligen Gemeinschaft. Mit der Übertragung der Kompetenzen auf die Gemeinschaft sind an die Stelle der vom Staat zentral organisierten Schulen die Schulen der jeweiligen Gemeinschaft getreten. In einem fortwährenden Prozeß der Regionalisierung wurden zunehmend Zuständigkeiten von den zwei Zentralministerien auf die drei Gemeinschaften und ihre Räte und Exekutivorgane übertragen. Mit der Verfassungsänderung zum l. Januar 1989 wurde die Zuständigkeit für das Bildungswesen grundsätzlichjeweils den drei Gemeinschaften übertragen, in denen nunmehr die Verwaltung und Finanzierung des Bildungswesens den Parlamenten und Regierungen der Gemeinschaften obliegt und in denen speziell für das Bildungswesen zuständige MinisterialsteIlen geschaffen wurden. Hierbei besteht in der niederländischen Gemeinschaft die Besonderheit, daß dort nicht ein Ministerium, sondern der Autonome Raad van het Gemeenschapsonderwijs (ARGO) für die Bildungseinrichtungen der Gemeinschaft zuständig ist. Nach Art. 59 bis § 2 belg. Verf. regeln die Gemeinschaftsräte 159 das Unterrichts wesen jeder in seiner Sache durch Verordnungen, wobei lediglich die Schulpflicht, die Mindestbedingungen zur Ausstellung der Diplome (Abschlüsse) und das Pensionierungswesens weiterhin der zentral staatlichen Regelung unterliegen. Aufgrund der spezifischen doppelten Differenzierung in Regionen und Sprachgemeinschaften erfährt auch das Bildungswesen eine über den föderalen Staatsaufbau in einem einheitlichen Sprachgebiet hinausgehende Differenzierung. Träger der Schulen und Bildungseinrichtungen ist nunmehr nicht mehr der Zentralstaat, sondern können sowohl die jeweiligen Sprachgemeinschaften, die Provinzbehörden, die Kommunen oder private Personen, freie Verbände und nicht am Gewinn orientierte Organisationen sein. Soweit die Gemeinschaften nicht selbst Träger der Schulen sind, d. h., die Schulen selbst einrichten, verwalten und aus ihrem Haushalt finanzieren, sondern von den Provinzen, 157 Stand 1. Oktober 1982, nach Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, Belgien, S. 3. 158 Mason, Peter, Independent Education, S. 6. 159 Nach Art 59 bis § 1 gibt es je einen Rat und eine Exekutive der französischen und der flämischen Gemeinschaft.
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Gemeinden eingerichtet und verwaltet oder von freien Trägem betrieben werden, erhalten diese von den Gemeinschaften erhebliche Subventionen. Die Schulaufsicht wird von den Gemeinschaften bzw. deren Organen - Ministerien oder ARGO - ausgeübt. Diese "berät die Lehrer und wirkt bei der Erstellung von Lehrpläne und der Entwicklung von Unterrichtsmethoden" der von den Gemeinschaften getragenen Bildungseinrichtungen mit und überwacht "die Einhaltung der Leistungsstandards in den (von der Gemeinschaft unterstützten) Schulen der Provinzen und Gemeinden sowie in den freien Schulen, obwohl die beiden letztgenannten Schulkategorien über eine eigene Aufsichtsinstanz verfügen,,16O. Nach der durch die Staatsreform 1989 eingeleiteten Errichtung der drei selbständigen Gemeinschaften haben die deutschsprachigen Schulen 1994 begonnen, je schuleigene standortbezogene Schulprofilplanungen zu entwikkeln l61 . Es ist dies die Fortsetzung des schon vor der Verfassungsreform durch das Schulgesetz von 1984 eingeleiteten Entwicklung zu einer stärkeren Autonomie der Schule, die schon Mitte der 80er Jahre dazu führte, daß 15 % der Unterrichtsstunden den einzelnen Schulen zur freien Gestaltung überlassen blieben l62 . Sofern die Schulen den relativ weitgefaßten Lehrplänen folgen, haben die einzelnen Schulen substantielle Selbstgestaltungsmöglichkeiten insbesondere bei der Auswahl für die Einstellung der Lehrer, die Kriterien der Leistungsbeurteilung sowie die Unterrichts methoden. Bildungspolitisch wird sowohl die stärkere Beteiligung der Eltern auch in den Schulen der Gemeinschaft bzw. Kommunen sowie die Öffnung der Einzelschule für das gesellschaftliche Umfeld angestrebt und gefördert, ohne daß man jedoch wie im niederländischen Bildungswesen von einer umfassenden Autonomie der Einzelschule sprechen könnte. Das belgische Bildungswesen ist mit seiner doppelten Komponente eines Selbstbestimmungsrechts der ethnisch-kulturellen Gruppen innerhalb eines nationalstaatlichen Gesamtgefüges und der im Prinzip bestehenden weitreichenden Gleichbehandlung von Schulen unabhängig von ihrer Trägerschaft ebenso wie das der Niederlande sturkturell ein Beispiel einer bürgerschaftlichen Schulverfassung. Gleichzeitig aber hat mit dem Prozeß der Dezentralisierung insbesondere durch die Übertragung von Hoheitsrechten im Unterrichtswesen auf die Ge160 Europäische Kommission (Hrsg.), Strukturen der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Europäischen Gemeinschaft, 1. Aufl. Brüsse11990, Belgien, S. 14 f. 161 Mayer, Werner G., Die vierjährige Grundschule - Hindernis auf dem Weg nach Europa?, DLZ 2111996, S. 9. 162 Fuchs, Jochen, Das belgisehe Schulsystem ist kaum zu durchschauen, DLZ 27-28 1996, S. 13.
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meinschaften auch die Frage des Schutzes der Minderheiten in den jeweiligen territorialen Gebieten an Evidenz gewonnen. Aus diesem Grunde wurden mit der Verfassungsreform von 1988 die Kontrollbefugnisse des Schiedsgerichtshofs explizit "auf die Kontrolle der gesetzgebenden Normen im Hinblick auf drei limitativ aufgezählte Grundrechte, nämlich das Gleichheitsprinzip, das Prinzip der Nicht-Diskriminierung und die Freiheit des Unterrichts" ausgedehnt, wobei die durch die Verfassungsreform von 1988 vorgenommene Übertragung fast aller Befugnisse im Unterrichtswesen auf die Gemeinschaften für die Minderheiten in Flandern und Wallonien auslösendes Moment waren, verfassungsrechtlich, in Art. 17 der Verfassung nunmehr verankerte, Garantien der Unterrichtsfreiheit, die vor dem Schiedsgerichtshof justitiabel sind, einzufordern 163 • c) Freies Schulwesen und Regionalisierung
Der besondere Charakter der verschiedenen Sprachgemeinschaften als kulturelle Gemeinschaften dokumentiert sich insbesondere an dem Verhältnis der staatlichen Schulen (Schulen der Gemeinschaft) zu den freien Schulen, wobei in den verschiedenen Gemeinschaften erhebliche Unterschiede festzustellen sind. Historisch gewachsen und die Grundstruktur der Schul verfassung in den Ländern der jeweiligen Muttersprachen widerspiegelnd ist hierbei die exponierte Stellung der freien Schulen im niederländischsprachigen Bildungswesen, wo im Jahre 198863,06 % freie Schulen und nur 17,95 % von der Gemeinschaft bzw. 18,99 % von den Provinzen und Gemeinden getragene Schulen waren. Im französischsprachigen Bildungswesen betrug der Anteil der freien Schulen im Jahre 1988 nur 39,43 %, während die von der Gemeinschaft getragenen Schulen 13:96 % und die von den Provinzen und Gemeinden getragenen Schulen 46,61 % ausmachten. Im deutschprachigen Bildungswesen hatten die freien Schulen im Jahre 1988 mit einem Anteil von 25,94 % nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung, während die Schulen der Gemeinschaft 31,72 % und die der Provinzen und Gemeinden 42,33 % ausmachten l64 • Gegenüber diesen Zahlen aus dem Jahre 1988 geht Fuchs in einem Beitrag aus dem Jahre 1996 davon aus, daß wie in den Niederlanden auch im niederländisch sprechenden Teil Belgiens im Jahre 1996 nahezu zwei Drittel aller Schulen in privater Trägerschaft sind und von 80 % der Schüler besucht werden. Nach Fuchs werden die "eigentlichen Staatsschulen ... im deutschsprachigen Raum von einem Drittel der Schüler besucht, im französischen beziehungsweise niederländischen hingegen nur von jedem siebten bis achten Schüler. Finanziert werden Alen, Andre, S. 527. Angaben nach Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Belgien, S. 14; s. hierzu auch Fuchs, Jochen, Bildungssystem(e) in Belgien, Schulmanagement 1992, S. 36 (37). 163
164
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
die kommunalen, provinzialen und privaten Schulen zum Teil durch die jeweiligen Institutionen der Sprachgemeinschaften, sofern sie in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht dem Mindeststandard entsprechen l65 .
d) Die veifassungsrechtliche Gewährung der Unterrichtsfreiheit und des Rechts auf Bildung Art. 24 der neuen Verfassung (in der Fassung vom 18.7.1988) enthält in Übernahme der Regelungen des Art. 17 der bel gis ehen Verfassung von 1831 eine weitreichende Gewährung der Unterrichtsfreiheit und gewährt umfassende LeistungsanspTÜche für den Besuch einer Schule unabhängig von ihrer Trägerschaft. Nach Art. 24 § 1 Belg. Verf. ist das Unterrichtswesen "frei", jede dagegen gerichtete präventive Maßnahme verboten und die freie Schul wahl der Eltern durch die Gemeinschaft gewährleistet. Gemäß Art. 24 § 3 Belg. Verf. hat jeder das Recht auf Unterricht unter Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten. Während der bestehenden Schulpflicht ist der Zugang zum Unterricht kostenlos, und nach Satz 3 dieser Vorschrift muß die Gemeinschaft die Kosten für die dem Schüler zustehende moralische oder religiöse Erziehung übernehmen. Hieraus folgt ein umfassender Finanzierungsanspruch von Schulen in freier Trägerschaft gerade aufgrund deren eigenständigen Erziehungsauftrages, weil die Gemeinschaft einerseits nach Art. 24 § 1 Belg. Verf. die freie Schulwahl der Eltern gewährleistet, andererseits aber die Gemeinschaft selbst, d. h. das staatliche Schulwesen, einem umfassenden Neutralitätsgebot unterliegt, welches sich in der Achtung vor den philosophischen, ideologischen oder religiösen Auffassungen der Eltern widerspiegelt und ihnen damit das Recht der freien Wahl zwischen einer neutralen staatlichen Schule und einer freien Schule ihrer Wahl einräumt. Hierbei sind die staatlichen Schulen verpflichtet, bis zum Ende der Schulpflicht die Wahl zwischen dem Unterricht einer der anerkannten Religionen oder der nicht-konfessionellen Moral zu ermöglichen. Dies umfaßt nicht nur die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts anerkannten katholischen, protestantischen und jüdischen Religionsgemeinschaften (die beiden letzteren durch Dekret vom 17. März 1808), sondern auch die anglikanische (Gesetz vom 4. März 1870), die islamische (Gesetz vom 19.7.1974) und die orthodoxe Kirche (Gesetz vom 17. Juni 1985)166. Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Bildungsfreiheit entspricht ungeachtet der Unterschiede in den einzelnen Sprachgemeinschaften im wesentlichen denen der Niederlande. Auch in Belgien liegt der Anteil der Schüler, die Fuchs, Jochen, Das belgische Schulsystem, S. 13. de Groof, Analysis of the "Legislation on Education of the Russian Federation". In: ders. (Hrsg.), Comments on the Law on Education of the Russian Federation. Leu165
166
ven 1994, S. 3.
I. Bürgerschaftlich-sozialstaatliche Schul verfassungen: Belgien
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nichtstaatliche Schulen besuchen, bei weit über 50 %, und der Maßstab der Bezuschussung ist für alle Schulen unabhängig von der Trägerschaft gleich. Aber ähnlich wie in den Niederlanden deckt die Bezuschussung nicht alle Kosten des Unterrichts, so daß die Schulen in freier Trägerschaft nicht vollständig finanziert werden. Dies gilt sowohl für den laufenden Unterrichtsbetrieb mit der Folge, daß trotz eines gleichen Bemessungsmaßstabs Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung ein Schulgeld erheben müssen und insbesondere bei den Ausgaben für die Schulgebäude nicht alle Kosten erstattet werden 167.
e) Schulvielfalt und die Rechtsstellung der freien Schulen Entgegen der Kategorisierung in anderen Ländern wird in Belgien der nichtstaatliche Sektor nicht als "privater" sondern als "freier Bildungssektor" bezeichnet. Belgien gehört innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft neben den Niederlanden zu den Ländern, in denen inzwischen fast 2/3 der Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft sind, wobei der Prozentsatz der Schüler, die diese Schulen besuchen, höher liegt als der prozentuale Anteil der freien Schulen am gesamten Schulsystem l68 . Die starke Stellung der "freien" Schulen, die im belgisehen Landesdurchschnitt mehr als 50 % der Kinder unterrichten, ist jedoch keinesfalls gleichzusetzen mit einer umfassenden pädagogischen Schulvielfalt. Vielmehr sind in allen drei Gemeinschaften die "freien" Schulen ganz überwiegend katholische Schulen, die über 90 % ausmachen. So gibt es in Belgien, ungeachtet des hohen Anteils von "freien" Schulen, nur 20 Waldorfschulen, 14 Freinetschulen, 4 Jenaplanschulen, 2 Montessorischulen, 3 Decrolyschulen, 2 Freie Alternativschulen und 8 sonstige, reformpädagogische Schulen in Lehrer-Eltern-Trägerschaft l69 . Hierbei ist nicht nur nach den Sprachgebieten in der Anzahl der Schulen eine deutliche Signifikanz zu erkennen, sondern auch nach der pädagogischen Ausrichtung. Während im französischen Sprachraum überwiegend Freinetschulen existieren, sind es im flämischsprachigen Gebiet vornehmlich Waldorfschulen, und die Jenaplanschulen sind auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. In diesem Kontext ist festzustellen, daß auch in Belgien trotz des relativ geringen Anteils von Schulen in Elternträgerschaft deren Anzahl z. B. bei den Waldorfschulen in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Waren
167
(506).
Leenknegt, Gert-Jan, Schulrecht in vergleichender Hinsicht, RdJB 1996, S. 503
168 Angaben im einzelnen in Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 26 ff. 169 Angaben nach Klaßen, Th.F.lSkiera, E. (Hrsg.), Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, 2. Auf!. Hohengehren 1993, S. 158 f.
12 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
es im Schuljahr 1989/90 noch 7 Waldorfschulen im Primarbereich, so betrug ihre Anzahl im Schuljahr 1996/9720 Schulen 170. Die freien Schulen unterscheiden sich in drei Kategorien: die konfessionellen Schulen, die neben den stark vertretenen katholischen Schulen auch protestantische, jüdische und islamische Schulen umfassen, die bekenntnisfreien Schulen, deren Unterricht weltanschaulich neutral ist, sowie die unabhängigen Schulen, die wie die Freinet- und Steiner-Schulen Schulen besonderer pädagogischer Prägung darstellen. Ferner unterteilen sich die freien Schulen in staatlich unterstützte und solche ohne Unterstützung. Hierbei müssen die staatlich unterstützten freien Schulen die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften über die Gestaltung des Unterrichtsprogramms sowie gewisse Anforderungen an die Schülerzahl einhalten l71 . Dabei ist nach einer Untersuchung der OECD die Entscheidungsbefugnis der nichtstaatlichen Schulen über die Bildungsplanung, Bildungsstruktur, zum Personalmanagement, zur Unterrichtsorganisation und zur Verwendung der Ressourcen im Schulbereich der Unterstufe weiterführender Schulen mit 73 % relativ hoch (im Gegensatz zu 26 % an staatlichen Schulen)172. Prinzipiell erfolgt in Belgien die Bezuschussung der Schulen in Elternträgerschaft durch den Staat bzw. seit 1989 durch die jeweiligen Gemeinschaften. Diese werden wie die kommunalen und sonstigen freien wie auch die wenigen Schulen der Provinzen finanziert, sofern entsprechende Mindeststandards in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht erfüllt werden 173. Voraussetzung ist allerdings, daß jede Schule ganz bestimmte Kriterien erfüllen muß, die den Mindestanforderungen der Gemeinschaft entsprechen. Hierzu gehören u. a. die Einhaltung des vom Bildungsministerium anerkannten oder genehmigten Lehrplans, die Anerkennung der Schulaufsicht, eine Mindestschülerzahl sowie die Einhaltung gesundheitspolizeilicher Vorschriften, wobei die pädagogischen Unterrichtsmethoden nicht der staatlichen Schulaufsicht unterliegen I74 . Die Träger der unterstützten Schulen sind in der Wahl ihrer Unterrichtsmethoden frei und haben gern. Art. 6 des Gesetzes vom 19. Mai 1959, dem sog. Schulpakt, das Recht, Stundentafel und Lehrplan selbst zu gestalten 175. 170 Nach Angaben des Bundes der Freien Waldorfschulen e.V. Deutschland, Erziehungskunst, 1997, S. 679. 171 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 9 f. 172 Zit. nach Glenn, Charles, Schule und Religion in den Vereinigten Staaten, RdJB 1996, S. 322 (339). 173 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 10; Fuchs, Jochen, Bildungssystem(e) in Belgien, S. 37 f. 174 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 10. 175 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 11.
I. Bürgerschaftlich-sozialstaatliche Schul verfassungen: Belgien
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Die Zuschüsse für die freien Schulen umfassen die laufenden Personal- und Betriebskosten. Allerdings besteht eine Wartefrist von zwei Jahren, in denen die Schule sich bewährt haben muß 176 • Dies umfaßt die direkten Gehälter des Lehrkörpers und sonstigen Personals sowie Zuschüsse zu den Betriebskosten einschließlich der Zuschüsse zu den Ausstattungs- und Investitionskosten, die jedoch nicht in vollem Umfang finanziert werden. In der flämischen Gemeinschaft erhalten die Schulen im Primarbereich Zuschüsse in Höhe von bis zu 70 % und in den übrigen Bildungsstufen bis zu 60 % der Kosten für den Kauf und Bau sowie die notwendigen Modernisierungs-, Erweiterungs- und Renovierungsarbeiten. In der französischen Gemeinschaft erhalten die Schulen dagegen keine direkten Zuschüsse, sondern 100 %ige Kredite mit günstigen Konditionen 177. Unterschiede in der Besoldung von Lehrkräften an öffentlichen und freien Schulen existieren in Belgien im Unterschied zu anderen Ländern in der Europäischen Gemeinschaft nicht 178 , so daß die Lehrer selbst an Waldorfschulen fast "Beamtenstatus" haben. Sofern die freien Schulen den staatlichen Standards entsprechen, sind deren Abschlüsse den Zeugnissen des staatlichen Bildungswesens gleichgestellt und als Berechtigung anerkannt. Die belgische Schulverfassung ist ähnlich wie die niederländische zwar von einer weitreichenden Gleichstellung zwischen den freien Schulen und den Schulen der Gemeinschaften und Provinzen geprägt, jedoch erfordert die Gewährung von Zuschüssen die Erfüllung der staatlich gesetzten Standards insbesondere hinsichtlich der Abschlußprüfungen und der Lehrmittel und Ausstattung. Hierin ist ein latentes Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Reglementierung und pädagogischer Freiheit in einer Art gegeben, durch die Schulen in freier Trägerschaft ihre pädagogische Freiheit partiell gefahrdet sehen. So hat eine Novellierung des Schulgesetzes in der flämischen Gemeinschaft im Jahre 1995 eine Harmonisierung der "Endziele" der verschiedenen Schulformen angestrebt, in denen die Mindestanforderungen für das Können der Schüler und die Lerninhalte bis ins Detail normativ festgelegt wurden. Durch dieses Gesetz sahen sich die Waldorfschulen in ihrer Unterrichtsfreiheit verletzt und haben hiergegen erfolgreich Klage erhoben. Mit Entscheidung vom 18.12.1996 hat der Schiedshof der flämischen Gemeinschaft als Verfassungsgericht entschieden, daß das Dekret den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit verletzt 179 •
Spies-Bong, Gertrud, S. 390. Eurydice (Hrsg.), Fonnen und Status, S. 11. 178 Fuchs, Jochen, Bildungssystem(e) in Belgien, S. 35 (38). 179 Schiedshof-Urteil Nr. 76/96 - v. 18.12.1996, Belgisch Staatsblad v. 31.1.1997, S. 1785. 176
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Der belgische Schiedshof hat dabei grundsätzliche Ausführungen gemacht, die in der europaweiten Diskussion um Qualitätssicherung durch Standardisierung im Spannungsverhältnis zur bürgerschaftlichen Konzeption der Unterrichtsfreiheit von Bedeutung über Belgien hinaus sein könnten 180. Nach Ansicht des Schiedsgerichtshofs garantiert Art. 24 § 1 der Verfassung, der besagt, daß das Unterrichtswesen frei, jede präventive Maßnahme verboten und die Wahlfreiheit der Eltern bei gleichzeitiger Neutralität des durch die Gemeinschaft organisierten Unterrichts gewährleistet ist, nicht nur das Recht auf Gründung und die Wahl zwischen Schulen verschiedener Anschauungen konfessioneller oder nichtkonfessioneller Art, sondern auch die Eigenart bestimmter pädagogischer und erzieherischer Auffassungen. Die Unterrichtsfreiheit im Sinne von Art. 24 § 1 der Verfassung beinhaltet für die Organisationsträger das Recht, ohne Bezugnahme auf eine bestimmte konfessionelle oder nichtkonfessionelle Weltanschauung, mit Inanspruchnahme der Finanzierung oder Bezuschussung durch die öffentliche Hand, einen Unterricht zu organisieren und anzubieten, dessen Eigenart in bestimmten pädagogischen oder erzieherischen Auffassungen begründet liegt\81. Damit korrespondiert ein Anspruch auf Bezuschussung, der seine Grenze in Erfordernissen allgemeinen Interesses einer angemessenen Unterrichtserteilung, bestimmten Schülerzahlen sowie den Grenzen der Finanzierbarkeit findet. In diesem Rahmen sei es durchaus zulässig, Mindestanforderungen als Voraussetzung für die Bezuschussung zu normieren, doch seien die in einem Dekret vom 22. Februar 1995 festgelegten ,,Entwicklungszielsetzungen und Endziele" des Primarschulunterrichts so "umfassend und detalliert ... , daß vernünftigerweise nicht behauptet werden kann, es handele sich um Mindestzielsetzungen, zumal sie zur Verwirklichung des eigenen pädagogischen Projekts zu wenig Spielraum lassen. Insofern wird die Unterrichtsfreiheit angetastet... Dadurch, daß der Dekretgeber die im Erlaß der Flämischen Regierung vom 22. Juni 1994 festgelegten ... Entwicklungsvoraussetzungen und Endziele ... bestätigt, ohne selbst ein Verfahren zu organisieren, nach dem in beschränktem Maße Abweichungen zugunsten von Anstalten (wie vorliegend die Rudolf-Steiner-Schule, F.-R.J.) gewährt werden könnten, die unter Beachtung. der Grundrechte und -freiheiten und ohne Beeinträchtigung von Qualität und Inhalt des Unterrichts einen Unterricht erteilen bzw. erteilen möchten, der auf besonderen pädagogischen Auffassungen beruht, verstößt er gegen die durch Art. 24 § 1 der Verfassung gewährleistete Unterrichtsfreiheit,,182. Mit diesem Urteil erkennt der Schiedshof den Grundsatz der Schulvielfalt im Rahmen einer umfassenden Gleichstellung und Gleichbehandlung auch solcher Schiedshof, S. 1801. Schiedshof, S. 1802. 182 Schiedshof. S. 1802. 180 181
11. Das bürgerschaftliche Bildungssystem in Dänemark
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Schulen, die allein aufgrund einer besonderen pädagogischen Prägung als bürgerschaftliche Schule das staatliche oder - wie in Belgien traditionell stark vertreten - kirchliche Schulwesen ergänzen, an. Hierbei verknüpft der Schiedshof die Prinzipien pädagogischer Freiheit der einzelnen Schule mit dem gesamtgesellschaftlicher Verantwortung durch das Prinzip der Gleichwertigkeit statt Gleichartigkeit. Er anerkennt die Möglichkeit pädagogischer Eigenverantwortung im Rahmen einer - als Voraussetzung des freien Zugangs unersetzlichen - grundsätzlich gleichberechtigten Finanzierung, so daß Unterrichts freiheit und Sozialstaatlichkeit nicht als Gegensätze erscheinen, sondern sich gegenseitig bedingen. Insgesamt erscheint damit die belgische Schulverfassung ähnlich der niederländischen normativ wesentlich durch bürgerschaftlich-sozialstaatliche Elemente geprägt.
11. Das bürgerschaftliche, kommunal-dezentralisierte Bildungssystem in Dänemark 1. Die historische Entwicklung des Bildungswesens Ebenso wie die Niederlande hat auch Dänemark eine Schulverfassungstradition, die den Einfluß des Staates begrenzt und diesem einen umfassenden Zugriff auf das Schulwesen verwehrt. Sie basiert auf dem dänischen Grundgesetz von 1849, in welchem im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Staaten nicht der umfassende Zugriff des Staates auf die Schule, sondern im Gegenteil anstatt einer allgemeinen Schulpflicht lediglich eine allgemeine Unterrichtspflicht normiert wurde, die die Gründung freier Schulen ebenso erlaubte wie eine Unterrichtung durch die Eltern selbst. Diese Ausgestaltung der dänischen Schulverfassung ist Ausdruck des starken Einflusses der spezifisch dänischen Bewegung zur nationalen, religiösen und sozialen Erneuerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von dem Theologen Nikolai Grundtvig geführt wurde. Die schulpolitische Grundüberzeugung der Grundtviganer war, daß Erziehung und Unterricht keine Staatsangelegenheit, sondern Sache der Eltern seien und das Lernen in die das Kind umgebende (bäuerliche) Arbeitswelt eingebunden sein sollte. Diese freiheitliche Schulverfassung ist in Dänemark fest verankert. So schreibt schon die Verfassung Dänemarks von 1849 die liberale Grundordnung der Schul verfassung fest, indem dort allein der Anspruch auf unentgeltlichen Volksschulunterricht in Art. 76 Satz 1 und das Recht der Eltern, ihre Kinder selbst zu unterrichten, sofern die Kinder einen Unterricht erhalten, der den allgemeinen an den Grundschulunterricht gestellten Anforderungen entspricht, in Art. 76 Satz 2 geregelt ist. Diese Verfassungsrechtslage gilt bis heute und ist in § 76 der dänischen Verfassung vom 5.6.1953 aufgenommen worden. So enthal-
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
ten die dänischen Schulverfassungsbestimmungen Grundrechtsverbürgungen zugunsten der Bürger, die die liberale Schulverfassungstradition erklären 183 . Im Gegensatz zur niederländischen Verfassung begründet die dänische Verfassung jedoch keine Leistungsansprüche zugunsten von Schulen in freier Trägerschaft, so daß sich die Freiheitsgewährungen verfassungsrechtlich auf reine Abwehrrechte beschränken. Prägendes Merkmal der dänischen Schulverfassung ist danach die sowohl in der Verfassung als auch die in den Folkeskole-Gesetzen von 1976 und 1993 deutlich zum Ausdruck kommende primäre Erziehungsverantwortung der EItern l84 , der gegenüber der staatliche Schulerziehungsanspruch nur subsidiär ist. Das neue Schulgesetz aus dem Jahre 1993 hat diese Elternverantwortung noch weiter gestärkt l85 . Dieses liberale Schulverfassungsverständnis, welches es den Eltern ermöglicht, ihre Erziehungsvorstellungen weitreichend geltend zu machen, hat nicht nur im Bereich der Schulen in freier Trägerschaft, sondern gerade auch im öffentlichen Schulwesen zu einer umfassenden Dezentralisierung des Schulsystems unter gleichzeitiger Gewährung von substantiellen Mitentscheidungsrechten der Eltern geführt, in deren Folge sich eine Schullandschaft mit vielfältigen, insbesondere auch reformpädagogischen Ansätzen entwickeln konnte. Hierbei ist entscheidend, daß innerhalb des dänischen Schulwesens sowohl in den "öffentlichen" als auch in den nichtstaatlichen Schulen weitreichende pädagogische Gestaltungsfreiräume bestehen, wobei im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern keine Gleichsetzung dergestalt vorgenommen werden kann, daß reformpädagogische oder alternative Schulen stets Schulen in freier Trägerschaft wären und staatliche oder kommunalen Schulen stets stellvertretend für ein didaktisch kognitiv-abstrakt orientiertes Lernen stünden. Der liberalen Tradition entsprechend gibt es in Dänemark im Rahmen der bestehenden Unterrichts- statt Schulpflicht die Form des individuell organisierten häuslichen Unterrichts. Hiervon machen ca. 100 Familien Gebrauch l86 , so daß man diese Form des Lernens im Gegensatz zu der zunehmende Bedeutung in den USA als marginal bezeichen kann. Im Rahmen dieser Unterrichts pflicht prüfen die kommunalen Behörden ähnlich wie in Österreich, ob das Kind in den zentralen Lernfächern die Fertigkeiten erreicht hat, die es vermutlich in einer Folkeskole erreicht hätte. Hierbei überprüft die Behörde nur die kognitven 183 Vgl. zur Rechtslage insgesamt, Thygesen, Frants, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich in Dänemark, EuGRZ 1981, S. 629 ff. 184 s. a. Lemke, Dietrich, S. 90 f. 185 s. hierzu de Larent, Hans Peter, Keine Angst vor Eltern - Autonomie und Elternbeteiligung nach der dänischen Schulreform, Hamburg macht Schule 1995, S. 20 f. 186 Angabe nach Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark. In: SeyfahrtStubenrauch, EckhardiSkiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 439.
11. Das bürgerschaftliche Bildungssystem in Dänemark
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Fähigkeiten des Kindes. Die weltanschauliche, didaktische oder sonstige pädagogische Ausrichtung des Unterrichts ist nicht Gegenstand der Überprüfung I87 • Während die Niederlande ein exemplarisches Beispiel für ein Schulwesen mit einer starken Stellung von Schulen in freier Trägerschaft darstellen, innerhalb dessen Handlungsmöglichkeiten für eine bürgerschaftliche Schule möglich sind, ist Dänemark ungeachtet dessen, daß Schulen in freier Trägerschaft den staatlichen und kommunalen Schulen nicht in gleicher Weise wie in den Niederlanden gleichgestellt sind, ein positives Beispiel einer bürgerschaftlichkommunalen Schulverfassung und der Ermöglichung von Schulvielfalt und einer partizipatorischen Schulgestaltung innerhalb des öffentlichen Schulwesens.
2. Dezentralisierung, Vielfalt und pädagogische Autonomie im staatlich-kommunalen Schulwesen Für das Bildungswesen in Dänemark ist eine weitreichende Dezentralisierung bis hin zur kommunalen Ebene signifikant. Die allgemeinen Bildungsziele sowie Leitlinien für die Curricula und Unterrichtshilfen werden zwar vom Bildungsministerium erlassen, diese Leitlinien haben jedoch im Folkeskolebereich nur Empfehlungscharakter und erhalten ihre Verbindlichkeit erst durch entsprechende Verordnungen oder Weisungen der Gemeinde l88 , so daß es den Gemeinden und den Schulen weitgehend selbst überlassen bleibt, wie sie die ministeriellen Vorgaben inhaltlich und organisatorisch ausfüllen l89 • Das Folkeskole-Gesetz von 1993 regelt zwar die Pflichtfacher, das Wochenstundenminimum, die Prüfungsmodalitäten und umreißt allgemein die Unterrichtsziele, überläßt die Umsetzung aber der dezentralen Entscheidungsebene l90 . Die einzelnen Schulen besitzen einen weiten pädagogischen Spielraum bei der Umsetzung dieser Rahmenvorgaben \91. Die Folkeskole, die als eine neunjährige Einheitsschule die Grundschule und die Unterstufe der Sekundarstufe in sich vereint und in der es bis zur 7. Klasse zwar mindestens zweimal jährlich Informationen über die Lemfortschritte der Kinder und deren schulische Beurteilung, aber keine äußere Leistungsdifferenzierung in Form verschiedener Schulformen oder in Form von Noten gibt l92 , unterliegt auch in den inneren Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 439. s. Lemke, Dietrich, S. 92. 189 Vgl. Gogolin, Ingrid, Ansätze zum interkulturellen Lernen in Dänemark. MünsterlNew York 1990, S. 15. 190 de Lorent, Hans Peter, S. 20. 191 s. a. Lemke, Dietrich, S. 92. 192 Vgl. Gogolin, Ingrid, S. 13; Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, S.25. 187 188
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Schulangelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung l93 • Von der 8. Klasse an setzt eine Differenzierung ein, die dadurch zum Ausdruck kommt, daß der Unterricht in Fächern wie Mathematik, Englisch, Deutsch zunehmend auf zwei Niveaus erteilt wird und in denjenigen Fächern, die Gegenstand eines - freiwilligen - Abschlußexamens sein könnten, Zensuren innerhalb einer dreizehnstufigen Notenskala verteilt werden l94 • Strukturell ist dies Ausdruck des mit der Einführung des integrierten Gesamtschulsystems 1958 eingeleiteten Abbaus sozialer Selektion mit der Möglichkeit, gleichwohl differenzierte Leistungsangebote zu machen. Insbesondere im Folkeskolebereich besteht für die Schulen auf kommunaler Einzelschulebene ein erheblicher pädagogischer Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden, während im Sekundarbereich 11 das Bildungsministerium die ausschließliche curriculare Verordnungskompetenz besitzt l95 • Diese Eigenständigkeit im Primarbereich ist durch das Schulgesetz vom 30. Juni 1993 (loy om folkeskolen) weiter gestärkt worden. Eine Vergleichbarkeit und Qualitätssicherung der Bildung soll angesichts dieser Freiräume durch eine zentrale Abschlußprüfung am Ende der 9. Klasse bzw. nach Abschluß der freiwilligen 10. Klasse gesichert werden. Es handelt sich um eine durch das Ministerium in allen Schulen identische. zum gleichen Zeitpunkt durchgeführte Abschlußprüfung mit zentraler Aufgabenstellung und externer Bewertung durch das Ministerium in den Fächern Dänisch, Mathematik. Englisch und je nach Kurswahl und Schulangebot frei zu wählenden Fächern l96 • Angesichts der weitreichenden pädagogischen Freiheiten der einzelnen Schule und Beschränkung der zentralen Prüfungen auf wenige Kernfacher verwirklicht das dänische Bildungssystem den Grundsatz der Gleichwertigkeit statt Gleichartigkeit, indem zwar ein verbindliches Ziel schulischer Lernprozesse gesamtgesellschaftlich vorgegeben ist, der Weg dorthin aber der einzelnen Schule überbleibt. Hierbei kommt der einzelnen Schule als "Bürgerschule" ein substantieller Gestaltungsspielraum zu. Die Kommune ist danach der eigentliche Träger des dänischen Bildungswesens und besitzt einen weitgehenden Einfluß auf die Unterrichtsorganisation und -gestaltung. Die gemeindliche Kompetenz umfaßt nicht nur die Entscheidungen über den Haushalt, die Einstellung und Entlassung von Lehrern und Schuldirektoren (mit Ausnahme der Entlassung von Dauerstelleninhabern - diese kann nur das Ministerium vornehmen) sowie die Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, S. 22. Gogolin, Ingrid, S. 13 f. 195 Lemke, Dietrich, S. 92; Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 38. 196 s. hierzu Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 437 f. 193
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11. Das bürgerschaftliche Bildungssystem in Dänemark
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Festsetzung von Klassenstärken, Schüler-Lehrer-Relationen und Schulstunden, sondern auch über die konkreten Lehrinhalte und außercurricularen Unterrichtsangebote l97 • Prozedural zeichnet sich das starke kommunale Bestimmungsrecht dadurch aus, daß der Gemeinderat sowohl über das konkrete Curriculum der einzelnen Schule als auch über die Schulbetriebsverfassung der einzelnen Schule, d. h., deren Recht auf Selbstverwaltung, entscheidet. Hierbei werden "in der Praxis ... eine Vielzahl von grundsätzlich gemeindlichen Zuständigkeiten dem Schulausschuß überantwortet, was zur Folge hat, daß sich nicht nur von Gemeinde zu Gemeinde, sondern auch innerhalb derselben Gemeinde die einzelnen Schulen nicht nur in unwesentlichen Dingen voneinander unterscheiden,,198. Die Dezentralisierung des Bildungswesens ist durch das neue FolkeskoleGesetz normativ weiter verankert worden, indem die Rahmenvorgaben für den Unterricht in den §§ 3 bis 19 weite Gestaltungsspielräume für die einzelnen Schulen belassen. Ferner versucht die Folkeskole der Persönlichkeitsentfaltung des Kindes dadurch besser gerecht zu werden, daß die Schüler-Lehrer-Relation mit 1 : 12 sehr niedrig ist und hohe Zuwendungsmöglichkeiten gewähren soll und es sich bei den Abschlußprüfungen der Folkeskole um Prüfungen handelt, bei denen die Schüler die Fächer überwiegend selbst auswählen l99 • Hierbei hat der Lehrer eine umfassende pädagogische Freiheit, ist aber gleichwohl gehalten, in besonderer Weise das einzelne Kind zu fördern. So ist er insbesondere in der Wahl seiner Methoden frei, soll aber stets den Unterricht auf den Entwicklungsstand des einzelnen Kindes abstellen und gleichermaßen intellektuell, emotional und sozial fördern 200 .
3. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die "bürgerschaftlich-kommunaIe Schule in Elternträgerschaft" Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo die preußisch-etatistisehe Tradition des Art. 7 GG nicht nur vom Vorrang des "öffentlichen" Schulwesens, sondern auch von einer explizit staatlichen Bestimmungsgewalt über die Schule ausgeht, der gegenüber die Kommunen als formeller Schulträger nur über die äußeren baulichen Rahmenbedingungen Einfluß auf das Schulwesen nehmen können, besteht in Dänemark ein "echtes" kommunales Bildungswesen 197 lach, Frank-Rüdiger, Autonomie der Schule in anderen europäischen Ländern. In: de Lorent, Hans-Peter/Zimdahl, Gudrun (Hrsg.), Autonomie der Schulen. Hamburg
1993, S. 114 (115). 198 Fuchs, Jochen, Das dänische Bildungswesen, Schulmanagement 1993, S. 37 (39). 199 Vgl. hierzu Fuchs, Jochen, Die Folkeskole stand am Anfang der europäischen Gesamtschulentwicklung, DLZ 27/28 1996, S. 14; Gogolin, Ingrid, S. 13 f. 200 s. hierzu Berg, Jens, Schule in Dänemark, Pädagogik 1995, S. 24 (26).
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mit für deutsche Verhältnisse unvergleichbaren Einflußmöglichkeiten der gewählten Elternverteter. Gemäß §§ 1 und 2 i.V.m. §§ 40 ff. des Folkeskole-Gesetzes in der Fassung vom 17. Januar 1995 sind die Folkeskolen, die mit den Eltern kooperieren sollen, Eigentum und Angelegenheit der Kommunen. Rahmenbedingungen und Ziele der Schulen in der Gemeinde werden durch den Rat der Gemeinde, ohne in die pädagogische Freiheit der Einzelschule eingreifen zu dürfen, festgelegt. Die Kommune weist dementsprechend den Schulen auch die notwendigen Haushaltsmittel zur selbständigen Verwendung zu, bestellt und entläßt den Schulleiter, bestimmt die Zahl der Unterrichtsstunden innerhalb des gesetzlich geregelten Spielraums und legt die Klassengröße fest. Der Lehrerrat einer Schule legt zwar selbständig den konkreten Lehrplan fest, dieser bedarf aber der Zustimmung der Kommunalverwaltung auf Vorschlag des Schulvorstandes unter der dominierenden Mitwirkung der Elternvertreter. Bei alledem ist der Schulleiter als Vorgesetzter der Lehrer Träger der pädagogischen und verwaltungsmäßigen Verantwortung sowohl gegenüber dem Schulvorstand (School Board) als auch gegenüber dem Rat der Kommune (Gemeindeparlament). Eigentliches Entscheidungsorgan über die pädagogische Arbeit der einzelnen Schule ist jedoch nicht die Kommune, sondern der Schulvorstand, in dem die Eltern über die absolute Mehrheit verfügen. Ausgangspunkt der starken Selbstverwaltungsrechte der Einzelschule und der Eltern ist das am 1.1.1990 in Kraft getretene Schulverwaltungsgesetz, wonach jede Schule die Schulangelegenheiten in Selbstverwaltung regelt und sich die entsprechenden Gremien aus Eltern- und Lehrervertretern sowie Schülervertretern, letztere allerdings ohne Stimmrecht, zusammensetzen. Hierbei kommt den Eltern in der Schulkonferenz als dem zentralen Selbstverwaltungsorgan eine dominierende Stellung zu. Diese stellen nach dem Schulverwaltungsgesetz vom 1.1.1990 nicht nur den Vorsitzenden der Schulkonferenz, sondern verfügen über die absolute Mehrheit der Stimmen (7 von 13) und sind allein voll stimmberechtigt, während die zwei Lehrervertreteter, deren Platz auch durch nichtunterrichtendes Personal eingenommen werden kann, nur dann stimmberechtigt sind, wenn die örtlichen Bestimmungen dies vorsehen. Diese starke Stellung der Eltern ist durch das Folkeskole-Gesetz über öffentliche Schulen vom 30.6.1993 (ebenso in der Fassung vom 17.1.1995) noch wesentlich erweitert worden. Durch dieses neue Schul gesetz sind an jeder Schule Schulvorstände etabliert worden, die sich gern. § 42 Folkeskole-Gesetz aus 5 bzw. 7 Elternvertretern, 2 Vertretern der Lehrer und anderen Mitarbeitern sowie 2 Schülern zusammensetzen. Dieser Schulvorstand verwaltet gern. § 44 Folkeskole-Gesetz das von der Kommune als dem Betreiber und Träger der Schule zu beschließende Schul budget, beschließt die Organisation des Unterrichts und das besondere pädagogische Profil einer Schule durch die Erstellung der - ggf. von den Vorschlägen des Ministeriums abweichenden - Lehrpläne und Unterrichtsformen und macht Vorschläge für die Einstellung und Entlassung von Lehrern und die Berufung des Schulleiters.
11. Das bürgerschaftliche Bildungssystem in Dänemark
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Diese Entscheidungen der Schulvorstände bedürfen zwar der Genehmigung des Gemeinde- oder Stadtrates, doch wird in der Praxis diesen Vorschlägen bei klaren Elternmehrheiten in der Regel gefolgt2ol • Die kommunale Schul verwaltung bezieht so die Eltern substantiell in die schulischen Angelegenheiten ein. Ergebnis dieser Partizipationsrechte ist eine reichhaltige Schul vielfalt auch im öffentlichen Schulwesen, die die verschiedensten Reformansätze ermöglicht202 • Dänemark ist damit das Land in der Europäischen Gemeinschaft, in dem im staatlich-kommunalen Schulwesen den Eltern der größte Einfluß in der Schulkonferenz zukommt203 . Die "schwache Stellung" der Lehrer korrespondiert damit, daß die Lehrer nicht verbeamtet sind und nicht auf Lebenszeit eingestellt werden und zudem die Schulleitung nach dem Rotationsprinzip wahrgenommen wird204 • Basis für den Einfluß der Eltern auf die inhaltliche Ausgestaltung der pädagogischen Arbeit der Einzelschule ist hierbei die Befugnis der einzelnen Schule, über die Unterrichtsorganisation, die Anzahl der zu unterrichtenden Stunden für jede Bildungsstufe, die Wahlfächer, den Förderunterricht, die Verteilung der Schüler und die Aufgaben der Lehrer sowie über die Lehrmaterialien einschließlich der zu verwendenden Schulbücher, die vom Schulleiter vorgeschlagen werden, zu entscheiden sowie innerhalb des von der Zentralregierung festgelegten, aber einen weiten Spielraum lassenden Rahmens Vorschläge für das Curriculum zu unterbreiten, denen allerdings der Gemeinderat zustimmen muß205 . Neben den inhaltlichen Bestimmungsbefugnissen sollen die Schulkonferenzen zudem anstelle von Schulaufsichtsbehörden Selbstevaluierungsaufgaben wahrnehmen, indem sie die Aufsicht über den Schulbetrieb und die schulischen Aktivitäten führen. Nach dem Gesetz über die staatlichen Schulen ("Folkeskoleloven") von 1989 setzt die Schulkonferenz Maßstäbe für die schulische Arbeit und legt die Richtlinien für alle Schulangelegenheiten schriftlich nieder, wobei die Beschlüsse mit dem Gemeinderat als der Kontrollinstanz der kommunalen Schulen abgestimmt sein müssen 206 • Die Schulkonferenz muß zudem dem Haushalt der Schule zustimmen, der auf Vorschlag des Schulleiters erarbeitet wird207 , wobei letzterer auf Empfehlung der Schulkonferenz durch den Gemeinderat ernannt wird 208 • 201 202
s. hierzu Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 446. Vgl. hierzu auch Verworn, Michael, Pädagogische Beispiele aus Dänemark, DLZ
19/1991, S. 8.
Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 58. Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 446. 205 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 66. 206 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 61. 207 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 62. 208 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 67. 203
204
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Die eng mit den Interessen der Kommune unter Einbeziehung der Eltern verbundene Autonomie der Einzelschule wird nicht nur durch weitreichende Selbstregelungsbefugnisse auch im curricularen Bereich ermöglicht, sondern durch ein entscheidendes Strukturmerkmal, welches Dänemark in der Struktur des Bildungswesens deutlich von den anderen europäischen Ländern unterscheidet, als nämlich Dänemark im Bereich der Primarbildung und der Unterstufe der Sekundarbildung kein formales Schulaufsichtssystem kennt, sondern statt dessen extern auf staatlicher und kommunaler Ebene allein Beratungsdienste anbietet209 und intern auf eine systematische Selbstevaluierung abzielt, die auf der Grundlage von Richtlinien des Bildungsministers zu erfolgen hat2 \O. Die Öffnung der Folkeskolen für reformpädagogische Elemente wird dabei als Anwort auf die Herausforderungen der Privatschulen verstanden, und diese Elemente werden aufgenommen. Hierbei gehen Autoren wie Bodenstein davon aus, daß bei einer zu langsamen Umsetzung reformpädagogischer Inhalte ein weiteres Anwachsen der Privatschulen die Folge wäre211 •
4. Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft In Dänemark besuchen - mit steigender Tendenz - ca. 12 % der unterrichtspflichtigen Kinder Schulen in freier Trägerschaft, wobei sich die Schulen in freier Trägerschaft in zwei Hauptgruppen unterscheiden, die "freien Schulen" (Friskoler) und die "realistischen Schulen" (Realskoler). Innerhalb eines Spektrums von 600-700 Schulen finden sich so sowohl reformpädagogisch oder alternativ orientierte Schulen wie Freinet-, Montessori-, Grundtviganer- oder Waldorfschulen im Bereich der Friskoler als auch spezifisch dänisch geprägte Schulen in der Tradition der bedeutenden dänischen Pädagogen Grundtvig und Kold sowie kirchliche Schulen, deren Spannweite von Schulen in der Tradition der von Grundtvig geprägten dänischen religiösen-nationalen Erweckungsbewegung bis hin zu katholischen, lutherischen und islamischen Schulen reicht. Daneben gibt es die leistungsorientierten, sich als Gegenpol zum vermeintlich sozialistischen System der Folkeskole verstehenden Realskoler, die ca. 110 Schulen ausmachen 212 • Außerdem sind noch die 15 deutschen Minderheitenschulen in Nordschleswig zu erwähnen. Die dänischen Schulen in freier Trägerschaft entsprechen im Grundschulbereich der Schulform der Folkeskolen, d. h., es handelt sich um nichtselektive Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 112. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 129. 211 Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 448. 212 s. hierzu Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark; Leunbach, Gustav, Private Schulen in Dänemark - eine Übersicht, endlich 2/1992, S. 10. 209
2\0
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Gesamtschulen. Die privaten Schulen können die Kriterien der Schülerberwertung selbst festsetzen, unterliegen aber ebenso wie die Folkeskole der zentralen Abschlußprüfung nach der 9. bzw. freiwilligen 10. Klasse. Bodenstein213 nennt innerhalb des Spektrums der 439 freien integrierten Gesamtschulen in Entsprechung der Folkeskolen im einzelnen folgende Zahlen: 172 Friskoler in der Tradition Grundtvigs und Kolds; 112 Realskoler; 30 Lilleskoler in ihrem Eigenverständnis als sozialistische Alternative zur vermeintlich konservativen Folkeskloe; 20 Waldorfschulen; mehr als 70 protestantisch-fundamentalistische, neu apostolische und katholische Schulen als christliche Alternative zur pluralistisch säkularisierten Folkeskole; zahlreiche islamische Privatschulen sowie diverse jüdische, französische und englischsprachige internationale Privatschulen. Daneben bestehen außerhalb des Folkeskolebereichs eine Reihe von Oberstufengymnasien sowie 210 sog. Nachschulen (Efterskoler) für die Klassen 8-10 sowie ca. 110 Heimvolksschulen (höjskoler) für Schüler ab 18 Jahren. Während der Hauptanteil der freien Schulen im Folkeskolebereich liegt, bestehen auf der Ebene der Sekundarstufe TI lediglich ca. 20 Privatschulen, von denen einige konfessionell orientiert sind und zwei zu den internationalen Schulen gehören 214 • a) Gründungsfreiheit für Schulen in freier Trägerschaft
Deutliches Kriterium für den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit im dänischen Bildungswesen ist nicht nur das Bestehen einer Unterrichtungs- statt einer Schulpflicht, sondern auch die Reichweite der Gründungsfreiheit für Schulen in freier Trägerschaft. Diese stehen nicht wie in der Bundesrepublik Deutschland die sog. Ersatzschulen - zumal dort im Grundschulbereich äußerst restriktiv - unter einem Genehmigungsvorbehalt der Schulaufsichtsbehörde, sondern das Gesetz sieht lediglich eine Anmeldepflicht für die Aufnahme des Schulbetriebes vor, die zur Anerkennung als Schule eine gewisse Mindestschülerzahl nachweisen muß215 . Allerdings muß der Bildungsminister die Satzung der Privatschulen, die Einrichtungen des Privatrechts sein müssen, genehmigen 216 • Der Grundsatz der Unterrichtsfreiheit gilt auch im Bereich der sog. Nachschulen (Efterschulen). Hierbei handelt es sich um private Internate für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die dieselbe staatliche Unterstützung wie die privaten Volksschulen und weitestgehende Lehrplanfreiheit genießen. Die derzeit bestehenden ca. 215 Efterskoler verstehen sich als Bindeglied zwischen Schule, Studium und Beruf und haben die unterschiedlichsten Ausprägungen. Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 438 f. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 17. 215 12 Kinder für das 1., 20 Kinder für das 2. und 28. Kinder für das 3. Betriebsjahr. 216 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 17. 213
214
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So gibt es sowohl Efterskolen, die eine breite Allgemeinbildung vermitteln wollen (57 %), als auch berufs vorbereitende Schulen, die z. B. auf Sport, Musik oder Theater spezialisiert sind. Darüber hinaus gibt religiös orientierte Schulen, und 13 % der Efterskolen sind sonderpädagogisch ausgerichtet2I7 . Innerhalb dieses Spektrums weisen ca. 20 % der Schulen einen stark vom staatlichen Unterricht abweichenden Lehrplan auf. Die Efterskolen müssen zwar ihren Lehrplan zur staatlichen Genehmigung vorlegen, um anerkannt zu werden und damit die notwendigen Subventionen zu erhalten. Doch wird in der Verwaltungspraxis dieses Anerkennungsverfahren sehr extensiv gehandhabt, so daß faktisch jede Schule ihre Unterrichtsgenehmigung erhält, sofern sie nur eine minimale Allgemeinbildung garantiert218 • Die Efterskolen sind darüber hinaus zur Vergabe von Berechtigungen in Form der Abnahme der Abschlußprüfungen für die 9. und (freiwillige) 10. Volksschulklasse, die von ca. 50 % der Schüler absolviert wird, berechtigt219 •
b) Die staatliche Bezuschussung von Schulen infreier Trägerschaft Der das dänische Schulsystem prägende Gedanke der Schulfreiheit (skolefrihed) findet seinen Ausdruck auch in der finanziellen Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft. Danach erhalten diese seit der Neufassung des Privatschulgesetzes im Jahre 1991 nach einem neu eingeführten Finanzierungsverfahren prinzipiell den gleichen Zuschußbetrag wie Schüler an Gemeindeschulen, abzüglich des von den Eltern zu tragenden Schulgeldes. Zudem regelt das Gesetz die finanzielle Gleichstellung von Lehrkräften an staatlichkommunalen und freien Schulen dahingehend, daß die Mitarbeiter einer Privatschule dieselben Löhne erhalten müssen, wie diejenigen einer staatlichen Schule. Die Zuschüsse werden berechnet auf der Grundlage der laufenden Kosten pro Schüler. Diese decken einschließlich der investiven wie laufenden Sachkosten zwischen 82 und 85 % der gesamten Betriebskosten im Folkeskolebereich ab. Im Durchschnitt erhielten die Privatschulen 1995 umgerechnet ca. 7.400 DM an Zuschüssen pro Schüler, wobei die Kosten eines Schülers der Folkeskole zwischen 8.000 und 9.000 DM lagen220 . Die allgemeine Zugänglichkeit der Schulen wird dadurch gesichert, daß nach dem Privatschulgesetz ein zu erhebendes Schulgeld kein finanzielles Hindernis für einkommensschwache Eltern, die eine bestimmte Schule für ihr Kind wählen wollen, sein 217 s. Näf, Martin, Die dänischen Efterskolen zwischen Schule, Studium und Beruf, endlich 2/1992, S. 20. 218 s. Näf, Martin, Schulen in Dänemark, endlich 2/1992, S. 21. 219 Näf, Martin, Schulen in Dänemark, S. 21. 220 Bodenstein. Eckhard. Länderstudie Dänemark. S. 440.
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darf und daher jede Schule gesetzlich verpflichtet ist, 10 % ihrer Schulplätze als sog. Freiplätze solchen Schülern vorzubehalten, deren Eltern das monatliche Schulgeld nicht aufbringen können. Das Privatschulgesetz sieht vor, daß Privatschulen, die ein gegenüber dem durchschnittlichen Schulgeld - in Höhe von jährlich ca. 6.000 DKK - zu hohes Schulgeld verlangen, ihren Anspruch auf Bezuschussung verlieren221 . Erziehungswissenschaftler gehen davon aus, daß angesichts der insgesamt moderaten Gebühren und der Gebührenerlaßverpflichtung die Schulen in freier Trägerschaft auch Schülern aus der Arbeiterschicht offenstehen und die Gefahr einer Elitenbildung in Dänemark nahezu ausgeschlossen ist222. Dementsprechend kommen auch Untersuchungen von Eurydice zu dem Ergebnis, daß Privatschulen in Dänemark nicht als elitäre Einrichtungen betrachtet werden 223 • Im Rahmen der Diskussion um den Multikulturalismus werden auch in der dänischen Bildungspolitik die Grenzen der pädagogischen Freiheit hinsichtlich des kulturellen Minimums im Zusammenhang mit dem Entstehen islamischer Schulen diskutiert, wobei derzeit der Grundsatz der skolefrihed "als ein so hohes Gut aufgefaßt (wird), daß auch diejenigen Privatschulen, die nicht auf dem Boden der dänischen Kultur stehen, in den Genuß der großzügigen staatlichen Förderung kommen,,224. Die materielle Rechtsstellung der freien Schulen in Dänemark entspricht weitestgehend dem Selbstverständnis der bürgerschaftlichen Schule. Die staatlichen Zuschüsse in Höhe bis ca. 85 % der tatsächlichen Betriebskosten225 werden unter dem Aspekt der Gleichwertigkeit des Unterrichts ("Vergleichbarer Unterricht") jedoch teilweise nur bis zur 10. Klasse gewährt226 , so daß die Eltern von Schülern an reformpädagogisch orientierten Schulen wie den Waldorfschulen im Primarbereich und Sekundarbereich I ein Schulgeld von durchschnittlich ca. 150 DM im Monat227 , im Sekundarbereich 11 jedoch ein noch darüber hinausgehendes Schulgeld bezahlen müssen. Dies liegt darin begrun221 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 18.
222 Mason, Peter, Elitism and Patterns of Independend Education. In: Boyd. W.L.I Cibulka, I.G., Private Schools And Public Policy. London 1989, S. 315. 223 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 20. 224 Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 444. 225 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 18; Thygesen, Frants, S. 629 (631); Der Aufbau des Bildungswesens in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, S. 23; s. a. Leunbach, Gustav, S. 11, der allerdings nur von 70-80 % der Gesamtkosten: Lehrerinnenlöhne und andere Gehälter, Bücher und anderes Material, Heizung und Reinigung, Miete oder Zinsen für Hypotheken, ausgeht. 226 Für den Bereich der Sekundarstufe 11 erhalten z. B. die Freien Waldorfschulen in Dänemark keinerlei Zuschüsse. 227 Diese Zahlen ergeben sich nach Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 440 und Leunbach, Gustav, S. 11.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
det, daß die staatlichen Zuschüsse für die Oberstufe des Sekundarbereichs zwar grundsätzlich auch 80 bis 85 % der Kosten abdecken, dies aber voraussetzt, daß die Privatschulen alle Bedingungen erfüllen, die in Hinsicht auf die Lehrpläne, Stundentafeln, Qualifikation der Lehrer, die wirtschaftliche und rechtliche Stellung des Personals sowie die Schulaufsicht gelten 228 . Da die Waldorfschulen diese Kriterien nicht erfüllen, erhalten sie auch keine entsprechenden Zuschüsse. Sofern - was noch nicht der Fall war - bei Prüfungen wiederholt ein im Vergleich zur Folkeskole schlechteres Leistungsniveau festgestellt wird, besteht die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Bezuschussungsvoraussetzungen noch vorliegen. Entgegen der Rechtslage etwa in der Bundesrepublik Deutschland erhalten Schulen in freier Trägerschaft ohne Einhaltung einer Wartefrist (Bewährungsfrist) mit dem Tage der Aufnahme des Schulbetriebs die ihnen zustehenden Zuschüsse. Mit der Novellierung des Privatschulgesetzes 1991 wurden allerdings die Finanzierungsvoraussetzungen für Schulen in freier Trägerschaft dahingehend geändert, daß eine neugegründete Schule dem Ministerium eine bestimmte Summe als Garantie hinterlegen muß, bevor sie ihre Gründung anmelden und Zuschüsse beantragen kann. Diese Regelung dürfte angesichts der Tatsache, daß die liberale Praxis im Bereich dieser Schulen dazu geführt hat, daß in der Vergangenheit wiederholt Schulen mit erheblicher Überschuldung liquidiert werden mußten 229, primär der Mißbrauchsabwehr dienen, obgleich Kritiker darin auch eine mögliche indirekte Gründungssperre sehen 230. c) Unterrichtsfreiheit und pädagogische Autonomie
Das neue Privatschulgesetz modifiziert zwar die Voraussetzungen für die Gewährung von Zuschüssen, läßt jedoch den bestehenden Grundsatz der Unterrichtsfreiheit unangetastet. So "genießen" nach Ansicht dänischer ErziehungswissenschaftIer die Schulen in freier Trägerschaft in bezug auf die Lehrpläne, die Lehrmittel, die Unterrichtsmethoden bis hin zu den Schulstrukturen "eine für europäische Verhältnisse fast unglaubliche Freiheit,,231. Diese besteht für die freien Schulen zumindest bis zur 10. Klasse. Sofern die gesetzlichen Mindestanforderungen, die nur als unabdingbar angesehene Mindeststandards einfordern, erfüllt werden, haben die Schulen die umfassende pädagogische Autonomie über das Unterrichtsgeschehen 232 • Auch die staatliche Schulaufsicht Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 18. s. Leunbach, Gustav, S. 10. 230 Leunbach, Gustav, S. 11. 23\ Leunbach, Gustav, S. 10 f. 232 Vgl. Interview mit Traenaes, Flemming, Die Freien Schulen in Dänemark. In: Flensburger Hefte Nr. 29, Freie Schule. Flensburg 1990, S. 55 (77, 80). 228
229
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beschränkt sich auf die notwendige Rechtsaufsicht, wobei den Schulen in freier Trägerschaft sogar ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Aufsichtsperson eingeräumt wird233 . Im Bereich der Sekundarstufe 11 bestehen in der rechtlichen Stellung der freien Schulen bezüglich der Unterrichtsfreiheit nicht so weitgehende Freiräume wie in der Primarstufe und der Sekundarstufe I, da in diesem Bereich die Schulen an die staatlichen Lehrpläne und Stundentafeln gebunden sind. Dies hat zur Folge, daß etwa die Waldorfschulen nicht nur ohne Zuschüsse für die Klassen 11 und 12 (eine 13. Klasse kennt das dänische Schulsystem nicht) auskommen müssen, sondern diese Klassen ohne jegliche Anerkennung der erworbenen Abschlüsse durchgeführt werden. Privatschulen, die den Anforderungen der Sekundarstufe 11 im Hinblick auf den Lehrplan, die Stundentafel und die Qualifikation genügen, sind berechtigt, Abschlußzeugnisse zu vergeben, die den Zeugnissen staatlicher Schulen gleichwertig sind. d) Anerkennung von Lehrerabschlüssen Die weitreichende Gleichstellung von freien und kommunalen Schulen in Dänemark kommt auch darin zum Ausdruck, daß für die jeweiligen Schulträger die Berufsabschlüsse von staatlichen und nichtstaatlichen Lehrerausbildungsstätten gleichermaßen anerkannt werden. So ist die Ausbildung zum Waldorfpädagogen der staatlichen Lehrerausbildung insofern gleichgestellt, daß für eine Tätigkeit an Waldorfschulen und anderen freien Schulen keine besondere staatliche Unterrichtsgenehmigung notwendig ist. Die Gleichrangigkeit des Lehrerstatus kommt im übrigen auch darin zum Ausdruck, daß es in Dänemark durchaus üblich ist, von der Folkeskole an eine Privatschule und umgekehrt zu wechseln 234 .
5. Perspektiven der Schulverfassung Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Schul politik in Dänemark seit den 80er Jahren in Wiederbesinnung auf eine liberale und demokratische Schulverfassungstradition235 durch eine möglichst weitgehende Selbstverwal233
234
Traenaes, Flemming, S. 78. Bodenstein, Eckhard, Länderstudie Dänemark, S. 446.
235 Diese Tendenz hat allerdings wohl erst in den letzten Jahren eingesetzt. So konstatierte Thygesen in seinem Bericht den staatlichen Einfluß auf die Grundschule in Dänemark im Jahre 1981 noch, daß der Unterricht "auch in Kleinigkeiten" weitgehend zentral reglementiert wird (wurde) und den Lehrern nur ein beschränktes Bestimmungsrecht obliegt (oblag); Thygesen, Frants, S. 630.
13 Jach
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tung und Autonomie der Einzelschule gekennzeichnet ist. Dänemark ist insoweit durch eine dezentralisierte Bildungsverwaltung gepräge36 , bei der den Eltern substantielle Mitbestimmungsrechte zukommen. Die dänische Schulverfassung ist ein deutlicher Beleg dafür, daß für das substantiell gewährte Maß von Freiheit im Bildungswesen primär das gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis und weniger eine formale Verrechtlichung von Bildungsprozessen entscheidend ist. Ungeachtet dessen, daß weder die pädagogische Autonomie des Lehrers oder Mitwirkungsrechte der Eltern und Schüler ausdrücklich verfassungsrechtlich verbürgt sind und nach dänischem Verfassungsrecht die Möglichkeit besteht, " die Freiheitsrechte des Grundlov" (Grundgesetzes, F.-RJ.) einzuschränken 237 oder durch Verfassungsänderung abzuschaffen 238 , gewährt der Gesetzgeber weitreichende individuelle Teilhaberechte im Bereich der Schulverfassung. Diese sind nicht nur im Bildungsbereich "Ausdruck der dänischen Freiheitstradition, die weit zurückreicht in die Vergangenheit,,239, und macht deutlich, daß im Rahmen der Schulverfassung wie auch in anderen Bereichen der Rechtsetzung "im Zentrum der juristischen und rechtspolitischen Überlegungen nicht die Frage steht, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber aus Gründen einer wie auch immer verstandenen Staatsnotwendigkeit die Freiheitspositionen der Bürger antasten darf. Vielmehr dreht sich der Diskurs regelmäßig um einen den aktuellen Gegebenheiten angepaßten und anzupassenden (immer weiteren) Ausbau der Freiheitsrechte auf legislativem Wege,,240. Pädagogisch findet dies sein Pendant in einer "stark individuumzentrierten Pädagogik", die auf frühe Leistungsselektion ebenso verzichtet wie - soweit möglich - auf eine Trennung von behinderten und nichtbehinderten Kindern, und einer Schulverfassung, die gleichermaßen eine Verbindung von Individualisierung und Chancengleichheit anstrebt241 . Erziehungswissenschaftlern gilt Dänemark in vergleichender Perspektive als ein Land, in dem aufgrund positiver Regelungen auf legislativer Ebene und der liberalen Tradition einer hochgradig pluralistischen Gesellschaft Elitenbildung im Schulwesen weitgehend minimiert und gleichzeitig eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Unterrichtsfreiheit erreicht wird242 .
s. a. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 36. Gralla, Rene, Positivität und Konvention: Grundrechte in Dänemark, Jahrbuch für das öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 3811989, S. 299 (307); s. a. Thygesen, Frants, S. 632 f. 238 Gralla, Rene, S. 312. 239 Gralla, Rene, S. 319. 240 Gralla, Rene, S. 318. 241 S. hierzu näher Gogolin, Ingrid, S. 13 (16 1). 242 Mason, Peter, Elitism and Patterns, S. 315. 236
237
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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Der Grundsatz des Schulpluralismus wird dabei in einem Gleichgewicht zwischen der säkularisierten, weltanschaulich neutralen Folkeskole, die sich aber durchaus ein eigenes pädagogisches Profil geben kann, und der Privatschule als Eltemschule mit in sich geschlossenen Wertvorstellungen auch weltanschaulich, religiöser Art, hinsichtlich deren weltanschaulicher Ausrichtung der Staat strikte Neutralität übt, gesucht. Darüber hinaus wird der Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips zum Verfassungsrang erhoben und anerkannt, daß der Grundsatz der Schulfreiheit nur bei einem materiell abgesicherten Wahlrecht zwischen kommunaler und freier Schule möglich ist. Ungeachtet dieser explizit liberalen Bildungsverfassung gibt es aber auch Stimmen, die in Dänemark ähnlich wie in England - jedoch in wesentlich abgeschwächter Form - Tendenzen einer gewissen Rezentralisierung sehen, bei der "nicht nur vereinheitlichende Vorgaben der Lehrplanstruktur zu beobachten (sind), sondern ... die früheren Schulberatungsdienste in eine Schulaufsichtsbehörde (ähnlich wie das Inspektorat in England) umgewandelt" werden sollen 243 . Soweit gewisse Rezentralisierungstendenzen bestehen, werden diese unterstützt durch die Tatsache, daß die Abschlußexamen der Folkeskole weitgehend zentral gesteuert werden 244 • Im europäischen Vergleich ändert das jedoch· nichts an den weitreichenden Selbstgestaltungsmöglichkeiten einer in die Kommune eingebundenen bürgerschaftlichen Schule. Deutlich wird dies daran, wenn man berücksichtigt, daß der Gestaltungsspielraum der Schulen bis zur 10. Klasse gar soweit geht, daß einige Schulen die Prüfungen nach der neunjährigen Unterrichtspflicht abgeschafft haben 245 und die Schüler generell, also auch an staatlichen oder kommunalen Schulen, frei darüber entscheiden können, ob sie sich einer Abschlußprüfung unterziehen wollen oder nicht, wobei es keine Vermerke über Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung gibt246 .
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England Das Bildungswesen im Vereinigten Königreich ist durch unterschiedliche Strukturen hinsichtlich der Schulorganisation, -verwaltung und -aufsicht in England, Wales, Nordirland und Schottland, welches zudem einer eigenen Gesetzgebung unterliegt, geprägt. Die einzelnen Bildungssysteme sind jedoch un243 Galton, Maurice, Primarschulerziehung in Europa. In: Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 206 f. 244 Vgl. Gogolin, Ingrid, S. 14. 245 Traenaes, Flemming, S. 82; der Übergang zum Gymnasium ist auch durch ein Aufnahmegespräch möglich. 246 Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, S. 25.
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geachtet aller Unterschiede in den Einzelstrukturen gleichennaßen durch ein klassisch-liberales Verständnis der Unterrichtsfreiheit und eine weitgehende Dezentralisierung gekennzeichnet, die den örtlichen Behörden (Kommunen) und der einzelnen Schule eine weitgehende Autonomie gewährt. In einer vergleichenden Perspektive kann das englische Bildungssystem neben dem dänischen als das am stärksten dezentralisierte System angesehen werden 247 . Diese Dezentralisierung drückt sich nicht nur in den Verwaltungs strukturen des englischen Bildungswesens aus, sondern auch darin, daß es in England bis heute keine Stundentafeln gibt, obgleich mit dem Refonn Act von 1988 die curriculare Freiheit des Unterrichts, vor allem durch die Einführung rigider Tests und pennanenter Leistungskontrollen, erheblich eingeschränkt wurde248 . Im folgenden sollen die Schulverfassungsstrukturen des Bildungswesens im Vereinigten Königreich vor allem am Beispiel des englischen Bildungswesens dargestellt werden, wobei Abweichungen - insbesondere aufgrund der eigenen Gesetzgebungskompetenz Schottlands - Berücksichtigung finden, soweit dies für die Skizzierung unterschiedlicher Strukturen notwendig ist. Der Versuch einer Typisierung der englischen Schulverfassung muß sich zunächst mit der Besonderheit auseinandersetzen, daß es in Großbritannien keinen fonnellen Grundrechtskatalog gibt. Die individuellen Freiheitsgarantien der englischen Verfassung ergeben sich aus verschiedenen Dokumenten und sind durch die Präjudizien des Common Law durchaus im Sinne eines Grundrechtsschutzes verankert, obgleich die britische Staatsverfassung unter einer umfassenden Parlamentssouveränität steht, die sämtliche Gesetze der Verfügungsgewalt des Parlaments unterwirft249 . Der Grundsatz der Unterrichts freiheit ist zum einen durch die hergebrachten Grundsätze des Common Law gesichert und anerkannt, zum anderen ist das Regelwerk schulrechtlicher Vorschriften durch parlamentarische Gesetze und nachrangige Verwaltungs- und Durchführungsvorschriften gekennzeichnet25o• Darüber hinaus ist es als signifikant für das britische Bildungswesen anzusehen, daß historisch wesentliche Strukturen der britischen Schulverfassung entweder unabhängig von nonnativen Vorgaben oder allenfalls durch sehr vage gefaßte rechtliche Bestimmungen geprägt worden sind251 • So ist die Einführung der Gesamtschule (Comprehensive School) im Jahre 1965 auch nicht durch einen fonnellen Parlamentsbeschluß, sondern
247 So auch die Einschätzung der Studie von Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 37, bezogen auf die Mitgliedstaaten der EG. 248 s. hierzu im einzelnen Vierlinger, Rupert, Die offene Schule und ihre Feinde. Beiträge zur Schulentwicklung. Wien 1993, S. 97 ff. 249 Mayer-Tasch, P. C., Europäische Verfassungshomogenität als politisches Erbe. In: ders., Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. München 1975, S. 27 f. 250 s. hierzu auch Karpen, Ulrich, S. 419 (424,430 f.). 251 s Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 74 (76).
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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durch ein Rundschreiben des Ministeriums (Circular 10) mit Richtlinien für die Organisation der Schulen erfolgt. Zumindest bis zum Jahre 1988 ist davon auszugehen, daß die gesetzlich formulierten Grundzüge der britischen Schulverfassung nur bedingt Auskunft über die tatsächliche Verfaßtheit von Schulen geben können, während nach dem Education Reform Act von 1988 252 , der die radikalste Veränderung im Bildungswesen Großbritanniens seit der Verabschiedung des Schulgesetzes von 1944 vor gut 50 Jahren einleitete253 , normativ gefaßte Tendenzen der inhaltlichen Steuerung des englischen Bildungswesens deutlich hervortreten. Hierbei sind sich alle Beobachter darin einig, daß die "Tendenz des Reformwerks .... auffallend widersprüchlich ist. Es vollzieht sich gleichzeitig eine enorme Stärkung der Zentralgewalt und eine Autonomisierung der einzelnen Schule,,254.
1. Bürgerschaftliche Strukturen des dezentralen Bildungswesens a) Die historische Entwicklung der Schulverfassung Im Gegensatz zu der Entwicklung des Schulwesens in den anderen europäischen Staaten ist das britische Schulsystem dadurch gekennzeichnet, daß lange Zeit eine zentrale staatliche Steuerungsinstanz für das Bildungswesen nicht bestand. Bis 1870 war das Schulwesen ein ausschließlich nichtstaatliches. Dies gründete vor allem darin, daß sich in Großbritannien im Vergleich etwa mit Preußen eine Einstandspflicht des Staates für die Unterhaltung von Schulen erst relativ spät entwickelte. Die Aufgabe der Unterhaltung von Schulen wurde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von privaten oder kirchlichen Trägem wahrgenommen, über die der Staat erst mit zunehmend notwendiger Subventionierung eine Kontrolle entwickelte2S5 • Erst 1870 übernahm der Staat mit der Verabschiedung des Forster Act die Gesamtverantwortung für das Volksschulwesen. Danach wurde das ganze Land in Schuldistrikte eingeteilt und den Volksschulen ein Mindeststandard vorgeschrieben, über dessen Einhaltung die örtlichen Schulausschüsse (Schoolboards) zu wachen hatten, die von den Bürgern s. hierzu Liell, P. (Hrsg.), Education Reform Act 1988. London 1988. Partington, John, Wahlfreiheit im neuen englischen Schulrecht, RdJB 1992, S. 235 (240); ebenso die Einschätzung von Glowka, Detlef, Schul verfassung in internationaler Sicht, S. 79. 254 Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S.79; im Ergebnis ebenso Stokes, Peter, Das Bildungssystem in England und Wales - Trotz guter Absicht auf dem Holzweg. In: Lassahn, R.lOJenbach, B., Bildung in Europa. FrankfurtlM. u. a. 1994, S. 63 ff.; Burkard, ChristophlRoW; Hans-Günter, S. 208. 255 s. hierzu Körner, Annegret, Länderstudie England. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 396 f.; Stein, Erwin, Der Mensch in der pluralistischen DemokratieDie Freiheitsrechte in Großbritannien, FrankfurtlM. 1964, S. 206 f. 252 253
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gewählt wurden 256 . Durch diese Verpflichtung traten nun in den örtlichen Bereichen, in denen keine ausreichenden privaten Schulen vorhanden waren, staatliche Schulen neben die alten Privatschulen, wobei die örtlichen Schulbehörden" gleichzeitg auch die privaten Volksschulen erstmals unter direkte öffentliche Aufsicht nahmen,,257. Dieses, insbesondere von der anglikanischen und katholischen Kirche heftig bekämpfte Elementarschulgesetz von 1870, mit dem das Nebeneinander von staatlicher und nichtstaatlicher (Voluntary) Schule installiert wurde, kann danach als die entscheidende Institutionalisierung eines von staatlichen Instanzen mitgetragenen dualen Schulsystems gelten, welches in seinen Grundstrukturen bis heute fortbesteht 258 . Durch Gesetz von 1876, wonach die Eltern für eine angemessene Grundausbildung ihrer Kinder in Lesen, Rechnen und Schreiben zu sorgen hatten, und mit der Verankerung der allgemeinen Unterrichtspflicht für alle Kinder zwischen 5 und 12 Jahren durch das Bildungsgesetz von 1880 und die Abschaffung des Schulgeldes für Elementarschulen durch das Bildungsgesetz von 1891, welches jedoch erst nach 1918 realisiert wurde 259, sicherte der Staat zwar grundsätzlich die Bildung aller Kinder, doch führte er keine allgemeine Schulpflicht, sondern lediglich eine allgemeine Unterrichtspflicht ein, wobei es den Eltern bis auf den heutigen Tag freisteht, "wie sie dieser Pflicht nachkommen wollen. Sie können ihre Kinder selbst unterrichten, ihnen Privatunterricht erteilen lassen oder sie auf eine Privatschule schicken,,260. Die Institutionalisierung eines staatlichen Schulwesens erfolgte jedoch nicht primär auf der Ebene des Zentralstaates, sondern war dezentral und regional ausgerichtet. So übertrug das Schulgesetz von 1902 den regionalen Verwaltungskörperschaften (County and County Boorough Councils) die Funktion lokaler Erziehungsbehörden (Local Education Authority - LEA), welches ihnen das Recht einräumte, Primar- und Sekundarschulen zu unterhalten261 . 1918 schließlich wurde mit dem Fisher Education Act "erstmals ein allgemeines nationales Bildungssystem über den Primarbereich hinaus eingeführt. Dabei wurden die Strukturen im Bildungswesen weiter vereinheitlicht und die örtlichen Schulausschüsse (LEAs) fest etabliert, und zwar in der Regel als Stein, Erwin, S. 207. Stein, Erwin, S.207; s. a. Hamilton, John, Großbritannien: Hundert Jahre Bildungsfortschritt in Gefahr. In: Lemke, Dietrich, Bildungspolitik in Europa - Perspektiven für das Jahr 2000. Hamburg 1992, S. 117, der allerdings davon ausgeht, daß die Bildungseinrichtungen noch bis 1880 privater Kontrolle unterlagen. 258 Kuebart, Friedrich, England. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 3. Aufl. WeinheimIBasel1980, S. 83. 259 Kuebart, Friedrich, S. 84. 260 Stein, Erwin, S. 207. 261 Kuebart, Friedrich, S. 84. 256
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ständige Ausschüsse der Gemeinderäte mit einer Reihe eigenständiger Rechte und eigenen Finanzhaushalten,,262. Der Education Act von 1944 schließlich verankerte ein einheitliches, nationales Bildungssystem mit einer Primar- und Sekundarbildung und erweiterte die allgemeine Unterrichtspflicht auf alle Kinder zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr, wobei sie bis zum Alter von 11 Jahren eine Grundschule und danach eine - nach unterschiedlichen Typen differenzierte 263 - höhere (secondary) Schule besuchten 264 . Die Zeit seit dem Education Act von 1944 bis in die siebziger Jahre hinein war dominiert durch die Diskussion über die Möglichkeit der Verwirklichung von Chancengleichheit im britischen Bildungswesen und führte insbesondere zur Etablierung der Gesamtschule (Comprehensive School) als obligatorische Schulform. Demgegenüber folgte seit den 70er Jahren eine Diskussipn über Niveau, Qualifikation und Standards des britischen Bildungswesens und ließ die Forderung nach notwendigen inhaltlichen Reformen der Curricula entfachen, die in der Zeit von 1976 bis 1988 zu einer Reihe von Reformversuchen unter wachsendem Einfluß der Regierung führte. Mit dem Reform Act von 1988 wurde schließlich eine Phase der grundlegenden Umgestaltung des britischen Bildungswesens eingeleitet. Bildungspolitisch wird der Educational Reform Act als der Versuch einer Qualitätsverbesserung gesehen, im Rahmen der europäischen Integration den Anschluß an den Standard von Bildungssystemen wie in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland nicht zu verlieren 265 . Hierbei sind am eklatantesten Qualitätsmängel im Fremdsprachenunterricht, wo England in der europäischen Gemeinschaft hinsichtlich der Befähigung einer korrekten Fremdsprachenbeherrschung Ende der 80er Jahre den letzten Platz eingenommen hat266 . b) .. Die Macht der Gemeinden" als traditionelles Merkmal des Schulsystems
Die Entwicklung des britischen Bildungssystems ist in seiner historischen Entwicklung seit 1870 von der starken Stellung der kommunalen Schulbehörde267 , also der Schulausschüsse der Gemeinden, und einer nur sehr begrenzten
Hamilton, John, Großbritannien, S. 118. Secondary modem school, grammar school, secondary technical schoo!. 264 s. hierzu Körner, Annegret, S. 396 f.; Stein, Erwin, S. 208. 265 So die Einschätzung von Fuchs, Jochen, Bildungswesen in der Europäischen Union: England, DLZ 32/33 1995, S. 5. 266 Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 5. 267 s. dazu Puetz, Thea, Entwicklung, Gestalt und Reform der lokalen Schulverwaltung im englischen Bildungswesen 1870-1979, Diss. Köln 1981. 262
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Bestimmungsgewalt des Staates, aber auch der Eltern über das Schulwesen geprägt gewesen. An diese Tradition knüpfte auch das Bildungsgesetz von 1944 an, wonach die kommunalen Schulbehörden zunächst die zu besuchende Schule bestimmten und die Eltern nur im Wege der Erhebung von Einwänden, den Besuch der gewünschten Schule erreichen konnten 268 • So charakterisierte Erwin Stein in seiner Untersuchung aus dem Jahre 1963 die weitgehende Dezentralisierung des britischen Schulsystems und die starke Stellung der örtlichen Schulbehörde sowie das Fehlen eines zentralen Curriculum noch als einen wesentlichen Garant für Bildungsfreiheit im Sinne einer pluralistischen und umfassenden Vermittlung von Bildung, wobei er aber zugleich auf die Gefahr einer "Entwertung" der Unterrichtsfreiheit und pädagogischen Autonomie durch die unitarisierende Wirkung des Berechtigungswesens hingewiesen hat269 . Erst das Bildungsgesetz von 1980 stärkte das Wahlrecht der Eltern hinsichtlich der gewünschten Schule und drehte den Verfahrens modus um; die Eltern wählten die Schule aus, und die Behörde muß gegebenenfalls Einwendungen erheben 27o • Einen einschneidenden Kurswechsel der englischen Bildungspolitik brachte dann die mit dem Reform Act von 1988 eingeleitete Bildungsinitiative für mehr "choice and diversity" im Bildungswesen. Wesentliche Elemente dieses Reformwerks sollten eine größere Autonomie und gleichzeitig eine stärkere Rechenschaftspflicht der einzelnen Schule im Rahmen einer schulischen Selbstverwaltung und einer Stärkung der Elternrechte in Form der freien Wahl der Schule und der Elternmitbestirnmung durch Beteiligung in den Schulausschüssen sein. Gleichzeitig sollte damit der Einfluß der LEAs vermindert, die zentrale Steuerungsmöglichkeit des Bildungsministeriums für die Unterrichtsinhalte gestärkt und die Schulen durch Einführung marktwirtschaftlicher Elemente einer verstärkten Konkurrenz im Rahmen eines freien Wettbewerbs ausgesetzt werden. Mit dem Reform Act von 1988 ist das elterliche Wahlrecht dahingehend weiter gestärkt worden, daß die Eltern grundsätzlich die Möglichkeit haben, die Kinder an einer Schule ihrer Wahl unterrichten zu lassen. Kritiker wenden hiergegen ein, das Gesetz gehe von einem Markt-Verbraucher-Verhältnis aus, bei dem den Eltern als Abnehmer von Bildungsleistungen ein uneingschränktes Wahlrecht zugestanden werde, für ihre Kinder die besten Schulen auszusuchen 271 , wodurch die Prinzipien der Chancengleichheit und des integrativen Unterrichts gefährdet seien 272 • Das Gesetz verfolge die Absicht, "im Schulwesen marktwirtschaftliche Prinzipien zur Geltung zu bringen: Die einzelnen Partington, lohn, S. 235 (236). Stein, Erwin, S. 212 f. 270 Partington, lohn, S. 235 (236). 271 s. Partington, lohn, S. 235 (240). 272 s. Hamilton, lohn, Großbritannien, S. 119. 268
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III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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Schulen sollen sich profilieren und miteinander konkurrieren - bis hin zur Vernichtungskonkurrenz. Um Basisdemokratie ging es also bei diesen Reformen nicht, wohl aber um die Stärkung von 'Verbraucherinteressen' , also um die Position der Eltern und der Abnehmer von Schulabsolventen"273. Der Reform Act brachte strukturell vor allem drei wesentliche Veränderungen: eine strukturelle Stärkung der Marktorientierung des Bildungswesens; einen zentral verordneten nationalen Lehrplan sowie zentral mitgesteuerte Leistungsprüfungen während der Schullaufbahn eines Kindes im Alter von sieben, elf, vierzehn und sechzehn Lebensjahren (key-stages)274. Eine wertende Stellungnahme ist vor allem deshalb ambivalent, weil - wie allgemein in der Diskussion anerkannt ist - das Reformwerk selbst äußerst widersprüchlich ist. So ist die Tendenz, den Eltern ein größeres Wahlrecht zuzugestehen, unter demokratietheoretischen Aspekten grundSätzlich als Stärkung des Gedankens der Schulvielfalt zu sehen, während die curriculare Rezentralisierung diese Wahlmöglichkeiten wieder erheblich nivelliert. c) Schulverwaltung durch die Local Educational Authorities und pädagogische Autonomie der Einzelschule
Auf zentralstaatlicher Ebene nehmen in England das Department of Education und Science (DES), in Wales das Welsh Office (WO), in Nordirland das Department of Education in Northern Ireland (DENI) und in Schottland das Scottish Office Education Department (SOED) jeweils getrennt die Aufgaben der Zentralbehörden wahr, wobei diese -
die nationalen Zielsetzungen festlegen und die nationale Bildungspolitik definieren, einschließlich des vorgeschriebenen Pflichtlehrplans in bezug auf das National Curriculum und der Leistungsbeurteilung der Schüler im schulpflichtigen Alter;
-
Forschungsaufträge vergeben und Arbeiten zur Entwicklung des Lehrplans und der staatlichen Prüfungen unterstützen;
-
die Mindestnormen für das Bildungswesen festsetzen,
ohne jedoch selbst unmittelbar an der Errichtung oder Verwaltung von Schulen beteiligt zu sein 275 • Gleichwohl bleibt den Zentralbehörden die Möglichkeit der Kontrolle bei Pflichtverletzungen der lokalen Behörden oder der einzelnen
273 Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 82; im Ergebnis ebenso Stokes, Peter, S. 69. 274 s. hierzu Vierlinger, Rupert, S. 89 (94 ff.); Stokes, Peter, S. 65. m Vgl. zum nachfolgenden im einzelnen Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., Vereinigtes Königreich, S. 183.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Schule, und es bestehen erhebliche Steuerungsmöglichkeiten über die Vergabe und Zuteilung von Mitteln. Unterhalb der Zentralbehörden sind in England, Wales und Schottland die örtlichen Bildungsbehörden (LEAs) und in Nordirland fünf Bildungsbehörden (Education and Library Boards) für das Bildungsangebot verantwortlich, wobei die Besonderheit besteht, daß in Nordirland generell die Kosten vom Bildungsministerium (DENI) getragen werden. Diese örtlichen Bildungsbehörden ernennen einen Bildungsausschuß, "der sich zu mindestens 50 % aus gewählten Vertretern der LEAs und im übrigen aus Mitgliedern zusammensetzt, die aufgrund ihrer besonderen Erfahrungen und Fachkenntnisse auf bestimmten Bildungsgebieten gewählt werden", und die "unmittelbar für das Bildungsangebot, die Verwaltung, den Unterhalt und den Betrieb von Schulen" zuständig sind. Die den LEAs unterstehenden Schulen sind verwaltungsrechtlich öffentlich finanzierte Schulen (Maintained Schools), innerhalb derer in England und Wales zwischen zwei Kategorien zu unterscheiden ist: den von der örtlichen Behörde (LEA) selbst unterhaltenen und verwalteten County Schools und den zwar von den LEAs unterhaltenen (finanzierten), aber von anderen Institutionen, insbesondere den Kirchen, errichteten und getragenen Voluntary Schools. In Nordirland unterscheiden sich diese Schulen (Grant-Aided Schools - subventionierte Schulen) in die von den Boards of Governors getragenen Controlled Schools und die Voluntary Schools. Insgesamt besuchen in England 94 % und in Nordirland 99 % der Schüler öffentlich subventionierte Schulen. Das Bestimmungsrecht der lokalen Schulbehörde umfaßte vor dem Reform Act vor allem die Finanzierung der lokalen Schulen, welches ihr auch Einfluß auf die inhaltliche Ausrichtung des Unterrichts gewährte, obgleich der einzelnen Schule weitestgehende Autonomie dergestalt eingeräumt wurde, daß die Lehrer und vor allem der Schulleiter in Abstimmung mit dem Vorsitzenden des Schulvorstandes autonom entschieden, was an ihrer Schule unterrichtet wurde276 • Dies war rechtlich deshalb möglich, weil die Lehrer an den öffentlichkommunalen Schulen zwar dem öffentlichen Dienst zugeordnet, aber keine Staatsbeamten, deren Zahl in England weit niedriger als in anderen europäischen Ländern liegt, sind, sondern Angestellte der lokalen Behörden 277 • Staatsbeamte im klassischen Sinne sind nur die Bediensteten des Department of Education and Science, deren Aufgaben sich traditionell auf die Aufstellung ei-
276 s. Jenkner, Siegfried, Schule zwischen Staats- und Selbstverwaltung, PSOW 1989, S. 44 (47); Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 79; Hamilton, John, Großbritannien, S. 119; Stein, Erwin, S. 213. 277 s. hierzu näher Haie, Norman M., Landesbericht Großbritannien. In: KaiserlMayerlUle, Recht und System des öffentlichen Dienstes. Baden Baden 1977, S. 93 f., der für die Mitte der 70er Jahre eine Zahl von ca. 700.000 Staatsbeamten nennt.
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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nes allgemeinen Erziehungsprogramms und die Koordinierung der Arbeit der Lokalbehörden beschränkt278 • Mit dem Reform Act von 1988 und weiteren gesetzlichen Regelungen in den 90er Jahren wurde die Stellung der LEAs entscheidend geschwächt, indern die Finanzhoheit im wesentlichen unter dem Stichwort des "Local Management of Schools" auf den School Governing Body übertragen wurde und die LEAs nur noch administrative Funktionen wie die Einrichtung einer Verrechnungsstelle für die Lohnbuchhaltung etc. wahrnehmen 279 • Hierbei wurde von der konservativen Regierung angestrebt, nahezu alle Verwaltungsbereiche den einzelnen Schulen zu übertragen 28o• Diese sollen sich über die Möglichkeit des sog. "Opting out" und dem damit verbundenen GMS-Status (Grant Maintained School) zu selbständig handelnden Wirtschaftssubjekten entwickeln, die ihr Lehr- und Verwaltungspersonal selbständig einstellen und entlassen sowie die volle Ressourcenverantwortung einschließlich des Rechts, Kredite aufzunehmen und Rücklagen zu bilden sowie über bauliche Investitionen zu entscheiden, übernehmen 281 . Auch die pädagogische Einflußnahmemöglichkeit der LEAs ist mit der Übertragung der pädagogischen Steuerung auf die School Governments als eine von deren Hauptaufgaben entscheidend geschwächt worden. Insgesamt ist mit den diversen Gesetzesnovellierungen und Neufassungen seit 1988 ein umfassender Strukturwandel eingeleitet worden, der nicht nur ein National Curriculum und eine stärkere Selbstverwaltung und -verantwortung der einzelnen Schulen einführte, sondern neu definierte, wer die inhaltliche und pädagogische Konzeption der einzelnen Schule bestimmt. An die Stelle der LEAs und auch der Lehrer sind die School Boards getreten 282 . Gleichzeitig wurde jedoch auch ein umfassender, nicht nur curricularer Rezentralisierungsprozeß eingeleitet, der dem Bildungsministerium einen erheblichen Kompetenzzuwachs beschert hat. Deutlich wird dieser ambivalente Prozeß an den Befugnissen des Bildungsministeriums im Falle des "Opting out" einer Schule aus dem Hoheitsbereich einer LEA. Dieses Opting out gewährleistet der einzelnen Schule einerseits die Möglichkeit, direkt Gelder vorn Bildungsministerium zu erhalten und seine Ressourcen selbst zu verwalten und zu verwenden. Sie entzieht sich damit dem Einflußbereich der örtlichen LEA. Auf der anderen Seite wächst mit zunehmender Wahrnehmung des Opting out, welches für alle Schulen angestrebt wurde, der Einfluß des Bildungsministeriums in der KomHaie, Norman M., S. 109. Vierlinger, Rupert, S. 89 (94). 280 Morris, Robert, Selbstverwaltete Schulen: Eine neue Schöpfung der Schulgesetzgebung für England und Wales, RdJB 1994, S. 27 (28). 28\ Glowka, Detlef, Einige Aspekte zur Bildungsreform in England, TC 1996, S. 32 (33). 282 Glowka, Detlef, Einige Aspekte zur Bildungsreform, S. 33. 278
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mune je nach der Anzahl der Schulen, die den GMS-Status haben. Während bis zu einem Prozentsatz von 10 % die LEA die kommunalen Schulplanungsrechte behält, wird ab diesem Prozentsatz bis zu einem Anteil von 75 % GMS-Schulen das Bildungsministerium "Partner" der LEA bei der Schulplanung, ab 75 % übernimmt es die Planung vollständig 283 . Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Regelungen nach dem Regierungswechsel Gültigkeit behalten.
d) Die pädagogische Freiheit der Einzelschule nach dem Reform Act von 1988 Während die Autonomie der Einzelschule verwaltungsmäßig mit dem Refonn Act von 1988 wesentlich gestärkt wurde, ist die Freiheit der Unterrichtsgestaltung durch die Einführung eines verbindlichen Nationalen Curriculum284 und damit korrespondierender pennanenter Leistungskontrollen nachhaltig erschüttert worden. Konnte bis zur Verabschiedung des Refonn Act auf lokaler Ebene mehr oder weniger autonom darüber entscheiden werden, welche Fächer an den Schulen zu unterrichten waren und wieviel Zeit man für ein einzelnes Fach vorsah, so ist diese Wahlfreiheit durch die Einführung eines verbindlichen National Curriculum erheblich eingeschränkt worden 285 • Dessen Reichweite ist für britische Verhältnisse angesichts der vorher herrschenden Autonomie der Schulen sehr weitgehend, für Glowka erscheint "aus deutscher Sicht der zentralistische Refonneifer eher moderat; das einzuführende National Curriculum erweist sich als eine Art Rahmenplan, der hierzulande wegen seiner Dehnbarkeit die Lehrer überraschen würde,,286. So herrscht in der erziehungswissenschaftlichen Literatur, auch soweit Vorbehalte gegen die Einführung des National Curriculum vorgebracht werden, die Ansicht vor, daß die Einführung desselben zwar "im Gegensatz zur bisherigen Liberalität des englischen Schulwesens steht,,287, aber "die zentralen curricularen Vorgaben in EnglandlWales (reichen) in ihrer Spärlichkeit der inhaltlichen Festlegung keinesfalls an die erdrückenden Stoffülle der Lehrpläne in den Ländern des deutschen Sprachraums heran ... und (wissen) sehr viel besser ... , was sie einem bloßen "Rahmen" schuldig sind,,288. Gleichwohl konstatiert Vierlinger, daß das National Curriculum mit einer Massivität auf den Plan tritt, die schulindividuellen Profilen allein schon zeitlich nicht mehr viel Spielraum läßt,,289. Glowka, Detlef, Einige Aspekte zur Bildungsreform, S. 34. s. hierzu Fowler, W.S., Towards the national curriculum. London 1988; Kelly, A.V., The national curriculum - a critical review. London 1990. 285 Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 5. 286 Glowka, Detlef, Schulv rfassung in internationaler Sicht, S. 80. 287 Vierlinger, Rupert, . 4. 288 Vierlinger, Rup ,S. 97. 289 Vierlinger, ~pert, S. 116. 283
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III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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Der Kernpunkt des National Curriculum liegt in der verbindlichen Einführung von drei Hauptfächern - Englisch, Mathematik und Naturwissenschaftenund sieben weiteren Grundfachern - Gestaltung und Technologie, Geschichte, Religion (mit Ausnahme der Schüler, deren Eltern die Freistellung vom Religionsunterricht beantragen), Geographie, Musik, Kunst und Sport und für Schüler im Alter von 11 bis 16 Jahren eine lebende Fremdsprache -, wobei die damit verbundenen Lernziele permanenten Leistungskontrollen unterliegen 29o . Angesichts des etwa durch die Veröffentlichung von Ranglisten ausgeübten Profilierungszwangs der einzelnen Schule, erscheint die Kritik berechtigt, daß damit indirekt der gesamte Lehrplan in einer Weise eingeengt wird, daß bestimmte Fächer wie Darstellendes Spiel oder andere nicht kognitiv meßbare Formen des Unterrichts vom Lehrplan "verschwinden,,291 und die Möglichkeit der Profilbildung der einzelnen Schule im Sinne einer besonderen pädagogischen oder inhaltlichen Prägung erheblich eingeschränkt wird. Die Einführung des National Curriculum ist insofern ungeachtet seiner Detailliertheit eine Beschränkung der Schulvielfalt im staatlich-kommunalen Schulwesen und steht einem bürgerschaftlichen Verständnis von Schulreform insoweit entgegen, als damit über den Grundsatz der Gleichwertigkeit hinaus - insbesondere durch die drei Prüfungsebenen - eine Standardisierung des Unterrichts angestrebt wird. Dementsprechend wandelt sich seit 1988 die Schulaufsicht, insbesondere nach dem Education (Schools) Act von 1992, zunehmend zu einer Institution der externen Evaluation. Hiernach werden alle Bildungseinrichtungen, die öffentliche Zuschüsse erhalten wollen, in Verbindung mit den Education Regulations von 1997 regelmäßig alle vier Jahre überprüft. Die staatliche Schulaufsicht ist organisatorisch getrennt nach der Dienst- und der Fachaufsicht. Die Dienstaufsicht unterlag vor dem Reform Act weitestgehend den LEAs und ist nun verstärkt auf den School Board (governor) übertragen worden. Die Fachaufsicht wird von den "Inspektoren ihrer Majestät" wahrgenommen, deren Zahl in Folge des Reform Act von 480 auf 175 reduziert wurde292 • Diese Reduzierung steht jedoch in einem Widerspruch zur Funktion der HMIs (Her Majesty's Inspectorate). Waren diese vor dem Reform Act im wesentlichen ein Instrument der Schul beratung, so ist hieraus eine KontrolIinstanz zur Überprüfung der Standards im Bildungswesen geworden 293 .
290 s. im einzelnen Ross, Walter, Das Bildungsreformgesetz von 1988. In: Lemke, Dietrich, Bildungspolitik in Europa - Perspektiven für das Jahr 2000. Hamburg 1992, S. 124 ff. 291 Ross, Walter, S. 125. 292 Vgl. Vierlinger, Rupert, S. 96, Anm. 6. 293 Glowka, Detlef, England. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa 4. Aufl. WeinheimlBasel 1996, S. 57.
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Innerhalb der verschiedenen Bildungssysteme bestehen danach jeweils gesonderte staatliche Schulaufsichtsbehörden. Die HMIs sind zuständig für alle Bildungseinrichtungen, die Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln erhalten, und üben insbesondere Beratungs- und Berichtsfunktion gegenüber den Zentralministerien und den einzelnen Schulen aus, wobei auf nationaler Ebene für jedes Fach ein leitender Aufsichtsbeamter zuständig ist. Darüber hinaus sind sie auch begrenzt für die Independent Schools zuständig. Auf dezentraler Ebene obliegt der LEA, dem Schulleiter und dem Verwaltungsrat der Schule gemeinsam die Einhaltung insbesondere der Bestimmungen hinsichtlich des auf nationaler Ebene vorgeschriebenen National Curriculums, dessen Einhaltung von der Schulaufsichtsbehörde überwacht wird. Hierbei sind die Schulen zwar an den Fächerkanon und die im National Curriculum festgelegten Ziele, Unterrichtsinhalte und Leistungsstufen gebunden, überlassen jedoch den Schulen - soweit dies angesichts der Vorgaben möglich ist - das Bestimmungsrecht darüber, auf welche Art und Weise, d. h., mit welcher pädagogischen Konzeption, die Anforderungen des National Curriculum erfüllt werden294 . Insofern wird den Schulen zwar nach wie vor volle Freiheit in der Methode, in der Anordnung der Inhalte und der unterrichtsorganisatorischen Durchführung zugestanden 295 , die jedoch durch die Vorgaben des Prüfungswesens weitestgehend determiniert scheint.
e) Die Stärkung der Selbstverwaltung durch den Reform Act von 1988 Der Reform Act von 1988 hat jedoch nicht nur eine Stärkung der Zentralgewalt in curricularer Hinsicht mit sich gebracht, sondern zugleich in schulverwaltungsrechtlicher Hinsicht die Selbstverwaltung der Schulen gestärkt, indem die Befugnisse der lokalen Schulbehörden hinsichtlich der Sach- und Personalhoheit begrenzt und den Schulvorständen und Verwaltungsräten (governing bodies) der einzelnen Schulen eine weitreichende Autonomie insbesondere in Haushaltsfragen übertragen wurde 296 • So wurde mit dem Reformgesetz von 1988 beschlossen, "daß den Verwaltungsräten aller öffentlich finanzierten Sekundarschulen und der Primarschulen mit mehr als 200 eingeschriebenen Schülern eigene Haushaltsmittel übertragen werden, die fast die gesamten KoEuropäische Kommission (Hrsg.), I. Aufl., S. 191. Vierlinger, Rupert, S. 97. 296 s. hierzu Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 79 (81); s. a. lach, Frank-Rüdiger/lenkner, Siegfried, Schulverfassungen in Europa :- ein problemorientierter Überblick. In: Klaßen, Th.F./Skiera, E. (Hrsg.), Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, 2. Aufl. Hohengehren 1993, S. 45; lenkner, Siegfried, Schule zwischen Staats- und Selbstverwaltung, S.44 (47); Ross, Walter, S. 127; Vierlinger, Rupert, S. 94 f. 294 295
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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sten der Schulen decken. Die Budgetverantwortung ist dabei generell von der LEA auf den School Governing Body übertragen worden. Hierbei bekommen die Schulen, die über die Möglichkeit des Opting out einen GMS-Status erreicht haben, ihre Mittel von der Funding Agency of Schools im wesentlichen nach einem Pro-Schüler-Kopf-Satz zugewiesen. Gleichzeitig wurde die Zusammensetzung der Schulverwaltungsräte mit dem Bildungsgesetz (No. 2) von 1986 und dem Bildungsreformgesetz von 1988 dahingehend verändert, daß die örtlichen Gemeinschaften stärker vertreten sind, und somit die pädagogische Autonomie der Lehrerschaft geschwächt. Hierbei ist entscheidend, daß das School Governing Body (Board of governors) als eine Art Mischung von Aufsichtsrat und eigentlichem Schulvorstand von einer Mehrheit der Eltern und Vertreter der lokalen Öffentlichkeit gegenüber den Vertretern der Lehrer und der LEA geprägt ist297 . So sind für eine Schule mit höchstens 100 Schülern im School Governing Body fünf schulexterne Vertreter (Eltern und evtl. Honoratioren) und vier schulinterne Vertreter vorgeschrieben, für Schulen ab 300 Schüler stehen - um das Verhältnis mit einem weiteren Beispiel zu veranschaulichen - vier Eltern und fünf kooptierten Kuratoren vier LEA-Mitglieder gegenüber sowie zwei gewählte Lehrer und (freiwillig) der Headteacher gegenüber298 . "Diese Boards üben jetzt, wenn sie ihre rechtlichen Kompetenzen ausschöpfen, die eigentliche Herrschaft über die Schule aus ... : Sie sind zuständig für die Finanzen, die der Schule als Kopfquote zugewiesen werden, sie sprechen das entscheidende Wort bei der Einstellung und Entlassung von Lehrern, sie kontrollieren das Curriculum, legen die Unterrichtszeiten fest und berichten den Eltern auf jährlichen Versammlungen, sie entscheiden über ein Opting out, um nur das Wichtigste zu nennen,,299. Andererseits können die Verwaltungsräte große Teile der Verwaltungsaufgaben dem Schulleiter übertragen 3OO • Hierzu gehört auch eine Autonomie der Einzelschule hinsichtlich der Besoldung der Lehrer, deren Bezahlung aus dem zugebilligten Jahresbudget zu erfolgen hat und nicht unproblematische Folgeerscheinungen etwa dahingehend zu haben scheint, daß Schulen die Einstellung von Lehrern zur Entlastung des Etats weniger von deren pädagogischer Qualifikation und Erfahrung, sondern von deren, die Besoldungsstufe bestimmenden, Lebensalter abhängig machen 30I • Seine rechtliche Grundlage findet dies darin, daß Lehrer in England im Gegensatz s. Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 81 f. Vierlinger, Rupert, S. 94. 299 Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 81; eine nähere Konkretisierung und Enumerierung findet sich bei Vierlinger, Rupert, S. 94 f. 300 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Vereinigtes Königreich, S. 185. 301 So jedenfalls die Darstellung bei Wittgenstein, Wolfgang, Doris Voo arbeitet 60 Stunden in der Woche - ohne 13. Monatsgehalt, ohne Privilegien, DLZ 10/1993, S. 11. 297
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zu den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union keinen Beamtenstatus haben. "Ihre Anerkennung wird zwar seitens des Bildungsministeriums ausgesprochen, angestellt und beschäftigt werden sie jedoch auf lokaler Ebene, beziehungsweise bei den "Voluntary Aided Schools" und den "Grant-Maintained Schools" sogar von der Schule selbst, wobei die Entscheidung bei den Schulleitern liegt", deren traditionell starke Stellung durch den Reform Act noch gestärkt wurde302 . Hinzu kommt, daß nach den den Reform Act begleitenden Gesetzen die Gehälter nun nicht mehr zentral, sondern auf lokaler Ebene festgesetzt werden303 . Kritiker des Reform Act monieren in diesem Kontext vor allem auch, daß zuviel Arbeitskraft sowohl der Schulleiter als auch der Lehrer, die traditionell und an sich auf die pädagogische Arbeit verwendet werden sollte, nunmehr für bürokratische Tätigkeit in Anspruch genommen wird 304 . f) Opting out
Mit der Möglichkeit des Opting out hat der Reform Act von 1988 eine weitere entscheidende Reform, nämlich bezüglich der Bestimmung des Status einer Schule, mit sich gebracht, die mit dem Bildungsgesetz von 1993 ihre abschließende normative Ausgestaltung gefunden hat. So ist es möglich, daß die boards durch Mehrheitsbeschluß in Form einer geheimen Wahl der Eltem305 ihre Schule gänzlich aus der kommunalen Trägerschaft der LEA lösen und die Aufwendungen direkt vom Staat erhalten können (to opt out)306. Hierbei liegt das Initiativrecht entweder beim Schulvorstand oder bei den Eltern, die mit einem Quorum von einem Fünftel der eingeschriebenen Schüler das Verfahren, sich der Aufsicht der lokalen Bildungsbehörden zu entziehen, einleiten können307 . Danach kann sich jede Schule mit mindestens 300 Schülern durch ein EIternvotum des Opting out finanziell und pädagogisch völlig der Kontrolle der LEAs entziehen und sich mit Direktzuschüssen des Ministeriums selbstverwalten. Die Möglichkeit des Opting out ist hierbei strukturell der Übergang von der dezentralisierten kommunalen Schule zur selbstverwalteten, staatlich unterhaltenen Schule. "Wird der Antrag angenommen, so wird die nunmehr staatlich unterhaltene Schule als Körperschaft gegründet, als eigene Rechtsperson, und
Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 5. Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 5. 304 Fuchs, Jochen, Bildungswesen, S. 5; Stokes, Peter, S. 66 f. 305 Zum Verfahren s. Morris, Robert, S. 27 (29). 306 s. lach, Frank-Rüdigerllenkner, Siegfried, Schulverfassungen in Europa, S. 45; lenkner, Siegfried, Schule zwischen Staats- und Selbstverwaltung, S. 44 (47). 307 Morris, Robert, S. 27 (29). 302 303
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
209
sie wird Eigentümer des Schulinventars (was normalerweise Grundstücke und Gebäude einschließt) und Arbeitgeber des gesamten Lehrkörpers,,308. Dieses "Paradestück der konservativen Erziehungsrevolution", welches nicht zuletzt darauf abzielte, den in den Kommunen und besonders den größeren Städten dominierenden Einfluß der Labour-Party in der Erziehungspolitik zurückzudrängen 309 , hat zu einer neuen Kategorie von Schulen, den sog. GrantMaintained Schools (GMS) geführt, wobei diese Schulen vom Staat dieselben Mittel erhalten, die sie auch von der lokalen Behörde erhalten hätten. Hierbei erhält die staatlich unterhaltene Schule eine Mittelzuwendung in der Höhe, die sie nach dem Pro-Schüler-Kopf-Satz310 von der lokalen Schulbehörde erhalten hätte, zuzüglich eines Betrages für die Finanzierung von Dienstleistungen, die von den LEAs für die ihnen unterstehenden Schulen erbracht werden 311 . Diese Offerte wurde bis Dezember 1993 von 697 Schulen in Anspruch genommen312 . Kritiker gehen allerdings davon aus, daß sich das Ziel der allgemeinen Einführung des GMS-Status nicht erreichen lassen wird 313 • Diese durch den Reform Act von 1988 begründete Möglichkeit des Opting out wurde seit 1988 evaluiert und führte zu dem Ergebnis, daß die erreichten Standards und die Lernqualität in den selbstverwalteten Schulen im Durchschnitt besser als in Schulen, die von den lokalen Schulbehörden unterhalten werden, waren 314 . Insgesamt hat die stärkere Markt- und Verbraucherorientierung ihre Gestalt nicht nur durch den Reform Act von 1988 erhalten, sondern ist durch das White Paper "Choice and Diversity", in dem die Steigerung der Qualität und der Vielfältigkeit des Schulwesens, des Wahlrechts der Eltern, die Schule selbst auszuwählen, und eine größere verwaltungsmäßige Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule als bildungspolitische Ziel vorgaben formuliert wurden, und durch den Education Act von 1993 weiter umgesetzt worden. Im Rahmen der normativen Neuordnung des Bildungswesens wurde auch die Verantwortung der Einzelschule für die Lehrerausbildung gestärkt, indem ab 1994 66 % der Ausbildung für Sekundarlehrer von den Hochschulen an die Schulen verlagert wurde 315 . 308
Morris, Robert, S. 27 (29).
310
Dieser beträgt 1993 in der Sekundarschule ca. 1.500 Pfund, Vierlinger, Rupert,
309 s. Vierlinger, Rupert, S. 106. S.95.
Morris, Robert, S. 27 (30). Morris, Robert, S. 27 (31). 313 Glowka, Detlef, England, S. 38. 314 Morris, Robert, S. 27 (35) unter Bezugnahme auf Sutherland, S., Standards and Quality in Education 1992-1993. Her Majesty' s Stationary Office. London 1993, S. 24. 315 Stokes, Peter, S. 66. 311
312
14 Jach
210
D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Die Möglichkeit des Opting out war und ist bildungspolitisch sehr umstritten. Während die Kritiker gegenüber der Möglichkeit des Opting out befürchten, Grant-Maintained Schools würden "elitäre Einrichtungen, sie werden selektiv, und sie werden die Funktionsfähigkeit der örtlichen Schulbehörden zerstören,,316, sehen die Befürworter in der Möglichkeit des Opting out nur den ersten Schritt auf dem Weg zur Verankerung einer umfassenden Selbstverwaltung der Schule. Der Regelung des Reform Act von 1988 in England entsprechend wurde in Schottland mit Gesetz vom 16.11.1989 die Möglichkeit von Self-Governing Schools geschaffen, welche den Eltern das Recht einräumt, durch eine Wahlabstimmung die Schule ihrer Kinder der Kontrolle der örtlichen Behörde zu entziehen und sie unter Selbstverwaltung zu stellen, wobei diese dann direkt vom Ministerium finanzielle Zuwendungen erhält und Teil des öffentlichen Bildungswesens bleibt. g) Die Bedeutung des Reform Act von 1988Marktorientierung des Dienstleistungsbetriebs .. Schule" Aus den vorstehenden Ausführungen ist die Ambivalenz des Reform Act deutlich hervorgegangen: verwaltungsmäßige Dezentralisierung bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der Curricula und Stärkung der Leistungskontrollen. Die Zielorientierung dieses Reform Act wird eindeutig von einer Marktorientierung bestimmt. Die Schule soll als Dienstleistungsbetrieb kundenorientiert arbeiten, und die Eltern sollen scheinbar zum Souverän gegenüber den "Bildungsanbietern" werden. Diese Orientierung an den "Kundeninteressen" ist jedoch keineswegs mit einer Stärkung der pädagogischen Wahlmöglichkeiten verbunden. Sie ist vielmehr eingebunden in eine Stärkung der inhaltlichen Reglementierung, mit der England seine führende Rolle unter denjenigen Ländern auf(gibt), welche die inhaltliche Ausgestaltung der Schule den Betroffenen selbst überlassen 317 • Keinesfalls ist mit diesem Reform Act eine Kindorientierung verbunden, die die Individualität der einzelnen Schule aus den Lembedürfnissen der Kinder begründet. Vielmehr diktiert "das Gesetz von 1988 etwas anderes: den Trend zur neuerlichen Normierung dessen, was als Bildung gelten darf, und seine penible Kontrolle,,3\8. So hat der Reform Act "ein neues ideologisches Motiv gesetzt: den Glauben an die Wichtigkeit großangelegter Prüfungsprozeduren,,319, der den Erkenntnissen zumindest reformpädagogischer Überlegungen entgegensteht. Ross, Walter, S. 128. 317 Vierlinger, Rupert, S. 89 (116.) 318 Vierlinger, Rupert, S. 122. 319 Vierlinger, Rupert, S. 97. 316
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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Aus diesen Gründen kann man davon sprechen, daß der großen Bildungsreform allein marktorientierte Überlegungen zugrunde gelegen haben. Demokratische Aspekte der Sicherung gleichberechtigter kultureller Vielfalt haben ebenso wenig eine Rolle gespielt wie Überlegungen für eine kindgerechtere Schule. Und nicht zuletzt das "Gespenst Europa" dürfte hier informell Pate gestanden haben, wenn Vierlinger darauf verweist, daß die Anforderungen der europäischen Integration den Befürwortern für ein National Curriculum als wesentliche Legitimationsgrundlage gedient haben 32o• Gleichwohl bleibt zu konstatieren, daß die liberale Tradition des britischen Bildungswesens auch nach dem Reform Act von 1988 noch Vorbildfunktionen für die kontinental-mitteleuropäische Bildungsdiskussion wahrnehmen kann. Von der Zielorientierung der Reform her kann man sagen, daß Standardisierung und Kontrollierung bei gleichzeitiger Verwaltungs selbständigkeit zentrales Moment der Education Act seit 1988 waren 321 • Insofern wird allgemein zu Recht auch auf die besondere internationale schulrechtliche und verfassungstheoretische Bedeutung der Reformen seit 1988 hingewiesen 322 • Diese liegt darin, die besondere demokratietheoretische implizierte Stellung der LEAs, die traditionell die Eingebundenheit der Schule in die Kommune repräsentieren sollte, zugunsten gesamtstaatlich gesteuerter Marktmechanismen aufgegeben zu haben. Hierbei ist zwar die Stärkung der Eigenverantwortung bis hin zu der Einführung einer Rechenschaftspflicht und eines Konkurrenzverhältnisses zwischen den einzelnen Schulen ein der allgemeinen Entwicklung des public management entsprechendes Prinzip, doch wird der demokratietheoretische und grundrechtssichernde Aspekt von Schulvielfalt und dezentraler Bürgernähe einseitig zugunsten der Marktorientierung vernachlässigt. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man die Rechtsstellung der freien Schulen mit in die Betrachtung einbezieht. 2. Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft In einem Land, in dem das staatlich-kommunale Schulwesen traditionell von einer weitreichenden Unterrichtsfreiheit geprägt ist, muß das Schulwesen in freier Trägerschaft zwangsläufig eine andere Funktion haben als in zentralistisch reglementierten Schulsystemen, weil eine kategoriale Trennung - auf der einen Seite staatlich reglementierte Unterrichtsinhalte, auf der anderen Seite Möglichkeiten pädagogischer Autonomie - keine Gültigkeit beanspruchen Vierlinger, Rupert, S. 117. s. a. Glowka, Detlef, England, S. 77. 322 Glowka, Detlef, England. S. 36.
320 321
212
D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
konnte. An dieser Konstellation ist durch den Reform Act von 1988 nachhaltig gerüttelt worden. Die rechtliche Zuordnung von Schulen nach ihrer Trägerschaft ist nach englischem Recht der besonderen Schwierigkeit ausgesetzt, daß die in den anderen europäischen Ländern geltenden Differenzierungskriterien zwischen sog. "privaten" und "öffentlichen" Schulen dort nicht greifen. Das entscheidende Differenzierungskriterium ist im englischen Bildungswesen nicht die Trägerschaft, sondern die Finanzierung von Schulen323 . Zu den öffentlichen Schulen zählen danach auch die kirchlichen Schulen, weil sie als sog. Voluntary Schools öffentliche Zuschüsse erhalten, während als private - Independent School - Schulen nur die gelten, die keine solchen erhalten. In dieser Unterscheidung zeigt sich schon im Ausgangspunkt die problematische Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft in Großbritannien, die sich auch in der Begrifflichkeit weiter fortsetzt. Der Begriff der Public School meint nicht etwa die "öffentlichen" Schulen im Verständnis kontinentaler Prägung, sondern bezeichnet die "privaten" Schulen. Insgesamt besuchen in Großbritannien knapp 30 % der Schüler nichtstaatliche Schulen auf privater oder kirchlicher Initiative324 , doch kann diese Zahl nichts über die Diversität der verschiedenen Schultypen und deren Existenzbedingungen aussagen. Von diesen 30 % der Schüler besuchten 1993 6,7 % (560.000 Schüler) eine der ca. 2.300 staatlich nicht geförderten Independent Schools, während ca. 21 % (1,6 Mio. Schüler) staatlich geförderte Voluntary Schools besuchten325 • Hierbei ist seit den 60er Jahren ein, wenn auch geringfügiger, kontinuierlicher Rückgang des prozentualen Anteils der Schülerzahlen an den Independent Schools zu konstatieren (1961 7,7 %)326. Alle diese Schulen genießen die gleichen Privilegien der Gründungsfreiheit, d. h., sie hängen "einfach ihre Messingschilder (oder anthroposophisch geschnitzten Holzschilder!) auf und öffne(te)n ihre Türen,,327. a) Voluntary Schools Die Voluntary Schools unterteilen sich in staatlich geförderte Schulen (Voluntary Aided Schools), staatlich kontrollierte Schulen (Voluntary Controls. Jenkner, Siegfried, Schule zwischen Staats- und Selbstverwaltung, S. 44 (47). Karpen, Ulrich, S. 432; List, Juliane, Private Bildungsinitiativen im Ausland. In: Schlaffke, WinfriedlWe!ß, Reinhold, Private Bildung - Herausforderung für das öffentliche Bildungsmonopol. Köln 1996, S. 222 (231). 325 Zahlen nach Glowka, Detlef, England, S. 57 (68); List, Juliane, S. 231. 326 List, Juliane, S. 231. 327 Masters, Brian, Die Waldorfschulbewegung in Großbritannien, Erziehungskunst 323
324
10/1993, S. 1093 f.
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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led Schools) und Schulen mit besonderer Vereinbarung (Special Agreement Schools). Bei den staatlich geförderten Schulen trägt der Staat die Kosten des Betriebs, während der Schulträger für die Kosten der Unterhaltung des Schulgebäudes zu sorgen hat. Bei diesen Schulen bleibt den Schulen ein eigene Entscheidungshoheit hinsichtlich der Verwaltung der Schule und der Personalpolitik, insbesondere der Auswahl und Einstellung der Lehrer328 • In den staatlich kontrollierten Schulen, die vollständig vom Staat finanziert werden, bleibt zwar die formale Rechtsträgerschaft erhalten, aber diese Schulen haben sich in der Gestaltung des Unterrichts an das staatliche Schulwesen anzulehnen. Für sie gilt das National Curriculum genauso wie für die staatlichen Schulen. Innerhalb der Vorgaben des National Curriculum ist auch die Voluntary School autonom in bezug auf die Erstellung der Stundentafel, der Wahl der Unterrichtsmethoden und der Lehr- und Lernmittel. Schulen mit besonderer Vereinbarung nehmen einen speziellen Ausbildungs- und Betreuungsbedarf wahr und erhalten umfassende Zuschüsse. Insgesamt sind etwa 30 % der öffentlich finanzierten Schulen Voluntary Schools329 • Hierbei besteht auf seiten der geförderten Schulen insbesondere die Verpflichtung, kein Schulgeld zu erheben.
b) Independent Schools Die Independent Schools sind solche Schulen, die keine Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln erhalten und vollständig über Schulgelder oder Stiftungen finanziert werden müssen. Als unabhängige Privatschulen unterscheiden sie sich in Public Schools und Private Schools. Der in seiner Terminologie für kontinentale Verhältnisse irreführende Begriff der Public School erklärt sich historischen "Ursprungs und bringt lediglich zum Ausdruck, daß jedermann, der das nötige Geld dazu aufbringt, seine Kinder auf so eine Schule schicken darf.33o. Von der gesellschaftlichen Realität her ist dieser Begriff heute irreführend, da es sich bei diesen Schulen angesichts ihrer Nichtbezuschussung und ihres mindestens zum Teil selbstdefinierten - Standes bewußtseins um Eliteschulen handelt, die noch heute durch die Namen Eton, Harrow, u. a. geprägt werden33\. Diese Schulen begreifen sich sowohl sozial als auch pädagogisch als selektiv und waren seit der Einführung der Comprehensive School durch eine früh einsetzende äußere Leistungsdifferenzierung Garanten der sozialen Elitebildung, welches bei den Internaten angesichts von Schulgeldern in einer Höhe von jährlich zwischen 43.000 und 57.000 DM zugleich zu einer Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern führen muß332 • Anders als in Stein, Erwin, S. 209. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., Vereinigtes Königreich, S. 184. 330 Stein, Erwin, S. 209. 331 Vgl. Stein, Erwin, S. 209 f.; Vierlinger, Rupert, S. 118. 332 Vierlinger, Rupert, S. 89 (92). 328
329
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
anderen europäischen Ländern ist damit ein Teil dieser Independent Schools der gesellschaftlichen Elitenbildung verpflichtet. Dies drückt sich sowohl in der sozialen Zusammensetzung bei einem entsprechend hohen Schulgeld (z. B. Eton knapp 3.000 pro Monat) als auch dem Leistungslevel aus. Im Vergleich hierzu ist die Bedeutung der Private Schools, zu denen die reformpädagogischen Schulen wie die Rudolf-Steiner- und Montessorischulen zählen, und die ebenfalls keinerlei Zuschüsse erhalten, gering333 . Bei der Rechtsstellung der Private Schools zeigt sich unter dem Aspekt von Schul vielfalt eine Ambivalenz, die etwa der der Schweiz ähnelt. Auf der einen Seite ist unter sozialstaatlichen Aspekten die Rechtsstellung dieser Schulen als äußerst problematisch anzusehen, weil ihnen keine staatlichen Zuschüsse oder Subventionen zustehen. Auf der anderen Seite gewährt der Staat diesen Schulen einen weitgehenden Gestaltungsraum hinsichtlich der Unterrichtsinhalte als auch der Lehrerausbildung334 • So ist es bezeichnend, daß das National Curriculum für die Independent Schools keine Verbindlichkeit besitze35 • Gleichwohl müssen auch diese Schulen einen alters- und sachgemäßen Unterricht gewährleisten, der den vom Ministerium erlassenen Bestimmungen entspricht. Nach Art. 9 des Bildungsgesetzes von 1992 unterliegen alle Schulen, d. h., auch die Independent Schools, der Schulaufsicht. Sofern eine Independent School festgestellte Unzulänglichkeiten - wie jüngst im Fall der Reformschule Summerhill bekanntgeworden - nicht behebt, kann sie aus dem offiziellen Register der Independent Schools gestrichen werden. Die Anzahl der Schüler, die Independent Schools besuchen, ist in den letzten Jahren ungeachtet der fehlenden Bezuschussung insbesondere im Bereich der reformpädagogisch orientierten Schulen in Elternträgerschaft kontinuierlich gestiegen, obgleich einige Schulen in ihrer Existenz bedroht sind oder gar schließen mußten. So ist der Anteil in der Zeit von 1979 bis 1994 um 2 % auf 7,8 % der Schüler gestiegen336 . Die fehlende Subventionierung führt allerdings zwangsläufig dazu, daß auch diese Schulen sich entweder zu sozialen oder - als reformpädagogisch orientierte Schulen - zu kulturellen Eliteschulen entwikkein, in denen eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern stattfindet337 • Dementsprechend kommt auch die OECD-Untersuchung über die Qualität von Schulen in ihrem internationalen Bericht zu dem Ergebnis, daß ungeachtet des Stipendienprogramms des Assisted PI aces Scherne, welches Schüler von freien Schulen unterstützt, die das Schulgeld nicht aufSo auch Stein, Erwin, S. 210. s. Schreiben der Steiner Schools Fellowship v. 15th June 1992 - F/FIFIE. 335 Vierlinger, Rupert, S. 118. 336 Vgl. Glowlw, Detlef, England, S. 57 (68); Körner, Annegret, S. 396 (398). 337 Gleichwohl fehlen allerdings in der Regel den reformpädagogischen Schulen finanzkräftige Eltern, die die Schule finanzieren. 333
334
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
215
bringen können, Privatschulen in England und Wales einen elitären Charakter haben, der sich dahingehend auswirkt, daß Schüler aus diesen Schulen in den Universitäten und Prestigeberufen "stark überrepräsentiert" sind 338 . Dieses Assisted Places Scheme funktioniert so, daß nicht die Institution Schule, sondern Eltern mit relativ geringem Einkommen dergestalt unterstützt werden, daß der Staat für den Teil der Gebühren aufkommt, der den Eltern aufgrund ihres Einkommens nicht zugemutet werden kann und um den deshalb der normale Elternbeitrag gesenkt wird. Jede an diesem Modell teilnehmende Schule schließt mit der Zentralregierung einen Vertrag und muß sich verpflichten, einen bestimmten Anteil ihrer Schulplätze für solche Schüler bereit zu halten. Hierbei ist nach einer Fallstudie von Edwards, Fitz und Whitty in den 80er Jahren davon auszugehen, daß die zur Verfügung stehenden Plätze und Mittel nahezu zu 100 % ausgeschöpft werden. Im Jahre 1985/86 wurden 21.412 Schüler an 226 Independent Schools unterstützt, von denen 40 % überhaupt kein Schulgeld zahlten 339 • Die Fallstudie zeigt, daß schon Mitte der 80er Jahre der überwiegende Anteil von Eltern, die diese Mittel in Anspruch nahmen, aus einem bildungsmäßig aufgeschlossenen, aber verarmten Kleinbürgertum stammten, unter ihnen ein Drittel alleinerziehende Frauen. Diese wählten die Schule nicht wegen ihrer Unabhängigkeit oder sozialen Exklusivität, sondern wegen ihrer akademischen Auslese. Auch an diesem Ergebnis bestätigt sich die These, daß England ein Sonderfall der Bildungsfreiheit darstellt, als nämlich Independent Schools nicht wie in anderen Ländern Ausdruck der religiösen, ethnischen oder kulturellen Vielfalt, sondern selektive Einrichtungen für die Erreichung hochqualifizierter, hochangesehener Berufe der oberen Mittelschicht sind34o • Dem Elitecharakter entsprechend sind die Independent Schools in der politischen Diskussion dergestalt polarisiert, daß die Labour-Party "verschiedene Anläufe unternahm, den privaten Schulsektor zu beseitigen oder zumindest einzuschränken", während die Konservative Partei diesem wohlwollend gegenübersteht341 • Die Rechtsgrundlagen für die Privatschulen bilden auch nach dem Reform Act von 1988342 weiterhin die Bestimmungen von Teil III Ziff. 70-75 des Schulgesetzes von 1944. Danach sind unter freien Schulen solche Schulen zu 338 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität. Ein internationaler OECD-Bericht. FrankfurtlM. 1991, S. 143. 339 Edwards, TonylFitz, John/Whitty, Geoff, Private Schools and Public Funds: A Case Study of an English Initiative. In: Boyd, W.LJCibulka, I.G., Private Schools and Public Policy: A Case Study of an English Initiative. London 1989, S. 107 ff. 340 Edwards, TonylFitz, John/Whitty, Geoff, S. 107 ff. 341 So die Einschätzung von Glowka, Detief, England, S. 69. 342 s. a. Ross, Walter, S. 123, "für Privatschulen gilt das Gesetz nicht".
216
D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
verstehen, die für eine Mindestanzahl von 5 Schülern Vollzeitunterricht anbieten, die nicht von einer örtlichen Unterrichtsbehörde getragen werden und deren Betreiber keine Zuschüsse vom Ministerium erhalten. So erhalten diese Schulen in freier Trägerschaft weder Zuschüsse für Gebäude, laufende Ausgaben oder andere Sachmittel, noch für die Lehrergehälter. Dies führt dazu, daß z. B. die Eltern für den Besuch der 26 Waldorfschulen in England hohe Schulgelder aufbringen müssen, weil die Schulen keine Zuschüsse erhalten343 . In Nordirland gibt es eine Waldorfschule, die keine staatlichen Zuschüsse erhält. Auch die zahlreichen islamischen Schulen müssen ganz überwiegend ein hohes Schulgeld erheben. selbst wenn sie zudem von einer Stiftung mitfinanziert werden 344 . Allerdings hat insofern mit der Ablösung der konservativen Regierung durch die Labour-Party ein grundsätzlicher Wandel begonnen, der zu einer Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der ca. 1,5 Millionen Muslimen im englischen Bildungswesen führen wird. Durch einen positiven Bescheid des Erziehungsministeriums wurde im Januar 1998 zwei islamischen Schulen nach einem fünfzehnjährigen Bemühen die Gleichstellung mit anderen religiösen Schulen gewährt und damit der Erhalt der staatlichen Zuschüsse. Voraussetzung hierfür war, daß diese Schulen das National Curriculum einhalten und Jungen und Mädchen gleichermaßen Zugang zur Schule gewähren. Als Korrektiv für die fehlende Subventionierung der Independent Schools ist das durch Art. 17 (6 und 7) und 35 (4) des Bildungsgesetzes (Education Act von 1980) eingeführte Stipendienprogramm (Assisted PI aces Scheme) zu sehen, wonach begabten Schülern die Möglichkeiten geboten wird, an Schulen, die an diesem Programm teilnehmen, eine Ermäßigung ihres Schulgeldes zu erlangen, welche durch öffentliche Mittel ausgeglichen wird. Im Rahmen dieses Programms werden seit 1980 jährlich 33.000 Freiplätze an Independent Schools staatlich finanziert34s . Dieses Programm erscheint jedoch in England und Wales nicht nur in der Begrenzung auf "begabte" Schüler problematisch, sondern insbesondere auch 343 Vgl. Alexander, Sybille, Eine Waldorfschule erkämpft sich Anerkennung in der Öffentlichkeit - Die Rudolf-Steiner-Schule Edinburgh, Erziehungskunst 1990, S.222 (225). 344 s. zu der Entwicklung dieses Streits um Zuschüsse Oelrich, Christiane, Islamische Schule in England kämpft um staatliche Unterstützung, DLZ, 1211993, S. 11. Das Schulgeld betrug pro Platz DM 2.600 im Jahr, wobei die überschießenden Kosten von einer Stiftung abgedeckt wurden. Der Antrag auf Bezuschussung dieser Schulen in London wurde noch 1993 zum zweitenmal mit der Begründung abgelehnt, im unmittelbaren Einzugsbereich stünden 2.000 freie Schulplätze zur Verfügung, obgleich ca. 1.000 Schüler auf einen Schulplatz warteten; s. a. Hatel, Giti, Im Geist gegenseitiger Achtung - Staatliche Anerkennung islamischer Schulen, Neue Zürcher Zeitung (NZZ) v. 12. Mai 1998, S. 31. 345 Glowka, Detlef, England, S. 69.
III. Das liberal-kommunale Bildungswesen in England
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angesichts des für die teilnehmenden Schulen vorausgesetzten "Anspruchsniveaus" des Fächerangebots. Dies führt zwangsläufig zu einer Orientierung an den Lehrplänen und Inhalten öffentlich subventionierter Schulen und grenzt alternative Schulen indirekt aus. Unter dem Aspekt gleichberechtigter Schulvielfalt ist demgegenüber das schottisches Modell als weitergehend zu sehen, welches mit dem Bildungsgesetz von 1981 eingeführt wurde und im Gegensatz zu England und Wales die Teilnahme einer Schule nicht vom ,,Anspruchsniveau" der Schule abhängig macht. Die Schulen müssen beim zuständigen Bildungsministerium registriert sein, welches Anforderungen in bezug auf die Räumlichkeiten und den Unterricht stellen kann. Seit 1982 müssen sie jährlich einen Tätigkeitsbericht vorlegen. Die Independent Schools unterliegen damit zwar der Aufsicht durch die Schulaufsichtsbehörden (HMI), doch greift diese nicht in die pädagogische Autonomie ein. Die Independent Schools sind nicht berechtigt, die staatlichen Schulabschlüsse selbst abzunehmen, sondern die Prüfungen werden an externen staatlichen Schulen durchgeführt, wobei diese den staatlichen Schulen im Leistungsniveau im Bereich der sog. Eliteschulen weit überlegen sind. So dominieren die privaten Eliteschulen und -internate das alljährlich auf der Basis der erzielten Leistungen veröffentlichte Leistungsniveau der besten Schulen in England eindeutig346 • Das britische Schulsystem sieht jedoch nicht nur die Möglichkeit des Opting out der staatlich-kommunalen Schulen, sondern auch das Opting in einer Independent School vor, d. h., daß eine nichtsubventionierte Schule in freier Trägerschaft beantragen kann, eine staatlich bezuschußte Bildungseinrichtung zu werden, sofern sie sich bereit erklärt, auf Schulgelder zu verzichten und die Anforderungen des National Curriculum zu erfüllen347 • c) Die Rechtsstellung der Independent Schools
am Beispiel der Waldorfschulen
In England gibt es traditionell im Bereich der Independent Schools eine starke reformpädagogische Tradition, die kontinental vor allem mit dem Namen Summerhill bekannt wurde. So gibt es eine Anzahl von ca. 50 reformpädagogisch orientierten Schulen, die sich keiner der klassischen Linien wie den 26 Waldorf-, den 30 Montessorischulen oder den 6 Freien Alternativschulen zuordnen lassen 348 • Vgl. List, Juliane, S. 232 ff. Morris, Robert, S. 27 (35). 348 Angaben nach Klaßen, Th.F./Skiera, E. (Hrsg.), S. 182 ff. 346
347
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Exemplarisch zeigt sich die Ambivalenz des englischen Schulsystems, die einerseits durch eine liberale pädagogische Freiheit und andererseits durch die Vernachlässigung sozialstaatlicher Einstandspflichten geprägt wird, am Beispiel der Waldorfschulen. Die Waldorfschulen erhalten seit der Gründung der ersten Schule in den 20er Jahren keinerlei staatliche Subventionen, so daß sie bei der Gründung auf Schenkungen einzelner Personen angewiesen sind und die Höhe des notwendigerweise zu erhebenden Schulgeldes dem eigenen sozialpädagogischen Impuls, eine Schule für alle sein zu wollen, zuwiderläufe49 . Dies führte gesamtgesellschaftlich nicht nur dazu, daß diese Schulen sich nur dort etablieren konnten, wo seitens der Eltern und Spender die entsprechenden Mittel aufgebracht wurden, sondern im Zuge der stetig steigenden Kostenentwicklung für die Unterhaltung von Schulen einerseits und die Folgen wirtschaftlicher Rezession andererseits mußten zwei Schulen ganz, in zwei weiteren die Oberstufe geschlossen und eine weitere Schule in einen Kindergarten umgewandelt werden 35o • Dies bedeutet, daß die Waldorfschulen, deren Zahl sich von 30 im Jahre 1990351 auf 26 im Jahre 1993 reduzierte, in ihrem Bestand als Institution gefährdet sind und "keine realistische Zukunftschance (haben), wenn die englischen Schulen nicht langfristig auf andere finanzielle Grundlagen gestellt werden,,352. Nach der durch den Reform Act von 1988 geltenden Rechtslage wäre die einzige Möglichkeit, staatliche Subventionen zu erhalten, von der Option des "Opting in" Gebrauch zu machen mit der Folge, daß die Waldorfschulen sich dem National Curriculum und dem im Reform Act vorgesehenen System der umfassenden Leistungskontrollen unterziehen 353 • Dieses wäre jedoch aus der Sicht der Waldorfschulen mit einem derart gravierenden Eingriff in ihren Lehrplan und die Grundprinzipien des Unterrichts verbunden, daß die eigenständige pädagogische Prägung gefährdet erscheine54 • Staatliche Subventionierung ist demnach nur durch Anpassung an das staatlich-kommunale Schulwesen möglich, d. h., im Umkehrschluß: der Preis pädagogischer Freiheit ist soziale Selektivität. Hierbei ist diese Freiheit weitestgehend ungebunden und umfaßt sogar die Lehrerausbildung: "Innerhalb eines bestimmten, sehr allgemeinen und breitgefaßten Rahmens haben unabhängige 349 350
351
Masters, Brian, S. 1093 (1095 f.). Masters, Brian, S. 1093 (1098). Vgl. Alexander, Sybille, S. 225.
So die Mitteilung der "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Waldorfschulen in Großbritannien und Irland müssen sich die Überlebensfrage stellen, in einem 1993 verbreiteten Spendenaufruf. 353 Masters, Brian, S. 1093 (1100). 354 Masters, Brian, S. 1093 (1100); Spendenaufruf der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners: "Anerkennung des national Curriculum, um eine staatliche Subventionierung zu erhalten, hieße, den Waldorflehrplan und damit den eigenen pädagogischen Ansatz aufgeben zu müssen". 352
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Schulen hier die Freiheit, ... ihren eigenen Lehrplan zu verfolgen und Lehrer zu bestellen, die ausschließlich in der Methodik der jeweiligen Schulform ausgebildet sind. In gleicher Weise sind die Ausbildungsseminare für Waldorflehrer (von denen es zehn gibt) vollkommen ungebunden in bezug auf die Gestaltung der Lehrprogramme .... Dasselbe gilt auch für die Anerkennung der Schulen. Sie müssen alle den von der Steiner Fellowship gesetzten Kriterien gerecht werden, die auch ohne jegliche Beeinflussung von staatlicher Seite festgelegt werden,,355.
3. Paradoxien der konservativen Bildungspolitik Die konservative Bildungspolitik seit 1988 ist der Versuch der Einführung eines marktorientierten "nationalen Bildungswesens,,356. Hierin "den Abschied von dem Prinzip der öffentlichen Verantwortung für Bildung überhaupt" zu sehen 357 erscheint allerdings zu weitgehend. Die Veränderungen in der Struktur der Schulverfassung lassen den Schluß zu, daß in der jüngsten Entwicklung der britischen Schulverfassung Elemente eines Wandels von einer dezentral-liberalen Schulverfassung mit umfassenden Einflußmöglichkeiten der kommunalen Selbstverwaltung hin zu einer curricular mehr zentralistisch-etatistischen Schulverfassung mit starker Ausprägung der verwaltungsmäßigen Selbständigkeit der Einzelschule zu sehen sind, welche aber gleichzeitig hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten der Eltern stark durch ein marktorientiertes Konkurrenzverhältnis der Schulen untereinander geprägt ise58 . Dies bedingt zugleich, daß durch die zunehmende Bedeutung zentralstaatlich vorgegebener curricularer Elemente sich die Funktion der lokalen Aufsichtsbeamten insofern wandelt, als der Anteil beratender Tätigkeit sich verringert und der Anteil kontrollierter Aufsichtstätigkeit im klassischen Sinne zunimmt, so daß man von Rezentralisierungstendenzen sprechen kann 359 . Kritiker sehen in den Neuregelungen seit 1988 entgegen der Intention der Gesetzesänderung, der einzelnen Schule mehr Möglichkeiten der Autonomie zu gewähren, eine immer stärkere Verlagerung von Macht und Einfluß zugunsten der Zentralregierung in pädagogischen Angelegenheiten mit der bemerkenswerten
355 Masters, Brian, S. 1093 (1098). 356 Kress, GüntherIBoume, JilllReid, Euan, Schule in England, Pädagogik 1994, S. 45 (48 f.). 357 Kress, GüntherIBoume, JilllReid, Euan, S. 45 (50). 358 s. a. Glowka, Detlef, Schulverfassung in internationaler Sicht, S. 82; Partington, John, S. 235 (240); Burkard, ChristophlRo(ff, Hans-Günter, S. 208. 359 So auch die Einschätzung der vergleichenden Studie von Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 12.
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Einschätzung, "das Bildungssystem von England und Wales ist seit dem Bildungsgesetz von 1988 wahrscheinlich stärker zentralisiert als das in anderen westeuropäischen Ländern. Es hat mit Sicherheit eine Zunahme der direkten Kontrolle des Bildungssystems durch die Regierung stattgefunden,,360. Unzweifelhaft muß der Reform Act von 1988 und mit ihm zusammenhängend die durch den Education Schools Act von 1992 eingeführte externe Inspektion 361 als Beleg dafür dienen, daß mit der Einführung von Marktrnechanismen bei gleichzeitiger pädagogischer Rezentralisierung eine Gefährdung der Bildungsfreiheit und der Schulvielfalt verbunden ist. So ist nunmehr bei "groben" Verstößen gegen die zentral staatlich festgelegten Standards vorgesehen, "daß Schulen dem Management der governors oder authorities entzogen werden können und einer speziellen 'education association' unterstellt werden können,,362. Die besondere pädagogische Brisanz des Reform Act und des mit ihm verbundenen National Curriculum und der verstärkten Leistungskontrollen in Form turnusmäßig abzulegender Prüfungen auch für Independent Schools zeigt sich exemplarisch in der durch das britische Bildungsministerium angedrohten Schließung des reformpädagogischen Sakrals "SummerhilI" nicht nur wegen angeblich zu weitgehender Selbstbestimmung der Kinder etwa hinsichtlich des Unterrichtsbesuchs, sondern auch wegen mangelnden Leistungsniveaus gegenüber den Standards der Staatsschule sowie eines aus der Sicht der Unterrichtsverwaltung "schmalspurig angelegten Lehrplan(s),,363. Die materielle Rechtsstellung der Independent Schools erscheint unter sozialpolitischen Gesichtspunkten ebenso wie dem verfassungsrechtlichen Aspekt der Sicherung von Schulvielfalt äußerst bedenklich. Andererseits ist unter dem Gesichtspunkt der Unterrichtsfreiheit im pädagogisch-rechtlichen Sinne festzuhalten, daß die Schulen in freier Trägerschaft einen weiten Spielraum für die Gestaltung des Unterrichts haben. Gleichwohl müssen sich die Schüler dieser Schulen den gleichen Abschlußprüfungen wie für staatliche oder kommunale Schulen unterziehen364 , so daß der Reform Act von 1988 auf diesem Wege indirekt auch erhebliche Auswirkungen auf die pädagogische Freiheit dieser Schulen haben wird. Die englischen Independent Schools sind aufgrund der mangelnden Bezuschussung im Vergleich mit anderen Ländern als sozial elitär anzusehen, was auch für reform pädagogische Schulen in Eltemträgerschaft zutrifft. Auf der anderen Stokes, Peter, S. 63 (70). s. hierzu Burkard, Christoph/Ro(ff, Hans-Günter, S. 210 ff. 362 Burkard, Christoph/Ro(ff, Hans-Günter, S. 213. 363 Hammelmann, Warum schweigen sie? - Das kleine Modell "SummerhilI" ist geflihrdet, DLZ 9/1994, S. 1. 364 s. Europäisches Parlament, Sitzungsdokument 1-1456/83, S. 82. 360
361
IV. Schulverfassung in Irland - die Einheit von Kirche und Staat
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Seite kennzeichnet sie bis heute ein hohes Maß an Autonomie und völliger pädagogischer Freiheit. Angesichts ihrer Funktion der gesellschaftlichen Elitenbildung - im Gegensatz etwa zu Ländern wie Frankreich, wo private Schulen eher die Auffangfunktion für Versager im staatlichen Schulwesen übernommen haben - zeigen die englischen Independent Schools, daß selbst - abgesehen von dem Erfordernis öffentlicher Examina - bei völliger pädagogischer Freiheit keinesfalls wertbezogen eine gesellschaftliche Desintegration zu befürchten ist. Nichtsdestotrotz ist sozialstaatlich unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit ein wesentlicher Mangel im englischen Bildungssystem geblieben, der auch durch das 1980 eingeführte Assisted Places Scheme zur Unterstützung einkommensschwacher Kinder nur sehr bedingt ausgeglichen werden konnte.
IV. Schulverfassung in Irland - die Einheit von Kirche und Staat 1. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bildungswesens Kein Land Westeuropas ist in seiner Verfassungstradition so stark vom Katholizismus geprägt wie Irland, was zu der paradoxen Situation führt, daß die irische Verfassung einerseits aus dem Rahmen westeuropäischer Verfassungstraditionen fällt und als die am wenigsten liberale Verfassung in der Europäischen Gemeinschaft erscheint365 , auf der anderen Seite aber gerade die Unterrichtsfreiheit, die für die katholische Soziallehre in Ablehnung eines staatlichen Erziehungsrechts von eminenter Bedeutung ist, in der irischen Verfassung eine expliziteste Ausprägung gefunden hat. Diesbezüglich stellt sich das Bildungswesen in Irland als klassische Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips in seinem (einseitigen) Verständnis der katholischen Soziallehre dar. Nach Art. 42 der irischen Verfassung erkennt der Staat in Abs. I nicht nur das Primat der elterlichen Erziehung an und stellt es den Eltern nach Abs. 2 frei, für die religiöse, moralische, geistige, körperliche und soziale Erziehung so die neben dem elterlichen Erziehungsrecht in Abs. 1 enumerierte Erziehungspflicht der Eltern - in ihrer Privatwohnung, in Privatschulen oder in staatlich anerkannten oder vom Staat eingerichteten Schulen zu sorgen, sondern formuliert in Abs. 3 Nr. 1 ein ausdrückliches Verbot des Staates, Eltern zu verpflichten, ihre Kinder unter Verletzung ihres Gewissens oder ihrer rechtmäßigen Vorliebe in staatliche Schulen oder irgendeinen besonderen vom Staat vor365 s. hierzu Kimmei, Adolf, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, Grundrechte, Staatszielbestimmungen und Verfassungsstrukturen. In: Gabriel, Oscar W., Die EG-Staaten im Vergleich, Opladen 1992, S. 26.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
geschriebenen Schultypus zu schicken. Unabhängig davon trägt der Staat seiner sozialstaatlichen Verpflichtung dadurch Rechnung, daß er für eine kostenlose Volksschulbildung sorgt, gleichzeitig aber hat er sich zu bemühen, Privat- und Gemeinschaftsinitiative auf dem Gebiete der Erziehung weiterzuführen und in vernünftiger Weise zu unterstützen. Demgegenüber obliegt es dem Staat als Hüter des Gemeinwohls lediglich, dafür Sorge zu tragen, daß nach Art. 42 Abs. 3 Nr.2 Irische Verf. die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten, daß nach Abs. 4 Halbs. 2 unter gebührender Beachtung der elterlichen Rechte weitere Erziehungserleichterungen und -einrichtungen, insbesondere auf dem Gebiet der religiösen und moralischen Bildung, zur Verfügung stehen und daß nach Abs. 5 sich der Staat in Ausnahmefällen, in denen die Eltern aus körperlichen oder geistigen Gründen ihren Pflichten gegenüber ihren Kindern nicht nachkommen, bemüht, die Stelle der Eltern einzunehmen. Danach ist das staatliche Schulerziehungsrecht angesichts des Vorrangs des elterlichen Erziehungsrechts auch im Bereich der schulischen Erziehung und Bildung eindeutig subsidiär366 .
2. Das katholisch-staatliche Bildungswesen Es ist dies das Ergebnis einer historischen Entwicklung des Bildungswesens, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Staat nicht selbst als Veranstalter und Träger von Schule in Erscheinung tritt, sondern diesbezüglich die örtlichen, meist von den Kirchen getragenen Initiativen unterstütze 67 , was dazu geführt hat, "daß das Bildungswesen in Irland in der Praxis konfessionsgebunden ist,,368. Auch die Reform des irischen Bildungswesens seit 1975, in deren Rahmen an den Grundschulen "Boards of Management" eingeführt wurden, änderte an der kirchlich-katholischen Dominanz nichts, die auch im Sekundarschulwesen besteht. So ist es signifikant, daß 1988 nur sechs multikonfessionelle Schulen existierten," die nicht mehr ausschließlich im konfessionellen Umfeld angesiedelt sind,,369. Lediglich 1 % aller schulpflichtigen Kinder gehen auf überkonfessionelle Schulen, die meist als Privatschulen betrieben werden und als solche
So auch Kimmel, Adolf, S. 30. O'Buachalla, Bildungspolitik und Bildungswesen in den Randgebieten der Irischen Republik. In: ders. u. a., Schule am Rande Europas, Irland, Schottland und Nordnorwegen. Gießen 1983, S. 1; Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Irland, S. 109. 368 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., Irland, S. 109. 369 Fuchs, Jochen, Das Bildungswesen in Irland, Schulmanagement 1993, S. 38 (39). 366 367
IV. Schulverfassung in Irland - die Einheit von Kirche und Staat
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(nahezu) 100 % der Personalkosten und 85 % der Sachkosten (Kosten für Bauund Lehrrnaterial) erstattet bekommen37o. Angesichts des starken Einflusses der katholischen Kirche ist auch die in den meisten Ländern Europas vollzogene Trennung von Kirche und Staat im irischen Schulwesen nicht eingetreten. Die National Schools, die im Primarschulbereich von 98 % der Schüler besucht werden, sind keine öffentlichen und staatlichen Schulen im Sinne der übrigen westeuropäischen Schulverfassungen 37 !, sondern sind auf der Basis von Kirchengemeinden organisierte Schulen, die von einem kirchlichen Schulträger getragen werden und deren konfessioneller Charakter von Staat ausdrücklich anerkannt wird372 . Diese Schulen werden nach einem Pauschal zu schuß pro Schüler zu 85 % vom Staat, der Rest von der Kommune finanziert. Zudem erhalten die Schulen einen Pauschalbeitrag pro eingeschriebenen Schüler von der sie tragenden Kirchengemeinde. Gleichwohl wird auch in vielen National Schools von den Eltern ein "freiwilliger" Zuschuß erbeten, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern 373 . Zwar ist der kirchliche Schulträger seit 1975 nicht mehr allein für die Schulleitung zuständig, sondern in ein Board of Managers eingebunden, an dem neben dem Vertreter des kirchlichen Schulträgers auch Lehrer und Eltern einbezogen sind, doch ist der Staat nicht selbst Träger dieser Schulen und beschränkt sich auf die Finanzierung sowie die Aufsicht über die Schulen374 • Ebenso wie die Primarschulen werden die Schulen des Sekundarbereichs (Secondary Schools) von einem nichtstaatlichen, ganz überwiegend kirchlichen katholischen, Träger geleitet und erhalten staatliche Zuschüsse auf der Grundlage der jeweiligen Schülerzahlen für den laufenden Betrieb sowie die Lehrergehälter und die Baukosten. Die Bezuschussung ist für die Secondary Schools, die kein Schulgeld erheben, höher als für solche, an denen Schulgeld bezahlt werden muß, und deckt den weitaus größten Teil der Kosten 375 . Dies betrifft ca. 95 % der Schulen, die seit 1967 an einem besonderen Programm teilnehmen, welches zur Verwirklichung der Chancengleichheit im Bildungswesen den kostenlosen Besuch dieser Schulen unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern ermöglichen soll. Sofern die Secondary Schools diesen 370 Wilke, Birgit, Ein Lehrer verlor seine Freunde - weil er katholische und evangelische Kinder unterrichtet, DLZ 12/1993, S. 11, mit einem Bericht über eine überkonfessionelle Schule. 371 Insofern ist es schon fragwürdig, daß diese Schulen in der vergleichenden Untersuchung von Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 30 unter der Kategorie "staatliche Schulen" erfaßt werden. 372 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Irland, S. 109. 373 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., 1995, S. 212. 374 O'Buachalla, Bildungspolitik und Bildungswesen, S. I (5). 375 O'Buachalla, Bildungspolitik und Bildungswesen, S. 5.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
kostenlosen Schulbesuch gewähren, betragen die finanziellen Zuschüsse fast 100 % der Gehälter und Zulagen für die Lehrer sowie 90 % der Kosten der genehmigten Gebäude und der sächlichen Ausstattung 376 . Die Secondary Schools, die von ca. 40 % der Schüler besucht werden 377 , müssen vom Bildungsministerium anerkannt werden und unterliegen den ministeriellen Verordnungen 378 • Neben den privaten Secondary Schools gibt es im Sekundarbereich außer den im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu berücksichtigenden Vocational Schools im allgemeinbildenden Bereich Comprehensive Schools und Community Schools, die vollständig vom Staat finanziert und von den jeweiligen Schulverwaltungsräten verwaltet werden, an denen im Falle der Comprehensive Schools neben kirchlichen Vertretern solche der kommunalen Verwaltung und des Bildungsministeriums und in den Community Schools neben den kommunalen Vertretern auch Eltern und Lehrer mitwirken 379 • Innerhalb des Sekundarbereichs ist die Dominanz der katholischen Schulen nicht so stark wie im Primarbereich, ca. 60 % der Schüler besuchen katholischen Sekundarschulen. Irland ist ähnlich wie die Niederlande zwar durch eine zentralistische Bildungsverwaltung geprägt, innerhalb derer das Bildungsministerium ein einheitliches Curriculum für alle Schulen und allgemeine Regeln für den Schulbetrieb festlegt sowie den Leistungsstand der Lehrer durch ein zentrales Aufsichtssystem überwacht380, doch gleichzeitig sind diese Rahmenvorgaben so weit gefaßt, daß die einzelnen Schulen bei der Lehrplangestaltung große Spielräume besitzen und innerhalb der Rahmenvorgaben selbst über die Unterrichts- und Erziehungsziele, die pädagogische Organisation des Unterrichts und der Lehrinhalte und -methoden sowie den Haushalt und die Mitwirkungsrechte der Eltern entscheiden381 . Allerdings ist auch in Irland ähnlich wie in England durch den Reform Act von 1988 insbesondere im Sekundarbereich durch die stärkere Existenz von Pflichtfächern und zentralen Prüfungen ein "Trend zu einer gewissen Rezentralisierung,,382 erkennbar. Hierbei wird diese Rezentralisierungstendenz, die indirekt auch die Kontrollfunktion der Schulaufsicht stärkt, verstärkt durch die relativ schwache Stellung der Lehrermitwirkung. Die Schulen, die meist kirchlichen Trägem unterstehen, werden in der die Rechte der Schule wahrnehmenden Schulkonferenz mehrheitlich durch vom Schulträger benannte Mitglieder sowie Eltern und den Schulleiter vertreten; die Lehrer376 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 110. 377 s. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 30. 378 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 110. 379 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 110. 380 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 35; Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S. 110. 381 s. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 66 (74, 84). 382 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 66.
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schaft ist lediglich an kommunalen Schulen mit mehr als sieben Lehrern mit einem Vertreter repräsentiert, während Schüler nicht in der Schulkonferenz vertreten sind383 • 3. Die Rechtsstellung der unabhängigen Schulen Aufgrund des lediglich subsidiären Charakters der staatlichen Schulerziehung und des Bestehens einer Unterrichtspflicht statt einer Schulpflicht gibt es in Irland keine Gesetze, die die Errichtung von privaten Primar- oder Sekundarschulen regeln. Die 2 % der Schulen des Primarbereichs, zahlenmäßig sind dies bezogen auf das Schuljahr 1986/8763 Schulen mit 7458 Schülern384 , die nicht konfessionell gebundene Schulen in freier Trägerschaft sind, werden nicht staatlich subventioniert. Hierzu gehören auch die reformpädagogischen und alternativen Schulen, wie z. B. die in jüngerer Zeit gegründeten zwei Waldorfschulen 385 • Diesbezüglich ist nach einem ablehnenden Bescheid eines Antrags der Waldorfschulen auf Bezuschussung seitens des Bildungsministeriums in Irland gegenwärtig ein Verfahren anhängig, in dem unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu klären ist, ob ein Abweichen in den Lehrinhalten einen Ausschluß von der Bezuschussung rechtfertigen kann. Die Secondary Schools, die von Privatpersonen verwaltet werden, erhalten erhebliche Zuschüsse. Im einzelnen werden die Lehrergehälter fast zu 100 % und die genehmigten Bau- und Ausstattungskosten zu 90 % bezuschußt. Dies betrifft allerdings wiederum die staatlich anerkannten Schulen, die 88 % der Secondary Schools ausmachen. Die restlichen Schulen erheben Schulgeld zur Deckung ihrer Kosten 386 . Ähnlich wie an den National Schools ersuchen auch die staatlich finanzierten Secondary Schools die Eltern um "freiwillige" Beiträge, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern. Um Schülern sozial benachteiligter Schichten einen allgemeinen Zugang zu den Secondary Schools zu ermöglichen, besteht ein Förderprograrnm zugunsten dieser Schüler, an welchem sich 95 % der Schulen beteiligen und welches den kostenlosen Zugang zur Secondary School gewährleistet387 •
Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 71. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 30. 385 O'Shiel, Pearse B., Ireland. In: Borchert, ManfrediFuchs, Eginhard/Konzak, Judith (Hrsg.), FJF/FIE Länderkarte 1992/93. Witten 1993 (Selbstverlag). 386 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 50. 387 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 50; s. a. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 212. 383 384
15 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa 4. Pädagogische Freiheit und Grenzen der Schulvielfalt
Das irische Bildungssystem ist durch die Ambivalenz einer weitreichenden Entstaatlichung und einer gleichzeitigen Diskriminierung pädagogisch-alternativer Unterrichtskonzeptionen der Schulen in Elternträgerschaft geprägt. Diese nimmt diesen Schulen zwar nicht ihren pädagogischen Eigenraum, doch vernachlässigt die irische Schulverfassung die sozialstaatlich gebotene allgemeine und freie Zugänglichkeit zu diesen Schulen, die gerade wegen ihrer Andersartigkeit erfolgt. Die Schulen, die keine staatlichen Zuschüsse erhalten, genießen wie in England weitreichende pädagogische Freiheiten. Aber auch die staatlich unterstützen Primarschulen haben substantielle Gestaltungsmöglichkeiten, da zwar das Bildungsministerium die Lehrpläne festsetzt, jedoch diese Schulen nicht der staatlichen Schulaufsicht unterliegen, so daß deren Einhaltung nicht überprüft wird. Dagegen müssen die Sekundarschulen die staatlichen Lehrpläne befolgen und unterliegen diesbezüglich der staatlichen Schulaufsiche 88 •
V. Von der zentralistischen zur dezentralen-bürgerschaftlichen Schulverfassung Der Wandel der Bildungssysteme in Skandinavien 1. Das norwegische Bildungswesen
a) Rechtliche Grundlage und Grundstrukturen des Bildungswesens In seiner Grundstruktur eng dem dänischen verbunden ist das norwegische Schulwesen, was sich aus der jahrhundertelang vorherrschenden gemeinsamen Tradition erklären dürfte. Gleichwohl weisen beide Länder im Hinblick auf die Strukturen des Bildungswesens im allgemeinen und die Ausgestaltung der Unterrichtsfreiheit im besonderen durchaus unterschiedliche Entwicklungswege auf, die z. B. daran deutlich werden, daß in Norwegen - im Gegensatz zu Dänemark, wo es noch heute keine Schul-, sondern nur eine Unterrichtspflicht gibt - schon im Jahre 1889 die siebenjährige Schulpflicht für alle Kinder eingeführt wurde, wenn auch im Hinblick auf die Anforderungen agrarischer Lebensweise mit anfangs unterschiedlichen Vorschriften für Stadt- und Landschulen389 • Im Gegensatz zur dänischen Verfassung, welche aber selbst hinsichtlich des 388 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 50 f.; Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 218. 389 Ministerium für Bildung, Wissenschaften und Kirchliche Angelegenheiten, Das norwegische Bildungswesen. Oslo 1991, S. 13.
V. Der Wandel der Bildungssysteme in Skandinavien: Norwegen
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Schulwesens nur eine sehr fragmentarische Regelung darstellt, enthält die norwegische Verfassung vom 17.5.1814 auch in ihrer neuesten Fassung vom 29.5.1990 keine verfassungsrechtlichen Regelungen über die Bildung und Erziehung. Die norwegische Verfassung vom 17. Mai 1814390 ist danach durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Zum einen ist dies das Fehlen eines enumerierten Grundrechtskatalogs und infolge dessen eines Verfassungsartikels über das Recht auf Bildung oder das Recht der Unterrichtsfreiheit. Zum anderen ist die norwegische Verfassung und damit auch das norwegische Bildungswesen durch die besondere verfassungsrechtliche Konstellation geprägt, daß in Norwegen keine Trennung von Kirche und Staat vollzogen wurde. Vielmehr legt die Verfassung des Königreichs Norwegen, die in § 1 Satz 2 eine beschränkte und erbliche Monarchie als Regierungsform normiert, in § 2 Satz 2 verfassungsrechtlich fest, daß "das evangelisch-lutherische Bekenntnis offizielle Religion des Staates ist", mit der Folge, daß das Schulpflichtgesetz von 1969 in § 1 normiert, daß die Pflichtschule "im Einverständnis und in Zusammenarbeit mit dem Elternhaus dazu beitragen (soll), den Schülern eine christliche und moralische Erziehung zu geben,,391. Verfassungsrechtlich findet diese Einheit von Staat und Religion seine Fortführung in der Definition der Rechte des Staatsbürgers. Nach § 2 Satz 3 der norwegischen Verfassung sind die Staatsbürger, die sich zur evangelisch-lutherischen Konfession bekennen, verpflichtet, ihre Kinder in derselben zu erziehen. Ungeachtet dieser Dominanz der evangelischlutherischen Kirche im gesamten öffentlichen Leben, ist die Schulwesen gleichwohl nicht universalistisch deren Morallehre unterworfen. Das norwegische Bildungswesen ist durch eine neunjährige Gesamtschule geprägt, wie sie auch den übrigen skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Finnland entspricht. Hierbei wurde die neunjährige Gesamtschule in Norwegen im Zuge der großen Bildungsreformen Ende der sechziger Jahre durch das Basisschulgesetz von 1968, welches 1975 ergänzt wurde, normativ verankert392 . Die Gesamtschule ist Ausdruck des expliziten Selbstverständnisses der norwegischen Bildungspolitik, allen Kindern durch eine den individuellen Fähigkeiten zugeschnittene Ausbildung Chancengleichheit unbeachtet des Geschlechts, des Wohnorts und des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergrunds zu gewährleisten393 . Das norwegische Schulwesen ist zwar historisch stark vom Gedanken der nationalen Einheitsschule, wonach die Kinder ungeachtet aller sozialen, wirtschaftlichen kulturellen und religiösen Unter390 Zuletzt geändert am 29.5.1990. 391 Zit. nach Ministerium für Bildung, S. 4. 392 Vgl. Mason, Peter, Independent Education, S. 89. 393 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., Norwegen, S. 485.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
schiede eine gemeinsame Schule besuchen sollten, geprägt, doch besteht in der zunehmend säkularisierten norwegischen Gesellschaft sowohl ein Bewußtsein darüber, daß die verbindliche Ausrichtung auf eine christliche Erziehung evangelisch-lutherischer Orientierung mit den Ansprüchen einer dem Pluralismus und dem Toleranzgebot verpflichteten Gesellschaft in Konflikt geraten kann 394 • Infolgedessen sind nicht nur die Einflußmöglichkeiten der Kirche auf das öffentliche Schulwesen zunehmend reduziert worden und in den Rahmenplänen für den Unterricht andere Weltanschauungen und Religionen berücksichtigt worden395 , sondern insbesondere die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft ermöglicht es den von der evangelisch-lutherischen Weltanschauung abweichenden Erziehungs- und Unterrichtskonzeptionen durchaus, gleichberechtigt neben den öffentlich-kommunalen Schulen Bestand zu haben. b) Die Dezentralisierung der Schulverwaltung
Die Entwicklung des öffentlichen norwegischen Bildungswesens in den letzten Jahren entspricht der allgemeinen Tendenz zu stärkerer Dezentralisierung der Bildungsverwaltungsstrukturen und einer stärkeren pädagogischen Eigenverantwortung der Einzelschule. Dementsprechend wurden zuvor zentralstaatlich ausgeübte Befugnisse auf die regionalen und lokalen Behörden übertragen, indem z. B. das Prinzip der Zweckbindung staatlicher Zuweisungen an die Provinzen und Kommunen im Jahre 1986 aufgehoben wurde und diesen nunmehr pauschale Zuweisungen gemacht werden396 • Die Bildungsverwaltung unterteilt sich in das nationale Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kirchliche Angelegenheiten auf nationaler Ebene, die Staatsschulräte auf der regionalen Ebene der Provinzen und die Schulverwaltungsausschüsse und Schulräte auf kommunaler Ebene. In einer Gesamtbetrachtung der Kompetenzverteilung des öffentlichen Schulwesens kann man davon ausgehen, daß die Gemeinden die Hauptverantwortung für den neunjährigen Pflichtschulbereich tragen, während die 19 Fylker (Regionen) für die weiterführende Schulbildung (10.-12. Schuljahr) verantwortlich sind397 • Den Städten und Gemeinden obliegt danach im Primar- und Sekundar-I- Bereich die Einrichtung und Unterhaltung von Schulen, die Regelung des Unterrichtsangebots sowie die Schulaufsicht. Für Schulfragen ist auf kommunaler Ebene der vom Stadt/Gemeinderat ernannte Schulverwaltungsausschuß zu394 Schultze, Herbert, Religionsunterricht bei unseren europäischen Nachbarn - Norwegen, Erziehen Heute 1992, S. 13 ff. 395 Schultze, Herbert, S. 16. 396 Ministerium für Bildung, S. 8. 397 NORINFORM für das Königliche Norwegische Außenministerium, NorwegenInformation UDA 347 TYS, v. April 1990.
V. Der Wandel der Bildungssysteme in Skandinavien: Norwegen
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ständig, der den politischen Kräfteverhältnissen des Rates entsprechend zusammengesetzt ist und Befugnisse hinsichtlich der Einstellung von Lehrkräften, der Haushaltsplanung und der Schulaufsicht im Hinblick auf die Einhaltung der durch das Schulpflichtgesetz festgelegten Lehrplananforderungen ausübt und einen Schulrat benennt, der mit Mitarbeitern des Schulamtes Beschlüsse des Ausschusses vorbereitet und durchführt398 • Im Bereich der Sekundarstufe 11 übt das Ministerium über den Rat für die Sekundarstufe 11 hinsichtlich Struktur und Inhalt einschließlich des Berechtigungswesens größere zentralstaatliche Steuerungsbefugnisse aus, gleichwohl sind auch in diesem Bereich die Zuständigkeiten für die Schulverwaltung und entwicklung dergestalt dezentralisiert, daß diese den regionalen Provinzialausschüssen unterstehen 399 • c) Autonomie der Einzelschule
In Norwegen finden sich über die Dezentralisierung der Schulverwaltung hinaus drei Strukturelemente in der Organisation des allgemeinbildenden Schulwesens wieder, die signifikant für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten im staatlich-kommunalen Schulwesen sind. Zum einen herrscht eine relative Autonomie der Einzelschule hinsichtlich ihrer pädagogisch-didaktischen Arbeit. Ähnlich wie in den Niederlanden - dort allerdings erst durch das Basisschulgesetz von 1985 verankert - erarbeiten die einzelnen Schulen nach dem Schulpflichtgesetz von 1969 im Rahmen der von den staatlichen Schulbehörden festgelegten Rahmenrichtlinien, die erstmalig 1974 erarbeitet und 1987 revidiert worden sind, einen eigenen Schularbeitsplan, der die Rahmenvorgaben für die einzelne Schule umsetzen soll. Hierbei werden durch die Rahmenrichtlinien zwar die Unterrichtsgrundlagen und -ziele für die Pflichtschule festgelegt und der inhaltliche und zeitliche Rahmen für die einzelnen Fächer gesetzt, doch ist die einzelne Schule bzw. die kommunale Schulbehörde verantwortlich für die Ausarbeitung der Curricula und die Festsetzung der Lehrinhalte im einzelnen. Hinsichtlich der Methode besitzt der einzelne Lehrer eine relativ große Freiheit einschließlich Verwendung der Unterrichtsmittel. Allerdings unterliegen Lehrbücher einer Genehmigungspflicht. Die Rahmenrichtlinien enthalten Stundentafeln für die wöchentlichen Unterrichtsstunden pro Fach, über deren Verteilung die einzelne Schule entscheidet. Die pädagogische und administrative Verantwortung in den täglichen personellen Angelegenheiten liegt beim Schulleiter bzw. der Schulleitung. Jeder Schulträger hat einen Verwaltungsrat, der für die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und den Haushalt verantwortlich ist, während andere Aufgaben an die 398 399
Ministerium für Bildung, S. 17. Ministerium für Bildung, S. 24.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
Schulleitung übergeben werden können. Die Zahl der Mitglieder des Verwaltungsrates wird vom Schulträger bestimmt. Mitglieder des Verwaltungsrates sind Vertreter des Schulministeriums, des Schüler- und Elternrates sowie sonstige Angestellte der Schule. Zum zweiten handelt es sich beim norwegischen Schulwesen um ein wenig durch Selektionsmechanismen geprägtes Bildungswesen. So ist die neunjährige Pflichtschule durch das Grundschulgesetz von 1969 und das Ergänzungsgesetz von 1975400 als integrierte Gesamtschule konzipiert, die sich in den Primarbereich vom 1. bis 6. Schuljahr und den Sekundar-I-Bereich vom 7. bis 9. Schuljahr unterteilt, wobei es in der Primarstufe weder benotete Zeugnisse und noch ein Sitzenbleiben gibt. Lediglich in der Sekundarstufe I erhalten die Schüler zweimal im Jahr ein Zeugnis mit Noten in den Pflichtfachern, und es muß am Ende der 9. Klasse eine schriftliche Abschlußprüfung unter der Aufsicht der staatlichen Pflichtschulbehörde abgelegt werden401. Zum dritten gibt es in Norwegen keine Schulaufsichtsbehörden oder entsprechende Einrichtungen, so daß der internen Evaluation eine große Bedeutung beigemessen wird. Norwegen belegt insofern, daß schulische Erziehung und Unterricht im staatlich-kommunalen Bereich auch ohne eine staatliche Schulaufsicht erfolgen können.
d) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen Obgleich Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern nur wenige nichtstaatliche Schulen in freier Trägerschaft hat und über "keine ausgesprochene Privatschultradition" verfügt402 , hat es eine liberale Gesetzgebung, die es den Schulen in freier Trägerschaft ermöglicht, relativ gleichberechtigt neben dem staatlichen Schulwesen zu existieren. Das norwegische Privatschulgesetz vom 14. Juni 1985 will über die Bezuschussung privater Schulen dazu beitragen sicherzustellen, daß private Schulen nicht nur gegründet, sondern auch betrieben werden können (§ 1), insbesondere soweit sie aus religiös-ethischen Gründen oder als fachlich-pädagogische Alternative zum bestehenden öffentlichen Schulwesen gegründet und betrieben werden (§ 3). Ein Anspruch auf staatliche Bezuschussung besteht demnach für Schulen, die aus ethisch-religiösen Gründen oder als eine fachlich-pädagogische Alternative gegründet werden, wobei der Unterricht entweder in Übereinstimmung mit dem Gesetz über Primar- und Sekundarschulen gegeben werden oder
400 Sunnana, Olaf ISeidenfaden, Fritz, Nordnorwegen. In: O'Buachalla u. a., Schule am Rande Europas, Irland. Schottland und Nordnorwegen. Gießen 1983. S. 74 (93). 401 Alle Angaben nach Ministerium für Bildung. S. 13 ff. 402 Ministerium für Bildung. S. 9.
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aufgrund eines Unterrichtsplanes vom Ministerium anerkannt sein muß. Hierbei muß aus dem Unterrichtsplan verbindlich hervorgehen, welche Beurteilungsformen und Abschlußzeugnisse die Schule benutzen will, während sie explizit Freiheit in pädagogischen Fragen hat. Die materielle Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft in Norwegen ist prinzipiell mit der in Dänemark vergleichbar und basiert auf den Regelungen der §§ 26 und 27 des norwegischen Privatschulgesetzes (norw. PrivatschuIG). Mit diesem Gesetz wurden insbesondere die Zuschüsse für nichtstaatliche Schulen von 65 % auf 85 % erhöht403 , und für Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung wie die Rudolf-Steiner-Schulen wurde eine Bezuschussung eingeführt404 • Nach § 26 norw. PrivatschulG erhalten Grundschulen (Zuschußbestimmung Nr. 7) und weiterführende Schulen, die gewöhnlich ihre Parallele in entsprechenden staatlichen Schulen haben (Zuschußbestimmung Nr. 3) einen staatlichen Zuschuß in Höhe von 75-85 % der normalen Betriebsausgaben zu allem anerkannten Unterricht, wobei die Zuschußgrundlage vom Parlament festgesetzt wird. Ein Gesetzentwurf aus dem Jahre 1992, der einen neuen Verteilungs schlüssel für die Bezuschussung dergestalt vorsah, daß die Mittel nicht mehr pro Schüler, sondern pro Klasse berechnet werden sollten und dazu geführt hätte, daß Schulen mit einer im Vergleich zu staatlichen Schulen relativ großen Klassengröße wie die Rudolf-Steiner-Schulen (24 bis 28 Schüler) faktisch erheblich geringere Zuschüsse erhalten hätten, fand keine parlamentarische Mehrheit. Nach § 25 Abs. 1 norw. PrivatschulG kann eine private Schule auf ihren Antrag hin mit der staatlichen Anerkennung ein Recht auf Bezuschussung erwerben, wobei das betreffende Ministerium im Einzelfall entscheidet, ob die gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere auch in pädagogischer Hinsicht, erfüllt sind. Nach § 4 des Gesetzes müssen jedoch die Schulen als fachlichpädagogische Alternative anerkannt sein oder nach Unterrichtsplänen unterrichten, die vom Ministerium anerkannt sind. Hierbei muß aus dem Unterrichtsplan lediglich hervorgehen, welche Beurteilungsform und Zeugnisse die Schule benutzen will, darüber hinaus hat sie nach dem Gesetz ihre Unterrichtsfreiheit. Das Gesetz enthält darüber hinaus Bezuschussungsvoraussetzungen, die unter sozialstaatlichen Aspekten positiv zu bewerten sind. Zum einen dürfen nach § 27 Abs. 2 norw. PrivatschulG Schulen, bei denen die öffentlichen Zuschüsse ihre Betriebsausgaben vollständig decken, kein Schulgeld erheben. Zum anderen müssen die Schulen nach § 7 Abs. I norw. PrivatschulG das ganze Land als Aufnahmegebiet haben und sollen allen Schülern offenstehen, die die Aufnahmebedingungen in entsprechenden öffentlichen Schulen erfüllen, wobei das 403 404
V gl. Mason, Peter, Independent Education, S. 90. Ministerium für Bildung, S. 9.
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Ministerium bei gewichtigen Gründen Ausnahmeregelungen gewähren kann. Diese Einbindung der nichtstaatlichen Schulen unter Auflösung eines freien Vertragsmodells zwischen Schüler/Eltern und Schule scheint als ein wesentliches legitimatorisches Moment für eine weitreichende Gleichstellung von staatlich-kommunalen und freien Schulen. Ähnlich wie in anderen Ländern normiert § 16 norw. PrivatschulG ferner als Soll vorschrift das Recht der Lehrkräfte auf Gehalts- und Arbeitsbedingungen wie an den entsprechenden öffentlichen Schulen. In Norwegen ist die staatliche Schulaufsicht über die freien Schulen auf eine Rechtsaufsicht beschränkt, eine Fachaufsicht findet nicht statt. Die Schulaufsichtsbehörde überprüft dementsprechend nur das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Geltendmachung staatlicher Zuschüsse und die Einhaltung baupolizeilicher und arbeitsrechtlicher Vorschriften. Wenn eine Grundschule Anerkennung mit Recht auf Bezuschussung anfordert, gibt die Schulaufsichtsbehörde und der Schulrat des Bezirkes einen Bericht; im Falle einer Sekundarschule ist es die Bezirksschulaufsichtsbehörde. Das betreffende Ministerium entscheidet im Einzelfall, ob die Schule die Anforderungen des Gesetzes erfüllt und ob sie nach einer Gesamtbeurteilung mit Recht auf Bezuschussung anerkannt werden kann405 • Diese Begrenzung der staatlichen Schulaufsicht und die Tatsache, daß Abschlüsse und Beurteilungsstandards etwa der Waldorfschulen in Norwegen dergestalt anerkannt sind, daß Zuschußvoraussetzung nicht die Einhaltung der Formen des staatlichen Berechtigungswesens ist, gewährt den Schulen in freier Trägerschaft eine weitgehende pädagogische Freiheit. Insgesamt läßt sich nicht verkennen, daß in Norwegen unter dem Aspekt von Schulvielfalt trotz relativ günstiger rechtlicher Rahmenbedingungen nur gut 5 % aller Schüler nichtstaatliche Schulen besuchen, wobei von den alternativen und refompädagogischen Schulen wiederum die Steiner-Schulen mit einer Anzahl von 24 Schulen im Primar- und Vorschul bereich und 8 Schulen im Sekundarbereich den größten Anteil stellen, neben dem sich noch eine geringe Anzahl von Montessorischulen findet406 . Insgesamt erhielten im Jahre 1981 181 Schulen mit insgesamt 14.370 Schülern staatliche Zuschüsse407 • Interessant an den norwegischen Verhältnissen ist hierbei nach den von Mason genannten Zahlen408 insbesondere, daß entgegen den Entwicklungsten405 s. hierzu näher Europäische Kommission, Strukturen der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Europäischen Union, 2. Ausgabe. Brüssel 1995, S. 485-488. 406 Mason, Peter, Independent Education, S.90, spricht von insgesamt 151 Schulen mit 12.900 Schülern. 407 Ministerium für Bildung, S. 9. 408 Mason, Peter, Independent Education, S. 90, nach dem es im Jahre 1976 152 unterstützte Schulen gegeben hat, deren Zahl 1984 auf 147 zurückging und nach der Verabschiedung des Privatschulgesetzes jetzt wieder den gleichen Stand erreicht hat.
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denzen in anderen europäischen Ländern in Norwegen die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft über 25 Jahre nahezu konstant geblieben ist und dies obwohl in der Zwischenzeit mit dem Privatschulgesetz von 1985 die rechtlichen Rahmenbedingungen für nichtstaatliche Schulen wesentlich verbessert worden sind. Dies dürfte seinen Grund u. a. darin haben, daß das norwegische Bildungssystem die nichtstaatlichen freien Schulen zwar neben dem öffentlichstaatlichen Schulwesen anerkannt, gleichzeitig aber in dem Privatschulgesetz von 1985 hervorgehoben wurde, daß die Privatschulen nicht mit dem öffentlichen Schulwesen in Wettbewerb treten sollen409 • Dieser besondere Aspekt der norwegischen Bildungspolitik wird auch in der OECD-Studie über Schule und Qualität hervorgehoben, wo es heißt, daß man in Norwegen versucht, "durch finanzielle Förderung ein Schulsystem zu schaffen, in dem die Schulen von möglichst gleicher Qualität sind, und ein Konkurrenzkampf zwischen Schulen ... bewußt nicht unterstützt (wird) ,,4 10. 2. Neue Wege der Schulverfassung in Finnland Die Entwicklung des finnischen Bildungswesens ist eng verwandt mit dem schwedischen. Beide Länder leben insofern in einer gemeinsamen Schulverfassungstradition, die durch die finnisch-schwedische Zweisprachigkeit des Landes verstärkt wird. Die Finnische Verfassung (Finn. Verf.) regelt die Grundlagen des Schulwesens weitestgehend durch einen Gesetzesvorbehalt zugunsten des einfachen Gesetzgebers. So werden die Grundsätze für die Organisation des Volksschulwesens gern. § 80 Finn. Verf. und der Unterrichtsanstalten für die höhere allgemeine Bildung und den höheren Volksunterricht gern. § 79 Finn. Verf. durch Gesetz festgelegt. Lediglich der unentgeltliche Besuch der staatlichen Volksschule nach § 80 Abs. 2 Finn. Verf. und die Finanzierung der höheren (staatlichen) Unterrichtsanstalten durch den Staat gern. § 79 Satz 1 beschränken diese Organisationsfreiheit durch verfassungsrechtliche Vorgaben. Ferner garantiert die Finnische Verfassung in § 82 das Recht der Unterrichtsfreiheit sowohl in der Form des Privatschulrechts als auch der des häuslichen Unterrichts, enthält also die Absage an eine Schulpflicht zugunsten einer Unterrichtspflicht.
409
410
Ministerium für Bildung, S. 9. OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 143.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa a) Dezentralisierung der Schulverwaltung und Stärkung der pädagogischen Autonomie im staatlichen Schulwesen
Finnland hat durch die Novellierung der Schulgesetzgebung im Jahre 1990411 einen bedeutsamen Strukturwandel des Bildungswesens eingeleitet, der nicht nur der allgemeinen Tendenz in Europa entsprechend zu einer Stärkung der Kommunen im Bildungsbereich und der Erweiterung der pädagogischen Autonomie der Einzelschule und damit einhergehend einer gewissen Deregulierung und Dezentralisierung des gesamten Schulwesens geführt hat, sondern auch die Rechtsstellung sowie die materiellen Grundlagen der Schulen in freier Trägerschaft erheblich verbessert hat. Ziel dieser Strukturreform war nicht nur, die Effizienz des Bildungssystems zu steigern, sondern zugleich die Wahlmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Schulen und Schulformen zu vergrößern und den einzelnen Schulen die Entscheidungsbefugnisse bezüglich der Lehrpläne und ihrer Umsetzung in Eingebundenheit in die Kommune zu übertragen4I2• War das finnische Bildungssystem in den 70er Jahren in enger Anlehnung an das schwedische Modell durch ein unitaristisches Gesamtschulmodell geprägt, bei dem die Unterrichtsinhalte und -methoden weitestgehend zentral festgelegt wurden, so hat die Reform der Schulverfassung von 1990 zu einer weitreichenden Methodenfreiheit für die einzelne Schule neben den bestehenden Selbstverwaltungsmöglichkeiten geführt413 und der Kommune die Verantwortung für die Einzelschule übertragen. Die Schulorganisation obliegt nunmehr nach den Bestimmungen des Gesetzes über die kommunale Selbstverwaltung allein den Gemeinden414 • So wird zwar durch die gesetzlich vorgegebenen Zielsetzungen und nationalen Richtlinien der Lehrplangestaltung ein gesamtstaatlicher Rahmen gesetzt, doch ist dieser weit formuliert, so daß der eigentliche Lehrplan auf lokaler Ebene erstellt wird und die Gemeinden und die einzelne Schule erhebliche Entscheidungsbefugnisse haben415 • Danach legt die einzelne Schule ihren Lehrplan fest, der in Absprache mit der Kommune erstellt und von dem zuständigen Ausschuß für das Schulwesen angenommen werden muß. Da es in Finnland keine eigenständige Schulaufsichtsbehörde gibt und die Schulen und Lehrer in der Wahl ihrer Lehrmittel frei sind, besteht auch in den kommunalen Schulen 411 Sowohl des Privatschulgesetzes v. 27.5.1983 (482/83) als auch des Grundschul.gesetzes v. 27.5.1983 (476/83) und des Gymnasialgesetzes v. 27.5.1983 (477/83) mit Anderungen 169/91 und 171/91. 412 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 362. 413 Mason, Peter, Independent Education, S. 85. 414 s. hierzu Hofmann, Rainer, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Finnland. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. 1, S. 108 (114). 415 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 364 (369).
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ein erheblicher pädagogischer Freiraum unter Einbeziehung der Eltern und der Kommune. Die pädagogischen Freiräume im kommunalen Schulsystem ermöglichen so etwa auch eine Anzahl von Schulen, in denen in einzelnen Klassen nach der Montessoripädagogik unterrichtet wird. Zudem gibt es in kommunalen Schulen auch die Einrichtung von Klassen, die nach der Freinetpädagogik unterrichtet werden. Diese Entwicklung der Stärkung der Eigenverantwortung der Einzelschule wurde schon durch eine Lockerung des Lehrplans im Jahre 1985 eingeleitet und durch eine Änderung des Rahmenlehrplans im Jahre 1994, der auf eine weitere Stärkung der pädagogischen Autonomie der Einzelschule zielte, fortgeführt. Gleichzeitig wurde damit begonnen, für die staatlichen Schulen die bestehenden festen Schulbezirke aufzuheben und den Eltern eine freie Wahl der Schule nach pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten zu ermöglichen416 • b) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen
Verfassungsrechtlich ist zwar durch § 82 Finn. Verf. die Unterrichtsfreiheit institutionell gesichert, doch steht das Recht der Unterrichtsfreiheit in der Finnischen Verfassung unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Nach § 82 Abs. 1 Finn. Verf. wird das Recht, Privatschulen und sonstige private Erziehungsanstalten einzurichten und den Unterricht in ihnen zu organisieren, durch Gesetz geregelt. Die Finnische Verfassung überläßt demnach dem einfachen Gesetzgeber die Ausgestaltung des Rechts der nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere gewährt die Verfassung keinen Anspruch auf staatliche Subventionierung. Zudem ergibt sich im Umkehrschluß aus § 82 Abs. 2 Finn. Verf., wonach der Hausunterricht nicht der Aufsicht der Behörden unterliegt, daß für Schulen in freier Trägerschaft eine staatliche Schulaufsicht besteht. In Finnland gibt es gegenwärtig im Ptlichtschulbereich der Klassen 1 bis 9 lediglich ca. 25 nichtstaatliche Schulen, d.h., derzeit sind weniger als 1 % der Pflichtschulen Schulen in freier Trägerschaft, wobei es neben einer kirchlichen Schule eine beachtliche Anzahl von 18 Waldorf- sowie 7 Montessorischulen gibt. Diese geringe Anzahl von Schulen in freier Trägerschaft insgesamt sind gleichsam die Restbestände aufgrund einer in der Gesetzgebung seit 1968 bis zum "Systemwandel" mit dem neuen Schulgesetz von 1991 zum Ausdruck kommenden Bildungspolitik, die auf ein Gesamtschulsystem unter dezentralisierter kommunaler Kontrolle ausgerichtet war, bei dem auch die nichtstaatlichen Schulen in kommunale Schulen überführt werden sollten, was zur Folge 416 Kari, Jouko/Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Finnland. In: SeyJahrt-Stubenrauch, EckhardlSkiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 450 (458 f.).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
hatte, daß sich die Zahl der freien Schulen seit den 60er Jahren von 364 auf 40 im Jahre 1983 reduzierte4l7 . (1) Genehmigungsvoraussetzungen und Zulassung
nichtstaatlicher Schulen
Hinsichtlich der Gründungsfreiheit von Schulen in Elternträgerschaft hat Finnland mit der Schulgesetznovellierung von 1990 den Weg zu einem europäischen Bürgerrecht auf Bildung eingeschlagen, der für die Bildungsfreiheit in Europa Vorbildfunktion übernehmen könnte. Danach sind alle Schulen, die wie die Waldorf-, Freinet-, Montessori- oder Freien Alternativschulen international anerkannten pädagogischen Grundsätzen folgen, ohne Vorbehalt bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen baupolizeilicher Art etc. ohne weitere Prüfung durch die Unterrichtsbehörden zu genehmigen. Darüber hinaus sind diese Schulen, die im Gesetzentwurf zur Novellierung des Schulgesetzes ausdrücklich mit diesem Rechtsanspruch auf Genehmigung ausgestattet wurden, den staatlichen Schulen materiell dem Grunde nach gleichzustellen und haben das Recht, einen eigenen Lehrplan zu verfolgen. Dies hat dazu geführt, daß sich die Anzahl der reformpädagogischen Schulen in Finnland seit 1990 erheblich erhöht hat418 • Hierbei zeigt Finnland als ein Land, welches "eine Gesamtschule geschaffen (hat), deren Maß an Integration ... in anderen westeuropäischen Ländern keine Parallele findet,,419, daß die Gewährung pädagogischer Schulvielfalt und ein nichtselektives (Gesamt)-Schulsystem sehr wohl kompatibel sind, wenn ein umfassendes Wahlrecht der Eltern zwischen allen Schularten möglich ist. (2) Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen Ähnlich der Entwicklung in Schweden, sogar noch darüber hinausgehend, haben sich mit der jüngsten Novellierung des finnischen Schulgesetzes im Jahre 1991 die Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeiten für alternative und nichtstaatliche Schulen erheblich verbessert. Dieses ist auch Anliegen der gesetzlichen Novellierung gewesen, die in ihrer Begründung darauf abstellte, daß durch die Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen für "private" Schulen die Möglichkeiten zu deren Errichtung und Betreiben als Komplement zum kommunalen Schulsystem vergrößert werden sollten. Die gesetzliche Novellierung zielte dabei explizit auf eine Verbesserung der rechtlichen Stellung reformpädagogischer Schulen. Als solche sind diejenigen Schulen von der gesetzlichen Regelung erfaßt, die "auf einem international anerkannten pädagogiMason, Peter, Independent Education, S. 85 f. s. hierzu Kari, Jouko/Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Finnland, S. 450 (457 f.). 419 Kari, Jouko/Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Finnland, S. 450 (456). 417
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sehen System" basieren. So wurde insbesondere eine neue rechtliche Grundlage für die Rudolf-Steiner(Waldort)-Schulen, die nach der vorherigen Gesetzeslage "außerhalb des Schulsystems wirkten", geschaffen. Rechtlich handelte es sich bei diesen Schulen bis zum Jahre 1990 im Gegensatz zu den Freinet- und Montessorischulen, die innerhalb der kommunalen Gesamtschulen Eingang fanden, um Privatunterricht (häuslichen Unterricht), auf den die allgemeinen schulgesetzlichen Bestimmungen keine Anwendung fanden. Erst durch eine Gesetzesänderung, die im Jahre 1990 in Kraft trat, erhielten die zum damaligen Zeitpunkt (inoffiziell) bestehenden zwölf Rudolf-Steiner-Schulen den Status einer Ersatzschule innerhalb der Schulverwaltungsorganisation der Gemeinden. Ersatzschule in diesem Sinne sind Schulen der Klassen 1 bis 10, wobei für die 10. Klasse die Genehmigung des Schulamtes erforderlich ist. Für die Klassenstufen 11 bis 13 muß gesondert ein Privatgymnasium gegründet werden. Danach ist es diesen Schulen mit der Novellierung des Schulgesetzes möglich, eine weitreichende finanzielle Unterstützung durch den Staat auch dann zu erhalten, wenn die Schule in ihrem Lehrplan und den Unterrichtsmethoden erheblich von den staatlichen Schulen abweicht. Die Förderung und Finanzierung erfolgt aufgrund einer Vereinbarung zwischen der einzelnen Schule und der Gemeinde42o• Voraussetzung hierfür ist, daß die Kommune mit dem Schulträger eine solche Vereinbarung über die Einrichtung einer nichtstaatlichen Schule schließt, die die Grundschule ersetzt und zugleich einen eigenen Lehrplan verfolgen darf. Zwischen der Gemeinde und der Schule in Elternträgerschaft wird ein Vertrag geschlossen, in dem sich der Schulträger und die Gemeinde darauf verständigen, daß die Schule mit einem eigenständigen pädagogischen Alternativkonzept Schüler unterrichtet und hierfür Zuschüsse bekommt. Diese bestehen aus den Zuschüssen des Staates, die die Gemeinde für ihre eigenen Schulen bekommt, sowie einem vertragsmäßig mit der Gemeinde vereinbarten Teil der Kosten, die die Gemeinde zusätzlich übernimmt. Dies hat zur Folge, daß sich der Kreis der subventionierten nichtstaatlichen Schulen im Zuge der Gesetzesnovellierung erheblich erweitert hat. Waren bis zur Novellierung des Gesetzes im Jahre 1991 Z.B. aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahre 1977 lediglich 3 von 13 Waldorfschulen staatlich subventioniert worden42 t, so hatten bis zum Anfang des Jahres 1992 neun, vorher nicht staatlich subventionierte Waldorfschulen eine solche Vereinbarung mit den Gemeinden geschlossen422 , die ihnen finanzielle Zuwendungen sichert. Im Jahre 1993 hatten von den in Finnland bestehenden 18 Waldorfschulen bis auf zwei Mason, Peter, Independent Education, S. 86. Mason, Peter, Independent Education, S. 86. 422 Kari, Jouko/Skiera, Ehrenhard, Finnland. In: Borchert, ManfredlFuchs, EginhardlKonzak, Judith (Hrsg.), EIF/F/E Länderkarte 1991/92. Witten 1992 (Selbstverlag), 420 421
S.457.
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Schulen alle Schulen eine Vereinbarung mit der Kommune getroffen, die ihnen staatlich-kommunale Subventionen sichert. Lediglich bei einer Schule ist eine Vereinbarung mit der Kommune endgültig nicht zustande gekommen. Die Finanzierung selbst erfolgt hierbei teilweise durch die Kommune und teilweise durch den Staat423 und entspricht in ihrer Höhe den Zuschüssen bzw. Kosten staatlicher Schulen. Diese gesetzliche Novellierung war nicht nur notwendig, um diesen Schulen staatliche Zuschüsse zukommen zu lassen, sondern sie war Voraussetzung für eine Legalisierung der Arbeit der Rudolf-Steiner-Schulen schlechthin. Nach dem vorherigen Gesetz über die Steiner-Schule und die Verordnung über die Steiner-Schule aus dem Jahre 1977424 war die gesetzlich vorgesehene und zulässige Anzahl der Rudolf-Steiner-Schulen auf drei normativ festgelegt425 • Nichtsdestotrotz wuchs aber die Anzahl der Rudolf-Steiner-Schulen in Finnland von 1977 bis 1991 auf 13 Schulen mit ca. 1.000 Schülern an, die als "inoffizielle" Schulen wie Heimunterricht behandelt werden mußten, obgleich es sich um institutionalisierte Schulen handelte, die aufgrund ihrer besonderen Formen der Selbstverwaltung, Lehrpläne und Methoden auch nicht als staatliche Versuchsschulen zu genehmigen waren. Dieser Rechtszustand bewirkte zudem eine ungenügende rechtliche Sicherung der Schüler und war aufgrund der Wirkungsweise der Schulen nicht als lediglich temporäre Übergangserscheinung zu kategorisieren. Die Neuregelung ist also Ausdruck der weitreichenden Einflußmögichkeiten der Bürger auf das Bildungswesen, wenn sie ihre pädagogischen Anliegen eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Auf diese Weise wurden insbesondere die Waldorfschulen nicht nur legalisiert und die verordneten Begrenzungen aufgehoben, sondern zugleich wurde die Möglichkeit geschaffen, diese Schulen den staatlichen Schulen hinsichtlich der Betriebskosten materiell gleichzustellen und damit den Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder ohne die Leistung eines besonderen Schulgeldes auf diese Schulen zu schicken. Gemäß § 78 Grundschulgesetz (GrundSchG) ist in Anwendung der §§ 44 bis 51 GrundSchG der Besuch dieser Schulen, die die Grundschulen ersetzen, kostenlos und schließt Leistungen für Lehrbücher und Fahrtkosten mit ein. Der Schulträger darf im Falle der Bezuschussung kein Schulgeld VOn den Eltern erheben. Die Schule kann sodann auch Schüler aus anderen Kommunen aufnehmen. Vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung konnten Ersatzschulen gern. § 77 GrundSchG a.F. nur dann Zuschüsse erhalten, wenn der Unterricht gern. 423
Mason, Peter, Independent Education, S. 86.
Verordnung Nr. 625/77, in Kraft getreten am 1.8.1977. Diese Begrenzung umfaßte nicht die zwei heilpädagogischen Rudolf-SteinerSchulen, für deren Rechtsstellung ein besonderes Gesetz verabschiedet wurde, welches eine Subventionierung in Höhe von 86 % vorsah. 424 425
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dem Lehrplan der staatlichen Grundschule erteilt wurde. Gemäß § 77 i.V.m. § 77 a GrundSchG n.F. kann eine Schule in freier Trägerschaft eine Grundschule auch dann ersetzen und staatlichlkommunale Zuschüsse erhalten, wenn sie einen eigenen Lehrplan verfolgt. Die Erlaubnis, einen vom Grundschullehrplan abweichenden eigenen Lehrplan auszuarbeiten, setzt nach dieser Vorschrift des § 77 a GrundSchG voraus, daß der Unterricht auf einem international anerkannten pädagogischen System basiert und die Tätigkeit der Schule der Entwicklung der Unterrichts- und Erziehungstätigkeit des Landes Nutzen bringt. Insbesondere kann der Lehrplan für ein Jahrespensum und die Umsetzung desselben mit Ausnahme der neunten Klasse in seinem Aufbau von dem der staatlichlkommunalen Grundschule abweichen. Hierbei muß der Lehrplan der Schule dem Schulamt und der Schul verwaltung vorgelegt werden. Die rechtliche Gleichstellung umfaßt darüber hinaus auch das Berechtigungswesen, als nämlich diese Schulen das Recht zur Erteilung von Zeugnissen beim Abschluß der Grundschule, die gern. §§ 1 und 4 des GrundSchG von 1983 eine neunjährige Gesamtschule ist, oder des Gymnasiums haben. Gleichwohl sind der Regelungsgehalt und die Umsetzung des zum 1. Januar 1991 in Kraft getretenen neuen "Gesetzes für Alternativschulen" in der Praxis insoweit problematisch, als die Gewährung der Zuschüsse daran geknüpft wird, daß die Kommune (Stadt oder Gemeinde) die jeweilige Schule als Alternativschule anerkennt und mit ihr den im Gesetz vorgesehenen Vertrag abschließt. Die Problematik besteht darin, daß der Vertragsabschluß von den Gemeinden partiell als in ihrem Ermessen stehend betrachtet wird426 und diese Verträge zumindest teilweise Klauseln dergestalt enthalten, wonach der Vertrag gekündigt werden kann, sofern die Zuwendungen für das staatliche Schulsystem gekürzt werden, so daß die materielle Existenzgrundlage der einzelnen Schule von diesem Kündigungsrecht abhängig erscheint427 . Entscheidend unter strukturellen Betrachtungen für Schul vielfalt ist jedoch ungeachtet dieses Ermessens und dieser Auslegungsprobleme, daß vor der Novellierung des Schulgesetzes mit Ausnahme der separaten gesetzlichen Regelung für 3 Steiner-Schulen im Jahre 1977 - die staatliche Bezuschussung daran anknüpfte, daß die Schule sich den staatlichen Unterrichts mustern unterwarf, während nunmehr grundSätzlich alle Schulen staatliche Zuschüsse erhalten können, die durch eine eigenständige, vom staatlichen Schulsystem abweichende Pädagogik gekennzeichnet
426 So ist einer Waldorfschule der Abschluß eines Vertrages verweigert worden, obgleich die gesetzlichen Bedingungen erfüllt waren. Diese Ermessensausübung scheint rechtlich nicht haltbar. 427 Zur - letztlich zurückgenommenen - Ausübung dieser Kündigungsklausel s. Das Goetheanum, Nr. 1/1993, S. 10 - Waldorfschule in Turku kann weiterarbeiten; auch eine solche Klausel scheint nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht haltbar.
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sind428 , sofern es sich um eine international anerkannte pädagogische Richtung handelt. (3) Minderheitenschutz im Schulwesen
Der Minderheitenschutz bestimmt sich in Finnland im wesentlichen durch die finnisch-schwedische Zweisprachigkeit des Landes. Das finnische Grundschulgesetz gewährt danach in Verbindung mit dem Gesetz über die kommunale Selbstverwaltung in Gemeinden mit finnisch- und schwedischsprachigen Einwohnern eigene Grundschulen der jeweiligen sprachlichen Minderheit, wenn mindestens 13 Schüler der jeweiligen Minderheit angehören. Im Jahre 1990 besuchten bei einer Anzahl von 4.466 Grundschulen mit 568.000 Schülern rund 31.000 Schüler 321 schwedischspachige Grundschulen, was ca. 6 % der Schülerpopulation umfaßt429 • Das Recht der samischsprachigen Bevölkerung auf einen muttersprachlichen Unterricht ist in Finnland anerkannt und wird durch einen Anspruch auf Bildung in dieser Sprache garantiert43o • c) Auf dem Weg zur bürgerschaftlichen Schule
Die neue finnische Schulverfassung ist gleichermaßen geprägt durch das Anliegen, sowohl die Autonomie der staatlich-kommunalen Schule zu stärken, als auch den Eltern durch eine umfassende Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft ein volles Wahlrecht zwischen allen Schulen unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen zu gewähren. Obgleich diese Änderungen infolge der geringen Anzahl von Schulen in freier Trägerschaft noch von begrenzter gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, ist in der Struktur ein Paradigmenwechsel hin zur bürgerschaftlichen Schule zu erkennen. Die strukturellen Änderungen in Finnland sind deshalb besonders bemerkenswert, weil das finnische Schulsystem traditionell in enger Anknüpfung an das schwedische Schulverfassungsmodell historisch etatistisch ausgerichtet war und im Vergleich mit Norwegen und Dänemark, die beide in einer liberalen Schulverfassungstradition verankert sind, weniger Wahlmöglichkeiten und ein geringeres Maß an Schulvielfalt ermöglichte431 • Die Studie der OECD über Schule und Qualität weist jedoch darauf hin, daß Finnland unter dem Gesichtspunkt der Wahlfreiheit für Eltern zwischen verschiedenen Schulformen und -arten gegenwärtig als Beispiel für solche Länder steht, wo "Privatschulen
Vgl. Mason, Peter, Independent Education, S. 87. s. hierzu Hofmann, Rainer, S. 115. 430 s. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 361; Hofmann, Rainer, S. 115. 431 Mason, Peter, Independent Education, S. 87. 428
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(auch wenn es zugegebenennaßen nicht viele sind) tatsächlich die gleiche volle Unterstützung wie staatliche Schulen erhalten,,432.
3. Der Wandel der Schulverfassung in Schweden Schweden ist das Beispiel eines innovativen Bildungssystems im Wandel von einem unitaristischen Bildungssystem zu einer Schule der Bürgergesellschaft. Die Grundverfassung des schwedischen Bildungssystems ist insgesamt durch die Verbindung liberaler und sozialstaatlicher Leitmotive gekennzeichnet. So ist nach § 2 Abs. 1 Schwedische Verfassung (Schwed. Verf.) die öffentliche Gewalt an die Freiheits- und Gleichheitsrechte gebunden und hat sich gern. Abs. 2 an dem Ziel der persönlichen, finanziellen und kulturellen Wohlfahrt des einzelnen als primärem Ziel zu orientieren, wobei der Gemeinschaft eine besondere Fürsorgefunktion zukommt. In der Schwedischen Verfassung selbst ist das Unterrichtswesen lediglich in Kapitell § 2 der Verfassung von 1975 i.d.F. vom 1.1.1989 im Rahmen der Grundlagen der Staatsfonn als Staatszielbestimmung erfaßt. Danach obliegt es dem Gemeinwesen nach § 2 Abs.2 Satz 2 Schwed. Verf. insbesondere, das Recht auf Ausbildung zu sichern. Darüber hinaus bestimmt § 2 Abs. 4 Schwed. Verf., daß die Möglichkeit für ethnische, sprachliche und religiöse Minderheiten, ein eigenes kulturelles Leben und eigene Glaubensgemeinschaften zu bewahren, zu entwickeln und zu fördern sind. Obgleich das Prinzip der Unterrichtsfreiheit damit nicht positivrechtlich in der Verfassung verankert und auch in den in Kapitel 2 der Verfassung von 1974, die am 1.1.1975 in Kraft getreten ist, niedergelegten Grundrechten nicht aufgeführt ist, ist das Recht auf Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft in Schweden als klassisches Freiheitsrecht anerkannt und ungeachtet der fehlenden Nonnierung als Freiheitsrecht in der Verfassung im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention gleichwohl unmittelbar geltendes Recht, da Schweden als Mitglied des Europarates sowohl der Europäischen Konventionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) beigetreten ist als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur EMRK anerkennt433 und Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK die Freiheit zur Errichtung von Privatschulen garantiert434 . Mit der OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 143. s. Schwedischer Reichstag, Schwedische Grundgesetze, Stockholm 1992, S. 16. 434 Kämpfer, Walter, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich der Schweiz, EuGRZ 1981, S. 725; s. hierzu vorst. S. 94 ff. 432 433
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Anerkennung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist auch das Recht der ethnischen Minderheiten auf eigene Schulen anerkannt. Dieses wird für die sarnischsprachigen Kinder in Nordschweden durch samischsprachige Schulen gewährleistet. a) Die Dezentralisierung der Schulstruktur Die schwedische Bildungspolitik ist seit Mitte der 80er Jahre durch eine grundlegende Neuorientierung geprägt. Diese ist durch eine zunehmende Dezentralisierung und Autonomisierung des staatlichen Schulsystems und zugleich eine Verbesserung der Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft gekennzeichnet. Historisch war die Struktur des schwedischen Bildungswesens seit der Gründung des National Board of Education im Jahre 1920 zentralistisch und stark regulativ geprägt, indem der Staat durch Gesetze, Verordnungen und Curricula detailliert den pädagogischen Prozeß in den allgemeinbildenden Schulen steuerte. Seine innere Legitimation fand diese starke Reglementierung in dem Ansinnen, durch das Gesamtschulkonzept "der einen Schule für alle" umfassende Chancengleichheit im Bildungswesen herzustellen, wobei dem schwedischen Modell in europäischer Perspektive Vorbildcharakter zukam. So bestand im Jahre 1992 in Schweden die Ptlichtschule (folksskolan) seit 150 und die neunjährige obligatorische Gesamtschule (grundskolan) seit 30 Jahren 435 • Doch nicht erst mit dem Regierungswechsel von 1991, sondern schon Ende der siebziger und vor allem in den achtziger Jahren wurde ein Prozeß einer zunehmenden Dezentralisierung eingeleitet, der darauf abzielte, den lokalen Schulboards und der Einzelschule in Zusammenarbeit mit Schülern und Eltern stärkere Entscheidungsrechte zuzubilligen436 • Seit Mitte der 90er Jahre sind im staatlichen Schulwesen die einzelnen Schulen weitestgehend selbst für ihr Curriculum - innerhalb der gesetzlichen Rahmenvorgaben - und ihre Organisation sowie die Verwendung der Haushaltsmittel zuständig. So erfolgte in Schweden schon 1990 "eine der tiefgreifendsten Änderungen der Schulaufsicht in den letzten Jahren. Dort wurde das gesamte System der Schulaufsicht umstrukturiert und 1990 die regionalen und
435 s. hierzu Willmann, Bodo, Bilanz einer Schulreform - 30 Jahre schwedische Gesamtschule, PSOW 41 (1993), Heft 2, S. 124 ff. 436 s. Miron, Gary, Choice and the Use of Market Forces in Schooling: Swedish Education Reforms for the 1990s, Stockholm Aufl.993, S. 21; Fägerland, Ingemar, National Report on Educational Decision Making in Sweden, Vortragsmanuskript, gehalten auf dem International Symposium on Law and Education: Educational Decision - Making in Open Societies, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 24.-26. 3. 1993, S. 2 ff.
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zentralen Schulaufsichtsbehörden aufgelöst,,437. Damit geht Schweden im Verzicht auf regelmäßige Schulinspektionen und durch die konsequente Umsetzung des Gedankens der Selbstevaluation weiter als Länder wie die Niederlande und England, wo es die staatliche Aufsicht über einzelne Schulen noch gibt bzw. sie sogar verschärft wird438 • Gleichwohl gibt es auch in Schweden wie in England und den Niederlanden zentrale Prüfungen. Seit dem Jahre 1991 sind im Zuge dieser Dezentralisierung die Kommunen zum Träger der inneren und äußeren Schulangelegenheiten geworden. Hierbei handelt es sich im übrigen um einen grundlegenden Wandlungsprozeß bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen insgesamt, so daß die Reform des Bildungswesens nicht partiell vor sich geht, sondern in eine grundlegende Neustrukturierung des öffentlichen Sektors eingebunden ist. Finanziert wird das Bildungswesen diesbezüglich in einer Form Mischfinanzierung, wonach den Kommunen, die grundsätzlich für die Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen verantwortlich sind, Zuschüsse von der Zentralregierung gewährt werden. So werden den Kommunen seit Anfang 1993 allgemeine Ausgleichszahlungen gewährt, die die unterschiedlichen Steuereinnahmen und damit die unterschiedliche Leistungsfahigkeit der einzelnen Kommunen ausgleichen sollen, um dem sozialstaatlichen Kohärenzgebot Rechnung zu tragen. Wie die Kommune die einzelne Schule finanziert, obliegt ihr selbst. Vielfach werden den Schulen diesbezüglich Globalhaushalte zur eigenen Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus obliegt es der Kommune, die allgemeinen Zielsetzungen der Schulen im Rahmen der nationalen Vorgaben für die Lehrplangestaltung festzulegen und deren Einhaltung zu überwachen und zu evaluieren439 • Grund für diesen radikalen Paradigmen wechsel war die Erkenntnis, daß eine zentralistische Verwaltungsstruktur und zentral erlassene Lehrvorgaben den Anforderungen der einzelnen Schule und den angestrebten Reformzielen der Schaffung von Chancengleichheit nur unzureichend gerecht werden konnten44o. Auch in Schweden lauten die "Schlagworte dieser Bemühungen .. , Dezentralisierung, Kommunalisierung, Liberalisierung,,44!. Im Gegensatz zu den Niederlanden und England war primärer und zentraler Bezugspunkt jedoch nicht die Autonomie der Einzelschule, sondern die Stärkung der Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen als Schulträger442, was letztlich auf eine Stärkung der ParBurkard, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 218. Burkard, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 221. 439 Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 385 ff. 440 Willmann, Sodo, S. 125-127. 441 Willmann, Sodo, S. 129. 442 Burkard, Christoph/Ro{ff, Hans-Günter, S. 218. 437 438
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
tizipationsrechte der Bürger im Wege und Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung zielte. So ist eine Dezentralisierungstendenz zu erkennen, die die schulaufsichtliehe Kontrolle von dem National Board of Eduction (nationale Erziehungsbehörde) auf kommunale und lokale Körperschaften und Gremien verlagert443 . Diese sind nunmehr auch für die Anstellung und Bezahlung der Lehrer verantwortlich444 • Anders als in der Bundesrepublik Deutschland ist aber damit auch die Trennung in äußere und innere Angelegenheiten als Kompetenzabgrenzungsmerkmal aufgegeben worden, als den Kommunen die inhaltliche Mitgestaltung der Schulen möglich ist445 . Infolge dieser Dezentralisierung wurde die nationale Unterrichts behörde im Jahre 1991 abgeschafft und durch eine wesentlich kleinere National Agency for Education ersetzt446 . Im Zuge dieser Dezentralisierung ist insbesondere aus bundesdeutscher föderativer Sicht bemerkenswert, daß die mittlere Entscheidungsebene in Form von 24 regionalen Erziehungsbehörden ebenfalls abgeschafft wurde und sich die Dezentralisierung vor allem auf die Stärkung der lokalen und kommunalen Schulbehörden konzentrierte. b) Pädagogische Autonomie im kommunalen Schulwesen
Neben dieser Dezentralisierung der Bildungsverwaltung ist die haushaltsmäßige und pädagogische Autonomie der einzelnen Schule erheblich verstärkt worden. Danach legt das Parlament zwar weiterhin die grundlegenden Prinzipien für die Unterrichtsziele und -anforderungen sowie die Finanzierung der Schulen fest, doch innerhalb dieser allgemeinen Vorgaben haben zum einen die 286 lokalen Schulbehörden die volle Personal- sowie Organisations- und Haushaltshoheit vom Staat übertragen bekommen, und zum anderen haben die Lehrer die freie Methodenwahl bei der Umsetzung und Erreichung der Unterrichtsziele447 . Ähnlich dem niederländischen Modell des Schularbeitsplans erstellen die einzelnen Schulen jetzt anstelle der zuvor zentral erlassenen, detailliert geregelten Lehrplanvorgaben "selbständig Arbeitspläne, in denen sie unter Berücksichtigung allgemeiner Rahmenverordnungen ihre pädagogischen Ziele und Arbeitsschwerpunkte selbst festlegen ... Gleichzeitig erhalten sie damit eine größere Unabhängigkeit gegenüber der Kontrolle durch die zentralen und regionalen Verwaltungsorgane ... An die Stelle umfangreicher Stoffpläne treten Kommentarmaterialien zum Lehrplan, die als Unterstützung der lokalen Schul-
Mason, Peter, Independent Education, S. 92. Burkard, ChristophlRo(ff, Hans-Günter, S. 219. 445 Burkard, ChristophlRo(ff, Hans-Günter, S. 219. 446 Fägerland, Ingemar, S. 3. 447 Fägerland, Ingemar, S. 3. 443
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entwicklungsarbeit fungieren sollen ... Sie enthalten keine Vorschriften,,448. Gleichwohl findet über die jeweils nach der fünften und neunten Klasse erfolgende landes weite Evaluation des Leistungstandes auf der Basis der seit 1995 dem Bildungsgesetz beigefügten Stundentafel, die den Mindestumfang der Unterrichtszeit in den einzelnen Fächern und die in den Stoffplänen angestrebten Leistungsziele regelt, eine gewisse Vereinheitlichung des Bildungswesens statt. Die Stärkung der Einzelschule und der lokalen Schulbehörde durch die neue Schulgesetzgebung sollte nicht nur einer Verbesserung der Schulqualität dienen, sondern ist Bestandteil einer die individuelle Wahlfreiheit von Eltern und Schülern stärkenden Bildungspolitik, die auf eine Pluralisierung von Bildungsmodellen setzt und bei der auch den staatlich-kommunalen Schulen eine eigene Profilbildung ermöglicht werden soll449. Diese korrespondiert mit einer Erweiterung der individuellen Entscheidungsfreiheit von Eltern und Schülern, die explizit auch auf das Wahlrecht zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Schule in freier Trägerschaft ausgedehnt wurde45o • c) Nichtstaatliche Schulen in freier Trägerschaft
(1) Zur historischen Entwicklung Ungeachtet der unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten stark durch den Grundsatz "der einen Schule für alle" geprägten Entwicklung des schwedischen Bildungssystems waren die Prinzipen der Unterrichtsfreiheit und Wahlfreiheit der Eltern, ob ihre Kinder staatliche oder nichtstaatliche Schulen besuchen sollen, im schwedischen Bildungswesen stets grundsätzlich anerkannt. Doch die Bedeutung und Akzeptanz der freien Schulen für die Bildungspolitik waren bis Mitte der 80er Jahre gering, so daß mangels ausreichender Unterstützung und Finanzierung immer weniger Schulen in freier Trägerschaft existieren konnten451 • Hierbei unterschieden sich die nichtstaatlichen Schulen im wesentlichen in drei Gruppen: Schulen, die unter staatlicher Aufsicht standen und Unterstützung erhielten; Schulen, die unter staatlicher Aufsicht standen, aber keine staatliche Unterstützung erhielten, und Schulen, für die besondere Regelungen bestanden452.
Willmann, Bodo, S. 130; s. a. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 395. Fägerland, Ingemar, S. 4. 450 s. Willmann, Bodo, S. 130 ff. 451 Miron, Gary, S. 24 ff. 452 Miron, Gary, S. 33 f. 448 449
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Vor dem Hintergrund des dargestellten Wandels seit Mitte der 80er Jahre von einem weitgehend staatlich-unitaristischen Schulmodell zu einem die Wahlmöglichkeit von Eltern und Schülern zwischen verschiedenen Schulformen und -konzeptionen betonenden Bildungsprogramm ist in der schwedischen Bildungspolitik auch die Bedeutung und Anerkennung der nichtstaatlichen, unabhängigen Schulen erheblich gewachsen und deren materielle Absicherung durch die normative Verankerung eines Anspruchs auf weitreichende Bezuschussung gestärkt worden. Das Prinzip der Wahlfreiheit der Eltern zwischen verschiedenen Schulen soll danach nicht nur innerhalb des staatlich-kommunalen Schulwesens ermöglicht werden, sondern umfaßt auch die Wahl zwischen öffentlichen und freien Schulen. Dies setzt voraus, daß die unabhängigen Schulen, für die es vor 1991 schwierig war, Zuschüsse von den Kommunen zu erhalten, nunmehr dem Grundsatz nach unter den gleichen Bedingungen wie die öffentlichen Schulen arbeiten können453 , was jedoch nicht bedeutet, daß die Schulen in freier Trägerschaft zu 100 % finanziert werden. Entscheidend ist insoweit ein öffentlicher Meinungswechsel, der das in der schwedischen Bildungspolitik seit langem akzeptierte Prinzip der Chancengleichheit um die der Anerkennung der Prinzipien der Schulvielfalt und des Rechts der Eltern zur freien Schulwahl erweitert und unter diesem Gesichtspunkt auch die Schulen in freier Trägerschaft aus ihrer Isolierung geführt hat454 • Bis dahin war eine inhaltlich zentralstaatlich gesteuerte Bildungspolitik unter seit Ende der 70er Jahre - gleichzeitiger dezentraler (Verwaltungs-)Kontrolle der Kommunen für die Charakteristik des schwedischen Bildungswesens prägend, in dem nichtstaatliche Schulen im Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten wesentlich schlechtere Rahmenbedingungen hatten als freie Schulen in diesen Ländern455 und nach Maßgabe des Bildungsgesetzes aus dem Jahre 1962 nur ein geringes Maß an staatlicher oder kommunaler Subventionierung erhielten456 • Bis 1991 erhielt nur eine begrenzte Anzahl von nichtstaatlichen Schulen für die Zeit der neunjährigen Schulpflicht geringe staatliche Subventionen, die entweder von den Kommunen oder - wie im Falle der WaldorflSteiner-Schulen - direkt vom Staat geleistet wurden457 • Hierbei betrug die Höhe der Förderung ca. 30 bis 40 % der vergleichbaren Kosten für einen Staatsschüler mit der Folge, daß diese Schulen aufgrund des zu erhebenden Schulgeldes nicht allgemein und frei zugänglich waren.
Fägerland, Ingemar, S. 4. Vgl. Mason, Peter, Independent Education, S. 94. 455 Mason, Peter, Independent Education, S. 93 f. 456 Mason, Peter, Independent Education, S. 92. 457 Mason, Peter, Independent Education, S. 93. 453
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Ausdruck des strukturellen Wandels der schwedischen Bildungspolitik ist insbesondere die Novellierung des Schulgesetzes im Jahre 1992458 , welche das Ziel hat, den Eltern und Schülern eine umfassende Wahlfreiheit unter allen Schulen, d.h., auch zwischen staatlich-kommunalen und freien Schulen, unter grundsätzlich gleichen Bedingungen zu ermöglichen und den freien Schulen diesbezüglich einen normativ abgesicherten Rechtsanspruch einzuräumen459 • Als Ausdruck dieser grundsätzlichen Entscheidung haben alle freien Schulen nach dem neuen schwedischen Schulgesetz einen Anspruch auf 85 % der Kosten pro Schüler, die das staatliche Schulwesen für seine Schüler ausgibt46o . Hierbei wird die Begrenzung der Zuschüsse auf 85 % der vergleichbaren Kosten (zu Recht) dahingehend begründet, daß die durchschnittlichen Kosten für staatliche Schulen höher als für nichtstaatliche Schulen sind, weil diese nicht in gleicher Weisung für die flächendeckende Versorgung mit Bildungseinrichtungen Verantwortung tragen wie das staatlich-kommunale Schulwesen461 . Seinen Ausdruck findet dies in Kapitel 9 § 4 a des schwedischen Schulgesetzes. Danach erhält eine genehmigte freie Schule von der Kommune grundsätzlich den Betrag, der den durchschnittlichen Kosten entspricht, die die kommunale Grundschule im letzten Kalenderjahr pro Schüler aufgewandt hat. Von diesem Betrag darf die Kommune 15 % der berechneten Durchschnittskosten abziehen, weil den Kommunen aufgrund ihrer generellen und flächendeckenden Beschulungspflicht höhere Kosten entstehen und den freien Schulen weder die Verpflichtung obliegt, Schüler aufzunehmen, noch - wie in den staatlichen Schulen obligatorisch - Schulmahlzeiten anzubieten. Darüber hinaus kann die Regierung oder eine nachgeordnete Behörde einen größeren Abzug bewilligen, falls besondere Gründe hierfür vorliegen. Angesichts der großen, regional und geographisch bedingten Unterschiede in den Kosten, die für einen Schüler an kommunalen Grundschulen von den Gemeinden aufgebracht werden müssen, wird von den Gemeinden erhebliche Kritik an der gesetzlichen Regelung des Berechnungsmodus, der sich allein nach der Zahl der Schüler richtet und mit dem als dem Prinzip des Bildungsgutscheins ähnlich angesehen wird462 , geltend gemacht 463 und versucht, über die Sonderregelung der Möglichkeit des erweiterten Abzugs die Zuschüsse weiter zu kürzen. Nach der bisherigen Praxis wird die Klausel durch die Unterrichts-
s. zum Gesetz 1991192: 95 ausführlich Miron, Gary, S. 64 ff. s. Gesetzesbegründung bei Miron, Gary, S. 66 f. 460 Bucht, Bertl, Sweden - Bill on freedom of choice and Independent Schools, Newsletter des Council of Europe 3/1992, S. 33; Miron, Gary, S. 33 ff.; Rusak, Stephen, SwedenFinancing Private Schools - reactions, Newsletter des European Council, 411992, S. 33. 461 s. Miron, Gary, S. 62. 462 Miron, Gary, S. 21. 463 Rusak, Stephen, S. 33. 458
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behörde jedoch restriktiv ausgelegt, so daß der Regelsatz von 85 % auch weitestgehend eingehalten wird. Danach haben nunmehr unabhängige Schulen, wovon knapp ein Drittel Waldorfschulen sind, grundsätzlich Anspruch auf staatliche Zuschüsse, müssen jedoch bestimmte Anforderungen erfüllen, um diesen realisieren zu können. Hierbei sind die Kommunen zwar für die Finanzierung der staatlichen und nichtstaatlichen Schulen gleichermaßen (im Rahmen der 85- %-Regelung) zuständig, doch legt der Staat weiterhin die Unterrichts ziele und -anforderungen fest464 . Privatschulen dürfen zwar zur Deckung ihres Haushalts Elternbeiträge erheben, doch gleichzeitig bindet das Gesetz diese Schulen an den Grundsatz der allgemeinen Zugänglichkeit dergestalt, daß die Schulgelder dieser Schule nicht so hoch sein dürfen, daß es Schülern real nicht möglich ist, diese Schulen zu besuchen465. Untersuchungen zu den Auswirkungen der neuen schwedischen Bildungspolitik zeigen hierbei, daß die Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft, die mit dem Schuljahr 1992/93 wirksam wurde, einen Zuwachs der Schulen und Schülerzahlen an freien Schulen von 20 % bewirkt hat, wobei die Montessorischulen mit einem Zuwachs von fast 50 % zum Vergleichsschuljahr 1991/92 die größte Zunahme zu verzeichnen haben. Nach der Untersuchung von Miron gab es danach in Schweden im Schuljahr 1992/93 108 Schulen in freier Trägerschaft mit 10.630 Schülern. Von diesen Schulen waren 19 Montessorischulen, 27 Waldorfschulen, 31 kirchliche Schulen, 13 internationale, ethnische oder sprachlich ausgerichtete Schulen und 18 "andere" nichtstaatliche Schulen466 . Die von Miron als "andere" Schulen bezeichneten Träger finden sich vornehmlich im Sekundarbereich bzw. in dieser Altersstufe entsprechenden Ausbildungszweigen, während die Schulen, die von einer besonderen pädagogischen Prägung getragen sind, den Schwerpunkt im Primarbereich und der Sekundarstufe I haben467 • Dies legt zum einen den Schluß nahe, daß es sich bei den von Miron als "andere" kategorisierten Schulen hauptsächlich um berufliche Fachschulen handelt, die unter den hier entwickelten Fragestellungen unberücksichtigt bleiben sollen. Zum anderen zeigt sich, daß die Bedeutung der pädagogischen Vielfalt nicht für alle Bildungsstufen in gleicher Weise strukturell ihren Ausdruck findet, was besonders daran zu verifizieren ist, daß sich im 464
Miron, Gary, S. 29.
Bucht, Bertl, S. 34. 466 Miron, Gary, S. 35. Die Angaben bei Bucht, Bertl, S. 33; Mason, Peter, Independent Education, S. 93, erscheinen insoweit überholt. In Schweden gab es im Juni 1993 24 Waldorfschulen mit insgesamt 3.000 Schülern, wobei die Schulgrößen deutlich variierten. Die kleinste Schule umfaßte 10 Schüler, die größte (in Stockholm) 630 Schüler. 465
467
s. Miron, Gary, S. 37.
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Gymnasialbereich keine Montessorischule findet und auch der Anteil von Waldorfschulen mit einer Anzahl von sechs Trägem und knapp 350 Schülern vergleichsweise gering ist468 • Signifikant für das freie Schulwesen in Schweden ist, daß die Schulen mit einer besonderen pädagogischen Prägung (Waldorf-, Montessori- und unter bestimmten Einschränkungen die internationalen/ethnischen und sprachlich geprägten Schulen) gegenüber den religiös orientierten Schulen deutlich in der Mehrzahl sind. So beträgt der Anteil der erstgenannten Gruppe am freien Schulwesen knapp 60 %, während der Anteil der kirchlichen/religiösen Schulen bei lediglich 28,7 % liegt. Schweden ist damit eines der wenigen Länder, in dem das freie Schulwesen nicht durch die Interessen der Kirchen geprägt erscheint, und damit ein besonderes Beispiel für das freie Schulwesen als Ausdruck "der Bürgergesellschaft", in der weder der Staat noch - in Anknüpfung an traditionelle Machtverhältnisse - die Kirche, sondern die Bürger über Inhalte und Ziele der schulischen Erziehung im Wege der Selbstdefinition innerhalb eines gemeinsamen, verbindlichen gesellschaftlichen Minimalkonsenses bestimmen. Die Entwicklung der Schülerzahlen und Schulen steht hierbei in Schweden in einem deutlichen Korrespondenzverhältnis zur materiellen Stellung der Schulen in freier Trägerschaft. Vor der Verabschiedung des neuen Schulgesetzes hat die Anzahl von Schulen in freier Trägerschaft über einen Zeitraum von 15 Jahren, in dem kein gesicherter Rechtsanspruch auf staatliche Subventionierung bestand und die Höhe der staatlichen Zuschüsse - soweit diese überhaupt gewährt wurden - wesentlich geringer war, stetig abgenommen469 • Mit der Sicherung der materiellen Grundlage der Schulen durch das seit dem Schuljahr 1992/93 wirksame neue Schulgesetz ist die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft ebenso gestiegen wie die Zahl der Schüler, die diese Schulen besuchen. Im Schuljahr 1992/93 besuchten in Schweden zwar insgesamt nur 1,5 % der Schüler, in städtischen Gebieten mit über 200.000 Einwohnern jedoch ca. 3,5 % der Schüler, eine Schule in freier Trägerschaft470 , 1997 dürfte diese Zahl schon bei ca. 4,5 % liegen. Damit zeigt sich deutlich, daß eine unzureichende Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft einer indirekten Einrichtungssperre gleichkommt. Bestätigt werden die Ergebnisse auch durch den OECD-Bericht über freie Schulwahl. Danach sind durch die Bezuschussungsregelung nicht nur die Schulen in freier Trägerschaft innerhalb eines Jahres um 30 % gestiegen, sondern 90 % aller neu zugelassenen Schulen haben auf die Erhebung von Schul468Ygl. Miron, Gary, S. 52 f. Miron, Gary, S. 37. 470 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 104.
469
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geld verzichten können. Darüber hinaus konnte auch die Hälfte der bestehenden Schulen in freier Trägerschaft das Schulgeld aufheben471 • Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, in welchem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis die freie Zugänglichkeit von einer ausreichenden finanziellen Bezuschussung steht. Infolge der Ausweitung der staatlichen Zuschüsse sanken die durchschnittlichen Schulgelder an den Montessorischulen um 55 %, an den Waldorfschulen um 42 %, an den kirchlich/religiösen Schulen um 45 %, an den internationalen/ethnisch bzw. sprachlich orientierten Schulen um 14 % und an den "anderen" Schulen um 20 %472. Nach der gesetzlichen Intention, die davon getragen wurde, alle Schule unter einem Abschlag von lediglich 15 % für die Mehrkosten staatlicher Schulen grundsätzlich gleich zu bezuschussen, müßten die Schulen in freier Trägerschaft zumindest mittelfristig in der Lage sein, auf die Erhebung von Schulgeld fast völlig zu verzichten, wenn die Berechnungsprämissen für die Festsetzung der Kriterien für vergleichbare Kosten staatlicher und nichtstaatlicher Schulen stimmig sind und die Schulen in freier Trägerschaft keine Schulkosten haben, die über denen der staatlichen Schulen liegen. Zum Schuljahr 1992/93 war dieser unter sozialstaatlichen Aspekten mitentscheidende Faktor trotz der erheblichen Reduzierungen jedoch noch nicht vollends umgesetzt. Nach der Untersuchung von Miron erhoben 60 % der Montessorischulen, 26 % der Waldorfschulen, 43 % der kirchlich/religiösen Schulen und 50 % der "anderen" Schulen in freier Trägerschaft kein Schulgeld, während an den internationalen und ethnisch bzw. sprachlich orientierten Schulen von allen Trägem Schulgeld erhoben wurde413 • Das freie Wahlrecht der Schüler und Eltern wird ferner dadurch gestützt, daß Schüler im Alter von 16 bis 20 Jahren, die den Sekundarbereich 11 einer Privatschule besuchen, die gleiche staatliche Ausbildungsförderung wie Schüler an staatlichen Schulen erhalten. Allerdings sind die Kommunen im Rahmen der Schülerbeförderung nur verpflichtet, die Kosten zur nächstgelegenen Pflichtschule zu übernehmen. Aus der Sicht der Schulen in freier Trägerschaft stellt diese gesetzliche Neuregelung zwar eine Verbesserung in der Ausgestaltung der materiellen Rechtslage dar, doch ergibt sich auch hier wie in allen Ländern die Problematik der Bezugsgröße bei der Berechnung der vergleichbaren durchschnittlichen Kosten für einen Schüler in einer kommunalen Grundschule, als z.B. die Kosten der staatlichen Unterrichtsverwaltung nicht in die Bezugsgrößen einfließen. Zudem wird die Realförderung von 85 % deshalb nicht erreicht, weil Schulen in freier Trägerschaft in Schweden mehrwertsteuerpflichtig sind und keine PensionszuOECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, S. 104. Miron, Gary, S. 50. 473 Miron, Gary, S. 48. 471
472
V. Der Wandel der Bildungssysteme in Skandinavien: Schweden
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schüsse erhalten. Läßt man allein diese beiden Kriterien in die Berechnung einfließen, so liegt die Realförderung wesentlich geringer als 85 % der vergleichbaren Aufwendungen für einer Schüler in einer kommunalen Grundschule. (2) Die staatliche Schulaufsicht über Schulen in freier Trägerschaft Alle Schulen in freier Trägerschaft unterliegen in Schweden der Anerkennung und Aufsicht der Nationalen Behörde474 • Die Bezuschussung freier Schulen ist daran gebunden, daß bestimmte Anforderungen an die Unterrichtsgestaltung und -organisation eingehalten werden. Diese Anforderungen beziehen sich im wesentlichen darauf, wie gut eine Schule bei den zentralen, durch die Unterrichtsverwaltung obligatorisch durchgeführten Prüfungen in den Kernfächern Mathematik, Schwedisch, Englisch und "bürgerliche Fähigkeiten" abschneidet. Seine normative Grundlage findet dieses Prüfungssystem in Kapitel 9 § 5 des Schulgesetzes, wonach freie Schulen in bezug auf ihre Ausbildung vom Staat inspiziert werden und verpflichtet sind, an den "follow ups" und den Bewertungen teilzunehmen, die vom Staat durchgeführt werden. Die Prüfungen dienen der Feststellung des Unterrichtsstandards im Vergleich zu staatlichen Schulen. Diese werden nach der fünften und neunten Jahrgangsstufe geprüft, so daß die bestehende Freiheit der Unterrichtsgestaltung durch die in den Stoffplänen aufgeführten Leistungsziele determiniert wird475 • Insbesondere in dieser Anbindung an eine staatliche Evaluation sehen Schulen wie die Waldorfschulen eine Gefährdung ihrer pädagogischen Unabhängigkeit, da bestimmte Fertigkeiten, die nach dem staatlichen Curriculum in der fünften Klasse zu beherrschen sind, nach dem pädagogischen Konzept der Waldorfschule erst in einem späteren Lernabschnitt abfragbar sind. Die Unterwerfung unter die staatlichen "follow ups" ist für die Schulen in freier Trägerschaft zwingend, da ihnen ansonsten gern. Kapitel 9 § 6 des schwedischen Schulgesetzes die "Gutheißung" (Unterrichtsgenehmigung) entzogen werden kann. Die Unterrichtsgenehmigung kann ferner nach Kapitel 9 § 6 zurückgezogen werden, wenn die Schule die Genehmigungsvoraussetzungen des Kapitel 9 §§ 1 und 2 nicht mehr erfüllt und auch nach einem entsprechenden Hinweis keine Abhilfe geschaffen wird. d) Die bürgerschaftliehe Reform des Bildungswesens
Perspektivisch könnte das schwedische Modell insofern Vorbildcharakter für die bÜTgerschaftlich verfaßte Schule haben, als es versucht, die Prinzipien der Dezentralisierung, der Autonomie der Einzelschule sowie der Unterrichtsfrei474 475
Burkard, ChristophlRo{ff, Hans-Günter, S. 220. s. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 395.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
heit mit denen der sozialstaatlichen Einstandspflicht und der Chancengleichheit zu koppeln. Insgesamt ist das schwedische Bildungssystem nunmehr heute durch eine Zielvorgabensteuerung gekennzeichnet, dessen Erreichen allein den dezentralen Einheiten vorbehalten bleibt. Inwieweit allerdings der Grundsatz der pädagogischen Unterrichtsfreiheit Verwirklichung findet, bleibt angesichts der Forderung nach Einführung verstärkter bewertender Standards zur Vergleichbarkeit und Evaluierung schulischer Leistungen und des Ansinnens der neuen sozialdemokratischen Regierung, die Zuschüsse für freie Schulen auf 75 % der vergleichbaren Kosten staatlicher Schüler zu senken, problematisch476 • Entscheidend an diesen neueren Entwicklungen in Schweden ist nicht, ob jetzt ein Idealzustand erreicht wurde. Dies ist sicher nicht der Fall, weil die Anwendung des Gesetzes diverse Probleme aufwirft: Z.B. welches ist die Bezugsgröße für die Kosten des staatlichen Schulsystems?; Schulen erhalten die Zuschüsse nur, wenn sie mit der Gemeinde einen Vertrag schließen und die Gleichwertigkeit des Unterrichts mit staatlichen Schulen sichergestellt ist. Wer legt dies fest? Entscheidender als diese noch zu klärenden Probleme ist, daß Schweden wie die anderen skandinavischen Länder in der Ausgewogenheit bürgerschaftlicher Freiheitsgedanken und sozialstaatlicher Verpflichtungen Vorbildfunktion für jene Länder übernehmen kann, die bisher unter dem Vorwand der Chancengleichheit Bildungsvielfalt verhindert haben. Mit der neuen Form und Höhe der Bezuschussung und ihrer Begründung, den Eltern ein volles Wahlrecht zu ermöglichen, ist es für Schulen möglich geworden, durch eine Senkung bzw. Streichung des Schulgeldes in neuer Form in das soziale Leben zu treten und sich für die gesamte Gesellschaft zu öffnen. Die Diskussion über neue Formen der staatlichen Daseinsvorsorge - die Diskussion über "Public Management" und das Verhältnis von "In put" und "Out put" im Bildungswesen -, die zur europaweiten Diskussion über ,,Autonomie von Schule" geführt hat, wurde in Ländern wie Schweden nicht auf eine halbherzige Deregulierungs- und Dezentralisierungsdebatte beschränkt, sondern um die Diskussion über die Rechte der Bürger, insbesondere ein wirkliches Wahlrecht zwischen staatlichen und freien Schulen, erweitert. Das ist jener Punkt, der in den Reformdebatten etwa in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Zusammenhang mit den zarten Bemühungen, die Autonomie der Einzelschule zu stärken, sträflich vernachlässigt wird. In der Erweiterung der öffentlichen Diskussion um diesen Gesichtspunkt liegt die Perspektive eines Bildungswesens der Zukunft.
476
Krit. i.d.S. auch Willmann, Bodo, S. 132.
VI. Die Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland
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VI. Die föderale Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland - im Spannungsverhältnis von Sozialstaat und bürgerschaftlichem Grundrechtsverständnis 1. Die historische Entwicklung des Bildungswesens Für die deutsche Schulverfassungsentwicklung ist entscheidend, daß der absolutistische Staat mit der Einführung der Schulaufsicht des Staates durch das Preußische Allgemeine Landrecht 1794, in dessen Tradition sich die gesamte Schulentwicklung in Deutschland vollzog, den "Primat der staatlichen Schule im Bereich von Bildung und Erziehung,,477 begründete. Die Schule geriet damit in die Hand einer autoritären Staatsorganisation, und alle Bemühungen liberaler preußischer Reformer, das Schulwesen als eine öffentliche Einrichtung in kommunaler oder genossenschaftlicher Selbstverwaltung unter Anerkennung der staatlichen Gesamtverantwortung neu zu organisieren, blieben erfolglos478 • Dieses Verfassungsverständnis fand seine Fortsetzung unter der Weimarer Reichsverfassung, und auch unter der Geltung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wird die Schulaufsicht des Staates gern. Art. 7 Abs. 1 GG weithin als Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens verstanden479 • Hierbei wird die staatliche Schulaufsicht entgegen dem vom Verfasser an anderer Stelle dargelegten Schulvielfaltsgebot des Grundgesetzes480 als ein - zumindest im staatlichen Schulwesen - pädagogische und weltanschauliche Vielfalt ausschließendes Konstitutionsmoment gesehen481 . Für die Struktur der Schulverfassung der Bundesrepublik Deutschland ist dabei die Dualität der Vorgaben für das Schulwesen in Art. 7 im Grundrechtsteil des Grundgesetzes einerseits und die durch Art. 30 und 70 ff. GG festgeschriebene Kulturhoheit der Länder andererseits signifikant. Der Einfluß der Kirche auf das Schulwesen ist in Deutschland aufgrund der umfassenden staatlichen Schulaufsicht seit dem 19. Jahrhundert immer mehr zurückgegangen und schließlich in den Bereich des sog. Privatschulwesens verwiesen worden, wie es im Weimarer Schulkompromiß seinen Ausdruck und 477 Erichsen, Hans-Uwe, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung. BerlinlNew York 1979, S. 14. 478 Jenkner, Siegfried, Entwicklung und Perspektiven der Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament - B 27/1989 v. 30.6.1989, S. 3 f. 479 s. hierzu näher Jach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, Berlin
1991, S. 8 ff. 480 Jach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 78 ff. 481 Avenarius, Hennann, Schulische Selbstverwaltung - Grenzen und Möglichkeiten, RdJB 1994, S. 256 (259).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
unter der Geltung des Grundgesetzes seine Fortsetzung fand. Ebenso wurden aber auch - bis auf eine kurze Zeit zu Beginn der Weimarer Republik - reformpädagogische Schulkonzeptionen in das Reservat des Privatschulwesens verwiesen und fanden als geschlossene pädagogische Modelle keinen Raum im staatlichen Schulwesen. Im Vergleich zu Ländern wie Frankreich ist dabei zu konstatieren, daß in Deutschland die verfassungsrechtliche und bildungspolitische Auseinandersetzung um das Verhältnis von staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft nicht auf den Antagonismus zwischen staatlicher und kirchlicher Bestimmungsgewalt über das Schulwesen zu beschränken ist. Die kirchlichen, insbesondere die katholischen, Schulen stellen zwar den quantitativ größten Anteil der Schulen in freier Trägerschaft dar, doch ist ihre Bedeutung "nicht so groß, daß das ganze freie Schulwesen als eine praktisch nur den Katholiken betreffende Angelegenheit erscheint,,482. In der verfassungsrechtlichen Diskussion über Inhalt und Reichweite der in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG gewährten Privatschulfreiheit spielt dementsprechend die - die katholischen Schulen aufgrund ihrer bis auf religiöse Komponenten bewußt engen Anlehnung an die Lehrpläne der staatlichen Schulen483 nicht substantiell betreffende - Frage der Gewährung einer "echten Unterrichtsfreiheit" im Sinne des Rechtes zur Veranstaltung eines hinsichtlich der Unterrichtsinhalte, Erziehungsziele und der pädagogischen Konzeption eigenverantwortlich, von staatlichen Schulen abweichenden Unterrichts eine zentrale Bedeutung, besonders für nichtkonfessionelle Schulen in freier Trägerschaft. Eine nähere Betrachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes zeigt, daß dieses zwar von der Absage an ein staatliches Schulmonopol und eine an sich mit dem Schulvielfaltsgebot korrespondierende dezentralisierte föderalistische Struktur geprägt ist, gleichwohl aber durch das herrschende Verständnis der in Art. 7 Abs. 1 GG festgeschriebenen staatlichen Schulaufsicht und die landesrechtliche Ausgestaltung der in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG verankerten Privatschulfreiheit nur bedingt Handlungsräume für reformpädagogische und alternative Schulformen bestehen. Hierbei ist zu vergegenwärtigen, daß in der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten nicht nur eine Unterrichtspflicht, sondern Schulpflicht besteht. Die pädagogischen und (selbst-)verwaltungsmäßigen Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Schule sind im staatlichen Schulwesen der Bundesrepublik Deutschland zumindest traditionell rechtlich eng umgrenzt. Im europäischen Vergleich ist das bundesrepublikanische Schulwesen ungeachtet seiner föderalen Grundstruktur auf Länderebene als zentralistisch einzuordnen. Für pädago482 Dikow, Joachim, Das Schulwesen in freier Trägerschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In: ListVSchlick (Hrsg.), Grundfragen des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Straßburg 1982 (Anm. 66), S. 95 (99). 483 Dikow, Joachim, S. 100 f.
VI. Die Schul verfassung in der Bundesrepublik Deutschland
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gisehe Alternativen sind die Eltern weitestgehend auf Schulen in freier Trägerschaft verwiesen. Betrachtet man unter dieser Prämisse den Strukturwandel vom obrigkeitsstaatlichen Einheitsschulwesen der ehemaligen DDR zum föderalistischen Schulwesen in den neuen Bundesländern, so muß man feststellen, daß die Strukturbedingungen für ein in diesem Sinne plurales Schulwesen nicht geschaffen wurden. Die Schule bleibt in ihrer - allerdings demokratisch und rechtsstaatlieh legitimierten - etatistischen Grundkonzeption dem Vorrang der staatlich gesteuerten Schule vor anderen Institutionen und der Absage an ihre Autonomie verhaftet. Bedauerlich ist dabei, daß nicht nur - für die pädagogische Arbeit so wichtige - Einrichtungen wie Schulgärten aus dem Schulleben verschwunden sind, sondern auch, daß innovative Momente wie die in Sachsen zunächst angestrebte Verbindung von Abitur und beruflicher Qualifikation im Zuge der Tendenzen zum unitaristischen Bundesstaat dem Veto der Kultusministerkonferenz zum Opfer gefallen sind. Gleichwohl werden die Diskussionen, wie z.B. über die Autonomie von Schule, über Schule als Lebens- und Erfahrungsraum, die Integration von behinderten Kindern in die Regelschule, die Notwendigkeit von Ganztagsschulen angesichts der Berufstätigkeit beider Elternteile und die damit verbundenen neuen pädagogischen Aufgaben von Schule, die Struktur des Bildungswesens in den neuen und alten Bundesländern ebenso verändern wie die immer stärker werdenden Anforderungen an die Schule, erzieherisch und präventiv mit dem Problem von Gewalt umzugehen. In diesem Kontext wird etwa die in den 80er Jahren begonnene Diskussion über die Notwendigkeit und normative Ausgestaltung der Grundlagen für Schulsozialarbeit, d.h., das Zusammenwirken von Jugendhilfe und Schule, weiter an Bedeutung gewinnen und neue Fragen über Organisations- und Verwaltungs strukturen von Schule aufwerfen. Bei alledem wird es Aufgabe des Rechts sein, der Eigenheit des pädagogischen Prozesses entsprechend Rahmenbedingungen für das notwendige Maß an pädagogischer Freiheit zu sichern, die Schule nicht als bürokratisches Modell mit all seinen Implikationen der Verrechtlichung, sondern als kommunikative Interaktion, für die verschiedene pädagogische Optionen zur Verfügung stehen, zu sehen. 2. Die Schulaufsicht als Steuerungsinstrument des staatlichen Schulwesens Entgegen dem sonstigen Verständnis der Staatsaufsicht wird die Schulaufsicht des Staates nach Art. 7 Abs. 1 GG nicht als Aufsicht über eine sich selbstverwaltende Körperschaft Schule verstanden, sondern impliziert nach herrschendem Schulverfassungsverständnis neben der Aufsicht über die staatlichen
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und privaten Schulen auch das Recht zur unmittelbaren Gestaltungsbefugnis der inhaltlichen Ausrichtung der staatlichen Schulen hinsichtlich der Lernziele, der Lehrpläne und der Festlegung von Leistungs- und Bewertungsstandards. Dies hat dazu geführt, daß das staatliche Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland ungeachtet seiner föderalistischen Grundstruktur aufgrund von Vereinbarungen der Kultusminister über gemeinsame Unterrichtsstandards durch ein unitaristisches Schulsystem geprägt ist. Für pädagogische Alternativen bestehen innerhalb des staatlichen Schulsystems nur sehr geringe Handlungsmöglichkeiten, da die Dezentralisierung des Bildungswesens bei der Kulturhoheit der Länder endet. So sind weder auf der kommunalen Ebene noch für die einzelne Schule oder den einzelnen Lehrer autonome pädagogische Grundentscheidungen substantiell dergestalt möglich sind, daß diese selbständig beschließen könnten, ihren Unterricht etwa als geschlossenes pädagogisches Konzept auf der Grundlage der Freinet-Pädagogik zu gestalten, obgleich es sicher auch im staatlichen Schulsystem möglich ist, einzelne Elemente der Reformpädagogik in den Unterrichts ablauf zu integrieren. Dem etatistischen Schulverfassungsverständnis entsprechend, bestehen für die Eltern im staatlichen Schulsystem keine echten Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung des Lehrplans und des Unterrichts oder sonstige Fragen der Unterrichtsorganisation. Die Rechte der Eltern begrenzen sich im wesentlichen auf individuelle Informationsrechte und kollektive Anhörungsrechte. Der für die Gesetzgebung im Schulwesen ausschließlich zuständige Landesgesetzgeber ist bei der Ausgestaltung der ihm ausschließlich unterliegenden Regelungskompetenzen im Schulwesen an die verfassungsmäßige Ausprägung des Demokratieprinzips sowie die hierzu maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die in dem Beschluß des Zweiten Senats vom 24.5.1995 zur Verfassungsmäßigkeit des schleswig-holsteinischen Personal vertretungs gesetzes484 nicht nur ausdrücklich bestätigt, sondern im Sinne einer restriktiven Auslegung des Demokratieprinzips hinsichtlich partizipatorischer Elemente der staatlichen Willens bildung noch weiterentwickelt wurde, sind für den einfachen Gesetzgeber grundsätzliche Grenzen für eine Durchbrechung des repräsentativen Demokratieverständnisses entwickelt worden, die auch den Handlungsspielraum des Landesgesetzgebers hinsichtlich der Schulgesetzgebung über den Rahmen der Interpretation der staatlichen Schulaufsicht gern. Art. 7 Abs. 1 GG hinaus binden. Danach ist als eine Ausübung von Staatsgewalt, welche demokratischer Legitimation dergestalt bedarf, daß sie sich vom Volk herleiten lassen muß, alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter zu werten. Gleiches gilt "für 484
BVerfG, DVBI. 1995, 1291.
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Entscheidungen, die unmittelbar nach außen wirken, wie für solche, die durch einen anderen Verwaltungsträger umgesetzt werden müssen, sofern dieser rechtlich dazu verpflichtet ist,,485. Insofern kann kein Zweifel bestehen, daß z.B. auch den Beschlüssen der Schulkonferenz, insbesondere hinsichtlich der Festlegung des Schulprogramms und Schulprofils ungeachtet der Beanstandungsrechte und -pflichten anderer Organe (Lehrerkonferenz, Schulleiter, Schulaufsicht), der Charakter demokratisch zu legitimierenden Entscheidungshandelns zukommt. Bestanden somit schon aufgrund der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erhebliche Bedenken gegen die verfassungsrechtliche Durchsetzbarkeit einer Autonomie oder Selbstverwaltung der staatlichen Schule, so sind diese Bedenken durch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum schleswig-holsteinischen Personal vertretungs gesetz aus dem Jahre 1995 für die hier in Frage stehende Regelung verstärkt worden. In dieser Entscheidung betont das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich, daß hinsichtlich der Möglichkeit der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst in bezug auf Maßnahmen, mit denen Staatsgewalt ausgeübt wird, solche Maßnahmen "in keinem Fall ohne die mindestens mitentscheidende Beteiligung verantwortlicher Amtsträger erlassen werden (dürfen); auch im internen Dienstbetrieb ist kein Raum für eine 'Autonomie' des öffentlichen Dienstes, sei diese auch noch so eingeschränkt,,486. Danach darf "Partizipation niemals zu einer von den demokratisch verantwortlichen Amtsträgern unabhängigen Entscheidung führen".487 Dieses restriktive Verständnis des Demokratieprinzips setzt damit auch der bildungspolitisch teilweise extensiv geführten Diskussion über Möglichkeiten schulischer Selbstverwaltung im staatlichen Schulwesen im Sinne einer ,,Autonomie", d.h. einer eigenständigen Rechtspersönlichkeit und damit verbundenen umfassenden Satzungsgewalt, im Rahmen der herrschenden Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht gern. Art. 7 Abs. 1 GG enge Grenzen. Nach herrschender Meinung umfaßt der Begriff der staatlichen Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG die umfassende Gestaltungsbefugnis des Staates zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens. Hierbei handelt es sich nicht um eine dispositive Regelung, sondern nach herrschendem Verfassungsverständnis beinhaltet dies zugleich die Verpflichtung des Staates, Unterricht und Erziehung in den staatlichen Schulen grundSätzlich als öffentlich-rechtliche Tätigkeit in der Verantwortung des Staates durchzuführen. HierBVerfGE 47,253 (273); 83,60 (73). BVerfG, DÖV 1996,74 (75). 487 Vgl. hierzu Battis, UlrichlKersten, Jens, Demokratieprinzip und Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, DÖV 1996, S. 586. 485 486
17 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
nach besteht der Amtsauftrag der Schule insbesondere in der Umsetzung der vorgegebenen Bildungsziele, Lernziele und Lehrinhalte sowie der Festlegung und Durchführung von Leistungs- und Bewertungsstandards im Sinne eines eigenständigen staatlichen Erziehungsauftrages. Diese extensive Interpretation des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht unterliegt nach meiner Meinung schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken, da hier der Begriff der ,,Aufsicht" in einer der sonstigen Verwendung des Begriffs der Aufsicht, die stets die Aufsicht über eine sich selbstverwaltende Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts meint, widersprechenden Interpretation ausgelegt wird. Nach meiner Ansicht kann der Begriff der staatlichen Schulaufsicht im grundgesetzlichen Sinn nur als eine Rechtsaufsicht interpretiert werden. Würde man dieser Mindermeinung folgen, so wäre es durchaus möglich, rechtlich z.B. eine drittelparitätisch besetzte Schulkonferenz einzurichten, weil ein grundgesetzlich festgeschriebener Amtsauftrag in dem engen Verständnis des Art. 7 Abs. 1 GG nicht bestünde. Folgt man dagegen der von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung vertretenen Meinung, Art. 7 Abs. 1 GG impliziere die umfassende Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht des Staates mit einem eigenständigen genuin staatlichen Erziehungsauftrag als Amtsauftrag, so schließt dies bestimmte Entscheidungsrechte von nicht durch Wahlen demokratisch legitimierten Personen im Sinne einer Mehrheitsentscheidung in der Schulkonferenz aus488 • Nach meiner Meinung entspricht diese Interpretation der staatlichen Schulaufsicht, die aus dem Wortlaut der WRV entnommen wurde, nicht mehr einer systemgerechten Auslegung des Grundgesetzes489 • Gegenwärtig besteht jedoch kaum Aussicht auf Neufassung eines systemgerechten Verständnisses der staatlichen Schulaufsicht durch das Bundesverfassungsgericht oder die Mehrheit der verfassungsrechtlichen Literatur. Dieses liegt nicht allein darin begründet, daß Art. 7 Abs. 1 GG zwangsläufig zu einer stärkeren Selbstverwaltung der Schule führen würde, sondern ergibt sich aus dem herrschenden Verständnis des für schulische Entscheidungen maßgeblichen Demokratieprinzips des Grundgesetzes, welches Anwendung finden muß, wenn man von einem umfassenden Begriff der staatlichen Schulaufsicht ausgeht. 488 s. hierzu auch Geis, Max-Emanuel, Möglichkeiten und Grenzen schulischer Partizipationsregelungen am Beispiel der sog. Schulkonferenz. In: lach, Frank-Rüdiger /Jenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel. Berlin 1998, S. 31 ff.; grundsätzlich hierzu auch Hufen, Friedhelm, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen schulischer Selbstgestaltung. In: lach, Frank-Rüdiger/lenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von lP. Vogel. Berlin 1998, S. 51 ff. 489 s. hierzu grundlegend lach, Frank-Rüdiger, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, S. 8 ff. m.w.N.; krit. auch lenkner, Siegfried, Ist unsere Schulverfassung noch zeitgemäß. In: lach, Frank-Rüdiger/Jenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel. Berlin 1998, S. 1 ff.
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Auch wenn im Rahmen neuer staatlicher Steuerungsmodelle eine stärkere Bürgerbeteiligung als Ausdruck einer Pluralisierung angestrebt werden sollte und eine restriktive Interpretation des Konzepts der demokratischen Verwaltungslegitimation im Sinne einer hierarchischen Verwaltungsorganisation abzulehnen ist, weil es den sachgerechten Notwendigkeiten einer aufgabenadäquaten Verwaltungsorganisation nicht gerecht wird - was für den Schulbereich auf der Hand liegt -, so liegt doch die verfassungsrechtliche Grenze im traditionellen Verständnis der staatlichen Schulaufsicht in der Zurechenbarkeit staatlichen Handeins zur Verwaltungsorganisation und erfordert eine darin institutionaliserte Ergebnisbeherrschung. Insoweit herrscht in der verfassungsrechtlichen Diskussion über den Grundsatz Einigkeit, strittig sind lediglich die Grenzen, wann diese Verantwortlichkeit ausgehöhlt ist. 3. Neuere Entwicklung der Stärkung der SelbstgestaItung und Eigenverantwortung der staatlichen Schule Ungeachtet der durch das herrschende Verständnis von Art. 7 Abs. 1 GG gesetzten Grenzen sind einzelne Bundesländer dazu übergegangen, im Rahmen des herrschenden Verfassungsverständnisses die Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Schule zu stärken. Mit der Forderung nach einer Stärkung der Möglichkeiten eigener pädagogischer Profilbildung und der Selbstverwaltung der Einzelschule bis hin zu haushaltsrechtlichen Fragen, erwacht auch in Deutschland die Bildungspolitik nach einem mehr als zwanzigjährigen Dornröschenschlaf durch das Zauberwort ,.Autonomie". Hierbei treffen die pädagogischen Gründe, der Schule mehr Selbstgestaltungsmöglichkeiten zu gewähren, mit einer Diskussion über Sparzwänge der öffentlichen Haushalte zusammen; hier ist unterschwellig eine Abwehrstellung kaum vermeidbar. Kritische Begleitmusik zu dem Konzept einer "autonomen Schule" ist zu vernehmen und vielleicht zum Teil berechtigt, soweit sie in dem Verdacht gründet, die Politik wolle sich aus der finanziellen Verantwortung stehlen und der einzelnen Schule unter dem Aspekt der Haushalts autonomie die Mängelverwaltung überlassen. Gestärkt wird diese Skepsis auch dadurch, daß die gegenwärtigen Reformüberlegungen weniger von der Lehrerschaft als durch die Bildungspolitik und Teile der Unterrichtsverwaltung forciert werden. So haben sich nun auch die deutschen Bundesländer auf den Weg gemacht, ihre Schulgesetze im Sinne einer Erweiterung der Selbstgestaltungsmöglichkeiten der Einzelschule rechtlich zu novellieren. Wegbereiter in diesem Sinne waren die - mit oder ohne Beteiligung von Bündnis 90IDIE GRÜNEN - sozialdemokratisch regierten Bundesländer. In leisen Schritten zuerst Hessen, gefolgt von Niedersachsen, dann Bremen und Hamburg. Die anderen Länder stehen zum Teil in den Startlöchern, so Berlin und Schleswig-Holstein, und auch
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Rheinland-Pfalz will zumindest die Elternrechte stärken. Die bildungspolitische Koalition scheint sich dabei zunehmend über die traditionellen parteipolitischen Lager hinweg aufzubauen. Während auf der einen Seite auch weite Teile der F.D.P. und etliche CDU-Bildungspolitiker für eine Stärkung der finanziellen und pädagogischen Autonomie plädieren, sind sich Teile der GEW mit dem Philologen verband einig, daß eine Stärkung der Autonomie der einzelnen Schule abzulehnen sei. Während die einen den Verlust von Chancengleichheit durch ein marktorientiertes Auseinanderdriften von Schulen befürchten, sehen die anderen mit der möglichen Schwächung allgemeingültiger Standards die Gefahr eines Leistungsverlustes des staatlichen Schulwesens. Hierbei ist die bundesrepublikanische Diskussion über Stärkung der Selbständigkeit der Einzelschule in europäischer Perspektive alles andere als avantgardistisch. In fast allen europäischen Ländern wird sie nicht nur schon längere Zeit als in der Bundesrepublik geführt, sondern der Gedanke einer Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule ist in den anderen europäischen Ländern schon wesentlich weitergehender normativ umgesetzt und evaluiert worden. Bei alledem kann jedoch nicht verkannt werden, daß es auch in Deutschland unterschiedliche Konzeptionen der "Selbstgestaltung von Schule" gibt: zum einen die rein pädagogisch motivierte Forderung der Autonomie der Einzelschule, um neben den bisherigen Unterrichtsformen durch die Gewährung eines rechtlich-normativ gesicherten pädagogischen Freiheitsraumes die Ideen der Reformpädagogik - kindgerechteres Lernen durch ganzheitliche Unterrichtskonzeptionen, die weniger auf Selektion und starre Unterrichts- und Zeiteinteilungen ausgerichtet sind - auch in der "Staats schule" stärker verwirklichen zu können; zum anderen die eher demokratietheoretisch begründete Konzeption von Schulvielfalt als Ausdruck der bürgerschaftlichen Schule, die den verschiedenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und pädagogischen Konzepten unter Einbeziehung der Beteiligten stärkeren Raum zur Selbstverwirklichung geben will. Daneben gibt es aber auch eine eher marktorientierte Konzeption, die eindeutig die haushalts- und verwaltungsmäßige Selbständigkeit gegenüber pädagogischer Vielfalt betont und unter Berufung auf organisationssoziologische Erkenntnisse auf eine Konkurrenzsituation verschiedener Anbieter setzt, die sich auf einem Bildungsmarkt bei durchaus demselben staatlich vorgegebenen Unterrichtskonzept dem Abnehmer stellen und etwa durch Sponsoring eine unterschiedliche Ausstattung erhalten können. Weitere Differenzierungen ließen sich anfügen. Zur Stärkung der pädagogischen und verwaltungsmäßigen Selbstgestaltung bedarf es eines längeren Entwicklungsprozesses. Die bisherigen Schul gesetznovellierungen erscheinen als erster Schritt durchaus geeignet, obgleich für die Verwirklichung von Schulvielfalt ein Mehr an pädagogischen und strukturellen Freiräumen notwendig wäre. Im Rahmen dieser Untersuchung kann jedoch auf
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die föderalen Unterschiede nicht näher eingegangen werden. Die bisher von den Bundesländern erfolgten Novellierungen versuchen in begrenztem Umfang, Selbstgestaltung und Selbstverantwortung in der Mittelbewirtschaftung zu verwirklichen, halten aber eindeutig an der staatlichen Steuerung und einer extensiven Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht fest. Die Schulgesetznovellierungen gehen dabei einen sehr moderaten Weg im Sinne der Schaffung partieller Handlungsräume etwa hinsichtlich bestimmter Zusatzangebote und Schwerpunktbildungen. Doch gleichzeitig haben alle Gesetzesänderungen eines gemeinsam: Alle Gesetze sind so angelegt, daß die Unterrichtsverwaltung durch Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften jederzeit "die Zügel wieder in die Hand nehmen kann". Normativ sind die Gesetze so ausgestaltet, daß dem Staat letztlich der Zugriff auf die einzelne Schule weitestgehend erhalten bleibt, d.h., es handelt sich im wesentlichen um die Erweiterung von "Selbstgestaltungszonen", die das Wort "Autonomie" im Sinne rechtlich verankerter Selbstbestimmung inhaltlich noch lange nicht rechtfertigen. Von der bürgerschaftlichen Schule ist ein solches Verständnis noch weit entfernt. Alle Gesetze halten an der umfassenden Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht der staatlichen Schulaufsicht fest, auch wenn diese etwa im bremischen Schulverwaltungsgesetz nunmehr engeren Bindungen im Sinne einer Begrenzung der Eingriffsmöglichkeiten in die pädagogische Freiheit unterliegen. Die Schule bleibt - anders als in anderen europäischen Ländern - eine nichtrechtsfähige Anstalt des Staates und kann damit sowohl hinsichtlich des Personals als auch haushaltsmäßig nur in dem ihr durch die staatlichen Behörden zugewiesenen Rahmen, der freilich hinsichtlich der Möglichkeiten der Selbstbewirtschaftung in gewissem Umfang erweitert wurde, tätig werden. Auch wenn damit schon angesichts dieser Rechtslage die Bezeichnung "Autonomie" der Einzelschule irreführend ist, da eine solche rechtlich die Begrenzung der Schulaufsicht auf die reine Rechtsaufsicht und eine eigene Rechtsfähigkeit beinhalten würde, sind die bisherigen Gesetzesnovellierungen gleichwohl als ein Schritt zu mehr Selbständigkeit der Einzelschule verbunden mit neuen Aufgaben der Schulbehörden zu werten. In diesem Sinne gehen die Neuregelungen im Stadtstaat Bremen am weitesten, indem diese Schulaufsicht und Schulberatung voneinander trennen, eine unabdingbare Strukturvoraussetzung für die Stärkung der pädagogischen Selbständigkeit der Einzelschule. Die "neue" Schule braucht bei der Erstellung von Schulprograrnmen und Unterrichts schwerpunkten vertrauensvolle Beratung und Kooperation, demgegenüber Weisungsrechte durch Schulaufsichtsbeamte nur kontraproduktiv sein können. Hinsichtlich der pädagogischen Gestaltungsmöglichkeiten enthalten die neuen Schulgesetze unzweifelhaft erweiterte Freiräume hinsichtlich der Bildung von Unterrichtsschwerpunkten und der Festlegung des Unterrichtskonzepts bis hin zu Möglichkeiten des teilweisen Verzichts auf Ziffernnoten. Ausgefüllt
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werden diese Befugnisse durch die mit stärkeren Rechten ausgestattete Schulkonferenz, die damit gleichzeitig die Partizipationsrechte VOn Lehrern, Eltern und Schülern stärkt. Doch diese Freiräume sind umgrenzt durch Rahmenvorgaben, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, so daß letztlich die Schulverwaltung weiterhin bestimmen kann, wieviel Freiheit der Staat der Schule gewährt. So sind die Schulen nach dem niedersächsischen Schulgesetz zwar selbständig in Planung, Durchführung und Auswertung des Unterrichts und in der Erziehung, Organisation und Verwaltung, doch dies nur im Rahmen der staatlichen Verantwortung und der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, und dementsprechend unterliegen Z.B. Schulbücher weiterhin einer Genehmigungspflicht. Ungeachtet der dargestellten Einschränkungen, die deutlich machen, daß es um eine prozeßhafte Ausweitung von Selbstgestaltungsrechten geht, werden im staatlichen Schulwesen nunmehr Selbstbestimmungsrechte schrittweise eingeführt, die bisher allenfalls die Schulen in freier Trägerschaft, sog. Privatschulen, hatten. Von diesen Schulen kann insofern viel gelernt werden, doch müssen wie in anderen europäischen Ländern - grundlegend neue Strukturbedingungen geschaffen werden, wenn die Autonomiediskussion es ernst meint mit der freien Wahl zwischen verschiedenen pädagogischen Angeboten. Die Autonomiediskussion weist den Weg weg von der Dualität der staatlich finanzierten, aber reglementierten Schule versus pädagogisch autonomer, aber durch Schulgeld zwangsläufig sozial selektiven Schule in Elternträgerschaft. Sie wird perspektivisch zu einem öffentlichen Schulwesen führen, in dem unabhängig VOn der Fonn der Trägerschaft einer Schule verschiedene pädagogische Konzepte gleichberechtigt nebeneinander stehen. Denn mit der Stärkung des Wahlrechts der Eltern zwischen verschiedenen pädagogischen Optionen verliert der alte Gegensatz zwischen Liberalismus und Etatismus im Schulwesen seine innere Legitimität. 4. Die Einseitigkeit der bundesdeutschen Reformdiskussion Von dieser Perspektive, der Überwindung des Gegensatzes VOn Etatismus und Liberalismus, ist die bundesdeutsche Diskussion jedoch noch ein Stück entfernt. Obgleich einzelne Bundesländer dazu übergegangen sind, im Rahmen des herrschenden Verfassungsverständnisses die Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Schule zu stärken, wird dabei der Vorrang der staatlichen Schulen vor nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft nicht in Frage gestellt. Diese Problematisierung wird nahezu tabuisiert, und so forderte einer der Hauptreferenten auf der jüngsten Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1995 zum Thema ,,Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab im freiheitlichen Verfassungsstaat", der Schulbereich müsse aufgrund der großen Bedeutung der öffentlichen Erziehung von der Privatisierungsdebatte ausgespart bleiben, ja so-
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gar, es bestehe ein Verfassungsgebot der grundsätzlichen Staatlichkeit des Schulwesens, und die Privatschulen müßten auf ihren gegenwärtigen marginalen Bereich beschränkt bleiben490. Dies deckt sich mit bildungspolitischen Äußerungen etwa der Sozialdemokratie, die über den Vorsitzenden eines Gesprächskreises ,,zukunft der Bildung" verlautbaren läßt, daß eine Privatisierung von Bildung und Ausbildung aus Gründen der sozialen Integration "überhaupt nicht in Betracht kommt,,491. Hierbei verharrt diese Denkweise nicht nur in veraltenden Strukturen und Argumentationsfiguren, sondern verkennt, daß zum einen die soziale Selektivität der staatlichen "Stadtteilschule" in den Stadteilen, in denen vornehmlich Eltern der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht wohnen, heute schon höher ist als die Durchmischung der Schulen in Elternträgerschaft492 . Trotzdem gehört es noch nicht zum Gemeingut bildungspolitischer und wissenschaftlicher Erkenntnis, daß staatliche Schulen als solche kein Garant für Chancengleichheit sind, sondern daß es wesentlich auf das Ethos einer Schule ankommt und nicht (nur) auf die äußere Struktur oder gar die Trägerschaft. Zum anderen findet im staatlichen Schulwesen durch die enorme Ausweitung des Nachhilfeunterrichts als Folge weitgehenden Schulversagens nicht nur eine schleichende Privatisierung, sondern auch eine schleichende Selektion statt, da die materiellen Voraussetzungen für Nachhilfeunterricht nicht bei allen Kindern gegeben sind. Hierbei ist interessant, daß die durchschnittlichen Nachhilfekosten eines staatlichen Schülers den Kosten des durchschnittlichen Schulgeldes eines Schülers einer Schule in Elternträgerschaft entspricht, wobei allerdings zu untersuchen wäre, inwieweit Schüler etwa an Waldorfschulen Nachhilfe benötigen und somit eine weitere Finanzierung der Bildung. Zugleich zeigt gerade die argumentative Thematisierung dieser Frage angesichts der Tatsache, daß doch zumindest in Deutschland die Tradition staatlichen Schulehaltens als fester Bestandteil des Verfassungsstaates gilt493 , daß auch in Deutschland die grundsätzliche Frage nach der Rolle und Bedeutung des Staates im Bildungswesen Eingang in die bildungspolitische Diskussion gefunden hat. So bemerkte denn auch der renommierte Vertreter einer traditionellen Interpretation der staatlichen Schulaufsicht, Thomas Oppermann, auf jener Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer: "Wir stehen in Deutschland eben immer noch auf den Schultern des Etatismus. Bis zu den Schultern, könnte man sagen, 490 Bothe, Michael, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54/1995, S. 18 f. 491 Zit. nach DLZ 19/1996, S. 2. 492 s. hierzu Pfister, JürgenlWeishaupt, Horst, Schulische Autonomie - Organsiatorische Aspekte der Schulqualität. In: Steffens, UlrichlBargel, T. (Hrsg.), Schulleben und Schulorganisation, Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung. Wiesbaden 1988, S. 123 ff. 493 Dittmann, Armin, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat. VVDStRL 54/1995, S. 50.
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stehen wir noch im Etatismus. Hieran möchte ich meine eigentliche Frage ansetzen ... (Da) hat man manchmal das Gefühl, ob nicht auch im Kulturbereich in Deutschland Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung angesagt sind,,494. Dem ist uneingeschänkt zuzustimmen. Hierbei kann es nicht darum gehen, die Verantwortung des Staates für ein leistungsfähiges Bildungs- und Schulsystem in Frage zu stellen. Bildung und Erziehung dürfen nicht allein dem freien Spiel des Marktes überlassen bleiben. Es geht nicht um eine "Privatisierung", sondern eine "Pluralisierung" von Bildung. Bildung und Erziehung sind und müssen eine öffentlich verantworte Aufgabe bleiben, bei der sich aber sehr wohl die Frage stellt, ob sie notwendigerweise primär durch staatliche Einrichtungen wahrgenommen werden muß. Und so weist Oppermann auch in seinem Diskussionsbeitrag zu Recht auf die besondere Bedeutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "zu den Waldorfschulen und bei anderen Privatschulen" hin, die "ein allmähliches Umdenken in der Verfassungsinterpretation" dokumentiert495 . Diese neuere Rechtsprechung ist ungeachtet einzelner kritisch zu bewertender Elemente dadurch gekennzeichnet, daß das Bundesverfassungsgericht nicht nur von einem öffentlichen Bildungsauftrag von Schulen in freier Trägerschaft, sondern auch von einem prinzipiellen Benachteiligungsverbot gegenüber staatlichen Schulen ausgeht, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen hinsichtlich ihrer finanziellen Ausstattung. Das Bundesverfassungsgericht setzt zwar in seinen leistungsrechtlichen Komponenten der Gleichheit von staatlicher Schule und Schule in freier Trägerschaft Grenzen, dies gilt jedoch nicht in seinem liberalen Grundrechtskonzept der Gestaltungsfreiheit des Schulträgers hinsichtlich seiner organisatorischen und pädagogischen Konzeption. Hier geht das Bundesverfassungsgericht von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit beider Institutionen aus und hat damit "das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor im Kulturbereich im Laufe der letzten Jahrzehnte in Deutschland verfassungsrechtlich etwas anders gewichtet, als es früher der Fall war, nämlich im Sinne prinzipieller Gleichberechtigung,,496. Dies auch deshalb, weil in Deutschland Privatschulen eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz und Nachfrage finden und führende Erziehungswissenschaftler wie Klaus Hurrelmann konstatieren, daß diese "immer beliebter werden" und in Deutschland "mächtige Wachstumspotentiale" zu erwarten seien497 .
Oppermann, Thomas, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 54/1995, S. 109. Oppermann, Thomas, S. 109 f. 496 Oppermann, Thomas, S. 110. 497 Hu"elmann, Klaus, Im Gespräch, HAZ v. 22.4.96, S. I f.; a. A.: Budde, H.I Klemm, K., Zur Entwicklung der Bildungsfinanzierung. In: Rolf!, Hans-Günter u. a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimIMünchen 1994, S. 107 (ll I ), 494 495
die keinen Trend zu mehr Privatisierung sehen.
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Allerdings kann man feststellen, daß sich die Pluralisierungsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern mit einer vergleichbaren sozialstaatlich inspirierten Tradition staatlichen Schulehaltens wie z.B. Schweden - weitestgehend auf die Frage nach dem verfassungsrechtlich zulässigen Maß der Binnenpluralisierung der staatlichen Schule, wie sie in der Diskussion über die ,,Autonomie von Schule" zum Ausdruck kommt, reduziert. Die Frage der Außenpluralität wird jedoch angesichts der durch Art. 7 Abs. 1 GG und das Rechts- und Demokratieprinzip des Grundgesetzes verfassungsrechtlich relativ eng gezogenen Grenzen der Möglichkeiten einer Verselbständigung der staatlichen Schule zwangsläufig zu einer Frage der Stärkung der Außenpluralität und damit einer Neubestimmung der Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft führen, wenn das Prinzip der Pluralisierung von Bildungssystemen als erstrebenswertes Ziel gesetzt wird. Diese Perspektive gilt es jedoch in Deutschland erst zu entwickeln. Auch die in ihren Vorschlägen für die "Schule der Zukunft" zu einem Umdenken auffordernde Denkschrift der nordrhein-westfälischen Bildungskommission fordert zwar explizit eine wesentliche Stärkung der Selbstgestaltungsmöglichkeiten und der Verantwortung der Einzelschule, beschränkt ihre Vorschläge aber auf notwendige Veränderungen in der Verantwortung und Steuerung des öffentlichen, dies meint staatlichen, Schulwesens498 • Hierbei ist - wie in der gesamten deutschen Debatte über die Schulautonomie - augenfällig, wie selektiv von den Befürwortern der Stärkung der Selbstverwaltung der staatlichen Schule als Antwort auf den Trend der Bürger zu Schulen in freier Trägerschaft die von allen Seiten als mit Vorbildcharakter ausgestatteten Niederlande wahrgenommen werden bzw. bewußt einseitig informiert wird. Die Niederlande sind in der Tat ein Beispiel weitreichender Autonomie der Einzelschule, doch ist dies eben gerade deshalb möglich, weil in den Niederlanden 75 % aller Schulen solche in freier Trägerschaft sind. Diesen Aspekt zu ignorieren bzw. wie die nordrheinwestfälische Bildungskommission einerseits im Rahmen der internationalen Recherche zu innovativen Schulsystemen im internationalen Vergleich die besonderen Stärken des niederländischen Bildungssystems insbesondere in der Schulträgerautonomie und der absoluten Freiheit der Schulwahl zu sehen499 , andererseits aber die Reformprozesse in Deutschland explizit auf den Bereich der staatlichen Schule ohne Infragestellung der Rechtsstellung und der bildungspolitischen Bedeutung der Schulen in freier Trägerschaft zu begrenzen5OO,
498 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Neuwied, 1995, S. XIII. 499 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), S. 50. 500 s. hierzu Richter, Ingo, Die Privatschule als "Schule der Zukunft?". In: Jach, Frank-Rüdiger/Jenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel. Berlin 1998, S. 17 ff.
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verkennt nicht nur ein wesentliches Konstitutionsmoment für Schul vielfalt und pädagogische Innovation in den Niederlanden, sondern überinterpretiert die Möglichkeiten der Selbstverwaltung der staatlichen Schule in der Bundesrepublik Deutschland. Solange die deutsche Staatsrechtslehre an ihrer etatistisehen Interpretation des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG festhält und das Demokratieverständnis extensiv im Sinne des Repräsentationsprinzips ausgelegt wird, sind die Möglichkeiten der Binnenpluralisierung der staatlichen Schule sehr begrenzt. Schulvielfalt läßt sich, jedenfalls sofern man nicht der von mir und einer Minderheit schon früher vertretenen Ansicht folgt, daß der Begriff der Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes nur als Rechtsaufsicht über eine sich selbst verwaltende Schule zu verstehen sei, im Staatsschulwesen substantiell nicht umsetzen. Die Illusion, staatliche Herrschaftsrechte sichern zu wollen und gleichzeitig die staatliche Schule in Selbstverwaltung zu verwirklichen, läßt sich unter der Geltung des Grundgesetzes im Rahmen des herrschenden Verfassungsverständnisses nicht einlösen. Auch die Bindung des Schulverhältnisses an das Rechtsstaatsprinzip in Form des Parlaments- und Gesetzesvorbehaltes für die wesentlichen Entscheidungen der Schulverfassung und die Anerkennung der grundsätzlichen Geltung der Grundrechte auch im Schulverhältnis seit den 70er Jahren hat die Verfügungsgewalt des Staates über das Schulwesen zwar parlamentarisch legitimiert, aber die extensive Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht im Sinne eines umfassenden Bestimmungsrechts des Staates nicht verändert. In der erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskussion werden jedoch grundlegend neue Strukturen des Bildungswesens gedacht. Führende Erziehungswissenschaftler konstatieren auch für Deutschland den Anschein des Abschieds der Ideale "eines wohlfahrtsstaatlichen Modells im Bildungswesen" der sechziger und siebziger Jahre und benennen die Diskussion über die Möglichkeiten einer Entstaatlichung einerseits und einer größeren Vielfalt andererseits als die zentralen Diskussionspunkte der seit Beginn der 90er Jahre neu entfachten bildungspolitischen Diskussion50I •
5. Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft a) Die Bedeutung der Schulen injreier Trägerschajt Der ,,Bürger" ist - wie wir gesehen haben - in Deutschland im klassischen Schulverfassungsverständnis lediglich Nutzer der "Anstalt" Schule, über deren 501 s. hierzu Anweiler, Oskar, Deutschland. In: ders. u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 4. Aufl. WeinheimIBasel 1996, S. 50; Landgraf, Anton, Tanz mit dem Dogma, DLZ 41/42 1996, S. 1; Straubhaar, Thomas, Die staatliche Bildungskatastrophe. Bonn 1996.
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inhaltliches Konzept nicht der Bürger, sondern der Staat entscheidet. Rechte haben die Bürger als Eltern allenfalls dergestalt, daß bestimmte Wahl- und Informationsrechte innerhalb des Angebots im staatlichen Schulwesen eingeräumt werden (müssen) oder die Eltern - scheinbar außerhalb der Sphäre des Öffentlichen - ihr Kind auf eine ,.privatschule" schicken dürfen. Letzteres aber keinesfalls unter gleichen Bedingungen, nämlich ohne die Erhebung von Schulgeld, sondern unter erheblichen Eigenleistungen der Eltern. Solche nichtstaatlichen Schulen seitens des Staates zu akzeptieren war historisch der Preis für die Säkularisierung des Schulwesens. Die Kirchen sollten zumindest die Möglichkeit haben, außerhalb des staatlichen Schulwesens ihre Erziehungsideale zu verwirklichen. Lediglich 6 % der Schüler besuchen Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft, und wiederum nur 1 % der Schüler besuchen reformpädagogische oder alternative Schulen. Insbesondere bei kirchlichen Schulen handelt es sich dabei ganz überwiegend nicht um Eliteschulen, sondern sie sind vielmehr oftmals, insbesondere im Grund- und Hauptschulbereich, in sozialen Brennpunkten angesiedelt. Bildungspolitisch ist davon auszugehen, daß durchaus eine weit größere Nachfrage innerhalb der Gesellschaft nach freien Schulen mit reformpädagogischer Ausrichtung besteht, als es Schulen gibt. So gab es in der Bundesrepublik Deutschland im August 1997 30 Freie Alternativschulen, die von mehr als 1.200 Schülerinnen und Schülern besucht werden, und 11 Initiativen zur Gründung einer Freien Alternativschulen. Nach Ansicht von Erziehungswissenschaftlern läge diese Zahl ohne die in der Bundesrepublik bis in die 90er Jahre hinein herrschende restriktive Zulassungspraxis bei ca. 50 bis 80 solcher Schulen s02 • Dies wird auch daran deutlich, daß mit der sog. Kreuzberg-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 1992 die restriktive Zulassungspraxis aufgegeben werden mußte, so daß die Zahl der Freien Alternativschulen von 14 im Jahre 1994 auf 30 im Jahre 1997 angestiegen ist. 1990 gab es in der Bundesrepublik 93 Montessorischulen. Im Jahre 1995 wuchs diese Zahl auf 158 Schulen an, wobei im Gegensatz zur Waldorfpädagogik "die Montessorischulen" in der Mehrzahl sog. Montessori-Zweige innerhalb staatlicher Grund-, Haupt- oder Gesamtschulen sind, in denen mehrere Lehrer einer Schule nach den Vorgaben der Montessori-Pädagogik arbeiten. Es handelt sich insofern um eine besondere Form des Binnenpluralismus innerhalb des staatlichen Schulsystems. Daneben gibt es außenpluralistische Formen der-
S02 Berg, Hans-Christoph, Leben braucht Vielfalt. In: F1ensburger Hefte Nr. 29, Freie Schule. Flensburg 1990, S. 33. Dies gilt sicher auch für die Nachfrage nach Waldorfschulen oder Montessorischulen.
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gestalt, daß es Montessorischulen in freier, meist in kirchlicher (katholischer) Trägerschaft gibt. Die absoluten und relativen Zahlen von Schülern an allgemeinbildenden Schulen in freier Trägerschaft haben sich von 1970 bis 1992 fast verdoppelt. So stieg der Anteil von 3,2 % im Jahre 1970 auf 6 % im Jahre 1992 (in absoluten Zahlen von 290.000 im Jahre auf 436.600)503. Hierbei ist zu konstatieren, daß insgesamt im Schulwesen in freier Trägerschaft zwar in absoluten Zahlen eine gewisse Stagnation seit 1980 besteht, jedoch auch in den 80er Jahren in Relation zu den Schülerzahlen an staatlichen Schulen die Bedeutung solcher Schulen kontinuierlich von 4,6 % im Jahre 1980 auf 6,1 % im Jahre 1990 zugenommen hat504 . Ferner ist festzustellen, daß Schulen in freier Trägerschaft in bevölkerungsdichten Ländern und Stadtstaaten eine besondere Bedeutung zukommt. So betrug der Anteil in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen 1992 jeweils 8,3 %, in Bayern 7,7 %, im Saarland 7,1 % und in Nordrhein-Westfalen 6,3 %, während in den bevölkerungsärmeren Ländern wie Schleswig-Holstein der Anteil nur 3,8 % betrug505 . Diese Entwicklung läßt sich auch auf die neuen Bundesländer übertragen, wo der Anteil im bevölkerungsdichten Sachsen deutlich über dem der anderen Länder liegt506 . Am Beispiel Baden-Württembergs lassen sich die Zahlen wie folgt konkretisieren: Von den 1,5 Millionen Schülern besuchten in diesem Bundesland knapp 87.000 eine Schule in freier Trägerschaft, d.h., jeder 17. Schüler. Während davon 20 % eine Waldorfschule und 25 % ein Gymnasium besuchten, war der Anteil an Schülern an einer privaten Grund- oder Hauptschule verschwindend gering; hierbei waren 20 % der Schulen in der Hand von einem kirchlichen Träger507 . Des weiteren besteht angesichts des in der ehemaligen DDR herrschenden staatlichen Schulmonopols ein erheblicher Unterschied des Anteils von Schulen in freier Trägerschaft in den neuen und alten Bundesländern. Während in den alten Bundesländern knapp 6 % der Schüler eine solche Schule besuchen, waren es in den neuen Bundesländern im Jahre 1995 nur 0,5 % der Schüler508 . Bei alledem besteht ein krasser Unterschied in der Anzahl von Schülern, die eine Grundschule in freier Trägerschaft besuchen, gegenüber denen, die ein Gymnasium besuchen. Während 1992 der Anteil der Grundschüler lediglich 1 % betrug, besuchten 12 % aller Schüler ein Gymnasium in freier oder kirchliBudde. H.lKlemm, K., S. 107. Budde. H.lKlemm. K.. S. 107. sos Budde. H.lKlemm, K., S. 109.
503
504
506
S. I.
Vgl. Bundesverband Deutscher Privatschulen, VDP, Informationsdienst, 3/1996,
Maurer, Mathias, Privatschulen im Südwesten, Erziehungskunst 1995, S. 81. Vogel, lP., Errichtungsrecht und Errichtungsfinanzierung von Ersatzschulen, RdJB 1995, S. 175. 507 508
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cher Trägerschafts09• In Bayern besuchten im Jahre 19849,38 % aller Gymnasiasten ein privates Gymnasium, der Anteil der Realschüler lag gar bei 19,13 %510, wobei zumindest für das Gymnasium die Zahlen heute dem o. g. Bundesdurchschnitt entsprechen. Von den privaten Schulen nehmen die Gesamtschulen, wozu Erziehungswissenschaftier auch die Waldorfschulen zählen, zahlenmäßig im Vergleich zum staatlichen Schulwesen mit 17 % die größte Gruppe einSlI. Seinen Grund hat der niedrige prozentuale Anteil im Grundschulbereich nicht in einer mangelnden Nachfrage oder gesellschaftlichen AkzeptanzS12 , sondern in dem Genehmigungsvorbehalt des Art. 7 Abs. 5 GG, wonach private Volksschulen - sofern es sich nicht um eine Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule handelt - nur dann zu genehmigen sind, wenn die Unterrichts verwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt. Dieser Genehmigungsvorbehalt wird durch die Unterrichtsverwaltungen bis heute - trotz einer einschneidenden Korrektur seitens des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung - sehr restriktiv ausgelegt und angewendet. Signifikant ist, daß einerseits die herausragende Stellung der "privaten" Schulen bis Mitte der 80er Jahre hinein etwa in Bayern durch die starke Stellung der katholischen Schulen geprägt wurde, andererseits aber Bayern spätestens seit Beginn der 90er Jahre mit dem vermehrten Auftreten von alternativen Schulen in Elternträgerschaft, hier voran vor allem die Montessorischulen und folgend die Waldorfschulen, eine sowohl in der Genehmigung als auch in der Finanzierung restriktive Verwaltungspraxis eingeführt hat. Insgesamt nehmen auch die Waldorfschulen trotz ihres bildungspolitischen Bekanntheitsgrades nur eine marginale Rolle im Bildungswesen ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im Jahre 1995 von 9,8 Millionen Schülern an allgemeinbildenen Schulen nur 61.000 Schüler Waldorfschulen besuchten SI3 . Eine nähere Betrachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen zeigt, daß das Grundgesetz zwar die Unterrichtsfreiheit im Sinne einer eigenverantwortlichen Prägung des Unterrichts innerhalb der Schulen in freier Trägerschaft gewährS09 Budde, H.lKlemm, K., S. 109; Marohn, Bemhard, Private Grundschulen können die Nachfrage nicht befriedigen, Freie Bildung und Erziehung, 8/1994, S. 12 (14). 510 Eckl, Norbert, Die Förderung der privaten Gymnasien, Realschulen und Schulen des zweiten Bildungsweges, Schulverwaltung 1986, S. 258. m Budde, H.lKlemm, K., S. 109. 512 s. hierzu Marohn, Bemhard, S. 12, wonach "bei keiner anderen Schulart ... Nachfrage und Angebot in einem so krassen Mißverhältnis wie bei privaten Grundschulen (stehen). In der Regel würde die Zahl der Anmeldungen die zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Schulen zweimal füllen". 513 Maurer, Mathias, Schülerzahlen in Deutschland, Erziehungskunst 1995, S. 688.
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leistet, dieses Prinzip jedoch durch die Ausgestaltung von Gleichwertigkeitsanforderungen und die Ausgestaltung des Berechtigungswesens relativiert wird und Entfaltungsmöglichkeiten für reformpädagogische und alternative Schulkonzeptionen durch die Ausgestaltung der Bezuschussungspraxis und das restriktive Zulassungsverfahren im Grundschulbereich entscheidend beeinträchtigt werden. Allerdings ist es den Schulen in freier Trägerschaft, sofern sie die Klippe des Genehmigungsverfahrens und der finanziellen Belastungen insbesondere für neu gegründete Schulen überstanden haben, durchaus möglich, ihre pädagogischen Konzeptionen ohne weitreichende staatliche Eingriffe zu verfolgen.
b) Die veifassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Gründung und Finanzierung von Schulen infreier Trägerschaft Die Vorschriften über die Gewährung von Zuschüssen an Ersatzschulen in freier Trägerschaft fallen nach Art. 70 GG in die Gesetzgebungskompetenz der Länder, die jedoch durch die grundgesetzlichen Vorgaben des Art. 7 GG insoweit beschränkt ist, als die einfachgesetzlichen Vorschriften des Landesgesetzgebers den vorrangigen Normen des Grundgesetzes entsprechen müssen. Art. 7 Abs. 4 GG gewährleistet das Recht der Errichtung von privaten Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen. Private Schulen im Sinne des Grundgesetzes sind identisch mit Schulen in freier Trägerschaft. Der Landesgesetzgeber verwendet insofern lediglich eine den gewandelten gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechende Terminologie, die zum Ausdruck bringen soll, daß es sich bei "freien" Schulen um solche in nichtstaatlicher und nichtkommunaler Trägerschaft handelt, die ebenso wie die letztgenannten einen öffentlichen und nicht einen "privaten" Bildungsauftrag wahrnehmen. Dies entspricht auch dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts in seiner grundlegenden Entscheidung vom 8. April 1987 zur Ausgestaltung des Grundrechts aus Art. 7 Abs. 4 GG, wo es betont hat, daß der Schutzbereich dieser Norm auf die eigenverantwortliche Miterfüllung der "allgemeinen (öffentlichen) Bildungsaufgaben,,514 gerichtet ist. Solche (Ersatz-)Schulen bedürfen nach Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG der staatlichen Genehmigung und unterliegen den Landesgesetzen. Nach Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG ist die Genehmigung zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Nach Art. 7 Abs. 4 Satz 4 GG ist die Genehmigung zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Artikel 7 Abs. 5 GG schränkt darüber hinaus das 514 BVerfGE 75, 40 (66).
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Recht zur Gründung von Grundschulen nichtkonfessioneller oder -weltanschaulicher Prägung dahingehend ein, daß eine solche einer besonderen Genehmigung der Unterrichtsverwaltung bedarf.
c) Das Recht zur Errichtung und Gründung von Schulen in freier Trägerschajt Das Grundgesetz spricht in Art. 7 Abs. 4 und 5 rechtstenninologisch allein vom Begriff der Privatschule. Diese Begrifflichkeit ist insofern problematisch, als Schulen in freier Trägerschaft ebenso wie staatliche Schulen einen öffentlichen Bildungsauftrag wahrnehmen und die gängige Definition, eine Privatschule sei jede nicht-öffentliche Schule, den Begriff des "Öffentlichen" einseitig für staatliche Einrichtungen beansprucht. Verfassungsrechtlich gewährt Art. 7 Abs. 4 GG sowohl das individuelle Grundrecht, unter den Voraussetzungen des Genehmigungsvorbehalts in dieser Nonn, eine Schule in freier Trägerschaft zu gründen und zu betreiben, als auch eine institutionelle Garantie, d.h., der Gesetzgeber ist verpflichtet, das private Ersatzschulwesen neben dem staatlichen Schulwesen zu fördern und zu schützen, damit es lebensfähig bleibt. Erfüllt ein Schulträger die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG, besteht ein Anspruch auf Genehmigung der Schule, soweit es sich nicht um eine Grundschule handelt. Nach Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG ist die Genehmigung zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist ferner zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Das Grundgesetz erteilt damit zugleich Elite- und Plutokratenschulen eine deutliche Absage. Für die Auslegung des Begriffs "nicht zurückstehen" verlangt die Rechtsprechung keine Gleichartigkeit oder den vollen Nachweis der Gleichwertigkeit, sondern eine nachprüfbare Prognose, daß sich gegenüber der vergleichbaren staatlichen Schule voraussichtlich keine Defizite ergeben werden sis . Eine private Volksschule ist allerdings nach Art. 7 Abs.5 GG nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder auf Antrag von Erziehungsberechtigten - sofern es sich um eine konfessionelle Bekenntnisschule oder eine Weltanschauungsschule handelt -, wenn eine öffentliche, d.h., staatliche, Volksschule (Grundschule) dieser Art in der Gemeinde nicht besteht. Hierbei geht das Bundesverfassungsgericht SIS
BVerwGE 90, I (10 f.).
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explizit davon aus, daß grundsätzlich "Kinder aller Volksschichten" zusammen unterrichtet werden sollen516 , verkennt jedoch, daß die soziale Selektion durch Exklusivität in privilegierten Stadtteilschulen gerade im Grundschulbereich heute oftmals größer ist als in Schulen in freier Trägerschaft. Unter dem Begriff der Bekenntnisschule fallen dabei nicht nur katholische, evangelische und jüdische Schulen, sondern Schulen jeglicher Bekenntnisse. Auch eine solche Schule darf nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht hinter den Lehrzielen der staatlichen Schulen zurückstehen, wozu grundsätzlich auch die vom Staat für seine Schulen vorgeschriebenen Erziehungsziele gehören 5I7 • Eine Weltanschauungsschule setzt insofern voraus, daß eine Weltanschauung die Schule ebenso wie ihren gesamten Unterricht prägt518 • Für die Genehmigung sonstiger Grundschulen in freier Trägerschaft, worunter insbesondere die reformpädagogischen Schulen in Eltern-Lehrer-Trägerschaft zählen, ist im Sinne eines besonderen pädagogischen Interesses notwendig, daß die Grundschule eine sinnvolle Alternative zum bestehenden staatlichen und freien Schulangebot darstellt, ohne daß das Konzept neu noch einzigartig sein muß.
d) Beschränkungen der Gründungsfreiheit für rejormpädagogische Grundschulen infreier Trägerschajt Entscheidend für die fehlenden Entfaltungsmöglichkeiten alternativer und reformpädagogischer Schulformen ist insoweit, daß nach der bundesdeutschen Rechtslage viele beabsichtigte Schulgründungen zum Scheitern verurteilt sind. Dies beruht vor allem auf der Auslegung der Vorschrift des Art. 7 Abs. 5 GG, wonach eine nichtkonfessionelle Grundschule nur dann zuzulassen ist, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse an dieser Schule anerkennt. Da diese Bestimmung von den staatlichen Unterrichtsverwaltungen sehr restriktiv ausgelegt wird, blieb bis zum Beginn der 90er Jahre den meisten Freien Alternativschulen die Zulassung mit der Begründung versagt, es bestünde kein besonderes öffentliches Interesse an diesen Unterrichtskonzeptionen. Allerdings scheint nach einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des Begriffs des besonderen pädagogischen Interesses bezogen auf Freie Alternativschulen durch eine großzügigere Genehmigung von solchen Schulen eine Umsetzung des Urteils durch die Unterrichtsverwaltungen stattzufinden, was sich darin ausdrückt, daß allein mit Beginn des Schuljahres 1995/96 sechs neugegründete Freie Alternativschulen genehmigt wurden und den Unterrichtsbetrieb aufgenommen haben519 • BVerfGE 88, 40 (51 ff.). BVerwGE 89, 368 (372 ff.). 518 BVerwGE 89,368 (372 f.). 519 Borchert, Manfred, FJF/FIE Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 3/1995, S.3. 516 517
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Obgleich das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung aus dem Jahre 1992 520 die bisherige Praxis der Unterrichtsverwaltungen und die diese billigende verwaltungs gerichtliche Rechtsprechung, wonach den Gerichten nur eine beschränkte Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung des der Behörde zugestandenen Beurteilungsspielraumes, ob ein besonderes pädagogische Interesse anerkannt werde, zugestanden wurde, für verfassungswidrig erklärt hat52l , versuchen einzelne Länder wie Bayern unter einer extensiven Auslegung des in dieser Entscheidung gemachten Vorbehalts, daß eine flächendeckende Zulassung derselben Schulart eines bestimmten Alternativkonzepts nicht mit dem Vorrang der staatlichen Grundschule vor privaten Schulen vereinbar sei, eine Ausweitung von traditionellen und etablierten reformpädagogischen Grundschulen in freier Elternträgerschaft wie Waldorfschulen und Montessorischulen zu verhindern 522 • Seinen Grund findet dies in der erheblichen Zunahme und Akzeptanz dieser Schulen in den letzten Jahren. So hat sich in Bayern die Zahl der Montessorischulen in Elternträgerschaft in den letzten 15 Jahren von 1 auf 35, die der Waldorfschulen von 6 auf 14 erhöht. Inwieweit hier allerdings bei diesen Zahlen angesichts von ca. 5.300 staatlichen allgemeinbildenden Schulen, wovon ca. 2.700 dem Volksschulbereich zuzurechnen sind523 , ernsthaft von einer "flächendeckenden" Verbreitung gesprochen werden kann, bleibt unerklärlich und wird angesichts der generellen Genehmigungsverweigerung einer weiteren höchstrichterlichen Klärung bedürfen. In Analogie zu den bestehenden schulrechtlichen Bestimmungen kann von einer Flächendeckung nicht gesprochen werden, solange nicht in jeder Gemeinde das Angebot einer solchen Schule besteht bzw. das Angebot staatlicher Schulen überwiegt und eine solche in "zumutbarer" Entfernung erreichbar ist. e) Leistungsansprüche aus Art. 7 Abs. 4 GG und das Selbstgestaltungsrecht des Schulträgers
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundrecht aus Art. 7 Abs. 4 GG nicht nur durch seinen Charakter als Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen gekennzeichnet, sondern verpflichtet den Staat aufgrund der durch Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 GG auferlegten Bindungen, dagegen BVerfGE 88, 40. Kritisch zur Beschränkung des behördlichen Beurteilungsspielraumes und seiner nur begrenzten Nachpriitbarkeit durch die Gerichte Sendler, Horst, Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Anforderungen an die verwaltungs gerichtliche Kontrolle, DVB11994, S. 1089 (1091 ff.). 522 s. hierzu Vogel, J.P., Zur Errichtung von Grundschulen in freier Trägerschaft Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die bayerische Verwaltungspraxis, DÖV 1995, S. 587. 523 Zahlen nach Hofrichter, Hansjörg, Zur Genehmigungsproblematik bei Schulneugründungen in Bayern, Erziehungskunst 1996, S. 863 (865 f.). 520 521
18 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Vorsorge zu treffen, daß das Grundrecht als subjektives Recht von seinem Träger kaum noch wahrgenommen werden kann524 . Dem Gesetzgeber obliegt die Pflicht, das private Ersatzschulwesen dergestalt zu schützen und zu fördern, daß "Art. 7 Abs. 4 Satz I GG nicht zu einem wertlosen Individualgrundrecht auf Gründung existenzunfähiger Ersatzschulen und zu einer nutzlosen institutionellen Garantie" verkümmert525 . Die Ersatzschulen haben einen Anspruch auf staatliche Förderung, weil das Grundgesetz selbst an die Wahrnehmung des Grundrechts der Privatschulfreiheit "Bedingungen (knüpft), die es erheblich erschweren, von der verbürgten Freiheit ohne Schutz und Förderung durch den Staat Gebrauch zu machen. Private Schulträger sind in aller Regel nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft und auf Dauer sämtliche Anforderungen zu erfüllen, die das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 GG an die Genehmigung einer Ersatzschule stellt. Die generelle Hilfsbedürftigkeit privater Ersatzschulen ist heute ein empirisch gesicherter Befund,,526. Ohne staatliche Zuschüsse müßten die Schulen zwangsläufig gegen die vom Grundgesetz selbst normierten Genehmigungsvoraussetzungen, insbesondere das Verbot der Sonderung der Schüler nach Besitzverhältnissen, verstoßen. Hierbei geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß das Grundgesetz keine volle Übernahme der Kosten gebietet, sondern nur ein Beitrag zu den Kosten zu leisten ist, der sicherstellen soll und muß, daß die Schulträger auf Dauer die Genehmigungsanforderungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 erfüllen können 527 • Gleichzeitig muß der Gesetzgeber "den schulischen Pluralismus auch gegenüber sich selbst in der Weise garantieren, daß er auf eigenen Akten beruhende Beeinträchtigungen dieses Pluralismus durch staatliche Förderung in ihrer Wirkung neutralisiert ... Eine derartige besondere (Kompensations-)-Pflicht gilt nicht nur für den Ausgleich der durch Art. 7 Abs. 4 Sätze 3 und 4 vom Grundgesetz selbst geschaffenen Forderungen, sondern auch für eine fortlaufende Verschärfung der Gleichwertigkeitsanforderungen (etwa durch die Hebung des Standards schulischer Einrichtungen oder durch die stetige Verbesserung der Lehrerbesoldung), denen sich die privaten Ersatzschulen anpassen müssen... Sollen solche Maßnahmen nicht indirekt zu einer Benachteiligung der Ersatzschulen führen, so muß der Staat sicherstellen, daß die Verwirklichung seiner bildungs- und sozialpolitischen Ziele nicht auf Kosten der Lebensfahigkeit des privaten Ersatzschulwesens geht,,528. Die Schulen dürfen nicht geBVerfGE 90, 107 (114 f.). BVerfGE 75, 40 (65). 526 BVerfGE 90, 107 (115); s. a. BVerfGE 75, 40 (67). m BVerfGE 90, 107 (116). 528 BVerfGE 75, 40 (66). 524 525
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zwungen werden, ihr pädagogisches Konzept dem staatlichen Schulwesen über das Gebot der Gleichwertigkeit hinaus in Richtung Gleichartigkeit anzupassen529 • Zudem müssen die Schulträger eine sichere Kalkulationsgrundlage haben53o • Die dem Staat obliegende Schutzpflicht verdichtet sich zu einer besonderen Handlungspflicht, wenn für den Landesgesetzgeber erkennbar wird, daß das Ersatzschulwesen in seinem Bestand bedroht ist531 • Diese aus der Schutzpflicht des Staates folgende Handlungspflicht betrifft nicht nur die Frage, ob Schulen in freier Trägerschaft dem Grunde nach Ansprüche auf finanzielle Förderung zur Sicherung des Existenzminimums haben, sondern verpflichtet den Gesetzgeber in einer auf die Zukunft des Ersatzschulwesens gerichteten Perspektive zu Korrekturen der gesetzlichen Grundlagen der Förderung, wenn für ihn erkennbar ist, daß die bestehenden gesetzlichen Regelungen zu einer Gefährdung der Existenzfähigkeit der Schulen führen. Sofern eine Geflihrdung der Existenz des Ersatzschulwesens nicht in einer dem einzelnen Schulträger zuzurechnenden Konstellation beruht, sondern ohne sein Zutun aufgrund der objektiven normativen Ausgestaltung in einer prognostischen Betrachtungsweise als evident erscheint, besteht die Verpflichtung des Gesetzgebers zu korrigierenden gesetzlichen Regelungen nicht erst dann, wenn ein oder mehrere Schulträger bereits in Konkurs verfallen sind. Vielmehr muß der Gesetzgeber schon dann eingreifen, wenn erkennbar ist, daß diese Folge bei gleichbleibender gesetzlicher Regelung mittelfristig eintreten muß. (I) Die Ausgestaltung des Kostenerstattungsverfahrens Obgleich das Bundesverfassungsgericht dem Grunde nach eine staatliche Förderungspflicht mit einer daraus folgenden Handlungspflicht des Gesetzgebers statuiert hat, bleibt diesem nach der Rechtsprechung des Gerichts ein weitgehender Gestaltungsspielraum, wie er den grundrechtlichen Anspruch auf Schutz und Förderung erfüllt. Das Grundgesetz schreibt ihm diesbezüglich keine bestimmte Form vor532• Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr, daß es eine "weitgehende eigenständige Gestaltungsfreiheit der Länder ... für die Entscheidung des Landesgesetzgebers, in welcher Weise er seiner Schutzpflicht für das Ersatzschulwesen nachkommen will", gibt533 • So variieren die Bezuschussungssätze für Ersatzschulen im Vergleich mit den Kosten des staatlichen Schulwesens je nach Schulstufe und Bundesland zwischen 55 und 85 %. BVerfGE 90,107 (125). BVerfGE 90, 107 (127). 531 BVerfGE 75, 40 (67). 532 BVerfGE 75, 40 (66 f.). 533 BVerfGE 75, 40 (67).
529 530
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Diese Gestaltungsfreiheit des Landesgesetzgebers gilt in seinem Ausgangspunkt auch für die Frage, nach welchen Kriterien Kostenerstattungen vorgenommen werden sollen. Die Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland haben hierzu verschiedene Verfahren entwickelt, die zum Teil für sich alleine, zum Teil kombiniert miteinander angewandt werden. Man unterscheidet danach kategorial nach dem sog. Pauschalverfahren, nach dem sog. Bedarfsdeckungsoder auch Defizitdeckungsverfahren und zwischen Mischformen derselben. Prinzipiell lassen sich die Verfahren folgendermaßen unterscheiden: "Beim Bedarfsdeckungsverfahren werden die Qualitäten staatlicher Schulausgaben (Ausgabenarten) als Vergleichsmaßstab, deren Niveaus als Maximalwerte der meist prozentualen Zuschußfinanzierung zu konkreten Ausgaben von Privatschulen herangezogen. Beim Pauschalisierungsverfahren wird die Finanzhilfe in Form von Einheitssätzen (i.d.R. pro Schüler) an Privatschulen gegeben. Die Berechnung dieser Zuschußrichtsätze pro Einheit (i.d.R. pro Schüler als "Schülerkopfsätze") erfolgt in Anlehnung an vergleichbare Einheitssätze im Bereich des staatlichen Schulwesens. Bei dieser Berechnung werden nur Teile der entsprechenden Gesamtausgaben im staatlichen Schulwesen, meist nur Lehrpersonalkosten ohne Versorgung, Beihilfen und sonstige Personalkosten herangezogen".534 Von der weitaus überwiegenden Mehrheit der Bundesländer wird das sog. 'Pauschalisierungsverfahren' praktiziert. Nach diesem Verfahren erhält der jeweilige Schulträger einen gesetzlich festgelegten "Vomhundertsatz" der vergleichbaren Kosten eines Schülers in einer staatlichen Schule. Diese Kosten werden - bis auf das Land Berlin, wo keine Sachkosten, sondern nur Personalkosten in Höhe von 100 % finanziert werden (§ 8 PrivatSchulG i.d.F. vom 8.7.1992) - unterschieden in Personal- und Sachkosten. Die Personalkosten werden auf der Basis der Lehrergehälter der vergleichbaren staatlichen Schule errechnet. Hieraus ergibt sich eine bestimmte Grundsumme, die entweder als Durchschnittssumme für alle Schul stufen gebildet wird oder nach Schul stufen variieren kann. Diese wird mit der Anzahl von Schülern, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die Schule besuchen, multipliziert. Die jeweils gesetzlich vorgesehene Anpassung an die Kostenentwicklung richtet sich im wesentlichen nach der Anpassung der Gehälter im öffentlichen Dienst. Der Schulträger erhält diesen Betrag in dem Sinne "pauschal", als er den so zugewendeten Betrag zur freien Haushaltsverfügung hat, ohne einerseits die Verwendung im einzelnen belegen zu müssen, noch andererseits den Betrag nur beim Nachweis eines bestimmten Defizits im Haushalt zu erhalten. Dieses Pauschalverfahren ermöglicht dem Träger - sofern der Betrag in der Höhe ausreichend ist 534 Haug, Rüdiger, Die Kosten des öffentlichen Schulwesens als Orientierungsrahmen für die Finanzhilfe in der Privatschulförderung. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schule. Berlin 1987, S. 148 (181).
VI. Die Schul verfassung in der Bundesrepublik Deutschland
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eine sichere Kalkulation für seinen Haushalt und in eigener "unternehmerischer Verantwortung" tätig zu werden. Im Gegensatz zu dieser Form der Bezuschussung erhalten die Schulen in freier Trägerschaft in anderen Bundesländern keine Pauschalbeträge, sondern die Bezuschussung ist an die Anerkennung eines bestimmten defizitären Bedarfs unter Anrechnung eines bestimmten vom Schulträger zu leistenden Eigenanteils gebunden535 • Danach steht dem Landesgesetzgeber verfassungsrechtlich dem Grunde nach durchaus die Gestaltungsfreiheit zu, die Bezuschussung nicht pauschal vorzunehmen, sondern an einen bestimmten Bedarf und den Nachweis bestimmter Eigenleistungen zu koppeln. Diese Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unterliegt jedoch den systemimmanenten Schranken des Art. 7 Abs. 4 GG. Insbesondere muß sich der Gesamtkomplex einer Regelung in der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung dargelegten Zielorientierung wiederfinden, wonach Zuschußleistungen des Staates nicht nur die Existenz einer Schule als solche sichern sollen, sondern der Staat muß den Schulen "die Möglichkeit geben, sich ihrer Eigenart entsprechend zu verwirklichen. Ohne Selbstbestimmungsrecht im schulischen Wirkungsbereich bleibt das Recht zur Errichtung von privaten Ersatzschulen inhaltslos".536 Dies bedeutet, daß eine Bezuschussung nach dem Defizitdeckungsverfahren zwar dem Grunde nach verfassungsrechtlich zulässig ist, in seiner Ausgestaltung jedoch sehr wohl verfassungswidrig sein kann, wenn den von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Kriterien nicht Genüge getan wird. In seinem Ausgangspunkt findet eine Bezuschussungsform wie das Defizitdeckungsverfahren seine Rechtfertigung in dem Anliegen des Gesetzgebers zu gewährleisten, daß die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel sachgerecht und effektiv eingesetzt werden 537 • Gleichzeitig muß der Gesetzgeber jedoch auch sicherstellen, daß "die Verwirklichung seiner bildungs- und sozialpolitischen Ziele nicht auf Kosten der Lebensfähigkeit des privaten Ersatzschulwesens geht,,538. Sowohl das Defizitdeckungsverfahren als auch die zu erbringende Eigenleistung müssen dergestalt "angemessen" ausgestaltet sein, daß sie es dem Schulträger ermöglichen, sich pädagogisch seiner Eigenart entsprechend zu verwirklichen und sich dem vom Bundesverfassungsgericht ge-
535 Näher zu den Problemen des Defizitdeckungsverfahrens s. lach, Frank-Rüdiger, Rechtsgutachten zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes über Zuschüsse an Ersatzschulen in freier Trägerschaft. In: Flensburger Hefte, Sonderheft 13, Waldorfschulen in Not. Flensburg 1994, S. 201 (220 ff.). 536 BVerfGE 75, 40 (63). 537 Vgl. BVerfGE 75, 40 (68); Bayern, S. 16. 538 BVerfGE 75, 40 (66).
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forderten "unternehmerischen Risiko" auf einer sicheren Kalkulationsbasis stellen zu können 539 • Die Ausgestaltung der Bezuschussung ist - unabhängig davon, ob nach dem Pauschalsystem oder dem Defizitdeckungsverfahren - also nur dann verfassungskonfonn, wenn es neben der verfassungsrechtlich unzweifelhaft zulässigen Orientierung an Kostenwerten des staatlichen Schulwesens zugleich das Selbstbestimmungsrecht des Schulträgers hinsichtlich der Notwendigkeit und Angemessenheit seiner Kosten und Ausgaben berücksichtigt. In diesem Zusammenhang weist Hardorp zu Recht darauf hin, daß die Genehmigung einer Ersatzschule mit besonderer pädagogischer Prägung auch Auswirkungen auf die Bewertung der Kostenfolgen haben muß, damit nicht die Ersatzschulgenehmigung als Schule besonderer pädagogischer Prägung durch die Finanzhilfebemessung wieder "konterkariert" wird54o • Der Landesgesetzgeber und die Unterrichtsverwaltung haben bei der Anerkennung der notwendigen Kosten das Selbstbestimmungsrecht des Trägers sowohl in pädagogischer als auch personell-organisatorischer Hinsicht zu achten. Vergegenwärtigt man sich die strukturelle Unterscheidung der Bezuschussung von Schulen in freier Trägerschaft in das Defizitdeckungsverfahren und das Pauschalsystem, so wird deutlich, daß das Defizitdeckungsverfahren dem als bildungspolitisch überholt geltenden Bereich der zweckgebundenen Mittelzuweisung angehört und auch im staatlichen Bereich ein dem Pauschalsystem entsprechendes Verfahren als sinnvoll angesehen werden muß. Hierbei ist evident, daß Schulen in freier Trägerschaft aufgrund ihrer Gestaltungsfreiheit geradezu exponiert für ein solch effektives und für die Verwirklichung einer besonderen pädagogischen Prägung als unabdingbar angesehenes Finanzierungsverfahren sind. (2) Die Zulässigkeit von Wartefristen bis
zum Einsetzen der Regelförderung
Ungeachtet der Regelbezuschussung, deren kontinuierliche Absenkung in den letzten Jahren aufgrund von Haushaltseinsparungen etliche Schulträger in
539 Zur Problematik s. näher Jach, Frank-Rüdiger, Die Sicherung der Institution des privaten Ersatzschulwesens in Zeiten knapper Haushaltsmittel - Umfang und Grenzen der Finanzhilfepflicht des Staates vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Jach, Frank-RüdigerlJenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen - Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel. Berlin 1998, S. 78 f. 540 Hardorp, Benediktus, Ersatzschule, Schulbauförderung und Wartefrist. In: Müller, F.lJeand'Heur, B. (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schulen, 2. Auf!. Berlin 1996, S. 191 (225).
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Existenznöte gebracht hat541 , führt eine unzureichende staatliche Bezuschussung dazu, daß viele Schulgründungen nicht vollzogen werden können, da die Eltern nicht über die notwendigen Mittel verfügen. Die durch den Landesgesetzgeber gewährten Zuschüsse werden in etlichen Bundesländern erst nach einer sogenannten Wartefrist gewährt, d.h., die Schulen müssen meist 3 Jahre zunächst ohne einen Rechtsanspruch auf staatliche Zuschüsse auskommen, in Bayern nach einer Bezuschussung der Grundschule gar 11 Jahre. Lediglich die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und das Saarland kennen keine Wartefrist542 • Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1994 es für verfassungsrechtlich zulässig erklärt, die staatliche Regelförderung erst nach einer gewissen Wartefrist einsetzen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hält eine solche Wartefrist für grundsätzlich verfassungskonform, sofern damit keine Errichtungssperre verbunden ist543 • Diese Entscheidung über die Zulässigkeit einer Wartefrist ist in ihrer verfassungsrechtlichen Begründung kontrovers diskutiert worden 544 , wobei auf eine schon im Vorfeld ausführlich geführte Diskussion zurückgegriffen wurde545 • Die verfassungsrechtliche Stichhaltigkeit der diesem Ergebnis zugrundeliegenden Argumentation ist verschiedentlich sowohl von Gegnern als auch Befürwortern einer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Wartefrist angezweifelt und kritisiert worden546 • Hierbei ist die verfassungsdogmatische Kritik an der Entscheidung insbesondere dahingehend zu formulieren, daß das Gericht verkennt, daß die aus Art. 7 Abs. 4 GG herzuleitende Einstandspflicht des Staates mit der Genehmigung und der Aufnahme des Unterrichtsbetriebs einsetzt547 . Das Besondere an dieser Entscheidung ist nicht nur die damit in Kauf genommene partielle Zulässigkeit einer materiellen Sonderbelastung von Gründungseltern, die zwangsläufig gegen das in Art. 7 Abs. 4 Satz 4 GG normierte Sonderungsverbot verstößt, sondern die Begründung dessen: Gründungseltern nehmen danach privatistische Interessen und nicht etwa - wie es in einer Grundsatzentscheidung im Jahre 1987 hieß - einen öffentlichen Bildungsauftrag wahr. Vgl. hierzu lach, Frank-Rüdiger, Die Sicherung der Institution, S. 75 ff. s. hierzu näher Vogel, J.P., Errichtungsrecht, S. 175 (180). 543 BVerfGE 90,107. 544 Krit. Vogel, J.P., Errichtungsrecht, S. 175 ff.; zustimmend Peschke, Dieter, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Privatschulfinanzierung, RdJB 1994, S. 129 ff. 545 Nachweise s. bei Vogel, 1.P., Errichtungsrecht, S. 175 ff. 546 Von je unterschiedlichen Standpunkten aus Hardorp, Benediktus, Ersatzschule, S. 253 ff., einerseits und Theuersbacher, Paul, Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Privatschulfinanzierung, RDJB 1994, S. 497 (501 ff.), andererseits. 547 lach, Frank-Rüdiger, Privatschulfreiheit am Scheideweg, DÖV 1990, S.506 (507); Vogel, 1.P., Errichtungsrecht, S. 175 (181 ff.). 541
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Danach kann bis zum Einsetzen der Regelförderung eine lOjährige Wartefrist bestehen, deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung das Bundesverfassungsgericht in einer dem Landesgesetzgeber zuzugestehenden ,,Erfolgskontrolle" gerechtfertigt sieht. Während dieser Zeit erhalten die Schulen sog. freiwillige Leistungen, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzen, in ihrer Höhe jedoch weit hinter der gesetzlichen Regelförderung zurückbleiben. Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt mit seiner Rechtsprechung eine Ausnahme von der allgemeinen Finanzierungspflicht des Staates für die sog. Aufbauphase. Während dieser ist es verfassungsrechtlich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht zu beanstanden, daß der Staat eine bestimmte Wartefrist verstreichen läßt, bis er neu gegründete Schulen in die Förderung miteinbezieht. Die Konsequenz dieses Ausschlusses von der Förderung liegt auf der Hand: In der Gründungsphase sollen und müssen Eltern besondere und so hohe Opfer erbringen, daß die Schule in dieser Zeit zwangsläufig sozial selektiv sein muß, weil nur wenige Eltern überhaupt in der Lage dazu sind, ein solches Opfer, d.h., neben dem an sich zu erbringenden Schulgeld noch eine besondere darüber hinausgehende Eigenleistung, zu erbringen. Kritiker sehen darin zu Recht nicht nur eine Suspendierung des Grundsatzes der freien Zugänglichkeit von Ersatzschulen zumindest während der Wartefristzeit548 , sondern durch die Unterstellung der "Verfolgung eigener privatistischer bildungspolitischer Zwecke" im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts einen Rückfall "auf einen längst überwundenen Bewußtseinsstand ... , wonach Privatschulen partikularen Interessen dienen ,,549. Damit ist - wie es Vogel drastisch formuliert - die teilweise Rücknahme eines zuvor in der Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1987 angelegten modernen grundrechtlich demokratischen Grundrechtsverständnisses zugunsten eines "traditionell-obrigkeitsstaatlichen" und damit "gestrig-reaktionären" Grundrechtsverständnisses impliziert55o • In der Tat liegt hier in der ganzen Argumentation nicht nur eine "Reprivatisierung" des freien Ersatzschulwesens vor, sondern eine eklatante Vernachlässigung der vom Gericht in seiner 87er Entscheidung betonten "sozial staatlichen" Einstandspflicht.
548 Vogel, lP., Entwicklung des Finanzhilferechts der Schulen in freier Trägerschaft vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 8.4.1987 bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 9.3.1994. In: Müller, Friedrich/Jeand'Heur, Bemd, Zukunftsperspektiven der Freien Schulen, 2. Aufl. Berlin 1996, S. 167 (186). 549 Vogel, J.P., Entwicklung des Finanzhilferechts, S. 188. 550 Vogel, lP., Entwicklung des Finanzhilferechts, S. 190.
VI. Die Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland
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6. Minderheitenschutz im Bildungswesen Die Minderheitenproblematik stellt sich im deutschen Bildungswesen in zweierlei Perspektiven dar: zum einen in der rechtlichen Stellung nationaler Minderheiten innerhalb eines Landes, hier insbesondere die Stellung der Sorben in Brandenburg und Sachsen sowie die der Dänen in Schleswig-Holstein. Im Zuge der deutschen Einheit gab es im Rahmen der notwendigen Verfassungsänderungen auch einen Antrag der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates, einen Minderheitenschutz im Grundgesetz zu verankem5S\. Anlaß dieser Diskussion waren die Rechte, die den Sorben durch Art. 40 der Verfassung der DDR eingeräumt wurden. Nach Art. 40 der DDR-Verfassung hatten die Bürger der DDR sorbischer Nationalität das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur, und er verpflichtete den Staat zur Förderung der Ausübung dieses Rechts. Im Rahmen der durch die deutsche Einheit ausgelösten Änderungen des Grundgesetzes scheiterte die Verankerung eines Minderheitengrundrechtsschutzes auf gesamtstaatlicher Verfassungsebene, weil die politische Mehrheit die Rechte der Minderheiten ausreichend durch die Gleichheitsgrundrechte aus Art. 3 Abs. 3, 4 und Art. 33 Abs. 1 GG gesichert sah und sieht. Statt dessen haben einzelne Länder verfassungsrechtliche Schutzrechte auf Länderebene gewährt. Neben Schleswig-Holstein, das die Rechte der dänischen Minderheit und der Friesen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 2 Schlesw.-Holst. Verfassung einbezogen hat, erkennt Art. 37 der Verfassung Sachsen-Anhalts eine Schutzpflicht zugunsten kultureller und ethnischer Minderheiten durch das Land und die Kommunen an. Die Länder Brandenburg und Sachsen verbürgen verfassungsrechtlich den Schutz der sorbischen Kultur. Zum anderen ist aber auch zu fragen, inwieweit die Glaubensüberzeugungen der islamischen Minderheit, die inzwischen 10 % der Schüler von Regelschulen darstellt552 , im deutschen Bildungswesen hinreichend geschützt werden.
a) Das diinische Schulwesen in Schleswig-Holstein Das dänische Schulwesen in Schleswig-Holstein kann auf eine 70 Jahre lange Tradition zurückblicken. Grundlage dessen bildet der preußische Schulerlaß vom 9. Februar 1926, der der dänischen Minderheit das Recht einräumte, private Volksschulen mit dänischer Unterrichtssprache zu errichten. Dieses Recht 55l Der entsprechende Minderheitenschutzartikellautete: "Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten", BR-Drucks. 360/92
Rdnr.125. 5S2 KOTioth, Stefan, Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 Abs. 3 GG. NVwZ 1997. S. 1041.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
wurde durch den preußischen Schulerlaß vom 31. Dezember 1928 bekräftigt, der für die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit lediglich das - nicht nachprüfbare - Bekenntnis zum dänischen Volkstum erforderte553 • Das Recht der Erziehungsberechtigten zu entscheiden, ob ihre Kinder die Schule einer nationalen Minderheit besuchen sollen, ist in Art. 8 Abs. 3 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 als subjetives Recht verfassungsrechtlich gesichert. Einfachgesetzlich findet sich dieses Recht dergestalt ausgeprägt, daß der dänischen Minderheit gern. § 58 Abs. 3 Schlesw.-Holst. SchulG das Recht eingeräumt wird, ohne Genehmigungsvorbehalt sowohl Grundschulen als auch weiterführende Schulen in freier Trägerschaft zu gründen. Darüber hinaus sind die Schulen nicht nur hinsichtlich der Genehmigungsfreiheit im Grundschulbereich gegenüber den nichtkonfessionellen Schulen in Eltem-Lehrer-Trägerschaft privilegiert, sondern unter Bezugnahme auf den in Art. 5 Abs. 2 der Landesverfassung verankerten Anspruch auf Schutz und Förderung sind diese Schulen bisher gern. § 60 Abs. 3 i.V.m. § 63 Abs.5 Schlesw.-Holst. SchulG unabhängig vom Bedarf zu 100 % der vergleichbaren Kosten pro staatlichen Schüler finanziert worden 554 • Die Kosten werden etwa zur Hälfte von Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland aufgebracht. Allerdings sind hiervon keine Bauinvestitionen und Schülertransportkosten betroffen. Diese Gleichstellung der Schulen der dänischen Minderheit mit den staatlichen Schulen führte zu einer beachtlichen Anzahl von ca. 50 Schulen, deren Schülerzahl von 5.257 im Schuljahr 1992/93555 auf 5.700 im Schuljahr 1997/98 angestiegen ist556 . Inwieweit die im Zuge der Haushaltseinsparungen gegenwärtig erwogenen Kürzungen von Zuschüssen für diese Schulen bei der Berechnung der Finanzierungssätze pro Schüler verfassungsrechtlich zulässig und bildungspolitisch durchsetzbar sind, ist umstritten. Mit der erwogenen Kürzung zu Lasten der Schulen der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein wäre jedoch eine - im Hinblick auf die dänischen Schulen und Schülerkopfsätze - bisher als vorbildlich anzusehende Regelung, die einen weitreichenden Minderheitenschutz gewährte -, zumindest teilweise zurückgenommen.
553 Hahn, Michael I., Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Deutschland. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Ber-
linlHeidelberg 1993, Bd. I, S. 62 (89 f.). 554 Zur Stellung der dänischen Schulen s. a. Hahn, Michael I., S. 90 f.; Pfautsch, ReinhardiLorentzen, Uwe, Grundriß des Schulrechts und der Schul verwaltung in SchleswigHolstein, 2. Aufl. Neuwied 1957, S. 42 f. 555 Hahn, Michael I., S. 91. 556 Zahlen nach Hamburger Abendblatt v. 9.12.1997, S. 5.
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b) Das sorbische Schulwesen in Brandenburg und Sachsen Entgegen dem Recht der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein auf Unterhaltung eigener Schulen orientiert sich Brandenburg stärker an dem Gedanken der Achtung der sorbischen Identität und Tradition innerhalb des staatlichen Schulwesens. Nach Art. 25 Abs. 3 der Verfassung Brandenburgs haben die Sorben das Recht auf Vermittlung ihrer Sprache und Kultur in Schulen. Nach § 5 Brandenburgisches SchulG haben Schülerinnen und Schüler das Recht, die sorbische Sprache zu lernen und in ihr sowie der sorbischen Geschichte und Kultur unterrichtet zu werden. Die sächsische Verfassung anerkennt in Art. 6 das Recht der Sorben auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung insbesondere durch Schulen. Insgesamt wurde 1993 an 64 Schulen im sorbischen Siedlungsgebiet die sorbische Sprache unterrichtet, wovon acht Schulen explizit sorbische Schulen waren. c) Die Rechte der islamischen Schüler
Anders als in Frankreich ist die deutsche Bildungspolitik von einem Kulturkampf der westlichen Schule gegen islamische Einflüsse bisher weitestgehend verschont. Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage der Sicherung der Rechte islamischer Schüler als einer umfassenden Minderheit im staatlichen Schulwesen557 • Dies betrifft im wesentlichen die Frage des Rechts auf islamischen Religionsunterricht im Rahmen des Art. 7 Abs. 3 GG und etwaige Befreiungsansprüche islamischer Schülerinnen vom koedukativen Sportunterricht. Auch überlegen Kultusminister einzelner Länder die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, dem nur vereinzelt verfassungsrechtliche Bedenken entgegengehalten werden S58 • Zum Schutz der Glaubensfreiheit islamischer Schülerinnen anerkennt das Bundesverwaltungsgericht einen Befreiungsanspruch vom koedukativen Sport557 Die Schulen in freier Trägerschaft müssen sich entgegenhalten lassen, daß sie hinsichtlich der Aufgaben der Integration ausländischer Schüler bislang nur unzureichend Erfolge erzielt haben. So beträgt der Anteil ausländischer Schüler an Waldorfschulen in Berlin nur 3,4 %, der Anteil türkischer Kinder gar nur 0,5 %. Trotz aller berechtigten Kritik hieran - s. vor allem Preuss-Lausitz, Ulf, Soziale Ungleichheit, Integration und Schulentwicklung, ZfP 36, Beiheft 1997,591 (593 f.) - bleibt zu fragen, ob dies primär an einer selektiven Aufnahme oder nicht an einer Nichtfrage durch ausländische Bürger etwa wegen des vermeintlichen Schulgeldes liegt. Hierbei liegt der Anteil ausländischer Kinder an Waldorfschulen höher als an anderen Schulen in freier Trägerschaft. 558 So Korioth, Stefan, S. 1049, der die Zulässigkeit eines solchen Unterrichts davon abhängig machen will, ob die muslirnischen Gemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
unterricht, sofern nur so dem Grundsatz der Glaubensfreiheit Rechnung getragen werden kann. Das BundesverwaitungsgerichtSS9 hat damit insbesondere den Versuchen sozialdemokratischer Kultusbehörden, islamische Schülerinnen nicht zuletzt durch angedrohte Bußgelder - zwangsweise zu assimilieren, eine deutliche Grenze gesetzt.
7. Die Widersprüchlichkeit bundesdeutscher Schulverfassung In einer Gesamtbetrachtung ergibt sich für die Schulverfassung der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Freiheit des Unterrichts ein ambivalentes Bild. Einem bürgerschaftlichen Verständnis der staatlichen Schule sind verfassungsrechtlich durch die herrschende Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht enge Grenzen gesetzt. Zugleich kommen den Kommunen im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern keine Gestaltungsrechte inhaltlicher Art zu. Sofern eine Schule in Elternträgerschaft mit einer reformpädagogischen oder alternativen Schulkonzeptionen gegründet werden soll, wird dieses Recht der Gründungsfreiheit in erheblicher Weise eingeschränkt bzw. erschwert. Demgegenüber sind kirchliche Schulen und Schulen von Weltanschauungsgemeinschaften eindeutig privilegiert. Verfassungsrechtlich wird die pädagogische Freiheit bestehender Schulen dadurch gesichert, daß dem Schutzbereich des Art. 7 Abs. 4 GG ein "eigenverantwortlich geprägter und gestalteter Unterricht", insbesondere soweit er "die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und die Lehrinhalte betrifft", zugeordnet wird s60 • Ferner wird grundsätzlich die freie Schüler- und Lehrerwahl zuerkannt, wobei jedoch schon bei den Anforderungen an die Qualifikationen der Lehrer in bezug auf das pädagogische Profil einer Schule Probleme entstehen können. Zudem wird die pädagogische Freiheit dadurch relativiert, daß Schulen, die dem staatlichen Unterricht entsprechen, als anerkannte Ersatzschulen selber Prüfungen abnehmen und Berechtigungen erteilen dürfen, während reformpädagogische Schulen, wie die Waldorfschulen, oftmals nur genehmigte Ersatzschulen sind und keine eigenen Prüfungen abnehmen bzw. Berechtigungen erteilen dürfen. Dementsprechend weist Vogel zu Recht darauf hin, daß die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem "Schutz des Bestandes eines Ghettos freier Schulen als Erhaltung der Institution zu Ungunsten von Neugründungen" dientS61 • Ist die Hürde des
559 S60
561
BVerwGE 94,82. BVerfGE 27,195 (200 f.); 75, 40 (61). Vogel, J.P., Entwicklung des Finanzhilferechts, S. 192 f.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Frankreich
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Aufbaus der Schule dagegen überwunden, ist es, ungeachtet der durch die gestellten Gleichwertigkeitsanforderungen und das Berechtigungswesen implizierten Einschränkungen, den Schulen weitreichend möglich, ohne staatliche Eingriffe ihre pädagogischen Konzepte zu realisieren. Allerdings unterliegen auch insoweit die Schulen einem permanenten indirektem Anpassungsdruck, der ihre pädagogische Autonomie immer wieder gefährdet, wenn etwa die Zeugnisse reformpädagogischer Schulen nicht anerkannt werden und die Schüler vor der staatlichen Bildungsbehörde das Abitur ablegen müssen. Zuschüsse für Schulen in freier Trägrschaft sichern zwar - mit Abstrichen grundsätzlich deren Existenz, sind aber insgesamt nicht ausreichend, um allen Eltern und Schülern unabhängig von den Vermögens verhältnissen ein Wahlrecht zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Schule zu ermöglichen.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen 1. Das kommunitaristisch-zentralistische Bildungswesen in Frankreich a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens Laizität und Nationalerziehung Die Geschichte des französischen Bildungswesens ist geprägt durch die Dualität eines zentralistischen Bildungssystems einerseits und einem stetigen, bis in die letzten Jahre dauernden, Machtkampfs zwischen Staat und Kirche andererseits 562 • Letzterer rankt sich um die Stellung der katholischen Schulen, die noch heute über 90 % der Schulen in freier Trägerschaft ausmachen563 . Anknüpfungspunkt dieses Konflikts ist der für die französische Verfassung und Gesellschaft herausragende Streit um das Prinzip der Laizität. Hierbei bedeutet Laizität "nicht die Ablehnung der Religion an sich, sondern wendet sich gegen die Bevormundung der staatlichen Welt durch religiöse Institutionen"s64. Das staatliche Schulwesen ist seit der Französischen Revolution umfassend von dem Anspruch der Laizität und der Idee einer nationalstaatlichen Einheits562 s. hierzu näher Naymann, Eva, Die Entwicklung des französischen Schulsystems unter besonderer Berücksichtigung soziologischer Prämissen. Köln 1987. 563 Vallet, Odon, Die Erneuerung der katholischen Schule und ihre Zukunft in Frankreich. In: ListllSchlick (Hrsg.), Grundfragen des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Straßburg 1982, S. 45. 564 Hervieu-Uger, Daniel, Die Vergangenheit in der Gegenwart: Die Neudefinition des "laizistischen Paktes" im multikulturellen Frankreich". In: Berger (Hrsg.), Die Grenzen der Gemeinschaft - Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften; ein Bericht der Bertelsmann Stiftung an den Club of Rome. Gütersloh 1997, S. 85 (89).
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erziehung, nach der die soziale Einheit eines Volkes nur durch einen gemeinsamen, allgemeinverbindlichen Bildungsgedanken und eine gemeinsame Bildungskonzeption erreichbar sei, geprägt565 • Mittel hierzu ist die laizistische Schule, die den Schüler zur Teilnahme an der Res publica befähigen sollte. Diese national staatliche und laizistische Ausrichtung des staatlichen Schulund Erziehungswesens in der Annahme, durch die Präferenz des öffentlichen Wohls gegenüber den persönlichen Wertorientierungen würden die Tugenden des Staatsbürgers optimal entfaltet, prägte von Frankreich aus lange Zeit auch die Entwicklung in den anderen romanischen Staaten (Italien, Spanien und Portugali66 und mußte zwangsläufig in diesen Ländern mit der katholischen Soziallehre in Konflikt geraten. So war das Verhältnis Schule - Kirche - Staat eine Trias besonderer Prägung, bei der je nach den herrschenden politischen MachtverhäItnissen entweder die Kirche oder der Staat die Oberhand behielt. Während Napoleon noch per Gesetz zum 1. Mai 1802 das Recht auf freie (kirchliche) Schulgründung abschaffte und am 10. Mai 1806 das staatliche Unterrichtsmonopol einführte, um die Schule gänzlich unter staatliche Aufsicht zu stellen und die Unterrichtstätigkeit auf das Ziel des tugendhaften Staatsbürgers napoleonischer Prägung ausrichten zu können 567 , wurde nach dem politischen Machtwechsel das Grundschulwesen per Verordnung aus dem Jahre 1824 unter die Verantwortung der Kirche gestellt und durch das Gesetz Falloux aus dem Jahre 1850 die Privatschulfreiheit zugunsten der katholischen Schulen auch materiell hergestellt. Das Gesetz Falloux gewährte nicht nur den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit, sondern erlaubte auch eine öffentliche Finanzierung der Privatschulen, d.h., der katholischen Schulen568 • Nach diesem Gesetz, welches noch heute Gültigkeit hat, durften die Gemeinden sich auch bis zu maximal 10 % an den Investitionskosten der Privatschulen beteiligen - eine Regelung, die im Jahre 1994 zu weitreichenden politischen Auseinandersetzungen führen sollte. Um die Jahrhundertwende wurde in Frankreich wiederum die umfassende Säkularisierung eingeleitet, in Folge dessen 1882 die Laizisierung des öffentlichen Schulwesens erfolgte und im Jahre 1904 die religiösen Schulorden verboten wurden 569 . Das Prinzip der Laizität fand seinen Niederschlag im Bildungswesen durch das Gesetz Ferry vom 28. März 1882, durch welches die obligato565 s. Czerwenka, Kurt, Schulsystem, Selektion und Schulzufriedenheit in Frankreich, ZfP 1990, S. 849 (850). 566 Czerwenka, Kurt, S. 849 (863). 567 Czerwenka, Kurt, S. 849 (863). 568 Richter, Ingo, Die Erhaltung des Staatsmonopols im französischen Schulwesen, RdJB 1994, S. 142 (143). 569 Vallet, Odon, S. 45.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Frankreich
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rische freie und laizistische Volksschule eingeführt wurde, in der religiöse Fragen im Unterricht keinen Platz hatten57o, und das in seiner modernen Form des Verfassungsstaates endgültig mit der Trennung von Staat und Kirche im Gesetz von 1905 seinen Ausdruck fand. Gleichwohl ging auch dieses Gesetz nicht von einem staatlichen Schulmonopol aus und änderte nichts an dem Bestand katholischer Schulen. Zudem wurde ein Tag in der Woche für die außerhalb der Schule stattzufindende religiöse Unterweisung freigehalten. Mit der Vichy-Regierung erstarkten die katholischen Schulen, die 1940 wieder zugelassen wurden, und für die im Jahre 1941 die öffentliche Unterstützung aller privater Schulen eingeführt wurde S71 . Seit dieser Zeit konnten die katholischen Schulen ihre Rechtsstellung bis zur Regierungsübernahrne durch Mitterand sichern und sogar ausbauen, indem die Gesetze Marie und Barange die Gewährung von Stipendien und Ausbildungsbeihilfen auf die Schüler des freien Schulwesens ausdehnte und durch das Gesetz Guemeur eine Erhöhung der Subventionsleistungen erfolgteS72 • Hierbei war insbesondere das Gesetz Guemeur aus der Sicht der Kritiker "ein reines Begünstigungsgesetz für das katholische Schulwesen, das die Staatsaufsicht über die katholischen Schulen ein geschränkt',573 und innerhalb von 20 Jahren zu einer Erhöhung der staatlichen Zuschüsse von 10 % auf fast 85 % der Kosten geführt hat574 • Die Verfassung von 1946 hat schließlich in Art. 2 die Trennung von Kirche und Staat verfassungsrechtlich festgeschrieben und in Absatz 13 der Präambel die Verpflichtung des Staates normiert, ein staatliches, kostenloses und bekenntnisfreies Unterrichtswesen vorzuhalten. Beide Grundsätze wurden durch die Verfassung von 1958 bestätigt und übernommen. Sowohl die Verfassung von 1946 in ihrer Präambel als auch die Verfassung von 1958 und 1976 in ihrem Verweis auf die Präambel der Verfassung von 1946 gehen von der Organisation eines öffentlichen, unentgeltlichen und laizistischen Unterrichts auf allen Stufen als einer Pflicht des Staates aus und enthalten sich der Normierung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen der Bildungsfreiheit. b) Der große Kulturstreit um das Verhältnis von staatlicher und katholischer Schule
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat auch die katholische Kirche in Frankreich grundsätzlich die Prinzipien der demokratischen, säkularisierten Gesellschaft akzeptiert. Gleichzeitig ist spätestens seit dem Loi Debre aus dem s. hierzu Hervieu-Uger, Daniel, S. 100. m Vallet, Odon, S. 45. sn Vallet, Odon, S. 45. 573 Vallet, Odon, S. 47. 574 Vallet, Odon, S. 46. 570
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Jahre 1959 durch die materielle Absicherung der katholischen Schulen ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Schullagern hergestellt, die den jeweiligen Alleinvertretungsanspruch für das Bildungswesen aufgeben. Doch wie in kaum einem anderen europäischen Land ist die Schulfrage auch heute noch von so zentraler politischer und emotionaler Bedeutung wie in Frankreich. Ausdruck dessen sind die unter jeweils unterschiedlichen bildungspolitisehen Voraussetzungen zu sehenden Schulstreite von 1984 und 1994, die jeweils Millionen Demonstranten auf die Straße brachten. Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung war jeweils die Frage des Verhältnisses von staatlicher und privater bzw. katholischer Schule575 • Vor diesem besonderen Hintergrund der Entwicklung des französischen Bildungswesens ist die 1981 durch Mitterand angestrebte Integration des Privatschulwesens in das öffentliche Schulwesen zur Errichtung eines ..großen, öffentlichen, bekenntnisneutralen Einheitsschulwesens" (grand service public lalque unifie") als der Versuch einer umfassenden Säkularisierung des Schulwesens in Frankreich576 Gegenstand des ersten großen Schul streites der letzten 15 Jahre gewesen. Der Konflikt endete mit einer politischen Niederlage der 'Säkularilisten' , der Rücknahme des entsprechenden Gesetzesentwurfs und dem Rücktritt des damaligen Erziehungsministers Savary. Ungeachtet der parteipolitischen Machtverhältnisse hatte die Regierung verkannt, daß ihr Anliegen vom überwiegenden Teil der französischen Gesellschaft, also nicht nur den katholischen Eltern, abgelehnt wurde. Mehr als 70 % der Franzosen sprachen sich in Umfragen für die Unterrichtsfreiheit aus und haben jenseits eigener religiöser Anschauungen ..den starken Wunsch der Franzosen nach Freiheit zum Ausdruck gebracht ... , daß der Staat sich aus dem Alltagsleben heraushalten und den Eltern die freie Entscheidung über den Bildungsgang ihrer Kinder überlassen möge,,577. Der zweite große Schulstreit entwickelte sich in den Jahren 1992 bis 1994, als die damalige bürgerliche Regierung die katholischen Privatschulen den staatlichen Schulen gleichstellen wollte. Ausgangspunkt war eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem damaligen Erziehungsminister Jack Lang und dem Generalsekretär des katholischen Erziehungswesens, Mas Cloupet, vom 13. Juni 1992. Diese Frage der materiellen Gleichstellung war jedoch eng mit der Frage einer weiteren Reglementierung des Privatschulwesens verbunAusführlich hierzu Hervieu-Uger, Daniel, S. 97 ff. s. hierzu auch aus katholischer Sicht Zimmermann, Marie, Das katholische Unterrichtswesen in der Gesamtsituation der Schule in Frankreich. In: ListllSchlick (Hrsg.), Grundfragen des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Straßburg 1982 (Anm. 66), S. 91 ff. 577 Hervieu-Uger, Daniel, S. 108 unter Bezugnahme auf Cozier, Michel, La rue n'appartient plus a la gauche, La Croix, 23.124. Juni 1984. 575
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VII. Zentralistisch-etatistische Schul verfassungen: Frankreich
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den. So wurde in einem Zusatzabkommen vom 11. Januar 1993 beschlossen, daß Lehrer im privaten Schulwesen dieselben Qualifikationsstandards erfüllen sollten wie die Lehrer staatlicher Schulen. Dieses hätte die schon bestehende weitreichende Anpassung an das staatliche Schulwesen vollendet, so daß diese Regelung nach erheblichen Protesten zurückgenommen wurde. Der Streit eskalierte schließlich in der Frage der Zuschüsse zu den Investitionskosten. Nach dem weiterhin geltenden Loi Falloux aus dem Jahre 1850 waren die Zuschüsse für Investitionskosten vertraglich an den Staat gebundener Schulen, die den Gemeinden obliegen, auf maximal 10 % der Kosten beschränkt. Durch eine Gesetzesänderung sollte diese Obergrenze aufgehoben werden, was mit der Mehrheit der konservativen Regierung in der Nationalversammlung und dem Senat, die beide dem Gesetz zustimmen mußten, auch geschah. Die Verabschiedung dieses Gesetzes führte zu einer umfassenden Protestbewegung der Befürworter eines staatlichen Schulwesens, die die Gefahr einer Zuwendung von finanziellen Mitteln auf Kosten des staatlichen Schulwesens sahen; Mittel, die angesichts leerer Haushaltskassen dem staatlichen Schulwesen zukommen sollten und für die die katholische Kirche ihr eigenes Vermögen einsetzen sollte. Gleichzeitig wurde der Verfassungsrat angerufen, der schließlich die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzesartikels verneinte. Die bildungspolitische Auseinandersetzung zeigt, daß der Diskurs um die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft dabei in Frankreich traditionell nicht von dem kulturliberalen Diskurs über die Selbstbestimmung der Gesellschaft bei der Tradierung kultureller Werte in Erziehungsfragen geprägt ist, sondern vom Dualismus staatlicher versus klerikaler Bestimmungsgewalt über das Schulwesen. Insofern erklärt sich auch die politische Zuspitzung im sog. Schulstreit von 1984, als es für die meisten Demonstranten schlicht um die Wahrung ihres demokratischen Rechts auf freie Schulwahl ging, ebenso, wie die Schärfe der Auseinandersetzung von 1994, als die sozialistische Regierung Mitterand in der Forderung nach einer Verbesserung der materiellen Bedingungen der meist katholischen Schulen und größerer pädagogischer Freiheit "die Rückkehr der klerikalen Antirepublikaner, eine Neuauflage des Kulturkampfes der Jahrhundertwende" sah 578. Entscheidend ist insoweit, daß der Kampf um die ,,Freiheit im Bildungswesen" sich in Frankreich weitestgehend auf eine Bestandsgarantie für die kirchlichen, d.h., katholischen Schulen beschränkt und damit das grundlegende Anliegen für Freiheit im Bildungswesen, nämlich die Gestaltung des Schulwesens durch die pluralistischen Wertvorstellungen in der Gesellschaft statt durch monopolistische Herrschaftsansprüche von Staat und Kirche, aus dem Blickfeld 578 Fritz- Vannahme, Joachim, Auf der Suche nach der verlorenen Republik, DIE ZEIT 37/1992, S. 3. 19 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Erörterung geriet. Hierbei konnte die katholische Kirche den Versuchen einer Integration des Privatschulwesens in das staatliche Schulwesen erfolgreich entgegentreten. Gleichwohl erscheint die grundlegende Spaltung der französischen Gesellschaft in Fragen des Bildungswesens in der Polarisierung Staat versus Kirche als gesellschaftspolitischer Anachronismus, wobei nicht zur Kenntnis genommen wird, "daß es nicht mehr um die Frage Staat oder Kirche geht, sondern um die Begründung von Wahlmöglichkeiten im Schulwesen aus den Grundrechten der Eltern und Schüler,,579. Der Schulstreit von 1994 und die Debatte um die Zukunft des französischen Bildungswesens verkennen in ihren Erscheinungsformen der tagespolitischen Auseinandersetzung dabei, daß es um "einen viel entscheidenderen normativen Konflikt geht", nämlich inwieweit der Staat in einer pluralistischen Gesellschaft heute noch an einem umfassenden Gestaltungsanspruch im Bildungswesen festhalten kann 58o• Die Frage der Entstaatlichung des Bildungswesens im Sinne von Schulvielfalt und freie Schulwahl wird jedoch durch die starke Stellung der katholischen Schulen verdeckt, weil es hierdurch den politischen Verfechtern eines staatlichen Bildungswesens immer wieder gelingt, eine drohende Wiedergewinnung der Macht der Kirche über das Schulwesen zu suggerieren. Demgegenüber geht es jedoch darum, inwieweit Bildung als öffentliches Gut dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger obliegt. Hierbei ist die fehlende Verankerung des Gedankens der säkularisierten Bürgergesellschaft im französischen Bildungswesen allein schon daran zu erkennen, daß Schulen in Elternträgerschaft eine im Vergleich zu anderen europäischen Ländern marginale Rolle spielen. Zugleich muß die französische Bildungspolitik zur Kenntnis nehmen, daß selbst für die Wahl einer katholischen Schule religiöse Gründe kaum noch ausschlaggebend sind, sondern es um die gleichberechtigte Wahrnehmung des öffentlichen Bildungsauftrags durch Schulen unterschiedlichen pädagogischen Klimas geht581 • c) Die laizistische Schule und der Islam
Im Zuge der zunehmenden Bedeutung der islamischen Überzeugungen in Frankreich mußte die Frage der Laizität und Säkularisierung zwangsläufig auch in diesem Bereich zu Konflikten im staatlichen Schulsystem führen. Ausgangspunkt dieses Konfliktes ist die Frage, inwieweit das Tragen religiöser Symbole, insbesondere des Schleiers, mit dem Prinzip der weltlichen Schule vereinbar ist. Diese Frage hat seit 1989 den Staatsrat mehrfach beschäftigt. Anlaß war jeweils
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Richter, lngo, Die Erhaltung des Staatsmonopols, S. 142 (144). s. hierzu auch Hervieu-Uger, Daniel, S. 111 ff. Hervieu-Uger, Daniel, S. 104.
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der Ausschluß von Schülerinnen aus der Schule wegen des Tragens religiöser Symbole. Das französische Bildungsministerium hat auch diesen Konflikt zentralistisch gelöst, indem der französische Erziehungsminister Baroy am 20.9.1994 eine Verwaltungsanweisung an die Schulleiter erlassen hat, wonach das Tragen religiöser Zeichen mit ostentativem Charakter und provokatorische Verhaltensweisen wie das Tragen eines Kopftuches durch islamische Schülerinnen, nicht aber das Tragen eines Kreuzes, verboten wurdens82 • In verschiedenen Gutachten und Entscheidungen hat der Conseil d'Etat das Grundrecht der Religionsfreiheit in Einklang mit dem Grundsatz der Laizität der staatlichen Schule zu bringen versuchtS83 , dabei aber eine abschließende Klärung im Sinne einer Grundsatzentscheidung vermieden, so daß die Schulleiter und Verwaltungs gerichte Konflikte jeweils im Einzelfall zu entscheiden haben. In dem ersten Gutachten, dem sog. Tschador-Gutachten aus dem Jahre 1989, hat der Staatsrat ausgeführt, daß das Tragen des Hjiab oder anderer religiöser Kleidungsstücke auch in der staatlichen Schule grundsätzlich legitim sei und durch das Prinzip der staatlichen Neutralität nicht begrenzt werde, weil dieses auf die Schüler keine Anwendung finde und diese das Recht haben, ihre religiösen Überzeugungen innerhalb der staatlichen Schulen zum Ausdruck zu bringen. Seine Grenze finde dies jedoch, wenn diese Symbole hierbei ostentativ oder zur Ausübung von Druck, Bekehrungseifer oder aus propagandistischen Gründen benutzt würden und auf diese Weise der Schulfrieden gefährdet sei. Insofern sei das Tragen religiöser Symbole grundsätzlich zulässig, kann jedoch im Einzelfall vom Schulleiter verboten werden und bis zum Schulverweis führen. Dieser Grundsatz wurde im der Kherouaa-Entscheidung vom 2.11.1992 fortgeführt und der Begriff der Laizität dahingehend konkretisiert, daß dieser keine Indifferenz des Staates gegenüber dem sozialen Faktum der Religiosität bedeute und als integrative Laizität zu verstehen sei. Danach sei insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes, daß das Gesetz Jospin vom 10.7.1989 den Schülern gern. Art. 10 das Recht gewähre, von ihrer Meinungsäußerungsfreiheit unter Beachtung des Pluralismus und des Prinzips der Neutralität Gebrauch zu machen, der Grundsatz der Neutralität im wesentlichen auf den Lehrplan, Lehrstoff und die Lehrerschaft, nicht aber die Neutralität der Schüler ausgerichtet. In der Yilmaz-Entscheidung vom 14.3.1994 betont der Conseil d'Etat 582 Hervieu-Uger, Daniel, S. 134; s. a. Spies, Axel, Frankreich: Paris verbietet "islamisches" Kopftuch an den Schulen, NJW 1994, XLI. 583 s. hierzu im einzelnen Gromitsaris, Athanasios, Laizität und Neutralität in der Schule. Ein Vergleich der Rechtslage in Frankreich und Deutschland, AöR 121/1996, S. 381 ff.; Glenn, Charles, S. 322 (337); Hervieu-Uger, Daniel, S. 125 ff.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
nochmals seine schon in der Kherouaa-Entscheidung implizierte Ansicht, daß ein abstrakt-generelles allgemeines Schleierverbot unzulässig sei und selbst im Falle offener Konflikte nicht ohne weiteres ein Schleierverbot zu erteilen wäre. Erst wenn alle Maßnahmen erfolglos blieben, könne ein Verbot in Betracht gezogen werden, so wie es in der Aoukili-Entscheidung vom 10.3.1995, dem die Benutzung eines religiösen Zeichens als soziales Druckmittel zugrundegelegt wurde, der Fall war. Hierbei verdeutlichen diese Entscheidungen, daß es nicht um die alte Rivalität zwischen staatlicher und katholischer Macht im Schulwesen geht, sondern um die Lösung von Grundrechtskollissionen im Rahmen religiöser Pluralität. Das französische Bildungswesen hat diesen Konflikt bisher jedoch nicht im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders der verschiedenen religiösen Gruppen gelöst, sondern im Namen der staatlichen Organisationsgewalt im staatlichen Schulwesen die Schülerinnen islamischen Glaubens vor die Alternative Anpassung oder Schulverweis gestellt. So haben sich in Frankreich seit 1989 1500 Mädchen zwangsweise bereit erklärt, den Schleier abzulegen, während 150 islamische Schülerinnen, die hierzu nicht bereit waren, von ihren Schulen ausgeschlossen wurden. Diese sind zu großen Teilen bezeichnenderweise an katholische Privatschulen gewechselt, die damit ein größeres Maß an Toleranz zeigten, als es im staatlichen Schulsystem möglich war. So ist der Ansicht von Hervieu-Leger zuzustimmen, daß die "beträchtliche Zahl von Schul verweisen ... nicht nur ein Indiz für das Scheitern einer 'bestimmten Form von Schule' ist", sondern darüber hinaus zu konstatieren ist, daß es nicht gelungen ist, ein Verfahren durchzusetzen, das es ermöglicht hätte, differenzierte Lösungen oder eine den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene normative Regelung zu finden 584 • Gerade dies wäre aber die Aufgabe einer bürgerschaftlich orientierten Schulverfassung, in der sich Grundrechte wie das der Glaubens- und Religionsfreiheit im staatlichen Schulwesen nicht zu Ausgrenzungsnormen des Staates wandeln. Ein weiterer Konfliktpunkt ist angesichts des Verbots einer religiösen Unterweisung im staatlichen Schulsystem die Frage der Freistellung von Schülern für einen außerschulischen Religionsunterricht. Anlaß dieses Konfliktes war das Begehren jüdischer Schüler um Freistellung vom Samstagsunterricht, damit sie die Sabbatruhe einhalten können. Dieses Begehren war per Dekret des Erziehungsministeriums vom 18. Februar 1991 negativ entschieden worden. Daraufhin hatte der Staatsrat diese Frage, nachdem ein jüdischer Schüler wegen wiederholten Nichterscheinens am Samstag der Schule verwiesen wurde und die Schule vor dem Verwaltungsgericht obsiegt hatte, diese Frage zu entscheiden. Der Conseil d'Etat hat, ebenso wie das deutsche Bundesverwaltungsge-
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Hervieu-Uger, Daniel, S. 134.
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richt und das schweizerische Bundesgericht, das Recht der Befreiung vom Unterricht zur Sicherung des Grundrechts der Religionsfreiheit grundsätzlich anerkannt. Dies rechtfertige jedoch keine generelle Freistellung jüdischer Schüler vom Samstagsunterricht. Vielmehr hat der Staatsrat entschieden, daß dies auf Antrag des einzelnen Schülers zulässig sei, sofern dies mit der Erledigung der mit der Schule verbundenen Aufgaben vereinbar sei und den normalen Unterrichtsbetrieb nicht störe585 .
d) Zentralismus und bürokratische Struktur der Bildungsverwaltung Die starke Zentralisierung des französischen Bildungswesens hat dazu geführt, daß die Bestimmungsgewalt des Staates über die Inhalte schulischen Lernens hervorstechendes Strukturmerkmal des französischen Bildungswesens ist. Dabei fallen ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland staatliche Schulhoheit im Sinne staatlicher Bestimmungsgewalt über die Inhalte schulischen Lernens und staatliche Aufsicht über die Schule zusammen. In der napoleonischen Tradition hat diese staatliche Bestimmungsgewalt über das Schulwesen entgegen dem föderalistischen Prinzip der Bundesrepublik Deutschland zu einer allumfassenden Zentralisierung geführt586 , die kaum Freiräume für pädagogische Alternativen im staatlichen Schulsystem eröffnet und auch im Bereich der Schulen in freier Trägerschaft angesichts eines universellen national verbindlichen Lehrplans als Voraussetzung für den Erhalt staatlicher Zuschüsse nur sehr bedingt Handlungsspielräume ermöglicht. "Trotz aller Bemühungen um eine Dezentralisierung des Bildungswesens sind die traditionellen Kompetenzzuordnungen geblieben: Das Ministerium für nationale Erziehung in Paris plant, lenkt und leitet das öffentliche Schulwesen und kontrolliert die Privatschulen. Der Erziehungsminister und die ihm unterstellte Verwaltung sind zuständig für die Organisation der Bildungseinrichtungen, die Lehrpläne, Prüfungen und Inhalte sowie die Ausbildung der Lehrer,,587. Entgegen einer föderal verfaßten Bildungsstruktur wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland, die ungeachtet ihrer etatistischen Grundtradition und -konzeption gleichwohl durch unterschiedliche Lehrpläne in den einzelnen Bundesländern, aber auch durch gewisse Gestaltungsspielräume innetIialb der in den einzelnen Ländern jeweils vorgegebenen Rahmenpläne, grundSätzlich offen für verschiedene Bildungskonzeptionen ist, ist die "Vorstellung, daß die nachwachsende Generation gemeinsam ein zentral vorstrukturiertes Curriculum durchläuft, das für die intergenerationelle Kontinuität einer einheitlichen Kultur sorgt, ... (kennzeichnend für) das französische Bildungssystem bis zu den jüngsten Novellierungen des s. hierzu näher Hervieu-Uger, Daniel, S. 124. s. hierzu näher Süßmuth, Rita, Frankreich. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungs systeme in Europa, 3. Aufl. WeinheimIBasel 1980, S. 108 ff. 587 Lemke, Dietrich, S. 105 (107). 585 586
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Bildungsgesetzes"s88. Allerdings wird hierbei verkannt, daß insbesondere auch in weltanschaulich-religiöser Hinsicht der Anspruch einer einheitlichen kulturellen Prägung der französischen Gesellschaft eine Fiktion ist, wie sich gerade an der Frage der Rechte islamischer Schülerinnen zeigt. Das laizistische Prinzip spiegelt sich insbesondere darin wider, daß in den staatlichen Schulen kein Religionsunterricht stattfindet. Dieses Prinzip der Laizität wird in Frankreich gegenwärtig weniger durch die Privatschulen, deren Existenzberechtigung im 19. Jahrhundert als Kompensation der Weltlichkeit der französischen Schule akzeptiert wurde, in Frage gestellt, als vielmehr durch die Präsens islamischer Glaubensüberzeugungen im staatlichen Schulwesen. Auch wenn das französische Bildungssystem als zentralistisch zu kategorisieren und auf einen eng gefaßten kognitiven Bildungsbegriff ausgerichtet ist, sind gewisse reformpädagogische Wirkungen nicht zu verkennen. Zumindest die Freinetpädagogik findet auch im staatlichen Schulwesen in der pädagogischen Alltagspraxis dadurch Eingang in das Unterrichtsgeschehen, daß mehr als 20.000 Lehrer und Lehrerinnen sich als Freinetpädagogen verstehen und an etwa 500, insbesondere kleineren, staatlichen Schulen einen dominanten Einfluß haben 589 • Zunehmend Einfluß gewinnen in der Lehrerschaft darüber hinaus die Ideen der Education Nouvelle in dem Versuch, gegen den vorherrschenden einseitigen Bildungsbegriff die Momente ganzheitlichen, aktiven, kindorientierten Lernens in den Schulalltag zu integrierens90 . Das französische Bildungswesen ist trotz gewisser Dezentralisierungstendenzen der letzten Jahre das Musterbeispiel eines zentralistischen Bildungssystems. Sowohl die Verwaltung und inhaltliche Ausrichtung der staatlichen Schulen als auch die Aufsicht über die privaten Schulen unterliegen einer dem Erziehungsminister unterstehenden Zentralbehörde, wobei Lehrpläne und methoden einheitlich für ganz Frankreich festgelegt werden. Dabei werden staatliche Zuschußleistungen für nichtstaatliche Schulen nach dem durch das Loi Debn~ im Jahre 1959 eingeführten System der Verträge zwischen Staat und Schule in freier Trägerschaft591 an die Einhaltung der staatlichen Lehrpläne gekoppelt.
588 Füssel, Hans-PeterILeschinsky, Achim, Diskussionsberichte über die Entwicklung des Schulrechts in den neuen Bundesländern, I. Schulverfassung, Schulleitung, Schulaufsicht, RdJB 1991, S. 294 (297). 589 s. hierzu Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Frankreich. In: SeyJahrt-Stubenrauch, EckhardlSkiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 419 (426,430 f.). 590 Skiera, Ehrenhard, Länderstudie Frankreich, S. 433. 591 Vallet, Odon, S. 45.
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Der traditionell fest verankerte Zentralismus des französischen Bildungssystems ist eines seiner hervorstechendsten Merkmale592 und zugleich der größte Hemmschuh für die Notwendigkeit einer Innovation desselben, die schon in den 80er Jahren angesichts eines weitreichenden Versagens der Schule sowohl hinsichtlich der angestrebten Erhöhung des Niveaus der Abschlüsse 593 als auch in der Herstellung sozialer Chancengleichheit594 und der Durchlässigkeit des Bildungswesens, die als Rechtfertigung eines zentralistischen Einheitsschulsystems bis zur Sekundarstufe 1595 herhielten, offen zum Ausdruck gekommen ist596 und u.a. zu den 'Vorschlägen für das Bildungswesen der Zukunft' durch die Professoren des College de France geführt hat, die jedoch bildungspolitisch nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen wurden 597 • Statt dessen und ungeachtet der Tatsache, daß heute offen von einer permanenten Bildungskatastrophe des französischen Bildungssystems gesprochen wird 598 , vollzog sich in den 80er Jahren nach einer vorübergehenden Diskussion über die Demokratisierung des Schulwesens ein Wandel zur umfassenden Instrumentalisierung der Bildung zu einer Bildungspolitik des ,,republikanischen Elitismus,,599, die auf ökonomische Effizienz und "gesellschaftliche Modernisierung" ausgerichtet war600 • Mittel hierfür sollten nicht nur eine funktionale Dezentralisierung des Bildungswesens 601, sondern vor allem auch die Integration des Privatschulwesens in das staatliche Schulwesen 602 sein. e) Dezentralisierungstendenzen im staatlichen Schulsystem
Die Dezentralisierung des Bildungswesens im Sinne der Übertragung von Hoheitsbefugnissen und die Finanzhoheit für die Schulen auf die Gebietskörperschaften (Regionen, Departements, Gemeinden) wurde mit Beginn der 80er 592 Pfeffer, Gottfried, Stichworte zur französischen Bildungssituation. In: MüllerRolli (Hrsg.), Das Bildungswesen der Zukunft. Stuttgart 1987, S. 235 (245); s. a. Nieser, Bruno, Bildungspolitik in Frankreich (1975-1985). München 1990, S. 9; Süßmuth, Rita, S. 113 (133). 593 Vgl. Nieser, Bruno, S. 130; Pfeffer, Gottfried, S. 244. 594 s. Czerwenka, Kurt, S. 849 (854, 866), der auf Untersuchungen von Bourdieu, PierrelPaaseron, lean-Claude, Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart 1971, verweist. 595 Vgl. Nieser, Bruno, S. 5 f.; Pfeffer, Gottfried, S. 239. 596 Vgl. Nieser, Bruno, S. 6 ff. 597 Nieser, Bruno, S. 66. 598 Fritz- Vannahme, loachim, S. 3. 599 Nieser, Bruno, S. 7 (66 f.). 600 Nieser, Bruno, S. 66. 601 Nieser, Bruno, S. 12. 602 Vgl. Naymann, Eva, S. 133 ff.; Nieser, Bruno, S. 66.
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Jahre verfolgt und fand nonnativ ihren Ausdruck in den Gesetzen vom 22. Juli 1983, vom 25. Januar 1985 und vom 10. Juli 1989. Die Dezentralisierung verlief hierbei auf drei Ebenen: der "Delegierung von Entscheidungsgewalt vom Bildungsministerium auf seine regionalen Repräsentanten", der territorialen "Dezentralisierung auf der Ebene der Gebietskörperschaften" sowie der "Übertragung der Machtbefugnisse auf die Bildungsanstalten,,603. Während die beabsichtigte Integration des Privatschulwesens in das staatliche Schulsystems vollends am Widerstand der (katholischen) Bevölkerung scheiterte604 und durch Rücknahme des Gesetzentwurfes aufgegeben wurde 605 , wurde die Dezentralisierung ansatzweise in Angriff genommen, orientierte sich aber im Verlaufe der 80er Jahre zunehmend an den "inzwischen dringlicheren Fragen nach der Effektivität und dem Modemisierungsrückstand der Schulen,,606 und hat die Gestalt des französischen Bildungswesens nicht substantiell verändert607 . Das Erziehungsministerium schreibt auch weiterhin die Bildungspolitik, die Lehrziele, die Unterrichtsprogramme und die Nonnen für Diplomabschlüsse national ebenso einheitlich vor608 , ebenso die "Definierung und Kontrolle der Lehrpläne und Stundenzahlen ... , die Festlegung des Status der Verwaltung ... , des Lehr- und Verwaltungspersonals, die Auswahl und Verteilung der pädagogischen Ausstattung"609. Auch das französische Orientierungsgesetz zum Bildungswesen aus dem Jahre 1989610 (Loi d'orientation sur 16ducation) hat hieran substantiell nichts geändert. Dieses läßt die grundlegenden Strukturen des französischen Bildungswesens unangetastet und ist Grund-
603 Malan, Thierry, Reform der Schulverfassung in Frankreich. In: Füssel, HansPeterlLeschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die
Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 52. 604 Vor diesem Hintergrund haben in Frankreich in den 80er Jahre "Schulkämpfe" stattgefunden, die von einer Intensität waren, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland auf die Jahre der Studentenbewegung um 1968 beschränkt waren, und auf dessen Höhepunkt am 25. Juni 1984 mehr als eine Millionen Menschen in Paris gegen ein geplantes neues Unterrichtsgesetz demonstrierten. 60S Vgl. Mason, Peter, Independent Education, S. 20; Naymann, Eva, S. 141. 606 Nieser, Bruno, S. 14. 607 Mason, Peter, Independent Education, S. 18; s. hierzu auch Heidelberg, Gerhard, Dezentralisierung in Frankreich - Vom Lieblingskind zum Aschenputtel, EG Magazin 5/1991, S. 24, der als Beispiel für das Maß der Dezentralisierung die Befugnis der Gemeinden und Departements zur Organisation der Schultransporte (!) aufführt. 608 Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, Frankreich, S. 84. 609 Malan, Thierry, S. 53. 610 s. hierzu näher Leclercq, Jean-Michel, Das französische Orientierungsgesetz zum Bildungswesen v. 14.7.1989 (Loi d'orientation sur lectucation), Zeitschrift für Bildungsverwaltung 1989, S. 33 ff.
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lage der zentralen Lehrplanstruktur611 , versucht allerdings dem nationalen Curriculum durch die stärkere Berücksichtigung nichtkognitiver, praktischer Fähigkeiten und die Entwicklung einer europäischen Dimension im Unterricht im Sinne der Bildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere durch eine Förderung des Fremdsprachenunterrichts, innovative Momente zu geben. Ferner sieht das Gesetz eine stärkere Einbeziehung von Eltern, Schülern sowohl auf der Einzelschulebene als auch bei der nationalen Unterrichtsplanung durch die Anhörung eines ..Höheren Bildungsrates", dem auch Vertreter gesellschaftlicher Gruppen angehören, vor, um so eine höhere Akzeptanz der schulischen Bildung und einen gewissen Handlungsspielraum der Einzelschule zu erreichen 612 • Diese Dezentralisierungs- und Demokratisierungstendenzen sind jedoch im Vergleich zu anderen Ländern minimal ausgeprägt und allenfalls unter der besonderen Situation des französischen Zentralismus als Fortschritt anzusehen. So sieht das Bildungsrahmengesetz vom 10. Juli 1989 zwar für jede Schule in Konkretisierung der nationalen Bildungsrichtlinien eine ihrer spezifischen Situation entsprechende Ausarbeitung eines konkreten Bildungsprojekts mit einer eigenverantwortlichen Festlegung der Stundenpläne und Unterrichtsformen vor, an der sowohl Lehrer als auch Eltern zu beteiligen sind und welches vom Schulverwaltungsrat angenommen werden muß613 • Nach Art. 18 des Rahmengesetzes vom 14.7.1989 erstellen danach die Schulen ein spezifisches ..Schulprojekt", in welchem die Modalitäten zur Umsetzung der nationalen Bildungsziele und Lehrpläne dargelegt sind und die vorgesehenen schulischen und außerschulischen Aktivitäten aufgeführt werden, wobei die Mitglieder des Bildungsausschusses bei der Erstellung des Schulprojekts miteinzubeziehen sind und die Schulkonferenz in Absprache mit den pädagogisch Verantwortlichen die Entscheidungen im Hinblick auf die pädagogischen Aspekte des Projekts zu treffen hat614 • Doch werden zentral staatlich per Rundschreiben ..mit großer Genauigkeit sämtliche Bedingungen geregelt", die im Rahmen des jeweiligen Schulprojekts einzuhalten sind, so daß der Staat die volle pädagogische Kontrolle behält, zumal in Frankreich entgegen anderen europäischen Staaten die national verbindlichen Unterrichtsprogramme die pädagogische Arbeit inhaltlich soweit determinieren, daß selbst die Idee eines Curriculum mit der Festlegung lediglich allgemeiner Lehrziele nicht vorstellbar ist615 • 611 Hörner, Wolfgang, Frankreich. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 4. Aufl. WeinheimIBasel1996, S. 83 (86). 612 Leclercq, lean-Michel, Das französische Orientierungsgesetz, S. 27 ff.; s. a. Lemke, Dietrich, S. 115 f.; Malan, Thierry, S. 55. 613 Malan, Thierry, S.55; s. a. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 11; Burkard, ChristophlRoW. Hans-Günter, S. 222. 614 s. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 61. 615 Leclercq, lean-Michael, 11. Reform der Schulverfassung in Frankreich. In: Füssel, Hans-PeterlLeschinsky, Achim, Reform der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Die Krise des französischen Bildungssystems hat ihre Fortsetzung durch den Bericht der sog. Fauroux-Kommission gefunden, der im Jahre 1995 durch die Forderung nach einer radikalen Änderung des französischen Schulwesens unter den Stichworten Dezentralisierung und mehr Autonomie für die Einzelschule gekennzeichnet ist616 . Auch dieser Bericht belegt, daß der als Rechtfertigung für das zentralistische Bildungswesen herhaltende Grundsatz der Chancengleichheit im zentralistischen und unitaristischen französischen Bildungswesen keine Einlösung findet, und gipfelt in der Feststellung, daß die alten Prinzipien und Werte des zentralistischen Schulsystems nicht langer gültig sind617 • f) Die Bedeutung und Ausgestaltung der Schulaufsicht
Entsprechend der zentralstaatlichen Bildungsstruktur ist auch das staatliche Schulaufsichtssystem, welches auf drei Ebenen (staatlich, regional, lokal) wahrgenommen wird, nicht auf Beratung und Selbstentwicklung, sondern auf die Einhaltung der Lehrpläne und zentralstaatlichen Vorgaben ausgerichtet618 . Hierbei nimmt die staatliche Schulaufsicht die übergreifenden Funktionen im Bereich der Primar- und Sekundarbildung wahr, während die Aufsichtsbeamten die Aufsicht über die konkrete pädagogische Arbeit vor Ort führen, wobei die regionalen Beamten für den Sekundarbereich und die lokalen Beamten für den Primarbereich zuständig sind619 • Der Schulleiter ist im Rahmen des staatlichen Schulwesens "Vertreter der Nationalregierung auf Schulebene" und "ist mehr verantwortlich für die 'gestion' (Verwaltung) als für die Leitung in pädagogisch-didaktischem Sinne,,62o. Soweit Liket im Zuge der - sehr moderaten - Dezentralisierung des französischen Bildungswesens und der Einführung einer "Inspection Generale de vie scolaire" neben der separaten Fachinspektion Elemente einer Neuorientierung des (Selbst-)Verständnisses der Schulaufsicht in Annäherung etwa an das Verständnis der Funktion der Schulaufsicht in den Niederlanden sieht621 , kann diese Meinung angesichts der ungebrochenen etatistischen und unifonnierenden Struktur des französischen Bildungswesens nicht geteilt werden. In einer Gesamtwürdigung muß man zu dem Ergebnis kommen, daß es den französischen die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 62. 616 s. hierzu Fritz-Vannahme, JoachimlGsteiger, Fredy, Das Scheitern der Schule, DIE ZEIT 3/1997, S. 30. 617 Fritz-Vannahme, JoachimlGsteiger, Fredy, S. 30. 618 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 110, S. 116; Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (186 f.). 619 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 110, S. 116. 620 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (186). 621 Liket, Theo, Schulaufsicht, S. 185 (187).
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Reformbestrebungen weniger um eine Pluralisierung und Selbstverwaltung des Bildungswesens, sondern vielmehr um die Kompensation und Abmilderung defizitärer zentral staatlicher Strukturen unter Effizienzgesichtspunkten geht. Symptomatisch für den administrativen Charakter der französischen Schule ist auch die Stellung des Schulleiters. Dieser braucht keine Tätigkeit oder Vorbildung als Lehrer aufzuweisen und dementsprechend nicht zu unterrichten, sondern stellt einen eigenständigen "Verwaltungsberuf' dar, der einer speziellen Ausbildung unterliegt622 . Der Schulleiter ist für die Verwaltung des Sachund Personalhaushalts als Verwaltungsleiter zuständig und wird gemäß der zentralistischen Tradition Frankreichs ohne Einflußnahrnemöglichkeiten der lokalen oder schulischen Gremien bestellt623 • So gibt es zwar auch in Frankreich Tendenzen zur Dezentralisierung, um den Gebietskörperschaften finanzielle und organisatorische Angelegenheiten in Selbstverwaltung zu übertragen, doch ist der Grundsatz der pädagogischen Autonomie noch sehr rudimentär ausgeprägt. g) Mitwirkungsrechte der Eltern
Deutlich wird die etatistische Ausrichtung des staatlichen Schulsystems ungeachtet gewisser Dezentralisierungstendenzen auch an der Rolle der Eltern im Rahmen der Mitwirkung in der Schule, insbesondere über die Schulkonferenz. Während in dezentralisierten und liberalen Schulverfassungen wie in Dänemark oder England den Eltern echte Kontroll- und Mitgestaltungsrechte eingeräumt werden, beschränkt sich die Mitwirkung in Frankreich auf ein allgemeines Prinzip der gegenseitigen Information und Kooperation, ohne daß den Eltern ein wirkliches Mitspracherecht an der Gestaltung des Schulwesens oder die Gewährung sonstiger Einflußnahme garantiert würde624 • Hierbei war die Schule bis in die achtziger Jahre hinein noch ganz einem dem Rechtsstaatsprinzip und der Geltung von Rechten der Eltern und Schüler in der Schule entzogenen Denken verschrieben. So wurden erst mit dem Gutachten des französischen Staatsrates von 1989 Disziplinarmaßnahmen der Schulverwaltung einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich gemacht und erst im Jahre 1995 die Lehre vom Schulverhältnis als besonderem Gewaltverhältnis aufgegeben 625 und damit die Grundvoraussetzung für ein rechtsstaatliches Verständnis der Schulverfassung eröffnet. 622 s. hierzu La/ond, Andre, Die Ausbildung von Schulleitern in Frankreich, Pädagogisches Forum 1993, S. 222 ff. 623 s. hierzu auch Fuchs, Jochen, Das französische Bildungswesen, Schulmanagement 1994, S. 36 (41). 624 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 54. 625 Gromitsaris, Athanasios, S. 359 (370).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa h) Die Rechtsstellung von Schulen infreier Trägerschaft
Entgegen den Verfassungen der anderen europäischen Länder findet sich im Grundrechtsteil der französischen Verfassung in der Bezugnahme auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 das Grundrecht der Unterrichtsfreiheit nicht wieder. Lediglich in der Präambel wird das Schulwesen dergestalt erwähnt, daß die Nation dem Kind wie dem Erwachsenen gleichen Zugang zum Unterricht, zur Berufsausbildung und zur Bildung gewährt und die Organisation des öffentlichen, unentgeltlichen und weltlichen Unterrichts auf allen Stufen eine Pflicht des Staates ist. Die französische Verfassung schreibt insofern primär das Prinzip der Laizität an den staatlichen Schulen fest, ohne daß im Umkehrschluß hierzu geschlossen werden könnte, daß dies das Vorhandensein von nichtstaatlichem Unterricht und die staatliche Subvention dieses Unterrichts unter bestimmten gesetzlich geregelten Voraussetzungen ausschließt. Gleichwohl gehört das Prinzip der Freiheit der Erziehung zu den anerkannten Verfassungsgrundsätzen, wie der französische Verfassungsgerichtshof in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1977 dargelegt626 und wiederholt entschieden hat627 . Danach schließt die Präambel der Verfassung von 1946 mit ihrer Verpflichtung des Staates, ein unentgeltliches öffentliches säkularisiertes Schulwesen zu unterhalten, weder die Existenz nichtstaatlicher Schulen noch eine durch Gesetz geregelte Unterstützung solcher Schulen aus, vielmehr anerkennt der Verfassungsgerichtshof die Freiheit des Unterrichts als ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip. So geht der Verfassungsrat der französischen Republik in seinem Beschluß vom 23. November 1977 davon aus, daß das Prinzip der Freiheit der Erziehung im Sinne der Privatschulfreiheit einen wesentlichen Grundsatz darstellt, den die Gesetze der Republik anerkannt haben, den die Präambel der Verfassung von 1946 bestätigt und dem die Verfassung von 1958 Verfassungsrang verliehen hat628 . Dieser Grundsatz ist in ständiger Rechtsprechung durch den französischen Verfassungsgerichtshofs bestätigt worden, wonach dem Privatschulwesen das Recht auf die Ausgestaltung eigener Lehrinhalte zusteht und dem Grunde nach eine staatlich/kommunale Subventionspflicht für die Privatschulen besteht629 , die jedoch - wie im nachfolgenden näher darzulegen ist - inhaltlich erheblichen Einschränkungen unterliegt. Conseil Constitutionnel, Entscheidung v. 23. November 1977. s. hierzu de Winter, ReineriHeringa, Aalt Willem, Private Schools and State Intervention, Maastricht Journal 1994, S. 316 (317, 319); Mason, Peter, Independent Education, S. 18. 628 Mason, Peter, Independent Education, S. 18; Bericht des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments über die Freiheit der Erziehung in der Europäischen Gemeinschaft v. 24.2.1984, Dok 1-1456/83, PE 80100 endg., S. 42. 629 Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs v. 18. Januar 1985, zit. nach Naymann, Eva, S. 141. 626 627
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Der französische Verfassungsgerichtshof hat auch in seiner jüngsten Entscheidung630 zum Schulstreit in Frankreich aus dem Jahre 1994631 , nämlich zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer - für verfassungswidrig erklärten gesetzlichen - Neuregelung zur Erhöhung der Investitionszuschüsse für Privatschulen und die Gebietskörperschaften (Kommunen und Departements) an seiner grundsätzlichen Rechtsprechung festgehalten. Das Gericht erklärte darin die umfassende Ennächtigung der Gebietskörperschaften, nach eigenem Ennessen über die Bewilligung von Investitionszuschüssen in Höhe bis zu 100 % an Privatschulen mit Vertragsstufe jeder Art zu entscheiden, wegen mangelnder Garantien für die Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes und "nicht genügender Garantien, die es venneiden würden, daß die Privatschulen gegenüber den öffentlichen Schulen im Hinblick auf deren Belastungen und Aufgaben begünstigt werden,,632, für verfassungswidrig. Zugleich sanktionierte der Verfassungsgerichtshof den Grundsatz unterschiedlicher Bezuschussung von Privatschulen je nach ihrem Vertrags status mit dem Staat. Er begründete dies damit, daß die Freiheit des Unterrichtswesens zu den wichtigsten Grundsätzen der Gesetze der Republik gehört und sich daraus die Zulässigkeit finanzieller Hilfe zugunsten von Privatschulen ergibt, "deren Höhe (aber, F.-RJ.) von der Art und Bedeutung ihres Beitrags zum Unterrichtswesen abhängt,,633. Dieses Verfassungs verständnis rechtfertigt eine unterschiedliche Behandlung von Privatschulen je nach ihrem Vertragsstatus, der darauf begründet ist, inwieweit die Schule bereit ist, sich den Organisationsfonnen und Lehrinhalten des staatlichen Schulwesens anzupassen. Insofern wird der Umfang der Privatschulfinanzierung entgegen bundesdeutschem Grundrechtsverständnis nicht primär unter einem freiheitsrechtlichen Aspekt der Inanspruchnahme eines Bürgerrechts gesehen, als die "Privatschulfinanzierung ... nicht der Finanzierung der Privatschulfreiheit (dient), sondern der Erfüllung der öffentlichen Erziehungsaufgaben durch Private,,634. Diese Einschätzung ist insofern nicht widerspruchsfrei, weil das Privatschulwesen in Frankreich aufgrund der Laizität des staatlichen Schulwesens im wesentlichen als Sicherungsinstrument für die Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit, also einer explizit nicht staatlichen Aufgabe angesehen wird635 , findet aber in der Finanzierungspraxis ihre Entsprechung, als nämlich nur solche Schulen staatlich bezuschußt werden, die sich über einen Vertrag an den Staat binden. 630 Conseil Constitutionnel, Entscheidung v. 13. Januar 1994, Abdruck in RdJB 1994, S. 144 ff. 631 s. hierzu de Winter, Reiner/Heringa, Aalt Willern, S. 316 ff. 632 Verfassungsgerichtshof, RdJB 1994, S. 144 (146). 633 Verfassungsgerichtshof, S. 145. 634 Richter, Ingo, Die Erhaltung des Staatsmonopols, S. 142 (143). 635 Gromitsaris, Athanasios, S. 359 (370).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa (1) Die Bindung der Privatschulen an einen Vertrag mit dem Staat
Die Schulen können zwar erhebliche Subventionen erhalten, dies aber nur dann, wenn sie einen Vertrag unterzeichnet haben, in dem bestimmte Bedingungen hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung festgelegt werden 636 und der letztendlich die Anpassung an den staatlichen Lehrplan vorsieht. Dementsprechend hat es der Verfassungsgerichtshof auch in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1994 als verfassungsgemäß angesehenen, daß in dem ansonsten für verfassungswidrig erklärten Gesetz über die Gewährung von Investitionszuschüssen durch die Gebietskörperschaften die Gewährung derselben davon abhängig gemacht wurde, "daß die von den subventionierten Sekundarschulen mit Vertragsstatus angebotenen Ausbildungen mit den vom Lehrplan bestimmten Orientierungen übereinstimmen müssen,,637. Nach Art. 1 Abs. 2 des Loi Debrt~ Nr. 59 bis 1557 vom 31.12.1959 proklamiert und respektiert der Staat zwar die Freiheit im Bildungswesen und garantiert deren Ausübung in privaten Einrichtungen, die den gesetzlichen Vorschriften entsprechend unterhalten werden, gleichzeitig normiert das Gesetz jedoch Anforderungen an die Unterrichtsgestaltung als Voraussetzung für Subventionsansprüche, die indirekt im Vergleich mit staatlichen Schulen auf eine Gleichartigkeit der Schulen in freier Trägerschaft, die damit letztlich nur in der Rechtsträgerschaft dieses Kriterium erfüllen, hinauslaufen. Die Grundintention durchzieht das ganze Gesetz, und dementsprechend sieht Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes vor, daß die privaten Schulen die Integration in das öffentliche Schulwesen beantragen können. Das Loi Debn! sieht danach verschiedene Kategorien von Privatschulen vor. Zum einen die per Vertrag "assoziierten" Privatschulen gern. Art. 4 des Gesetzes, die nach einer mindestens fünfjährigen Bewährungsphase, in der kein Anspruch auf Subventionen besteht, an der Erfüllung der staatlichen Unterrichtspflicht beteiligt werden. Um einen Assoziationsvertrag zu erhalten, muß die Schule einem von der Unterrichtsverwaltung anerkannten Bedarf entsprechen, bei dessen Feststellung insbesondere der spezifische, insbesondere religiöse Charakter der Schule in Betracht gezogen wird 638 • Der Unterricht an diesen assoziierten Schulen muß dann gemäß den Vorschriften und Programmen des staatlichen Unterrichts erteilt werden. Als "Gegenleistung" werden die Lehrer vom Staat besoldet, und der Staat übernimmt gern. Art. 4 Abs. 3 des Gesetzes Guermeur vom 27. November 1977 die laufenden Betriebskosten der solchermaßen assoziierten Schulen einschließlich des Lehrmaterials entsprechend den Kosten der entsprechenden staatlichen Schulen. Die weitgehende Entsprechung Eurydice (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens, Frankreich, S. 85. Verfassungsgerichtshof, S. 144 (146). 638 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 42.
636 637
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des staatlichen und des über den Assoziationsvertrag staatlich subventionierten Unterrichts zeigt sich auch darin, daß Lehrer keine wirkliche pädagogische Freiheit genießen 639 . Ihr Status entspricht dem eines Staatsbediensteten ohne Beamtenverhältnis64o, und sie werden von der zuständigen Unterrichtsbehörde nach Absprache mit der Schulleitung ernannt. Voraussetzung für den Abschluß eines Assoziationsvertrags ist die behördliche Anerkennung eines "anerkannten schulischen Bedürfnisses,,641. Ein solcher Assoziationsvertrag gilt auf unbestimmte Zeit und kann sowohl mit Primarschulen als auch Sekundarschulen geschlossen werden. An Schulen mit Assoziationsvertrag darf kein Schulgeld erhoben werden. Im Primarschulbereich übernimmt die Gemeinde die laufenden Betriebskosten, bei Sekundarschulen die Departements für die Colleges bzw. die Regionen für die Lycees. Die Zuschüsse werden als Pro-Schüler-KopfZuschüsse pauschal gewährt und nach den Zuschüssen der vergleichbaren staatlichen Schule berechnet. Für Investitionskosten zum Kauf, Bau oder der Ausstattung von Schulgebäuden können die Schulen Darlehenssicherungen seitens der Gemeinden 642 oder maximal 10 % der Kosten als Zuschüsse erhalten. Nach einer von der konservativen Regierung angestrebten Novellierung der entsprechenden gesetzlichen Regelung im Jahre 1994, sollte es den Gemeinden freistehen, die Gründung nichtstaatlicher Schulen im Bereich der Baukosten umfassend zu subventionieren 643 . Dieses Anliegen wurde nach erbittertem bi 1dungspolitischem Widerstand durch eine Beschwerde beim Verfassungsrat als eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes für verfassungswidrig erklärt. Daneben gibt es die Privatschulen, die gern. Art. 5 des Gesetzes einen "einfachen" Vertrag mit dem Staat schließen. Die mit einem einfachen Vertrag an den Staat gebundenen Privatschulen unterliegen hinsichtlich der Unterrichtsinhalte und der pädagogischen Konzeption sowie den Finanzen der staatlichen Überwachung. Der Staat übernimmt bei diesen Schulen die Besoldung der Lehrer, die sonstigen Betriebskosten müssen vom Schulträger, also i.d.R. über Schulgelder der Eltern getragen werden. Allerdings können die Gemeinden einen Teil dieser Kosten erstatten644 oder es können staatliche Zuschüsse gewährt werden 645 , so daß die von den Eltern zu tragenden laufenden Kosten in
639
(507).
Leenknegt, Gert-Jan, Schulrecht in vergleichender Hinsicht, RdJB 1996, S.503
640 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 43; insofern irrt Leenknegt, Gert-Jan, S. 507, wonach die Lehrer Beamte seien. 641 s. hierzu näher Europäisches Parlament, Sitzungsdokument 1-1456/83, S.46; Mason, Peter, Independent Education, S. 19. 642 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 42. 643 s. DER SPIEGEL, 31/1993, S. 122 "Auf den Barrikaden". 644 Dekret v. 22. April 1960; s. Mason, Peter, Independent Education, S. 19. 645 Dekret Nr. 65-335 v. 30. April 1965.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
zunehmendem Maße geringer geworden sind646 • Der Abschluß des einfachen Vertrages und die Gewährung der Zuschüsse setzen allerdings im Regelfall voraus, daß die Schule seit mindestens fünf Jahren existiert647 • Die Finanzierung der Lehrergehälter muß eine Reduzierung des Schulgeldes zur Folge haben648 . Schulen, die unter Vertrag stehen, können gleichwohl eine geringe Gebühr zur Ergänzung der staatlichen Zuschüsse für besondere Angebote der Schule erheben649 • Einfache Verträge gelten nur für den Primarschulbereich und werden für mindestens drei Jahre getroffen. Auch die Schulen unter einfachem Vertrag können im gleichen Umfang wie die Schulen mit Assoziationsvertrag Zuschüsse zu Investitionskosten erhalten. Lehrer an Schulen mit einfachem Vertrag haben den Status von privatrechtlichen Angestellten und unterliegen den arbeitsrechtlichen bzw. tarifrechtlichen Regelungen 65o . Die Höhe der Bezuschussung der unter Vertrag stehenden Schulen regelt sich nach dem Finanzierungsgesetz Nr. 84-1208 vom 29. Dezember 1984 über den "Beitrag zum Betrieb und zu den Personalkosten in privaten Schuleinrichtungen unter Vertrag". Danach wird die Höhe der Zuschüsse gern. Art. 119 Abs. 1 jährlich durch das Finanzierungsgesetz festgelegt, wobei sich der Betrag nach der Zahl der Schüler, dem Bildungsangebot in den öffentlichen Schulen und den unter Vertrag stehenden Klassen richtet und etwaige demographische, soziale oder sprachliche Besonderheiten berücksichtigen muß. Das Finanzierungsgesetz legt dabei gern. Abs. 2 Nr. 1 den vom Staat zu tragenden Teil der pädagogischen Ausgaben fest und nach Nr. 2 die Gesamtsumme des Pauschalbeitrages des Staates zum Unterhalt für die unter Vertrag stehenden Klassen. Dieser Beitrag pro Schüler und pro Jahr berechnet sich nach den gleichen Kriterien wie für die entsprechenden Klassen im öffentlichen Schulwesen. Daneben gibt es Schulen ohne Vertrag, die von den staatlichen Lehrplänen abweichen und die weder staatliche Zuschüsse zu den laufenden Kosten noch zu den Investitionskosten erhalten. Den Gemeinden ist es verwehrt, die laufenden Betriebskosten für Primarschulen ohne Vertrag auch nur teilweise zu übernehmen. Dagegen hat es der Staatsrat für zulässig angesehen, daß die Gebietskörperschaften Sekundarschulen Finanzhilfen gewähren 651 • Sekundarschulen und technische Schulen ohne vertragliche Bindungen können Finanzhilfen von den Gebietskörperschaften erhalten, sofern eine entsprechende Vereinbarung auf kommunaler Ebene getroffen wird. Die Einstellung von Lehrern an Schulen Mason, Peter, Independent Education, S. 19. Mason, Peter, Independent Education, S. 19. 648 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 42. 649 Mason, Peter, Independent Education, S. 20. 650 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 43. 651 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 42. 646 647
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ohne Vertrag bedarf der Zustimmung der Unterrichtsverwaltung und entspricht einem privatrechtlichem Arbeitsverhältnis652 • Das entscheidende Anpassungsmoment von privaten Schulen an das staatliche Schulsystem durch die Verbindung des Vertrages zwischen Staat und Schulträger und der Gewährung von Subventionen, die sich auf einzelne oder alle Klassen erstrecken kann, liegt vor allem darin, daß sich die Schulen, die einen Vertrag unterzeichnen, gern. Art. 1 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 59-1557 der Aufsicht des Staates unterwerfen und dies die pädagogische und finanzielle Kontrolle des Staates zur Folge hat. Während die Schulen mit einem Assoziierungsvertrag in bezug auf die Lehrpläne und Stundentafeln den Vorschriften für das staatliche Schulwesen im Sinne einer Gleichartigkeit zu entsprechen haben, müssen die Schulen mit einfachem Vertrag sich an diesem "ausrichten". Schulen ohne Vertrag müssen dagegen nur die Schulpflicht und die für die jeweilige Schulart spezifischen Bestimmungen entsprechend ihrer Genehmigung einhalten 653 . Die Gewährung schulischer Vielfalt im Sinne pädagogischer Vielfalt und Autonomie ist danach den Schulen in freier Trägerschaft zum Teil nur um den Preis der Nichtsubventionierung möglich. In diesem Falle der dritten Kategorie von Privatschulen, nämlich solchen, die nicht per Vertrag an den Staat gebunden sind, beschränkt sich nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 59-1557 die Aufsicht des Staates über die Einrichtungen des privaten Schulwesens auf die Kontrolle der Ausbildungsabschlüsse der Lehrer und des Direktors, die Respektierung der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten sowie auf die Einhaltung der gesundheitlichen und sozialen Schutzvorschriften. Deutlich wird dies auch in dem durch Gesetz Nr. 71-400 vom 1.6.1971 ergänzten Art. 5 bi ', wonach die schulische und berufliche Orientierung der Schüler der Einrichtungen, die einen Vertrag mit dem Staat abgeschlossen haben, nach den Grundsätzen sichergestellt wird, die in Übereinstimmung mit den Zielen des öffentlichen Schulwesens liegen, die per Dekret festzusetzen sind. Diese Dekrete legen nach Abs. 2 der Vorschrift insbesondere die Bedingungen und Fristen fest, nach denen und innerhalb derer die Strukturen der mit Vertrag an den Staat gebundenen Einrichtungen gewährleistet sein müssen. So legt Art. 2 Abs. 2 des Dekrets Nr. 60-390 vom 22. April 1960, geändert durch Dekret Nr. 70-794 vom 9. September 1970, fest, daß die Einrichtungen, die mit dem Staat einen einfachen Vertrag abgeschlossen haben, auf die amtlichen Prüfungen vorbereiten müssen, Lehrbücher zu benutzen haben, die vom Erziehungsministerium nicht verboten sind, und den Unterricht in den Grundfächern nach den Programmen und allgemeinen Regeln gestalten müssen, die für den 652 653
Eurydice (Hrsg.), Fonnen und Status, S. 44. Eurydice (Hrsg.), Fonnen und Status, S. 43.
20 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
öffentlichen Schulsektor gelten. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift muß die Gestaltung des Unterrichts nach einem von der Behörde zu genehmigenden Plan erfolgen. Allerdings können nach Art. 5 Experimente im Bereich pädagogischer Forschung im öffentlichen wie im privaten Schulbereich nach per Dekret abweichenden Bedingungen stattfinden. Maßgeblich ist insoweit aber allein ein staatliches Interesse der Unterrichtsverwaltung an der Erprobung neuer Unterrichtsformen, ohne daß es sich um die Gewährleistung pädagogischer Autonomie oder Freiheit handelt. Die Schulen ohne Vertrag dürfen, wie die meisten anderen Privatschulen auch, keine Berechtigungen vergeben, sondern können nur auf staatliche Prüfungen vorbereiten. (2) Privatschulwesen und Schul vielfalt
Dem Privatschulwesen kommt in Frankreich zwar eine wichtige Rolle zu, und es besuchen insgesamt 17,2 % aller Kinder, davon knapp 15 % im Primarschulbereich und 21 % der Schüler im Sekundarbereich, Privatschulen654 • Hierbei besteht in Frankreich die Besonderheit, daß im Bereich der oberen Sekundarstufe ca. 22 % aller Schüler Privatschulen besuchen, diese dabei aber einen Anteil von 45 % der gesamten Schulen stellen, was jedoch nicht darauf beruht, daß an diesen Schulen im Vergleich zum staatlichen Schulsystem deutlich günstigere Schüler-Lehrer-Relationen herrschen, sondern die durchschnittliche Schulgröße der Privatschulen bei deutlich höherer Schüler-Lehrer-Relation im Vergleich zu den staatlichen Schulen wesentlich niedriger ist655 • Diese starke Stellung der nichtstaatlichen Schulen hat jedoch in Frankreich weder zu einer pädagogischen Schulvielfalt geführt, noch substantielle Handlungsräume für reformpädagogische oder alternative Schulkonzeptionen eröffnet. So besuchen 95 % der Schüler von Privatschulen katholische Schulen656 • Der weitaus überwiegende Teil der Schüler an Privatschulen besucht Schulen mit Vertrag. Im Schuljahr 1989/90 besuchten im Primarbereich 98,5 % und im Sekundarbereich 94,6 % eine vertraglich gebundene Schule, wobei der Anteil in der Abschlußklasse der 12. Jahrgangsstufe bei 11,2 % und damit deutlich über den sonstigen Werten lag 657 • Die nichtkonfessionellen, nichtsubventionier654 List, Juliane, Private Bildungsinitiativen imAusland. In: Schlaffke, Winfried/Weiß, Reinhold, Private Bildung - Herausforderung für das öffentliche Bildungsmonopol. Köln 1996, S. 228; für das Jahr 1994; ähnliche Angaben, wenn auch etwas niedriger bei Mason, Peter, Independent Education, S. 19; Teese, Richard, France: Catholic schools, class security, and the public sector. In: Walford, Geoffrey, Private schools in ten countries - policy and practice. LondonlNew York 1989, S. 133. 655 Vgl. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 28. 656 Mason, Peter, Independent Education, S. 20. 657 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 45.
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ten Schulen umfassen in Frankreich ca. 2.000 Einrichtungen, wobei allerdings nur ein Teil allgemeinbildende Schulen im Sinne der Ersatzschulen nach bundesdeutschem Verständnis umfaßt. Das Spektrum dieser Schulen reicht von Waldorfschulen über leistungs- und gewinnorientierte "chrash courses" bis hin zu Gymnastik- und Tanzschulen658 , letztere also Ergänzungsschulen nach bundesdeutschem Recht. Reformpädagogische Schulen spielen im französischen Privatschulwesen nur eine marginale Rolle659 . Gleichwohl haben sich die verschiedenen reformpädagogischen Strömungen durchaus in Frankreich - wenn auch prozentual in sehr geringer Zahl - etabliert. So gibt es in Frankreich nur 10 Rudolf-Steiner-Schulen (Waldorfschulen)66o, wobei 8 Schulen zu den 4 % der Schulen gehören, die keinerlei Subventionen erhalten661 . Dies hat nicht nur die Konsequenz, daß Schul gründungen - wenn überhaupt - nur unter sehr erschwerten Bedingungen und aufgrund des zu erhebenden Schulgeldes als wenn auch ungewollt - sozial elitäre Schulen erfolgen, sondern bestehende Schulen sind in ihrer Existenz bedroht, wenn ihnen neben den zu 100 % zu erbringenden Personal- und Sachbetriebskosten nicht die Mittel zur Verfügung stehen, die notwendigen baulichen Instandhaltungskosten für die Schulräume aufzubringen. So wurde aus diesem Grunde eine (im vorliegenden Fall vorübergehende) Schließung einer Schule angeordnet662 . Demgegenüber nehmen die Montessorischulen, von denen es ca. 40 in Frankreich gibt, als reformpädagogische Schulen in Frankreich im Vergleich mit den Rudolf-Steiner-Schulen eine privilegierte Stellung ein. Diese stehen unter Vertrag, "teilen mit ihren katholischen Kollegen die Vorteile und Nachteile des staatlichen Vertrages" und ziehen vor allem solche Eltern an, die sich nicht den konfessionellen Schulen zuordnen wollen 663 • Neben den Waldorf- und Montessorischulen existiert eine Reihe von Alternativschulen, die zumindest teilweise per Vertrag Zuschüsse erhalten. Diese arbeiten oftmals in Anlehnung an die Freinetpädagogik. Hierbei ist unter dem Aspekt von Schul vielfalt zu beachten, daß die Freinetpädagogik sowohl in freien Alternativschulen, als auch in einzelnen Klassen der staatlichen Schulen Eingang gefunden hat. Trotz des hohen Anteils an islamischer Bevölkerung gibt es in Frankreich keine islamischen Privatschulen.
Mason, Peter, Independent Education, S. 21 f. Teese, Richard, S. 133 (137). 660 Mason, Peter, Independent Education, S. 22. 661 Mason, Peter, Independent Education, S. 20. 662 So geschehen im Falle der Ecole Rudolf Steiner in Saint Menoux, s. Maurer, Mathias, Ausländische Waldorfschulen in Not, Erziehungskunst 1995, S. 1083. 663 Mason, Peter, Independent Education, S. 21. 658 659
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Die katholischen Privatschulen unterrichten größtenteils nach demselben Lehrplan wie staatliche Schulen664 , so daß die Fragen pädagogischer Autonomie und Vielfalt vor dem Hintergrund ideologischer Auseinandersetzungen aus dem Gesichtsfeld rücken. Obwohl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern der Selbstgestaltungsbereich von Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft in Frankreich - sofern sie staatliche Zuschüsse erhalten wollen - geringer ist als in anderen Ländern, liegen die Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der Entscheidungen zur Bildungsplanung und Bildungsstruktur sowie zum Personalmanagement, zur Unterrichtsorganisation sowie zur Verwendung der Ressourcen mit 66 % noch deutlich höher als an staatlichen Schulen (35 %)665. Ein Selbstentfaltungsrecht des Schulträgers in der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts ist über die Rechtsstellung der Lehrkräfte rechtlich dergestalt garantiert, daß nach der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel die Lehrer von Privatschulen nicht einem umfassenden Neutralitätsgebot wie Lehrer an staatlichen Schulen unterliegen. Gleichwohl sind auch sie - wenn auch nicht zur Neutralität so doch - zur Zurückhaltung verpflichtet und sind nach dem Loi Debn! gehalten, die Gewissensfreiheit der Schüler zu achten 666 . Dieses Mäßigungsgebot ist allerdings noch nicht dann verletzt, wenn der Lehrer seine weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen zum Ausdruck bringt und damit über die für staatliche Lehrer bestehende Neutralitätspflicht hinausgeht. Hiermit korrespondiert nach der Rechtsprechung des französischen Verfassungsgerichtshofs die Verpflichtung der Lehrer, den besonderen Charakter einer Schule zu respektieren. Insoweit ist es zulässig, die pädagogische Freiheit des einzelnen Lehrers zu begrenzen, solange die Gewissensfreiheit des Lehrers hiervon nicht tangiert wird. Von einem Lehrer kann verlangt werden, daß er keine Äußerungen von sich gibt, die im Widerspruch zum Ethos der Schule stehen, auf der anderen Seite kann aber nicht verlangt werden, daß er sich entgegen seiner eigenen Überzeugung im Sinne des besonderen weltanschaulichen oder religiösen Ethos einer Schule äußert667 • Dies betrifft insbesondere religiöse Schulen. Dieser Wohlverhaltenspflicht der Lehrer entspricht die Pflicht der Schüler an religiösen Schulen, keine Kleidung oder Symbole zu tragen, die im Wider-
664 Teese, Richard, S. 144; so standen 1981 21,4 % der katholischen Grundschulen unter einem Assoziationsvertrag, 78,1 % unter einem einfachen Vertrag und nur 0,4 % hatten keinen Vertrag geschlossen; zudem standen 98 % der katholischen Oberschulen unter einem Assoziationsvertrag, s. Europäisches Parlament, Sitzungsdokument 1-
1456/83, S. 47.
OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität, zit. nach Glenn, Charles, S. 322 (339). Gromitsaris, Athanasios, S. 370. 667 Glenn, Charles, S. 322 (334). 665
666
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Frankreich
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spruch zu dem besonderen Charakter oder dem Anliegen der Schule stehen668 • Gleichwohl sind z.B. katholische Schulen oftmals toleranter als staatliche, wenn es um die Rechte islamischer Schülerinnen, die verschleiert dem Unterricht beiwohnen wollen, geht. Insofern unterscheidet sich auch hier die Stellung der Schüler gegenüber der staatlichen Schule. Die gesamte Schulbildung ist auch im nichtstaatlichen Sektor noch stärker als in der Bundesrepublik Deutschland akademisch-intellektuell im Sinne abstrakt-standardisierten Wissens bei gleichzeitiger Abwertung praktisch-sinnlicher Lernvorgänge ausgerichtet669 , was unschwer erklären läßt, weshalb reformpädagogische und alternative Schulkonzeptionen innerhalb dieses zentralistischen Bildungswesens kaum Entfaltungsmöglichkeiten finden. Die inhaltliche Determinierung der pädagogischen Arbeit durch den Staat findet ihre Entsprechung in der Finanzierung der privaten Schulen. Zudem wird auf die nicht per Vertrag an den Staat gebundenen Schulen ein starker Anpassungsdruck ausgeübt, weil die Schulabschlüsse von den Schülern an privaten und staatlichen Schulen nach dem gleichen Verfahren erworben werden 670 und sich auch die formal nicht per Vertrag an die Inhalte des staatlichen Schulsystems gebundenen Schulen so indirekt an dieses anpassen müssen. i) Minderheitenschutz im Bildungswesen
Der Schutz der sprachlich-kulturellen Minderheiten wurde zunächst durch das Gesetz Deixonne vom 11. Januar 1951 dergestalt gewährleistet, daß gern. Art. 10 i.V.m. Art. 2 dieses Gesetzes der bretonischen, baskischen, katalanischen und okzitanischen Minderheit das Studium der lokalen Sprachen und Dialekte ermöglicht werden sollte, welches per Dekret Nr. 74-33 vom 16. Januar 1974 auch auf das korsische Sprachgebiet erstreckt wurde671 • Das neue Schulgesetz von 1989 bestätigt in Art. 1 Abs. 4 den Grundsatz, daß Unterricht über regionale Sprachen und Kulturen während der gesamten Schulzeit erteilt werden kann. Damit enthält das Gesetz keinen einklagbaren Anspruch auf einen zweisprachigen Unterricht, so daß etwa im Baskenland im Jahre 1985 die Mehrzahl der Schulen (75 % der staatlichen) keinen Unterricht in Baskisch angeboten haben und nur ca. 5.000 Schüler an staatlichen Schulen an einem fakultativen Baskischunterricht teilgenommen haben. Höher dagegen war der Anteil der Privatschulen, die Baskisch angeboten haben 672 • 668 669
Glenn, Charles, S. 322 (337). Pfeffer, Gottfried, S. 236 f.
Europäisches Parlament, Sitzungsdokument 1-1456/83, S. 48. Polakiewicz, Jörg, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Frankreich. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. 1, S. 126 (146 f.) 672 Polakiewicz, Jörg, S. 126 (150 f.). 670
671
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa j) Die zentralistische Starrheit des Bildungswesens
Das französische Bildungswesen ist ein staatsorientiertes, kommunitaristisch geprägtes Schulsystem, welches durch die Idee einer national-staatlichen Einheitserziehung geprägt ist. Innerhalb dessen gibt es zwar einen erheblichen Anteil nichtstaatlicher Träger. Gleichwohl ist es von einer bürgerschaftlichen Schulverfassung weit entfernt, weil Schulpluralismus weder im staatlichen noch im nichtstaatlichen Schulwesen anerkannt ist. Der Streit um die RechtssteIlung von Privatschulen und das zentralistische Bildungssystem in Frankreich ist primär ein immer noch fortwährender Diskurs über die Säkularisierung des Schulwesens insgesamt und von daher ideologisch stark determiniert673 . Hierbei verhindern sowohl die starke und prägende Stellung der katholischen Schulen674 als auch die soziale Selektivitätsfunktion der unterschiedlichen Kategorien von Schulen675 reformpädagogische Ansätze, zumal es der katholischen Kirche primär um die weltanschauliche Einflußnahme im Schulwesen und weniger um eine Abweichung vom zentralen Curriculum geht. Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung erhalten keine oder nur geringe Zuschüsse. Das französische Bildungssystem zeigt darüber hinaus unter dem Aspekt des vielfach in Frage gestellten Korrespondenzverhältnisses von Schulvielfalt und Chancengleichheit im Umkehrschluß deutlich, daß ein zentralistisches, von einer einheitlichen Bildungsstruktur geprägtes Schulwesen, in welchem trotz eines Gesamtschulsystems "weiterhin die formale Gleichheit vor dem Anspruch der Freiheit und Brüderlichkeit rangiert und das durchaus starke Züge einer verwalteten Schule zeigt,,676, keinesfalls Garant für die Verwirklichung von Chancengleichheit und sozialer Durchlässigkeit im Bildungswesen ist677 . Diese Analyse deckt sich mit den Ergebnissen der Bildungsforschungen anderer Länder, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, wo ebenfalls durch die Bildungsreformen der 70er Jahre in ihrer Beschränkung auf formalstrukturelle Elemente relativ keine substantielle Erhöhung der sozialen Durchlässigkeit und Chancengleichheit erreicht worden ist678 . In diesem Kontext ist es signifikant, daß gerade das französische Bildungssystem als durch die Kriterien selektiv,
Vgl. Mason, Peter, Independent Education, S. 22; Pfeffer, Gottfried, S. 249. Teese, Richard, S. 134, S. 136 f. 675 Teese, Richard, S. 139; s. a. Mason, Peter, Independent Education, S. 20, wonach Schüler an nichtsubventionierten Schulen bis zu 30.000 Franc pro Jahr zahlen müssen. 676 Czerwenka, Kurt, S. 849 (866). 677 Czerwenka, Kurt, S. 849 (854, 866). 678 s. Leschinsky, Achim, Schultheorie und Schulverfassung. In: Füssel, HansPeter/Leschinsky, Achim, Refonn der Schulverfassung - Wieviel Freiheit braucht die Schule? Wieviel Freiheit verträgt die Schule, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Berlin 1991 (Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 40), S. 19 f. 673
674
VII. Zentralistisch-etatistische Schul verfassungen: Italien
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elitär und harter Konkurrenzdruck gekennzeichnet gilt679, bei dem die ,,Aussortierten ... dann meist die Kinder sozial-benachteiligter Eltern (sind),,68o. Dementsprechend blieb und bleibt in Frankreich die innere Schulreform weit hinter der äußeren zurück und beherrschen Frontalunterricht, Disziplinierung und ein stark kognitiv-naturwissenschaftlich ausgeprägter Unterricht das Schulleben681 . Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß selbst der Einfluß reformpädagogischer Ideen, soweit er sich nach dem 1. Weltkrieg wie überall in Europa bemerkbar machte, wesentlich stärker "von instrumenteller Rationalität gekennzeichnet ist als in Deutschland" und auch ein Bildungsideal Humboldtscher Prägung "in Frankreich kein Pendant" kennt682 . 2. Schulverfassung in Italien
a) Die zentralstaatlichen Strukturen des Bildungswesens Die italienische Schulverfassung ist in ihrer romanischen Tradition ähnlich etatistisch und zentralistisch ausgerichtet, wie es für die französische noch heute und die spanische zumindest vor den jüngsten Entwicklungen im Zuge der Autonomiebestrebungen der spanischen Regionen charakteristisch ist. Während im 19. Jahrhundert die Schulen eine Angelegenheit der Kommunen, denen oft die finanziellen Mittel für eine ausreichende Ausstattung fehlten, waren, übernahm der Zentralstaat mit dem Schulgesetz von 1911 die Finanzierung und Verwaltung der Primarschulen. Gleichzeitig wurden mit dem Schulgesetz von 1911 die Privatschulen der staatlichen Aufsicht unterstellt683 . Das Bildungswesen ist so noch bis heute Bestandteil der zentralistischen Staatsverwaltung, wie sie traditionell allgemein für die romanischen Länder kennzeichnend ist. Dementsprechend verfügen die Regionen über keine nennenswerten Kompetenzen im Bildungswesen, sofern sie nicht ein Sonderstatut haben. Dies betrifft die Regionen Aostatal, Frial-Julisch-Venetien, Sardinien, Sizilien und TrientSüdtirol, die mit dem Sonderstatut der besonderen Minderheitenproblematik Rechnung tragen. Ähnlich wie in Spanien gewinnen auch hier die kulturellethnischen Minderheiten ihre kulturelle Selbstbestimmung zurück. So wurde Südtirol nach einer langjährigen Phase der Assimilierungspolitik in den letzten Jahren kulturell und bildungspolitisch ein Eigenleben gewährt684 . Seinen Auss. Czerwenka, Kurt, S. 849 (853, 857). Czerwenka, Kurt, S. 849 (854). 681 Czerwenka, Kurt, S. 849 (854 f.). 682 Czerwenka, Kurt, S. 849 (863). 683 Brin/anann, Günter, Niederlande, S. 109 (110). 684 Vgl. Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Dannstadt 1993, S. 13. 679
680
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
druck findet dies in den gegenüber den "gewöhnlichen Regionen" mit besonderen Hoheitsbefugnissen ausgestatteten "Regionen mit Sonderautonomie" , denen teilweise ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen für einzelne Bereiche übertragen wurden, wobei sich diese je nach Statut von Region zu Region unterschieden 685 . Insofern ist zu berücksichtigen, daß Italien in seinem verfassungsrechtlich verankerten "institutionellen Pluralismus,,686 ungeachtet der zentralstaatlichen Rahmenvorgaben in Art. 117 der Italienischen Verfassung (ltal. Verf.) den Regionen in den Grenzen der von den Staatsgesetzen festgelegten Grundsätze und unter der Voraussetzung, daß sie nicht im Widerspruch zum Wohle der Nation und anderer Regionen stehen, das Recht eigener Gesetzgebung zur Förderung des Schulwesens gewährt687 . Gleichwohl bleibt strukturell festzustellen, daß die Leitentscheidungen für das Bildungswesen entweder durch Gesetzesregelungen des Parlaments oder durch Verordnungen des Bildungsministeriums zentral getroffen werden und in allen Regionen und Provinzen allgemeinverbindlich und dementsprechend durch die örtlichen Behörden umzusetzen sind. Selbst die dezentralen staatlichen Untergliederungen der Bildungsverwaltungen auf den Ebenen der Regionen und Provinzen sind so weisungsgebunden in die Hierarchie des zentralen Ministeriums für das öffentliche Bildungswesen (MPI - Ministerio della Publica Istruzione) eingebunden und auf die Implementation und Überwachung der zentralstaatlichen Vorgaben beschränkt. Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland sind danach die kommunalen Befugnisse primär auf die äußeren Schulangelegenheiten, d.h., die Unterhaltung und Bereitstellung der Schulgebäude, einschließlich der Bezahlung des nichtpädagogischen Personals, beschränkt688 . Der italienische Regionalismus, der durch 20 Regionen geprägt ist, impliziert danach keine regionale Bildungshoheit im Sinne der Kulturhoheit der deutschen Bundesländer, sondern das Ministerium benennt für jede einzelne Region einen Aufsichtsbeamten, dem insbesondere die Koordination zwischen der zentralen und regionalen Bildungspolitik und -verwaltung obliegt689 . Innerhalb dieser Regionen, die in verschiedene Provinzen unterteilt sind, leiten Provinzialdirektoren die örtliche Bildungsverwaltung, wobei ihnen eine bedeutende Rolle für die Einhaltung der Gesetze und Regelungen für die privaten und
685 Elia, Leopoldo/Volterra, EdoardolLa pergola, Anotonio, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich in Italien, EuGRZ 1981, S. 647 (649). 686 Elia, LeopoldolVolterra, EdoardolLa pergola, Anotonio, S. 647 (649). 687 s. hierzu am Beispiel des 1972 in Kraft getretenen Autonomiestatuts für Südtirol die Darlegung der Kompetenzaufteilung und -zuständigkeiten in Deutsches Schulamt, Autonome Provinz Bozen - Südtirol, Die Schule in Südtirol. Bozen 1992, S. 15 f., 57 ff. 688 Hopes, Clive, School Inspectorates in the Member States of the European Community - Italy. FrankfurtlM. 1991, S. 18 f. (55 f). 689 Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., Italien, S. 123 (125 f.).
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Italien
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öffentlichen Bildungseinrichtungen im Primar- und Sekundarbereich zugeschrieben wird690 • b) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bildungswesens
Die zentralistische Grundorientierung findet sich in den das Schulwesen betreffenden Regelungen des Art. 33 Ital. Verf. Gemäß Art. 33 Abs.2 setzt die Republik die allgemeinen Normen für den Unterricht, und errichtet staatliche Schulen aller Arten und Stufen, garantiert in Abs. 3 das Recht, nichtstaatliche Schulen und Erziehungsanstalten zu gründen, und regelt das Berechtigungswesen gern. Abs. 5 durch Staatsprüfungen. Wie in allen zentralistisch-etatistisch orientierten Schul verfassungen wird auch die Italienische Verfassung von dem Impetus der Ermöglichung von Chancengleichheit getragen, der in Art. 34 Ital. Verf. deutlich zum Ausdruck kommt. Artikel 34 Ital. Verf. proklamiert in Abs. 1, daß die Schule jedermann offensteht, und in Abs. 2, daß die mindestens achtjährige Teilnahme am Grundschulunterricht obligatorisch und unentgeltlich ist und die begabten und verdienstvollen Schüler das Recht haben, die höchsten Studiengrade zu erreichen, auch wenn sie mittellos sind. Die Republik verhilft diesem Recht zur Wirkung durch Stipendien, Familienbeihilfen und sonstige Unterstützungen, die aufgrund von Ausscheidungswettbewerben zugesprochen werden. Bei alledem ist zu beachten, daß durch das Gesetz 517/1977 bis einschließlich der achten Klasse, also der Mittelschule, die Benotung durch Ziffernzeugnisse durch Berichtszeugnisse ersetzt wurde691 , so daß angesichts des achtjährigen Gesamtschulverbundes der nichtselektive, auf Chancengleichheit gerichtete Verfassungsanspruch auch strukturell umgesetzt wurde. Die verfassungsrechtliche Verankerung des aus dem Recht auf Bildung fließenden Grundsatzes der Chancengleichheit692 gewährt jedoch keine einklagbaren individuellen Leistungsansprüche auf bestimmte Leistungen, gleichwohl können aber im Rahmen bestehender Leistungen von den zu Unrecht hiervon Ausgeschlossenen Ansprüche geltend gemacht werden693 • Ungeachtet der etatistischen Grundstruktur der schulverfassungsrechtlichen Vorgaben haben die Eltern nach Art. 30 Abs. 1 der italienischen Verfassung das Recht und die Pflicht, die Kinder zu unterhalten, zu unterrichten und zu erziehen. Dieses Grundrecht kann aber "nicht dahingehend ausgelegt werden, daß 690 s. hierzu auch Brinkmann, Günter, Italien. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bi!dungs systeme in Europa, 4. Aufl. WeinheimlBasel 1996, S. 112; Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 126. 691 Deutsches Schulamt, S. 33. 692 s. Elia, LeopoldolVolterra. EdoardolLa pergola, Anotonio, S. 647 (654). 693 Elia. LeopoldolVolterra. EdoardolLa pergola, Anotonio, S. 647 (655).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
das Unterrichtsrecht ein ausschließliches oder vorrangiges Recht der Familie ist, da es völlig unbestritten ist, daß das Interesse an der Bildung des Staatsbürgers, wie aus dem Entscheid Nr. 7/1967 eindeutig zu entnehmen, ein öffentliches Interesse ist, das den Staat zur Übernahme des Dienstes veranlaßt,,694. Obgleich in Italien eine Schulpflicht besteht, ist diese materiellrechtlich als eine Unterrichtspflicht zu werten, da gemäß dem Gesetz Nr. 1859 vom 31. Dezember 1962 i.V. m. der Ordinamento amminstrativo e didattico della scuole elementare die Eltern für die Erfüllung der Unterrichtung selbst sorgen können, wenn sie jährlich den Schulaufsichtsbehörden die Realisierung eines dem staatlichen Schulwesen entsprechenden Unterrichts nachweisen. c) Die Steuerung des staatlichen Schulwesens Den etatistischen verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend ist die Struktur des institutionalisierten italienischen Bildungswesens sowohl stark verrechtlicht und formalisiert695 als auch zentralisiert, obgleich wie in allen Ländern Europas auch in Italien Tendenzen der Dezentralisierung696 und einer Stärkung der Autonomie der Einzelschule festzustellen sind, die in nächster Zeit eine Novellierung der Gesetzgebung erwarten lassen. Hierbei gelten für alle Schulen, d.h., für staatliche, kommunale und gesetzlich anerkannte und nicht anerkannte private Schulen, die Vorgaben der nationalen Gesetzgebung sowie die vom Unterrichtsministerium erlassenen Verordnungen und Regelungen 697 . Im Rahmen der nationalstaatlichen Regelungsdichte unterliegen nicht nur die formalen Voraussetzungen für Abschlüsse, Schulpflicht und dergleichen der Regelung durch das Unterrichtsministerium, sondern auch die Unterrichtsfacher, Lehrpläne und Lernziele werden weitestgehend zentral vorgegeben, wobei sich Unterschiede in dem Maß der zentralen Regulierung je nach Unterrichtsstufe ergeben. Die Lehrpläne werden als Leitentscheidung für die Unterrichtsarbeit durch das Parlament verabschiedet. Im wesentlichen werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Schulwesen jedoch nicht durch Gesetze geregelt, sondern im Wege von Verordnungen und Dekreten. In der Primarstufe werden die Bildungsziele für die öffentlichen und privaten Schulen auf nationaler Ebene ausgearbeitet und festgelegt698 , wobei die Elia, LeopoldoNolterra, EdoardolLapergola, Anotonio, S. 647 (651). Mason, Peter, Independent Education, S. 43. 696 Vgl. Hopes, Clive, S. 18 f. 697 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 125; Deutsches Schulamt, S.57. 698 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 35. 694 695
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vom Parlament seit dem Schuljahr 1986/.87 verabschiedeten Lehrpläne Raum für gewisse, die individuellen Neigungen der Schüler berücksichtigende, zusätzliche Wahlfacher im technischen oder künstlerisch-musischen Bereich lassen699 • Die Einräumung gewisser Freiräume wurde durch das Gesetz zur Reform der Grundschulordnung aus dem Jahre 1990 weitergeführt. Dieses sieht zwar einen klar umrissenen Fächerkanon, aber keinen vorgeschriebenen Stundenplan vor, und das Klassenlehrerprinzip wurde aufgegeben zugunsten flexibler Organisationsmodelle, nach denen drei Lehrer für zwei Klassen oder vier Lehrer für drei Klassen zuständig sind7OO• Jutta Schüler konstatiert gar, daß die staatlichen Rahrnenpläne "relativ offen" formuliert sind und es pädagogisch ermöglichen, auf die konkrete pädagogische Situation adäquat zu reagieren, was auch dadurch erleichtert wird, daß die Schüler keine Ziffernzensuren, sondern individuelle, an ihrer Leistungsfähigkeit orientierte Bewertungen erhalten, die Pflichtschulzeit keine Selektionsfunktion hat und an deren Ende keine Berechtigungen vergeben werden 701. Hinzu kommt, daß die Klassenhöchstfrequenzen gesetzlich auf 25 Kinder festgelegt sind und behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden, wobei im letzteren Fall die Frequenz nicht mehr als 20 Kinder betragen darf. Faktisch liegt die durchschnittliche Schülerzahl bei 17 Kindern 702 • In der Unterstufe des Sekundarbereichs, die als Gesamtschulen alle Schüler der entsprechenden Altersgruppe umfassen und deren Zugang mit einem Abschlußzeugnis des Primarbereichs eröffnet wird, sind die einzelnen Fächer ebenfalls zentral vorgegeben, wobei neben den Pflichtfachern zusätzliche Angebote gemacht werden können. Im Gegensatz zum Grundschulbereich sieht der Lehrplan für die Gesamtschule jedoch eine verbindliche Stundentafel vor703 . Nach Abschluß des unteren Sekundarbereichs, mit dem die Schulpflicht endet, müssen die Schüler ein Abschlußzeugnis erwerben (Diploma di Licenza Media), um zur Oberstufe des Sekundarbereichs zugelassen zu werden. Hierbei besteht für Schüler aus Privatschulen eine Sonderregelung dergestalt, daß von Privatschulen auf die Oberstufe des Sekundarbereichs wechselnde Schüler in eine Übergangsklasse aufgenommen werden können, sofern sie die Schulpflicht erfüllt haben und sich einer Prüfung in jedem der Fächer derjenigen Klasse unterziehen, die der angestrebten vorangeht704 • Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 128. Brinkmann, Günter, Italien, S. 114. 701 Sehöler, Jutta, "Italienische Verhältnisse", DLZ 27/28 1996, S. 12. 702 Sehöler, Jutta, S. 12. 703 Brinkmann, Günter, Italien, S. 115. 704 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 130. 699
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Dem zentralistischen Charakter des italienischen Bildungswesens entsprechend, haben die Eltern kaum Mitwirkungsrechte im Bereich der staatlichen Schule, und es besteht strukturell weder eine dezentralisierte Verwaltung noch eine ausgeprägte Selbstverwaltung der Einzelschule. Auch die Schulkonferenz, die zudem im Primarbereich noch nicht einmal für alle Schulen besteht, sondern auch für einen Schulbezirk gebildet werden kann, hat im Vergleich mit anderen europäischen Ländern nur geringe Rechte und ohne substantielle Selbstentscheidungsrechte die Aufgabe, in pädagogischen, didaktischen oder curricularen Angelegenheiten gehört zu werden und Vorschläge zu unterbreiten sowie den aufsichtsführenden Provinzbehörden Bericht über die schulische Arbeit zu erstatten 705.
d) Sekundäre Bildungshoheit der autonomen Regionen mit Sonderstatut und Minderheitenschutz Eine gewisse Relativierung der zentralistischen Struktur des italienischen Bildungswesens ergibt sich aus den Hoheitsrechten der autonomen Regionen mit Sonderstatut. Lediglich die autonomen Regionen mit Sonderstatut, wie Südtirol, besitzen im Wege der sog. primären und sekundären Gesetzeskompetenz einen "bestimmte(n) Freiraum für die eigenständige Ausgestaltung des Schulwesens,,706. Verdeutlicht sei dies an dem 1973 in Kraft getretenen Autonomiestatut für Südtirol. Nach Art. 8 dieses Autonomiestatuts besitzt das Land Südtirol eine primäre Gesetzeskompetenz in den Bereichen Kindergartenwesen, Schulfürsorge und Schulbau sowie Berufsertüchtigung und Berufsausbildung. Aber auch diese primäre Gesetzeskompetenz ändert nichts an der Einschätzung, "daß Südtirol nur im Schlepptau der italienischen Gesetzgebung Maßnahmen setzen und Entscheidungen treffen kann,,707, weil nach Art. 9 des Sonderstatuts die wesentlichen Bereiche des Schulwesens wie die Aufstellung der Stundentafeln und Lehrpläne nur der sekundären Gesetzgebungsbefugnis unterliegen. Dies bedeutet, daß das Land "nur unter Beachtung der staatlichen Gesetzgebung tätig werden darf' und diese Bereiche nur "durch Landesbestimmungen ergänzt bzw. den lokalen Bedürfnissen angepaßt werden können,,708. Des weiteren legt das Sonderstatut in Art. 19 den Minderheitenschutz der Volksgruppen im Schulwesen dergestalt fest, daß "die Kinder in den nach Sprachgruppen getrennten Schulen von Lehrern der eigenen Muttersprache unterrichtet werden
705 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 65 (75). 706 Deutsches Schulamt, S. 13.
707 Stifter, Das Südtiroler Schulwesen mit besonderer Berücksichtigung aktueller Probleme, Erziehung und Unterricht 1989, S. 248 (250). 708 Stifter, S. 248.
VII. Zentralistisch-etatistische Schul verfassungen: Italien
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müssen ... (und) daß die Verwaltung für die Schulen der in Südtirol zusammenlebenden Volksgruppen getrennt verläuft,,709. In der Region Trient-Südtirol ist durch das Statut geregelt, daß es durchgehend für die gesamte Schulzeit drei Arten von Schulen gibt, nämlich deutschsprachige, italienischsprachige und dreisprachige Schulen, in denen neben Deutsch und Italienisch auch Ladinisch gelehrt und gesprochen wird und für die jeweils eigene Schulämter bestehen710 • In der Region Friaul-Iulisch-Venezien wird gern. den Gesetzen Nr. 1012 vom 19. Juli 1961, Nr. 477 vom 19. Juli 1973 und Nr. 932 vom 22. Dezember 1973 der slowenischen Minderheit dadurch Rechnung getragen, daß es in jeder Schulform und Schulstufe slowenischsprachige Schulen gibt. Zudem ist seit den 70er Iahren Friaulisch als Unterrichts sprache zugelassen und wird in knapp 10 % der Schulen unterrichtet und gesprochen. Für die übrigen Regionen fehlt es an Regelungen des Minderheitenschutzes. In Kalabrien haben die Privatschulen insofern eine besondere Bedeutung, als dort in ca. 20 % der privaten Grundschulen und 5 % der privaten weiterführenden Schulen Albanisch unterrichtet wird, was an staatlichen Schulen nicht der Fall ist7l1 • e) Autonomietendenzen im staatlichen Schulwesen
Obgleich das italienische Schulsystem zentralistisch strukturiert ist, bestehen Ansätze staatlicher Dezentralisierung und Deregulierung. Auch im italienischen Schulwesen findet sich wie in allen Ländern Europas eine Tendenz der Stärkung der Autonomie der Einzelschule, die durch eine Novellierung des Schulgesetzes normativ Ausdruck gefunden hat. Danach soll eine stärkere Autonomie der Einzelschule den einzelnen Institutionen Selbstverwaltungsrechte einschließlich eines Verfügungsrechts über Haushaltsmittel und die Möglichkeit, Ausbildungsprogramme flexibel zu gestalten, gewähren712 • Zudem wurden zuvor in geringerem Maße durch das Gesetz Nr. 148 vom 5. Juni 1990 in die zentralistische und bürokratische Struktur dezentrale Kompetenzen durch die Schaffung regionaler Institutionen eingeführt. Dies kommt organisatorisch darin zum Ausdruck, daß es in der Grundschule keine Stundentafeln mehr gibt und durch das Reformgesetz Nr. 148 aus dem Jahre 1990 versucht wurde, re-
Stifter, S. 248 f. s. hierzu Oellers-Frahm, Karin, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in italien. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. I, S. 192 (212 ff.). 711 s. hierzu Oellers-Frahm, Karin, S. 192 (217). 712 Brandl, Luisa, Schulreform in Italien, Der Tagesspiegel v. 11.1.1994, S. 17. 709
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fonnpädagogische Ansätze in das Staatsschulwesen einzuführen713 • Auch im Bereich der Oberstufe der Sekundarschule zeigt sich eine punktuelle, für die Schulorganisation anderer Länder überraschende Autonomie der Einzelschule. Danach kann die Lehrerkonferenz jeder einzelnen Schule selber entscheiden, ob zur Leistungsbemessung ein Schuljahr in Semester oder Trimester unterteilt werden soll, wobei die Leistungsbewertung am Ende des gewählten Zeitraumes durch die Klassenkonferenz erfolgt und nicht nur kognitive Leistungen aufgrund mündlicher oder schriftlicher Prüfungen, sondern auch Beurteilungen des sozialen Umfeldes einfließen sollen714 • Dies deckt sich mit vergleichenden Untersuchungen der schweizerischen Bildungsforschung, die zu dem Ergebnis kommt, daß die italienischen Schulen innerhalb der nonnativ gesetzten Rahmenvorgaben und der weitestgehend zentral staatlichen Ressourcenverteilung und Personalverwaltung ein relativ hohes Maß an autonomen Entscheidungsmöglichkeiten in pädagogischen Fragen besitzen715 . Hierin scheint zumindest eine begrenzte Autonomie der Einzelschule zu liegen, die freilich spätestens im Abschlußverfahren wieder aufgehoben wird. Vorausgesetzt die Schüler erreichen jeweils positive Bewertungen für die vorangegangenen Abschnitte, werden die Schüler zum Zentralabitur zugelassen. Diese Stärkung der Selbständigkeit der Einzelschule, die mit Änderungen wie der Ersetzung des Klassenlehrers durch ein Klassenlehrerteam, die Ersetzung von Ziffernzensuren durch ein Einstufungssystem sowie die Einführung des Fremdsprachenunterrichts ab der 1. Klasse begleitet wurde, stellt jedoch die grundlegende bürokratische Struktur des italienischen Bildungswesens nicht in Frage. Dies liegt sicher auch daran, daß ein während der Regierungszeit Berlusconis vorgelegter Entwurf für ein Gesetz zur Schulautonomie7I6 , in dem eine weitreichende Autonomie der Einzelschule vorgesehen war, nicht realisiert wurde. Nach diesem Gesetzentwurf sollte der Schule im Rahmen der national vorgegebenen Erziehungsziele und -standards der Status einer juristischen Person mit umfassender didaktischer, organisatorischer und finanzieller Autonomie zukommen und Eltern und Schülern das Recht der freien Schul wahl und Partizipation ennöglicht werden. Dieser Gesetzentwurf, der bildungspolitisch umstritten war717 und zu heftigen Studentenprotesten führte, wurde mit dem Rücktritt der Regierung Berlusconi nicht weiterverfolgt. Beobachter gehen daDeutsches Schulamt, S. 29 f. Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 131. 115 Grunder, Hans-Ulrich, Größtenteils demokratisch? - Entscheidungsprozesse in Schulen und Schulautonomie in der Schweiz, Pädagogisches Forum 1995, S. 86 (88 f.). 116 Documento Per Lo Schema DeI Decreto Legislativo Sull' Autonornia Scolastica, abgedruckt in Editrice La Scuola (Hrsg.), Nouva Secondaria, Nr. 3, v. 15.11.1994. 111 Krit. etwa Martinelli, Enzo, Probleme der Schulautonomie (Übersetzung), Scuole Italia Modema Nr. 17 v. 15. Mai 1994, S. 29. 113
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von aus, daß zwar die Autonomiediskussion auch in Italien das beherrschende Thema in der Debatte der nächsten Jahre um eine Reform des italienischen Bildungswesens sein wird, jedoch sich die Grundstruktur in den nächsten Jahren kaum grundlegend ändern dürfte718 • Ein erster Schritt zur Stärkung der Eigenverantwortung der Einzelschule wurde aUerdings durch das Gesetz Nr. 59/97 ..Bassanini", mit dem Verwaltungszuständigkeiten an die Regionen und lokalen Institutionen delegiert werden und das den Schulen ab dem Schuljahr 1997/98 im Rahmen der staatlichen Lehrpläne mehr didaktische Autonomie und eingeschränkt auch eigene Haushalts- und Verwaltungsrechte einräumen soU 7I9 •
f) Die staatliche Schulaufsicht Der zentralistischen Struktur des italienischen Bildungswesens entsprechend legt die Zentralregierung nicht nur weitestgehend die Lehrpläne fest, sondern übt auch die Schulaufsicht mit Hilfe zentral oder regional tätiger Aufsichtsbeamten aus 720. Diese kontrollieren sowohl die Einhaltung der Lehrpläne als auch die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte, wobei neben der überwachenden Funktion der Schulaufsicht durch die Aufsichtsbeamten zugleich Entwicklungsund Beratungsfunktionen wahrgenommen werden soUen721 • Zu den Aufgaben der Schulinspektion gehören dabei insbesondere die Ausbildungsfortbildung der Lehrer und die Begutachtung der Geeignetheit und Einhaltung der Lehrpläne und LeistungskontroUen 722 • Gleichwohl liegt der Schwerpunkt der Aufgaben der Schulinspektion aber nicht primär in der klassischen Aufsichts- und Überwachungsfunktion, sondern in einer beratenden und ausbildenden Funktion723. Auch Hopes sieht Aufgaben der Schulinspektoren primär in der beratenden Funktion und einem nur indirekten Eingreifen bei Mißständen 724 , was für zentralistische Bildungssysteme relativ untypisch ist, da diese in der Regel durch ein stark präventiv orientiertes KontroU- und Regulierungssystem geprägt sind.
Brinkmann, Günter, Italien, S. 121 f. Latuske, Manfred, Schulentwicklung in Italien, RuS 311997, S. l. 720 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 35 (120). 721 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 120. 722 Hopes, Clive, S. 46. 723 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 112, Deutsches Schulamt, S. 64: ..Der Demokratisierungsprozeß ... hat auch die Rolle des Schulinspektors grundlegend geändert. Seine ursprüngliche Funktion als Kontroll- und Aufsichtsorgan wurde nahezu vollständig durch Beratungsaufgaben ersetzt. Unmittelbare Weisungsbefugnisse sind damit nicht mehr verbunden". 724 Hopes, Clive, S. 74. 718
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
g) Die Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft
Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Rechts der nichtstaatlichen Schulen finden sich in dem für das Bildungswesen einschlägigen Art. 33 der italienischen Verfassung. Danach haben gern. Abs. 3 Körperschaften und Privatpersonen das Recht, Schulen und Erziehungsanstalten zu gründen, sofern damit für den Staat keine Belastungen entstehen. Verfassungsrechtlich folgt hieraus, daß der Staat keine Leistungsansprüche garantiert bzw. übernimmt. Mit diesem verfassungsrechtlichen Vorbehalt ist allerdings nicht geregelt, inwieweit der Staat Leistungen gewähren darf und inwieweit er dabei an andere verfassungsrechtliche Grundsätze, etwa den Gleichheitssatz, gebunden ist, wenn er nichtstaatlichen Schulen Leistungen gewährt. Der Status der nichtstaatlichen Schulen unterliegt gern. Art. 33 Abs.3 Ital. Verf. einem Gesetzesvorbehalt hinsichtlich der Schulen, die um staatliche Anerkennung ersuchen. Hierbei muß das Gesetz den Schulen volle Freiheit sowie ihren Schülern einen gleichwertigen Unterricht725 zusichern, wie ihn die Schüler der staatlichen Schulen genießen. Nach der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs garantiert Art. 33 der Verfassung die Unterrichtsfreiheit, was jedoch nicht ausschließt, daß der Staat regulierend in den Unterrichtsvollzug eingreift, indem er den Unterricht einer Autorität unterordnet und die Bedürfnisse des Unterrichts, der Gesundheit, der Sittlichkeit und des öffentlichen Vertrauens sichert726 . Die italienische Verfassung garantiert damit die Gründungsfreiheit unter gleichzeitigem Ausschluß einer etwaigen verfassungsrechtlichen Einstandspflicht für die Gründungskosten als einen elementaren Verfassungs grundsatz, dem nach h.M. auch der einfache Gesetzgeber unterworfen ist727 • Neben dieser insoweit uneingeschränkt gewährten Gründungsfreiheit, die gleichwohl einem Erfordernis der Genehmigung durch die Verwaltungsbehörde unterliegt728 , steht ein umfassender Gesetzesvorbehalt hinsichtlich der staatlichen Anerkennung nichtstaatlicher Schulen. Nach Art. 33 Abs.4 Ital. Verf. regelt das Gesetz die Rechte und Pflichten der nichtstaatlichen Schulen, die staatliche Anerkennung anstreben; es muß ihnen volle Freiheit sowie ihren Schülern einen Schulunterricht sichern, der dem der staatlichen Schulen entspricht, also gleichwertig ist. (1) Errichtungsvoraussetzungen für nichtstaatliche Schulen Die rechtlichen Grundlagen für die Errichtung nichtstaatlicher Schulen bildet noch immer das vorkonstitutionelle Recht. So gilt für die Errichtung von Primarschulen das Gesetz RD Nr. 577 vom 5. Februar 1928 und für die SekundarArt. 33 Abs. 4ltal. Verf. spricht von "Unterweisung". Corte Costituzionale Nr. 36 v. 19.6.1958. 727 s. Elia, LeopoldolVolterra. EdoardolLa pergola. Anotonio, S. 647 (648. 652 f.). 728 Elia, LeopoldolVolterra. EdoardwLa pergola, Anotonio, S. 653. 725 726
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schulen das Gesetz Nr. 86 vom 19. Januar 1942. Allerdings wurde der in den ursprünglichen Regelungen enthaltene Genehmigungsvorbehalt für die Gründung von Schulen weitestgehend in eine schlichte Anmeldepflicht umgewandelt. Danach besteht eine umfassende Errichtungsgarantie gern. den Vorschriften des Gesetzes Nr.86 vom 19. Januar 1942 i.V.m. den hierzu ergangenen Ausführungsvorschriften, sofern die allgemeinen Prinzipien der öffentlichen Moral, Gesundheit und des Gemeinfriedens nicht verletzt werden, obgleich Primarschulen einer Genehmigung bedürfen, was für Sekundarschulen nicht der Fall ist. Die Schulen lassen sich in diverse Kategorien unterteilen. Im Primarbereich unterscheiden sich die Schulen gern. dem Gesetz Nr. 148 vom 5. Juni 1990 in solche, die den staatlichen Schulen entsprechen und ihnen gleichwertig angesehen werden und die von daher die offiziellen Bezeichnungen des staatlichen Schulwesens übernehmen dürfen (scuole parificate), die staatlich unterstützt werden und die an Orten errichtet werden, an denen der Staat es nicht für zweckmäßig hält, eigene Schulen zu errichten und zu betreiben (scuole sussidiate), z.B. weil die Schülerzahl zu gering ist oder für Kinder von Wanderarbeitnehmern, -
die vollständig privat und unabhängig sind, weil deren Organisation und Lehrinhalte von den staatlichen Schulen abweichen (scuole private, deren Unterricht als "Kurs" bezeichnet wird).
Während reform pädagogische Schulen in Elternträgerschaft i.d.R. den Status einer scuole private haben, sind Träger der scuole parificate überwiegend die katholischen Schulen, wobei eine scuole parificate nur durch Körperschaften, kirchliche Vereinigungen oder juristische Personen, nicht jedoch von Privatpersonen betrieben werden kann. Im Sekundarbereich gibt es gern. dem Gesetz Nr. 86 vom 19. Januar 1942 i.V.m. dem Circolare Nr. 214 vom 18. September 1974 neben den genehmigungsfreien scuole private gesetzlich anerkannte Schulen (scuole legalmente riconosciute), die von öffentlichen Einrichtungen oder Privatpersonen betrieben werden können. Sofern diese Schule den staatlichen Lehrplänen folgt und die Qualifikation des Lehrpersonals der staatlicher Lehrer entspricht, kann im Erlaßwege nach einer Bewährungszeit von einem Jahr einer solchen Schule die Anerkennung ausgesprochen werden. Darüber hinaus kann eine Schule den Status der Gleichwertigkeit (scuole pareggiate) mit den staatlichen Schulen erhalten, wenn sie durch eine öffentliche nichtstaatliche oder kirchliche Einrichtung, nicht aber wenn sie durch Privatpersonen oder privatrechtliche Vereinigungen betrieben wird 729 • In Italien ist damit entgegen dem Verständnis im 729
Zur Klassifizierung s. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 55 ff.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
deutschsprachigen Rechtsraum die Gleichwertigkeit mit einem höheren Anpassungsgrad an das staatliche Schulwesen verbunden als die "anerkannte" Schule. Der Status der "Gleichwertigkeit" meint damit einen "gleichartigen" Unterricht, während die scuole private lediglich einen im deutschen Rechtsverständnis "gleichwertigen" Unterricht erteilen muß. Hierbei ist zu bedenken, daß mit der Anerkennung oder Gleichwertigkeit lediglich das Recht zur internen Prüfungsabnahme, nicht aber finanzielle Hilfen verbunden sind. Im Bereich der schulpflichtigen Grundschulbildung handelt es sich danach bei den staatlich anerkannten Privatschulen im wesentlichen um sog. Entlastungsschulen, die von Körperschaften oder Vereinen getragen werden und gesetzlich anerkannt sind (Art. 95 Grundschulbildungsordnung). Die achtjährige Schulpflicht kann aber durch einen gleichwertigen häuslichen Unterricht oder an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht erfüllt werden 73o• Im Bereich der höheren Schulbildung ist zu unterscheiden zwischen staatlich anerkannten und gleichgestellten Schulen. Die staatlich anerkannte Schule kann von einer Privatperson geführt werden, die gleichgestellte nur von einer öffentlichen Körperschaft oder von einer im Konkordat zwischen Italien und dem Vatikan vorgesehenen geistlichen Körperschaft, wobei letztere in eine staatliche umgewandelt werden kann 731. (2) Schulaufsicht, pädagogische Autonomie und das Anerkennungsverfahren für nichtstaatliche Schulen In Italien stehen ähnlich wie in Frankreich oder Spanien reformpädagogische Schulen in Elternträgerschaft quasi außerhalb des öffentlichen Schulwesens. Rechtlich handelt es sich bei reformpädagogischen Schulen in Eiternträgerschaft ohne Anerkennung im Status der scuole private um ein Privatunternehmen, das Unterrichtskurse organisiert und anbietet und dessen Prüfungen staatlicher externer Kontrolle unterstehen. Dementsprechend unterliegen diese Schulen der Schulaufsicht nur hinsichtlich der Einhaltung der Hygienevorschriften und der öffentlichen Ordnung. Gleichwohl ist die scuole private in der Gestaltung ihrer Organisation des Unterrichts nicht völlig frei, obgleich sie formalrechtlich keinen Vorschriften hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung unterliegt. So wird über das Berechtigungswesen und die obligatorische Prüfung des Leistungsstandes der Schüler nach der 5. Grundschulklasse, der 3. Mittelschulklasse, und die Anforderungen an das Abitur gern. dem Gesetz Nr. 148
730 731
Deutsches Schulamt, S. 28. Elia, LeopoldolVolterra. EdoardolLa pergola, Anotonio, S. 647 (653).
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vom 5. Juni 1990 i.V.m. dem Ordinanza Ministeriale vom 30. Januar 1984, das die Benotung und Prufung in nichtstaatlichen Sekundarschulen regelt, indirekt erheblicher Einfluß auf den Lehrplan genommen. Schüler dieser Schulen müssen sich nach der 5. Klasse einer staatlichen Prüfung unterziehen, ob sie den entsprechenden Leistungstand der staatlichen Schulen erreicht haben, so daß Schulen mit einem abweichenden Lehrplan wie etwa die Waldorfschulen diesen inhaltlich auf diese Prüfung ausrichten müssen. Gleiches gilt für die Mittelschulprufung. Hierbei ist der Status der Schule für das Prüfungswesen insoweit relevant, als anerkannte Schulen die Grundschul- und Mittelschulprufung selbst abnehmen können, während dies bei der scuole private nicht der Fall ist. Die Abiturprufung ist immer eine staatliche Prüfung. Die gesetzlich anerkannten Schulen und die Schulen mit dem Status der Gleichwertigkeit müssen hinsichtlich der Lehrpläne, des Lehr- und Lernmaterials, der Stundentafeln und der Unterrichtsorganisation den Vorschriften für das staatliche Schulwesen entsprechen732 und unterliegen der staatlichen Schulaufsicht733 • Die Anerkennung erfolgt i.d.R. nach mehreren Besuchen seitens der Schulinspektoren, die auch nach Erlangung der Anerkennung weiter erfolgen können. Obgleich der Verfassungstext lediglich von der Notwendigkeit der Entsprechung im Sinne einer Gleichwertigkeit und nicht von der Gleichartigkeit des Schulunterrichts spricht, erhalten nur solche Schulen die staatliche Anerkennung, die dem staatlichen Lehrplan folgen. Voraussetzung für die Anerkennung ist insofern, daß die staatlichen Inspektoren bestätigen, daß die Qualität des Unterrichts, das Lehrpersonal sowie die Räumlichkeiten und die sachliche Ausstattung den Standards der staatlichen Schulen entsprechen734 • Im Grundschulbereich muß der Lehrplan für die Anerkennung einer Privatschule in seinen wesentlichen Zielen und Inhalten mit dem Landeslehrplan vereinbar sein und die Kinder innerhalb der ersten fünf Schuljahre (Grundschulbereich) dem Stand des Wissens und Könnens einer staatlichen Schule entsprechen. Voraussetzung für die staatliche Anerkennung einer privaten Mittel- oder Oberschule sind neben bestimmten Qualifikationanforderungen des Lehrkörpers (Besitz der Lehrbefabigung und Eintragung in das Berufsverzeichnis der Lehrer), der Anzahl und Qualifikation der Schüler (mindestens drei pro Klasse bei EinhaItung der allgemeinen Zugangs voraussetzungen für eine spezifische Schulform) und der Räumlichkeiten gern. dem Rundschreiben Nr. 377 vom 9. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 58; Hopes, Clive, S. 19. Vgl. hierzu Hopes, Clive, S. 19; Rothlauf, Jürgen, Die Beziehung zwischen Bildung, Berufsausbildung und Arbeitsmarkt: ein Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien. Fuchsstadt 1990, S. 33. 734 Hopes, Clive, S. 19 (45). 732 733
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Dezember 1987 insbesondere, daß die Schule, die um gesetzliche Anerkennung ersucht, dieselben Bildungsziele verfolgt wie entsprechende öffentliche Schulen und nach gleichwertigen Lehrplänen arbeitet und die für die öffentlichen Schulen geltenden Stundentafeln eingehalten werden. Diese restriktive Interpretation des von der Verfassung geforderten "gleichwertigen Schulunterrichts" im Sinne einer vollständigen Entsprechung des Unterrichts scheint bedenklich und nach bundesdeutschem Verfassungsverständnis unhaltbar, da der Verfassungstext gerade nicht von einem gleichartigen, sondern lediglich einem gleichwertigen Unterricht spricht. Hierin scheint, mit weitreichenden Folgen für den Rechtsstatus einer Schule, eine unverhältnismäßige Beschränkung der Unterrichtsfreiheit in Form einer mittelbaren Diskriminierung eigenständiger pädagogischer Profile zu liegen. Sofern eine Schule staatlich anerkannt ist, genießen die Schüler den gleichen legalen Status wie Schüler staatlicher Schulen735 . Nur gesetzlich anerkannte Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft - im Primarbereich die scuole parificante und im Sekundarbereich die scuole legalmente riconosciute und die scuole pareggiate - sind danach berechtigt, offiziell anerkannte Zeugnisse zu verleihen 736 • Schüler einer scuola private müssen, um ein gesetzlich gültiges Zeugnis zu erhalten, besondere Prüfungen an einer staatlichen oder anerkannten Einrichtung ablegen 737 . Allein dies gilt in Italien für viele Eltern neben der Frage der finanziellen Belastung als Hinderungsgrund, ihre Kinder auf eine Schule in Elternträgerschaft zu schicken. Mit der unterschiedlichen Rechtsstellung der Schulen in freier Trägerschaft werden über den Anerkennungsstatus die kirchlichen Schulen gegenüber Schulen in Elternträgerschaft privilegiert. Der etatistischen Grundstruktur entsprechend, können die nichtstaatlichen Schulen zwar eigene Lehrerbildungsstätten unterhalten, doch werden deren Abschlüsse nicht staatlich anerkannt. (3) Staatliche Finanzhilfe für nichtstaatliche Schulen Aus dem Normtext des Art. 33 Ital. Verf. ergibt sich nach dem Wortlaut kein subjektives Recht des einzelnen Schul trägers auf staatliche Zuschüsse. Inwieweit diese Vorschrift staatlichen Zuwendungen aufgrund eigener Ermessensausübung entgegensteht, ist umstritten 738 • Zumindest eine restriktive Interpretation, wonach das Recht, Schulen und Erziehungsanstalten ohne Lasten für den Hopes, Clive, S. 19. Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Italien, S. 125; Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 58. 737 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 58. 738 s. hierzu Politi, Marco, Der Vatikan auf dem Kriegspfad (dt. Übersetzung), La Republica v. 5.3.1994, S. 3. 735
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VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Italien
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Staat zu gründen, beinhalte, daß jegliche Subventionen ausgeschlossen seien, erscheint verfassungsrechtlich nicht haltbar. Aus dem Verfassungswortlaut ist zwar zu entnehmen, daß aus der Errichtungsgarantie kein unmittelbarer Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers erwächst. Dem steht verfassungsrechtlich aber nicht entgegen, daß der einfache Gesetzgeber entsprechende normative Grundlagen erläßt, um nichtstaatlichen Schulen Leistungen zu gewähren, oder daß die Verwaltung im Rahmen ihres bestehenden Ermessens Leistungen gewährt. Dementsprechend gibt es, wenn auch äußerst selten, Privatschulen, die staatliche Zuschüsse zu den laufenden Kosten erhalten, wie die scuole sussidiate. Hierbei ist die staatliche Anerkennung bzw. die Anerkennung eines besonderen öffentlichen Bedarfs Voraussetzung für die Subventionierung, deren Höhe im Ermessen der Provinzen liegt, und entscheidend für den sonstigen Rechtsstatus der Schulen. Schulen, die die Anerkennung und Gleichstellung mit staatlichen Schulen beantragen und öffentliche Zuschüsse erhalten, müssen dabei sicherstellen, Primarschüler kostenlos aufzunehmen und Sekundarschülern, die ein Stipendium haben, kostenlose Plätze anzubieten 739 • Die staatlichen Zuwendungen erhalten faktisch solche katholischen Schulen, die - insbesondere in Süditalien - eine Vertretungsfunktion für fehlende staatliche Einrichtungen übernehmen. Darüber hinaus erhalten die Kirchen eine indirekte Finanzierung über die Bereitstellung von Räumlichkeiten durch die Kommunen und indem der Staat die Gehälter der Religionslehrer an Mittelund Oberschulen übernimmt. Die meisten Privatschulen und insbesondere staatlich nicht anerkannte Schulen wie die meisten Waldorfschulen, d.h., solche Schulen, die eine besondere pädagogische Prägung aufweisen, die vom staatlichen Schulbetrieb abweicht, erhalten keine Zuschüsse zu den laufenden Kosten des Unterrichtsbetriebs. Allerdings wird ein bestimmter prozentualer Anteil der Zuschüsse für Schulgebäude auch für nichtstaatliche Schulen zur Verfügung gestellt bzw. gewähren die Kommunen Räumlichkeiten zu günstigen Konditionen. h) Zum Verhältnis von Etatismus und Schulvielfalt
Schulvielfalt ist im italienischen staatlichen Schulwesen im wesentlichen auf Experimentalschulen und auf die Realisierung der pädagogischen Freiräume der Primarschulen beschränkt. Im staatlichen Schulwesen bestehen zwar Tendenzen der Dezentralisierung und der Stärkung der pädagogischen Freiheit des Lehrers, doch sind diese von einem bürgerschaftlichen Verständnis der Schulverfassung noch weit entfernt. Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft nehmen in Italien zwar keineswegs nur eine marginale Rolle ein, auch wenn sie nume-
739
s. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 57 f.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
risch nicht so stark wie in den anderen romanischen Ländern vertreten sind. Im Primarbereich besuchten im Schuljahr 1989190 8 % der Schüler eine Privatschule, in der Unterstufe der Sekundarstufe 4,5 % und in der Oberstufe der Sekundarstufe 9,1 % der Schüler. Der ganz überwiegende Teil der nichtstaatlichen Schulen sind katholische Schulen, die im wesentlichen den staatlichen Lehrplänen - ergänzt um religiöse Aspekte - folgen. So gab es im Jahre 1993 in Italien knapp 12.500 katholische Schulen mit fast 1 Million Schülern74o • Im Bereich der reformpädagogisch orientierten Schulen überwiegen in Italien die Montessorischulen, von denen es ca. 70 gibt. Diese sind jedoch nur teilweise in privater Trägerschaft und werden zu einem großen Teil in staatlich-kommunaler Trägerschaft betrieben. Daneben gibt es 13 Waldorfschulen sowie 8 Schulen der "Associazione Famiglia e Scuola", die ein eigenständiges, religiös-christlich orientiertes reformpädagogisches Konzept mit starker Elternbeteiligung verfolgen741. Die ganz überwiegende Zahl der nichtstaatlichen Schulen genießen damit zwar Gründungsfreiheit und auch Unterrichts freiheit insoweit, daß der Staat nicht in ihr pädagogisches Konzept eingreift, soweit nicht gegen grundlegende Rechtsvorschriften verstoßen wird, doch erhalten diese Schulen weder Subventionen, noch sind sie berechtigt, eine offizielle Schulartbezeichnung zu führen oder Zeugnisse auszustellen. Sie sind damit nicht nur zwangsläufig Eliteschulen, sondern befinden sich dem Grunde nach außerhalb des institutionalisierten Schulsystems. Damit ist das italienische Bildungswesen in besonderer Form etatistisch orientiert und von dem Gedanken einer bürgerschaftlichen Schule, in dem die öffentliche Aufgabe Bildung in sozialer Ausgewogenheit gleichberechtigt durch den Staat und nichtstaatliche Träger wahrgenommen wird, weit entfernt. Obgleich die Möglichkeit und Notwendigkeit der staatlichen Finanzierung von Privatschulen und insbesondere Schulen in Elternträgerschaft seit langem Thema einer öffentlichen Diskussion ist und damit die Notwendigkeit von Reformen signalisiert, konnte sich der Gedanke einer normativen Einbeziehung des Privatschulwesens in die Finanzierung und in das Berechtigungswesen nicht durchsetzen 742 . Inwieweit ein vom Bildungsminister Berlinguer im Jahre 1997 vorgelegter Gesetzesentwurf, welcher die Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen beinhaltet, politisch umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten 743 •
La Republica v. 5.3.1994. Zahlen nach Angaben der Schulverbände und Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulen in Europa - Entwicklungen, didaktische Profile, Perspektiven. In: Klaßen, Th.F.lSkiera, E. (Hrsg.), Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, 2. Auf!. Hohengehren 1993, S. 7 (22). 742 s. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 60. 743 s. hierzu Latuske, Manfred, S. 2. 740 741
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Griechenland
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3. Griechenland a) Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen des Bildungssystems nach Herstellung der Demokratie
Die gegenwärtige Struktur des griechischen Bildungswesens ist wie in Spanien und Portugal wesentlich durch den Sturz der Diktatur und die Herstellung der Demokratie geprägt und neugestaltet worden. Die Herstellung der Demokratie im Jahre 1974 hat sowohl die Schaffung einer neuen verfassungsrechtlichen Grundlage als auch die Reformierung der Bildungsgesetze impliziert. Wesentliche Grundlage dessen sind die Gesetze 309 aus dem Jahre 1976744, das Gesetz 1566 aus dem Jahre 1985745 , welches die bis heute noch geltenden Strukturbedingungen für das staatliche Bildungswesen schuf, und das Gesetz 682 aus dem Jahre 1977 für das allgemeinbildende Privatschulwesen 746. Hierbei ist das griechische Bildungssystem dem Gedanken der Veranstaltung von Schule als einer primär staatlichen Aufgabe als Strukturprinzip des Bildungswesens, wie es auch in Art. 16 der Griechischen Verfassung (Griech. Verf.) zum Ausdruck kommt, in einer Weise verpflichtet, die einen umfassenden Zugriff des Staates auf das Bildungswesen beinhaltet und in dem auch die nichtstaatlichen Schulen wenig Gestaltungsspielraum besitzen. Gemäß Art. 16 Abs.2 Griech. Verf. ist die Bildung eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen, sowie die Entwicklung ihres nationalen und religiösen Bewußtseins und ihre Ausbildung zu freien und verantwortungsbewußten Staatsbürgern zum Ziel. Dieses Recht wird gern. Abs. 4 Griech. Verf. durch das Recht aller Griechen auf kostenlose Bildung in allen ihren Stufen der staatlichen Unterrichtsanstalten garantiert. Nach Art. 16 Abs. 8 Griech. Verf. untersteht die Errichtungs- und Betriebsfreiheit für nichtstaatliche Unterrichtsanstalten unter einem umfassenden Gesetzesvorbehalt, welcher auch die Aufsicht über diese und die DienststeIlung des Lehrpersonals umfaßt. b) Strukturen der staatlichen Bildungsverwaltung
Griechenland ist ähnlich wie Frankreich ungeachtet einiger in Richtung auf Abbau der zentralstaatlichen Regelungsbefugnisse gerichteter Reformmaßnahmen im und seit dem Jahre 1985 durch ein zentralistisches Bildungssystem geGriechisches Regierungsblatt 100 v. 30.04.1976. Griechisches Regierungsblau 167 v. 30.09.1985. 746 s. hierzu Diamantopoulus, Panagiotis, Das griechische Bildungssystem, Interkulturelll990, S. 134 ff.; Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 27. 744 745
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
kennzeichnet747 • Die Lehrpläne, Lerninhalte und Bildungsziele werden ebenso zentral festgelegt wie die Finanzierung der Schulen748 . Die durch die Bildungsreformgesetze aus den Jahren 1976 und 1985 bewirkten Änderungen des Bildungssystems betrafen insoweit weniger die zentralistische Struktur des Bildungswesens als solcher, als vielmehr eine Demokratisierung der Lehrinhalte und die Schaffung von mehr Chancengleichheit. So normierte das Gesetz aus dem Jahre 1976 die Ausdehnung der Schulpflicht von sechs auf neun Jahre sowie die Einführung der Volkssprache und eine Überarbeitung und Neufassung von Lehrplänen und Schulbüchern unter Berücksichtigung der gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Bildungsreformgesetz aus dem Jahre 1985 setzte insbesondere die curriculare Erneuerung fort und traf Maßnahmen zur Verbesserung der Lehrqualifikation durch Verlängerung der Studiendauer und Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Änderungen in der Aufgabenverteilung der Schulleitungen749 • Während auch nach diesen Reformgesetzen weiterhin nahezu alle inhaltlichen und curricularen schulischen Angelegenheiten auf zentral staatlicher Ebene geregelt werden, kommen den 54 Präfekturen (Regionen), in die Griechenland aufgeteilt ist, neben verwaltungsmäßigen Aufgaben der Mittelzuweisung an die einzelne Schule und deren Instandhaltung vor allem Aufsichtsfunktionen ZU750 ; Aufsicht sowohl über die staatlichen als auch die privaten Schulen751. Dem zuständigen Präfekten stehen hierbei Bildungsausschüsse beratend zur Seite, zu denen neben den Vertretern der Lehrer, Eltern, Kommunalbehörden, Gewerkschaften und der Berufs- und Kulturverbände auch Vertreter der Privatschulen gehören und die im wesentlichen Vorschläge hinsichtlich der Standorte von Schule und deren Infrastruktur machen können 752 , jedoch keine Befugnisse in curricularen Angelegenheiten besitzen. Im Rahmen der staatlichen Schulaufsicht "wurde das frühere System der formalen externen Evaluierung durch Aufsichtsbeamte durch ein Beratungssystem ersetzt, das auf staatlicher Ebene zwei Behörden umfaßt (KYSPE für Primarschulen und KYSDE für Sekundarschulen),,753. In vergleichender Perspek-
So auch Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 34. s. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 40; Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S. 59. 749 s. hierzu Diamantopoulus, Panagiotis, S. 135 f. 750 s. Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S. 59. 751 s. Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S.59; Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 40. 752 Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S. 60. 753 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 112. 747 748
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Griechenland
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tive liegt in dieser Abschaffung des fonnalen Aufsichtssystems 754 sicher der interessanteste Aspekt der Entwicklung des griechischen Bildungswesens. Hierbei bleibt allerdings signifikant, daß es sich weiterhin um ein Moment der externen und nicht der internen Evaluierung handelt und es insofern wohl nur sehr bedingt gerechtfertigt erscheint, vom Fehlen eines fonnalen Aufsichtssystems zu sprechen. Diese Einschätzung korrespondiert damit, daß das Innovationsmoment der beratenden Schulaufsicht strukturell wenig gesichert erscheint. Entsprechend der zentralstaatlichen Vorgabe der Lerninhalte und Methoden kommen nämlich auch auf Einzelschulebene der Schulkonferenz keine substantiellen Rechte, insbesondere hinsichtlich der Festlegung der Unterrichts- und Erziehungsziele sowie der pädagogischen Organisation des Unterrichts und der Lehrinhalte und -methoden, sondern dieser kommen lediglich Anhörungs- und Vorschlagsrechte zu755 • Eine substantielle und funktionierende Reduzierung der Schulaufsicht auf eine beratende Funktion setzt jedoch voraus, daß die Einzelschule wirksame Instrumentarien der Selbstbestimmung hat, wie sie hinsichtlich der Voraussetzungen für eine autonome Schule bestehen756 • Neben der Schulkonferenz, die sich mehrheitlich aus (allen) Lehrern zusammensetzt757 , besteht ein Schulausschuß ("scholiki epitropi"), der mehrere Schulen umfaßt und dem die lokalen Vertreter (Bürgenneister), die Schulleiter und je ein Vertreter der Eltern der Sekundarschüler angehören und der für die Finanzverwaltung zuständig ist, was deshalb von Bedeutung ist, weil die Schulen keine Miuelzuweisung direkt durch den Staat, sondern diese über die Gemeinden erhalten758 . c) Die Rechtsstellung der nichtstaatlichen Schulen
Die griechische Verfassung stellt das Recht auf Errichtung und Betreibung nichtstaatlicher Unterrichtsanstalten nach Art. 16 Abs.8 unter einen weitgehenden Gesetzesvorbehalt dergestalt, daß durch Gesetz die Voraussetzungen und Bedingungen für die Unterrichtsgenehmigung und den -betrieb sowie die Aufsicht über diese Schulen sowie die DienststeIlung ihres Personals geregelt werden. Dieses Recht ist auf allgemeinbildende und berufliche Schulen be754 Die Eurydice (Hrsg.) geht in ihrer Studie, Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 112, davon aus, daß in Griechenland ebenso wie in Dänemark kein "formales Aufsichtssystem" besteht. 755 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 74. 756 s. a. die Schlußfolgerungen, Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 135. 757 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 70. 758 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 63.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
grenzt, da nach Abs. 8 Satz 2 die Errichtung von Hochschulen durch Private verboten ist. Rechtliche Grundlage für die Gründung einer Privatschule bildet das Gesetz 682/1977 "über allgemeinbildende Privatschulen und Privatinternate", deren Genehmigung von der Einholung einer Stellungnahme des zuständigen Regionalrates abhängt759 . (1) Die Gründungsfreiheit für Privatschulen
"Griechische" Privatschulen können nur von natürlichen Personen griechischer Staatsangehörigkeit oder von juristischen Personen, in denen griechische Staatsbürger die Mehrheit stellen, errichtet werden. Gleichwohl gibt es - ungeachtet bestehender Bedenken der Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Freizügigkeitsregelungen des europäischen Gemeinschaftsrechts - neben griechischen Schulen amerikanische, deutsche, englische, italienische und japanische Schulen, die den besonderen Bestimmungen des Gesetzes 4862 über ausländische Schulen aus dem Jahre 1931 unterliegen. Die normativen Voraussetzungen für die Gründung einer nichtausländischen Privatschule sind in den Art. 6 und 7 des Gesetzes 682/77 festgelegt. Die privaten Schulen sind danach auf Anordnung des Ministeriums für Bildung zuzulassen. (2) Pädagogische Freiheit der Privatschulen Die nichtstaatlichen (Privat-)Schulen unterliegen sowohl hinsichtlich der pädagogischen Ausrichtung des Unterrichts als auch der Organisation des Unterrichtsbetriebs weitestgehend der staatlichen Kontrolle. So gelten für die Privatschulen dieselben Lehrpläne wie für die staatlichen Schulen und bedürfen Abweichungen hiervon der besonderen Genehmigung des Bildungsministeriums. Darüber hinaus "legt das Ministerium die gesetzlichen Grundlagen und Richtlinien hinsichtlich der Arbeitsweise der Schulen, der zu unterrichtenden Fachbereiche, der Gleichwertigkeit der Zeugnisse und andere Regelungen fest,,760. Des weiteren sind die Privatschulen an die in den staatlichen Schulen geltenden Regelungen der Notengebung, Prüfungen, Versetzungen gebunden 761, so daß ihnen keine substantielle pädagogische Freiheit zukommt. Symptomatisch hierfür ist, daß Griechenland das einzige Land in der Europäischen Union ist, in dem es keine Waldorfschule gibt. 759 Eurydice (Hrsg.), Das griechische Bildungssystem, Briissel 1988, S.32; ders., Formen und Status, S. 27. 760 Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 61. 761 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 28.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Griechenland
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Entsprechend der etatistischen Grundstruktur des griechischen Bildungssystems unterstehen die Privatschulen einer umfassenden Schulaufsicht, die von den staatlichen Bildungsverwaltungen ausgeübt wird und bis hin zur Frage der Lehrmittel reicht762 . (3) Berechtigungswesen und Privatschulfreiheit Aufgrund der umfassenden Kontrolle und Einbindung der nichtstaatlichen Schulen in die Unterrichtsinhalte der staatlichen Schulen sind die an Privatschulen erworbenen Abschlüsse den an staatlichen Schulen erworbenen Berechtigungen gleichwertig, wobei die Abschlüsse der Sekundarstufe I automatisch und die der Sekundarstufe 11 nach Ablegung einer Prüfung vor einem gemischten Ausschuß von Lehrern aus privaten und staatlichen Schulen anerkannt werden 763 . Von den Regelungen für die Privatschulen werden die kirchlichen Schulen nicht erfaßt. Die an den kirchlichen Lyzeen erworbenen Abschlüsse sind dem Abschlußzeugnis der Gymnasien des allgemeinen staatlichen Schulwesens gleichwertig764. Eine besondere gesetzliche Regelung gilt ferner für die fünfzehn ausländischen Privatschulen. Gemäß dem vorkonstitutionellen Gesetz 4862/1931 "über ausländische Schulen" sind die an diesen Schulen erworbenen Abschlüsse denen der übrigen Privatschulen der Sekundarstufe gleichwertig765 • (4) Die Bezuschussung privater Schulen Grundsätzlich bekommen in Griechenland private Schule keinerlei staatliche Finanzhilfen. Hiervon ausgenommen sind wenige Schulen, die den staatlichen gleichgestellt sind. Nach dem Gesetz 682/1977 können allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe, sofern sie ohne Gewinnstreben unterhalten werden, staatliche Zuschüsse aus dem ordentlichen Haushalt des Bildungsministeriums, deren Höhe durch den Minister bestimmt wird, erhalten. 766
s. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 29. s. Eurydice (Hrsg.), Das griechische Bildungssystem, S. 32 f.; ders., Formen und Status, S. 28. 764 Eurydice (Hrsg.), Das griechische Bildungssystem, S. 25; Fuchs, Jochen, Bildungswesen in der Europäischen Union: Griechenland, DLZ 32/33 1995, S. 7. 765 Eurydice (Hrsg.), Das griechische Bildungssystem, S. 33. 766 Eurydice (Hrsg.), Das griechische Bildungssystem, S. 32; ders., Formen und Status, S. 28. 762 763
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
d) Perspektiven der Schulveifassung Das griechische Schulsystem ist ungeachtet der Änderungen im Bereich der Schulaufsicht hin zu einer stärkeren Beratungs- denn Eingriffsfunktion und der Einbeziehung kommunaler Vertreter in die Schulfinanzverwaltung zentralistisch und etatistisch ausgeprägt. Entsprechend der stark etatistisch-zentralistischen Ausrichtung kommt dem Privatschulwesen nur eine marginale und untergeordnete Rolle zu. So besuchen lediglich ca. 5 % der Schüler nichtstaatliche Schulen767 . Hierbei ist Griechenland das wohl einzige westeuropäische Land, in dem die Zahl der nichtstaatlichen Schulen stark rückläufig ist. So ist die Zahl der Schüler an den allgemeinbildenden Lykia von fast 27.000 im Schuljahr 1976/77 auf 6.000 im Jahre 1988 gesunken 768 , was deutlich belegt, daß in Ländern ohne staatliche Finanzhilfe keine Entwicklungsperspektiven für ein Schulwesen in freier Trägerschaft bestehen.
4. Luxemburg Nach Art. 23 Abs. 1 und 2 Luxemburgische Verfassung (Luxemb. Verf.) von 1886 in der Fassung vom 12. Juli 1996 trägt der Staat für einen unentgeltlichen und obligatorischen Primarunterricht Sorge und errichtet Anstalten für den Mittelstufen- und höheren Unterricht. Die Unterrichts organisation einschließlich der Festsetzung der erforderlichen Mittel unterliegt gern. Art. 23 Abs. 3 Luxemb. Verf. einem umfassenden Gesetzesvorbehalt.
a) Die zentrale Steuerung der Bildungsverwaltung Der Struktur des Großherzogturns entsprechend ist die überwiegende Zahl der Schulen staatlich und sind die Privatschulen numerisch gering. Auffallend ist jedoch der Unterschied des prozentualen Anteils von Privatschülern im obligatorischen Primarbereich und im Sekundarunterricht. Während im Primarbereich lediglich 2,3 % der Schüler die fünf in Luxemburg existierenden Primarschulen besuchen, sind es im Sekundarbereich knapp 10 %, die die bestehenden sechs Sekundarschulen besuchen, die einen Anteil von 27 % der Schulen ausmachen. Die Bildungsverwaltung ist zentralistisch strukturiert. Das Bildungsministerium legt für alle Ausbildungsstufen die Richtlinien für die Lehrpläne, Zielsetzungen und Unterrichtsmethoden fest, wobei die Darlegung der Unterrichtsme161 768
Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 29. Fuchs, Jochen, Bildungswesen in der Europäischen Union: Griechenland, S. 7.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Luxemburg
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thoden Empfehlungscharakter hat. Hierbei werden allerdings die im Unterricht zu verwendenden Schulbücher vorgeschriebenen, so daß insgesamt die pädagogische Freiheit der Einzelschule als gering anzusehen ist. Die Schulaufsicht überprüft für alle Schulen, also auch die Privatschulen, die Einhaltung der Lehrpläne sowie die Unterrichtsmethode der Lehrer auf Primarschulebene769 • b) Die Rechtsstellung der Privatschulen
Die rechtlichen Grundlagen des Privatschulrechts sind im Gesetz zur Primarbildung vom 10. August 1912 und dem Gesetz bezüglich der Beziehungen zwischen dem luxemburgischen Staat und dem Privatschulwesen vom 31. Mai 1982 geregelt. (1) Gründungsfreiheit
Die Gründung jeder Primarschule und Sekundarschule bedarf einer Genehmigung der Regierung, die nach Anhörung des Gemeinderates und der zuständigen Organe der Schulaufsicht erteilt wird, sofern die gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen insbesondere hinsichtlich der Qualität des Unterrichts, der Befähigung der Lehrkräfte und der baupolizeilichen und gesundheitsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Rechtsstellung der Privatschulen wird in Luxemburg im Sekundarbereich in Anlehnung an das französische Kontraktmodell geregelt. Danach unterscheidet das Gesetz im Sekundarbereich zwischen vertraglich geregelten Schulen und solchen ohne Vertrag. Einen Vertrag erhalten dabei nur solche Schulen, die den staatlichen Schulen entsprechen. Dies sind die fünf konfessionellen Schulen sowie eine bekenntnisfreie Schule. Schulen, die wie die Waldorfschule eine eigenständige, vom staatlichen Schulwesen abweichende Unterrichtskonzeption verfolgen, erhalten keinen Vertrags status. Im Primarbereich, welcher vier konfessionelle und eine bekenntnisfreie Schule umfaßt, wird ein solcher Vertrag nicht geschlossen. Die Gewährung staatlicher Zuschüsse an die Schulen liegt im Primarbereich im Ermessen der Regierung und wird nach einem Pauschalbetrag pro Schüler gewährt. (2) Die Bezuschussung von Schulen je nach Vertragsstatus
Im Sekundarbereich erhalten die Schulen nur dann staatliche Zuschüsse, wenn sie die Voraussetzungen für den Abschluß eines Vertrages erfüllen, d.h., die staatlichen Unterrichtsstandards und -kriterien anwenden. In diesem Falle gewährt das Gesetz Zuschüsse zu den laufenden Kosten, die durch das Schul-
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Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 257.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
geld nicht gedeckt werden. Hierbei wird der zu erbringende Schulgeldeigenanteil gering gehalten, um einer sozialen Selektion entgegenzuwirken. Die Höhe der Zuschüsse wird auf der Grundlage der durchschnittlichen Kosten für einen Schüler im staatlichen Schulwesen, der Qualifikation der Lehrer und der Anzahl der Schüler berechnet. 770 c) Pädagogische Freiheit und Schulvielfalt
Das Privatschulwesen ist in Luxemburg im wesentlichen ein konfessionelles, staatlich finanziertes, welches dem staatlichen Schulwesen entspricht. Daneben gibt es Schulen, die keine staatlichen Zuschüsse erhalten, weil sie in ihrer Unterrichtsorganisation vom staatlichen Schulwesen abweichen oder lediglich fachspezifische Ausbildungsgänge anbieten77I. Während die vertraglich geregelten Schulen an die Stundentafeln, Lehrpläne und Unterrichtsmethoden des staatlichen Schulwesens gebunden sind, besteht für die vertraglich nicht gebundene Schule ein gewisser pädagogischer Spielraum, obgleich auch diese der staatlichen Schulaufsicht unterliegt. Jede Änderung des Lehrplans muß der Schulaufsicht mitgeteilt und von dieser genehmigt werden. Das Berechtigungswesen ist insofern monopolisiert, als Schüler für das Abschlußzeugnis der Oberstufe ihre Prüfung nicht an der privaten Schule, sondern an einer staatlichen Schule ablegen müssen. Ansonsten werden die Abschlüsse der Privatschulen, deren Unterricht dem staatlicher Schulen entspricht, anerkannt772 • Insgesamt ist das luxemburgische Bildungswesens als zentralistisch und etatistisch zu charakterisieren, welches wenig Selbstgestaltungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Selbstorganisation eröffnet und abweichende pädagogische Konzeptionen von der staatlichen Bezuschusssung ausschließt.
5. Das portugiesische Bildungswesen a) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Schulverfassung
Die portugiesische Schulverfassung steht in der romanischen Tradition und ist von daher in den Grundzügen der französischen und spanischen Schulverfassung verwandt. Im Gegensatz zu diesen Ländern sind die jüngsten Reformen
Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S, 64. Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 258. 772 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 65. 770 771
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Portugal
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zur Dezentralisierung des Schulwesens jedoch relativ weitgehend und lassen eigene Strukturen erkennen. Die portugiesische Verfassung von 1976 enthält für das Bildungswesen umfassende Regelungen, die in der Systematik des Verfassungs aufbaus deutlich zeigen, daß der portugiesischen Verfassung ein sozialstaatlich geprägtes Verfassungsverständnis zugrunde liegt, als nämlich nicht nur die klassischen Freiheitsrechte als Grundrechte in die Verfassung Eingang gefunden haben, sondern auch die sozialen und kultureIIen Rechte. Hierbei regelt die Verfassung nicht etwa wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland systemfremd in Art. 7 GG neben den Freiheitsrechten auch alle staatlichen Organisationsberechtigungen im Abschnitte der grundrechtlichen Freiheiten des einzelnen, sondern die Verfassung unterscheidet in persönliche Rechte, Freiheiten und Garantien im Bildungswesen in Art. 43 Portugiesische Verfassung (Port. Verf.) und sonstige Rechte und Pflichten im Bildungswesen in Art. 73 ff. Mit dieser systemgerechteren Struktur der Bildungsartikel ist freilich noch nicht beantwortet, ob damit dem Anspruch einer bürgerschaftlichen Schulverfassung, die den Prinzipien des Pluralismus und einer sozialstaatlichen Einstandspflicht gleichermaßen verpflichtet ist, hinreichend Rechnung getragen wird. Die nationalen Grundlagen des Bildungswesens werden wesentlich durch die den Art. 43 und 73 ff. Port. Verf. zugrundeliegende demokratische Intention in Überwindung der totalitären Strukturen der vorkonstitutioneIIen Zeit geprägt. Danach gewährt die Verfassung gern. Art. 43 Abs. 1 nicht nur die Lern- und Lehrfreiheit, sondern verbietet dem Staat nach Abs. 2 jegliche ideologische Instrumentalisierung des Schulwesens. Gemäß Art. 43 Abs. 2 Port. Verf. darf sich der Staat nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ästhetischer, politischer, ideologischer oder religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen. Zugleich garantiert Art. 43 Abs. 3 Port. Verf. die Konfessionsfreiheit des staatlichen Schulwesens. In Art. 43 Abs. 4 Port. Verf. ist das Recht auf Errichtung von Privatschulen und genossenschaftlichen Schulen gewährleistet. Diese werden gern. Art. 75 Abs. 2 vom Staat anerkannt und unterliegen nach Maßgabe der Gesetze seiner Überwachung. Diese institutioneIIe Garantie verknüpft die Verfassung mit einem Recht auf Bildung gern. Art. 73 Abs. I i.V.m. Art. 74. Der staatliche Erziehungsauftrag nach Art. 73 Abs. 2 Port. Verf. soII die Schüler zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit sowie dazu befähigen, einen Beitrag zum sozialen Fortschritt und zur demokratischen Teilhabe am Gemeinschaftsleben zu leisten. Hierbei betonen Art. 74 Abs. I und 2 Port. Verf. im besonderen Maße die sozialstaatliche Aufgabe der Gewährung von Chancengleichheit, indem nicht nur in Abs. I das Prinzip der Chancengleichheit gewährleistet wird, sondern gern. Abs. 2 die Schulbildung dergestalt anzupassen ist, daß sie jegliche Funktion des Konser-
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
vierens von wirtschaftlichen, sozialen und kultureIlen Ungleichheiten überwindet, also eine weitgehende Staatszielbestimmung formuliert. b) Die Struktur der Schulverwaltung und Gestaltungsmöglichkeiten der staatlichen Einzelschule
Portugal besitzt traditioneIl wie aIle romanischen Länder eine zentralstaatliche Bildungsstruktur, die jedoch durch eine Reihe von Reformmaßnahmen im Wandel begriffen ist. Gegenwärtig läßt sich das portugiesische Schulsystem als ein gegliedertes, mehrstufiges Bildungssystem mit einer zentralisierten Verwaltung charakterisieren, obgleich mit dem Bildungsgesetz Nr. 46/86 vom 14. Oktober 1986 und den im Anschluß hieran erlassenen Dekreten in der Bildungsverwaltung erste Schritte im Hinblick auf eine weitere Dezentralisierung und die Stärkung der Kompetenzen der regionalen und lokalen Behörden unternommen wurden 773 • Danach sind die regionalen Bildungsbehörden "DienststeIlen mit autonomer Verwaltung, deren übergreifende Zielsetzung es ist, die Koordination und Unterstützung der Schulen und nichtuniversitären Einrichtungen auf regionaler Ebene sowie die Verwaltung der personeIlen, finanzieIlen und materieIlen Ressourcen gemäß der nationalen Politik und den nationalen Zielsetzungen zu gewährleisten,,774. Ausdruck dieser zunehmenden Dezentralisierung der Schulverwaltung ist auch eine im Vergleich mit anderen zentralistischen Bildungssystemen weitreichende Haushaltsautonomie der einzelnen Schule. "Jede Schule bekommt ein Budget, dessen Umfang sich hauptsächlich nach der Zahl der Schüler richtet. Die Schule hat die Freiheit, das Geld selbst zu verwalten, was aIlerdings nicht für die Gehälter gilt", die zentral festgelegt werden 775 • Mit dem neuen Rahmenbildungsgesetz von 1986 ist vornehmlich ein neues System der Leitung und Verwaltung der Schulen eingeführt worden. Dieses neue Verfahren soIl den Schulen verstärkte Mitsprache- und Entscheidungsrechte gewähren und ihnen eine stärkere pädagogische, administrative und finanzieIle Unabhängigkeit ermöglichen. So wird der SchuIIeiter nunmehr von der Schulkonferenz bzw. Schulbezirkskonferenz776 , der neben dem SchuIleiter und Vertretern des Lehrkörpers sowie des sonstigen Personals auch Eltern-, Schüler- und Kommunalvertreter angehören, gewählt. Die Lehrerkonferenz, an der auch Elternvertreter teilnehmen, erarbeitet den Schulplan und das Schul773 s. hierzu Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S.9 (35); Fuchs, Jochen, Bildungssysteme in Europa, Portugal, Schulmangement 1991, S. 36. 714 Zit. nach Europäische Kommission (Hrsg.), l. Aufl., S. 166. m Fuchs, Jochen, Bildungswesen in der Europäischen Union: Portugal, DLZ 32/33 1995, S. 9. 776 Solche Schulbezirkskonferenzen werden eingerichtet, wenn die einzelnen Schulen zu klein sind, funktionsfähige Selbstverwaltungsorgane auszubilden.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Portugal
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programm und sonstige Aktivitäten und entwickelt Vorschläge zur Unterrichtsorganisation. Der Schulverwaltungsrat schließlich, dem neben dem Schulleiter ein Assistent und der Leiter der Schulverwaltungsdienste angehören, ist für die allgemeine Verwaltung und den Haushalt der Schule verantwortlich777 • Bei alledern ist jedoch die Einzelschule weiterhin in die nationale Lehrplangestaltung eingebunden und unterliegt nicht nur der Rechts-, sondern auch der Fach- und Dienstaufsicht der zentralen Schulaufsichtsbehörde, der fünf regionale Schulaufsichtsdienste untergeordnet sind. c) Die Rechtsstellung der Schulen injreier Trägerschajt
Die verfassungsrechtlich in Art. 43 Abs.4 i.V.m. Art. 75 Abs.2 gewährte Privatschulfreiheit wird auf einfachgesetzlicher Grundlage im wesentlichen durch das Rahmengesetz Nr. 9/1979 über die privaten und kooperativen Schulen, das Gesetz Nr.65/1979 über die Freiheit der Bildung und das Gesetz Nr. 553/1980 über den Status der privaten und kooperativen Schulen konkretisiert. Hierbei lehnt sich die rechtliche Systematik stark an das Kontraktmodell spanischer und französischer Prägung an. Dementsprechend werden die Schulen jeweils nach ihrem Vertragsstatus unterschieden. Danach gibt es Schulen ohne Vertrag, mit einem einfachen Vertrag (contrato simple), mit einem Assoziationsvertrag (contrato de assiciacao) und mit einem Patronatsvertrag (contrato de patrocinio)778. (1) Gründungsfreiheit Die Gründung und Errichtung nichtstaatlicher Schulen, d.h., solcher Schulen, die von einer Einzelperson oder in kooperativer Trägerschaft privatrechtlieh betrieben werden und nicht dem Staat, den autonomen Regionen, den Gemeinden oder juristischen Personen des öffentlichen Rechts unterliegen, bedürfen der Genehmigung zur Errichtung durch die zuständige Unterrichtsbehörde. Diese kann eine vorläufige oder endgültige Genehmigung zum Betrieb erteilen, wenn der Antragsteller eine hinreichende Qualifikation seiner Person und des Lehrkörpers nachgewiesen hat, die Schule hinsichtlich der Einrichtung und Lehrmaterialien ausreichend ausgestattet ist und dem Niveau der Lehrpläne und den allgemeinen Grundzügen der Bildungspolitik entspricht. (2) Die Bezuschussung nichtstaatlicher Schulen Für die Form und Höhe der Bezuschussung ist der Vertragsstatus der jeweiligen Schule maßgeblich. 777
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Europäische Kommission (Hrsg.), 2. Aufl., S. 333. s. hierzu im einzelnen Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 75 ff.
22 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Danach haben Schulen mit einem Assoziationsvertrag einen Anspruch auf Bezuschussung in einer Höhe, die den Kosten pro Schüler in gleichwertigen staatlichen Schulen entspricht. Voraussetzung für den Abschluß eines Assoziationsvertrages ist, daß der Unterricht an den Schulen dem Unterricht im staatlichen Schulwesen entspricht und der kostenlose Zugang zur Schule nach den gleichen Kriterien wie an staatlichen Schulen gewährleistet ist. Solche Assoziationsverträge werden in Regionen abgeschlossen, in denen nicht genügend staatliche Schulen vorhanden sind. Die an diesen Schulen erworbenen Abschlüsse und Befähigungsnachweise sind den Abschlüssen an staatlichen Einrichtungen gleichwertig. Schulen mit einem Patronats vertrag erhalten mindestens 50 % der laufenden Kosten erstattet und können Schulgeld erheben, um ihren laufenden Unterrichtsbetrieb zu decken. Ein Patronats vertrag wird insbesondere mit Schulen abgeschlossen, die spezifische Lehrplanangebote oder innovative pädagogische Aktivitäten entfalten, die den Zielen der staatlichen Bildungspolitik entsprechen und die einen den staatlichen Schulen gleichwertigen Unterricht u.a. in einer Art gewährleisten, die den Übergang zu anderen (staatlichen) Schulen ermöglicht. Des weiteren gibt es Schulen mit einem einfachen Vertrag, dessen Inhalt die Ermöglichung besonderer Zugangsmöglichkeiten durch die Bezuschussung pro Schüler mit dem Ziel der Ermäßigung des zu erhebenden Schulgelds an dieser Schule ist. Schulen ohne Vertrag haben keinen Anspruch auf staatliche Zuschüsse und müssen sich über das Schulgeld finanzieren, sofern nicht im Rahmen des Ermessens der Exekutive Zuschüsse unabhängig vom Vertrags status gewährt werden. Unabhängig von den vertraglich geregelten Zuschüssen zu den laufenden Kosten kann der Staat den Schulen, die der Zielsetzung des staatlichen Bildungswesens entsprechen, zusätzliche Mittel zukommen lassen. Dies umfaßt sowohlInvestitionskosten als auch allgemeine Sozialleistungen. Hinsichtlich der Investitionskosten für Gebäude können Privatschulen zudem gern. Gesetz Nr. 344 vom 28. September 1988 i.V.m. dem Erlaß 156/ME vom 15. September 1988 zins günstige Kredite zum Bau, Erwerb und Ausbau schulischer Einrichtungen erhalten779. Die Grundkonzeption der Bezuschussungsregelungen für nichtstaatliche Schulen knüpft wie in Frankreich und Spanien im wesentlichen nicht an einen Pluralismus der Bildungsangebote, sondern an die Wahrnehmung staatlich definierter Aufgaben durch private Träger an, im rechtlichen Sinne stellt die Bezuschussung also eine Art Aufwendungsersatz dar, die inhaltlich an die Erfül779
Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 76 f.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Portugal
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lung staatlicher Vorgaben geknüpft ist. Diese etatistische Grundkonzeption wird durch die Möglichkeit von Patronatsverträgen gemildert, ohne jedoch ein gleichberechtigtes Miteinander verschiedener pädagogischer Konzeptionen zu garantieren, da Schulen mit einer eigenständigen pädagogischen Konzeption keinen Vertragsstatus erhalten und nicht berechtigt sind, Abschlußprüfungen abzuhalten, die durch Ministerialerlaß geregelt werden. Die nichtstaatlichen Bildungsträger sind zusammengeschlossen im Rat für private und kooperative Schulen, eines von fünf beratenden Organen des Bildungsministeriums, was als ein positives Strukturelement für die Bildungsplanung zu werten ist. Zudem haben die Schulen in freier Trägerschaft im Rahmen der staatlichen Genehmigung von "Bildungsprojekten" die Möglichkeit, spezifische Schulprofile zu verwirklichen. Hierbei wird unterschieden in -einen "pädagogisch autonomen" und einen "pädagogisch parallelen" Status gegenüber den staatlichen Schulen, wobei dieser jeweilige Status entweder für die ganze Schule oder nur einzelne Schulstufen vergeben werden kann. Die pädagogisch parallelen Schulen sind hinsichtlich ihrer methodischen Ausrichtung der Wahl der Lehr- und Lernmittel sowie der Leistungsbeurteilung einschließlich der Durchführung von Prüfungen selbständig, solange sie eine dem staatlichen Bildungssystem gleichwertige Bildung vermitteln. Sie sind aber nicht berechtigt, selbst Abschlußzeugnisse oder sonstige Bescheinigungen für das Berechtigungswesen auszustellen, sondern dies obliegt den "offiziellen Instanzen"78o. Die pädagogisch autonomen Schulen haben über die den pädagogisch parallelen Schulen gewährten Freiheiten hinaus unter dem Vorbehalt der Gleichwertigkeit zudem die Freiheit, die Lehrpläne und Lehrinhalte selbst zu gestalten. Von diesen Schulen erteilte Zeugnisse und Berechtigungen müssen von der zuständigen Generaldirektion für private und kooperative Schulen genehmigt werden und sind dann offiziell anerkannt. Alle Schulen, die einen Vertrag geschlossen haben, unterliegen im Rahmen der ihnen gewährten Freiräume der staatlichen Schulaufsicht, die auch die Rechtsaufsicht über die Schulen ohne Vertrag ausübt. In Portugal besuchen ca. 8, 6 % der Sekundarschüler und 6,8 % der Schüler auf den drei Stufen der obligatorischen neunjährigen Grundbildung eine nichtstaatliche Schule. Wie in Spanien gibt es nur eine Waldorfschule. d) Entwicklungstendenzen der Schulverfassung
Das portugisische Bildungssystem ist gegenwärtig durch eine Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen des staatlichen Schulwesens geprägt. Diese 780 Eurydice (Hrsg.), Fonnen und Status, S. 78.
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
hält am Vorrang der staatlichen Schule gegenüber Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft fest, wobei das Schulsystem durch die alte Dualität zwischen staatlicher und katholischer Schule geprägt ist. Gleichwohl sind, wenn auch in geringem Umfang, Elemente einer bürgerschaftlichen Schule innerhalb des staatlichen Schulwesens im Entstehen. 6. Das spanische Bildungswesen a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens
Mit der Verfassungsreform von 1978 und dem Wandel Spaniens von einem autoritär-zentralistischen Einheitsstaat zu einem demokratischen Staat mit siebzehn autonomen Gemeinschaften, die eine Mittelstellung zwischen den italienischen Regionen einerseits und den deutschen Bundesländern andererseits einnehmen781 , hat sich nicht nur die Struktur des spanischen Bildungswesens gewandelt, sondern mit dem Niederwerfen der Franco-Diktatur sind überhaupt erst die Weichen für ein demokratisches Schulwesen geschaffen worden, in dem das Grundrecht der Unterrichtsfreiheit anerkannt wurde und neben den kirchlichen Schulen auch reformpädagogische und alternative Schulformen in freier Trägerschaft einen Platz haben können782• Hierbei wandelte sich das Bildungswesen von einem obrigkeitsstaatlich autoritären, in dem es neben den Staatsschulen nur katholische Schulen gab und selbst "evangelische Unterrichtsbemühungen ... mit Folter geahndet wurden", zu einem heute vollständig säkularisierten Schulwesen, in dem eine eigene religiöse Ausrichtung nur in anerkannten kirchlichen Schulen und zusätzlich zum staatlich vorgeschriebenen Bildungsangebot zulässig ist783 • Verfassungsrechtlich setzte dies die durch die Verfassung von 1978 vollzogene Trennung von Kirche und Staat und die Gewährung der Religionsfreiheit voraus - bis dahin war der römisch-katholische Glaube Staatsreligion. Historisch hat das konfessionelle Bildungswesens in Spanien schon immer einen besonderen Platz eingenommen, den es bis heute behauptet hat784 . Die historischen Grundlagen für das spanische Bildungswesen wurden erstmals 781 Chiner, Maria Jesuus Montoro, Spanische Kompetenzverteilung im Bereich von Kultur, Bildung und Medien im Hinblick auf EG-Rechtssetzung. In: Merten, DetIef (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung. Berlin 1990, S. 183 (184 f.). 782 s. Schubert, Andreas, Erste Waldorfschule in Spanien eröffnet, Erziehungskunst, 1987, S. 802, der darauf hinweist, daß vor 1976 unter Franco etwa alle Aktivitäten von Waldorfpädagogen in Spanien verboten waren. 783 Schultze, Herbert, Religionsunterricht bei unseren europäischen Nachbarn - Spanien, Erziehen Heute, 1993, S. 20 (25). 784 Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 39.
VII. Zentralistisch-etatistische Schulverfassungen: Spanien
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1857 mit dem Gesetz Ley Moyano gelegt. In diesem Gesetz wurde die zentrale Kontrolle des nationalen Bildungsministeriums sowohl inhaltlich wie auch pädagogisch niedergelegt. Zugleich erkannte das Gesetz die Parallelität von staatlicher und privater, d.h. zum damaligen Zeitpunkt kirchlicher, Bildung an. Ein weiterer wesentlicher normativer Grundstein für die Entwicklung des spanischen Bildungswesens war darüber hinaus das Allgemeine Bildungsgesetz von 1970, in welchem die Primar- und Sekundarbildung neu strukturiert wurde. Auch dieses Gesetz unter der Franco-Diktatur anerkannte die besondere Stellung der katholischen Kirche und gewährte ihr das Recht, eigene Bildungsinstitutionen zu unterhalten und an den staatlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten785. b) Die veifassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen des Bildungswesens Mit der Beendigung der Franco-Diktatur war eine Neuordnung des Bildungs wesens im Sinne einer Demokratisierung und gleichzeitig einer Dezentralisierung verbunden. Eingeleitet wurden diese Wandlungsprozesse durch die neue demokratische Verfassung vom 27. Dezember 1978 und dem dort in Art. 27 niedergelegten Recht auf Bildung. Hieran schlossen sich drei tiefgreifende Reformen der Schulgesetzgebung an, das Gesetz über das Recht auf Bildung (LODE) vom 3. Juli 1985, das Gesetz über die allgemeine Ordnung des Bildungswesens vom Oktober 1990 (LOGSE) sowie das 1995 erlassene allgemeine Bildungsgesetz (LOPEG). In diesen Gesetzen wurden die Grundlagen für eine Dezentralisierung und Regionalisierung des spanischen Bildungswesens gelegt und eine Reihe von Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechten von Lehrern, Eltern und Schülern normiert. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 der Spanischen Verfassung (CE) haben "alle" das Recht auf Erziehung. Dieses Recht auf Erziehung ist im Kontext des Art. 27 CE zugleich als Recht auf Bildung zu verstehen, wie insbesondere die Abs. 3 bis 5 verdeutlichen. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 CE besteht die Freiheit des Unterrichts. Diese wird verfassungsrechtlich verstärkt durch die Regelung des Art. 27 Abs. 6 CE, der natürlichen und juristischen Personen die Freiheit zuerkennt, im Rahmen der Achtung der Prinzipien der Verfassung Schulen einzurichten. Hierbei korrespondiert diese Regelung mit Art. 27 Abs. 3 CE, wonach die öffentliche Gewalt das Recht der Eltern auf eine religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder, die mit ihren eigenen Anschauungen übereinstimmen, ge-
785 Vgl. zur historischen Entwicklung näher Goetze, Dieter, Spanien. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa 4. Aufl. WeinheimIBasel 1996, S. 213 ff.; Schade, Angelika, Spanien. In: Döbert, Hans/Geißler, Gert (Hrsg.), Schulautonomie in Europa. Baden-Baden 1997, S. 397 (400 ff.).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
währleistet. Weitergehende leistungsrechtliche Ansprüche normiert die Verfassung nicht. Soweit Schulen in freier Trägerschaft hieraus unmittelbare leistungsrechtliche Ansprüche herleiten, geht die h.M. davon aus, daß es sich nicht um einklagbare Rechte, sondern um eine Staatszielbestimmung handelt786 • Soweit Schulen öffentliche Mittel erhalten, haben die Lehrer, Eltern und ggf. die Schüler gern. Art. 27 Abs. 7 CE innerhalb der gesetzlichen Grenzen ein Mitspracherecht bei der Kontrolle und der Führung der Schule. Gleichzeitig sichert die Verfassung aber auch einen weitgehenden Einfluß des Staates auf das Schulwesen, indem Art. 27 Abs. 8 CE zum einen normiert, daß die öffentliche Gewalt das Bildungswesen beaufsichtigt und vereinheitlicht, um die Durchführung der Gesetze zu gewährleisten, und zum anderen festlegt, daß die öffentliche Gewalt die Schulen unterstützt, welche die vom Gesetz festgelegten Bedingungen erfüllen. Diese beiden Normen und ihre einfachgesetzliche Umsetzung haben in Spanien ungeachtet gewisser Dezentralisierungstendenzen ein entscheidendes Hindernis für die Verwirklichung von Schulvielfalt bewirkt und belegen die etatistische Tradition des spanischen Bildungswesens. c) Autonomiestatut und Zuständigkeiten im Bildungswesen
Für die Demokratisierung des spanischen Bildungswesens ist nicht nur seine Entideologisierung von besonderer Bedeutung gewesen, sondern auch zunehmende die Anerkennung der ethno-kulturellen Vielfalt der spanischen Bevölkerung, die sich vor allem darin ausdrückt, daß neben den Spaniern die V olksgruppen der Basken, Galicier und Katalanen jeweils eine Minderheit mit einer eigenen sprachlichen und kulturellen Identität ausmachen. Diese Respektierung der ethno-kulturellen Vielfalt hat zwangsläufig den Prozeß einer Föderalisierung und Dezentralisierung des spanischen Bildungswesens zur Folge. Neben der verfassungsmäßigen und nationalen Dezentralisierung Spaniens im Sinne einer Teilföderalisierung ist auch die Neuordnung des Bildungswesens durch das LOGSE noch nicht abgeschlossen, welches Auswirkungen auf die Bildungsstruktur hat. Insbesondere die Zuordnungen von Kompetenzen im Bildungsbereich ist relativ kompliziert, weil zwischen den Zuständigkeiten der einzelnen Regionen erhebliche Unterschiede bestehen. Dieser grundlegende Wandlungsprozeß des spanischen Schul- und Bildungswesens sieht eine bis zur Vollendung noch ins Jahr 2000 reichende umfassende Neustrukturierung vor787 • Die Verfassung unterscheidet im Bildungsbereich zwischen ausschließlichen Zuständigkeiten des Zentralstaates und Fakultativzuständigkeiten der Regionen. Danach enumeriert die Verfassung zweiunddreißig Bereiche, für die aus786 787
s. Mason, Peter, Independent Education, S. 70. s. hierzu Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., Spanien, S. 85 ff.
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schließlich der Staat zuständig ist, und weist weitere zweiundzwanzig Bereiche aus, die in die fakultative Zuständigkeit der Regionen fallen können. Verfassungsrechtlich findet dies seinen Niederschlag vor allem in der Kompetenznorm des Art. 149 Abs. 1 CE. Danach behält sich der Staat u.a. im Bereich des Bildungswesens "die Normierung von "Grundlagen", "Basisnormen" bzw. der "grundlegenden Gesetzgebung" vor, gestattet auf diesen Grundlagen aber den Autonomen Gemeinschaften, im Rahmen ihres jeweiligen Statuts eigene Gesetze zu erlassen,,788. Der Zentralstaat ist danach insbesondere zuständig für die Regelungen des Berechtigungswesens und die grundlegenden Richtlinien bezüglich der Wahrnehmung des durch die Verfassung garantierten Rechts auf Bildung, was konkret insbesondere eine Kompetenz für das Versetzungs- und Bewertungswesen, die Festlegung der Unterrichtsanforderungen, die Aufsicht über das Schulwesen und die Regelung von Zuschüssen umfaßt789• Danach hat der Staat weiterhin das Recht zur Regelung der allgemeinen Grundbedingungen für das Schulwesen, insbesondere hinsichtlich rechtlicher Organisation der Schulzentren, der Festlegung von Mindestanforderungen hinsichtlich der Lehrer mit akademischen Titeln, der Zahl der Schüler pro Klasse und Lehrer, der Basisnormen für Schulvereinbarungen zwischen dem Staat und Schulen in freier Trägerschaft, der Lehrerbesoldung, der inhaltlichen Grundausrichtung des Bildungswesens und des Erziehungssystems und einer entsprechenden Schulaufsicht, doch besitzen die einzelnen autonomen Regionen darüber hinaus auch eigene Entscheidungs- und Regelungskompetenzen etwa hinsichtlich der Genehmigung privater Schulen sowie deren Subventionierung790 . Diese Wahrnehmung der partiellen Gesetzesautonomie der Regionen ist aber wiederum nicht einheitlich geregelt, sondern die Verfassung schreibt zwei verschiedene Verfahren zur Erlangung der Zuständigkeit vor. Von den insgesamt 17 autonomen Gebieten wurden lediglich die "historischen Gebiete" (Baskenland, Katalonien, Galizien und Navarra) e~ächtigt, aufgrund ihres Autonomiestatus die volle Zuständigkeit zu übernehmen, wovon inzwischen alle Gebrauch gemacht haben (Navarra erst 1990). Die anderen dreizehn autonomen Gebiete können auf Antrag ihre volle Zuständigkeit erst dann erhalten, wenn sie ihre jeweiligen mindestens fünf Jahre bestehenden Autonomiestatute reformieren, wobei davon ausgegangen wird, daß bis zum Jahre 2000 alle Gebiete ihre volle (Teil-)Zuständigkeit im Rahmen der Verfassung übertragen be-
Chiner, Maria Jesuus Montoro, S. 186. Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 77; s. a. Goetze, Dieter, S. 217. 790 Chiner, Maria Jesuus Montoro, S. 190. 788
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kommen79J • Demnach gibt es in Spanien neben dem zentralen Bildungsministerium weitere regionale Bildungsverwaltungen792 • Obgleich damit eine gewisse Dezentralisierung des Bildungswesens in Spanien einhergegangen ist, die es den autonomen Regionen zumindest partiell ermöglicht, ihre eigene kulturelle und sprachliche Identität zu erhalten und zu pflegen, sind die Strukturbedingungen doch überwiegend durch die sehr weitgehende ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Zentralstaates für die Grundausrichtung des Bildungswesens geprägt. So werden ungeachtet regionenspezifischer Besonderheiten die curricularen Richtlinien zentral vom Bildungsministerium geregelt und die Bildungsgesetze vom gesamtstaatlichen Parlament und dem Senat (Länderkammer) verabschiedet793 • Dementsprechend sind die Grundlagen für das Schulwesen in seiner Struktur national einheitlich geregelt. d) ReJormtendenzen im Bildungswesen
Mit den dargestellten Dezentralisierungstendenzen des spanischen Bildungssystems geht auch eine gewisse Stärkung der Einzelschulen einher. Wesentliche Mittel zur Stärkung der Einzelschule und ihrer Profilbildung sind wie in anderen europäischen Ländern die Erarbeitung eines spezifischen Schulprogramms sowie die Verstärkung der Haushaltsautonomie der Einzelschule794 • Danach soll zur Erhöhung der Schuleffizienz und der Beteiligung der verschiedenen Mitglieder der Schulgemeinschaft die Schulkonferenz, in der die Lehrer die Mehrheit besitzen, das Schulprogramm erarbeiten und nach den Bestimmungen des LODE "die Aufsicht über die allgemeinen Aktivitäten der Schule in administrativer und pädagogischer Hinsicht ausüben,,795, den Haushalt der Schule billigen und Entscheidungsrechte bezüglich der Anschaffung von und Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln der Schule besitzen796• Ferner ist durch das LOGSE-Gesetz im Vergleich zum LODE-Gesetz die Detailsteuerung des - für alle Schulen unabhängig von der Trägerschaft verbindlichen - Kerncurriculums durch eine "offenere" Beschreibung der Unterrichtsgegenstände gelockert worden, so daß größere pädagogische Freiräume in der Unterrichtsgestaltung bestehen. Mit dem Gesetz über die Partizipation, Evaluation und Verwaltung der Schulen (LOPEGCE) aus dem Jahre 1995 wurden innerhalb des staatlich vorgegebenen Curriculums gewisse Freiräume der Unterrichtsgestaltung, die Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 78. Europäische Kommission (Hrsg.), 1. Aufl., S. 78. 793 Lemke, Dietrich, S. 194. 794 s. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 61 ff. 795 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 62 (65). 796 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 75. 791
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Pflicht zur Fonnulierung und Veröffentlichung ihres Schul programms und deren Evaluation sowie die Einbeziehung der Schulgemeinde in die Budgetverwaltung, die organisatorische Verwaltung und Steuerung der Schule eingeführt 797 • Diese Rechte der einzelnen Schule gehen allerdings keineswegs so weit, daß von einer Einführung des Prinzips der (teil-)autonomen Schule gesprochen werden könnte 798 • Die staatliche Aufsicht über das Schulwesen wird je nach Kompetenzlage entweder zentral oder regional ausgeübt und umfaßt sowohl die Aufsicht im klassischen Sinne als auch Beratungsfunktionen zur Entwicklung der Schulqualität. Der Schulaufsicht unterliegt sowohl die Einhaltung des Lehrplans und Ressourcennutzung einschließlich der Unterrichtsmaterialien als auch der Beurteilung der Lehrer799 . Hierbei obliegt der Schulaufsicht auch die Überwachung der Einhaltung der staatlichen Neutralität in der Schule, die gewährleisten soll, daß die Schule für alle Geistesströmungen und alle Verhaltensstandards offen sein muß, die gesetzlich erlaubt sind, ohne sich mit einer dieser Anschauungen zu identifizieren 8OO • Gleichzeitig bestehen durch im LODE von 1985 festgelegte Mitwirkungsrechte der gesellschaftlichen Gruppen gewisse, wenn auch sehr begrenzte Einflußmöglichkeiten auf die gesamtstaatliche Bildungsplanung im Rahmen des hierfür zuständigen Staatlichen Rates für das Schulwesen80I . Diese gründen in dem in Art. 27 Abs. 7 CE unter einem Gesetzesvorbehalt anerkannten Recht der Lehrer, Eltern und gegebenenfalls der Schüler sich an der Kontrolle und Leitung aller mit öffentlichen Mitteln unterhaltenen Schulen zu beteiligen. e) Die Rechtsstellung der Schulen infreier Trägerschajt
Aufgrund der historisch gewachsenen starken Stellung der katholischen Kirche im spanischen Bildungswesen kommt dem nichtstaatlichen Sektor in absoluten Zahlen eine besondere Bedeutung zu. Danach besuchen ca. 37 % der Schüler nichtstaatliche, d.h., ganz überwiegend katholische Schulen 802 . So sind 30 % der Grundschulen und 50 % der Sekundarschulen in privater bzw. nichtstaatlicher Trägerschaft803 , wobei die 50 % der Privatschulen im Se-
Schade, Angelika, Spanien, S. 408. Vgl. Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 62 (101). 799 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 124. 800 s. de los Mozos Touya, I., Educaci6n en libertad y concierto escolar. Madrid 1995, S. 248, zit. nach Glenn, Charles, S. 322 (332). 801 s. Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 40; Goetze, Dieter, S. 216. 802 Goetze, Dieter, S. 225 f. 803 Lemke, Dietrich, S. 192. 797
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kundarbereich lediglich von 23 % der Sekundarschüler besucht werden s04 • Hierbei kann man bei den weitaus meisten dieser Schulen unter dem Aspekt pädagogischer Autonomie nicht von Schulen in freier Trägerschaft sprechen, da sie im wesentlichen in kirchlich-katholischer Trägerschaft den staatlichen Curricula entsprechend arbeiten und mit einer Assoziation an den Staat gebunden sind. Die spanische Verfassung verbürgt den nichtstaatlichen Schulen grundsätzlich das Recht der Lehr- und Unterrichtsfreiheit im Rahmen der Verfassung. Darüber hinaus unterstützt gern. Art. 27 Abs. 9 CE die öffentliche Gewalt die Schulen, welche die vom Gesetz festgelegten Bedingungen erfüllen. Einfachgesetzliche Grundlage für das Nebeneinander von staatlicher und privater Schule ist insbesondere das Bildungsgesetz von 1985 (LODE), welches die Voraussetzungen für den Betrieb und die Bezuschussung privater Bildungseinrichtungen regelt. Das Gesetz erhebt den Anspruch, ein gemischtes System von staatlichem und freiem Bildungsangebot zu sichern, das "kontrolliert und kohärent den gesellschaftlichen Bildungsbedarf abdeckt und die Wahrnehmung des Rechts auf freie Schulwahl ermöglicht"So5. Die Regelungen des LODE werden ergänzt durch die Rahmengesetzgebung des LOGSE vom 3. Oktober 1990 sowie den königlichen Erlaß Nr.2377 vom 18. Dezember 1985, der die grundsätzlichen Bestimmungen zu Verträgen zwischen nichtstaatlichen Schulen und dem Staat enthält. Die nichtstaatlichen Schulen unterscheiden sich in anerkannte (centro concertado) und nicht anerkannte (centro no concertado). (1) Gründungsfreiheit Durch Art. 27 Abs. 6 CE wird natürlichen und juristischen Personen die Freiheit zuerkannt, im Rahmen der Achtung der Prinzipien der Verfassung Schulen zu gründen. Gemäß Art. 10 und 13 LODE werden als Privatschulen solche Einrichtungen angesehen, deren Träger eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts ist, und die als solche in einem staatlichen Verzeichnis der zuständigen Bildungsverwaltung aufgeführt wird. Nach Art. 23 LODE in der durch die 6. Ergänzungsbestimmung des LOGSE geänderten Fassung bedarf die Errichtung und Betreibung einer Privatschule der Genehmigung der Unterrichtsverwaltung. Um in ein solches Verzeichnis aufgenommen zu werden, muß die Schule gern. Art. 14 des LODE-Gesetzes die von der Regierung festgelegten Mindest804 Eurydice (Hrsg.), Verwaltungs- und Evaluierungsstrukturen, S. 32. Dies hat seinen Grund ähnlich wie in Frankreich und Italien jedoch nicht in einer günstigeren Lehrer-Schüler-Relation, sondern der niedrigen Schulgröße dieser Schulen. 805 Goetze, Dieter, S. 216.
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anforderungen hinsichtlich der Qualität des Unterrichts, der Qualifikation der Lehrer, der Schüler-Lehrer-Relation sowie der schulischen Einrichtungen erfüllen. Diesbezüglich müssen die Schulen gern. Ausführungserlaß Nr. 1004 vom 14. Juni 1991 in eigenen Gebäuden untergebracht sein, die gesetzlichen Hygiene-, Akustik- und Sicherheitsvorschriften erfüllen sowie die Zugänglichkeit für körperbehinderte Schüler erfüllen. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird die erforderliche Genehmigung erteilt. (2) Pädagogische Freiheit, Schul vielfalt und die Bezuschussungsvoraussetzungen für Schulen in freier Trägerschaft Das spanische Modell der Bezuschussung lehnt sich eng an das französische Modell an. Danach müssen die Schulen staatlich anerkannt sein und Verträge mit der öffentlichen Verwaltung schließen, um Zuschüsse zu erhalten. Hierbei regeln das Erziehungsgesetz von 1985 (LODE) und das neue Bildungsgesetz von 1995 (LOPEG) im einzelnen die Zuschußvoraussetzungen. Schulen in freier Trägerschaft erhalten nur dann staatliche Zuschüsse, wenn sie sich per Vertrag den staatlichen Mindestanforderungen unterwerfen, um den Status eines centro concertado zu erhalten. Schulen, die ein eigenes pädagogisches Profil verfolgen, welches in wesentlichen Punkten vom staatlichen Lehrplan abweicht, besitzen nicht diesen Status einer per Vertrag gebundenen Schule und erhalten als centro autonomo bzw. centro no concertado auch keine staatlichen Zuschüsse. Voraussetzung für die Bezuschussung ist darüber hinaus, daß für den Unterricht, für den ein Vertrag abgeschlossen wurde, kein Schulgeld erhoben wird; zusätzliche Aktivitäten, für die ein Entgelt erhoben wird, bedürfen der vorherigen Genehmigung der Unterrichtsbehörde. Darüber hinaus sind die im Vertrag festgelegten Bedingungen, insbesondere die Schüler-Lehrer-Relation, zu erfüllen, die Öffentlichkeit über den besonderen Charakter der Schule zu informieren sowie alle Vorschriften hinsichtlich der Verwaltung, der Mitwirkungsrechte sowie der Zusammensetzung und Arbeit der Schulkonferenz, der Einstellung und Entlassung der Lehrer sowie der Schulleiterbestellung und die Zugänglichkeit nach den Bestimmungen für staatliche Schulen einzuhalten 806 • Die an den Staat gebundenen Schulen werden vom Staat finanziert und erhalten in vollem Umfang die laufenden Kosten für die Lehrergehälter, das Verwaltungspersonal sowie Betriebs- und Instandhaltungskosten auf der Basis der festgelegten Kriterien für das staatliche Curriculum, wovon zusätzliche Angebote nicht erfaßt werden. Zudem werden Zuschüsse zu den Einrichtungs- und
806
Eurydice (Hrsg.), Fonnen und Status, S. 34.
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Ausstattungskosten geleistet, so daß der Staat bis zu 85 % der tatsächlichen Gesamtkosten erstattet807 . Neben dem fonnal offenen Zugang müssen die Schulen als Voraussetzung ihrer Subventionierung das gleiche Curriculum wie die staatlichen Schulen verfolgen und bestimmte Mindestanforderungen hinsichtlich des Gebäudes und der Einrichtung der Schule erfüllen808 • Die Autonomie der subventionierten Privatschulen besteht vor allem in der Auswahl und Einstellung der Lehrer, wobei diese im Durchschnitt bei höherer Stundenzahl schlechter verdienen als Lehrer an staatlichen Schulen 809 . Hierbei hat die Rechtsprechung das Recht der Schule auf freie Lehrerwahl mit der Pflicht der an einer Schule mit einer besonderen Prägung beschäftigten Lehrer dergestalt verknüpft, daß es einem Lehrer nicht erlaubt ist, offene oder versteckte Angriffe gegen den besonderen ,,Ethos" einer Schule zu richten, so daß das Selbstbestimmungsrecht der Schule hier als Schranke für die pädagogische Freiheit dient81O • Die Berechtigung zum Abschluß eines Vertrages steht unter einem weitreichenden Haushaltsvorbehahlt, so daß die einzelne Schule selbst bei Erfüllung der erforderlichen Kriterien hierauf keinen Anspruch hat. Um einen Vertrag zu erhalten, müssen die Schulen i.d.R. einem besonderen, von der Behörde definierten "Bildungsbedarf' entsprechen, besondere Aufnahmebedingungen, etwa zugunsten sozial und wirtschaftlich benachteiligter Kinder, besitzen oder als Experimentalschulen anerkannt sein 811 . Abschlußzeugnisse von Schulen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, werden staatlich anerkannt. Mit dem Recht der Unterrichtsfreiheit korrespondiert das Recht des Lehrers an einer Schule in freier Trägerschaft, im Gegensatz zu einem Lehrer an einer staatlichen Schule, der dem Grundsatz der Neutralität verpflichtet ist, seinen Unterricht in Übereinstimmung mit dem besonderen Ethos der Schule zu gestalten. Diese Garantie der Unterrichtsfreiheit, die insbesondere mit dem Recht der Eltern aus Art. 27 Abs. 3 CE korrespondiert, wonach die öffentliche Gewalt das Recht der Eltern auf eine religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder, die mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmt, gewährleistet, ist aber nicht in einem umfassenden Sinne ausgestaltet, daß damit eine Gleichstellung von weltanschaulich-religiösen Schulen mit Schulen besonderer pädagogischer Prägung erreicht würde, die es dem Staat verbietet, Schulen allein wegen ihrer spezifischen weltanschaulichen, religiösen oder pädagogischem Grundrichtung gegenüber staatlichen Schulen zu diskriminieren oder unterschiedlich zu beLemke, Dietrich, S. 192. Lemke, Dietrich, S. 193. 809 Lemke, Dietrich, S. 193.
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Gtenn, Charles, S. 322 (334). Eurydice (Hrsg.), Formen und Status, S. 35.
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handeln. Vielmehr handelt es sich verfassungsrechtlich um die Sicherung des Status der kirchlichen Schulen, die im Gegensatz zu Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung wie die Waldorfschulen in erheblichem Ausmaß staatlich bezuschußt werden. Zur Sicherung des Rechts aus Art. 27 Abs. 3 CE haben die Kirchen mit der Regierung gern. der Verpflichtung aus Art. 16 Abs. 3 CE, wonach die öffentliche Gewalt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft berücksichtigt und kooperative Beziehungen zur katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen unterhält, verschiedene Vereinbarungen getroffenen. So ist in vier Vereinbarungen aus dem Jahre 1979 zwischen dem Staat und der katholischen Kirche festgelegt worden, daß der Staat einerseits in den öffentlichen Schulen als Ausdruck der staatlichen Neutralitätspflicht die christliche Ethik zu respektieren hat, andererseits aber der Staat den kirchlichen Schulen sowohl deren religiösen Charakter als auch deren Existenzsicherung garantiert. Gleichzeitig erkennen die Kirchen die Geltung der allgemeinen Schulgesetze und damit die pädagogischen und didaktischen Grundsätze der staatlichen Schulen an. Darüber hinaus hat der Staat im November 1992 drei Vereinbarungen mit der evangelischen, jüdischen und moslemischen Kirche vereinbart, die auf dem Prinzip der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung dieser kirchlichen Schulen gegenüber der katholischen Kirche basieren8\2. Schulen in freier Trägerschaft, die eine eigenständige pädagogische Konzeption verfolgen, wie die reformpädagogischen Schulen, und von daher kein Abkommen mit der Schulbehörde schließen können, erhalten demgegenüber keine staatlichen Zuschüsse. Diese Schulen verfügen über eine Autonomie hinsichtlich der internen Organisation, der Wahl des Lehrkörpers, der Auswahl der Schüler, der Schulordnung und des Schulhaushalts sowie der methodischen Gestaltung des Unterrichts. Gleichwohl müssen sie dem staatlichen Kerncurriculum (ensenanzas minimas) folgen und sind verpflichtet, jährlich durch ein umfassendes Konzept den Nachweis der Einhaltung des Kemcurriculums im Rahmen ihrer eigenständigen Unterrichtskonzeption darzulegen. So erhält die einzige spanische Waldorfschule in Madrid weder öffentliche Zuschüsse für den Bau oder die Investitionskosten noch für die laufenden Kosten, so daß diese Schule sehr hohe Schulgelder erheben muß, wobei selbst diese nicht ausreichen, die Schule zu unterhalten, sondern der Schulträger auf Spenden Dritter angewiesen ist, die von nationalen oder internationalen Spendern aufgebracht werden müssen 813 • Auf der anderen Seite ist es für die Schu812 Martinez LOpez-Muniz, J.L., Constituational and legal basis of the public support to Private Schools in Spain; an approach to their effects, Vortragsmanuskript auf der Konferenz "The Ambiguous Embrace of Government". Rotterdam 22.-24. November 1996, S. 5. 813 s. Schubert, Andreas, S. 802 (803 f.).
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len jedoch Genehmigungsvoraussetzung, daß bestimmte bauliche Anforderungen zu erfüllen sind. So ist für die Waldorfschule in Madrid Genehmigungsvoraussetzung für die Oberstufe gewesen, daß eine Turnhalle und weitere Klassenräume gebaut werden, für die es - wie für alle anderen Bauten - keine staatliche Zuschüsse gibt 814 • Aus der Sicht spanischer VerfassungsrechtIer, die wie Martinez LopezMuniz Befürworter eines pluralistischen Bildungswesens sind, ist das Contractsystem sowohl für die Entwicklung eines Schulpluralismus wie auch die Entwicklung pädagogischer Qualität hinderlich, weil es von der öffentlichen Hand benutzt wird, um die Entfaltung der Schulen in freier Trägerschaft zu begrenzen und zu kontrollieren. Letztlich führt es dazu, daß diese sich entweder den staatlichen Vorgaben für den Fortbestand eines Vertrages anpassen müssen und wesentliche Abstriche hinsichtlich ihres pädagogischen Ethos oder aber erhebliche finanzielle Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen 815 • Dies deckt sich mit Untersuchungen der OECD, wonach der Selbstbestimmungsanteil nichtstaatlicher Schulen hinsichtlich Fragen der Bildungsplanung und Bildungsstruktur, zum Personalmanagement, zur Unterrichtsorganisation und zur Verwendung der Ressourcen bei 68 % ähnlich dem französischem Niveau (66 %) liegt und im Vergleich mit anderen europäischen Ländern eher gering ist816 • Die relativ hohe Subventionierung der Schulen, die mit einem Kontrakt an den Staat gebunden sind, soll den Anspruch einer sozial offenen Zugangsmöglichkeit, die im Bildungsgesetz von 1985 (LODE) als Zielsetzung und Voraussetzung für die Gewährung von Subventionen nonniert wurde, dienen, wobei Zweifel an der Realisierung geltend gemacht werden müssen. Diese Zweifel scheinen nicht nur deshalb berechtigt zu sein, weil nicht alle Schulen in freier Trägerschaft, wie z. B. alternative Schulen wie die Waldorfschulen, in diesen Genuß staatlicher Subventionierung kommen. Die privaten Schulen sind auch deshalb nicht allgemein zugänglich, weil ungeachtet der staatlichen Teilsubventionierung das Privatschulwesen in Spanien von den Eltern primär nicht aus pädagogischen, sondern aus sozialselektiven Gründen bevorzugt wird und es bei einem Schulgeld von umgerechnet 500 bis 700 Mark weiten Teilen der Bevölkerung unmöglich ist, ihre Kinder auf private Schulen zu schicken. Hierbei gelten diese nicht nur als wertkonservativ, sondern arbeiten auch leistungseffektiver, nicht zuletzt, weil zumindest die Lehrer an den - zum Teil in der Fonn einer Aktiengesellschaft betriebenen - sozialselektiven Eliteschulen höhere Gehälter als an staatlichen oder anderen privaten Schulen erhalten817 • 814
Freunde der Erziehungskunst, Estland und Spanien.
Martinez LOpez-Muniz, J.L., S. 7 f. 816 Zit. nach Glenn, Charles, S. 322 (339). 817 s. Mauersberger, Volker, Spanien - Pauken in Uniform, DIE ZEIT 32/1992, S.36. 815
VIII. Etatistisch-föderale Schulverfassungen: Schweiz
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f) Perspektiven der Schulverfassung
Das spanische Bildungswesen ist ungeachtet der umfassenden gesetzlichen Neuregelungen dem überkommenden Gegensatz staatlicher versus kirchlicher Schulen verhaftet. Es hat ungeachtet positiver Ansätze zur Einbeziehung weiter Teile des nichtstaatlichen Bildungssektors den Grundsatz des Pluralismus und der Bürgergesellschaft im Bildungswesen noch nicht verwirklicht, weil gerade Schulen in nichtkirchlicher Trägerschaft einer weitreichenden materiellen und rechtlichen Ungleichbehandlung gegenüber staatlichen und kirchlichen Schulen ausgesetzt sind. Darüber hinaus scheint der Anpassungsdruck der vertraglich gebundenen Schulen soweit zu gehen, daß die grundsätzlich anerkannte Methodenfreiheit neben der Glaubensfreiheit innerhalb eines festgesteckten Rahmens des Curriculum als substantieller Bestandteil der Unterrichts freiheit kaum verwirklicht werden kann. Die Tendenzen der Stärkung der Selbstgestaltungsrechte der Einzelschule im staatlichen Schulwesen sind gering und nicht von dem Ziel der gesellschaftlichen Öffnung der Schule, sondern primär von Effektivitätsgesichtspunkten getragen. Bei alledem befindet sich das spanische Bildungswesen im Übergang von einer zentralistischen zu einer föderalen Schulverfassung.
VIII. Etatistisch-föderale Schulverfassungen 1. Das Schulwesen in der Schweiz
a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens
Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als der Staat die Verantwortung und Herrschaft über das Bildungswesen übernahm, stand das schweizerische Bildungswesen unter dem Einfluß der Kirche. Dieser oblag die Ausführung des Unterrichts, dessen Mittel von der Kirche, dem Staat und Privaten aufgebracht wurden. Mit der Helvetik von 1798 bis 1803 wurde das Erziehungswesen zur Staatsangelegenheit erklärt, die Schulpflicht eingeführt und eine neue staatsorientierte Schulorganisation geschaffen8\8. Aber ebenso wie die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 enthielt auch die von Napoleon erlassene Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803 keine bundeststaatlichen Bestimmungen über das öffentliche Unterrichts wesen, sondern überließ die Schulverfassung den einzelnen Kantonen. Privatschulen unterstellte man ausdrücklich der staatlichen Aufsicht. An der kantonalen Selbstbestimmung wurde auch in den Bundesverfassungen von 1848 und 1874 festgehalten.
818
Mascello, Bruno, Elternrecht und Privatschulfreiheit. St. Gallen 1995, S. 27 f.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Das schweizerische Schulwesen ist bis heute durch einen ausgeprägten, gegenüber der Zentralmacht des Bundes durch die Bundesverfassung weitgehend abgesicherten Föderalismus geprägt. Zwar hat der ausgeprägte Föderalismus der Schweiz, der den Kantonen die fast uneingeschränkte Schulhoheit läßt, zu einer Vielzahl von 26 vertikal nebeneinander stehenden kantonalen Bildungssystemen geführt819 , doch ist dies nicht gleichzusetzen mit einer umfassenden pädagogischen Schulvielfalt innerhalb der bestehenden Kantone. So spiegelt sich in der kantonalen zwar auch eine kulturelle Vielfalt der Schweiz wider, doch sind die Schulsysteme innerhalb der einzelnen Kantone nicht durch eine Binnenpluralität im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener Schulformen geprägt, sondern wird wesentlich ethnisch durch das Territorialprinzip der vier Nationalsprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch bestimmt820 • Diese außenpluralistische Struktur des schweizerischen Bildungswesens hat im Berechtigungswesen zu einer problematischen Verschiedenheit von Zugangs- und Berechtigungsqualifikationen geführt, die eine Durchlässigkeit und Mobilität zwischen den verschiedenen Bildungssystemen innerhalb der Schweiz selbst erschwert821 • Das gleiche gilt für die Mobilität von Lehrern, insbesondere Volksschullehrern, deren Ausbildung kantonal geregelt und dem jeweiligen Schulsystem des Kantons angepaßt ist, so daß diese nur schwer von einem Kanton in den anderen wechseln können 822 . Bemühungen einer Revision der Verfassung im Bildungswesen in den Jahren 1973 und 1977, die u.a. auf eine Neuverteilung der Kompetenzen zwischen den Kantonen und dem Bund und die Verankerung eines Rechts auf Bildung abzielten, fanden nicht die erforderliche Mehrheit.
b) Die kompetenzrechtlichen Regelungen der Bundesverfassung für das Bildungswesen Das schweizerische Bildungswesen ist insgesamt als ein föderalistisch (kantonal-)etatistisches Schulsystem einzuordnen823 • Im Gegensatz zum Grund819 s. hierzu Arnet, Moritz, Perspektiven der schweizerischen Bildungspolitik, Forum Pädagogik 1990, S. 171 (172); Allemann-Ghionda, Christina, Bildung und Forschung in der vielsprachigen und plurikulturellen Schweiz: Kontext, Paradoxien, Desiderata, Deutsch Lernen 1993, S. 104ff.; Zeitz, Alexander, Multikufturelle Bildungspolitik in der Schweiz. In: Lemke, Dietrich, Bildungspolitik in Europa - Perspektiven für das Jahr 2000. Hamburg 1992, S. 174. 82oAllemann-Ghionda, Christina, S. 104 f. (112). 821 Allemann-Ghionda, Christina, S. 104 (108), nennt als Beispiel den Zeitpunkt und den Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe, der in je nach Kanton nach vier oder erst nach acht Jahren erfolgen kann und durch die verschiedenen Sprachregionen erheblich erschwert wird; zur Kritik an mangelnder Durchlässigkeit s. a. Arnet, Moritz, S.175. 822 Zeitz, Alexander, S. 181. 823 Ebenso Grunder, Hans-Ulrich, Größtenteils demokratisch?, S. 86.
VIII. Etatistisch-föderale Schulverfassungen: Schweiz
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gesetz der Bundesrepublik Deutschland, welches in Art. 7 die Grundstruktur der Schulverfassung als übergeordnete Norm bindend für die ansonsten der Kulturhoheit der Länder obliegende Ausgestaltung des Schulwesens festlegt, und in Art. 7 Abs. 4 und 5 das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft verfassungsrechtlich gewährleistet, enthält sich die schweizerische Bundesverfassung vergleichbarer detaillierter Regelungen. Allein die Verpflichtung der Kantone nach Art. 27 Abs. 2 Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft (BV), für einen obligatorischen, genügenden und staatlich geleiteten Primarunterricht zu sorgen, der an öffentlichen Schulen unentgeltlich zu erfolgen hat824 , bindet die Kantone und Gemeinden in ihrer Gestaltungsfreiheit neben dem in Art. 27 Abs. 3 BV normierten Gebot, daß die öffentlichen Schulen von Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können sollen 82s • Die Kantone besitzen danach umfassende Gestaltungsrechte im Schulwesen, insbesondere auch im kantonalen Vergleich. Der Bildungsbereich ist dabei die wichtigste kantonale Zuständigkeit und Ausdruck einer weitreichenden Akzeptanz des Subsidiaritätsprinzips im Bildungswesen im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. Obgleich danach gemäß der Formulierung in Art. 27 Abs. 2 BV die Kantone für einen genügenden Primarunterricht zu sorgen haben, welcher ausschließlich unter staatlicher Leitung stehen soll, herrscht in der schulverfassungsrechtlichen Literatur Einigkeit darüber, daß die Kantone nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ihre Trägerschaft auch auf Private übertragen und diese mit der Organisation des Unterrichts betrauen können 826 • Dies würde allerdings eine förmliche Übertragung der Aufgaben voraussetzen, wovon die Gemeinden, Gemeindeverbände, Kreise, Bezirke Kantone der Bund oder öffentlichrechtliche Stiftungen als Träger des öffentlich-staatlichen Schulwesens i.d.R. keinen Gebrauch machen. Darüber hinaus ist die h.M. der Ansicht, daß die Bundesverfassung keine Schul-, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht normiert827 • c) Das Gebot weltanschaulicher Neutralität in der staatlichen Schule
Die Regelung des Art. 27 Abs. 3 BV, wonach öffentliche Schulen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Art. 27 Abs. 2 Schweizer Bundesverfassung. Art. 27 Abs. 3 Schweizer Bundesverfassung. 826 Mascello, Bruno, S. 12 unter Bezugnahme auf Plotke, Herbert, Schweizerisches Schulrecht. BemlStuttgart 1979, S. 98. f. 827 Mascello, Bruno, S. 157; krit. dazu Plotke, Herbert, S. 143 f. 824 825
23 Jach
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Gewissensfreiheit besucht werden können sollen, ist nach der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts828 als Folgerung aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit anzusehen und konstituiert ein weitgehendes Gebot der religiösen und konfessionellen Neutralität des Staates, "die ihm auferlegt, sich bei öffentlichen Handlungen jeglicher konfessioneller Erwägungen zu enthalten, die geeignet wären, die Freiheit der Bürger in einer pluralistischen Gesellschaft zu verletzen,,829. Das Schweizerische Bundesgericht stellt sich hierbei ausdrücklich in die bundesrepublikanische und amerikanische Rechtsprechungstradition zur weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Staates, die auch den schulischen Erziehungsauftrag in den öffentlichen Schulen bestimmen soll, und begibt sich damit ebenfalls in den grundlegenden Widerspruch, daß einerseits der Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist, andererseits aber Schule stets bei der Vermittlung von Werten auf eine weltanschauliche Basis angewiesen ist. Dieser scheinbare Widerspruch wird dadurch aufgelöst, daß im Gegensatz zu den Privatschulen der Unterricht in den staatlichen Schulen zwar dem Neutralitätsprinzip verpflichtet ist, dem aber nicht entgegensteht, daß die öffentliche Schule auf einer christlichen Grundlage im Sinne der christlich-abendländischen Kulturtradition arbeitet83o. Gleichwohl verstößt es aber nach Ansicht des Bundesgerichts gegen das Neutralitätsgebot, wenn eine Gemeinde in den Klassenzimmern einer öffentlich-kommunalen Primarschule ein Kruxifix anbringt, weil dies gegen das Gebot eines zurückhaltenden, nicht-indoktrinierenden Unterrichts verstoße 83 ). Des weiteren hat das Bundesgericht jüngst entschieden, daß es einer Lehrerin verboten werden kann, als Ausdruck ihres islamischen Glaubens ein Kopftuch im Unterricht zu tragen 832 • Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern ist insbesondere die Frage der Stellung islamischer Schülerinnen im Sportunterricht des staatlichen Schulwesens Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Wie das Bundesverwaltungsgericht hat auch das schweizerische Bundesgericht hierbei der Glaubensfreiheit der islamischen Schülerinnen Vorrang vor dem Anspruch eines koedukativen Sportunterrichts eingeräumt und ebenso gleichzeitig betont, daß es sich bei der Frage der Teilnahme am koedukativen Sportunterricht um eine Ausnahme handle, durch die der staatliche Schulerziehungsauftrag insgesamt nicht gefährdet werden dürfe. Dies sei der Fall, wenn ein Kind "in seiner Entwicklung in einem Maße eingeschränkt würde, daß die Chancengleichheit - ein828
Schweizerisches Bundesgericht, Urteil - IP.675/1989 - v. 26.9.1990, EuGRZ
1991, S. 89. 829
Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1991, S. 89 (94).
Mascello, Bruno, S. 76 mit ausf. Nachw. 831 BGE 116 Ia 262 f. 832 Urteil v. 12.11.1997 - 2 P 419/1996. 830
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schließlich der zwischen den Geschlechtern - nicht mehr gewahrt wäre beziehungsweise wenn es die Lehrinhalte nicht vermittelt erhielte, die in der hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten,,833. d) Die staatliche Leitung des Schulwesens
Nach Art. 27 Abs. 2 BV steht der Primarunterricht ausschließlich unter staatlicher Leitung. Ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht der Begriff der Aufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG extensiv interpretiert wird, ist auch nach schweizerischem Verfassungsrecht unter Leitung mehr als eine ,,Aufsicht" im klassischen Sinne zu verstehen. Hiernach bedeutet Leitung die ,,richtungsgebende Einflußnahme ... , welche die Erreichung eines gewissen Unterrichtserfolges bezweckt ... Die Leitung (Aufsicht und Direktion) zerfällt in zwei Teile: eine fachliche für Unterrichtsfragen und eine nichtfachspezifische für die übrige Tätigkeit der Schule,,834. Die staatliche Leitung des Schulwesens wird in der Schweiz im Sinne eines kantonalen Etatismus83s ausgefüllt. Im internationalen Vergleich sehen erziehungswissenschaftliehe Studien die Schweiz nicht nur im Vergleich mit den Niederlanden, sondern auch gegenüber Ländern wie Italien und Frankreich als mit deutlich weniger Selbstentscheidungsrechten der Einzelschule ausgestattet836 . In einer Untersuchung der Basler Handelskammer zur schweizerischen Bildungsstruktur kommen die Autoren gar zu dem Ergebnis, daß das schweizerische Bildungswesen zu den am wenigsten flexiblen und mit wenig Selbstgestaltungsmöglichkeiten ausgestatteten Bildungssystemen überhaupt gehört837 . Grunder kommt insofern zu dem Ergebnis, daß die Primarschulen und die Schulen der Sekundarstufe I weder im Bereich der Mittelbewirtschaftung noch der Personalverwaltung als auch hinsichtlich der Schulentwicklungsplanung selbständige Entscheidungsbefugnisse besitzen und selbst hinsichtlich der pädagogischen Arbeit weitestgehend in hierarchische Entscheidungsprozesse eingebunden sind, so daß jegliche "Absicht, sich als Institution pädagogisch zu profilieren, als Schule ein pädagogisch-didaktisches Profil zu gewinnen, von der Schulbürokratie abhängig" ist838 • 833 BGE 119 Ia 178 E. 8a, S. 194 f.; s. hierzu auch Hangartner, Yvo, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, 4. Länderbericht Schweiz, VVDStRL 54/1995, S. 95 (104). 834 Mascello, Bruno, S. 166, Plotke, Herbert, S. 231. 835 Badertscher, Hans/Grunder Hans-Ulrich (Hrsg.), Wieviel Staat braucht die Schule? - Schulvielfalt und Autonomie im Bildungswesen. BernlStuttgartlWien, 1995, S.22. 836 Grunder, Hans-Ulrich, Größtenteils demokratisch?, S. 86 (90). 837 Basler Handelskammer, Mehr Freiheit im Basler Schulsystem, Schriftenreihe der Basler Handelskammer Nr. 27, 1995, S. 33. 838 Grunder, Hans-Ulrich, Größtenteils demokratisch?, S. 86 (90).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Diese Einschätzung trifft sicher auf die Lehrpläne zu. die in den Kantonen zwar sehr unterschiedlich sind. aber innerhalb dieses Kompetenzbereichs sehr detaillierte Regelungen enthalten. Auf der anderen Seite scheint jedoch innerhalb des durch eine strukturelle Starrheit gekennzeichneten Schulwesens. die stark von administrativer Logik und einem kantonalen Konservatismus im Bildungsbereich geprägt wird. zumindest ein gewisses Maß an Methodenfreiheit des einzelnen Lehrers gegeben 839 . Eine rechtlich abgesicherte pädagogische Freiheit des Lehrers an staatlichen oder kommunalen Schulen kennt das schweizerische Schulverfassungsrecht jedoch nicht840 • so daß diese. insbesondere im Grundschulbereich. sehr eingeschränkt ist841 . Innerhalb des bürokratischen Strukturmodells des Bildungswesens sind die einzelnen Schulen als unselbständige Einheiten in die Verwaltungshierarchie integriert. und den Eltern und Schülern kommen keine substantiellen Mitentscheidungsrechte. sondern allenfalls Mitwirkungsrechte zu. Gleichwohl gilt es festzustellen. daß in einigen Kantonen. z.B. im Kanton Zürich. die Schulaufsicht durch eine Laienbehörde der Schulpflege ausgeübt wird. Der Staat nimmt hier zwar eine eigene Schulhoheit in Anspruch. gleichwohl ist zumindest die Volksschule durch einen hohen Grad gemeindlicher Autonomie geprägt. die jedoch keinesfalls identisch mit einer Autonomie der Einzelschule ist842 • Ungeachtet der etatistischen Grundstruktur des schweizerischen Bildungswesens gibt es aber auch in der bildungspolitischen Diskussion der Schweiz über die Zukunft des staatlich-kantonalen Schulwesens - wenn auch zaghafte Diskussionen und Orientierungstendenzen in Richtung auf eine Stärkung der Profilierung der Einzelschule843 • die jedoch im Rahmen der gegenwärtigen Rechtsstrukturen als kaum realisierbar erscheint. weil der Schule selbst in pädagogischen Angelegenheiten keine oder nur geringe Entscheidungsmöglichkeiten zugestanden werden. Zudem wird innerhalb des staatlichen Schulsystems im Vergleich zu den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern das Prinzip der Wahlfreiheit in weiten Teilen nach dem Territorial- und Sprengelprinzip begrenzt. wonach Schüler einer bestimmten Schule zugewiesen werden. Als erster Kanton hat Zürich im Jahre 1996 ein Schulreformexperiment
839 Vgl. hierzu Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (Hrsg.). Bildungspolitik in der Schweiz. Bericht der OECD. Bem 1990. S. 103 (85-88). 840 Plotke. Herbert. S. 393. 841 Plotke. Herbert. S. 395. 842 Kussau, JÜrgeniOertel. Lutz. Schweiz. In: Döbert, Hans IGeißler, Gert (Hrsg.). Schulautonomie in Europa. Baden-Baden 1997. S. 363 (368 ff.). 843 In diesem Sinne z. B. Badertscher, HanslGrunder Hans-Ulrich (Hrsg.); Basler Handelskammer. Mehr Freiheit im Basler Schulsystem. Schriftenreihe der Basler Handelskammer Nr. 27. 1995.
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mit einer globalen Zuweisung von Haushaltsmitteln umgesetzt, um den Schulen verwaltungsmäßig mehr Selbstgestaltungsmöglichkeiten zu gewähren844 .
e) Elternrecht und Recht auf Bildung Obgleich sich die schweizerische Verfassung der Normierung eines elterlichen Erziehungsrechts enthält, ist anerkannt, daß ein solches als ungeschriebenes Verfassungsrecht bzw. als innerstaatlich geltendes Völkerrecht gleichberechtigt neben dem staatlichen Erziehungsanspruch aus Art. 27 BV steht und keinem der beiden Rechte ein absoluter Vorrang zukommt. Das Elternrecht selbst ist als religiöses Bestimmungsrecht durch Art. 27 Abs. 3 BV abgesichert, gewährt im Sinne eines pädagogischen Elternrechts aber keine Mitentscheidungs-, sondern lediglich sehr rudimentär ausgeprägte kollektive und individuelle Mitwirkungsrechte845 , meist in der Form von Anhörungs- und Informationsrechten. Zum insoweit unbestrittenen Elternrecht gehört auch das Recht der freien Wahl zwischen einer staatlichen und privaten Schule846 • Ebensowenig wie die Bundesverfassung ein elterliches Erziehungsrecht explizit normiert, enthält sie sich auch eines Rechts auf Bildung. Ein entsprechender Vorschlag zur Aufnahme eines solchen Rechts auf Bildung in Art. 27 Abs. 1 BV im Rahmen der Verfassungsreformvorschläge im Jahre 1973 ist von der Ständeversammlung trotz einer knappen Mehrheit bei der hierfür notwendigen Volksabstimmung abgelehnt worden. Die höchstrichterliche Rechtsprechung lehnt ein solches, mit etwaigen Leistungsansprüchen verbundenes Recht auf Bildung ab und betont demgegenüber den Abwehrcharakter der Grundrechte: "Die persönliche Freiheit begründet grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen des Staates. Insbesondere gewährt sie kein Recht auf Bildung,,847. f) Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Unterrichtsfreiheit
Der weitgehenden Bildungshoheit der Kantone entsprechend hat die Bundesverfassung darauf verzichtet, die Unterrichtsfreiheit in der Verfassung zu regeln und die Entscheidung darüber bewußt den Kantonen überlassen 848 . Die Verfassungshoheit der Kantone gilt insoweit als besondere Ausprägung der kantonalen Selbständigkeit, da kantonale Normen nur dann Bedeutung gegen844 Grunder, Hans-Ulrich, Aktuelle Schulentwicklung in der Schweiz, Pädagogisches Forum 1997, S. 185 (187). 845 Mascello, Bruno, S. 80. 846 s. hierzu Mascello, Bruno, S. 106 ff. 847 BGE 114 Ia 220. 848 Vgl. Hangartner, Yvo, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts in 2 Bd. Zürich 1982, Bd. 11, S. 120; s. a. Kämpfer, Walter, S. 687 (694); Plotke, Herbert, S. 98 f.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
über der Bundesverfassung haben, wenn sie - wie es bei der Unterrichtsfreiheit, die es erlaubt, Privatschulen zu eröffnen und zu betreiben, der Fall ist - weiterreichende Rechte als die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung des Bundes oder der EMRK verbürgt849 . Diese selbständige Bedeutung der kantonalen Verfassungshoheit für den Bereich der Privatschulfreiheit hat zur Folge, daß die Unterrichtsfreiheit, die allgemein im Sinne der Freiheit, Privatschulen zu gründen und zu unterhalten, verstanden wird 850 und das Recht impliziert, den Unterricht sowohl im Hinblick auf die konfessionelle Grundlegung bzw. weltanschauliche Ausrichtung als auch hinsichtlich der pädagogischen Ausrichtung eigenverantwortlich zu gestalten 851 , in den einzelnen Kantonen sehr unterschiedlich geregelt ist. Ungeachtet des Fehlens einer bundesverfassungsrechtlichen Garantie der Unterrichtsfreiheit im Sinne der Privatschulfreiheit und eines weiten Gestaltungsspielraums des kantonalen Verfassungsgebers hinsichtlich der Ausgestaltung und Gewährung derselben, kommt dem Grundrecht der Unterrichtsfreiheit nach der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts unter den Gesichtspunkten der Wahrung der durch die Verfassung garantierten Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit gleichwohl eine besondere Bedeutung zu. Nach der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts 852 kann ein Ausgleich zwischen der Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit einerseits und der durch Art.27 Abs.2 und 3 BV bedingten Einschränkung dieser Rechtsgüter im Rahmen des obligatorischen Unterrichts andererseits nicht dergestalt erfolgen, daß vom Landesüblichen abweichende Glaubens- und Gewissensüberzeugungen einen positiven Leistungsanspruch auf Verwirklichung eines diesen Grundsätzen entsprechenden Unterrichts im öffentlichen Schulwesen haben, sondern den Grundsätzen der Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit ist "dadurch Rechnung getragen, daß der obligatorische Primarschulunterricht nicht nur in öffentlichen Schulen absolviert werden kann: Art. 27 Abs. 2 BV bestimmt lediglich, daß er in öffentlichen Schulen unentgeltlich ist. Wenn also individuelle Glaubens- und Gewissensüberzeugungen derart vom Landesüblichen abweichen, daß ihnen nur schwer oder nicht in der öffentlichen Schule Rechnung getragen werden kann, garantiert die Glaubens-, Gewissensund Kultusfreiheit nicht die entsprechende Ausgestaltung der öffentlichen Schule, sondern gegebenenfalls das Recht auf Privatunterricht (in einer Privatschule, F.-RJ.), der den Anforderungen an den staatlich vorgeschriebenen Pri849 Haefliger, Arthur, Die Hierarchie von Verfassungsnormen und ihre Funktion beim Schutz der Menschenrechte, Landesbericht Schweiz, EuGRZ 1990, S. 474 (475). 850 Plotke, Herbert, S. 392 f. 851 Plotke, Herbert, S. 468. 852 Schweizerisches Bundesgericht, Urteil - P 1071/87 - v. 19.2.1988, RdJB 1993,
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marunterricht genügt,,853. Damit hat das Grundrecht der Unterrichtsfreiheit auch auf Bundesebene Verfassungsrang. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Schule dann als privat zu erachten, wenn sie ihre Existenz nicht auf Vorschriften des öffentlichen Rechts stützt und auch nicht auf Kosten des Staates unterhalten wird854 . In der schulverfassungsrechtlichen Literatur knüpft der Begriff der Privatschule an das bundesdeutsche Verfassungsverständnis an, wonach als Privatschule eine solche verstanden wird, die von einem privaten oder freien Träger aufgrund eigener Initiative errichtet wurde und betrieben wird, in der Unterricht und Erziehung in eigener Verantwortung gestaltet werden und die Eltern diese Schule frei wählen können 855 • (1) Die kantonale Ausgestaltung der Unterrichtsfreiheit
Ungeachtet der Verantwortung der Eidgenossenschaften (Kantone) für ihr jeweiliges Schulwesen mit der Befugnis eigener Schulgesetzgebung hinsichtlich der Schulstruktur, Organisation der Schule und Schulverwaltung einschließlich der Ausbildung und des Status der Lehrkräfte sowie der Unterrichtsinhalte, Lernziele und Lehrmittel, "gehört nach schweizerischem Recht die Möglichkeit der Wahl zwischen öffentlicher und privater Schule zu den bürgerlichen Grundrechten, auch wenn der Besuch von Privatschulen in der obligatorischen Schulzeit, insbesondere in der Grundschule, die Ausnahme ist,,856. Insofern wird davon ausgegangen, daß zwar die Bundesverfassung bewußt kein Individualgrundrecht der Unterrichtsfreiheit konstituiert, sondern dies den Kantonsverfassungen vorbehalten hat, doch würde ein kantonales Schulmonopol gegen den von der Schweiz in diesem Punkt vorbehaltlos ratifizierten Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verstoßen 857. Von den Kantonalverfassungen enthalten einundzwanzig der sechsundzwanzig Verfassungsurkunden Regelungen zur Unterrichtsfreiheit. Hierbei obliegt deren Ausgestaltung weitestgehend dem Gesetzgeber in Form eines Gesetzesvorbehalts, lediglich die vier Verfassungen der Kantone Jura (Art. 8); Tessin (Art. 8); Uri (Art. 39), Zug (§ 4) gewährleisten die Privat- bzw. Unterrichtsfreiheit vorbehaltlos 8S8 • Insgesamt ist in allen Kantonen seit 1969 kein staatliches Schulmonopol mehr gegeben, welches im Kanton Solothurn noch bis 1969 bestand. Schweizerisches Bundesgericht, RdJB 1993, S. 118 (119). BGE 7 (1881), 74, zit. nach Mascello, Bruno, S. 15. 855 Mascello, Bruno, S. 15. 856 Zeitz, Alexander, S. 174 f. 857 Hangartner, Yvo, Erziehungsauftrag, S. 95 (96); s. hierzu vorstehend S. 92 ff. 858 Zu den einzelnen Regelungen s. ausführlich Mascello, Bruno, S. 149 ff. LV.m. S. 333 ff. 853
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Bei der Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit im Sinne der Privatschulfreiheit handelt es sich sowohl um die Zulassung eines häuslichen (Einzel-)Unterrichts durch Haus- oder Privatlehrer als auch die Unterrichtung mehrerer Kinder durch Schulunterricht im häuslichen Bereich oder einer institutionalisierten Privatschule859 . Im internationalen Vergleich ist das Spektrum reformpädagogischer Schulen in der Schweiz in gleicher Weise vertreten wie in anderen westeuropäischen Ländern. So gibt es 39 Waldorfschulen und 23 Freie Alternativschulen, jedoch lediglich je ein Landerziehungsheim und eine Freinetschule sowie 5 Montessorischulen und 8 sonstige reform pädagogisch ausgerichtete Schulen in Elternträgerschaft, jedoch gibt es keine Jenaplanschule860. (2) Die Zulassung und Genehmigung privater Schulen Privatschulen werden in der Schweiz nur zugelassen, wenn ihr Unterricht jenem an staatlichen Schulen gleichwertig ist861 . Dieses beinhaltet nicht unbedingt das Gebot der Gleichartigkeit, sondern verlangt, daß der Privatunterricht "den Anforderungen an den staatlich vorgegebenen Primarunterricht genügt,,862. Hierbei obliegt es den Kantonen, die Kriterien im einzelnen festzulegen, die hiervon in unterschiedlicher Weise Gebrauch machen. Während einige Kantone durchaus Gleichartigkeitsanforderungen stellen, verlangen andere lediglich einen gleichwertigen Unterricht oder die Einhaltung der vom Erziehungsrat aufgestellten Anforderungen 863 . Weitere Genehmigungsvoraussetzungen sind - in den einzelnen Kantonalverfassungen unterschiedlich geregelt z.B., daß der Unterricht nicht gegen das öffentliche Interesse oder die guten Sitten verstößt, die Grundrechte beachtet und die Lehrer eine hinreichende Qualifikation besitzen, die den staatlichen Standards entspricht. Insbesondere letzterer Punkt wird von Autoren wie Mascello und Plotke als eine starke Einschränkung der Unterrichtsfreiheit gesehen, weil damit einseitig die staatlichen Unterrichtsstandards und -methoden zum Maßstab erhoben werden und so die pädagogische Freiheit unverhältnismäßig beschränkt wird 864 . Jeder Kanton kann und hat hierbei verschiedene Anforderungsstufen vorgesehen, wobei die Mehrzahl der Kantone sich für das Verfahren einer Mascello, Bruno, S. 150. Angaben nach Klaßen, Th.F./Skiera, E. (Hrsg.), S. 214 ff.; s. a. Grunder, HansUlrich, Länderstudie Schweiz. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, 859
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Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd.2, S.409 (414 f.). 861 Hangartner, Yvo, Erziehungsauftrag, S. 95 (96 f.); Mascello, Bruno, S. 159, jeweils unter Hinweis auf BGE 91 I 490. 862 BGE 91 I 490. 863 s. näher bei Mascello, Bruno, S. 160. 864 Näher hierzu m.w.N. Mascello, Bruno, S. 164.
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"Polizeierlaubnis" entschieden hat, d.h., sie unterliegen einem staatlichen Bewilligungsverfahren865 . Danach besteht bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Bewilligung. Hierbei sind die Anforderungen an eine Bewilligung auf der Volksschulebene höher als auf jenen Stufen, die nicht mehr der Schulpflicht unterliegen. Darüber hinaus kennt auch das schweizerische Privatschulrecht die "Anerkennung" einer Privatschule, die erteilt wird, wenn in der Schule ein Unterricht geboten wird, der als Erfüllung der Schulpflicht akzeptiert wird und mit einer anerkannten Berechtigung abschließt866 • (3) Die staatliche Schulaufsicht über das Privatschulwesen Die umfassende Leitung des Staates über das Primarschulwesen, die in Art. 27 Abs. 2 BV festgeschrieben ist, wird im Bereich des Privatschulwesens restriktiv dahingehend interpretiert, daß damit keine Herrschaftsgewalt über die privaten/freien Schulen impliziert ist, sondern lediglich ein Kontrollrecht im Sinne einer Rechtsaufsicht. Diese soll auch im Falle der Gewährung staatlicher Zuschüsse gelten. Dementsprechend beschränken sich die kantonalen Regelungen vielfach auf Auskunftspflichten und Meldepflichten, ohne daß in methodisch-didaktischer Hinsicht eine Fachaufsicht ausgeübt wird 867 • Soweit die Schulen diesen Pflichten nachkommen und die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenvorgaben gewährleistet ist, obliegt ihnen danach eine weitreichende Freiheit der Unterrichtsgestaltung. Allerdings müssen selbst die freien nichtsubventionierten Schulen die inhaltlichen Vorgaben des staatlichen Lehrplanes einhalten868. (4) Die Bezuschussung von Schulen in privater/freier Trägerschaft Die unterschiedliche Ausgestaltung der Unterrichtsfreiheit in den einzelnen Kantonen betrifft nicht primär die Gründungs- und Unterrichtsfreiheit als solche. Diese ist allgemein anerkannt und wird VOn einer Reihe von Kantonalverfassungen ausdrücklich garantiert869 • Unterschiedlich geregelt sind vor allem Fragen wie etwaige Subventionsansprüche für Schulen in privater/freier Trägerschaft. Hierbei besteht Einigkeit in der verfassungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung, daß der Grundsatz eines unentgeltlichen Primarunterrichts des Art. 27 Abs. 2 BV nur für die öffentlichen Schulen gilt, nicht aber für die sog. Mascello, Bruno, S. 151. Mascello, Bruno, S. 152. 867 Mascello, Bruno, S. 167 f. 868 Badertscher, Hans/Grunder Hans-Ulrich (Hrsg.), S. 22. 869 Nachweise bei Plotke, Herbert, S. 461 (465); allerdings kannte der Kanton Solothurn bis in die sechziger Jahre hinein ein staatliches Schulmonopol. 865
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Privatschulen. Diese haben danach auf der einen Seite keinen Anspruch auf staatliche Zuschüsse, andererseits ist es ihnen nicht verwehrt, Schulgelder zu erheben. Aus der Bundesverfassung läßt sich kein Anspruch auf staatliche Zuschüsse herleiten. Während in einigen Kantonalverfassungen Subventionen oder Zuschüsse an Privatschulen explizit ausgeschlossen sind810, ennächtigen andere Kantonalverfassungen zur Gewährung von Subventionen an Privatschulen, ohne daß darauf jedoch - mit Ausnahme des Kantons Jura811 - ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch besteht812 . Grundsätzlich gewähren zwar die meisten Kantone Zuschüsse, jedoch nur unter gesetzlich näher festgelegten Voraussetzungen. In der Schweiz ist daher im Bereich der Privatschulen - sofern ein Kanton überhaupt staatliche Zuschüsse vorsieht - zwischen subventionierten Schulen, die diese Voraussetzungen erfüllen, und nichtsubventionierten Schulen zu unterscheiden. Insgesamt erhalten die Privatschulen je nach Schulstufe sehr unterschiedliche Zuschüsse. Hierbei zeigt sich ein Zusammenhang zwischen staatlichen Zuschüssen und Schülerzahlen dergestalt, daß Schulstufen mit geringer Subventionierung - wie im Falle der Primarstufe - von relativ wenigen Schülern besucht werden, während Schulstufen mit hoher Subventionierung wie die Sekundarstufe von relativ vielen Schülern besucht werden. Nach Untersuchungen von Mascello813 besuchen ca. 2,5 % der Schüler im Primarbereich eine Privatschule, wobei der Anteil der subventionierten Schüler sich in den letzten Jahren von 20 auf 11,7 % reduziert hat. Die Sekundarstufe I wird von ca. 6 % der Schüler besucht, wobei der Anteil der subventionierten Schüler bei 22 % liegt. In der Sekundarstufe 11 besuchen ca. 12 % der Schüler Privatschulen, wobei die Anzahl subventionierter Schüler bei 47 % liegt. Da jedoch ein etwaiger Subventionsanspruch entweder daran geknüpft ist, daß die Kantone ein öffentliches Interesse am Bestand der jeweiligen Privatschule anerkennen und dieses Kriterium restriktiv dahingehend ausgelegt wird, daß ein öffentliches Interesse nur anzuerkennen ist, wenn ansonsten die schulische Versorgung nicht gesichert ist oder die Privatschule sich an den Lehrplan der staatlichen Schulen hält 814 , führt dies in der Praxis dazu, daß Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung wie etwa die Waldorfschulen mit Ausnahme des Kantons Luzem, wo der Staat bisher ca. 30 % der Betriebskosten erstat-
Z. B. der Kanton Basel, Nachweise bei Plotke, Herbert, S. 227. Art. 38 Kantonsverfassung Jura. 872 Kämpfer, Walter, S. 687 (694); Mascello, Bruno, S. 173. 873 Mascello, Bruno, S. 117 f. 874 Mascello, Bruno, S. 173 f.
810 811
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tete 875 , sofern diese 4 Jahre mit Erfolg gearbeitet haben 876 , keinerlei Subventionen erhalten 877 . Die Regelung im Kanton Luzem ist allerdings im Rahmen der Haushaltsberatungen für das Jahr 1994 dahingehend revidiert worden, daß unter Verweis auf die angespannte Haushaltslage des Kantons mit Wirkung für das Jahr 1995 die Zuschüsse für Schulen in freier Trägerschaft linear um 10 % gekürzt wurden 878 . Die Zuschüsse erfolgen entweder direkt über eine Beteiligung an den Investitionskosten, über die Bezuschussung der Lehrergehälter oder - wie im Kanton Jura und St. Gallen - pro Schüler, oder aber indirekt über Stipendien und Studiendarlehen für Schüler sowie Steuerreduktionen zugunsten der Eltern. Vereinzelt, wie im Kanton St. Gallen, nehmen die Schulen in freier Trägerschaft auch an der Lehrmittelfreiheit teil 879 • Die Waldorfschulen erhalten ebenso wie die Freien Volksschulen (Alternativschulen) keine regelmäßigen finanziellen Zuwendungen, lediglich einige Gemeinden der Region Basel erstatten gewisse Beträge, die durch den Besuch der Schule eingespart werden 88o. Auf der anderen Seite verzichten Schulen teilweise bewußt "auf eine Subventionierung, weil sie befürchten, dadurch ihr Selbstbestimmungsrecht zu verlieren,,881. Um die finanzielle Belastung der Eltern angesichts der nur sehr vereinzelten kantonalen Unterstützung von Schulen in freier Trägerschaft zu mildern, finanzieren sich die Waldorfschulen neben Schulgeldbeiträgen wesentlich über die "Stiftung zur Förderung der Rudolf Steiner Pädagogik in der Schweiz", die mit zu je 50 % ihrer Mittel durch zinslose Darlehen sowohl die einzelnen Schulen als auch die Lehrerseminare für die Ausbildung zum Lehrer an einer solchen Schule mitfinanziert882 . Badertscher, Hans/Grunder Hans-Ulrich (Hrsg.), S. 22. endlich 1/1993, S. 27. 877 Symptomatisch insoweit die Meldung in endlich 1993, Nr. 1, S. 27, wonach die Regierung des Kantons Schwyz im Jahre 1991 eine Motion, die das Ziel einer zumindest teilweisen Subventionierung der Schwyzer Privatschulen zum Ziel hatte als "unerheblich" ablehnte mit der Begründung, es könne nicht im Interesse des Staates liegen, daß Finanzen, die für die Qualität der staatlichen Schulen benötigt werden, für private Schulen eingesetzt werden, und es könne nicht Aufgabe des Staates sein, den Zugang aller sozialen Schichten durch finanzielle Beihilfe zu ermöglichen. 878 Buholzer, Manfred, Kanton Luzem: Kürzung der Staatsbeiträge, endlich/enfin, 875
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4/1993, S. 26.
s. hierzu Basler Handelskammer, S. 33; Mascello, Bruno, S. 177 f. Desseeker, Julius, Die schweizerische Schullandschaft und die Pädagogik Rudolf Steiners. In: Leber, Stefan, Waldorfschule heute. Stuttgart 1994, S. 337 (338). 881 Mascello, Bruno, S. 172. 882 s. Das Goetheanum Nr. 49/1992, S. 544. 879
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Die kantonale Vielfalt der Schweiz spiegelt sich aber auch darin wider, daß zwar einerseits Zuschüsse gekürzt werden, andererseits jedoch im Kanton Zug durch eine Novellierung des Schulgesetzes die rechtlichen Grundlage für die (erstmalige) Gewährung von Zuschüssen an Schulen in freier Trägerschaft geschaffen wurde. Nach der gesetzlichen Regelung ist der Zuschuß auf ein Viertel der Besoldungskosten, die ein Kind an einer entsprechenden öffentlichen Schule verursacht, beschränkt (1992/93 Zuschuß Primarstufe 1.170 Fr; Oberstufe 2.260 Fr pro Jahr und Kind)883. Bei alledem sind nicht nur die kantonalen, sondern auch die Sprachunterschiede für die Verbreitung etwa der Waldorfschulen signifikant. So gibt es in 17 deutschsprachigen Kantonen 31 der insgesamt 38 Rudolf-Steiner-Schulen, während es in drei französischsprachigen Kantonen insgesamt nur 5 und in einem italienischsprachigen Kanton nur 2 Rudolf-Steiner-Schulen gibt884 . Hierbei sind die Schulen in freier Trägerschaft einerseits zwar von nationalsozialistischer Verfolgung verschont geblieben und konnten kontinuierlich arbeiten, aber ebenso wie in den anderen westeuropäischen Ländern setzte erst mit den 70er Jahren ein Gründungsboom ein. So wurden in der Schweiz von 1945 bis zum Jahre 1970 (bis auf zwei Internats- und eine Förderschule) keine Waldorfschulen neu gegründet, jedoch seit 1970 über 30 Waldorfschulen 885 • Ungeachtet der unzureichenden finanziellen Unterstützung der reformpädagogischen Konzeptionen der Montessori- und Waldorfschulen sprechen ErziehungswissenschaftIer von einem noch nie dagewesenen quantitativen Entwicklungsschub dieser Schulen. (5) Berechtigungswesen Die Ungleichbehandlung von staatlichen und freien Schulen spiegelt sich nicht nur in der Finanzierung dieser Schulen wider, sondern auch darin, daß die freien Schulen wie die Waldorfschulen nicht in gleicher Weise Berechtigungen im Sinne von Abschlußzeugnissen ausstellen können wie die staatlichen Schulen, weil diese nicht anerkannt werden. So ist es nicht möglich, an einer Waldorfschule die Maturität zu erwerben. Die Maturität kann als Voraussetzung für ein Hochschulstudium nach Abschluß der 12jährigen Waldorfschule nur dadurch erlangt werden, daß anschließend entweder ein klassisches Gymnasium besucht wird oder eine zweiteilige eidgenössische Prüfung in einer anderen Stadt abgelegt wird, wofür in Zürich als Vorbereitung extra eine ,,Maturitätsschule für Absolventen der Rudolf-Steiner-Schulen" von den Waldorfschulen
Buholzer, Manfred, S. 26. Desseeker, Julius, S. 340. 885 Vgl. die Angaben bei Dessecker, Julius, S. 339. 883
884
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gegründet wurde 886 • Faktisch führt dies aber dazu, daß viele Schüler von Rudolf-Steiner-Schulen diese schon nach der 9. oder 10. Klasse verlassen und in eine andere Schule wechseln, an der sie die Matura ablegen können 887 • g) Minderheiten im kantonalen Schulwesen
Zur kantonalen Zuständigkeit gehört grundsätzlich auch die Regelung für die jeweiligen sprachlichen Minderheiten. Hierbei haben die Kantone gern. Art. 116 Abs. 2 BV die Befugnis, die Unterrichts sprache, die grundsätzlich der Amtssprache entspricht, festzulegen, was in mehrsprachigen Kantonen auch zu mehreren Schulsprachen führen kann. Da die Kantone gern. Art. 116 Abs. 1 BV befugt sind, zur Wahrung der sprachlichen Eigenart des Kantons oder einzelner Kantonsteile die Unterrichtssprache festzulegen, kann es auch im Rahmen der Unterrichts- und Privatschulfreiheit zu Einschränkungen der Sprachenfreiheit des einzelnen kommen 888 . So entschied das Bundesgericht im Jahre 1965, daß die Stadt Zürich mit dem Ziel der Assimilierung der dort lebenden französischsprachigen Schweizer eine französischsprachige Privatschule dahingehend regulieren dürfe, daß sie Kindern französischsprachiger Eltern nur für eine begrenzte Übergangszeit den Besuch dieser Schule gestattete889 . Des weiteren haben Eltern, die ihre Kinder in eine Nachbargemeinde schicken, damit sie dort ihren muttersprachlichen Unterricht erhalten können, keinen Anspruch auf Erstattung des Schulgeldes890. h) Perspektiven des Bildungswesens
Angesichts eines mit wenig Selbstgestaltungsmöglichkeiten ausgebildeten staatlichen Schulsystems und eines sozialstaatlich defizitär geregelten Privatschulwesens ist die Schweiz von einem bürgerschaftlichen Schulverfassungsverständnis weit entfernt. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß die kantonale Vielfalt verschiedene Freiräume bis hin zur Unterrichtung im Sinne der Waldorfpädagogik an öffentlichen Grundschulen im Kanton Bern ermöglicht891 •
Dessecker, Julius, S. 344 f. s. Das Goetheanum, Nr. 26/1992, S. 282 - Rudolf-Steiner-Schulen bieten berufsorientierte Oberstufe an. 888 s. hierzu näher Richter, Dagmar, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in der Schweiz. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. I, S. 308 (351 ff.); Mascello, Bruno, S. 137 f. 889 BGE 91 1480. 890 BGE 100 I a 462. 89\ Vgl. hierzu Dessecker, Julius, S. 337 (339); Maurer, Mathias, Waldorfpädagogik in der Schweiz, Erziehungskunst 1991, S. 607 (612). 886
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Insbesondere scheint die Gewährleistung von Schulvielfalt unter sozialstaatlichen Aspekten problematisch. Angesichts eines fehlenden verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs der Privatschulen auf Subventionen sowohl auf Bundesverfassungs- als auch Kantonalverfassungsebene und äußerster Zurückhaltung der Kantone bei der Gewährung von Zuschüssen892 ist in weiten Teilen die Erhebung eines monatlichen Schulgeldes zwischen 450 und 600 Franken pro Kind etwa für den Besuch einer Waldorfschule notwendig893 • Ungeachtet dessen, daß diese Schulen grundsätzlich die Aufnahme von Kindern nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern abhängig machen, besteht für weite Teile der Bevölkerung nicht die Möglichkeit, reformpädagogisch orientierte Schulen zu gründen bzw. ihre Kinder auf solche zu schicken894 • Diese mangelnde Wahrnehmung einer sozialstaatlichen Einstandspflicht führt nicht nur dazu, daß Schulen nicht gegründet werden können und in Betrieb befindliche Schulen erhebliche Schulgelder erheben müssen, sondern bewirkt darüber hinaus, daß bestehende alternative/reformpädagogische Schulprojekte in ihrer Existenz bedroht sind, was im Falle der Freien Volksschule Nidwalden zur Schließung führte 89s • Auch in der Schweiz wird sowohl in der erziehungswissenschaftlichen als auch bildungsökonomischen Diskussion die Frage der Effizienz, insbesondere aufgrund des hohen Anteils von 19 % des Bildungsetats an den Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden, gestellt896 und eine Neuorientierung des schweizerischen Bildungssystems gefordert. Diese Neuorientierung betrifft zum einen die Frage, inwieweit die Grundsätze kantonaler Vielfalt mit der Notwendigkeit übergreifender Handlungsorientierungen kompatibel sind897 , und zum anderen die Frage, inwieweit Bildung als öffentliche Aufgabe nicht stärker - unter Wahrung des Grundsatzes der Chancengleichheit - durch nichtstaatliche private oder freie Träger wahrgenommen werden kann 898 • Diese
So die Wertung von Mascello, Bruno, S. 178. Maurer, Mathias, Waldorfpädagogik in der Schweiz, S. 607. 894 Aus bundesdeutscher Sicht wäre eine Schulgeldhöhe, wie sie in der Schweiz erhoben wird, mit dem in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG festgeschriebenen Sonderungsverbot nicht vereinbar. Dieses Argument greift nach schweizerischem Verfassungs recht jedoch nicht, da dieses weder eine vergleichbare Regelung noch ein Elternrecht i.S. des Art. 6 Abs. 2 GO kennt. Dem entspricht es auch, daß die Schweiz das erste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention v. 20. März 1952 nicht ratifiziert hat, welches in Art. 2 das Recht der Eltern gewährleistet, die Erziehung und den Unterricht der Kinder entsprechend ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen. 895 Buholzer, Manfred, S. 26. 896 Basler Handelskammer, S. 15. 897 Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (Hrsg.), S. 171. 898 Basler Handelskammer, S. 8 ff.; Badertscher, Hans/Grunder Hans-Ulrich (Hrsg.), S. 38; Kussau, JürgenJOertel, Lutz, Schweiz, S. 373 m.w.N. 892
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Überlegungen reihen sich ein in die internationale Diskussion über Bildung als öffentliche Aufgabe und neue Formen des Public Management. Hierbei sind die Forderungen der Basler Handelskammer nach umfassender Liberalisierung durch Autonomie der Einzelschule, Bezuschussung nichtstaatlicher Schulträger und eine Neufinanzierung des Bildungswesens durch das System eines Bildungsgutscheins 899 , die auch in der schulverfassungsrechtlichen Literatur ausführlich diskutiert wird900, sowie eine umfassende Wahlfreiheit der Eltern und Schüler am weitgehendsten. Die mangelnde finanzielle Unterstützung der freien Schulen in den meisten Kantonen der Schweiz, die auch durch einzelne kantonale parlamentarische Motionen einzelner Abgeordneter grundsätzlich derzeit nicht in Frage gestellt wird901 , ist gleichzeitig Ausdruck eines überholten staatsrechtlichen Denkens im Bildungsverfassungsrecht, welches nicht ausreichend anerkennt, daß auch die sog. Privatschulen eine öffentliche Bildungsaufgabe der Gesamtheit und nicht individuelle Partikularinteressen wahrnehmen, die sie ihrerseits sozialverträglich nur dann ausfüllen können, wenn diese Schulen strukturell für jeden Schüler unabhängig von den Vermögensverhältnissen allgemein zugänglich sind. Hier bestehen in der Schweiz angesichts eines insgesamt doch stark staatsorientierten Denkens im Bereich des Schulwesens noch erhebliche Defizite. Festzuhalten ist mit Blick auf die Schweiz gleichwohl auch, daß die freien reformpädagogischen und alternativen Schulen zwar weitestgehend von staatlichen Subventionen ausgeschlossen sind, in der Gestaltung des Unterrichts jedoch größere Spielräume haben als etwa in Ländern, in denen der Staat Schulen in freier Trägerschaft in erheblichem Maße subventioniert. Die Schweiz ist damit strukturell zum einen vor dem Hintergrund der großen pädagogischen und selbstverwaltungsmäßigen Gestaltungsmöglichkeiten der nichtsubventionierten nichtstaatlichen Schulen gegenüber den kantonalen staatlichen als ein Land mit ausgeprägter Dualität eines staatlichen versus privaten Schulwesens zu kennzeichnen, welches von einem öffentlichen Schulwesen im Sinne des gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener Träger weit entfernt ist. Zum anderen zeigt das schweizerische Bildungswesen, daß kanonale bzw. föderale Dezentralisierung weder strukturell die schulische Autonomie der Einzelschule ersetzen kann, noch Schulvielfalt impliziert. Zwar ermöglicht der ausgeprägte Föderalismus, verbundenen mit den in der Schweiz möglichen Formen direkter Demokratie, regional durchaus eine Einflußnahme der Bürger auf die Gestaltung des Schulwesens und ist Ausdruck von Bürgernähe. Aber
899 900
901
Basler Handelskammer, S. 8.
Mascello, Bruno, S. 307 ff. s. Das Goetheanum, Nr. 4911992, S. 544 - Kanton Schwyz lehnt Beiträge an
"Privatschulen" ab.
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dies gilt nur bedingt, weil der Grundsatz der Subsidiarität auf das Verhältnis zwischen dem Bund und den Kantonen beschränkt bleibt und nicht auf die Selbstgestaltungsmöglichkeiten der Einzelschule unter substantiellen Mitentscheidungsrechten der Bürger auf lokaler Ebene Anwendung findet. Dieser Mangel an bürgerschaftIicher Beteiligung kann auch nicht durch die bestehenden Formen der Volksabstimmung als Ausdruck unmittelbarer Demokratie kompensiert werden. So haben in den letzten zwei Jahrzehnten zwar verschiedene Referenden über Schulreformprojekte902 bis hin zu einem Volksentscheid über die Rückerstattung von Schulgeldern und der Kosten für Lehrmittel für Schüler an Privatschulen903 stattgefunden, die zum Teil auch erfolgreich waren 904 . Doch die sozialstaatliche Sicherung von Chancengleichheit und Schulvielfalt bedarf darüber hinaus einer übergreifenden verfassungsrechtlichen Absicherung, um die Schule strukturell zu einer bürgerschaftIichen Angelegenheit werden zu lassen.
2. Das österreichische Bildungswesen a) Verfassungsrechtliche Grundlagen In Österreich besteht die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Unterrichtsfreiheit und des Bildungswesens nicht in einer einzelnen Verfassungsurkunde, sondern die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Schulwesens finden sich dem komplizierten Aufbau des kodifizierten österreichischen Verfassungsrechts entsprechend in verschiedenen Regelungen des Bundesverfassungsgesetzes von 1920 (BVG), des Staatsgrundgesetzes von 1867 (StGG), der in Verfassungsrang stehenden einschlägigen Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle und anderer völkerrechtlicher Verträge und auch in einfachgesetzlichen Bundesgesetzen, in denen einzelne Bestimmungen ausdrücklich als Verfassungshestimmungen gekennzeichnet sind905 . Seinen Grund findet dies darin, daß im BVG vom 1.10.1920 die für jede moderne Verfassung unabdingbaren Grundrechte im allgemeinen und im Bereich des Bildungs- und Erziehungswesens im besonderen fehlen, weil "trotz langwieriger Bemühungen eine Einigung zwischen den (verfassunggebenden, F.-R. J.) Parteien nicht zu erzielen war,,906. Näf, Martin, Alternative Schulformen in der Schweiz. Zürich 1988, S. 15. Kämpfer, Walter, S. 703. 904 Näf, Martin, Alternative Schulformen, S. 15. 905 Spielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich in Österreich, EuGRZ 1981, S. 675. 906 Hengstschläger, Johannes, Das Bildungswesen. In: Schambeck, Herbert, Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung. Berlin 1980, S. 597 (598). 902 903
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Das Bildungswesen nimmt hierbei eine besondere Stellung innerhalb dieses Verfassungsgefüges dergestalt ein, daß nach Art. 14 Abs. 10 BVG der gegenwärtige Rechtszustand in den Angelegenheiten der Schulbehörden des Bundes, in den Ländern und politischen Bezirken, der Schulpflicht, der Schulorganisation, der Privatschulen und des Verhältnisses von Schule und Kirchen (Religionsgesellschaften) einschließlich des Religionsunterrichts in der Schule nur unter denselben Voraussetzungen wie Verfassungsrecht, nämlich mit einer 2/3-Mehrheit im Parlament, geändert werden kann, was das "bestehende Schulsystem ... in einer Weise absichert, die im praktischen Ergebnis einer umfassenden grundrechtlichen Gewährleistung gleichkommt,,907. Es ist dies Ausdruck des großen Schulkompromisses zwischen ÖVP und SPÖ im Jahre 1962 und dokumentiert das tiefe gegenseitige Mißtrauen in Bildungsfragen908 . b) Die bundesstaatliehe Kompetenzverteilung im Bildungswesen Die bildungsrechtliche Kompetenzzuweisung zwischen Bund und Ländern ist in Art. 14 BVG geregelt und besteht in einer Teilung der Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den neun Bundesländern, wobei dem Bund etwa im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere mit der Schweiz verhältnismäßig weitreichende Kompetenzen zukommen 909 • Insgesamt läßt sich Österreich der etatistisch-föderalen Bildungssystemverfassung zuordnen, in der zwar kein staatliches Schulmonopol besteht, gleichwohl der Vorrang der staatlichen Institutionalisierung gegenüber gesellschaftlichen Selbstverwaltungsformen und insbesondere nichtstaatlichen Schulen in freier Trägerschaft auch normativ deutlich zum Ausdruck kommt. Hierbei wird auch die Regelung des Art. 17 Abs. 5 StGG, wonach dem Staat rücksichtlich des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens das Recht der obersten Leitung und Aufsicht zukommt, ähnlich wie in Deutschland als umfassende Schulhoheit verstanden 91O , wobei hier die föderale Komponente im Bildungsbereich nur schwach entwickelt ist. Im wesentlichen besitzt der Bund nach Art. 14 Abs. 1 BVG die (Grundsatz-)Gesetzgebungskompetenz und üben die Länder lediglich die Ausführungsgesetzgebungskompetenz sowie die Voll ziehung der Gesetzgebung aus9J\. Die Landesverfassungen enthalten zudem entgegen den Verfas907 Spielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung, S. 675 (682); s. a. Hengstschläger, Johannes, S. 599. 908 Mantl, Wolfgang, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, 3. Länderbericht Österreich, VVDStRL 5411995, S.75 (79). 909 Mantl, Wolfgang, S. 75 (80). 9\0 Mantl, Wolfgang, S. 83. 911 s. hierzu Hengstschläger, Johannes, S. 610 (614); Spielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung, S. 675 (685).
24 Jach
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sungen der deutschen Bundesländer keine Grundrechte9J2 • Aufgrund der Generalklausel des Art. 14 Abs. 1 BVG stehen danach dem Bund insbesondere die normative Ausgestaltung der Angelegenheiten der Schulorganisation und des Schulunterrichtsrechts der im Schulorganisationsgesetz geregelten Schularten, die Regelung der Schulaufsicht und der Schulpflicht sowie des Privatschulwesens und des Verhältnisses von Schule und Kirche zu 913 . Art. 14 Abs.6 BVG enthält eine verfassungsgesetzliche Definition der "öffentlichen Schulen". Danach sind "öffentliche Schulen" solche Schulen, die vom gesetzlichen Schulerhalter errichtet und erhalten werden. Gesetzlicher Schulerhalter sind je nach Kompetenzzuweisung entweder der Bund, das Land oder ein Gemeindeverband. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung des gesetzlichen Schulerhalters kommt zugleich die Verpflichtung der öffentlichen Hand zum Ausdruck, ausreichende allgemein· zugängliche Bildungseinrichtungen vorzuhalten 914 . Schulen, die nicht öffentlich in diesem Sinne sind, sind "Privatschulen", unabhängig davon, von wem sie unterhalten werden. c) Grenzen und Möglichkeiten einer stärkeren Autonomie der Schule
Wie auch in der Bundesrepublik Deutschland und den anderen europäischen Ländern und den OECD-Staaten ist die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der "Autonomie von Schule" zentraler Punkt der gegenwärtigen Bildungsdiskussion915 . Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen einer Stärkung der Autonomie der Einzelschule im österreichischen Bildungswesen korrespondiert mit einer zunehmenden staatsrechtlichen Akzeptanz der Pluralisierung von Wertorientierungen in einem Land, in dem noch heute der berühmte Satz Maria Theresias, die Schule sei ein "Politicum", Gegenstand aller bildungspolitischen Debatten ist und die Staatlichkeit des Bildungswesens ähnlich wie in Deutschland als apriori gesetzte Determinante erscheint916 • Seinen verfassungsrechtlichen Ausdruck findet diese etatistische Grundkonzeption des Bildungswesens in dem in Art. 17 Abs. 5 StGG festgelegten obersten Leitungsund Aufsichtsrecht des Staates. Stärker als in der Bundesrepublik Deutschland treten dabei einerseits die verschiedenen möglichen Optionen der Autonomie von Schule - marktorienSpielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung, S. 675 (676). Hengstschläger, Johannes, S. 611 f. 914 Hengstschläger, Johannes, S. 617 f. 915 s. hierzu Posch, PeterlAltrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich, Bd. I der Reihe "Bildungsforschung" des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 2. Auf!. Klagenfurt 1993; Schulautonomie, Dokumentation zum Kongreß der österreichischen Bildungsallianz, Erziehung heute, 3/1993; Mantl. Wolfgang, S. 75 (92 f.). 916 Vgl. Mantl, Wolfgang, S. 75 (83 f.). 912 913
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tierte oder/und demokratietheoretische Begründung der Autonomie von Schule - in der öffentlichen Diskussion zu Tage und lassen sich kategorial, soweit dies überhaupt sinnvoll möglich ist, verschiedenen politischen Grundorientierungen zuordnen. Während die konservative Bildungspolitik - repräsentiert durch die Österreichische Volkspartei - zu einer eher marktorientierten Begründung und Zielstrategie tendiert, die sich auch mit zentralstaatlichen curricularen Vorgaben verwirklichen läßt und primär Effizienzgesichtspunkte als Ausgangspunkt hat, stehen dem explizit demokratietheoretische Optionen gegenüber, die ein substantielles Maß pädagogischer Vielfalt und eine Zurückdrängung des Parteieneinflusses auf die Schule im Zuge einer grundlegenden Demokratisierung und Entbürokratisierung anstreben917 • Hierbei ist auch für die österreichische Autonomiediskussion aus demokratietheoretischer Sicht die Forderung einer strukturellen Umgestaltung des Bildungswesens bis hin zur rechtlichen und materiellen Gleichstellung aller Schulen unabhängig von ihrer Trägerschaft, d.h., die finanzielle Gleichstellung von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen, als Ausdruck der Wahlfreiheit und Selbstinitiative der Bürger signifikant918 • Über den bildungspolitischen Diskurs hinaus hat das Anliegen einer Stärkung der schulischen Selbstverwaltung auch rechtlich Niederschlag gefunden. Nachdem zunächst der Stadtschulrat für Wien im Jahre 1992 im Erlaßwege partielle Selbstbestimmungsrechte im Bereich der Unterrichtsgestaltung durch zusätzliche bzw. alternative Unterrichtsangebote sowie eine partielle administrative Selbstgestaltung etwa hinsichtlich der Festlegung der Klasseneröffnungszahlen, der Möglichkeiten eines Schulwechsels und der individuellen Dienstzeiteinteilung des Nichtlehrpersonals eingeräumt hatte, wurde im Jahre 1993 mit der 14. Schulorganisationsnovelle919 der Grundsatz einer stärkeren Selbstverwaltung auch normativ verankert. Danach haben die Schulen u.a. die Möglichkeit der zumindest teil weisen Gestaltung der Lehrpläne, der Verfügung über ein gewisses Schulbudget in eigener Verantwortung, der Festsetzung von Unterrichtsschwerpunkten sowie der Errichtung eines paritätisch aus je drei Eltern-, Lehrer- und Schülervertretern sowie dem Direktor zusammengesetzten 917 s. hierzu Bachmann, Helmut, Schulautonomie in Österreich, Erziehung heute, 3/1993, S. 28 f.; Sertl, Michael, Kurze Geschichte der Autonomiediskussion in Österreich. In: Pasch, Peter/Altrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich, Bd. I der Reihe "Bildungsforschung" des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 2. Aufl. Klagenfurt 1993, S. 88 ff. 918 s. Bachmann, RudilDrasch, Wolfgang, Elternschulprojekte und Freie Schulen ihr Stellenwert im Schulreforrnprozeß, Erziehung heute 3/1993, S. 41 ff.; Fuchsbauer, Gary, Ergebnisse des Arbeitskreises Autonomie im internationalen Vergleich und daraus folgende Forderungen, Erziehung heute, 3/1993, S. 88; Resolution des Kongresses "Schulautonomie - aber wie?", Erziehung heute, 3/1993, S. 100; zurückhaltender Mantl, Wolfgang, S. 75 (86), der unter Berufung auf Spielbüchler zumindest eine finanzielle Förderpflicht des Staates in Erwägung zieht. 919 BGB!. Nr. 323/1993.
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Schulgemeinschaftsausschusses92o. Darüber hinaus ist in einigen Bundesländern zum Schuljahr 1996/97 wie zum Beispiel in Niederösterreich der pädagogische Spielraum der einzelnen Schule durch Änderung der Stundentafeln erweitert worden 921 • d) Die Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit (1) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Unterrichtsfreiheit
Historisch hat die Unterrichts freiheit ihren Ursprung im Patent von 1849, dessen §§ 3 und 4 den Staatsbürgern das Recht zur Gründung von Unterrichtsund Erziehungsanstalten gab und den häuslichen Unterricht keiner Beschränkung unterliegend bezeichnet. Diese Regelungen waren eingebunden in den umfassenden kirchlichen Einfuß auf das Bildungswesen. So wurde erst mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 das im Konkordat von 1855 niedergelegte Aufsichtsrecht der Kirche über Schule und Lehrer zugunsten der obersten Aufsicht des Staates beseitigt und die Säkularisierung des Schulwesens durch die Regelungen des Staatsgrundgesetzes eingeleitet922 • Die Unterrichts freiheit wird in Österreich sowohl durch das mit Verfassungsrang ausgestattete Recht auf Bildung gern. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt als auch durch Art. 17 StGG gewährleistet. Diese verfassungsrechtliche Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit im Staatsgrundgesetz vom 21.12.1867 hat gern. Art. 149 Abs. 1 der Bundesverfassung den Rang eines Verfassungsgesetzes. Danach ist gern. Art. 17 Abs. 2 StGG nicht nur die Privatschulfreiheit im Sinne einer Gründungs- und Unterhaltungsfreiheit gewährleistet, welches jedermann zukommt, der seine Befähigung hierzu in gesetzlicher Weise nachgewiesen hat, sondern in Absage an eine Schulpflicht statuiert Art. 17 Abs. 3 StGG zugleich das Recht auf häuslichen Unterricht, der keiner solchen Beschränkung unterliegt.
920 Zur Entwicklung s. a. Wildner, Paul Peter, Autonomiebestrebungen in Österreich - so etwas wie eine Chronik, Pädagogische Rundschau 4811994, S. 525-529; eine ausführliche Darstellung findet sich bei Bachmann, Helmut, Österreich. In: Döbert, Hans/Geißler, Gert (Hrsg.), Schulautonomie in Österreich. Baden-Baden 1997, S.265 (270 ff.); zu den Auswirkungen der 14. SchOG-Novelle s. Bachmann, Helmut u. a., Auf dem Weg zu einer besseren Schule - Evaluation der Schulautonomie in Österreich. Innsbruck-Wien 1996. 921 s. hierzu im einzelnen Wimmer, Manfred, Zum Thema Schulautonomie - Tendenzen und Trends aus dem Bundesland Niederösterreich, Erziehung und Unterricht 1996, S. 276 ff. 922 s. hierzu Ermacora, Felix, Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte. Wien 1963, S. 464.
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Anknüpfungspunkt ist insofern jedoch nicht der Grundsatz der Unterrichtsfreiheit i.d.S., daß wie etwa in Dänemark keine Schul-, sondern nur eine Unterrichtspflicht bestünde. Anknüpfungspunkt bleibt vielmehr die durch die Allgemeine Schulordnung von 1774 von Maria Theresia eingeführte allgemeine Schulpflicht. ,,Es entspricht zwar österreichischer Tradition, den häuslichen und den Privatschulunterricht genügen zu lassen, soweit sein Niveau dem des staatlichen Unterrichts entspricht, doch ist das nicht eine Forderung der Unterrichtsfreiheit (die als solche beim häuslichen Unterricht ja keiner wie immer gearteten Beschränkung unterworfen werden könnte), sondern allenfalls eine Frage der Sachlichkeit einer unterschiedlichen Behandlung im Hinblick auf den Zweck der Schulpflicht,,923. Zwar "garantiert weder die häusliche Unterrichtsfreiheit noch die Privatschulfreiheit ein Recht auf Befreiung von der Schulpflicht,,924 nach dem Schulpflichtgesetz, doch kann die Schulpflicht gern. § 11 SchulPflG auch durch die Teilnahme an einem gleichwertigen Privatschulunterricht oder häuslichen Unterricht erfüllt werden. Ungeachtet des Vorrangs der staatlich-institutionalisierten Schulerziehung besteht in Österreich danach faktisch nur eine Unterrichtspflicht, die in Art. 17 Abs. 3 StGG durch die Freiheit des häuslichen Unterrichts verfassungsrechtlich geschützt ist und die von dem in Art. 17 Abs. 2 StGG verbürgten Recht, nichtstaatliche Schulen zu gründen und zu unterhalten, zu unterscheiden ist925 • Diese grundrechtliche Verbürgung ist sowohl als subjektives Recht als auch gleichzeitig als Absage an ein staatliches Schulmonopol zu verstehen 926 . Seine einfachgesetzliche Grundlage findet das "Privatschulrecht" im Privatschulgesetz vom 25.7.1962927 . Des weiteren garantiert das österreichische Verfassungsrecht grundrechtlich ein Recht auf Bildung, welches durch die Transformation des Art. 2 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in innerstaatliches Recht verfassungsrechtlich verbürgt ist, weil diesem - im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo Art. 2 Zusatzprotokoll EMRK nur die Geltung eines einfachen Gesetzes besitzt - Verfassungsrang zukommt928 • Nach Art. 2 Zusatzprotokoll EMRK darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden. Obgleich seine Bedeutung als subjekSpielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung, S. 675 (678). Spielbüchler, Karl, Bestand und Bedeutung, S. 675 (678); ders., Das Grundrecht auf Bildung. In: Machacek, R.lPahr W.P. u. a., Grund- und Menschenrechte in Österreich. Kehl a.R. 1992, S. 166 f. 923
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925 Zur Abgrenzung zwischen häuslichem Unterricht und Schule in freier Trägerschaft (Privatschule) s. Matzka, Manfred, Schulrecht und "freier" Unterricht, RdS 1980, S. 4 ff. 926 s. Lebitsch, Gerhard, Zur Unterrichtsfreiheit der Privatschule, RdS 1983, S. 33. 927 BGB!. Nr. 244 in der derzeit geltenden Fassung der Novelle BGB!. Nr. 29011972 (I). 928 Kneucker, Raoul F., Recht auf Bildung. In: Festschrift 400 Jahre akademisches Gymnasium in Graz, 1973, S. 197; s. a. Mantl, Wolfgang, S. 75 (83).
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
tives öffentliches Recht unbestritten ist929 , ist die in der österreichischen Verfassungsrechtslehre kontrovers diskutierte Frage, inwieweit dieses Recht über seinen Abwehrcharakter hinaus Ansprüche auf staatliche Leistungen und Teilhabe gewährt930 , nach der jüngsten Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte931 negativ zu beantworten. Darüber hinaus gewährt das österreichische Verfassungsrecht den ethnischen Minderheiten durch diverse, mit Verfassungsrang ausgestattete, Regelungen das Recht auf Elementarunterricht in der jeweiligen Muttersprache sowie das Recht, eigene Schulen zu gründen und zu unterhalten. Die Privatschulfreiheit umfaßt nach allgemein herrschender Auffassung sowohl die Gründungs- und Unterhaltungsfreiheit als auch die Unterrichtsfreiheit dergestalt, daß die Schule den Unterricht grundsätzlich nach ihren eigenen Wertvorstellungen gestalten kann 932 • Diese grundSätzliche Gewährleistung wird jedoch durch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der "Privatschulfreiheit" und die Systematik der gesetzlichen Regelungen erheblich relativiert. Dies hat vor allem zwei Komponenten. Zum einen die Voraussetzungen für die Gewährung von Subventionen, zum anderen die Voraussetzungen an die Verleihung des Öffentlichkeitsrechts, d.h., die Berechtigung zur Vergabe von Zeugnissen, die denen staatlicher Schulen gleichgestellt sind. Dementsprechend unterscheidet sich die Typologie nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft in diverse Kategorien 933 : Schulen mit oder ohne Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung gern. § 11 PrivatSchG, Schulen mit und ohne Öffentlichkeitsrecht gern. Art. 14 Abs. 7 BVG i.V.m. §§ 11, 14 PrivatSchG sowie Schulen, die Zuschüsse erhalten und solche, die keine Zuschüsse erhalten. Das Privatschulrecht unterscheidet insofern drei Formen: die freie Privatschule, die Privatschule mit dem Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung nach § 11 PrivatSchG und die Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht gern. § 13 PrivatSchG. In Österreich besuchen ca. 7 % der Schüler eine Privatschule934 , doch ist aufgrund der unterschiedlichen Rechtsstellung von kirchlichen Schulen und Schulen in Elternträgerschaft eine einheitliche Klassifizierung "Privatschule" auch in Österreich wenig aussagekräftig. s. Kneucker, Raoul F., S. 197. s. hierzu Kneucker, Raoul F., S. 198 ff.; Spielbüchler, Karl, Das Grundrecht, S. 154 ff.; ders., Bestand und Bedeutung S. 675 (680 f.); Zeizinger, Herbert, Das Recht auf Bildung in der österreichischen Verfassungsordnung, Festschrift für Hans R. Klecatsky, 1980, Bd. 11, S. 1079 ff. 931 Europäische Kommission für Menschenrechte, 19315/92 und 23419/94. 932 Lebitsch, Gerhard, S. 33. 933 s. hierzu Jisa, Wemer, Die rechtliche Verankerung und Ausgestaltung des Privatschulwesens in Österreich, RdS 1988, S. 80 (81). 934 Mantl, Wolfgang, S. 75 (80). 929 930
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(2) Die Verleihung des Öffentlichkeitsrechts an Schulen in freier Trägerschaft Privatschulen ist gern. Art. 14 Abs. 7 BVG nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen das Öffentlichkeitsrecht zu verleihen. Schulen mit der Berechtigung zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung - dies sind solche, die den staatlichen Schulen in der Gestaltung des Unterrichts einschließlich der Lehrplans entsprechen - erhalten gern. Art. 14 PrivatSchG das Öffentlichkeitsrecht verliehen, welches ihnen gern. § 13 PrivatSchG das Recht, Prüfungen abzuhalten und Berechtigungen zu vergeben sowie Lehramtsanwärter auszubilden, gewährt. Voraussetzung für die Verleihung des Öffentlichkeitsrechts, welches das Recht gewährt, Zeugnisse auszustellen, die denen der staatlichen Schulen entsprechen, ist i.d.R. eine umfassende Anpassung an die staatliche Schule und den dort geleisteten Unterricht, d.h., der Unterricht muß nicht nur gleichwertig, sondern gleichartig dem an staatlichen Schulen sein935 • Allerdings kann nach § 14 Abs.2 PrivatSchG auch solchen Privatschulen, die keiner öffentlichen Schule entsprechen, das Öffentlichkeitsrecht verliehen werden, wenn diese neben der Gewähr eines ordnungsgemäßen Unterrichts in der Organisation, dem Lehrplan und der Ausstattung der Schule sowie der Lehrbefähigung der Unterrichtenden mit einem vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst erlassenen oder genehmigten Organisationsstatut übereinstimmen und die Privatschule sich hinsichtlich ihrer Unterrichtserfolge bewährt hat. Aufgrund dieser Bestimmung ist den meisten Waldorfschulen und Freien Altemativschulen das Öffentlichkeitsrecht verliehen worden. Damit hat sich die als Mindenneinung vertretene Ansicht, "gemeinhin als 'Statusschulen' bzw. 'Alternativschulen'" bezeichnete Privatschulen könnten keine staatlich anerkannten Zeugnisse ausstellen, "weil sie ja vom Konzept und der Intention her mit öffentlichen Schulen geradezu nicht vergleichbar" seien936 , nicht durchsetzen können. (3) Subventionierung der Schulen in freier Trägerschaft Entgegen der besonderen verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der "Privatschulfreiheit" im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht nach herrschender Auffassung in Österreich die Gewährleistung der Privatschulfreiheit in Art. 17 Abs. 2 StGG "über die Gewährung eines Freiraumes nicht hinaus, sichert also weder die finanzielle Möglichkeit der Errichtung und des Betriebs von Privatschulen noch die gleiche Bewertung ihrer Unterrichtstätigkeit ... Staatliche Leistungen an Privatschultin sind verfassungsrechtlich nicht garan-
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Lebitsch, Gerhard, S. 74. Jisa, Wemer, S. 83.
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tiert,,931. Obgleich Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK in Österreich Verfassungsrang hat, wird auch hierin von der herrschenden Meinung keine Verpflichtung auf Bezuschussung im Sinne eines Rechtsanspruchs gesehen938 . Das Grundrecht der "Privatschulfreiheit" ist damit auf seinen Charakter als Abwehrrecht beschränkt und enthält sich einer besonderen staatlichen Schutzund Leistungspflicht, wie sie das Bundesverfassungsgericht aus dem spezifischen Normgehalt des Art. 7 Abs. 4 GG herleitet. Dies liegt grundrechtsdogmatisch vor allem darin, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zum StGG, welches allein auf die subjektive Voraussetzung der Befähigung abstellt, weitergehende objektive Voraussetzungen für die Ausübung des Grundrechts normiert, die zu erfüllen dem einzelnen Grundrechtsträger ohne staatliche Hilfe unmöglich wäre939 . Obgleich damit keine unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsansprüche als subjektive Rechte herleitbar sind, ist zumindest eine objektivrechtliche Verpflichtung des Staates zur Sicherung eines lebensfähigen Privatschulwesens durchaus begründbar. Insofern greift hier der Aspekt Spielbüchlers, daß ,je umfassender der Staat Erziehung und Unterricht selbst besorgt, desto großzügiger muß er letztlich private Bildungseinrichtungen oder sogar den häuslichen Unterricht als gleichwertigen Ersatz zulassen, ja unter Umständen durch eigene Beiträge sogar fördern,,940, als Verpflichtung zur leistungsrechtlichen Ausfüllung dieses Grundrechts, um den Anforderungen einer pluralistischen Organisation des Schulwesens und einer Wahlfreiheit der Eltern zu entsprechen. Die Ausgestaltung von Bezuschussungsgewährleistungen und -ansprüchen unterliegt danach allein den Bestimmungen des Privatschulgesetzes, erscheint aber sowohl unter rechtspolitischen als auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten problematisch. (4) Die Ungleichbehandlung kirchlicher und sonstiger Schulen in freier Trägerschaft Im Gefüge der Schulen in nichtstaatlicher oder freier Trägerschaft nehmen die kirchlichen Schulen eine Sonderstellung ein, als diesen ein Anspruch auf staatliche Subventionen zuerkannt wird. Dieser ergibt sich für die katholischen 937
Spielbüchler, Kar!, Bestand und Bedeutung, S. 675 (678); s. a. ders., Das Grund-
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Spielbüchler, Kar!, Bestand und Bedeutung, S. 675 (680).
recht, S. 166.
Dies sind insbesondere die erforderliche "genügende wirtschaftliche Sicherung der Lehrkräfte" sowie das Verbot einer "Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern". 940 Spielbüchler, Kar!, Das Grundrecht, S. 165. 939
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Schulen aus einem völkerrechtlichen Vertrag mit dem Vatikan 94 \ infolge dessen unter dem Verweis auf das Gleichbehandlungsgebot auch den anderen kirchlichen Schulträgern ein Anspruch auf staatliche Subventionen zuerkannt wird, der in §§ 17 ff. PrivatSchG seinen einfachgesetzlichen Niederschlag findet942 . Danach erhalten die konfessionellen Privatschulen - dies sind gern. § 17 Abs. 2 PrivatSchG solche, die von den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften und ihren Einrichtungen unterhalten werden - vom Bund als sog. Subvention unter den im einzelnen in den §§ 18 bis 20 PrivatSchG festgelegten Voraussetzungen die Personalkosten, die zur Erfüllung des Lehrplanes der betreffenden Schule erforderlich sind. Alle anderen Privatschulen erhalten Subventionierungen nur unter bestimmten Voraussetzungen. Danach ist für diese Schulen für einen möglichen Subventionsanspruch entscheidend, welcher Kategorie von Privatschulen die einzelne Schule zuzuordnen ist. Eine Möglichkeit der Subventionierung besteht nur für Schulen mit Öffentlichkeitsrecht, welches systematisch die Schulen mit dem Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung mit einschließt. Auf die Subventionierung besteht jedoch, soweit es sich nicht um kirchliche Schulen handelt, nach h.M. kein Rechtsanspruch, sondern diese wird nur nach Maßgabe und Ermessen des Bundes aufgrund des jeweiligen Bundesfinanzierungsgesetzes gewährt943 • Sonstigen Privatschulen können danach gern. § 21 PrivatSchG Mittel zum Personal aufwand gewährt werden, wenn die einzelne Schule einem Bedarf der Bevölkerung entspricht, mit der Führung der Schule keine Gewinnerzielungsabsicht verbunden ist, die Aufnahmebedingungen staatlicher Schulen maßgeblich sind und die Schülerzahl nicht unter den Schülerzahlen vergleichbarer staatlicher Schulen liegt. Hierbei ist durch Legaldefinition, die nicht abschließend ist, gern. § 21 Abs. 2 PrivatSchG ein Bedarf jedenfalls dann nicht gegeben, wenn dadurch die Organisationshöhe einer öffentlichen Volks- oder Hauptschule, in deren Sprengel die Privatschule liegt, gemindert wird. Die Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs hat diese Rechtslage für verfassungsmäßig erklärt. Auch die Europäische Kommission für Menschenrechte 944 hält diese Rechtslage als vereinbar mit Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Ausgangspunkt für die Entscheidung der Europäischen Kommission war u.a. ein von einer Alternativschule angestrebtes Verfahren zur Österr. BGBI. 27311962. s. hierzu Lebitsch, Gerhard, S.75; Spielbüchler, Kar!, Das Grundrecht, S. 166; ders., Bestand und Bedeutung, S. 675 (678). 943 Jisa, Werner, S. 83; Lebitsch, Gerhard, S. 75. 944 Europäische Kommission für Menschenrechte, 19315/92 und 23419/94. 941
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D. Systematische Darstellung der Schul verfassungen in Westeuropa
Gewährung staatlicher Zuschüsse, deren Begehren vom Ministerium abgelehnt worden war. Hierbei handelte es sich um eine Alternativschule mit Öffentlichkeitsrecht. Ein Anspruch auf Bezuschussung wurde jedoch vom Verwaltungsgerichtshof'5, nachdem der Verfassungsgerichtshof durch Beschluß vom 24.9.1990946 die Sache mangels Aussicht auf Erfolg an diesen verwiesen hatte, durch Entscheidung vom 20.9.1993 mit der Begründung zurückgewiesen, diese Schule erfülle nicht die Voraussetzungen eines "Bedarfs der Bevölkerung" im Sinn des § 21 PrivatSchG. Für den Begriff des Bedarfs sei neben der speziellen Angebots- und Nachfragesituation der Privatschule insbesondere die Auslastung der jeweiligen öffentlichen Schule, in deren Sprengel die Privatschule liege, maßgebend. Danach sei in einer Großstadt wie Wien angesichts dessen, daß in Wien nur etwa hundert Familien an der Entwicklung alternativer Schulmodelle beteiligt seien, die Schule lediglich zwanzig bis dreißig Schüler in fünf Schulstufen unterrichte und jährlich zehn bis zwanzig Interessenten abweisen müsse, noch kein Bedarf im Sinne des Gesetzes gegeben, weil ein solcher über ein Interesse in der Bevölkerung hinaus eine gewisse Intensität voraussetze, die vorliegend nicht erreicht werde. Die Entscheidung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs erscheint insofern nicht überzeugend, als der Begriff des Bedarfs sehr restriktiv ausgelegt wird. Zudem widerspricht eine de lege lata zwar derzeit als noch verfassungsgemäß anzunehmende Ungleichbehandlung den Strukturprinzipien einer pluralistischen Bürgergesellschaft. Insofern bestehen gegen eine solche Begrenzung des Gleichheitsgebots auf kirchliche Träger zu Recht Bedenken, weil die Begründung, "dadurch werde es den Eltern erleichtert, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder zu wählen", zumindest auch auf "weltliche" Schulen mit einer besonderen pädagogischen Prägung übertragbar ist947 , da sich die Erziehungsverantwortung der Eltern - insbesondere in einer säkularisierten Gesellschaft und in einem weltlichen Staat - nicht auf die religiöse Erziehung beschränken kann. Ein moderner pluralistischer Verfassungsstaat wie der österreichische muß anerkennen, daß es für die Wahrnehmung der primären elterlichen Erziehungsverantwortung heute nicht mehr ausreicht, ein Wahlrecht zwischen staatlicher und kirchlicher Schule zu ermöglichen. Die Schule auch in Österreich ist geprägt von einer Entwicklung eines zweigeteilten Bildungswesens zu einem dreigliederigen Bildungswesen, in dem neben den staatlichen und kirchlichen Schulen die Schulen in freier Lehrer-ElternTrägerschaft stehen und mit eigener gesellschaftlicher Legitimation ausgestattet DNr. 0309/1230 HP v. 20.9.1993. Beschluß 1008/90-4 v. 24.9.1990 und Beschluß 216/90-3 v. 17.6.1991; s. hierzu auch Kaimbacher. Petra. Finanzierungsproblematik nichtkonfessioneller Privatschulen in Österreich. RuS 1/1998. S. 2 ff. 947 s. hierzu Lebitsch. Gerhard. S. 75 m.w.H. 945
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VIII. Etatistisch-föderale Schulverfassungen: Österreich
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sind, weil sie Defizite im staatlichen Schulwesen durch eigene Angebote kompensieren. Nicht der Status der Schule als solcher führt also in Österreich zur Verhinderung von Schul vielfalt, sondern allein eine mangelnde Subventionierung auch von nichtkonfessionellen Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht. Grund hierfür ist das sehr weite Ermessen des Gesetzgebers, der im Bundesfinanzgesetz die Höhe der Subventionen festlegen kann, ohne daß hierauf ein verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich geschützter Rechtsanspruch besteht948 • Gleichwohl hat sich der Anteil von reformpädagogischen Schulen auch in Österreich in den letzten Jahren erheblich erhöht. So ist der Bund der Freien Waldorfschulen nach den katholischen (subventionierten) Schulen der inzwischen zweitgrößte nichtstaatliche Schulträger. Im Jahre 1995 existierten neun österreichische Waldorfschulen, die von 2194 Schülern besucht wurden 949 , wobei sich die Zahl der Schüler seit 1980 verdreifacht hat950. Im Jahre 1997 betrug die Zahl zwölf Schulen951 . Auch in Österreich ist eine Konzentration reformpädagogischer Schulen auf die Metropolen bzw. Großstädte feststellbar. Allein im Wiener Raum gibt es vier Waldorfschulen und zudem eine staatliche Schule mit Waldorf-Experimentalunterricht952 und darüber hinaus eine Reihe von Alternativschulen. So sind allein in Wien seit 1980 sechs Freie Alternativschulen entstanden, die allerdings z.T. in der Form des häuslichen Unterrichts praktizieren953 • Vergleichend kann man konstatieren, daß die Waldorfschulen in Österreich im Vergleich zu ihrer Bedeutung in Deutschland oder auch der Schweiz eine eher marginale Rolle in der Bildungslandschaft spielen. Deutlich wird dies auch in der historischen Entwicklung. So wurde die erste Waldorfschule nach dem zweiten Weltkrieg - die 1927 gegründete Schule wurde von den Nationalsozialisten aufgelöst - erst 1966, nachdem die Initiativ- und Konsolidierungsphase in Form des "häuslichen Unterrichts" überbrückt wurde, wiedergegründet954 • Die weiteren Schulgründungen vollzogen sich dann erst in den Jahren ab 1977, dies aber in rascher Folge9SS •
948 949
Vgl. Lebitsch, Gerhard, S. 75. Hiller, Walter, Die österreichischen Waldorfschulen in Zahlen, Erziehungskunst
1995, S. 684.
Das Goetheanum, Nr. 17/93, S. 186. Zahlen nach "Die Presse", Wien v. 10.2.1997. 952 Hiller, Walter, S. 684. 953 s. hierzu Dachverband der Wiener Alternativschulen (Hrsg.), Leben Lernen, 12 Jahre Alternativschulen in Wien. Wien 1990. 954 Gergely, Elisabeth, Streifzug durch den Lebensgang der Waldorfschule in Österreich. In: Leber, Stefan, Waldorfschule heute, Stuttgart 1994, S. 331 (332). 955 Gergely, Elisabeth, S. 333. 950 951
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Hierbei ist die Subventionierung der Waldorfschulen als defizitär anzusehen, wenn man bedenkt, daß für diese Schulen im ordentlichen Haushalt (Finanzierungsgesetz) des Bundes - bei einem Haushaltsvolumen der Waldorfschulen von 200 Stellen - insgesamt nur 10 Planstellen ausgewiesen sind, die vom Bund und den Ländern finanziert werden. Darüber hinaus erhalten die Waldorfschulen über den außerordentlichen Haushalt derzeit jährlich 10 Mio. Schilling (knapp 1 Mio. DM) für Bau- und Investitionskosten. Hinzu kommen die über die Länder und Gemeinden für alle Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht vorgesehenen Leistungen des Familienausgleichs wie Fahrtkostenerstattung und Gratisschulbücher956 . Nach Berechnungen der Schulträger werden danach etwa nur 4 % der Kosten für den Besuch einer Waldorfschule durch staatliche Zuschüsse gedeckt, die im Durchschnitt bei 39.000 Schilling (ca. 5.570 DM) pro Jahr liegen und damit ca. 2/3 der Kosten (55.000 Schilling = ca. 7.850 DM) eines Schülers an einer staatlichen Schule betragen957 . (5) Unterrichts freiheit und staatliche Schulaufsicht
Voraussetzung für eine Subventionsgewährung und sonstige staatliche Leistungen (Schulbeihilfe, Fahrtkostenzuschüsse, Gratislehrbücher)958, auf die jedoch kein Rechtsanspruch besteht, ist die mit der Verleihung des Öffentlichkeitsrechts verbundene grundsätzliche Anpassung an den staatlichen Lehrplan, wobei Schulen, die mit einem Öffentlichkeitsrecht versehen sind, jedoch keiner öffentlichen Schul art entsprechen, in pädagogischer und methodisch-didaktischer Hinsicht ein gewisser Gestaltungsraum zugestanden wird959 . Dieser wird jedoch dadurch erheblich relativiert, daß die Schulen mit Öffentlichkeitsrecht in gleicher Weise wie die staatlichen Schulen der Schulaufsicht unterliegen, d.h., die staatliche Schulaufsicht umfaßt sowohl die Rechts- als auch die Fachaufsicht960 . Ein rechtlich gesicherter pädagogischer Freiraum besteht de lege lata im Grunde nur für die freien Privatschulen. Insbesondere für die freie Privatschule besteht "die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, welche Bildungs- und Erziehungsinhalte sie mit welchen didaktischen Methoden vermitteln will. Der durch § 2 PrivatSchG gesteckte Rahmen gebietet nur, "die Erziehungsziele innerhalb des breiten Spektrums der in einer pluralistischen Gesellschaft als sittlich anzuerkennenden Auffassungen zu halten,,961. Faktisch besitzen jedoch s. Lebitsch, Gerhard, S. 74. Maurer, Mathias, Innsbruck: Waldorfschulen greifen zur Selbsthilfe, Erziehungskunst, 1995, S. 443. 958 Lebitsch, Gerhard, S. 74. 959 Lebitsch, Gerhard, S. 75 f. 960 s. die entsprechenden Erlasse, abgedruckt in Felix JonaklLeo Kövesi, Das österreichische Schulrecht, 2. Auf!. Wien 1983, S. 1323, Anm. 1 zu § 22 PrivatSchG. 961 Lebitsch, Gerhard, S. 35. 956
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auch die Schulen mit Öffentlichkeitsrecht ohne Befugnis zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung wie die Waldorfschulen erhebliche pädagogische Freiräume. Insofern weist Lebitsch zu Recht die Ansicht zurück, daß die staatlichen Lehrpläne generell filr Schulen mit Öffentlichkeitsrecht verbindlich wären 962, und weist darauf hin, daß die Lehrpläne "nur für jene Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht gelten (können, F.-R. 1.), die auch einer öffentlichen Schulart entsprechen,,963. Demnach muß die Privatschule mit dem Recht zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung im wesentlichen mit dem Lehrplan an staatlichen Schulen übereinstimmen und darf nur schulbehördlich genehmigte Lehrmittel verwenden 964 . Hierbei korrespondiert das Maß der eingeräumten Unterrichtsfreiheit mit einer abgestuften staatlichen Schulaufsicht. Während die Privatschulen, die zur Führung einer gesetzlich geregelten Schulartbezeichnung berechtigt sind, der Rechtsaufsicht hinsichtlich der im Privatschulgesetz normierten Voraussetzungen und einer eingeschränkten Fachaufsicht hinsichtlich der Einhaltung der für die betreffenden Schularten geltenden Organisations- und Lehrplanvorschriften unterliegen, beschränkt sich die Aufsicht über die freien Privatschulen auf eine reine Aufsicht hinsichtlich der Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen für die Errichtung und Führung von Privatschulen965 . Faktisch hat die Begrenzung möglicher Subventionen auf Schulen mit Öffentlichkeitsrecht zur Folge, daß die Privatschulen dieses Öffentlichkeitsrecht anstreben und auch verliehen bekommen haben 966 . Da die Unterrichtsbehörden jedoch bei der Auslegung der Voraussetzung des § 14 Abs. 2 PrivatSchG bei der Verleihung des Öffentlichkeitsrechts an solche Schulen, die keiner öffentlichen Schul art im Sinne des Gesetzes entsprechen, den Grundsatz der Gleichwertigkeit genügen lassen und damit den Anforderungen einer auch in Fragen der Unterrichtsgestaltung vielfältigen Gesellschaft Rechnung tragen, ist ein relatives Maß an pädagogischer Freiheit gewährleistet. So besitzen inzwischen alle Waldorfschulen in Österreich das Öffentlichkeitsrecht ebenso wie die in Form einer Privatschule betriebenen Freien Alternativschulen. Ungeachtet der relativ großen pädagogischen Freiheit greift aber das Berechtigungswesen über die Anforderungen an Abschlüsse regulierend ein, wobei Waldorfschüler eine externe Reifeprüfung nach Vorprüfungen in einzelnen Fächern ablegen müssen 967 . So z. B. Campt, zit. nach Lebitsch, Gerhard, S. 75. Lebitsch, Gerhard, S. 75. 964 Lebitsch, Gerhard, S. 38. 965 S. die entsprechenden Erlasse, abgedruckt in: Jonak/Kövesi, S. 1323, Anm. 1 zu § 22 PrivatSchG; ebenso im Ergebnis Jisa, Wemer, S. 80 (81 f.). 966 Lebitsch, Gerhard, S. 38 (74). 967 Diese Vorprufungen wurden 1990/91 von zwölf auf drei Fächer reduziert, vgJ. Cergety, Elisabeth, S. 335. 962
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa e) Die Freiheit des häuslichen Unterrichts
Ungeachtet der mangelnden Subventionierung von Schulen in freier Trägerschaft scheinen in Österreich neben der Unterrichtsfreiheit für die freien Privatschulen durch die Verfassungs garantie des häuslichen Unterrichts und seiner unbeschränkten Betätigung umfassende Möglichkeiten pädagogischer Freiheit zu bestehen. Dies gründet sich vor allem in der Interpretation der Reichweite des Art. 17 Abs. 3 StGG, wonach der häusliche Unterricht nicht der Beschränkung des Art. 17 Abs. 2 StGG obliegt. Diese verlangt, daß für die Gründung und Unterhaltung von Schulen in freier Trägerschaft die Befähigung hierzu gern. den einschlägigen Vorschriften des PrivatSchG nachgewiesen werden muß. Dies betrifft nicht nur die persönliche Eignung im Sinne einer formalen Qualifikation, sondern auch die Ausstattung und Ausgestaltung der Schulräume, Lehrmittel und weitere Voraussetzungen 968 • Nach der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungs gerichtshofs darf demgegenüber "weder die Bundesgesetzgebung noch die Landesgesetzgebung für den häuslichen Unterricht Beschränkungen irgendwelcher Art festlegen,,969. Häuslicher Unterricht ist dabei nicht auf die Einzelunterrichtung innerhalb der Familie begrenzt, sondern erfaßt auch die Möglichkeit der gleichzeitigen Unterrichtung mehrerer Kinder970 . Dies ermöglicht nicht nur pädagogische Freiräume in der Gestaltung des Unterrichts, sondern auch einer kleineren Gruppe von Eltern und Schülern, diese gemeinsam zu unterrichten, wenn die Voraussetzungen für die Errichtung und Unterhaltung einer Schule im Sinne des PrivatSchG nicht erfüllt werden können oder erfüllt werden wollen 971 . Entscheidendes Abgrenzungskriterium zwischen häuslichem Unterricht und einer "Privatschule" ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer anstaltsmäßigen Organisationsform des Unterrichts mit einem selbständigen Rechtsträger und einer festen Organisationsstruktur, die unabhängig vom Wechsel der lehrenden und lernenden Personen existiert972 • Die Freiheit des häuslichen Unterrichts ist jedoch keinesfalls unbeschränkt, sondern unterliegt, soweit durch diesen Unterricht die Schulpflicht erfüllt werden soll, hinsichtlich der geforderten Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) einer staatlichen Kontrolle in Form jährlicher Prüfungen durch die staatliche Schulbehörde gern. § 11 SchPflG, die an einer entsprechenden staatlichen
968
969
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Matzka, Manfred, S. 4.
VerfGH Slg. 2670/1954.
Matzka, Manfred, S. 4 (8).
971 So unterrichten vier der sechs Wiener freien Alternativschulen in Form des häuslichen Unterrichts, u. a. deshalb, weil "die Schule" die baulichen Auflagen, die für Privatschulen vorgesehen sind, nicht erfüllen können. 972 Matzka, Manfred, S. 4 (6 f.).
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Schule zu erfolgen hat und auch eine Benotung der Schüler einschließt973 • Hierbei ist der Standard der staatlichen Schule Ausgangspunkt der Bewertung der Gleichwertigkeit und berechtigt die Behörde nach § 11 Abs. 4 SchPflG bei Nichterreichung des Unterrichtsniveaus zur Anordnung des Besuchs einer allgemeinbildenden Pflichtschule, ohne daß hiergegen ein ordentliches Rechtsmittel gegeben ist. Obgleich damit der häusliche Unterricht gewisse Handlungsund Gestaltungsräume unterhalb der Institutionalisierung einer Schule in freier Trägerschaft eröffnet, ist eine solche aber gegenüber dem häuslichen Unterricht insofern nicht der staatlichen Kontrolle ausgesetzt, als die Schüler einer Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht sich nicht jährlich einer solchen Externenprüfung unterziehen müssen. f) Minderheitenschutz im Bildungswesen
Das österreichische Schulverfassungsrecht garantiert durch diverse Regelungen das Recht der Minderheiten, in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden oder eigene Schulen zu unterhalten. Gemäß Art. 67 des Staatsvertrages von St. Germain vom 10.9.1919 haben österreichische Staatsangehörige, die einer Minderheit angehören, dasselbe Recht wie andere österreichische Staatsangehörige, auf ihre eigenen Kosten Schulen zu errichten, zu verwalten und zu beaufsichtigen mit der Berechtigung, in denselben ihre eigene Sprache nach Belieben zu gebrauchen und ihre Religion frei auszuüben, welches mit Art. 17 Abs. 2 des StGG korrespondiert. Nach Art. 68 des Staatsvertrages verpflichtet sich die österreichische Regierung dort, wo eine verhältnismäßig beträchtliche Zahl anderssprachiger Staatsangehöriger wohnt, angemessene Erleichterungen herzustellen und einen muttersprachlichen Unterricht sicherzustellen. Das österreichische Verfassungsrecht gewährt den ethnischen Minderheiten der Slowenen und Kroaten durch den in Verfassungsrang stehenden Art. 7 des Staatsvertrages von Wien vom 15.5.1955974 das Recht auf Elementarunterricht in der jeweiligen Muttersprache und eine verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen und verpflichtet die Schulaufsicht eine besondere Abteilung für diese Schulen zu bilden975 • Diese Vorschriften werden ergänzt durch landesgesetzliche Vorschriften, wie z.B. das Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten, welches verfassungsrechtliche Bestimmungen enthält. 973 Vgl. Matzka, Manfred, S. 4 (8); Dachverband der Wiener Alternativschulen, Leben Lernen, S. 7. 974 Österr. BGBl. 15211955; s. hierzu auch Mantl, Wolfgang, S. 75 (84). 975 Hierzu Marauhn, Thilo, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Österreich. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1994, Bd. I, S. 225 (243 f.); Spielbüchler, Karl, Das Grundrecht, S. 151, mit Ausführungen über die Umsetzung in einfachgesetzliches Recht.
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D. Systematische Darstellung der Schulverfassungen in Westeuropa
Der Art. 7 Ziff. 2 des Staatsvertrages von Wien aus dem Jahre 1955 ist nach der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungs gerichtshofs "unmittelbar anwendbar und gewährleistet österreichischen Staatsangehörigen der slowenischen Minderheit in Kärnten ein subjektives öffentliches Recht auf Elementarunterricht in slowenischer Sprache" 976. Hieraus folge aber nicht, daß die Eltern einen Anspruch auf eine bestimmte Organisationsfonn der Schule herleiten könnten. Der Gesetzgeber habe vielmehr einen rechtspolitischen Gestaltungsfreiraum, der insbesondere Fragen der Schul- und Unterrichtsorganisation betreffe, da die Verfassungsnonn des Art. 7 Ziff. 2 des Staatsvertrages von Wien lediglich einen Mindeststandard an schulischer Versorgung für die Minderheitsangehörigen verlange. g) Entwicklungstendenzen im Bildungswesen Die österreichische Schulverfassung ist ähnlich der schweizerischen wenngleich auch mit einem kaum ausgeprägten föderativen Element - ambivalent. Auf der einen Seite besteht ein staatliches Schulsystem mit wenig Gestaltungsspielraum auf kommunaler oder Einzelschulebene, so daß von einer bürgerschaftlichen Schulverwaltung nicht gesprochen werden kann. Auf der anderen Seite existieren außerhalb des staatlichen Schulsystems relativ große pädagogische Freiräume und eine nicht zu weitgehende Verrechtlichung, die Interpretationslücken für neuere Entwicklungen ennöglicht. Im Bereich der nichtkonfessionellen Schulen in freier Trägerschaft wird jedoch die sozialstaatliche Komponente der Unterrichtsfreiheit vernachlässigt, indem die Schulen keine auch nur annähernd ausreichende Subventionierung in dem Maße erhalten, daß sie unabhängig von den Vennögensverhältnissen der Eltern allen Schülern offenstehen und ein umfassendes Wahlrecht der Eltern zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Schule in freier Trägerschaft möglich wäre. Bei alledem ist die gegenwärtige Rechtslage in Österreich aus deutscher Verfassungsperspektive problematisch, weil diese durch das der Verwaltung eingeräumte weite Ennessen in einem Grundrechtsbereich gegen den Grundsatz des Bestimmtheitsgebots und die Verpflichtung des Gesetzgebers, alle für die Verwirklichung eines Grundrechts wesentlichen Maßnahmen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen, verstößt. Zudem erscheint in der weiten Ennessensregelung ein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Gebot der Rechtssicherheit zu liegen.
976
VfGH JB!. 112 (1990), S. 645.
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens und die Entwicklung von Schulvielfalt in den osteuropäischen Staaten I. Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Systemwandels in den osteuropäischen Staaten Es ist evident, daß dem Bildungswesen eine zentrale Bedeutung für die Neugestaltung der Gesellschaftsstrukturen in den osteuropäischen Staaten zukommt. Insbesondere die Schlagworte der Demonopolisierung, Pluralisierung, Demokratisierung und Individualisierung sind kennzeichnend für die grundlegenden Neuordnungsprozesse, die ebenso bildungspolitisch wie gesamtgesellschaftlich Geltung beanspruchen. Sie sind Konkretisierungen eines grundlegenden Verfassungswandels, der an die westeuropäische Verfassungstradition liberaler und rechtsstaatlicher Demokratien anknüpft. Nicht mehr den Selbstzweck des Staates oder die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen Klasse sollen Bezugsrahmen von Staatlichkeit sein, sondern in der Tradition der Aufklärung soll "die Versittlichung des Staates" die Freiheit des Individuums als Zweck und Ordnungsprinzip staatlicher Herrschaftsgewalt anerkennen 1 und das Verfassungsideal einer "an den Prinzipien der demokratischen Legitimität und des individuellen Grundrechtsschutzes orientierte(n) Grundordnung,,2 eingelöst werden. Nachdem die grundlegenden verfassungsrechtlichen Neuordnungsprozesse durch die Verabschiedung neuer Verfassungsurkunden in den meisten postsozialistischen Staaten einen gewissen Abschluß erreicht haben, läßt sich resümierend feststellen, daß die Grundrechtsgewährungen der Reformverfassungen einerseits "durchgehend dem internationalen Standard" entsprechen, anderseits aber durchaus auch ein "eigenständiges Innovationspotential" in sich tragen 3. Seinen Grund hat dies im wesentlichen darin, daß sich die Reformverfassungen zum einen stark an den Verfassungsurkunden und der Verfassungsrechtsprechung der westeuropäischen Staaten orientieren und insbesondere den in I Mayer-Tasch, P.C., Europäische Verfassungshomogenität als politisches Erbe. In: ders., Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. München 1975, S. 9. 2 Mayer-Tasch, P.C., S. 10 f. 3 Kahl, Wolfgang, Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen Osteuropas: Eine Studie am Beispiel Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rußland. Berlin, 1994, S. 99.
25 lach
386
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
internationalen Vereinbarungen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbindlich anerkennen4 • Sie spiegeln den Wandel von einem kollektivistisch-etatistischen Grundrechtsverständnis hin zu einem individualistisch-personalistischen Grundrechtsverständnis wider5 und greifen die "Tradition bürgerlich-liberaler Konstitutionen [auf), die die Hauptfunktion der Grundrechte in der freien Entfaltung der Persönlichkeit autonomer, vernunftbegabter Menschen (zoon logon echon) in Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit (zoon politikon)" sehen 6 . Auf der anderen Seite geht von den osteuropäischen Reformverfassungen im Vergleich zu den westeuropäischen Verfassungsurkunden ein Innovationspotential aus, weil erstere stärker als die klassischen liberalen Verfassungsurkunden auch soziale Grundrechte und damit verbundene staatliche Schutzpflichten, z. B. hinsichtlich des Rechts auf Bildung wie in Art. 16 der Verfassung Ungarns von 1989 und Art. 45 Abs. 1 der russischen Verfassung von 1993, beinhalten7 . Darüber hinaus kommt dem Minderheitenschutz in den osteuropäischen Reformverfassungen eine wesentlich größere Bedeutung als in den westeuropäischen Verfassungen zu und garantiert den Minderheiten auch ausdrückliche Rechte im Bereich von Bildung und ErziehungS. Hierbei bergen die gesellschaftlichen Entwicklungen durchaus ein sehr ambivalentes Spannungspotential in sich. Zum einen dürfte unzweifelhaft sein, daß die in den westeuropäischen Ländern elementaren Grundrechte wie die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Privatschulfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht in den neuen Gesellschaftsordnungen ihre verfassungsmäßige Anerkennung finden. Auf der anderen Seite zeigen die schon etablierten und noch weiter aufkommenden nationalstaatlichen Tendenzen, daß diese Länder in dem Versuch der Tradierung ihrer nationalstaatlichen kulturellen Identität stark auf die nationalstaatlich verfaßte Schule ausgerichtet sind. Hinzu kommt, daß die Kirchen massiv versuchen, sowohl über die allgemeine Schulgesetzgebung als auch die Errichtung bzw. Rückgabe kirchlicher Schulen9 Einfluß auf das Bildungs wesen zu nehmen. In diesem Kontext bleibt sowohl zu fragen, inwieweit die Bedingungen für schulische Vielfalt im Sinne der Selbstdefinition der verschiedenen gesellSo z. B. Art. 10 der tschechischen Verfassung; s. hierzu Kahl, Wolfgang, S. 69 f. Wolfgang, S. 67. 6 Kahl, Wolfgang, S. 79. 7 s. hierzu Kahl, Wolfgang, S. 80 ff.; dies sagt freilich noch nichts über die faktische Einlösung und Iustiabilität dieser sozialen Grundrechte aus. 8 Z. B. Art. 68 der Verfassung Ungarns; Art. 26 der Verfassung Rußlands; s. hierzu Kahl, Wolfgang, S. 77 f. 9 Zur Lage in Ungarn s. Zorn, Anton, Starkes Bedürfnis nach religiöser Erziehung Zur Lage der kirchlichen Schulen in Ungarn, DLZ 4011991, S. 8. 4
S Kahl,
I. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Systemwandels
387
schaftlichen Gruppen gegeben sind und ob Erziehungsziele wie Toleranz gegenüber Minderheiten, deren Akzeptanz Grundvoraussetzung jeglichen pluralistischen Bildungssystems ist, in diesen nationalstaatlichen Werdungsprozessen ausreichend zur Geltung kommen. Des weiteren ist zu untersuchen, inwieweit eine enge Annexbindung zwischen der Entwicklung des Wirtschaftslebens in diesen Ländern und der Neustrukturierung des Bildungswesens die Gefahr monostruktureller Tendenzen verstärkt. Eine Darstellung der Entwicklung von Schul vielfalt und der rechtlichen Rahmenbedingungen für nichtstaatliche Schulen in Osteuropa steht nicht nur vor dem Problem weitreichender Sprachbarrieren, sondern ebenso vor der Schwierigkeit, daß sich die Schulstrukturen in den osteuropäischen Ländern erst nach und nach bilden und normativ zum Ausdruck kommen. In den gesellschaftlichen Aufbau- und Umbruchsphasen wird aufkommende gesellschaftliche Eigeninitiative oft primär faktisch wirksam, ohne eine explizite normative Grundlage zu haben, und zwar selbst dann, wenn an sich etwa ein Schulgesetz in dem entsprechenden Land durchaus vorhanden ist. Insbesondere reformpädagogische Schulen, deren Wirken und Rezeption in den osteuropäischen Staaten auf eine breite Resonanz stößt IO, stellen so die Unterrichtsverwaltungen ungeachtet etwaigen Wohlwollens oder Mißtrauens vor erhebliche Probleme, die zuweilen - zumindest aus bundesrepublikanischer Sicht - überraschende Ergebnisse zeitigen. So werden etwa in Rußland Elemente der Waldorfpädagogik in die Arbeit der staatlichen Schulen einbezogen 11 und ebenso wie in Rumänien in verschiedenen staatlichen Schulen pädagogisch in sich geschlossene "Waldorfklassen" geführt, die vollständig vom Staat finanziert werden 12• Darüber hinaus ist in fast allen postkommunistischen Staaten festzustellen, daß die für die westeuropäischen Staaten kennzeichnende Außenpluralität verschiedener, in sich geschlossener pädagogischer Konzeptionen dadurch gelockert wird, daß sogenannte Alternativschulen verschiedene pädagogische Elemente miteinander verbinden. So werden Elemente der Waldorfpädagogik auch von solchen Schulen im Unterricht angewandt, die sich nicht als "Waldorfschulen" im Sinne der Zugehörigkeit zu einem Schulverband verstehen t3 • 10 s. hierzu Jenkner, Siegfried, Reformpädagogik und Schulverfassung in Osteuropa, Pädagogisches Forum 1991, S. 188 ff. Im Jahre 1996 haben sich diese Entwicklungen dahingehend verdichtet, daß z. B. ca. 70 Waldorfschulen lO , aber auch zahlreiche Freie Alternativschulen, Freinet- und Montessorischulen in den osteuropäischen postsozialistischen Staaten tätig sind. 11 Bandau, Susanne/Philipovski, Valentin, Schule und Pädagogik am Ende der Sowjetunion. Pädagogisches Forum 1992, S. 136 (139). 12 1993 waren dies in Rumänien über 50 Klassen, z.T. mit bereits fünf Klassenstufen, Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1993, Erziehungskunst 1993, S. 1377 (1406). 13 Maurer, Mathias, Waldorfschulen in der Slowakei, Erziehungskunst 1995, S. 684 (685).
388
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Die Entwicklungen in den osteuropäischen Ländern geben so die Möglichkeit, das "westeuropazentrierte Bild der Reformpädagogik,,14 zu korrigieren. Dies beinhaltet insbesondere, daß die reformpädagogischen Elemente der sozialreformerischen und sozialistischen Bildungstheorie der 20er Jahre, insbesondere in ihrer Ausprägung der Arbeitsschule, die in den staatssozialistischen Staaten und deren offizieller Pädagogik aufgrund ihrer Stigmatisierung als (bürgerliche) Reformpädagogen ebensowenig wie in den westeuropäischen Ländern nach dem 2. Weltkrieg zur Kenntnis genommen wurden l5 , wieder ins Bewußtsein und in die Tradition der Reformpädagogik zurückkehren. Für die Schul verfassung und deren rechtliche Verfaßtheit knüpft die der "Arbeitsschule" verpflichtete Reformpädagogik der 20er Jahre darüber hinaus an die Frage an, ob nicht "gerade die alternative Pädagogik basisdemokratische Formen braucht, um lebendig zu bleiben und eingemahnt zu werden,,16. Das Grundanliegen der Neuordnung des Bildungswesens in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas erscheint relativ eindeutig. Aus einem ideologisierten, obrigkeitsstaatlichen Einheitsschulsystem soll ein differenziertes, die verschiedenen Wertvorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft achtendes Schulwesen erwachsen, in dem die Schüler, Eltern und Lehrer im demokratischen und rechtsstaatlichen Sinne Beteiligung finden sollen. In kategorischer Begrifflichkeit gesprochen ging und geht es um die Demokratisierung, Demonopolisierung und Pluralisierung des Schul- und Bildungswesens, wobei selbstverständlich die verschiedenen Kategorien ineinandergreifen und nicht statisch nebeneinanderstehen. Im nachfolgenden soll die Bedeutung des Rechts für die Neuordnung des Bildungswesens anhand dieser Kategorien zunächst näher erläutert werden, bevor die Entwicklung des Schulverfassungsrechts in den einzelnen Ländern im einzelnen nachvollzogen wird.
1. Demokratisierung des Bildungswesens Demokratisierung des Bildungswesens heißt zunächst formalrechtlich die Einbindung des Schulwesens in demokratische Willensbildungsprozesse. Danach müssen Entscheidungen im Bildungsbereich im parlamentarischen Sinne demokratisch zustande kommen, in rechtlicher Kategorie heißt dies insbesondere, daß die wesentlichen Entscheidungen für das Schulwesen durch das Parlament selbst - in Form eines Gesetzes - getroffen werden müssen und nicht der 14 Lost, ChristinelPeter, Volkhart, Die "andere" Pädagogik in östlichen Ländern Alternativen zur tradierten Pädagogik und Reformansätze in Vergangenheit und Gegenwart, Pädagogisches Forum 1992, S. 107. IS s. hierzu exemplarisch Uhlig, Christa/Blosnski, P.P.(l884-1941), Die Arbeitsschule - Utopie, Illusion oder Chance?, Pädagogisches Forum 1992, S. 120. 16 Lost, ChristinelPeter, Volkhart, S. 107 (108).
I. Verfassungs rechtliche Rahmenbedingungen des Systemwandels
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Schulverwaltung überlassen werden dürfen. Dies soll nicht zuletzt die breite öffentliche Diskussion von grundlegenden Entscheidungen im Bildungsbereich ermöglichen. Das beinhaltet als positive Gestaltungsaufgabe insbesondere den Auftrag an den Gesetzgeber, neben den Schulstrukturen und der Rechtsstellung der am Schulleben Beteiligten die Erziehungs- und Unterrichts ziele sowie die Unterrichtsinhalte unter Beachtung des Pluralitäts-, Neutralitäts- und Toleranzgebotes normativ festzulegen. Zur Demokratisierung gehören als subjektive Rechte unter dem Gesichtspunkt des vom Staat in der Schule zu achtenden Elternrechts ferner die Anerkennung der Gesamtverantwortung der Eltern für die Erziehung ihres Kindes und die Gewährleistung des Wahlrechts für den Besuch der Schule ihres Kindes. Vor dem Hintergrund der Schulwirklichkeit in den ehemaligen sozialistischen Staaten ist die Bedeutung des elterlichen Wahlrechts für die Schullaufbahn ihres Kindes in diesen Ländern sicher weit höher einzustufen als in der westeuropäischen Diskussion, die sich primär mit der Frage der leistungsorientierten Auslese auseinanderzusetzen hatte. Ferner beinhaltet dies bestimmte Teilhaberechte wie das auf ausreichende Unterrichtung über schulische Leistungen und das Verhalten des Kindes in der Schule, aber auch das auf einen nicht indoktrinierenden Unterricht. Als ebenso wichtiges subjektives Recht gehört hierzu aber auch die Achtung der Rechte des Schülers in der Schule, insbesondere das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Meinungsfreiheit und andere Kommunikationsrechte. Diese Rechte gesetzlich zu verbürgen und ihre Einhaltung im Wege der Schulaufsicht zu garantieren ist ebenfalls vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen eine nicht zu unterschätzende Dimension für den Demokratisierungsprozeß des Schulwesens. Und nicht zuletzt gehört zur Demokratisierung die statusrechtliche Absicherung des Lehrers. Pädagogisch heißt dies vor allem, ihn von der Rolle des Befehlsempfängers und Ausführenden der Vermittlung einer scheinbar objektiven Wahrheit zum selbstverantwortlichen Pädagogen werden zu lassen, der ohne Mißtrauen gegenüber einer Obrigkeit seinen Schülern gegenübertritt und seine Aufgabe nicht darin sieht, vorgegebenes Wissen den Schülern mehr schlecht als recht einzutrichtern, sondern in ihnen Eigenverantwortlichkeit, Kreativität, Phantasie, aber auch Willensschulung im Sinne einer Verantwortungsethik zu wecken. Dies setzt jedoch nicht nur ein entsprechendes Selbstverständnis der Lehrer und Lehrerinnen voraus, sondern letztlich eine pädagogische Eigenverantwortlichkeit, die normativ abgesichert und von der Schulaufsicht akzeptiert und selber gewollt sein muß. Statusrechtlich gehört aus der Sicht der Lehrer hierzu aber auch, daß ihre Existenz materiell gesichert sein muß. Nur dann werden sie auch im pädagogischen Innenverhältnis und im Außenverhältnis ge-
390
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
genüber der Behörde die notwendige Unabhängigkeit besitzen, um eigenverantwortlich wirken zu können. Dies betrifft sowohl Fragen ihres beruflichen Status - sprich Beamten- oder Angestelltenstatus - als auch der pädagogischen Qualifikation wie hinsichtlich der Anerkennung ihrer Abschlüsse. Unter das Demokratisierungsgebot fällt aber vor allem auch die Schaffung demokratischer Schulverwaltungsstrukturen. Innerschulisch gehört zur Verankerung demokratischer Strukturen schulorganisatorisch im Rahmen der sog. inneren Schulbetriebsverfassung zunächst ein Mitsprache- und zumindest teilweises Mitentscheidungsrecht der Schüler und Eltern an innerschulischen Angelegenheiten. Die Frage, wieweit die Gewährung von Mitwirkungsrechten gehen soll, ist hierbei wesentlich vom Selbstverständnis von Schule geprägt und damit nicht lediglich eine formellrechtliche, sondern zugleich eine pädagogischinhaltliche. Eine besondere Relevanz für die innere Demokratie der Schule wird die Regelung der Schulleitung und der Stellung des Schulleiters zukommen. Hierbei wird das Spannungsverhältnis darin liegen, inwieweit der Schulleiter einerseits als rechtlicher Vorgesetzter gegenüber den Lehrern zu Eingriffen in ihre pädagogische Arbeit befugt ist und anderseits seiner eigenen Schule gegenüber überzogenen Eingriffsversuchen der Schulaufsicht den Rücken freihält. Differenzierung der Bildungswege und des Unterrichts muß zudem mehr heißen als nur verschiedene Abschlüsse in getrennten Bildungswegen. Auf der Einzelschulebene beinhaltet diese Einräumung von Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Unterrichtsschwerpunkte und -fächer. Demokratisierung meint damit auch Pluralität der schulischen Unterrichts arbeit, d. h. die grundsätzliche Akzeptanz gleichwertiger, aber nicht notwendig gleichartiger Erziehungs- und Unterrichtskonzeptionen. 2. Demonopolisierung Die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols ist eine Forderung gewesen, die in allen ehemals sozialistische Staaten zu den Grundforderungen der Neuordnung des Bildungswesens erhoben wurde, und sie steht in engem Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip. So wie die Demokratie nicht ohne die aktive Teilnahme und Selbstdefinition des Bürgers leben kann, so ist ein Bildungswesen zum Verkümmern verdammt, in dem den Bürgern die Selbstgestaltungsmöglichkeit für schulische Erziehung und Unterrichtung genommen wird. Darüber hinaus ist die Anerkennung eines Grundrechts der Gründung und Unterhaltung von Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft Ausdruck von Minderheitenschutz, der es insbesondere ermöglichen soll, in sich geschlossene ethnisch-kulturelle, weltanschauliche und pädagogische Grundkonzeptionen zu verwirklichen, die im staatlichen Schulwesen keine ausreichende Gestaltungs-
I. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Systemwande1s
391
möglichkeit finden. In diesem Bereich der gesellschaftlichen Selbstbestimmung müssen sich Schul verwaltung und Schulaufsicht zurückhalten, um es den jeweiligen Schulträgern einerseits möglich zu machen, sich ihrer Eigenart entsprechend zu verwirklichen, anderseits aber ist die Einhaltung eines gesamtgesellschaftlichen Minimalkonsenses unabdingbar. So müssen das Bildungsrecht und die staatliche Schulaufsicht sicherstellen, daß vor allem das Recht des Kindes auf umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit nicht etwa durch einseitig indoktrinierenden Unterricht verletzt wird. Darüber hinaus besteht aber gerade in einer angespannten ökonomischen Situation die Pflicht des Gesetzgebers, durch eine ausreichende Finanzierung solcher Schulen zu verhindern, daß es nur einer Minderheit möglich ist, von diesem Grundrecht Gebrauch zu machen.
3. Pluralisierung Das Gebot der Pluralisierung des Bildungswesens ist eng verbunden mit den vorhergehenden Kategorien der Demokratisierung und Demonopolisierung und dennoch als eigenständige Kategorie notwendig, weil keiner dieser Begriffe allein oder auch statisch nebeneinander das Prinzip der Pluralität im Sinne von Schul vielfalt verwirklicht. Inhaltlich meint Pluralisierung vor allem die Entideologisierung des Unterrichts und die Achtung, Respektierung und Widerspiegelung der verschiedenen Wertvorstellungen in der Gesellschaft. Insgesamt kommt der Lehrplandiskussion und der Frage, welchen unterrichtlichen Gestaltungsspielraum die gesetzlichen Vorgaben und die Verordnungen lassen, eine zentrale Rolle für den Pluralisierungsprozeß zu. Hierbei kann es nicht darum gehen, ein nunmehr ideologisch verbrämtes zentral vorstrukturiertes und gesteuertes Curriculum durch ein ebenso zentralistisches "besseres" zu ersetzen, sondern erforderlich sind Rahmenpläne, die ungeachtet eines übergeordneten Erziehungs- und Unterrichtszieles jeder Schule von Fach zu Fach einen weiten Gestaltungsspielraum lassen. In einer Gesamtbetrachtung der Entwicklungstendenzen in den osteuropäischen Staaten ist dabei zu konstatieren, daß nach der revolutionären Wende von 1989 gerade auch im Bildungswesen eine große Bereitschaft zur Rezeption reformpädagogischer Erziehungsmodelle bestand. Die Umgestaltung des Bildungswesens beschränkte sich keinesfalls auf die formalrechtliche Zulassung von nichtstaatlichen Schulen, sondern es fand eine breite Rezeption insbesondere der Waldorf-, Jenaplan-, Montessori- und Freinetpädagogik auch in der staatlichen Schule statt. Hierbei wurden reformpädagogische Bemühungen durch die Ministerien - zumeist noch in rechts freien Räumen - nicht nur mate-
392
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
riell und rechtlich durch die Gewährung eines Staus als staatliche Versuchsschule unterstützt, sondern auch den pädagogischen Konzeptionen viel Sympathie entgegengebracht und dementsprechend weite pädagogische Freiräume gewährt. Mit zunehmender Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Verrechtlichung des Bildungswesens ist diese Entwicklung zumindest deutlich abgeklungen. Vertreter reformpädagogischer Schulen wie etwa der Waldorfschulen sprechen sogar davon: "Das Pendel schlägt zurück,,17. Danach ist zwar der Prozeß der Demonopolisierung vollzogen, dieser wird aber zunehmend auf die Trägerstrukturen begrenzt, während der pädagogische Pluralismus unter stärkere staatliche Kontrolle gerät. Diese Tendenz wird sich zwangsläufig in den nächsten Jahren verschärfen, wenn die bisher im wesentlichen als Grund- und Mittelstufenschulklassen geführten reformpädagogischen Schulen und Klassen der Versuchsschulen mit dem Berechtigungswesen und der Kontrolle der staatlich festgesetzten Lernziele konfrontiert werden. Ungeachtet dessen lassen sich aber in allen postsozialistischen Staaten substantielle Ansätze einer bürgeschaftlichen Schulverfassung erkennen, die in Vergleichen mit den westeuropäischen Bildungssystemen keinesfalls auf die traditionellen reformpädagogischen Schulen begrenzt und in Anknüpfung an eigene Traditionen unterschiedlicher Ausprägung sind.
11. Darstellung der Schul verfassungen in den mittel osteuropäischen Staaten 1. Das polnische Bildungswesen a) Die Entwicklung des Bildungswesens
Die Instrumentalisierung des Bildungswesens für politisch-ideologische Zwecke der Herrschaftssicherung führte in Polen - wie den meisten anderen osteuropäischen Staaten auch - zu einer "besondere(n) Art von Bildungskonservatismus", der Schule primär auf die Ebene des Wissens- und gleichzeitigen Ideologietransfers reduzierte I 8. Grundlage war das Schulgesetz vom 15. Juli 1961, welches durch die Zielvorgaben der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit in einem staatsmonopolitischen und laizistischen Schulsystem ge-
17
McAlice, Jon, Zur Situation der Waldorfpädagogik in Osteuropa, Erziehungskunst
1996, S. 1088 (1089).
18 Mieszalski, StefanJKupisiewicz, Czeslaw, Das polnische Bildungswesen: Gegenwärtige und neuere Entwicklungstendenzen. In: Mitter, Wolfgang/Weiß, Manfred/Schäfer. Ulrich (Hrsg.), Neuere Entwicklungstendenzen im Bildungswesen in Osteuropa. FrankfurtlM. 1992, S. 67 (68).
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Polen
393
prägt war und die Entwicklung des polnischen Bildungswesens nach sowjetischem Muster bewirkte 19. Dieses Bildungssystem war aber gleichzeitig dadurch geprägt, daß es den gestellten Anforderungen nicht genügte, was u. a. auf mangelnde finanzielle Ressourcen zurückzuführen war. So wurde zwar prinzipiell schon vor den gesellschaftlichen Umwandlungsprozessen die Notwendigkeit von Bildungsreformen gesehen, doch verhinderten die politischen Machtstrukturen und die wirtschaftliche Dauerkrise selbst systemimmanente notwendige Innovationen2o . Die Reduzierung der Rolle des Lehrers auf die eines Staatsfunktionärs, der von den Eltern Unterordnung statt Mitwirkung und Partnerschaft verlangte21 , und die verpflichtende Uniformität der Stoffpläne, Curricula, Unterrichtsstile, Lehrmethoden und Lehrmittel22 führten zu "Deformationen von fast pathologischem Charakter,,23. Gleichwohl haben die Reformdiskussionen der vordemokratischen Zeit in Polen eine besondere Relevanz für die Neuordnung des Schulwesens nach der politischen Wende gehabt. Dies gilt sowohl für das Bildungswesen im engeren Sinne als auch die allgemeine Verfassungsdiskussion, die als ein evolutionärer Prozeß zu begreifen ist, der seine Ursprünge in den Vorarbeiten für eine neue polnische Verfassung im Jahre 1986 hat24 . Schon im Jahre 1973 und dann wiederholt im Jahre 1989 wurde von Bildungsexperten, die von der Regierung jeweils mit der Erarbeitung eines Reformkonzepts beauftragt wurden, eine Verwaltungsreform im Bildungswesen gefordert, die u. a. eine "Vergesellschaftung der Schule" zum Gegenstand haben sollte25 . Gleichzeitig damit bildete sich Ende des Jahres 1987 eine Basisbewegung der sog. gesellschaftlichen Erziehungsassoziation (Spolczne Towarzystwo Oswiatowe), die im Jahre 1988 als offizielle Organisation anerkannt wurde und als bürgerschaftliehe Vereinigung jenseits des Konfliktes zwischen Kirche und Staat ein reformiertes Bildungswesen mit dem Ziel der Etablierung nichtstaatlicher Schulen und eines freien Wahlrechts der Eltern im politischen 19 s. hierzu Hörner, WolfganglWompel, Ilse Renate, Die polnische Schule im Umbruch. Wiesbaden 1994, S. 3. 20 s. Mieszalski, StefaniKupisiewicz, Czeslaw, S. 68 f. 21 Muszynski, Heliodor, Aktueller Stand, Wandlungen und Probleme des Schulwesens in Polen. In: Anweiler, Oskar (Hrsg.), Systemwandel im Bildungs- und Erziehungswesen in Mittel- und Osteuropa. Berlin, 1992, S. 96. 22 Mieszalski, Stefan/Kupisiewicz, Czeslaw, S. 68. 23 Muszynski, Heliodor, S. 94. 24 Vgl. Kahl, Wolfgang, S. 41. 25 Hörner, Wolfgang, Veränderungen im Bildungswesen der Staaten im östlichen Europa. In: Deutsche Gesellschaft für Bildungsverwaltung (DGBV) (Hrsg.), Das Bildungswesen im vereinten Deutschland. FrankfurtlM.lBochum 1991, S. 33 (40 ff.).
394
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Raum anstrebte 26 . So tauchte schon im ersten Entwurf für ein neues Bildungsgesetz im Frühjahr 1990 die "Vergesellschaftung von Schule" als neues innovatives begriffliches Element im Sinne der "Möglichkeit von Schulgründungen in nichtstaatlicher Trägerschaft (etwa durch die territorialen Selbstverwaltungsorgane oder auch als Privatschulen)" aue? Staatstheoretisch hat diese für die ehemals sozialistischen Staaten einmalige Bildungsreformdiskussion ihren Ursprung nicht zuletzt darin, daß entgegen den anderen sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks "die polnische Soziologie selbst in sozialistischer Zeit eine strikte Trennung zwischen dem Staat als Träger der politischen Macht und der Gesellschaft als Verkörperung des Volksganzen durchgehalten hat,,28. b) Die veifassungsrechtlichen Grundlagen der Reform des Bildungswesens
Obgleich im Verfassungsgesetz vom 17.10.1992 die Grundrechtsfrage bewußt ausgeklammert wurde und einer zukünftigen, "großen" Verfassungsrevision überlassen werden sollte29 , beinhaltete schon die sog. "kleine Verfassung" wesentliche Regelungen über das Bildungswesen. Verfassungsrechtlich fand dies seinen Ausdruck in Art. 72, 79, 80 Polnische Verfassung (Poln. Verf.) von 1992. In diesen Artikeln kommt die Bedeutung der Entideologisierung und Entinstrumentalisierung der Bildung deutlich zum Ausdruck. Gemäß Art. 72 Abs. 1 Poln. Verf. von 1992 hat jeder Bürger das Recht auf Bildung, welches i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 u. a. durch freie Bildung gewährt wird. Hierbei ist die systematische Stellung des Grundsatzes der "freien Bildung" als Verwirklichung des Rechtes auf Bildung in seiner hervorgehobenen Stellung als Ausdruck der besonderen Priorität, die dem Grundsatz der Bildungsfreiheit beigemessen wird, zu sehen. Weitere Grundlagen der verfassungsrechtlichen Strukturierung des Bildungswesens durch die Verfassung von 1992 waren eine allgemeine und obligatorische Elementarbildung und Staatszielbestimmungen wie die Ausdehnung der Sekundarbildung, die Entwicklung der Hochschulbildung und die Gewährung materieller Ausbildungsbeihilfen. Artikel 79 Abs. 2 Poln. Verf. von 1992 normierte die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu gesetzestreuen und pflichtbewußten Bürgern zu erziehen, verfas26 s. hierzu Glenn, Charles, Educational freedom in Eastem Europe, Russia and the Baltic Republies. Washington D.C. 1995, S. 127 ff. 2? Hörner, Wolfgang, S. 42. 28 Hörner, WolfganglWompel, Ilse Renate, S. 30. 29 Kahl, Wolfgang, S.42; zur Verfassungsentwicklung s. allgemein CzeszejkoSochacki, ZdzislawlMachacek, Rudolf, Der Weg zu einer neuen polnischen Verfassung, EuGRZ 1992, S. 93 ff., die jedoch bei der Skizzierung der Reformentwürfe zu den Bürger- und Menschenrechten (S. 95 f.) den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit jedoch nicht erwähnen.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Polen
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sungsrechtlich. Artikel 80 Poln. Verf. von 1992 war durch eine Staatszielbestimmung geprägt, wonach die Republik der Erziehung der Jugend ihre spezielle Aufmerksamkeit widmet und Bedingungen für eine Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Fähigkeiten der Beteiligung am öffentlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben schafft. Hierbei handelt es sich insgesamt nicht um Grundrechtsgewährleistungen, die die Freiheitssphäre in der Erziehung durch einklagbare subjektive Rechte sichern. Gleichwohl kommt schon in diesem wesentlich durch Programmsätze geprägten Verfassungsverständnis die besondere Bedeutung der Pluralisierung und Entideologisierung zumindest ansatzweise zum Ausdruck. Mit der Verfassung Polens vom 2. April 1997 ist eine abschließende verfassungsrechtliche Grundlage für das Bildungswesen geschaffen worden. Die Verfassung von 1997 normiert in Art. 70 Abs. I das Recht auf Bildung und die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr sowie in Abs. 2 den Grundsatz der Schulgeldfreiheit für das staatliche Schulwesen. Der Abs. 3 konstituiert auf Verfassungsebene das Grundrecht der Unterrichtsfreiheit in Form einer Gründungsfreiheit für nichtstaatliche ("nichtöffentliche") oder kommunale Schulen und garantiert den Eltern ein freies Wahlrecht zwischen staatlichen und anderen Schulen. Dieses Recht korrespondiert mit dem Erziehungsrecht der Eltern gern. Art. 48 Abs. 1 Poln. Verf., wonach die Eltern das Recht haben, die Kinder im Einklang mit ihren eigenen Überzeugungen zu erziehen, sowie Art. 53 Abs. 3 Poln. Verf., der den Eltern das Recht einräumt, den Kindern die Erziehung und die moralische und religiöse Lehre im Einklang mit eigenen Überzeugungen zu sichern. c) Das Bildungsgesetz von 1991 als Ausdruck der Vergesellschaftung
des staatlichen Bildungswesens
Nach der politischen Wende war die Deideologisierung, Demonopolisierung und Pluralisierung bei gleichzeitiger Dezentralisierung der Schulverwaltungsstrukturen Schwerpunkt der umgehend angestrebten Reformmaßnahmen 30• Insbesondere die "Aufwertung der Familienerziehung und die Wahlmöglichkeiten der Eltern zwischen staatlichen Schulen und Privatschulen für ihre Kinder sind wichtige Veränderungen, die schon vor der Einführung des neuen Bildungsgesetzes in die Wege geleitet wurden,,3!. Vor diesem Hintergrund kam der "Demonopolisierung des Schulsystems" neben der "Anpassung des Schulwesens an die Erfordernisse von Demokratie, freier Markwirtschaft und internationaler Zusammenarbeit" sowie dem "Auf30
31
Hörner, WolfganglWompel, Ilse Renate, S. 22. Hörner, WolfganglWompel, Ilse Renate, S. 25.
396
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
bau eines neuen Lehrerbildungssystems, das den Bedürfnissen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft gerecht wird", eine zentrale Bedeutung ZU 32 , die auch im Bildungsgesetz von 1991 (Gesetz Nr. 425)33 ihren Ausdruck gefunden hat. So gewährt Art. 1 Polnisches Bildungsgesetz (Poln. BildungsG) gern. Abs. 1 ein Recht auf Bildung und gern. Abs. 3 das Recht, Schulen durch verschiedene, d. h., auch nichtstaatliche, Subjekte zu gründen und zu leiten. Ziel des Bildungsgesetzes war dabei eine Entstaatlichung des Bildungswesens im Sinne einer Vergesellschaftung der Bildung. So steht in Art. 5 Abs. 1 Poln. BildungsG die nichtöffentliche Schule gleichberechtigt neben der öffentlichen Schule für die Wahrnehmung des allgemeinen Bildungsauftrages. Eine Schule kann nach Art. 1 Abs.2 alternativ durch den Minister oder ein Organ der Regierungsverwaltung, die Gemeinde oder einen Kommunalverband, andere (privatrechtliche) juristische Personen oder eine natürliche Person gegründet werden. Dem Verständnis einer Vergesellschaftung der Bildung folgend, definiert sich eine öffentliche Schule demnach auch nicht nach der Trägerschaft, sondern eine Schule ist gern. Art. 7 Abs. 1 Poln. BildungsG eine öffentliche Schule allein dann, wenn sie einen unentgeltlichen Unterricht im Bereich der Rahmenstundentafeln gewährleistet, die Aufnahme der Schüler nach dem Prinzip der allgemeinen Zugänglichkeit durchführt, Lehrer mit der staatlich vorgeschriebenen Qualifikation einstellt und für die gegebene Schulform das curriculare Minimum im Bereich der Pflichtfächer und die Rahmenstundentafel realisiert sowie die vom Bildungsminister festgelegten Leistungsmessungs-, Klassifizierungs- und Versetzungskriterien einhält. Eine solche öffentliche Schule, die auch von einer juristischen oder natürlichen Person gegründet werden kann, darf gern. Art. 7 Abs. 2 Schulzeugnisse und Diplome ausstellen. Eine nichtöffentliche Schule kann gern. Art. 7 Abs. 3 die Rechte einer öffentlichen Schule erhalten, wenn sie das curriculare Minimum sowie die Klassifizierungsund Versetzungskriterien einer öffentlichen Schule gern. Art. 7 Abs. 1 erfüllt. Gemäß Art. 8 Poln. BildungsG kann eine Grundschule (Klassen 1 bis 8) nur eine öffentliche Schule oder eine nichtöffentliche Schule mit Rechten einer öffentlichen Grundschule sein. Gleichwohl kann gern. Art. 86 der Bildungsminister einer Schule, die die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 3 nicht erfüllt, die Rechte einer öffentlichen Schule im Status einer Versuchsschule übertragen. Vergesellschaftung der Bildung bedeutet danach nicht nur das Recht zur Gründung von Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft, sondern ist eingebunden in einen umfassenden Reformprozeß, der Grundschulen der Zuständigkeit des Zentralstaates entrücken und der kommunalen Zuständigkeit zuführen soll, und zugleich durch die Autonomie der Einzelschule. Diese beinhaltet die Stär32
Muszynski, Heliodor, S. 74 f.
Gesetzblatt der Republik Polen, Nr.95 vom 25.10.1991, Gesetz Nr.425 vom 7.9.1991 über das Bildungswesen. 33
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kung der Stellung des Schulleiters gegenüber der Schulaufsicht und Mitwirkungsrechte der Lehrer, Eltern und Schüler sowie die Einführung von Beiräten als partizipatorische Konsulativorgane auf allen Verwaltungsebenen des Schulsystems34 • Dementsprechend erklärt Art. 5 Abs. 5 Poln. BildungsG die Gründung, Leitung und Finanzierung der Grundschulen zu Pflichtaufgaben der Gemeinden, die gern. Art. 104 mit dem 1. Januar 1994 die Trägerschaft der bis dahin in staatlicher Trägerschaft befindlichen Schulen übernommen haben. Dagegen gehört die Gründung, Leitung und Finanzierung der weiterführenden öffentlichen Schulen gern. Art. 5 Abs. 7 (Abs. 6 i.d.F. vom 16.5.1996) Poln. BildungsG zu den Pflichten des Staates. Gleichwohl kann gern. Art. 104 Abs. 4 Poln. BildungsG die Führung von weiterbildenden Schulen auf deren Antrag hin der Gemeinde und mit der Genehmigung des Trägerorgans einer Schule als eigene Aufgabe übertragen werden. Die angestrebte Dezentralisierung des Bildungswesens hat damit eine neue Qualität angenommen, seit im Januar 1994 ein neuer Reformschritt zur Übernahme der Schulen des Primarbereichs (7-15 Jahre) und auch der Schulen des Sekundarbereichs in den Großstädten durch die Kommunen eingeleitet wurde, der ihnen die verwaltungsmäßige und haushaltsmäßige Verantwortung für die Schulen gewährt. Tendenziell ist davon auszugehen, daß sich das öffentliche Bildungswesen in Polen in einem umfassenden Dezentralisierungsprozeß befindet, der den Kommunen größere Einflußmöglichkeiten im Schulwesen sicheres. Dieser Dezentralisierungsprozeß beinhaltet aber mehr eine verwaltungsmäßige Dezentralisierung, denn eine pädagogisch-curriculare. Diesbezüglich behält das Bildungsministerium seine starke Stellung als zentrales Aufsichtsorgan und legt gern. Art. 22 Poln. BildungsG die Rahmenstundentafeln und das curriculare Pflichtminimum, die Grundsätze der Leistungsbemessung und des Berechtigungswesens fest und entscheidet auch über die Zulassung von Schulbüchern36 • Gleichwohl bestehen innerhalb dieses Rahmens gewisse selbständige Entscheidungstrukturen zugunsten der einzelnen Schule. Hierbei haben die eingeleiteten Bildungs- und Strukturreformen in Anknüpfung an die Diskussion um eine autonome Schule37 sowohl zu einer gewissen Dezentralisierung des Schulwesens als auch zu Überlegungen einer Umwand-
Hörner, WolfganglWompel, Ilse Renate, S. 30. s. hierzu Anweiler, Oskar, Polen. In: ders. u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 4. Aufl. WeinheimlBasel 1996, S. 143 (148 f.); Bida, Andrzej, Poland - Reform in34
3S
itiatives, Council of Europe, Newsletter 1/1994, S. 29, geht gar soweit zu sagen, daß kein Zweifel daran bestehen könne, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis alle Primärschulen und die meisten Sekundarschulen von den Kommunen finanziert, verwaltet und beaufsichtigt werden. 36 Vgl. hierzu auch Anweiler, Oskar, Polen, S. 148. 37 s. Mieszalski, Stefan/Kupisiewicz, Czeslaw, S. 99 ff.
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lung der Schulaufsicht in eine Schulberatung geführt38 , die aber nur in sehr begrenztem Maße auch nonnativ ihren Ausdruck gefunden haben. Die eingeleitete Dezentralisierung des Bildungswesens ist dabei Bestandteil einer grundlegenden Neuordnung der kommunalen Selbstverwaltung, die durch das am 9. März 1990 verabschiedete Gesetz der territorialen Selbstverwaltung39 in Polen eingeführt und durch das Organisations gesetz vom 27. Mai 1990 über das sog. dualistische Modell der Lokalverwaltung 40ergänzt wurde. Nach diesem Modell werden die Aufgaben der Lokalverwaltung durch eigene, selbständig zu erfüllende und vom Staat übertragene Aufgaben wahrgenommen41 . Nach Art. 6 des Gesetzes über die territoriale Selbstverwaltung wird der eigene Aufgabenkreis der Gemeinde, der sich in obligatorische und freiwillige Aufgaben unterteilt42 , im Wege einer Generalk1ausel dadurch bestimmt, daß der Gemeinde alle öffentlichen Angelegenheiten von lokaler Bedeutung zustehen, soweit sie nicht gesetzlich anderen Organen vorbehalten sind. Zu den eigenen Aufgaben der Gemeinden gehört danach gern. Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes über die territoriale Selbstverwaltung auch das Schulwesen im Grundschulbereich43 . Als Ausdruck der stärkeren gesellschaftlichen Einbindung des Bildungswesens sind ferner die sog. gesellschaftlichen Organe im Bildungswesen gern. Art. 45 ff. Poln. BildungsG zu werten. So besteht auf verschiedenen Ebenen gern. Art. 45 ff. BildungsG ein "Rat für Bildung". Dieser besteht auf der Einzelschulebene, auf der Ebene der Wojewodschaften sowie als gesamtstaatlicher Bildungsrat und kann zu organisatorischen und pädagogischen Fragen Stellungnahmen und Empfehlungen, die teilweise bindend sind, abgeben44 • Der Nationale Bildungsrat, erstellt Entwürfe für die Richtlinien der staatlichen Bildungspolitik und begutachtet die Rahmenstundenpläne und Curricula sowie die Rechtsvorschriften bezüglich des Bildungswesens. Dieser Bildungsrat besteht gern. Art. 46 Poln. BildungsG aus jeweils einem Vertreter der Bildungsbeiräte auf Wojewodschaftsebene sowie je einem Vertreter der zentralen Organe der Lehrergewerkschaft. Hierbei ist ein Bildungsrat auf Wojewodschaftsebene durch den Kurator als Leiter der Schulverwaltungsbehörde auf Regionalebene zu gründen, wenn mindestens 10 % aller Schulen und Bildungsstätten dies beantragen. Dieser besteht gern. Art. 48 Abs. 3 Poln. BildungsG aus Lehrer-, Eltern- und Schülervertretern sowohl der öffentlichen wie auch der nichtöffentli38
Muszynski, Heliodor, S. 99.
39 Gesetzblatt Nr. 16, Pos. 95. 40
Gesetzblatt Nr. 16, Pos. 94.
41 s. hierzu Dolnicki, Bogdan, Wesen und Aufgaben der territorialen Selbstverwal-
tung in Polen, Die Verwaltung 1995, S. 65 (75). 42 Dolnicki, Bogdan, S. 77. 43 s. hierzu Dolnicki, Bogdan, S. 65 (76 f.). 44 s. hierzu auch Anweiler, Oskar, Polen, S. 149.
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ehen Schulen (im Verhältnis 24 zu 3) sowie je einem Vertreter der Lehrergewerkschaften auf Wojewodschaftsebene, zwei Vertretern des regionalen Parlaments, einem Vertreter der Wojewodschaftsverwaltung sowie einem Vertreter des Arbeitsamtes. Darüber können an den einzelnen Schulen drittelparitätisch von Eltern, Lehrern und Schülern besetzte Beiräte gegründet werden, die u. a. über die Satzung der Schule beschließen, Anträge zur Verwendung der Haushaltsmittel stellen und zum Arbeitsplan der Schule Stellung nehmen (Art. 50 f.). Ferner können an den Schulen Elternräte und Organe der Schülerselbstverwaltung gebildet werden, die das Recht auf Anträge und Stellungnahmen in allen die Schule betreffenden Angelegenheiten haben. (1) Die Rechtsstellung der öffentlichen Schule Eine öffentliche Schule wird gern. Art. 58 Abs. 1 Poln. BildungsG durch einen Gründungsakt entweder einer staatlichen oder kommunalen Behörde oder aber auch durch eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts errichtet. Ein solcher Errichtungsakt bedarf, sofern er durch letztere erfolgt, gern. Art. 58 Abs. 3 Poln. BildungsG der Genehmigung des Kurators. Mit dem Gründungsakt legt die Schule eine Satzung fest, die insbesondere neben Namen, dem Träger, den Organen und der Form der Schule deren Ziele und Aufgaben, die Grundsätze des Aufnahmeverfahrens und die Rechte und Pflichten der Schüler enthalten soll (Art. 60 Abs. 1 Poln. BildungsG). Da gern. Art. 7 Poln. BildungsG Voraussetzung für eine öffentliche Schule nur ist, daß sie die kostenlose Bildung im Bereich der Rahmenlehrpläne sichert, -
die allgemeine Zugänglichkeit gewährt, Lehrer beschäftigt, die bestimmte festgelegte Qualifikationsanforderungen erfüllen, den Rahmenlehrplan und das Programm-Minimum in den Pflichtfächern erfüllt,
-
die vom Bildungsminister festgelegten Grundsätze der Bewertung, Klassifizierung und Versetzung verwirklicht und
-
Zeugnisse und staatliche Diplome vergibt,
können auch natürliche Personen oder juristische Personen des Privatrechts öffentliche Schulen gründen. Im Umkehrschluß legt allerdings Art. 5 Abs. 3 Poln. BildungsG fest, daß durch das Ministerium, die Kommunen oder den Kommunalverband, also juristische Personen des öffentlichen Rechts, nur öffentliche Schulen gegründet werden können. Die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Schulen in staatlicher oder kommunaler Trägerschaft beruht auf dem System der Budgetierung, d. h., die einzelnen Schulen sind gern. Art. 79 Abs. 1 BildungsG eigenständige Haus-
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haltseinheiten. Öffentliche Schulen im Sinne des Art. 7 Poln. BildungsG, die sich in nichtstaatlicher oder nichtkommunaler Trägerschaft befinden, bestimmen ihre Finanzwirtschaft gemäß den Grundsätzen der die Schule leitenden Organe und erhalten gern. Art 80 Abs. I einen Schüler-pro-Kopf-Satz in der Höhe, die den Ausgaben pro Schüler in derselben Form öffentlicher Schulen in staatlicher oder kommunaler Trägerschaft entspricht. Durch Novellierung des Schulgesetzes vorn 28.2.1992 wurde diese Finanzierungspflicht dergestalt aufgeteilt, daß diese dann von der Kommune und nicht aus dem Staatshaushalt zu erfolgen habe, wenn diese Schulform zu den Eigenaufgaben der Gemeinde gehört. Dies trifft gern. Art. 5 Abs. 5 Poln. BildungsG auf die Grund- und Sonderschulen zu, die demgemäß seit der Novellierung ihre Finanzmittel von den Gemeinden erhalten sollen. (2) Selbstverwaltungsstrukturen der öffentlichen Schulen Die Leitung der öffentlichen Schulen obliegt dem Schulleiter. Dieser leitet nach Art. 39 Abs. 1 Poln. BildungsG insbesondere die didaktisch-erzieherische Tätigkeit und vertritt die Schule nach außen, führt die pädagogische Aufsicht, verfügt über die vorn Beirat der Schule genehmigten Finanzmittel und führt die Beschlüsse der Schule sowie des Pädagogischen Rates aus. Des weiteren ist er nach Art. 39 Abs. 3 Poln. BildungsG Leiter des "Betriebs" und entscheidet über die Einstellung und Entlassung von Lehrern. Dem Schulleiter kommt eine starke Stellung innerhalb der Schule als Bindeglied zwischen Kurator und den Organen der Schule zu. Der Schulleiter wird vorn Berufungsorgan des Trägers der Schule berufen. Elternvertreter müssen in der Auswahljury mitwirken (Art. 36 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 Poln. BildungsG). Als Kollegialorgan der Schule existiert an jeder Schule mit mindestens drei Lehrern ein Pädagogischer Rat, dem alle Lehrer angehören und der für die Bestätigung der Arbeitspläne, die Benotung und Versetzung sowie die Beschlußfassung über pädagogische Innovationen zuständig ist (Art. 41. Abs. 1 Poln. BildungsG). Ferner nimmt er Stellung zu der Organisation der pädagogischen Arbeit wie den Wochenstundenplänen und den curricularen und extracurricularen Veranstaltungen sowie den Haushaltsentwürfen der Schule und bereitet die Satzung der Schule vor. Jede öffentliche Schule hat innerhalb der Rahmenstundenpläne Gestaltungsräume und kann neben dem Pflichtunterricht fakultativen Unterricht, Förderunterricht und extracurriculare Wahlfächer anbieten (Art. 64 Poln. BildungsG). (3) Die staatliche Schulaufsicht und Möglichkeiten schulischer Selbstverwaltung Die staatliche Schulaufsicht gliedert sich in eine zentrale durch das Ministerium für nationale Bildung und eine dezentrale auf territorialer Ebene der
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49 Wojewodschaften durch den Kurato.r, der die Ro.lle des früher sehr einflußreichen Schulinspekto.rs überno.mmen hat, dessen Po.sitio.n abgeschafft wurde45 . Dem Kurato.r o.bliegt zwar die o.rganisato.rische und fachliche Aufsicht über die öffentlichen Schulen gern. Art. 31 LV.m. Art. 33 Po.ln. BildungsG, do.ch gern. Art. 21 ko.o.rdiniert und verwirklicht der Bildungsminister die Bildungspo.litik des Staates, beaufsichtigt die Tätigkeit der Vo.rsteher des Bildungswesens (Kurato.ren) und bestimmt genau die Fo.rmen der Tätigkeit derselben. Gemäß Art. 35 Po.ln. BildungsG führt der Bildungsminister die pädago.gische Aufsicht über die vo.n ihm geleiteten Schulen und ko.o.rdiniert die pädago.gische Aufsicht über das ganze Land. Der Kurato.r ist gern. Art. 31 des Gesetzes verantwo.rtlich für die Realisierung der staatlichen Bildungspo.litik in der Wo.jewo.dschaft durch die Erstellung der no.twendigen Erlasse, die Leitung der untergeo.rdneten Schulen, die Genehmigung einer öffentlichen Schule durch eine juristische o.der natürliche Perso.n. Hierbei ist die Schulaufsicht des Kurato.rs weiterhin Aufsicht im klassisch hierarchisch-büro.kratischen Sinne. So. beurteilt er gern. Art. 33 Abs. 1 Po.ln. BildungsG in Fo.rm einer externen Evaluatio.n den Unterricht, auch wenn Hilfe, Anregung und Beratung als explizite Aufgaben der Schulaufsicht mit erwähnt werden. Nach Art. 34 Po.ln. BildungsG bestehen für die Schulaufsicht weitgehende Eingriffsmöglichkeiten, bis hin zu der, die Schule aufzulösen (Art. 60 Abs. 3 Po.ln. BildungsG). Dem Kurato.r o.bliegt gern. Art. 35 Abs. 3 Po.ln. BildungsG auf dem Gebiete der Wo.jewo.dschaft auch die Aufsicht über die nichtöffentlichen Schulen. So.weit in der öffentlichen Schule Selbstverwaltungsmöglichkeiten etwa hinsichtlich der Gestaltung des Unterrichts über das Kerncurriculum hinaus bestehen, werden diese im Rahmen einer Direkto.ralverfassung (vgl. Art. 36 ff. Po.ln. BildungsG) mit einer starken Stellung des Schulleiters durch den Pädago.gischen Rat, dem die Mitglieder des Ko.llegiums angehören, ausgeübt. Eine pädago.gische Auto.no.mie der Einzelschule mit einer starken Stellung der Eltern etwa hinsichtlich eines Schulpro.gramms besteht dagegen in der öffentlichen Schule nicht. Die Eltern haben zwar wie die Schüler die Möglichkeit vo.n Mitwirkungsrechten, aber keinen Einfluß auf die inhaltliche und didaktischpädago.gische Gestaltung des Unterrichts im staatlich-ko.mmunalen Schulwesen. Hierfür sind sie auf die so.g. gesellschaftlichen und privaten Schulen angewiesen. Die Grundschulen haben gern. Art. 12 Abs. I Po.ln. BildungsG jedo.ch das Recht der Eltern zur religiösen Erziehung der Kinder zu berücksichtigen und auf Wunsch der Eltern Religio.nsunterricht einzurichten. Neben den individuellen Mitwirkungsmöglichkeiten bestehen gern. Art. 45 BildungsG ko.llektive Mitwirkungsrechte über die scho.n erwähnten so.g. "gesellschaftlichen Organe im Bildungswesen" mit überwiegend beratender Funktio.n. So. begutachtet z. B. der Bildungsrat auf der Einzelschulebene gern. 45
Anweiler, Oskar, Polen, S. 148.
26 lach
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Art. 50 Abs. 4 Poln. BildungsG den Arbeitsplan der Schule, Entwürfe für pädagogische Neuerungen und andere wesentliche Angelegenheiten für die Schule. Hierbei besteht der Schulrat gern. Art. 51 Abs. 1 Poln. BildungsG drittelparitätisch aus Lehrern, Eltern und Schülern. d) Die Rechtsstellung nichtöffentlicher Schulen (1) Die Gründung nichtöffentlicher Schulen Mit der neuen polnischen Verfassung vom 2. April 1997 ist die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols auch verfassungsrechtlich verankert. Gemäß Art. 70 Abs. 3 Poln. Verf. haben die Eltern nach Satz 1 das Recht, für ihre Kinder andere als öffentliche Schulen zu wählen, und nach Satz 2 ist Bürgern und Institutionen das Recht gewährt, Volksschulen, mittlere und höhere Schulen (und Hochschulen) zu gründen. Diese Gründungsfreiheit unterliegt in ihrer Ausgestaltung einem weitgehenden Gesetzesvorbehalt. Danach bestimmt gemäß Art. 70 Abs. 3 Satz 3 Poln. Verf. das Gesetz die Bedingungen der Gründung und Tätigkeit der nichtöffentlichen Schulen sowie die Voraussetzung für staatliche Unterstützung und die Grundsätze der pädagogischen Aufsicht. Gesetzliche Grundlage ist danach weiterhin das Bildungsgesetz von 1991, welches in den Art. 82 ff. die Rechtsstellung freier Schulen regelt. Das polnische Bildungsgesetz spricht in Art. 82 ff. nicht von privaten oder freien, sondern von nichtöffentlichen Schulen, die von juristischen oder natürlichen Personen gegründet werden können. Die Gründung und Unterhaltung einer nichtöffentlichen Schule erfordert die Anmeldung beim Register gern. Bezeichnung der Person, Art. 82 Abs. 2 Poln. BildungsG, wonach diese enthalten soll -
Benennung des Trägers, Leiters, des Sitzes, der Schulform der Schule; die Satzung der Schule; Angaben über die Qualifikation der Lehrkräfte und des Schulleiters; im Falle der Anmeldung einer Grundschule die Verpflichtung, das staatliche Programm-Minimum und die Grundsätze der staatlichen Schulen hinsichtlich der Bewertung und des Versetzens der Schüler zu realisieren, und die Grundsätze der Beschäftigung der Lehrer, die für die öffentliche Grundschule bestimmte Qualifikationen besitzen müssen, einzuhalten.
Die Satzung muß gern. Art. 84 Abs. 2 Poln. BildungsG neben Angaben zur Person des Schulträgers, dem Namen, den Aufgaben und der Art der Schule sowie den Organen der Verwaltungsstruktur und der Rechtsstellung der am Schulleben Beteiligten auch Angaben über die Finanzierungsmöglichkeiten der Schule enthalten.
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Einer Schule, die den Anforderungen gern. Art. 82 Abs. 1-3 Poln. BildungsG entsprechend gegründet wurde, stehen ab der angefangenen Tätigkeit gern. Art. 85 Abs. 1 die Berechtigungen der öffentlichen Schule zu, wobei der Kurator innerhalb von 6 Monaten zu prüfen hat, ob eine Schule, die die Rechte einer öffentlichen Schule verliehen bekommen hat, die Bedingungen nach Art. 82 Abs. 2-6 erfüllt. Hierbei bedeutet dies jedoch nicht etwa eine materielle Gleichstellung mit staatlichen Schulen oder per Gesetz mit der Genehmigung und Eintragung ein Recht zur Vergabe staatlicher Berechtigung. Dieses bedarf der besonderen Verleihung durch den Kurator. Nach Art. 85 Abs. 3 Poln. BildungsG verleiht der Kurator dem Schulleiter einer nichtöffentlichen Schule, die keine Berechtigung der öffentlichen Schule besitzt, im Wege des Beschlusses die Berechtigungen einer öffentlichen Schule, wenn er feststellt, daß die in Art. 7 Abs. 3 des Gesetzes bestimmten Bedingungen durch die Schule erfüllt werden. Gemäß Art. 7 Abs. 3 des Gesetzes kann auch eine nichtöffentliche Schule die Berechtigungen, also die Befugnis, Zeugnisse und Diplome zu erteilen, einer öffentlichen Schule erhalten, wenn sie das Programm-Minimum verwirklicht und die Grundsätze des staatlichen Schulwesens bei der Bewertung und Versetzung anwendet. Hierbei besteht für die Pflichtschulzeit im Rahmen der Grundschule, welche in Polen acht Klassen umfaßt (Art. 15 BildungsG), die Regelung, daß nur nichtöffentliche Schulen mit den Berechtigungen einer staatlichen Schule zugelassen sind. Nach Art. 86 Abs. I Poln. BildungsG kann jedoch auch eine Schule, die die in Art. 7 Abs. 3 bezeichneten Bedingungen nicht erfüllt, durch den Nationalbildungsminister die Berechtigungen einer öffentlichen Schule erhalten, wenn sie im Status einer Versuchsschule anerkannt wird. Erfüllt eine nichtöffentliche Schule entweder die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs.3 oder nach Art. 86 (Versuchs schule) nicht mehr, kann die Genehmigung nach Art. 88 Abs. 1 Poln. BildungsG von dem Organ, welches sie verliehen hat, zurückgezogen werden. Gemäß Art. 89 Poln. BildungsG führen die Kuratoren und der Bildungsminister die pädagogische Aufsicht über die nichtöffentlichen Schulen. (2) Die Finanzierung der nichtöffentlichen Schulen Nach Art. 70 Abs.3 Satz 3 Poln. Verf. stehen staatliche Zuschüsse für Schulen in freier ("nichtöffentlicher") Trägerschaft unter einem Gesetzesvorbehalt. Die nichtöffentlichen Schulen erhalten gern. Art. 90 Abs. 3 Poln. BildungsG bis zu 50 % der laufenden Ausgaben, die der Staat in den öffentlichen Schulen gewährt. Hierbei handelt es sich um eine Ermessensvorschrift, die einen weiten Spielraum zugunsten der Gemeinde und des Staates für die Bezuschussung gewährt. Staatliche Zuschüsse setzen voraus, daß es sich um eine nichtöffentliche Schule mit den Berechtigungen einer öffentlichen Schule handelt. Finanzielle Zuwendungen für Schulen. die keine Berechtigungen der öffentlichen Schulen
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haben, stehen gern. Art. 90 Abs. 6 Poln. BildungsG im Ennessen des Bildungsministeriums, was grundsätzlich für solche Schulen gilt, die nicht die Voraussetzungen des Art. 7 erfüllen. Gleichwohl können auch diese Schulen zu Schulen mit Berechtigungen der öffentlichen Schule erklärt werden und in den Genuß der Regelfinanzierung kommen, wenn diese nach Art. 86 zu Versuchsschulen erklärt werden, wobei der Bildungsminister gern. Abs. 2 die Bedingungen für die Anerkennung als Versuchsschule festlegen kann. Hierbei kann nach Art. 8 des Gesetzes eine Grundschule nur entweder eine öffentliche oder eine nichtöffentliche mit den Berechtigungen einer öffentlichen sein, so daß ein gewisser Anpassungsdruck ausgeübt wird, weil die nichtöffentliche Schule die notwendigen Berechtigungen nur erhält, wenn sie nach Art. 7 Abs. 3 i.V.m. Abs. I ein bestimmtes Programm-Minimum in den Pflichtfächern (Abs. I Nr. 4 a) erfüllt und die vom Bildungsminister festgelegten Grundsätze der Klassifizierung und Versetzung der Schüler verwirklicht (Abs. I Nr. 5). Dies hat zur Folge, daß etwa refonnpädagogische Schulen, deren Pädagogik gerade durch Nichtnotifizierung und zumindest teil weiser Abkehr vom Klassen- und Jahrgangsprinzip gekennzeichnet sind3o, im Grunde nur als experimentelle Schule nach Art. 86 Poln. BildungsG errichtet und unterhalten werden können, es sei denn, dieses pädagogische Prinzip würde von den staatlichen Schulen übernommen. Hinsichtlich der Kostentragungspflicht für die Bezuschussung unterscheidet Art. 90 des Gesetzes nach Grund- und Sekundarschulen. Die Bezuschussung der Grundschulen obliegt seit dem 1.1.1994 den Gemeinden, zuvor bekamen diese Schulen ihre Zuschüsse direkt aus dem Staatshaushalt. Die Sekundarschulen bekommen ihre Zuschüsse dagegen weiter direkt aus dem Staatshaushalt. Diese Anbindung der Grundschulzuschüsse an die Gemeinden ergibt sich aus dem seit 1.1.1994 geltenden Übergang des Grundschulwesens in die Finanzhoheit der Gemeinden gern. Art. 104 Poln. BildungsG i.V.m. der Kommunalrefonn. Diese Anbindung ist in Zeiten schlechter Finanzausstattung der Kommunen für die nichtöffentlichen Schulen materiell problematisch, weil die Gemeinden gern. Art. 90 Abs. 4 Poln. BildungsG die genauen Grundsätze, nach denen Zuschüsse gewährt werden, selbst festlegen. Da den nichtöffentlichen Schulträgern damit ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Zuschüsse in Höhe von 50 % nicht gegeben ist, führt dies dazu, daß die gewährten Zuschüsse nur 10 bis 20 % der staatlichen Kosten decken und Gemeinden mit einkommensstarken Eltern eher Mittel für die Unterhaltung einer Schule aufbringen können. So erhielten nach Angaben von Mason die 1.000 privaten Schulen im Jahre 1996 nicht mehr als 10 % ihrer Kosten bezuschußt31 • Für die Waldorfschulen trifft nur ersteres zu. Mason, Peter, Real freedom from govemment controls still out of reach, ISIS Magazine Nr. 15,1996, S. 19. 30
31
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Auch an Waldorfschulen, die den Status nichtöffentlicher Schulen haben, müssen unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten Schulgelder in bedenklicher Höhe verlangt werden. So beträgt das monatliche Schulgeld für den Besuch der einzigen Waldorfschule in Warschau 1,3 Mill. Zloty, während ein durchschnittliches Lehrergehalt 4 Mill. Zloty (rund 350 DM) beträgt32 • e) Die Rechtsstellung und Bedeutung der kirchlichen Schulen Anders als in den übrigen postsozialistischen Staaten kommt den katholischen Schulen in Polen angesichts der starken Stellung der katholischen Kirche im nichtstaatlichen Bildungssektor eine besondere Bedeutung zu. Zu Recht weist Glenn darauf hin, daß in Polen etwa die Eröffnung der ersten Waldorfschule zugleich die Gründung der fünfhundertsten nichtstaatlichen Schule bedeutete, während z. B. in Rumänien die erste Waldorfschule auch zugleich die erste nichtstaatliche Schule darstellte 33 • Obgleich Polen durch eine starke katholische Tradition geprägt ist, ist in den nächsten Jahren jedoch nicht von einer Ausweitung der Schulen in kirchlicher Trägerschaft auszugehen, da die katholische Kirche in Polen primär nicht auf die Errichtung von eigenen Schulen, sondern eine Ausweitung ihrer Einflußmöglichkeiten innerhalb des staatlichen Schulwesens ausgerichtet ist. Dieses Anliegen der katholischen Kirche ist zentraler Punkt einer kontroversen bildungspolitischen Diskussion, in der der katholischen Kirche vorgeworfen wird, in Ablösung der marxistischen Gesellschaftstheorie eine Reideologisierung des Schulsystems in ihrem Sinne anzustreben34 . Eine solche Reideologisierung der staatlichen Schule ist jedoch mit den Grundsätzen der Schule der Bürgergesellschaft nicht vereinbar, da die staatliche Schule in einer demokratischen Gesellschaft dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist und weltanschaulich gebundene Schulen ihre Existenzberechtigung allein im nichtstaatlichen Schulwesen haben. Soweit die Kirchen eigene Schulen unterhalten, ist gern. Art. 21 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 155 vom 17. Mai 1989 über die Garantie der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gewährleistet, daß die staatliche Verwaltung über die von der Kirche gegründeten und unterhaltenen Schulen keine unmittelbare Kontrolle ausübt, wobei allerdings gern. Art. 21 Abs. 2 der Unterrichtsminister berechtigt ist, in Übereinstimmung mit den Trägem solcher Bildungsanstalten die Grundzüge ihrer Organisation und Tätigkeit zu bestimmen35 • Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, Erziehungskunst 1993, S. 1347 (1353). Glenn, Charles, Educational freedom in Eastern Europe, S. 154. 34 s. hierzu Szymanski, Miroslaw S., Die Schulreform in Polen seit 1989, DLZ 15/1996, S. 3. 35 Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Polen. In: Fro32
33
wein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1993 Bd. I, S. 258 (292).
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f) Minderheitenschutz im Schulwesen Mit der neuen polnischen Verfassung vom 2. April 1997 ist der Minderheitenschutz verfassungsrechtlich verankert. Nach Art. 35 Abs. 2 Poln. Verf. haben die nationalen und ethnischen Minderheiten das Recht, eigene Bildungseinrichtungen zu gründen. Darüber hinaus wird ihnen ein Teilhaberecht an der politischen Willensbildung dergestalt zugestanden, daß sie an den Entscheidungen über Belange ihrer kulturellen Identität zu beteiligen sind. Auf einfachgesetzlicher Ebene gewährt Art. 13 Abs. 1 Poln. BildungsG den Schülern im Rahmen der öffentlichen Schule das Recht, ihre nationalethnische, sprachliche und religiöse Identität beizubehalten, insbesondere den Unterricht der Muttersprache, der Geschichte und der Kultur. Hierbei sieht das polnische Bildungsgesetz gern. Art. 13 Abs.2 die Möglichkeiten sowohl eines multikulturell-getrennten als auch eines gemischten Unterrichts auf Antrag der Eltern hin vor. Weitere Rechtsgrundlage ist die auf Grundlage des Gesetzes erlassene Verordnung des Ministers für nationale Erziehung vom 24. März 1992 über die Organisation der Bildungseinrichtungen zur Ermöglichung der Unterstützung der Gefühle der nationalen, ethnischen und sprachlichen Identität der nationalen Minderheiten 52 • Auf der Basis der rechtlichen Sicherung des Minderheitenschutzes im Schulgesetz wurden im Schuljahr 1991/1992 an 118 Grundschulen 5.213 Schüler in ukrainischer, weißrussischer, slowakischer und litauischer Sprache unterrichtet53 • Für die deutsche Minderheit spielt insbesondere die Gründungsfreiheit für nichtöffentliche Schulen eine besondere Bedeutung, da gern. Art. 20 Abs. 1 und 3 des deutsch-polnischen Vertrages vom 17. Juni 1991 das Recht zugestanden wird, eigene Bildungseinrichtungen zu gründen und zu unterhalten54 •
g) Elemente einer bürgerschaftlichen Schulverfassung Die Bedeutung der gesellschaftlichen und nichtöffentlichen Schulen für die Vielfalt im Bildungswesen An der Entwicklung in Polen, wo der Begriff der Bürgergesellschaft von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse war55 , s. hierzu Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung, S. 258 (285). Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung, S. 258 (289). S4 s. hierzu Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung, S. 258 (288). S2
S3
ss Geremek, Bronislav, Die Civil Society gegen den Kommunismus: Polens Botschaft. In: Michalski, K. (Hrsg.), Europa und die Civil Society - CastelgandolfoGespräche 1989. Stuttgart 1991, S. 264.
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spiegelt sich die besondere Bedeutung des Gedankens der Bürgergesellschaft nicht nur in der zentralen Forderung eines unabhängigen Bildungswesens neben unabhängigen Gewerkschaften56 wider, sondern er hat seinen Niederschlag auch in den Schul strukturen gefunden. Danach ist das polnische Bildungswesen insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß es nicht nur das Recht zur Gründung von Privatschulen als sog. nichtöffentliche Schulen vorsieht, sondern darüber hinaus neben staatlichen und privaten Schulen im klassischen Sinne durch die Existenz von sog. gesellschaftlichen Schulen geprägt ist. Diese verstehen sich explizit nicht als Wahrer bestimmter partikularer Sonderinteressen, sondern als ,,Erziehungseinrichtungen der Bürgergesellschaft" . Die gesellschaftlichen Schulen werden vom Gedanken der Selbstverwaltung im Bildungswesen getragen und sind als ein Moment der Selbstregulierung im Kontext eines historisch gewachsenen Kompromisses zwischen den radikalen Selbstverwaltungsvorstellungen der Solidamosc von 1980 und der überlieferten zentralistischen Bildungsverwaltung zu sehen57 • Dieser Kompromiß entwickelte sich als gesellschaftspolitischer Diskurs schon vor der politischen Wende, als in den achtziger Jahren in den Kreisen der sich der Solidamosc-Bewegung zurechnenden Intelligenz über die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Schule (szkola spoleczna) diskutiert wurde 58 und eng mit dem Gedanken der Bürgergesellschaft im Sinne eines Netzes selbstverantworteter, gemeinnütziger Schulen mit alternativen, lokalen Lehrplänen und einer weitreichenden Autonomie der Lehrer59 verbunden war. Aufgrund dieser aus den alten Verhältnissen gewachsenen Diskussion über mögliche Änderungen des polnischen Bildungssystems wurden die ersten gesellschaftlichen Schulen noch vor dem Ende der sozialistischen Herrschaft in den Jahren 1988/89 gegründet6o• Das Prinzip der "gesellschaftlichen Schule" basiert auf der Übernahme bisher staatlicher Schulen durch die Schulgemeinschaft der Lehrer, Eltern und Schüler an diesen Schulen im Sinne von Selbstverwaltungsschulen61 • Nach Angaben der OECD besuchen zwar nur 0,4 % der Grundschüler nichtöffentliche
Geremek, Bronislav, S. 271. Hörner, Wolfgang, S. 43. 58 s. hierzu Golz, Reinhard, Länderstudie Polen. In: SeyJahrt-Stubenrauch, EckhardlSkiera, Ehrenhard, Refonnpädagogik und Schulrefonn in Europa. Hohengehren 1996, Bd.2, S.475 (482); Putkiewicz, ElzbietaiZytko, Malgorzata, Die gesellschaftlichen Schulen in Polen im Urteil der Lehrer, BuE 49/1 996, S. 45. 59 Putkiewicz, ElzbietaiZytko, Malgorzata, S. 46. 60 Putkiewicz, ElzbietaiZytko, Malgorzata, S. 46. 61 s. hierzu auch Hörner, WolfganglSzymanski, Miroslaw S., Polen. In: Döbert. Hans/GeijJler. Gert (Hrsg.), Schulautonomie in Europa. Baden-Baden 1997, S. 293 (298, 309); Muszynski, Heliodor, S. 103. 56 57
408
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Schulen, während es im Sekundarbereich 4 % der Schüler sind62 , doch die gesellschaftlichen Schulen, die als autonome, reformpädagogische, basisdemokratische Eltem-Lehrer-Schüler-Gemeinde-Schulen zu verstehen sind, leisten mit ihrer starken Einbindung der lokalen Umgebung einen wesentlichen Beitrag zur pädagogischen Vielfalt auf einem gemeinwohlorientierten Selbstverständnis. Sie vermischen hierbei diverse reformpädagogische Elemente, ohne sich einer der "traditionellen" refompädagogischen Schulen als verbindliche Richtung anschließen zu wollen. Schon im Schuljahr 1990/1991 gab es über 120 gesellschaftliche Schulen, die in der CEA (Ci vii Educational Association = Spoleczne Towarzystwo Oswiatowe) organisiert waren. Im ,,Jahre 1994 zählte man über 400 gesellschaftliche Schulen, die von zehntausenden Menschen getragen" wurden. 63 Die Zahl dieser Schulen lag 1991 bei ca. 20064 , 1992 bei ca. 40065 und ist seitdem weiter gestiegen. Sie sind ihrem Status nach nichtöffentliche Schulen und machen den weitaus größten Anteil der im Schuljahr 1993/94 bestehenden 283 nichtöffentlichen Grundschulen bei 3.000 kommunalen Grundschulen aus 66 • Die Zahl der nichtöffentlichen Schulen betrug im gleichen Zeitraum im Gymnasialbereich 263 Schulen und lediglich 21 Schulen in kommunaler Trägerschaft67 • Nach empirischen Untersuchungen weichen ca. 75 % der gesellschaftlichen Grundschulen sowie alle Lyzeen von den staatlichen, vom Ministerium für nationale Bildung erlassenen Stundentafeln ab; ca. 94 % der gesellschaftlichen Schulen haben die wöchentliche Stundenzahl für bestimmte Fächer erhöht, und 85 % aller Schulen haben zusätzliche, über die obligatorische Stundentafel hinausgehende Fächer und Stunden eingeführt68 • Damit ist evident, daß mit den weiteren Begleitfaktoren kleiner Klassenschülerzahlen und höherer Qualifikation der Lehrer an den nichtöffentlichen Schulen69 als an den staatlichen Schulen eine Diskussion über eine vermeintliche Elitenbildung und Privilegierung mit der zunehmenden Akzeptanz gesellschaftlicher Schulen in Polen einhergehen muß. Auf der anderen Seite belegt die Entwicklung der gesellschaftlichen Schulen, daß trotz äußerst angespannter Wirtschafts lage und
62
OECD (Hrsg.), Reviews of National Policies for Education - Poland. Paris 1996,
S.19. 63
64
Putkiewicz, ElzbietalZytko, Malgorzata, S. 45 (46). Mieszalski, Stefan/Kupisiewicz, Czeslaw, S. 74.
6S SO die mündlichen Angaben gegenüber dem Verfasser anläßlich eines Vortrages an der Universität Warschau am 16.9.1992 über verfassungsrechtliche und gesetzliche Rahmenbedingungen für nichtstaatliche Schulen in Europa. 66 Anweiler, Oskar, Polen, S. 148. 67 Anweiler, Oskar, Polen, S. 148. 68 Putkiewicz, ElzbietalZytko, Malgorzata, S. 45 (47 f.). 69 OECD (Hrsg.), Poland, S. 19; Putkiewicz, ElzbietalZytko, Malgorzata, S.45 (47 f.). '
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Polen
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hoher Arbeitsiosigkeit70 das Prinzip der BÜTgergesellschaft im Bildungswesen lebendig ist. Allerdings fehlt es in Polen an ausreichend normativ gesicherten, insbesondere die finanziellen Anforderungen hinreichend regelnden Rahmenbedingungen. Gleichwohl wird die Vielfalt des Bildungswesens durch das Nebeneinander verschiedener Träger, staatlicher, gesellschaftlicher und privater, strukturell anerkannt. Auch die gesellschaftlichen Schulen müssen ein nicht geringes Schulgeld erheben 7 ) und entsprechen insofern dem Status der klassischen "Privatschulen", als ihre pädagogische Arbeit nicht staatlich finanziert wird, soweit sie über den Rahmenlehrplan hinausgeht. Im Bereich der gesellschaftlichen Schulen bestreiten ca. 50 % der Sekundarschulen und 60 % der Primarschulen den Betrieb des Unterrichts allein aus dem Ensemble von staatlichen Zuschüssen, Schulgeld und besonderen Gebühren. Die übrigen Schulen verfügen noch über zusätzliche Mittel aus Schenkungen der Eltern und Gemeinden oder von Sponsoren72 • Die Bedeutung der sog. nichtöffentlichen Schulen in freier Trägerschaft ist in Polen in den letzten Jahre kontinuierlich gestiegen. Während 1993/94 insgesamt ca. 500 solcher Schulen existierten73 , ist ihre Anzahl 1996 auf über 1.000 angewachsen 74 , wobei sich die Mehrheit als Alternativschulen verstehen und an verschiedene Elemente der Freinet-, Montessori- und Waldorfpädagogik sowie Unterrichtskonzeptionen wie die der Laborschule in Bielefeld anknüpfen 75 • Schulen wie die Waldorfschule, von der im Jahre 1992 die erste in Warschau gegründet wurde76 und weitere Gründungen folgten, haben danach den Status von nichtöffentlichen Schulen. In Polen gab es im Jahre 1996 drei Waldorfschulen. Die in Warschau vor 5 Jahren gegründete erste polnische Waldorfschule hatte 1996 150 Schüler und umfaßt die Klassen 1-8. Danach wechseln die Schüler auf eine staatliche Oberschule, wofür sie eine Aufnahmeprüfung bestehen müssen 77 . Die Waldorfschule in Olsztyn wurde 1994 gegründet und hatte im Schuljahr 1996/97 drei Schulklassen mit zusammen 27 Schülern. Hierbei knüpft die Diskussion im pädagogischen Bereich an die traditionsreiche polnische reformpädagogische Diskussion der Zwischenkriegszeit 1918-1939 an, wo in Polen verschiedenste reformpädagogische Ansätze und Konzeptio70
Vgl. hierzu OECD (Hrsg.), Poland, S. 15 f.
Muszynski, Heliodor, S. 103. 72 Putkiewicz, Elzbieta/Zytko, Malgorzata, S. 45 (47). 73 s. hierzu Golz, Reinhard, Länderstudie Polen, S. 475 (483). 74 Mason, Peter, Real freedom, S. 19. 75 s. hierzu Golz, Reinhard, Länderstudie Polen, S. 475 (483). 76 Ziemska, Maria, Erste Rudolf-Steiner-Schule in Polen, Erziehungskunst 1992, S.491. 77 Kleinau-Metzler, Doris, Waldorfschule Warschau sucht polnische Waldorflehrer, 71
Zeitschrift "Inf03", 12/1996, S. 28.
410
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
nen, insbesondere in Anlehnung an die deutsche und sowjetische Refonnpädagogik, entwickelt und weitergeführt wurden62 . Ungeachtet der positiven Tendenzen für schulische Autonomie und die Institutionalisierung sog. gesellschaftlicher Schulen muß man jedoch konstatieren, daß die sozialstaatlichen Bedingungen für eine Vergesellschaftung von Schule als Alternative zwischen Verstaatlichung und Privatisierung gegenwärtig in Polen nur sehr begrenzt greifen. Das polnische Schulgesetz garantiert zwar die Errichtung und Unterhaltung von nichtöffentlichen Schulen, jedoch sind die finanziellen Regelungsgehalte des Gesetzes Ausdruck einer Schlechterbehandlung dieser Schulen gegenüber den öffentlichen Schulen, die unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten problematisch ist. Hinzu kommt, daß nach der Gesetzessystematik auch eine unterschiedliche Behandlung der nichtöffentlichen Schulen untereinander möglich ist. Dies führt dazu, daß sich auch die gesellschaftlichen Schulen angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Situation zwangsläufig zu Eliteschulen entwickeln, die für weite Teile der Bevölkerung nicht zugänglich sind. Hierbei ist nicht nur evident, daß das von den Eltern auch an diesen "halbprivaten,,63 Schulen zu erbringende Schulgeld angesichts des nur geringen Zuschusses des Erziehungsministeriums so hoch ist, daß es das Gehalt der Grundschullehrer, die allerdings zu den schlechtbezahltesten Berufsgruppen in Polen gehören, übersteigt und von daher nur geringen Bevölkerungsanteilen zugänglich ist. Problematisch ist ferner, daß diese Schulen über eine sächlich in einem kaum noch vergleichbaren Maße weitaus bessere Ausstattung als staatliche Schulen verfügen, die ihrerseits ihrem Bildungsauftrag nur noch bedingt nachkommen können 64 • Fallen die Ausstattungen für schulisches Lernen dergestalt auseinander, so ist der Grundsatz der Chancengleichheit für alle Schüler in einer äußerst problematischen Weise tangiert. Refonnpädagogische Unterrichtskonzepte sind in Polen entweder einem umfassenden Anpassungsdruck an das staatliche Schulsystem anheimgegeben, oder aber die Schulträger müssen erhebliche Schulgelder erheben. Dies liegt vor allem daran, daß eine öffentliche Schule, sofern sie nicht als Versuchsschule gern. Art. 86 Poln. BildungsG anerkannt ist, nur eine solche sein kann, die das curriculare Minimum sowie die Leistungs-, Klassifizierungs- und Versetzungskriterien der staatlichen Schulen anerkennt. 62 s. hierzu Golz, Reinhard, Reformpädagogik in Polen - Adaptiertes und Originales am Beispiel der Arbeitsschuldiskussion, Pädagogisches Forum 1992, S. 124 ff. 63 So die Kategorisierung von Hirsch, Helga, Alle denken nur ans Geld, Schulen in Europa - 3. Polen, Die ZEIT 27/1992. 64 s. hierzu Hirsch, Helga, wonach insbesondere die Ausgaben für das Erziehungswesen am Staatshaushalt dramatisch gesunken sind auf nur noch 0,77 %. Pro Einwohner gibt Polen danach nur 1/15 bis 1/18 der Kosten aus, die in den USA, Japan oder der Bundesrepublik aufgewendet werden.
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Ungarn
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2. Das ungarische Bildungswesen a) Die historische Entwicklung des Bildungswesens
Die Ursprünge des gegenwärtigen ungarischen Bildungswesens mit all seinen Brüchen und Wandlungen basieren im wesentlichen auf dem Volksbildungsgesetz (Gesetz Nr. 38) aus dem Jahre 1868 und dem Mittelschulgesetz von 1883, in welchen die allgemeine Schulpflicht und eine umfassende staatliche Schulaufsicht eingeführt, gleichzeitig aber auch die Lehrfreiheit und das Recht der freien Schulgründung unter den gesetzlich normierten Voraussetzungen zugunsten von Privatpersonen, der Kirche oder Stiftungen gewährleistet wurden81 • Unter diesen rechtlichen Rahmenbedingungen entstand neben einem in seiner Struktur einheitlichen und vom Staat kontrollierten Staatsschulwesen Anfang des 20. Jahrhunderts ein immer reichhaltiger werdendes reformpädagogisches Privatschulwesen, welches nach Beginn des Zweiten Weltkrieges eine jähe Beendigung erlebte. Bis dahin gab es in Ungarn neben der europäischen Reformpädagogik in Form einer Waldorf- und einer Montessorischule diverse eigenständige reformpädagogische Modelle, an die anzuknüpfen nach 1945 zunächst während der Koalitionsregierung bis 1948 möglich erschien82 . Nach 1948 wurde das allgemeine sowjetische Konzept der sozialistischen Bildung unter Führung der kommunistischen Partei auch in Ungarn durchgeführt, jedoch früher als in anderen sozialistischen Staaten, nämlich schon Ende der 70er Jahre, einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen 83 • b) Pluralisierungstendenzen im sozialistischen Bildungssystem
Die Entwicklung des Bildungswesens in Ungarn war - wie auch in den sonstigen gesellschaftlichen Bereichen - in Zeiten der sozialistischen Herrschaft im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Staaten von einer gewissen Liberalität und Eigendynamik geprägt und nimmt von daher eine Sonderstellung gegenüber den anderen osteuropäischen Staaten ein. Diese spiegelt sich auch in dem Übergang von der Verfassung des autoritären Einparteienstaates zur Verfassungsstaatlichkeit in der parlamentarischen Demokratie wider, bei der die Entstehung der neuen ungarischen Verfassung vom 23.10.198984 aufgrund der gleichermaßen gemeinsamen Beteiligung sowohl der dominierenden Reformkräfte in der herrschenden Einheitspartei der Ungarischen Sozialisti81 s. hierzu Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, Refonnpädagogik und Schulrefonn in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 461 f. 82 s. hierzu Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 463 ff. 83 s. hierzu Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 468 f. 84 Veröffentlicht am 23.10.1989, Gesetzblatt (Magyar Közlöny) 1989, S. 1244.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
sehen Arbeiterpartei (MSZMP) als auch der gesellschaftlichen Oppositionskräfte zu einem "aufschlußreichen Lehrstück der friedlichen Transformation einer autoritären Einparteiendiktatur in eine rechtsstaatliche Demokratie" wurde 85 . Gemeinsam mit Polen ist Ungarn das postsozialistische Land, in dem sich der demokratische Transformationsprozeß in besonderer Weise als evolutionärer Prozeß vollzogen hat, der schon 1988 zu einer gewissen Pluralisierung des öffentlichen und politischen Lebens in Ungarn führte 86 • Seine vorläufige Vollendung fand dieser Prozeß in der am 23. Oktober 1989 in Kraft getretenen Verfassung, für deren Entstehung "die Prinzipien des demokratischen Pluralismus und der Konsensbildung, der Rechtsstaatlichkeit und der Teilung der Macht" Leitorientierung waren 87 • Der avantgardistischen Rolle für den gesamten politischen Freiheitsprozeß entsprechend, ist Ungarn auch Vorreiter für die Verwirklichung des Grundsatzes der Bildungsfreiheit in den mittelosteuropäischen Staaten gewesen. Zwar gab es auch in Ungarn eine ideologische Instrumentalisierung und Zentralisierung des Bildungssystems88 , doch gewannen reformerische Kräfte, die von der Notwendigkeit einer stärkeren Dezentralisierung der Bildungsverwaltung und einer Liberalisierung der Curricula und der pädagogischen Methoden geleitet wurden, schon in den 80er Jahren an Einfluß89 und konnten Teile hiervon durch das Schulreformgesetz von 1985 durchsetzen 90 • Ungarische Erziehungswissenschaftler sprechen denn auch hinsichtlich des Schulreformgesetzes von 1985 von der letzten groß angelegten Schöpfung der ungarischen sozialistischen KuIturpolitik91 • 85 Brunner, Georg, Die neue Verfassung der Republik Ungarn: Entstehungsgeschichte und Grundprobleme, Jahrbuch für Politik Vol. 1/1991, S. 297 (316). 86 Vgl. Kahl, Wolfgang, S. 43 ff. 87 Kahl, Wolfgang, S. 46. 88 Bessenyei, Istvän, Bildungspolitik zur Zeit der politischen Wende in Ungarn. In: Anweiler, Oskar (Hrsg.), Systemwandel im Bildungs- und Erziehungswesen in Mittelund Osteuropa. Berlin, 1992, S. 152. 89 s. LOrand, Ferenc, Das Alternative Wirtschaftsgymnasium Budapest: Die ..Schule der Besteller". In: Fuchs, EginhardiKrampen, Ingo, (Hrsg.), Selbstverwaltung macht Schule - Fallstudien zur Freiheit im Bildungswesen. FrankfurtlM. 1992, S. 75: ..... bereits mehrere Jahre vor dem politischen Umschwung in Ungarn bestand in der Öffentlichkeit die Forderung nach Pluralität im Bildungswesen. In wissenschaftlichen Arbeiten, Aufsätzen, Berichten und Diskussionen wurde das staatliche Schulmonopol angefochten". 90 Bathory, Zoltän, Einige Folgen des .. Regimewechsels" für das öffentliche Bildungswesen in Ungarn. In: Mitter, WolfganglWeij1, ManfredlSchäjer. Ulrich (Hrsg.), Neuere Entwicklungstendenzen im Bildungswesen in Osteuropa. FrankfurtlM. 1992, S. 26 f. 91 Nemeth, Andras, Situation und Perspektiven im ungarischen Bildungswesen: Dimensionen der Schulfreiheit, Vortragsmanuskript eines Referats, gehalten auf dem DGFE-Kongreß März 1994, S. 2; ders., Länderstudie Ungarn, S. 461 (470).
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Ungarn
413
Unter dem Stichwort des Systems der lokalen Erziehung gewährte das Gesetz - ohne jedoch das Erziehungsprinzip der Erziehung der Jugend im sozialistischen Sinne anzutasten92 - den Schulen und Lehrern eine umfangreiche Autonomie bei der Entscheidung über die Umsetzung von Erziehungs- und Lernzielen (im Gesetz heißt es wörtlich: "fachliche Unabhängigkeit,,)93 und ermöglichte die Einführung alternativer Lehrpläne, Curricula und Lehrbücher94 . "Gegenüber der straffen Lehrplankontrolle und der eindeutig zentralistischen, parteistaatlichen Lenkung sicherte das Gesetz erstmals die Zulassung alternativer Lehrbücher und eine methodische Freiheit für die Lehrer" sowie Mitbestimmungsrechte des Lehrerkollegiums bei der Direktorenwahl95 . Angesichts des Fehlens eines zentral verbindlichen Lehrplans96 ermöglichte dies Selbstbestimmungsrechte der Schule bei der Planung des pädagogischen Prozesses und der Bestimmung des Lehrstoffes (sofern ein allgemeingültiges Minimum eingehalten wurde )97. Signifikant hierfür ist insbesondere, daß es einigen Versuchsschulen schon in der zweiten Hälfte der 80er Jahre möglich war, alternative, z. T. reformpädagogisch orientierte, vom staatlichen Schulsystem deutlich abweichende pädagogische Konzeptionen zu entwickeln und umzusetzen, auch wenn ihr gesamtgesellschaftlicher Einfluß relativ gering war98 . Jedoch unterlag jede Versuchsschule und Einführung neuer Lehrpläne einem Erlaubnisvorbehalt des Ministeriums99. Obgleich diese Reformtendenzen in ein etatistisches Verständnis von Schule eingebunden waren, welches Schule ausschließlich als Angelegenheit des Staates betrachtete, kann man konstatieren, daß schon im Jahre 1988 Pluralisierungstendenzen deutlich sichtbar waren, auch wenn Nemeth die Möglichkeiten der Verwirklichung von schulischer Autonomie unter den Rahmenbedingungen des Parteienstaates als "überaus zweifelhaft" bewertetJoo • So wurde Ende 1988 die Gründung einer Waldorfschule durch den damaligen stellvertretenden Erziehungsminister genehmigt, die jedoch auf politischen Druck hin widerrufen werden mußte. Dies war jedoch nur ein vorübergehender Versuch der Fortführung eines staatlichen Schulmonopols, denn schon im 92
93
LOrand, Ferenc, S. 77. LOrand, Ferenc, S. 77.
Nemeth, Andras, Situation und Perspektiven, S. 2. Bessenyei, Istvan, Bildungspolitik, S. 155; Mayer, Gregor, Zwischen Wildwuchs und Neozentralismus - Schulgesetzdebaue schlägt in Ungarn hohe Wellen, DLZ 1111992, S. 11. 96 s. Mayer, Gregor, S. 11. 97 LOrand, Ferenc, S. 77. 98 Bathory, Zoltan, S. 28. 99 Bessenyei, Istvan, Bildungspolitik, S. 159. 100 Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 470. 94
9S
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
September 1989 konnte die erste Waldorfschule in Solymar ihren Unterrichtsbetrieb aufnehmen 101. c) Die Entwicklung des Bildungswesens seit 1989 Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Pluralisierung und Demokratisierung des Bildungswesens durch grundrechtliche Gewährleistungen ergibt sich im wesentlichen über das Elternrecht. Nach Art. 67 Abs. 2 der ungarischen Verfassung vom 18.1O.l989 haben die Eltern das Recht, die Erziehung ihrer Kinder frei zu wählen, wobei die Eltern gern. Art. 70/J verpflichtet sind, für den Unterricht ihrer minderjährigen Kinder zu sorgen. Dieses Recht korrespondiert mit dem in Art. 701F festgelegten Recht auf Bildung, weIches als verfassungsrechtliche Gewährleistung in ein etatistisches Grundverständnis dergestalt eingebunden ist, daß dieses gern. Abs. 2 durch das Recht auf die Erweiterung und allgemeine Zugänglichkeit des öffentlichen (staatlichen) Bildungswesens, durch die unentgeltliche und obligatorische Grundschule, durch die je nach Fähigkeit jedem zugängliche mittlere Bildung und Hochschulbildung sowie durch die finanzielle Unterstützung der Lernenden verwirklicht wird. Normativ wurde unter dem Eindruck der sich abzeichnenden grundlegenden Wandlungsprozesse mit der Revision des Schulgesetzes im Jahre 1990 das staatliche Schulmonopol abgeschafft, "womit der Reformprozeß der achtziger Jahre seinen Höhepunkt erreichte"102. Seinen vorläufigen Abschluß fand die Bildungsreform durch das Schulgesetz Nr.79 vom 12. August 1993, in dem wesentliche Elemente der Unterrichts- und Bildungsfreiheit verankert wurden. Das Gesetz normiert die sozialstaatliche Verpflichtung, einen kostenlosen Unterricht in Institutionen des staatlichen öffentlichen Schul- und Unterrichtswesens zu ermöglichen, garantiert jedoch gleichzeitig das Elternrecht auf freie Schul wahl (Art. 13), die Gründungsfreiheit von Schulen in freier Trägerschaft und gewährt nichtstaatlichen Schulen, wenn sie staatliche oder kommunale Unterrichtsaufgaben übernehmen, eine staatliche und kommunale Finanzierung (Art. 2 ff.)103. Hauptforderungen im Prozeß der Herstellung der Demokratisierung waren auch in Ungarn nach der politischen Wende die der Autonomie und Liberalisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche, also auch des Bildungswesens, insbesondere mit dem Recht der Gründung und Unterhaltung von nichtstaatli101 Altehage, Günter, Zum Engagement der deutschen W~ldorfschulbewegung im Osten, Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1995, Erziehungskunst 1995, S. 1323 (1326 f.). 102 Bathory, Zoltan, S. 27. 103 Zur Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen s. a. Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 470.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Ungarn
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ehen Schulen lO4 • In diesem Kontext war eine der zentralen politischen Forderungen, mainifestiert im "Programm des Systemwechsels" vom Bund Freier Demokraten und in den Grundlinien von der Pädagogengewerkschaft geteilt, die Sicherung der schulischen Autonomie \05. Hierzu gehörte sowohl die Gewährung von Autonomie der staatlichen Schulen und die Einrichtung von Versuchsschulen als auch die Gründungsfreiheit von Schulen für jede Rechtsperson. So ermöglichte das Gesetz nicht nur die Gründung von verschiedenen Schulformen in freier Trägerschaft, sondern auch die Einrichtung von staatlichen Schulmodellen, die vom traditionellen Muster abweichen lO6 • Obgleich die Grundparadigmen für die Neuordnung des Bildungswesens mit den Begriffen Pluralismus und Autonomie klar definierbar und formal von allen politischen Kräften anerkannt sind 107 , besteht seit der Demonopolisierung des ungarischen Bildungssystems ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Dezentralisierungs- und Autonomiebestrebungen als Voraussetzung einer umfassenden Demokratisierung und Liberalisierung des Bildungswesens 108 einerseits und neokonservativen politischen Bemühungen, das Bildungswesen an nationalen und christlichen Werten auszurichten und in diesem Sinne zu rezentralisieren lO9 , andererseits, was zu heftigen Diskussionen und diversen Änderungsvorschlägen für das 1993 verabschiedete und in den Jahren 1995 und 1996 novellierte ungarische Schulgesetz geführt hat l1O • Signifikant für die politischen Auseinandersetzungen ist dabei, daß der konservativ-nationalliberale Gesetzentwurf für das neue Schul gesetz 1993 Schulvielfalt mit der Rückkehr zum selektiven Schulsystem gleichsetzte und den Lehrstoff in Form eines nationalen, an christlich-nationalen Werten orientierten 111 Gesamtlehrplans zentralisierte, der nur noch bedingt Raum für die einzelnen Schulen ließ, ihren spezifischen pädagogischen Bedürfnissen und Interessen entsprechend eigene Lehrpläne zu erarbeiten. Dem entspricht, daß schon im Jahre 1992 die von mehreren hundert Schulen beantragte Erlangung eines Versuchsstatus, der sie davon befreien würde, den offiziellen Lehrplan und die 104 Bessenyei, Istvän, Bildungspolitik, S. 152 f.; ders., Vom Chaos in eine neue Ordnung - Die Wende, die Schule und die Politik in Ungarn, S. 5, Vortragsmanuskript, gehalten auf dem Symposium "Die Rolle der Bildung für das Zusammenwachsen in Europa", Evangelische Akademie Loccum, 20.-22.3.1992, S. 5. \Os Bessenyei, Istvän, Bildungspolitik, S. 154. 106 Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 470. 107 Bessenyei, Istvän, Bildungspolitik, S. 153. 108 Bathory, Zoltän, S. 30 f. 109 So übereinstimmend auch die Einschätzungen von Bathory, Zoltan, S.27; Bessenyei, Istvän, Bildungspolitik, S. 155, und Mayer, Gregor, S. 11. 110 Hierzu ausführlich Mayer, Gregor, S. 11. 111 Hierzu Bessenyei, Istvän, Vom Chaos in eine neue Ordnung, S. 6.
416
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
traditionellen Strukturen der staatlichen Schulen zu absolvieren, vom Bildungsministerium als Gefährdung der Einheitlichkeit des Bildungswesens angesehen und ein Moratorium für solche Anträge erwogen wurde 112 . d) Autonomie und Dezentralisierung des Bildungswesens
Die seit 1985 eingeleitete Dezentralisierung des Bildungswesens führte nicht nur zur Übernahme der Schulträgerschaft aller öffentlichen Schulen im Jahre 1990 durch die Kommunen, sondern hat den Schulen eine im europäischen Vergleich weitgehende verwaltungsmäßig-institutionelle Autonomie gegeben, in deren Rahmen sie von den staatlichen Lehrplänen aber nur partiell abweichen können. Hierbei verfügen sie über ein eigenes Budgetrecht, und die Schule wird als ein kommunaler Erziehungsverbund verstanden, in den neben Vertreter der Kommune auch außerschulische Partner, Eltern und örtliche Wirtschaftsorganisationen einbezogen werden und sich die Schulaufsicht weitestgehend auf eine Rechtsaufsicht beschränkt l13 . Auf der anderen Seite eliminierte das Gesetz von 1993 basisdemokratische Elemente aus der Reformzeit der 80er Jahre wie die Mitbestimmung des Lehrerkollegiums bei der Wahl des Direktors\14. Dagegen sollte mit dem Gesetz die mittlere Schulverwaltungs- und Aufsichtsebene zwischen Kommunen und Bildungsministerium gestärkt werden 1I5• Auf der Einzelschulebene kann man verwaltungsmäßig von einer rechtlichen Autonomie sprechen, bei der der Schulleiter die Funktion eines Arbeitgebers hat. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das eigene Budgetrecht, welches aber entsprechende Mittelzuweisungen durch die Kommune voraussetzt. Die pädagogische Autonomie ist demgegenüber durch den Nationalen Grundlehrplan (NAT) begrenzt. Innerhalb dieses nationalen Grundlehrplans besteht jedoch didaktisch-methodisch ein erheblicher Gestaltungsspielraum. Jede Schule hat die Möglichkeit und Pflicht, in ihrem jeweiligen Schulprogramm ihr spezifisches Schulprofil zu entwickeln, so daß durchaus Raum für verschiedene pädagogische Ansätze besteht. Insgesamt scheint in Ungarn der Schritt zu einem differenzierten Bildungssystem vollzogen, doch sind die ursprünglichen Freiräume im Zuge der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, durch die nach Einschätzung von Bessemeyei die Schulen zunächst eine Art Narrenfreiheit besaßen,,\16, zunehmend einer Bildungspolitik gewichen, die zwar den Pluralismus und die Absage an ein Bessenyei, Istvän, Vom Chaos in eine neue Ordnung, S. 11. Gutsehe, Marta, Ungarn. In: Döbert, Hans/Geißler, Gert (Hrsg.), Schulautonomie in Europa. Baden-Baden 1997, S. 423 (425 f., 434). 114 s. Mayer, Gregor, S. 11. 1lS Bessenyei, Istvän, Vom Chaos in eine neue Ordnung, S. 6. 116 Bessenyei, Istvän, Vom Chaos in eine neue Ordnung, S. 11. 112
113
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Ungarn
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staatliches Schulmonopol anerkennt, aber gleichwohl die staatliche Steuerungsfähigkeit erhalten will. Dementsprechend sieht das Schulgesetz von 1993 gern. Art. 8 und 9 ein nationales Basiscurriculum vor (Nemzeti Alaptanterv). welches die allgemeinen Ziele und verbindlichen Basisinhalte der ersten zehn Schuljahre festlegt und in der ungarischen Erziehungswissenschaft kontrovers diskutiert wird 117 . Mit der Novellierung dieses Gesetzes in den Jahren 1995 durch das Gesetz LXXIl1995 und 1996 durch das Gesetz LXII/1996 wurde die Grundlage für einen ab 1998 gültigen allgemein verbindlichen nationalen Grundlehrplan gelegt und gleichzeitig die verwaltungsmäßige Autonomie der Einzelschule unter Einführung einer verstärkten Qualitätssicherung normiert 11 8. Insgesamt scheint die gegenwärtige Entwicklung nach englischem Vorbild zu verlaufen ll9 • d. h.• eine weitgehende Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen auf der Basis eines nationalen Curriculums und zentralen Leistungsprüfungen in den verschiedenen Altersstufen. Verstärkt werden die Schwierigkeiten eines umfassenden Strukturwandels durch die - wie in den anderen ehemals sozialistischen Staaten - katastrophale Haushaltslage. So gibt Ungarn nach einer Untersuchung der OECD zwar prozentual einen größeren Anteil des Staatshaushaltes für das Bildungswesen aus als der Durchschnitt der OECD-Länder. doch hat das seit 1995 von der Regierung durchgeführte Stabilitätsprogramm zur Deckung des Defizits des Staatshaushaltes zu einem Abbau von LehrersteIlen geführt, so daß die programmatisch angestrebte Verwirklichung von Chancengleichheit und Demokratisierung des Bildungswesens an enge Grenzen stÖßt l20 • Hierbei führt die ungenügende finanzielle Absicherung der Lehrer angesichts eines unter dem Minimallohn liegenden Grundgehaltes zu einer weiteren Verschärfung der Lage. was sich im Dezember 1995 in einem großen landesweiten Lehrerstreik niedergeschlagen hatl2l . Gleichzeitig versucht die Regierung, Maßnahmen der Rationalisierung und Erhöhung der Effektivität der einzelnen Schule dadurch zu unterstützen. daß Schulen. die aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen Gehälter eingespart haben, diese in Form höherer Gehälter für die verbliebenen Lehrer behalten l22 .
117
Zur pädagogischen Freiheit der Lehrer s. Nemeth. Andras. Länderstudie Ungarn.
S.471.
Gutsehe. Marta. Ungarn. S. 428. Gutsehe. Marta. Ungarn. S. 424. 120 Vgl. Gutsehe. Marta. Staatsverschuldung und die Folgen für die Bildung, DLZ 4/1996. S. 3. 121 Gern. Gutsehe. Marta, Staatsverschuldung, S.3, beträgt das durchschnittliche Nettogehalt eines Lehrers DM 300 = 24.343 Forint. 122 Gutsehe, Marta, Staatsverschuldung, S. 3. 118 119
27 Jach
418
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Die Finanzierung der staatlichen Schulen erfolgt im Sinne einer Schüler-proKopf-Bezuschussung dergestalt, daß pro Schüler aus dem zentralen Staatsbudget ein von Schultyp zu Schultyp unterschiedlicher Betrag pro Schüler ausgezahlt wird, der durch Mittelzuweisungen der Gemeinden ergänzt wird. Dies hat zur Folge, daß Schulen mit kleinen Schülerzahlen benachteiligt werden l23 • Ferner ist eine ausreichende Schulfinanzierung sowohl für die Schulen in freier Trägerschaft als auch die staatlichen Schulen von einer ausreichenden Finanzausstattung der Kommunen abhängig, weil die staatlichen Zuschüsse nur gut 50 % betragen und der Rest von den Kommunen aufgebracht werden muß, die jedoch hierzu teilweise nicht in der Lage sind 124 • e) Formen und Rechtsstatus nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft
Für die nichtstaatlichen Schulen gibt es in Ungarn eine umfassende Gründungs- und Wahlfreiheit, die auch die Unterstützung für den grundlegenden Unterricht einschließt, sofern die Schulen den staatlichen Anforderungen entsprechen. Allerdings müssen die Schulen mit der Gemeinde einen Vertrag abschließen, der Voraussetzung für die Bezuschussung ist, worin angesichts der Haushaltslage die Gefahr gesehen wird, daß die Kommunen solchen Schulgründungen aus Kostenerwägungen ablehnend gegenüberstehen 125 • Dieser Vertrag ist ferner insoweit relevant, als die Finanzierung der unabhängigen Schulen neben einem festen Pauschalbetrag pro Schüler durch den Staat auch Ergänzungszuwendungen der Gemeinden vorsieht, die jedoch in deren Ennessen liegen. Die Gemeinden sind aber oftmals nicht in der Lage, solche Ergänzungszuweisungen zu leisten, so daß die Bezuschussung durchschnittlich nur bei ca. 50 % der vergleichbaren Kosten staatlicher Schulen liegen dürfte und die Zahlung eines nicht unerheblichen Schulgeldes notwendig macht. Angesichts des günstigen bildungspolitischen Umfelds haben sich in Ungarn schon früh Elemente eines Schulpluralismus herausbilden können. Bei den entstehenden Strukturen eines Schultypus von Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft finden sich die verschiedensten Grundrichtungen. Die stärkste Gruppe bilden hierbei wie in allen Staaten die kirchlichen Schulen, die vor der Verstaatlichung im Jahre 1948 den beachtlichen Bestand von 5.437 Grundschulen, 113 Gymnasien und 98 Lehrerausbildungsanstalten und Lyzeen umfaßten und deren Besitzstand durch das "Gesetz über Gewissens- und Religionsfreiheit" aus dem Jahre 1990 und das "Gesetz über die Rückgabe der kirchlichen ImGutsehe, Marta, Staatsverschuldung, S. 3. s. hierzu Ban, Ervin, Lehrerentlassungen - Ungarn ist geschockt, DLZ 13/14 1997, S. 6. 125 Nemeth, Andras, Situation und Perspektiven, S. 4. 123
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mobilien" aus dem Jahre 1991 wiederhergestellt werden SOll126. Das Spektrum nichtstaatlicher Schulen reicht von privaten (im Sinne von privatwirtschaftlichen) über konfessionelle, muttersprachliche (im Sinne von Minderheitenschulen) bis hin zu alternativen oder reformpädagogischen Schulmodellen. Dementsprechend breit war auch die Resonanz auf die Gründung nichtstaatlicher Schulen 127 . So entstanden im Jahre 1990 51 nichtstaatliche Schulen, und die Zahl wuchs bis 1994 auf 320 Schulen an, wovon 180 Schulen in kirchlicher Trägerschaft waren 128 • Diese Entwicklung hat sich auch in den folgenden Jahren fortgesetzt, so daß der Anteil nichtstaatlicher Schulen im Jahr 1997 ca. 7 % betrug, wovon 2/3 kirchliche Schulen und 1/3 Stiftungsschulen waren l29 . Im Gegensatz zu Polen, wo die katholische Kirche als ebenfalls sehr bedeutende gesellschaftliche Gruppe versucht, ihren Einfluß im staatlichen Schulwesen zu stärken und weitestgehend auf eigene kirchliche Schulgründungen verzichten, ist in Ungarn das Interesse der Kirche an eigenen Schulen sehr groß, da es im staatlichen Schulwesen verwehrt ist, eine religiöse Instruktion zu vermitteln. Die kirchlichen Schulen wurden im Jahre 1996 von 3 % der Schüler besucht und erhalten Zuschüsse, sofern sie den staatlichen Normen entsprechen und als den staatlichen Schulen gleichwertig anerkannt sind 130. Neben der Gründung und Übernahme traditioneller reformpädagogischer Schulmodelle wie der Schulen in der Tradition Pestalozzis 131 , der 1991 gegründeten ersten Montessorischule und den zwei Waldorfschulen (1994), die aber eine verschwindend geringe Anzahl an Schülern unterrichten, gibt es genuine Eigenneugründungen. Hierzu gehört die "berühmte Neugründung,,\32 des alternativen Wirtschafts gymnasiums , welches sich als Schule der Pädagogen und "Besteller" versteht 133 und durch ein reformorientiertes Modell von Dehierarchisierung, Schülerselbstverwaltung, gemeinsamer Lehrplanentwicklungen und Selbsterkenntnisprogrammen geprägt ist134 • Diese ist als Stiftungs schule wesentlich von der Wirtschaft abhängig und entspricht von daher auch in ihrem Selbstverständnis "eigentlich einer "Privatschule,,135. Daneben gibt es Schulen
Zorn, Anton, S. 8. Nach Angaben von LOrand, Ferenc, bewarben sich am "Alternativen Wirtschaftsgymnasium Budapest" auf 80 zur Verfügung stehende Jahrgangsplätze 5.000 Kinder. 128 s. hierzu Nemeth, Andras, Länderstudie Ungarn, S. 471. 129 Gutsehe, Marta, Ungarn, S. 428. 130 Mason, Peter, Real freedom, S. 19. 131 s. hierzu Küken, Lothar, Pestalozzis Ideen in Martonvasar, DLZ 41/1991. 132 Bessenyei, Istvlin, Bildungspolitik, S. 160. 133 LOrand, Ferenc, S. 77 ff. 134 s. Bessenyei, Istvlin, Bildungspolitik, S. 160; LOrand, Ferenc, S. 78 f. 135 LOrand, Ferenc, S. 76. 126
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
wie die Lebensbaumschule der Jungianer, die "versucht, die westliche Zweckrationalität und die östlichen intuitiven Erkenntniswege zu vereinigen,,\36. Mit der Änderung des Bildungsgesetzes in Ungarn im Jahre 1995 ist jedoch - wie auch in anderen postsozialistischen Staaten nach 1994 - der curriculare Freiraum gegenüber den Gründungsjahren beschränkt worden und eine stärkere Kontrolle und Bindung an staatliche Vorgaben erfolgt.
f) Minderheitenschulen Der Schutz der nationalen Minderheiten im Bildungswesen wird durch Art. 68 Abs. 2 der ungarischen Verfassung dergestalt garantiert, daß Angehörige einer nationalen Minderheit das Recht haben, Unterricht in ihrer Muttersprache zu erhalten. Verstärkt wird dieser Grundrechtsschutz durch den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit und das damit verbundene freie Wahlrecht der Eltern, welche Schule ihr Kind besuchen soll. Hierbei sind die normativen Rahmenbedingungen für einen muttersprachlichen Unterricht nicht erst durch die Verfassungsreform eingeleitet worden, sondern schon Art. 7 des Bildungsgesetzes von 1985 anerkannte, daß Unterrichts sprachen neben der ungarischen alle anderen in Ungarn gesprochenen Sprachen der Minderheiten seien und daß Kinder von Minderheitsangehörigen entweder in ihrer Muttersprache oder zweisprachig zu unterrichten seien 137 . Dementsprechend entwickelte sich das Minderheitenschulwesen schon vor der politischen Wende, so daß im Jahre 1990 44.000 Schüler an 320 Grundschulen in der 1. bis 8. Klasse muttersprachlichen Minderheitenunterricht erhielten und darüber hinaus drei deutsche, zwei serbokroatische, zwei slowakische Gymnasien und ein rumänisches mit rund 900 Schülern existierten 138 .
g) Bildungspolitische Tendenzen Die ungarische Schulverfassung enthält strukturelle Elemente einer bürgerschaftlichen Schulverfassung, die jedoch nicht zuletzt wegen mangelnder finanzieller Ressourcen erhebliche Einschränkungen erfährt. Das ungarische Bildungswesen ist weitestgehend dezentralisiert und eröffnet so durch die Kommunen direkte Einflußnahmen über Selbstverwaltungsorgane. Die unabhängigen Schulen sind zwar anerkannter, aber nicht gleichberechtigter Bestandteil
136 Bessenyei, Istvan, Bildungspolitik, S. 160. m s. hierzu Nolte, Georg, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Ungarn. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin
1994, S. 501 (520). 138 Nolte, Georg, S. 501 (521).
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des Schulsystems, so daß ein volles Wahlrecht zwischen allen Schulen unter gleichen Bedingungen noch nicht existiert. Für die gegenwärtige Bildungspolitik sieht die deutsche Sektion des Europäischen Forums für Bildungsverwaltung in ihrer eher etatistischen Perspektive vor allem drei Fragen als vordringlich an: Gewährung von Chancengleichheit angesichts eines starken Andrangs an Eliteschulen; Sicherung der Qualität der schulischen Arbeit angesichts des hohen Maßes an Gestaltungsfreiheit; Sicherung der Vergleichbarkeit der schulischen Abschlüsse angesichts der sehr unterschiedlichen personellen und materiellen Ausstattung der Schulen 139 . In der Entwicklung entweder zu mehr staatlicher Reglementierung oder Stärkung der Selbstverwaltung in der Verbindung von Freiheit und sozialstaatlicher Verantwortung wird sich die Perspektive der ungarischen Schulverfassung zeigen. 3. Das tschechische Bildungssystem
a) Zur historischen Entwicklung des tschechoslowakischen Bildungswesens In der Darstellung der Entwicklung des Bildungswesens in der ehemaligen Tschechoslowakei scheint es unter der hier im Vordergrund stehenden Fragestellung von Pluralität und Selbstbestimmungsrechten im Bildungswesen von besonderem Interesse, daß die 1. tschechoslowakische Republik von ihrer Gründung 1918 bis zu ihrer Unterwerfung unter die nationalsozialistische Herrschaft in Form des Protektorats Böhmen und Mähren 1939 eine besondere, eigenständige Tradition pädagogischer Vielfalt sowohl im staatlichen als auch im privaten Schulwesen aufzuweisen hatte. Schon das Königtum Böhmen hatte in der Donaumonarchie nach der Einführung der Staatsschulpflicht 1774 kurze Zeit später im Jahre 1781 eine, wenn auch nicht pädagogisch begründete Schulvielfalt, so doch eine weltanschaulichethnische Schulpluralität rechtlich anerkannt, indem es neben staatlichen Schulen Privatschulen sowohl Schulen in kirchlicher Trägerschaft (katholische, protestantische, jüdische Schulen) als auch Minderheitenschulen etwa in Form der deutschen Schulen gab. Mit der Gründung der 1. Republik 1918 wurde diese rechtliche Vielfalt, die aber alle Schulen an staatlich vorgegebene und anerkannte Methoden der didaktischen Arbeit band, erweitert um eine weitreichende methodisch-didaktische und organisatorische Freiheit sowohl der staatlichen 139 European Forum on Educational Administration, Protokoll über VIIIth European Intervisitation Programme v. 6-12.12.1995 in Budapest "The principle of shared responsibility and local autonomy in education in Hungary, Leipzig 1996 (unveröffentlicht).
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
als auch der privaten Schulen. So sind schon Anfang der 20er Jahre zahlreiche reformpädagogische Schule entstanden, die jedoch meist nur von kurzer Dauer waren, bis in den 30er Jahren in einer umfassenden Schulreform mit Unterstützung der Schulverwaltung sich Reformschulen insbesondere in der reformpädagogischen Ausprägung der vom Kinde aus konzipierten Arbeitsschule in einer Weise durchsetzen konnten, die den tschechischen Erziehungswissenschaftler Karel Rydl von einer Spitzenstellung der Tschechoslowakei bei der Schulreform im Europa der 30er Jahre sprechen läßt l4o . Nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft und einer kurzen Rezeptionsphase der bildungspolitischen Idee der Vorkriegszeit geriet das Bildungswesen 1948 unter den totalitären Einfluß der kommunistischstalinistischen Nachkriegszeit. Privatschulen waren verboten und auch die bestehenden Schulen für die polnische, ungarische und ukrainische Minderheit hatten sich den Erziehungszielen und der sozialistischen Didaktik und Lemmethodik unterzuordnen. Seinen Niederschlag fand dies im Einheitsschulgesetz von 1948 und den seit 1953 zunehmenden Bemühungen, die Struktur des Bildungswesens dem sowjetischen Vorbild anzupassen l41 • Obgleich das Schulwesen der tschechoslowakischen Republik schon im Jahre 1968 in zwei für das Schulwesen autonom verwaltete Republiken, nämliche die Tschechische und die Slowakische Republik, gegliedert wurde, wurde in beiden Republiken bis zur Auflösung der Tschechoslowakischen föderativen Republik im Jahre 1994 eine fast gleiche Bildungspolitik betrieben, die erst seit 1994 unterschiedlich und staatlich souverän wurde l42 • b) Die Bildungsreform im Rahmen der 8ger Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei
Ähnlich wie in Ungarn kommt auch der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung eine AvantgardesteIlung bei der Umgestaltung des Bildungswesens zu. Schon 1989 hatte das Bürgerforum unter VacIav Havel ein Reformkonzept für eine demokratische Schulreform, die durch die Prinzipien des Pluralismus und Liberalismus gekennzeichnet sein sollte, ausgearbeitet. Neben der Forderung nach Entideologisierung, Dezentralisierung und Entbürokratisierung des bis dato zentralistischen und dirigistischen Bildungswesens stand vor allem die Forderung nach der Abschaffung des staatlichen Schulmonopols. 140 Rydl, Kare!, Pädagogische Reformidea!e und die Realität der Bildungsreform in der tschechischen Republik, Vortragsmanuskript für das Symposium VI des 14. Kongresses der DGFE 1994; s. hierzu auch ders., Länderstudie Tschechische Republik. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhard/Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 492 f. 141 Rydl, Kare!, Länderstudie Tschechische Republik, S. 487 f. 142 Rydl, Kare!, Länderstudie Tschechische Republik, S. 489.
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Mit der Abschaffung des staatlichen Schulmonopols wurde der erste Schritt zur Einführung eines Pluralismus im Schulsystem der ehemaligen Tschechoslowakei, in dem Schulen in privater oder kirchlicher Trägerschaft ein rechtlich anerkannter Status als Ergänzung des staatlichen Schulwesens gewährt wurde, vollzogen und gleichzeitig eine Dezentralisierung eingeleitet, die den Kommunen wesentlich stärkere Einflußmöglichkeiten im Rahmen der schulischen Selbstverwaltung einräumtl43 • Sowohl die Selbstverwaltung der einzelnen Schule als auch die kommunalen Einflußmöglichkeiten waren jedoch im wesentlichen ökonomischer Art. Das Schulgesetz von 1990 ging dabei rechtlich sehr weit, indem es den Schulen nicht nur die Selbstverwaltung und ein eigenes Entscheidungsrecht über die Verwendung der pro Jahr (einmalig) zugewiesenen Mittel einräumte, sondern die Schule aus dem Status einer nichtrechtsfähigen Anstalt löste und den Schulen eine eigene Rechtspersönlichkeit (rechtliche Subjektivität) gab l44 • Sofern man von einer Autonomisierung 145 im Schulwesen sprechen kann, umfaßt diese vor allem die ökonomische Selbstverwaltung, nicht die pädagogisch-curriculare. Dementsprechend formulierte das Schulgesetz Nr. 171/ 1990: "In Sachen der Erziehung und Bildung sind alle Schulen unmittelbar durch das Schulministerium verwaltet." Soweit pädagogische Autonomie im staatlichen Grundschulbereich gewährt wurde, bestand diese insbesondere weitgehend für die anerkannten Versuchsschulen l46 • Vor der Teilung der ehemaligen CSFR wurde für die tschechische und slowakische föderative Republik in dem Verfassungsgesetz zur Einführung der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten der föderalen Versammlung der CSFR vom 9.1.1991 147 in Art. 33 Abs. 1 Satz 1 in dem Abschnitt des Kapitels 4 über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ein Recht auf Bildung für jedermann verfassungsrechtlich verbürgt, das nach Abs. 2 durch das Recht eines jeden Staatsbürgers auf unentgeltlichen Besuch von Grund- und weiterführenden Schulen sowie - unter dem Vorbehalt der individuellen Fähigkeiten und den gesellschaftlichen Möglichkeiten - auch von Hochschulen verwirklicht werden soll.
143 Pruchn, Jan, Schul-Reform in der Tschechoslowakei. In: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Die Rolle der Bildung für das Zusammenwachsen in Europa, Loccumer Protokolle 29/1992, S. 163 (164). 144 Rydl, Karei, Vortragsmanuskript, 11.2, S. 4. 145 s. Czernin, Monika, Autonomie als Teil der Bildungsreform in Tschechien und der Slowakei. In: Posch, Peter/Altrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich, 2. Aufl. Wien 1993, S. 243. 146 Rydl, Karei, Vortragsmanuskript, 11.2, S. 4. 147 EuGRZ 1991, S. 397 ff.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Im Zuge der Demonopolisierung des Bildungswesens erkannte schon die tschechoslowakische Verfassung das Recht zur Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen Schulen dergestalt an, daß nach Art. 33 Abs. 3 unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen andere als staatliche Schulen eingerichtet werden durften, wobei diesen Schulen das Recht zustand, ein Schulgeld zu erheben. Ob mit dieser verfassungsrechtlichen Regelung subjektive Rechte im Sinne leistungs begründender Grundrechtsgewährleistungen gesichert werden sollten, erscheint zweifelhaft, weil nach Art. 41 Abs. 1 des Verfassungsgesetzes die in Art. 33 dieser Charta aufgeführten Rechte nur im Rahmen der diese Vorschriften verwirklichenden Gesetze geltend gemacht werden können. Danach dürften das Recht auf Bildung als eine Staatszielbestimmung 148 und die Errichtungsund Unterhaltungsgarantie des Art. 33 Abs. 3 als eine Institutsgarantie zu verstehen gewesen sein, aus denen sich keine positiven, individuellen oder institutionellen Leistungsansprüche ergeben. Mit der Aufspaltung der ehemaligen tschechoslowakischen Republik in zwei souveräne Staaten ging auch der Verfassungsgebungsprozeß auf die beiden Republiken über und führte zur Verabschiedung von zwei unabhängigen Verfassungsurkunden, die beide zum 1. Januar 1993 in Kraft traten. Für die Bildungsreform in der ehemaligen CSFR kam der Grundsatz der Stärkung der Autonomie der Einzelschule und der Verankerung pluralistischer Schulsystemstrukturen von Beginn an eine zentrale Rolle zu, um ein Bildungssystem zu überwinden, in dem ganz in romanisch-napoleonischer Tradition" so die drastische Schilderung mancher Fachleute - im ganzen Land zur gleichen Stunde im gleichen Fach dasselbe zu hören war,,149. Hierbei gingen die Reformbestrebungen deutlich über die Schulverfassungsstrukturen in den meisten westeuropäischen Ländern hinaus. Durch die beiden Schulgesetze aus den Jahren 1990 und 1992 und die entsprechenden Verordnungen wurde der Entscheidungsspielraum der Einzelschule in Budget- und Verwaltungsfragen, bei der Wahl der Schulleitung und hinsichtlich von Gestaltungsräumen bei der Unterrichtsplanung und der Freiheit des einzelnen Lehrers beim Unterrichten und der Gestaltung der Lehrpläne ebenso erheblich erweitert wie die Voraussetzungen für die Schaffung nichtstaatlicher Schulen in freier und kirchlicher Trägerschaft geschaffen 150. Hierbei war wie in den anderen osteuropäischen 148 s. a. Hoskava, Mahulena, Die Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten der CSFR, EuGRZ 1991, S. 369 (373). 149 Czemin, Monika, S. 243. ISO s. hierzu im einzelnen Czemin, Monika, S. 246 ff.; s. a. Paty, Tibor, Reformbemühungen im Erziehungs- und Bildungswesen in Osteuropa - das Beispiel Tschechoslowakei. In: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Die Rolle der Bildung für das Zusammenwachsen in Europa, Loccumer Protokolle 29/1992, S. 23 (26 f.).
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Staaten die Demonopolisierung des Bildungswesens erklärtes Ziel und integraler Bestandteil der Demokratisierungsbestrebungen für das Bildungswesen, die mit der Einführung neuer Lehrpläne und einer "unabhängigen" Schulaufsicht einherging i51 • In der frühen Phase der Umgestaltung des Bildungswesens wurden die Privatschulen, die nicht nur durch die Kirchen, sondern auch von natürlichen Personen aus explizit reformpädagogisch orientierten Gesichtspunkten gegründet wurden, weitgehend finanziert und erhielten Zuschüsse in Höhe von ca. 90 % des Finanzumfangs einer vergleichbaren staatlichen Schule. Aufgrund dieser weitgehenden Bezuschussung war nicht nur das zu erhebende Schulgeld relativ gering, sondern wurde auch das Niveau der Schulen als gut bezeichnet, obgleich einige Privatschulen schon in der Gründungsphase wieder aufgelöst worden sind 152. c) Bildungspolitische Rahmenbedingungen
Die tschechische Bildungspolitik ist seit der politischen Wende stärker als in anderen postsozialistisichen Staaten durch die Prinzipien der Deideologisierung, Demonopolisierung, Dezentralisierung und Pluralisierung geprägt. Hierbei ist insbesondere im Bereich der höheren Bildung die Einführung von Marktprinzipien erklärtes Ziel der Bildungspolitik gewesen. Die Verfassung der tschechischen Republik vom 16.12.1992, die am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist, löst die Grund- und Menschenrechtsfrage dadurch, daß sie durch eine Verweisungsvorschrift (Art. 3 LV.m. Art. 112 Abs. 1 tschechische Verfassung von 1993) den Inhalt der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten von 1991 zu einem integralen "Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung" erklärt l53 , so daß die vorstehend dargestellten Regelungen insbesondere des Art. 33 ihre Bedeutung und Rechtswirksamkeit behalten haben. Ebenso wie die Verfassungsartikel ihre Wirksamkeit erhalten haben, ist auch das Schulgesetz von 1990 in Kraft geblieben, allerdings mit erheblichen Änderungen insbesondere im Jahre 1995. Damit sind Eckdaten einer sich wandelnden bildungspolitischen Diskussion genannt, die in den Jahren 1989 bis 1994 durch eine weitreichende Deregulierungsdebatte geprägt, ab diesem Zeitpunkt aber durch eine umfassende Diskussion über Qualitätssicherung abgelöst wurde. Die grundlegenden Bildungsreformen wurden in Tschechien noch unter Bestehen der CSFR durch das Änderungsgesetz zum Schulgesetz Nr. 171/90, gülPaty, Tibor, S. 27. Paty, Tibor, S. 36. 153 Kahl, Wolfgang, S. 54. 151
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tig vom 3. Mai 1990, und das Gesetz des tschechischen Nationalrates über die Staats- und Selbstverwaltung im Schulwesen Nr.564/1990, gültig vom 13.12.1990, eingeleitet. Mit diesen Schulgesetzen und der (in Tschechien) damit verbundenen Verordnung über die Finanzierung der Privatschulen vom 31.8.1990 (Nr. 379/1990, Teil 64) und den Bekanntmachungen über die Grundschule vom 14.6.1991, über die Privatschule vom 22.7.1991, über die Mittelund Oberschulen vom 7.8.1991, über die Spezial- und Sonderschulen vom 13.9.1991 sowie über die Kirchenschulen vom 30.9.1993 154 wurden nicht nur alle Sekundarschulen "als rechtlich unabhängig anerkannt" und auch den Primarschulen diese Möglichkeit eröffnet, sondern wurde auch die Gründungsfreiheit für kirchliche und private Schulen rechtlich verankert155 • Im Jahre 1997 sind durch eine Novellierung des Bildungsgesetzes die Prinzipien eines pluralistischen und dezentralisierten Bildungswesens mit einer weitreichenden pädagogischen, rechtlichen und ökonomischen Autonomie weiter normativ verankert worden l56 • Die bildungspolitische Diskussion wird dabei überlagert von einer breiten Diskussion über die Qualitätssicherung und Standards und deren Sicherung. Die Reform des tschechischen Bildungswesens ist vor dem Hintergrund zweier spezifischer Rahmenmerkmale zu sehen. Zum einen hat Tschechien ordnungspolitisch einen weitestgehend wirtschaftsliberalen Wandlungsprozeß vollzogen, anderseits ist die Rechtskultur in Tschechien im Gegensatz etwa zur angelsächsischen sehr verrechtlicht. Bei alledem üben die Liberalisierung der Wirtschaftsverfassung und die Anforderungen des Arbeitsmarktes einen starken Einfluß auf die Bildungsreformen aus l57 . Hierbei ist die Bildungsreform durch vier Kernelemente gekennzeichnet, wie wir sie grundsätzlich auch in den anderen postsozialistischen Staaten, jedoch in unterschiedlicher, meistens schwächerer, Intensität finden. Die tschechische Reformpolitik war danach primär auf die Entpolitisierung und Entideologisierung, die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols, die Anerkennung der Rechte der Eltern und Schüler zur freien Wahl der Schule und die grundSätzliche Dezentralisierung des staatlichen Bildungssystems gerichtet und damit in die globalen Strukturwandlungen eingebunden 158. Stärker als in anderen Ländern, auch insbesondere als in der Slowakei, ist dem privaten Schulwesen von Beginn an eine besondere Bedeutung für Rydl, Karei, Vortragsmanuskript 11. 1, S. 2. Pisut, Jan, Erneuerung und Weiterentwicklung unseres Bildungswesens bis zum Jahr 2000. In: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Die Rolle der Bildung für das Zusammenwachsen in Europa, Loccumer Protokolle 29/1992, S. 63 (72). 156 Zur Diskussion hierüber s. a. Rydl, Karei, Länderstudie Tschechische Republik, S.493. 157 Vgl. hierzu OECD, (Hrsg.), Reviews of National Policies for Education - Czech Republic. Paris 1996, S. 21. 158 Vgl. OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 17 (22). 154 155
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den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Wandel zugesprochen worden. Diese Einschätzung beruhte nicht auf einem geschlossenen bildungspolitischen Konzept, sondern war getragen insbesondere von der Hoffnung, durch private Bildungseinrichtungen eine Innovation des gesamten Bildungssystems voranzutreiben i59 . Die bildungspolitische Diskussion seit 1989 ist nicht nur durch eine kontroverse Diskussion zwischen Liberalisten, die die Einführung von Marktprinzipien und eine vollkommene Dezentralisierung befürworteten, und etatistisch orientierten Reformern geprägt gewesen, sondern ist in zwei Phasen zu unterscheiden. Zum einen eine bis 1994 andauernde Phase der Diskussion über die Deideologisierung, Pluralisierung und Demokratisierung des Bildungswesens, die insgesamt grundlegende Reformen auf den Weg gebracht hat. Diese Diskussion hat sich seit 1994 jedoch in eine Diskussion über die Anforderungen an die Qualitätssicherung in einem pluralistischen Bildungswesen gewandelt, die insbesondere durch Besorgnisse über die Qualität des staatlichen Unterrichts ausgelöst wurde 160. Hierbei war ein kritischer Punkt vor allem auch das Rollenverständnis der Schulleiter, die ihre Aufgabe weiterhin mehr als Verwaltungsvorgesetzte denn als Primus inter pares innerhalb eines partnerschaftlichen Kollegiums sahen. Dies führte im Juni 1995 im Rahmen einer Gesetzesänderung zur Einführung von Schulräten (Councils). Diese haben die Aufgabe, das Schulmanagement durch eine stärkere Einbindung der Gemeindevertreter, Eltern und ältere Schüler in grundSätzliche Entscheidungen zu verbessern l61 • Gleichzeitig wurde allen Schulen mit diesem Änderungsgesetz aufgegeben, jährlich einen Bericht über die schulische Arbeit vorzulegen, um der Öffentlichkeit Information über die Qualität der Schulen verfügbar zu machen und Möglichkeiten der Selbstevaluation zu verbessern 162 • d) Selbstverwaltung der staatlichen Schulen
Für die tschechische Republik war eine Umgestaltung des uniformen sozialistischen Bildungssystems mit einer Vielfalt von Schultypen, Lehrplanvarianten und der Umsetzung alternativer und innovativer pädagogischer Unterrichtskonzeptionen auf allen Ebenen des Bildungswesen eine wesentliche Zielvorgabe der Neustrukturierung. Durch die angestrebte Pluralisierung war eine notwendige Dezentralisierung mit einer Stärkung der Einflußmöglichkeiten der Gemeinden und der Selbstverwaltungsmöglichkeiten der staatlichen Schule den Bildungsreformen immanent. So wurde eine Reihe von EntscheidungskomVgl. OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 22 (41 f.) s. hierzu OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 60 f. 161 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 61 (73). 162 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 63. 159
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petenzen auf die regionalen und lokalen Verwaltungsebenen verlagert und den Schulen eine größere Autonomie hinsichtlich der personell-organisatorischen und pädagogisch-konzeptionellen Belange eingeräumt l63 • Diese gewährt den Schulen z. B. einen selbstbestimmten Anteil am Curriculum von ca. 30 %164 und den Gemeinden gern. Art. 12 Abs. 3 lit. d i.V.m. Art. 14 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 564 das Recht, mit Zustimmung des Schulamtes Grundschulen einzurichten und aufzulösen l65 . Gleichzeitig wurde die Aufgabe der Schulaufsicht von einer Kontrollinstanz in eine Beratungs- und Evaluationsinstanz umgewandelt l66 • In diesem Konzept der Stärkung der Selbstverwaltung kam dem Schuldirektor eine zentrale Bedeutung zu, indem ihm sowohl in finanziellen als auch in personellen und verwaltungsmäßigen Fragen eine weitgehende Entscheidungsfreiheit und gleichzeitig Verantwortlichkeit zugestanden und eingefordert wurden. Dementsprechend hatten gern. Art. 3 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 564 vom 13.12.1990 die Direktoren der Schule die Ausgestaltung des Unterrichts aufgrund der Anforderungen der Organe, welche die jeweilige Schule gegründet haben, im Rahmen der allgemeinen Lehrpläne zu regeln. Hierzu gehörte auch das Recht, Lehrer anzustellen und zu entlassen. Diese Rechte sind nunmehr in die Beschlüsse der Schulräte eingebunden. Die Schulen besitzen eine eigene Rechtspersönlichkeit und müssen durch den Schulleiter mit den Kommunen die notwendigen Vereinbarungen über die Schulausstattung treffen. Die pädagogischen Selbstgestaltungsmöglichkeiten der Einzelschule sollen durch ein professionalisiertes Auswahlverfahren abgesichert werden. Danach werden Lehrpläne mit verschiedenen Lehrplanvarianten von Expertenteams ausgearbeitet. Nach der Genehmigung dieser Lehrpläne durch das Ministerium können die Schulen zwischen den verschiedenen Lehrplanvarianten frei wählen. Zu diesen Lehrplänen nimmt seit 1997 ein aus Vertretern der Bildungsverwaltung, den Eltern und Bildungsexperten bestehendes Gremium, der Nationale Rat für Lehrpläne, Stellung. Danach besteht zwar keine umfassende pädagogische oder curriculare Autonomie, doch haben die Schulen ein substantielles Wahlrecht zwischen verschiedenen Unterrichtskonzeptionen.
163 Himmel, Bozena, Private Schulen in der Tschechischen Republik zwischen Euphorie und Ernüchterung, BuE 49/1996, S. 57. 164 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 74. 165 Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in der Tschechoslowakei. In: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Berlin 1993 Bd. 1, S. 407 (427 f.). 166 s. hierzu OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 59 f.
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e) Die Rechtsstellung der Schulen infreier Trägerschajt Die Wiederbelebung des aus der Zeit der 1. Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) existierenden Privatschulwesens und die Wiederaufnahme seiner Traditionen ist ein bestimmendes Merkmal der tschechischen Bildungsreform. Schulen in freier oder kirchlicher Trägerschaft wurden gemäß Erlaß des Schulministeriums vom 22.7.1991 167 unter dort näher bestimmten Bedingungen zugelassen. Gründungsvoraussetzungen für eine Schule in freier Trägerschaft sind die Angabe des Namens und des Betreibers der Schule, der geplanten Anzahl der Klassen und Schüler, die Darlegung des pädagogischen Konzeptes und des Curriculums sowie Nachweise über die notwendigen Qualifikationsabschlüsse des Schulleiters und das Nutzungsrecht für die Räumlichkeiten einschließlich hygienischer Unbedenklichkeitsbescheinigungen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die Schule ihren Betrieb aufnehmen. Zur Förderung der privaten Schulen wurden diese zunächst weitgehend, nämlich mit 90 % der Betrages, den die Staats schulen bekamen, unterstützt. So betrug der Zuschuß für einen Grundschüler im Jahre 1991/923.922 Kronen pro Jahr168 • Allerdings ist beschlossen worden, diese 90-%-Bezuschussung zukünftig auf die Primarschulen und spezielle (Sonder-)Schulen zu beschränken und für die übrigen Schulen auf 80 bzw. 60 % zu senken l69 • Aufgrund dieser Zuschüsse, die gern. Art. 6 Abs.4 des Gesetzes Nr.564 von 1990 durch die örtlich zuständigen Schulämter an die Privatschulen verteilt werden 170, hat sich die Höhe des notwendigen Schulgeldes bei einem Durchschnittseinkommen von ca. 8.000 Kronen mit Beträgen zwischen 300 und 1.500 Kronen pro Monat zwar für Familien mit geringerem Einkommen auch als relativ hoch erwiesen, ist insgesamt aber im Vergleich mit anderen Staaten moderat. Allerdings ist durch die in jüngster Zeit beschlossenen Senkungen der Zuschüsse zu erwarten, daß sich die Belastung der Eltern spürbar erhöhen dürfte l7l , was zu einer Stärkung der Mittelund Oberschichtsorientierung dieser Schulen führen wird. Die Schulen in freier Trägerschaft genießen zwar laut Gesetz die volle wirtschaftliche, rechtliche und verwaltungsmäßige Autonomie, unterliegen aber gern. Art. 57 des Gesetzes Nr. 171 vom 3.5.1990 in pädagogischen Fragen formalrechtlich dem Schulministerium. Rydl konstatiert in diesem Zusammenhang, daß - wie in den anderen postsozialistischen Staaten - die Bemühungen des Staates, die Pluralität des Schulwesens normativ ("von außen") zu forcieren, von innen (seitens der Schulverwaltung) immer wieder auf BeschränkunUcitelske noviny; Nr. 3, 17.1.1995, S. 2. Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten, S. 431. 169 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 69. 170 Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten, S. 428. 171 Himmel, Bozena, S. 66. 167
168
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
gen stößt 172 • Obgleich die Privatschulen eine wachsende Akzeptanz in der Elternschaft verzeichnen können, müssen sie durchaus gegen Widerstände innerhalb der Schulverwaltung ankämpfen, so daß "sehr viel von einzelnen Ministerialbeamten (abhängt und) ... Ministerialbeamte Privatschulen nur als ein "Apendix" des gesamtschulischen Organismus einschätzen ... , (so) daß das Schulministerium bislang nur ein sehr begrenztes Interesse an Privatschulen (mehr Interesse wird Kirchenschulen gewidmet) zeigt und diese bei ihrer Arbeit kaum unterstützt,,173. Gleichwohl ist das Privatschulwesen in Tschechien seit 1990 sprunghaft gewachsen, und die Zahl der Schulen verdoppelt sichjährlich174 • Die OECD-Untersuchung von 1996 bestätigt, daß nichtstaatliche Schulen in Tschechien gegenwärtig über bessere Rahmenbedingungen des Lernens verfügen als staatliche Schulen, so z. B. kleinere Klassen, innovative Lehrmethoden, höher qualifizierte Lehrkräfte 175. Hierin ist sicher ein Grund für die weitreichende Akzeptanz und Nachfrage nach solchen Schulen zu sehen. Die zahlenmäßige Ausbreitung von Privatschulen ist nach Schulstufen sehr unterschiedlich. Während im Grundschulbereich der Anteil nur 1 % beträgt, ist dieser im Sekundarbereich mit 20 % relativ hoch 176• Übereinstimmend sehen gleichwohl alle Autoren den Bereich des nichtstaatlichen Primarunterrichts als sehr gering und zahlenmäßig gar vernachlässigbar an, da dieser als eine Domäne des Staates gilt177 • Rydl gibt die absolute Zahl privater Grundschulen im Schuljahr 1994/95 mit 38 Schulen an 178 . Im Gegensatz zum Primarschulbereich ist der Gymnasialbereich von einem höheren Anteil der privaten Gymnasien geprägt, nämlich 22 % der Schulen und 11 % der Schüler im Schuljahr 1995/96 179 • Der weitaus größte Teil der Privatschulen mit 24 % im Schuljahr 1993/94 18 ca. 35 % im Schuljahr 1994/95 181 und mit heute noch höher liegendem Anteil ist im Bereich der Fachmittelschulen zu finden. Im Bereich der Fachmitteloberschulen geht die OECD im Schuljahr 1995/96 von 36 % der
°,
Rydl, Karei, Vortragsmanuskript, 11.6., S. 10. Rydl, Karei, Vortragsmanuskript, 11.2., S. 4. 174 Himmel, Bozena, S. 60. 175 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 41. 176 Angabe hierzu im einzelnen bei Himmel, Bozena, S. 60 f.; Rydl, Karei, Vortragsmanuskript, 11.3, S. 6; ders., Länderstudie Tschechische Republik, S. 488. 177 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 42. 178 Rydl, Karei, Länderstudie Tschechische Republik, S. 488. 179 OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S.42; ähnlich die Angaben bei Rydl, Karei, Länderstudie Tschechische Republik, S. 488. 180 Himmel, Bozena, S. 62. 181 Rydl, Kare!, Länderstudie Tschechische Republik, S. 488. 172
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11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Tschechien
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Schulen und 17 % der Schüler in privater Trägerschaft aus 182. Für das Jahr 1996 erwarteten Erziehungswissenschaftler, daß jeder dritte Schüler der oberen Sekundarstufe, wozu auch die Fachmittelschulen gehören, eine Privatschule besuchte und dieser Anteil spätestens 1998 die Fünfzig-Prozent-Marke erreichen wird l83 . Dieses sind auch im Vergleich zu anderen postsozialistischen Staaten enorme Wachstumspotentiale, die sicher mit der relativ stabilen bzw. prospertierenden wirtschaftlichen Situation in der Tschechischen Republik zusammenhängen. Für die Nachfrage insbesondere im Sekundarbereich ist danach weniger ein alternatives Unterrichtskonzept ausschlaggebend als vielmehr zusätzliche Angebote und Qualifikationen, die über die auch in diesen Schulen angewandten staatlichen Stundentafeln und Lehrpläne hinausgehen l84 . Allerdings gibt es auch in diesem Bereich nicht nur private Angebotsschulen, sondern zu einem Teil handelt es sich um Schulen mit einer, wenn auch nicht reformpädagogischen Orientierung, so doch starken Elternorientierung, die eine weitreichende finanzielle, konzeptionelle und praktische Mitarbeit der Eltern voraussetzt l85 • f) Die Bedeutung und Rechtsstellung der rejormpädagogischen Schulen
Reformpädagogische Konzeptionen werden in Tschechien weniger in Privatschulen, sondern noch weitestgehend im Status staatlicher Versuchsschulen durchgeführt. Hierbei ist signifikant, daß zwar die Gründungsfreiheit für private Schulen normativ verankert wurde, reformpädagogische Alternativschulen (besser Klassen) jedoch nicht den Status einer Privatschule haben und als solche genehmigt werden, sondern als staatlich anerkannte Versuchsschule im Status einer staatlichen Schule zugelassen sind. Dies gründet darin, daß nicht nur allen Lehrkräften an Privatschulen durch das neue Schulgesetz eine umfassende didaktische und methodische Freiheit eingeräumt wurde, sondern im Jahre 1994 ca. zehn Grund- und Grundsonderschulen, die nach der Waldorf-, Montessori- oder Jenaplanpädagogik gearbeitet haben, als staatlich unterstützte Versuchsschulen vollständig vom Staat finanziert wurden l86 • Von den reformpädagogischen Schulen kommt dabei auch in Tschechien der WaldorfpädOECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 42. Himmel, Bozena, S. 68. Der OECD Bericht setzt diese Zahlen etwas geringer an, indem er davon ausgeht, daß im Schuljahr 1995/96 25 % der Schulen und 13 % der Schüler dem nichtstaatlichen Bereich zuzurechnen sind. 184 Himmel, Bozena, S. 61. 185 s. hierzu Pampuch, Peter, Aufbruch und Konsolidierung - Entwicklungen in der CSFR, Erziehungskunst 1992, S. 369 (370). 186 Rydl, KareI, Vortragsmanuskript, 11.4, S. 7. 182 183
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
agogik eine herausragende Rolle zu. Nach der Einrichtung einer ersten sog. Waldorfklasse im Jahre 1990 in Pisek wurden 1991 weitere Klassen in Pribram und Ostrau und 1992 in Karlsbad, Pardubitz, Prag und Semely gegründet, so daß es im Schuljahr 1995/96 insgesamt 32 "Waldorfklassen" gab 187 • Voraussetzung für eine Bezuschussung ist dabei, daß der der Akkreditierungskommission des Bildungsministeriums vorzulegende Lehrplan mit der Bezeichnung "Ausbildungsprogramm der tschechischen Schule des Waldorftypus", der sich auf die ersten neun Schuljahre bezieht, genehmigt wird. Hierbei ist durch die Struktur des tschechischen Bildungswesens, welches eine 9jährige Grundschule kennt, die Grundschulphase von der Oberstufe getrennt, in der noch keine Erfahrungen vorliegen und in welcher bedingt durch das Berechtigungswesen sich die Akzeptanz des Waldorflehrplans in neuer Dimension stellen wird. Ihre Einbindung als Versuchsschule und die erziehungswissenschaftliche Akzeptanz der Waldorfpädagogik drückt sich auch dadurch aus, daß im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten die Waldorfpädagogik an den pädagogischen Fakultäten der Universitäten Prag und Ostrava als eine pädagogische Richtung im Lehrangebot gleichberechtigt neben anderen vertreten ist und sich die Lehrerrekrutierung daher nicht nur auf eigene berufsbegleitende Waldorflehrerseminare stützt 188. In Tschechien existierten 1996 sieben Waldorfschulen, die vom Kultusministerium mit der Bezeichnung "Tschechische Schule mit Waldorf-Prägung" offiziell anerkannt wurden. Darüber hinaus finden sich im Status staatlicher Schulen aber auch eine Reihe Freier Alternativschulen und Montessorischulen, deren Anzahl 1993 schon 10 bzw. 3 Schulen betrug l89 • g) Die Bedeutung der kirchlichen Schulen
Mit dem politischen Machtwechsel, der Entideologisierung und -monopolisierung des Bildungswesens hat auch in Tschechien eine Renaissance der Schulen in kirchlicher Trägerschaft eingesetzt, die aber in ihrer zahlenmäßigen Bedeutung eher gering ist. So gab es im Schuljahr 1993/94 73 Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Diese erhalten eine den staatlichen Schulen in ihrer Höhe vergleichbare Bezuschussung. Kirchliche Schulen brauchen deshalb im Gegensatz zu den anderen Schulen in freier Trägerschaft keine Schulgeldgebühren zu erheben l90 . Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern orientieren 187 Gerysserova, Magdalena u. a., Zur gegenwärtigen Lage der tschechischen Waldorfschulebewegung, Erziehungskunst 1996, S. 1090. 188 Vgl. Pampuch. Peter, S. 368 (373 f.). 189 Klaßen. Th.F.lSkiera, E. (Hrsg.), Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa. 2. Aufl. 1993, S. 218. 190 Himmel, Bozena, S. 68.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Tschechien
433
sich die katholischen Schulen am staatlichen Lehrplan, ergänzt durch christliche Elemente im Sinne der katholischen Glaubenslehre. Neben den katholischen Kirchen gibt es noch sog. Bruderschulen, die mit ihrem geistigen Ursprung an Comenius anknüpfen und als religiös orientierte Schulen außerhalb der Kirchen verstanden werden können. Diese sind maßgeblich durch reformpädagogische Ideen beeinflußt 191 .
h) Minderheitenschutz im Schulwesen Die wesentlichen Bestimmungen des Schutzes der Minderheiten finden sich schon in Art. 25 der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten der CSFR. Danach wird - unter einem Regelungsvorbehalt des Gesetzgebers - Staatsbürgern, die eine nationale oder ethnische Minderheit bilden, das Recht auf umfassende Entwicklung gewährt, insbesondere das Recht, gemeinsam mit anderen Angehörigen der Minderheit ihre eigene Kultur zu entwickeln, und das Recht auf Erziehung in ihrer Sprache. Diese Recht wurde auf einfachgesetzlicher Ebene zunächst durch die am 1. Juni 1990 in der CSFR in Kraft getretene Novelle des Gesetzes Nr. 17111990, welches das Schulgesetz für Grund- und Mittelschulen von 1984, Gesetz Nr. 2911984, ergänzt und geändert hat, garantiert. Gemäß Art. 3 wird danach den Bürgern der ungarischen, deutschen, polnischen und ukrainischen Nationalität im Umfang ihrer angemessenen Interessen ihrer nationalen Entwicklung das Recht auf Bildung in ihrer Sprache gewährleistet. Das Gesetz des Tschechischen Nationalrates Nr. 564/1990 über die Staats- und Selbstverwaltung im Schulwesen trifft verschiedene organisatorische Regelungen, die die Gewährleistung eines Minderheitenunterrichts unter Berücksichtigung der lokalen Bedingungen und Bedürfnisse sicherstellen sollen 192 . Neben der Unterrichtung von Minderheiten in ihrer Muttersprache im staatlichen Schulwesen ist insbesondere die Errichtung und Unterhaltung fremdsprachiger Privatschulen für die Minderheiten ein wesentliches Mittel zur Wahrung der eigenen Identität, so z. B. eine private Grundschule in Prag mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache 193 • i) Perspektiven und neuere Entwicklungen der Schulveifassung
Die tschechische Schul verfassung ist insgesamt durch eine weitgehende verwaltungsmäßige Selbständigkeit der staatlichen Einzelschule und ein substantielles Maß staatlicher Unterstützung nichtstaatlicher Schulen in freier TräPampuch, Peter, S. 369. s. hierzu Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten, S. 427 f. 193 s. hierzu näher Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten, S. 427, 431. 191
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
gerschaft im Sekundarbereich geprägt. Im Primarbereich ist das Prinzip der gesellschaftlichen Pluralität dagegen defizitär ausgebildet. In diesem Punkt gleicht das tschechische Bildungswesen dem der Bundesrepublik Deutschland und der anderen europäischen Länder, insoweit, als ein deutliches Übergewicht im privaten Sekundarschulwesen im Vergleich zum Primarschulwesen festzustellen ist und der Staat als integrativer Sozialisationsfaktor gesehen wird. Damit verlagert sich die Bedeutung des Privatschulwesens aber wesentlich von der Frage pluralistischer Erziehungsvorstellungen in den Bereich der Wahl privater Schulen wegen deren venneintlich höherer Qualifikation in der Vennittlung von Wissen. In der bildungspolitischen Diskussion in Tschechien läßt sich seit 1994 ein Paradigmenwechsel der Diskussionsebene feststellen. War die Zeit von 1989 bis 1994 durch eine basisorientierte und zuweilen unkoordinierte Dezentralisierungs- und Deregulierungspolitik geprägt, wird seit 1994 allgemein der Aspekt der Qualitätssicherung und der -standards in den Vordergrund gerückt. Die seit 1994 in Tschechien allgemein geführte Diskussion über die Qualitätssicherung betrifft nicht nur das Staatsschulwesen und die dort tätigen refonnpädagogischen Versuchsschulen, sondern auch das Privatschulwesen. In einer 1995 durchgeführten Untersuchung über die Leistungen in staatlichen und nichtstaatlichen Gymnasien zeigte sich dabei, daß zwar große Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen festzustellen waren, diese jedoch nicht einen signifikanten Unterschied zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Schulen erkennen ließen. Im Durchschnitt schnitten allerdings die staatlichen Schulen auf der Basis standardisierter Tests etwas besser ab, während in den nichtstaatlichen Schulen ein liberaleres und weniger streßvolles Lernklima festgestellt wurde l94 • Sieht man die Schlüsselqualifikation nicht in abfragbarem kognitiven Wissen, sondern in Eigenverantwortlichkeit und Kreativität, so legt diese Untersuchung allerdings den Schluß nahe, daß der Persönlichkeitsentwicklung in den nichtstaatlichen Schulen eher Rechnung getragen wird. Gesellschaftspolitisch ist in Tschechien - wie in anderen postsozialistischen Staaten auch - festzustellen, daß nach einer Phase weitreichender pädagogischer Freiheit und gesellschaftlicher Offenheit gegenüber der Waldorfpädagogik sowohl durch die Unterrichts verwaltung als auch seitens der Kirche verstärkt eine kritische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik gesucht wird, die sich insbesondere an Fragen der Wertorientierung und des Leistungsniveaus der Schüler manifestiert l9S • Dementsprechend wurde im Dezember 1996 vom Kultusministerium verfügt, in den folgenden zwei Jahren zunächst
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OECD, (Hrsg.), Czech Republic, S. 62 f. Vgl. hierzu Gerysserova, Magdalena u. a., S. 1090 (1091 ff.).
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Slowakei
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keine neuen Waldorfschulen staatlich anzuerkennen, bis die Arbeit der bestehenden Schulen evaluiert ist l96 • Diese zunehmende kritische Hinterfragung der Schulen in freier ElternLehrer-Trägerschaft unter dem Aspekt der Qualitätskontrolle, die sich am Standard der staatlichen Schule als Kriterium messen soll, betrifft nicht nur die Waldorfschulen, sondern das Privatschulwesen insgesamt und hat seit 1995 zu einer breiten Debatte über den Abbau vermeintlicher Privilegien geführt. Hierbei wird als das gravierendste Problem die Frage der Lehrerqualifikation angesehen, da der Erlaß von 1991 zwar einen Qualifikationsnachweis für den Schulleiter, aber keine verbindlichen Qualifikationen für die Lehrer erfordert, so daß an Privatschulen auch Lehrer ohne pädagogische Qualifikation oder Ausbildung unterrichten können l97 • In vergleichender Perspektive ist dabei von seiten des Ministeriums als Begründung für die Absenkung der Zuschüsse von 90 auf 80 % angeführt worden, es könne nicht angehen, daß die Schulen einerseits wie in den Niederlanden, Dänemark und Schweden eine fast hundertprozentige Finanzierung erhielten, anderseits aber im Gegensatz zu diesen Ländern unkontrolliert arbeiten könnten l98 . Gleichzeitig wird auch nach den Grenzen der Selbstverwaltung der staatlichen Schulen gefragt, wobei nicht nur die Frage der Vergleichbarkeit Gegenstand kontroverser Diskussion ist, sondern auch, ob die Schulleiter durch die schulische Selbstverwaltung in finanziellen, administrativen und personellen Angelegenheiten im Vergleich zu der Aufgabe, pädagogische Innovationen anzuregen und zu begleiten, nicht zeitlich zu stark gebunden werden. 4. Schulverfassung in der Slowakei Ebenso wie die tschechische Verfassung übernimmt die slowakische Verfassung im wesentlichen die Regelungen der gemeinsamen Grundrechtscharta vom 9.1.1991 199 und gewährt den Bürgern neben dem Recht auf unentgeltliche Bildung an Grund- und Mittelschulen nach Art. 42 Abs. 2 Slowakische Verfassung (Slow. Verf.) in Abs.3 das Recht zur Errichtung von nichtstaatlichen Schulen unter durch Gesetz festgelegten Voraussetzungen, wobei an solchen Schulen Entgelt erhoben werden kann. Entgegen der Republik Tschechien verfolgt jedoch die Slowakei eine streng etatistische Bildungspolitik, die nach der 196 Rydl, Karei, Liberale Tendenzen in Tschechien. In: Borchert, Manfred, FlF/F1E Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 3/1997. 197 Himmel, Bozena, S. 66. 198 Nach Himmel, Bozena, S. 66. 199 Zur historischen Entwicklung s. vorstehend den Länderbericht über Tschechien.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Ansicht von Kritikern nationalistisch und zentralistisch ausgerichtet ist und in jüngster Zeit Elemente von Schulvielfalt nicht gefördert, sondern zurückgedrängt hat200 .
a) Autonomietendenzen im staatlichen Schulwesen Die Neugestaltung des staatlichen Schulwesens in der Slowakei beruht auf einfachgesetzlicher Ebene auf dem Schulgesetz vom 26. November 1990, Gesetz des Nationalrates Nr. 542 über die Staatsverwaltung im Schulwesen und die Schulverwaltung, und knüpft damit an die schon während des Bestehens der CSFR durch die am 1. Juni 1990 in Kraft getretene Novelle des Schulgesetzes von 1984, Gesetz Nr. 171 vom 3. Mai 1990, an. Die inhaltliche und organisatorische Neuordnung des Bildungswesens findet ihre Fortsetzung in dem neuen Gesetz zur Primar- und Sekundarbildung, welches am 1. September 1997 in Kraft getreten ist. Kern des neuen Bildungsgesetzes ist im wesentlichen eine im Vergleich zu den etablierten westeuropäischen Bildungssystemen starke Dezentralisierung im Sinne einer weitreichenden Selbstverwaltung der staatlichen Schule. Hierbei war der ausschlagende Gesichtspunkt für die Stärkung der Rechte der Einzelschule weniger der Gedanke einer umfassenden Demokratisierung im Sinne weitreichender Mitsprache- und Entscheidungsrechte etwa der Eltern - vielmehr werden solche Rechte partiell wieder zurückgenommen - als vielmehr eine Stärkung der Effizienz der Schulen durch eine relativ weitgehende verwaltungsmäßige Autonomie der Einzelschule bei gleichzeitig starker Stellung des Schulleiters20l • So wurden die nach der Revolution praktizierten "basisdemokratischen" Formen der Schulleiterwahl, die teilweise durch die Kollegien, teilweise auch unter Einbeziehung eines Wahlrechts für Eltern und Schüler erfolgte, durch ein hierarchisch-bürokratisches Verfahren der SchulleiterbesteIlung seitens der Schulbehörde auf Vorschlag des Schulrats ersetzt. Zu Beginn der 90er Jahre gab es diverse Reformansätze für eine Stärkung der Selbstverwaltung der einzelnen Schule. Diese zielten vor allem auf den personell-administrativen Bereich. Danach durften die Schulleiter selbst Verträge, auch Anstellungsverträge mit Lehrern, unterzeichnen und lösen und frei über das Schulbudget verfügen. Darüber hinaus sollten Schulen im Rahmen eigener Profilbildung frei über den Einsatz von Lehrmitteln entscheiden können und ei-
200 s. hierzu Borchert, Manfred, FJFIFIE Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 3/1998, S. 2. 201 Vgl. Czemin, Monika, Autonomie als Teil der Bildungsreform in Tschechien und der Slowakei. In: Posch, PeterlAltrichter, Herbert, Schulautonomie in Österreich, 2. Aufl. Wien 1993, S. 243 (254 f.); Leonhardt, Anette, Die Bildungsreform in der Slowakei, Die Sonderschule, 39/1994, S. 67 (70).
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Slowakei
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nen Entscheidungsspielraum für spezielle Wahlfachangebote über das Kerncurriculum hinaus haben 202 . Diese Reformschritte scheinen durch die jüngsten bildungspolitischen Entwicklungen revidiert zu werden. So wurde in den Jahren nach 1995 alle alternativen Schulprojekte und die einzige staatliche Alternativschule in Spisska Nova Ves abgebrochen bzw. geschlossen, die unabhängige staatliche Schulaufsicht aufgelöst und wesentliche Teile dem Innenministerium zugeordnet203 . Insgesamt bleibt das slowakische Schulsystem damit einer etatistischen Tradition verhaftet, und so sind insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Dezentralisierung und der Bürgerbeteiligung die Einflußmöglichkeiten auf kommunaler Ebene sehr gering, weil sich das Schulsystem in zentraler Trägerschaft des slowakischen Staates befindet. b) Die Rechtsstellung der Schulen injreier Trägerschajt Von den normativen Rahmenbedingungen her gesehen, ist das slowakische Bildungswesen durch die Abkehr von dem Konzept der bis zur politischen Wende geltenden Einheitsschule geprägt. Die relativ rasche Zunahme des Privatschulwesens nach dem politischen Umbruch auch in der Slowakei wird deutlich, wenn man die verschiedenen Zahlenangaben vergleicht. Während Leonhardt unter Berufung auf Czernim davon ausgeht, daß der Anteil der nichtstaatlichen Schulen 1990 sich auf 46 Schulen in freier oder kirchlicher Trägerschaft belief204 , betrug nach Mason im Jahre 1992 der Anteil schon 102 kirchliche Schulen und 27 freie Schulen205 • Hierbei gelten die Schulen in ihrer Gesamtheit weniger als Ausdruck pluralistischer Bildungsüberzeugungen, sondern als Auffangbecken für "Versager" im staatlichen Schulsystem, was mit der Einschätzung korreliert, daß in der Slowakei etwa im Vergleich zu Tschechien ein eher konservativ-prüfungsbezogenes Schulsystem herrscht206 . In der Slowakei gab es im Jahre 1995 zwei staatlich anerkannte Waldorfschulen in den Städten Martin und Kosice mit einem Status als Schule mit besonderer pädagogischer Prägung zunächst für die Dauer von drei Jahren 207 . Eine alternative Schule in Spisska Nova Ves, die als staatliche Versuchsschule
202 203
Leonhardt, Anette, S. 69. Christenko, Sergej, Slowakei: Bildungspolitische Eiszeit. In: Borchert, Manfred,
FlFIF/E Infonnationen für Mitglieder (Selbstverlag), 3/1997. 204 Leonhardt, Anette, S. 68. 205 Mason, Peter, Gaining independence against all odds, ISIS Magazine Nr. 3, 1993, S.22.
206 207
Vgl. Leonhardt, Anette, S. 68 (70). Maurer, Mathias, Waldorfschulen in der Slowakei, S. 684 (685).
438
E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
vier Jahre im wesentlichen nach den Prinzipien der Waldorfpädagogik gearbeitet hatte, ist dagegen zum Ende des Schuljahres 1994/95 geschlossen worden 208 • Eine staatliche Bezuschussung gibt es für Privatschulen in der Slowakei nicht.
c) Rechte der nationalen Minderheiten in der Schule Die Verfassung der Slowakischen Republik von 1992 erkennt in ihrem Abschnitt über die Rechte der nationalen Minderheiten und der ethnischen Gruppen in Art. 34 der Verfassung vom 1.1.1993 ausdrücklich das Recht zur Bildung und Erziehung in der Muttersprache an und sichert so die schon seit langer Zeit als integraler Bestandteil des staatlichen Schulsystems der ehemaligen Tschechoslowakei bestehenden Schulen vor allem der polnischen, ukrainischen und ungarischen Minderheit209 • Zur Sicherung der Rechte nationaler Minderheiten hat darüber hinaus die neu gewonnene Privatschulfreiheit dergestalt Bedeutung, daß z. B. die deutsche Minderheit eine private Grundschule gegründet hat und betreibt210 • Die rechtliche Verankerung des Minderheitenschutzes211 ist auf einfachgesetzlicher Ebene - da das slowakische Schulgesetz vom 26. November 1996 keine ausdrücklichen Regelungen über den Unterricht in einer anderen als der slowakischen Sprache enthält, durch Rückgriff auf die am 1. Juni 1990 in der CSFR in Kraft getretene Novelle des Gesetzes Nr. 171 vom 3. Mai 1990, welche das Schulgesetz für Grund- und Mittelschulen von 1984, Gesetz Nr. 29/1984, ergänzt und geändert hat, zu sehen. Gemäß Art. 3 wird danach den Bürgern der ungarischen, deutschen, polnischen und ukrainischen (ruthenischen) Nationalität im Umfang ihrer angemessenen Interessen ihrer nationalen Entwicklung das Recht auf Bildung in ihrer Sprache gewährleistet. Der Minderheitenschutz scheint durch die jüngste bildungspolitische Entwicklung jedoch stark gefährdet; so wurden im Jahre 1995 mehrere Schulleiter ungarischer Schulen ihres Postens enthoben, weil sie sich geweigert hatten, Elternversammlungen in slowakischer Sprache abzuhalten 212 •
208
S.2.
Rorchert, Manfred, FlF/F/E Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 311995,
209 s. Hrabinska, Maria, Die Bildung und Erziehung der Angehörigen der offiziell anerkannten Minderheiten in der Tschechoslowakei unter besonderer Berücksichtigung in der Slowakei, PSOW 4111993, S. 34. 210 Hrabinska, Maria, S. 34 (35). 211 s. hierzu Hoskava, Mahulena, Die rechtliche Stellung der Minderheiten, S. 426 ff. 212 Rorchert, Manfred, FlF/F/E Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 311995, S. 1.
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Rußland
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d) Entwicklungsperspektiven der Schulverfassung
Eine kritische Einschätzung der slowakischen Schulverfassung muB entgegen der nationalstaatlichen Selbstdarstellung etwa durch die nationale Informationsstelle der Slowakei von Eurydice, wonach die Slowakei nunmehr durch die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols und einen Bildungspluralismus geprägt sei 2l3 , davon ausgehen, daß das slowakische Schulsystem zunehmend zumindest inhaltlich re zentralisiert und der pädagogische Spielraum, ungeachtet der fehlenden materiellen Unterstützung für alternative Schulkonzeptionen, beschränkt wird, so daß von einer bürgerschaftlichen Schulverfassung nicht gesprochen werden kann. S. Schulverfassung in der Russischen Föderation In den Staaten der GUS kommt der Entwicklung des Bildungswesens in Rußland eine zentrale Bedeutung zu. Aus diesem Grunde und der Tatsache, daß sich die vergleichende Forschung angesichts der möglichen Informationsquellen im wesentlichen auf die russische Entwicklung stützt, soll und muB auch in diesem Rahmen die nähere Darstellung auf Rußland beschränkt bleiben. Hierbei ist jedoch festzuhaIten, daß der westeuropäische Einfluß in den Staaten der GUS weit über Rußland hinaus reicht. So wird z. B. selbst an der staatlichen Schule Nr. 10 in der Stadt Ust-Kamenogorsk in Kasachstan in einem Schulzug als "Deutsche Abteilung" in sechs deutschsprachigen Klassen nach den Grundsätzen der Waldorfpädagogik unterrichtet. In dem Bildungsgeschehen der GUS-Staaten ist insbesondere das Recht der Unterrichtsfreiheit in den verschiedenen Bildungsgesetzen normativ gewährt. So garantieren Art. 16 des ukrainischen Bildungsgesetzes vom 23.5.1991, Art. 29 des Bildungsgesetzes der weißrussischen Republik vom 23.10.1991, Art. 5 des Bildungsgesetzes der Republik Kasachstan vom 18.1.1992 und Art. 38 des Bildungsgesetzes der Republik Usbekistan vom 2.6.1992 allesamt das Recht zur Gründung von Bildungseinrichtungen durch natürliche oder juristische Personen des Privatrechts. Analog dem russischen Bildungsgesetz erhalten in allen diesen Staaten die anerkannten staatlichen und nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen den Rechtsstatus einer juristischen Person und verfügen so z. B. über ein eigenes Budgetrecht und die Befugnis, in eigenem Namen Verträge abzuschließen.
213 Slowkische Informationsstelle von Eurydice. In: Europäische Kommission (Hrsg.), Le Magazine, Allgemeine und berufliche Bildung in Europa, 711997, S. 12.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
a) Der Strukturwandel vom sowjetischen zum russischen Bildungswesen Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Zerbrechen des Machtmonopols der kommunistischen Partei in allen Lebensbereichen ist zwangsläufig auch ein Strukturwandel des Bildungswesens einhergegangen, der den allgemeinen Tendenzen der Demonopolisierung, Demokratisierung und Pluralisierung in den osteuropäischen Staaten insgesamt entspricht. Das sowjetische Bildungswesen war durch eine extreme Zentralisierung, Reglementierung und Bürokratisierung geprägt214 , durch das zwar in den Anfängen auch "eindrucksvolle Bildungsergebnisse" wie die fast vollständige Beseitigung des Analphabetentums erzielt werden konnten 215 , doch gleichzeitig war das sowjetische Bildungssystem vor dem Hintergrund der besonderen ethno-kulturellen Vielfalt seiner Bevölkerung durch seine zentralistisch-doktrinäre Struktur ein besonderes Instrument zur Nivellierung und Unterdrückung der vielfältigen nationalen, regionalen und lokalen kulturellen Identitäten 216 • Dies war u. a. ein Grund dafür, daß sich schon in den frühen achtziger Jahren erste Reformbestrebungen entwickelten, um auf massive Fehlentwicklungen innerhalb des sowjetischen Bildungssystems zu reagieren 217 . Ihren Grund hatten diese Fehlentwicklungen nicht nur in der Instrumentalisierung der Schule als Indoktrinationsmedium für den Ideologietransfer der kommunistischen Partei, sondern in einer völligen Überfrachtung der Unterrichtsinhalte mit zu reproduzierendem Fachwissen. Dies hat dazu geführt, daß "Unterricht, so wie er sich über Jahrzehnte an der sowjetischen Schule herausgebildet hatte, ... nicht die Ausbildung individueller Fähigkeiten jedes Schülers in den Mittelpunkt (stellte), sondern eine formale Erfüllung zentral verordneter Lehrpläne durch
214 s. hierzu insbesondere Hilkes, Peter, Bildung und Erziehung im Spannungsfeld nationaler Beziehungen: das Beispiel Estland. In: Anweiler, Oskar (Hrsg.), Systemwandel im Bildungs- und Erziehungswesen in Mittel- und Osteuropa. Berlin, 1992, S. 35 ff.; Kuebart, Friedrich, Rußland. In: Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Bildungssysteme in Europa, 4. Auf!. WeinheimIBasel 1996, S. 165 (166 f.); Shadrikov, Vladimir D., Bildungspolitik im Spannungsfeld nationaler Vielfalt und staatlicher Einheit. In: Schleicher, Klaus (Hrsg.), Zukunft der Bildung in Europa. Darmstadt 1993, S. 279 ff.; Virkus, Rein, Die Schulerneuerung in Estland. In: Anweiler, Oskar (Hrsg.), Systemwandel im Bildungs- und Erziehungswesen in Mittel- und Osteuropa. Berlin, 1992, S. 45 ff. 215 Shadrikov, Vladimir D., S. 279 (284 f.). 216 s. hierzu Rajangu, Väino, Das Bildungswesen in Estland - Grundlagen - Tendenzen - Probleme, Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. KölnlWeimarlWien 1993, S. 57, (141); Shadrikov, Vladimir D., S. 281; Hilkes, Peter, S. 35 (36 ff.); Virkus, Rein, S. 45 (46). 217 Bandau, SusannelPhilipovski, Valentin, S. 136, nennen als die wesentlichen "Unzulänglichkeiten" u. a. Wert- und Orientierungs verlust bei Schülern und Lehrern, mangelnde Motivation, Schulversagen, Sucht- und Disziplinierungsprobleme.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Rußland
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vorrangige Stoffvennittlung und Abrechnung,,2I8, die mit der Lebenswelt der Schüler nicht übereinstimmte 219• Da ein solches Bildungssystem zwangsläufig Schulversagen und Desorientierung zumindest für solche Schüler produziert, die diesen Anforderungen nicht genügen, ist schon auf dem Volksbildungskongreß Ende 1988 eine "Demokratisierung und Humanisierung der Schule" gefordert worden. Eine Humanisierung der Schule setzte aber die Aufnahme von Bildungstheorien voraus, in denen insbesondere die Erfahrung selbständiger, schöpferischer und über die Regelhaftigkeit von Situationen hinausgehender Handlungsmöglichkeiten und emotional-wertender Einstellungen gegenüber der Umwelt gleichberechtigt neben den kognitiven Kenntnissen steht22o . Die Kritik war dabei keinesfalls nur auf das alte sowjetische System mit dem Ziel der Transformation westlicher Bildungsstrukturen begrenzt, sondern suchte nach einem neuen Verständnis der Kulturentwicklung, das über den in Westeuropa herrschenden Typus der "Wissensschule" hinausgeht und diesen als defizitär erkenne21 . So fordert Shadrikov neben der Akzeptanz ethno-kultureller Bedürfnisse und Vielfalt im Kontext einer universellen Weltorientierung "eine neue Bildungskonzeption. Verlangt wird von uns eine neue bewußte und vernünftige, zugleich emotional-menschliche und letztlich eine geistig-moralische Umgestaltung unseres technisch erweiterten und sozial verarmten Daseins ... Bildung darf nicht länger nur ein Mittel zur Aufklärung des Individuums sein, sondern muß eine Strategie zur Kulturentwicklung und zur Ausformung eines Weltverständnisses werden, das den Einzelmenschen einschließt,,222. Daher sollten schöpferische Aneignung und Arbeit zentrale Grundlage einer Bildungspolitik sein, in deren Mittelpunkt und Zielorientierung eine "Kultur der Selbstbestimmung und Weltorientierung" steht223 , um von einer "autoritären ... eine Hinwendung zu einer situations- und schülerbezogenen Pädagogik" zu ermöglichen 224 . So wird allgemein das Ziel der inhaltlichen Schulreform in einer "humanistischen Erziehung" gesehen, die sich am Grundsatz des weltanschaulichen Pluralismus orientiert225 • 218 219
Bandau, Susanne/Philipovski, Valentin, S. 136. Rajangu, Väino, S. 141: "Beispielsweise mußten sich Schüler in Estland mit Wü-
stentieren beschäftigen, während sie von den Tieren ihres Heimatortes nichts erfuhren. Man könnte viele analoge Beispiele bringen ... " 220 Vgl. Bandau, Susanne/Philipovski, Valentin, S. 136 f. 221 Shadrikov, Vladimir D., S. 281 f. 222 Shadrikov, Vladimir D., S. 287. 223 Shadrikov, Vladimir D., S. 289. 224 Shadrikov, Vladimir D., S. 294. 225 Zur Reformpolitik bis 1992 s. näher die Darstellung bei Jenkner, Siegfried, Reform der Schulverfassung in Rußland - Entwicklungen und Probleme, ZBV 1993, S. 16; zur Neurorientierung der russischen Bildungspolitik s. a. Fuchs, Jochen, Jeder zweite Jugendliche in Rußland hofft auf Berufschancen im Ausland - Erziehung im postkommunistischen Rußland, DLZ 32/33 1995, S. 16.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens b) Die rechtlichen Grundlagen der Reform des russischen Bildungswesens
Die rechtliche Ordnung der Schulverfassung war durch das Anliegen geprägt, neben einer Reform der Schulinhalte im Sinne einer Deideologisierung des Unterrichts auch eine strukturelle Schulreform zu erreichen, um mit der Abschaffung des staatlichen Schulmonopols und der Verankerung von Schulvielfalt marktwirtschaftliche Elemente im Bildungswesen zur Geltung zu bringen, welches explizite Reformziele der postsozialistischen Politik unter Präsident Jelzin waren. Hierzu gehört neben der Zulassung von Schulen in freier/privater Trägerschaft eine weitgehende Selbständigkeit der staatlichen Schulen in der Abkehr von zentralistischen Steuerungsmodellen. Die im russischen Bildungsgesetz zum Ausdruck kommenden Reformbestrebungen haben dabei einen so grundlegende Paradigmenwechsel impliziert, daß sie nicht nur mit ihrer staatsrechtlich pluralistischen und liberalen, sondern vor allem wegen der auf die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in das Bildungswesen ausgerichteten Orientierung international besondere Aufmerksamkeit gefunden haben 226 • Mit Dekret Nr. 1 vom 12.7.1991 von Präsident Boris Jelzin wurde in der russischen Föderation rechtlich die Möglichkeit der Etablierung nichtstaatlicher Schulen geschaffen. Dieses Recht fand seine gesetzliche Grundlage später in dem allgemeinen Erziehungsgesetz vom 10. Juli 1992, indem das Recht zur Gründung und Unterhaltung von nichtstaatlichen Schulen sowie die Verpflichtung des Staates zur finanziellen Subventionierung dieser Schulen normiert wurden. Während durch den Erlaß von 1991 und das Bildungsgesetz von 1992 schon frühzeitig auf administrativem und einfachgesetzlichem Wege die Grundlage für eine Neuordnung des Bildungswesens geschaffen wurden, wurde die verfassungsrechtliche Regelung des Bildungswesens erst durch die Russische Verfassung (Russ. Verf.) vom 12. Dezember 1993 geschaffen, die jedoch in der Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit weit hinter dem Bildungsgesetz und den Standards westeuropäischer Verfassungen zurückbleibt. So garantiert Art. 43 Russ. Verf. zwar das Recht auf Bildung und den allgemeinen und kostenlosen Zugang zur vorschulischen, mittleren allgemeinen und beruflichen Bildung in staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen, doch ist damit weder eine Gründungsgarantie noch ein Anspruch auf staatliche Leistungen für Schulen in freier Trägerschaft verfassungsrechtlich als Grundrecht festgeschrieben. Demnach besteht für den Gesetzgeber die Möglichkeit, durch die Änderung der einfachgesetzlichen Grundlagen in die Existenz nichtstaatlicher Schulträger und
226
Kuebart, Friedrich, Rußland, S. 165 (188).
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das Recht der Unterrichtsfreiheit einzugreifen 227 . Hieran ändert materiellrechtlich auch die Tatsache nichts, daß Art. 43 Abs. 4 Russ. Verf., wonach die Eltern die Pflicht haben sicherzustellen, daß die Kinder eine allgemeine Grundbildung erhalten, nur eine Unterrichts- statt einer Schulpflicht normiert, die es ihnen zwar ermöglicht, die Kinder zu Hause zu erziehen, jedoch keine Leistungsansprüche gewährt oder beinhaltet. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Art. 43 Abs. 2 ist zudem problematisch, weil diese nicht die obere Sekundarstufe mitumfaßt und sich daher hieraus kein grundrechtlicher Anspruch auf kostenlosen Zugang zu dieser Schulstufe herleiten läßt. Aufgrund der durch das Bildungsgesetz von 1992 den Schulen gewährten Autonomie auch bei der Schulaufnahme und des Schulbudgets, ist es daher wiederholt und in erheblichem Umfang vorgekommen, daß staatliche Schulen Schulgeld für die obere Sekundarstufe erhoben oder aber auch Schüler aus sozial selektiven Gesichtspunkten zurückgewiesen haben. Neben Indifferenzen im Verhältnis verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Gewährleistungen ist das russische Bildungswesen gegenwärtig jedoch vor allem durch ein eklatantes Auseinanderfallen von Verfassungs-/Gesetzesanspruch und Verfassungs-/Gesetzesrealität geprägt. Dies soll im folgenden an den verschiedenen Regelungen des russischen Bildungsgesetzes näher dargelegt werden, deren Implementation sich als äußerst widersprüchlich zeigt. Grundlage ist hierbei das Bildungsgesetz von 1992, welches im Jahre 1996 zwar novelliert wurde, aber in den wesentlichen Aussagen unter den hier in Frage stehenden Gesichtspunkten unverändert geblieben ist. c) Die Grundzüge des Bildungsgesetzes von 1992
Das Russische Bildungsgesetz (Russ. BildungsG) vom 12. Juli 1992 ist in seiner Gesamtheit durch eine grundlegende Abkehr von den zentralistisch und ideologisch geprägten Bildungsvorstellungen der sowjetischen Zeit und durch weitgehende Liberalisierungsgedanken geprägt. So formuliert Art. 2 des Gesetzes eine humanitäre Menschenbildung und die freie Entwicklung der Persönlichkeit als Prinzipien der Staatspolitik, die den Grundsätzen der Freiheit und des Pluralismus im Bildungswesen verpflichtet ist. Das Gesetz geht innerhalb der staatlichen Rahmenvorgaben von einer weitreichenden Autonomie - auch im Rechtssinne - der einzelnen Lehranstalten aus, die sowohl eine eigene
227 Zur Problematik s. auch die kritischen Erörterungen bei Glenn, Charles, Educational freedom in Eastem Europe, S. 227 (228 ff.); de Grooj(Hrsg.): Educational Policy in Russia and its Constitutional Aspects. LeuvenlAmmersfort 1994; Jenkner, Siegfried, Reform der Schul verfassung in Rußland, S. 16 (23 f.); s. hierzu ferner Kuebart, Friedrich, Rußland, S. 165 (188); ders., Demokratisierung und Privatisierung in der russischen Bildungsreform: ein Blick "von außen", TC 1996, S. 56 (61).
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Rechtspersönlichkeit als auch substantielle Selbstverwaltungs- und pädagogische Selbstgestaltungsmöglichkeiten (eigenes Budgetrecht, Einstellung und Entlassung der Lehrkräfte durch den Schulleiter) besitzen, obgleich das Gesetz in diversen Punkten diesbezüglich Schwachstellen beinhaltet. Schließlich ist das Gesetz auch von einer Verlagerung der Entscheidungskompetenzen von der zentralstaatlichen Ebene hin zu den regionalen und kommunalen Körperschaften geprägt, worin jedoch nicht nur eine Bürgernähe, sondern zugleich die Möglichkeit der Behinderung von Reformbestrebungen durch nicht kooperative lokale Schulverwaltungen gegeben ist. Neben einer normativen Verselbständigung der Einzelschule erkennt das Gesetz gleichzeitig das Recht auf Bildung gern. Art. 5 Abs. 1 Russ. BildungsG an und konkretisiert dies durch die Gewährleistung einer kostenlosen Allgemeinbildung in staatlich-kommunalen Einrichtungen gern. Art. 5 Abs. 3, das Recht auf freie Wahl des Bildungsweges gern. Art. 50 Abs. 2 und 52 Abs. 1, das Recht auf Gründung nichtstaatlicher Bildungseinrichtungen gern. Art. 11 Abs. 1 sowie die Erstattung der Ausgaben an Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten (Art. 40 Abs. 8) sowie der Kosten des Besuchs einer anerkannten Privatschule gern. Art. 5 Abs. 4 Russ. BildungsG228 • Hierbei zeigen die konkreten Ausprägungen jedoch, daß der Grundsatz einer Unterrichtspflicht statt einer Schulpflicht keinesfalls nur persönlichkeitsfördernde Implikationen beinhaltet. Eine Unterrichts- statt einer Schulpflicht muß - wie in Rußland - dort auf gravierende Bedenken stoßen, wo die soziokulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in der konkreten historischen Situation hierfür nicht gegeben sind. So besuchen allein in St. Petersburg ca. 20.000 Kinder keine Schule, allein in zwei sozialproblematischen Stadtteilen jeweils 7.000 Kinder. In diesen Fällen ist die Einführung einer Unterrichtspflicht statt einer Schulpflicht alles andere als ein Garant für eine freiheitliche Persönlichkeitsentfaltung, sondern begünstigt aufgrund der extrem schlechten wirtschaftlichen Situation Kinderarbeit in jedweder Form. Zudem gelten mehr als 90 % der Kinder als infolge von Mangelernährung etc. gesundheitlich gefährdet bzw. beeinträchtigt, weshalb dem Gesundheitsaspekt z. B. im Rahmen der staatlichen Attestierung von Schulen ein besonderer Stellenwert zukommt. In diesem Zusammenhang muß aber auch berücksichtigt werden, mit welcher Kraft Lehrer trotzdem versuchen, bei einem Durchschnittseinkommen von ca. 150 $ im Monat und oftmaliger Ausübung einer weiteren Tätigkeit bis in die Nacht, dem Recht des Kindes auf Entfaltung seiner Persönlichkeit beizustehen. Der aktuelle Zustand des russischen Bildungswesens wird weniger durch die bestehenden gesetzlichen Regelungen und Vorgaben als vielmehr durch die
228
s. hierzu auch Jenkner. Siegfried. Reform der Schulverfassung in Rußland. S. 16
(19 f.).
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finanziellen Gegebenheiten bestimmt, so daß stabile Finanzierungsverhältnisse als erst noch zu schaffende Voraussetzungen für die Umsetzung der normativ festgelegten Bildungsreform angesehen werden müssen 229 • In keinem anderen europäischen Land scheint eine derart eklatante Kluft zwischen Verfassungsund Gesetzesanspruch und der Realität zu herrschen wie in Rußland. (I) Rechtliche Grundlage für Selbstverwaltungsmöglichkeiten im staatlichen Schulwesen
Das Russische Bildungsgesetz von 1992 erklärt in Art. 2 Buchst. f die Autonomie der Lehranstalten zu einem der grundlegenden Prinzipien der Staatspolitik auf dem Gebiete der Bildung. Dieser Grundsatz der Autonomie entspricht auch im rechtlichen Sinne die Rechtsstellung der staatlichen Schulen, als diese nämlich etwa im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo Schulen nichtselbständige Anstalten des öffentlichen Rechts sind, den Status einer juristischen Person haben und damit eine eigenständige Rechtsperson darstellen. Hierbei muß jede Schule gern. Art. 13 Russ. BildungsG ein eigenes Statut erarbeiten, in dem neben der organisatorischen Struktur auch die wesentlichen Ziele des Unterrichts in der Art eines Schul programms festgelegt werden. An staatlichen Schulen besteht ein relativ weiter Gestaltungsspielraum für die einzelne Schule, der innerhalb der in den Art. 14 und 15 Russ. BildungsG festgelegten allgemeinen Anforderungen an die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts erhebliche Freiräume zur Eigengestaltung gewährt und es ihnen ermöglicht, im Rahmen der staatlich vorgegebenen Standards spezifische Profile und Zusatzangebote einzurichten. Zur Selbstverwaltung der Schule gehört danach gern. Art. 32 Russ. BildungsG auch das Recht, Bildungsprogramme und Lehrpläne in Abstimmung mit den Organen der lokalen Selbstverwaltung zu erstellen. Darüber hinaus haben die Schulen das Recht der selbständigen Gestaltung des Bildungsprozesses in Einklang mit dem Statut der Lehranstalt, der Lizenz und dem Akkreditierungszeugnis, welches jede Schule, ob staatlich oder nichtstaatlich, erhalten muß. Dies hat seinen Grund darin, daß die zentralen Rahmenlehrpläne in der Vorgabe der Unterrichtsziele sehr allgemein gehalten sind und der einzelnen Schule damit inhaltlich und methodisch eine weitgehende Freiheit gewähren, so daß mehr als 70 % der Schulen gegenwärtig ein differenziertes Schulprogramm hinsichtlich des Unterrichtsprofils, der Stundenpläne und der Art der Durchführung der Abschlußprüfungen anbieten 23o •
229 s. hierzu auch Bandau, SusanndSmimov, Igor B., Rußland. In: Döbert, Hans/ Geißler, Gert (Hrsg.), Schulautonomie in Europa. Baden-Baden 1997, S. 315 (320). 230 Bandau, SusanndSmimov, Igor B., S. 321 (323).
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Da zudem die Lehrer gern. Art. 55 Abs. 4 Russ. BildungsG das Recht haben, die Methoden des Unterrichts sowie die Lehrmittel, Materialien, Bücher und auch die Methoden der Bewertung frei zu wählen und zu benutzen, bestehen normativ gesehen erhebliche Freiräume in der Unterrichtsgestaltung 231 • Schulbücher bedürfen keiner Genehmigung durch die Behörden, Schulen können die Lerninhalte zumindest teilweise selbst bestimmen, und die Eltern haben die Möglichkeit der inhaltlichen Mitgestaltung des Lehrprogramms 232 • Das Gesetz gewährt den Schulen gern. Art. 32 Russ. BildungsG eine weitreichende Selbstverwaltung. Hierzu gehört auch das Recht, autonom über die Auswahl des pädagogischen und sonstigen Personals zu entscheiden. Ferner verfügen die Schulen gern. Art. 43 Russ. BildungsG über ein eigenständiges Bestimmungs- und Verfügungsrecht für die Verwendung ihrer Finanz- und Sachmittel. Dies umfaßt auch das Recht einer eigenständigen Kontoführung sowie der Übertragung von unverbrauchten Mitteln auf das nächste Haushaltsjahr sowie das Recht, zusätzliche Mittel zu erwirtschaften. Als problematisch wird im Rahmen dieser Selbständigkeit der Einzelschule jedoch die Sicherung der sozialstaatlichen Grundversorgung anzusehen sein, da es aufgrund der Verfassungsrechtslage und der Rechtsstellung der Einzelschule nach dem Bildungsgesetz möglich ist, daß auch staatliche Schulen einen Teil ihrer Leistungen - sofern sie über die Mindeststandards hinausgehen - kostenpflichtig anbieten233 und damit der freie Zugang zu den staatlichen Bildungseinrichtungen beschränkt wird. Dementsprechend gibt es im staatlichen Schulwesen neben "normalen" Stadtteilschulen besondere Eliteschulen, die nach einer Auswahlprüfung Kinder aus verschiedenen Stadtteilen aufnehmen. In diesen Schulen ist zwar auch der Kernunterricht kostenlos, doch dürfen und werden für zusätzliche Leistungsangebote, die für eine fundierte Ausbildung unverzichtbar sind, von den Eltern Schulgebühren erhoben. Darüber hinaus werden diese Schulen von Eltern gesponsert, indem z. B. von diesen die Kosten für die Anschaffung von Computern getragen werden. Ungeachtet dessen bestehen aber vor allem auch pädagogische Freiräume, die es ermöglichen, alternative Unterrichtsformen im staatlichen Schulwesen zu praktizieren. Diese weitreichenden Freiräume erklären auch, weshalb es z. B. "staatliche Waldorfschulen" gibt bzw. in etlichen Klassen in staatlichen Schulen nach den Grundsätzen der Waldorf-, Tolstoi- oder der Montessoripädagogik unterrichtet wird. Diese Schulen nehmen zwar wesentliche Elemente ihrer pädagogischen Grundrichtung auf, sind jedoch aufgrund der gegenüber nichtstaat-
231 S. hierzu auch Jenkner, Siegfried, Reform der Schulverfassung in Rußland, S. 16 (20 f.). 232 Fuchs, Jochen, S. 16. 233 s. a. Kuebart, Friedrich, Rußland, S. 165 (175).
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lichen Schulen weitergehenden Eingebundenheit in die staatliche Schulaufsicht einem stärkeren Anpassungsdruck an die Struktur des staatlichen Schulwesens ausgesetzt und müssen insofern z. B. hinsichtlich des Beurteilungswesens bestimmte Kompromisse eingehen. Auch an den "staatlichen" Waldorfschulen müssen Eltern ein sog. "freiwilliges" Schulgeld bezahlen, um das über das Kerncurriculum hinausgehende Unterrichtsangebot abzudecken. Diese freiwilligen Zahlungen bewegen sich z. B. in St. Petersburg zwischen 8 und 25 $ monatlich. Sie sind notwendig, da nach dem zugrundeliegenden Berechnungsschlüssei für staatliche Schulen z. B. nur zehn der tatsächlich beschäftigten zwanzig Lehrer bezahlt werden. Zudem ist die Lehrerbesoldung, für die den Schulen das Geld zugewiesen wird, wesentlich an einen Berechnungsschlüssel gekoppelt, der sich aus den Faktoren Schülerzahl, Dienstzeit, Diplom und Bewertung durch die Schulaufsicht (Inspektion) zusammensetzt. Da z. B. eine der drei Waldorfschulen in St. Petersburg mit einer durchschnittlichen Schülerzahl von 24 Kindern in den Klassen 1 bis 5 relativ klein ist und viele Lehrer entweder nur über eine geringe Dienstzeit oder aber anderweitige Hochschulabschlüsse verfügen, die für die Besoldung niedriger eingestuft werden, decken die zugewiesenen Gelder für vergleichbare staatliche Schulen nicht den Etat der Schulen. Die Schulen dürfen jedoch insoweit, um nicht ihren Status als staatliche Schule zu verlieren, nur freiwillige Leistungen der Eltern in Anspruch nehmen. Gleichwohl ist festzuhalten, daß die Freiräume der einzelnen Schule im wesentlichen von den vorgegebenen Mindeststandards und dem Einvernehmen mit den Organen der lokalen Selbstverwaltung abhängig sind. Diese wurden schon im Jahr 1993 durch die Einführung eines Basis-Lehrplans für allgemeinbildende Schulen in weiten Teilen festgelegt 234 und sind Gegenstand der gegenwärtigen Debatte über eine Qualitätssicherung und Vereinheitlichung des Bildungswesens. Zudem wird darauf hingewiesen, daß die sehr differenzierte und komplizierte Kompetenzzuweisung und Abgrenzung zwischen der Russischen Föderation und den Republiken, Regionen, Städten und autonomen Kreisen in den Art. 28 bis 31 des Bildungsgesetzes zu einem überlappenden und zu wenig flexiblen System von Zuständigkeiten geführt habe, das sich für eine Demokratisierung des Bildungswesens im Sinne von Schulvielfalt eher hinderlich erwiesen habe235 • Das gegenwärtig problematische Verfahren in diesem Zusammenhang ist das sog. Attestierungs- und Akkreditierungsverfahren, welches jede Schule durchlaufen muß. Die Schulaufsicht wird danach gern. Art. 38 Russ. BildungsG durch einen neu errichteten staatlichen Attestierungsdienst durchgeführt, der
234 235
Jenkner, Siegfried, Reform der Schul verfassung in Rußland, S. 16 (25). Glenn, Charles, Educational freedom in Eastem Europe, S. 227 (231 ff.).
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gleichennaßen für staatliche wie private Schulen zuständig ist und überprüft, ob die zentral staatlichen Vorgaben in Fonn der Rahmenstundentafeln und der vorgegebenen Mindeststandards sowie die Versetzungs- und Prüfungsbestimungen eingehalten werden. Das Attestierungs- und Akkreditierungsverfahren, dessen Ablauf und Besonderheiten im nachfolgenden dargestellt werden, ist Voraussetzung für staatliche Zuschüsse unabhängig von der Trägerschaft der Schule. Hierbei gelten Schulen, die sich bei Inkrafttreten des Bildungsgesetzes in staatlich-kommunaler Trägerschaft befanden, durch Erlaß des Bildungsministeriums bis zum Abschluß der Attestierung und Akkreditierung als akkreditierten Schulen gleichgestellt, da das Ziel, alle Schulen innerhalb von 5 Jahren zu attestieren und zu akkreditieren, ansonsten nicht verwirklicht werden könnte. Für den Zustand des russischen Bildungssystems ist allerdings signifikant, daß z. B. staatliche Schulen, obgleich sie gute Attestierungsergebnisse im Rahmen der schulischen Leistungen vorweisen können, keine Akkreditierung erhalten, weil entweder die baupolizeilichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden können, oder aber die kommunale Behörde nicht in der Lage ist, die Gebühren für die Attestierung und Akkreditierung, die an eine andere Behörde geleistet werden müssen, aufzubringen. Des weiteren wird der Zweck des Akkreditierungsverfahrens, nur solche Schulen staatlich zu bezuschussen, die hinreichende Leistungen vorweisen können, dadurch konterkariert, daß selbst Lehrer von akkreditierten staatlichen Schulen auch noch im Jahre 1997 oft über Monate hinaus keine Gehälter erhalten haben. (2) Das Verfahren der Lizensierung, Registrierung, Attestierung und Akkreditierung Das Verfahren der sog. Lizensierung (Zulassung zum Unterrichtsbetrieb), welches sich in die Stufen der Registrierung, Attestierung (Begutachtung) und Akkreditierung (Genehmigung, Berechtigungen zu erteilen) unterteilt, ist das Herzstück der russischen Bildungsrefonn zur Qualitätssicherung eines neustrukturierten und inhaltlich reformierten Bildungswesens. Es wird mit einem hohen personellen und sachlichem Aufwand betrieben, der allein darin zum Ausdruck kommt, daß sich alle Schulen diesem Verfahren innerhalb von 5 Jahren unterziehen müssen. Hierbei wird für bestehende staatliche Schulen schwebend eine Lizensierung bis zur Durchführung des jeweiligen Beurteilungsverfahrens fiktiv vorausgesetzt. Die Vorschrift des Art. 33 Russ. BildungsG von 1992, dessen Wirksarnwerden bis Mitte der 90er Jahre an dem Nichtbestehen der zuständigen Attestierungseinrichtungen scheiterte und dazu führte, daß mangels Attestierungsbe-
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hörde nichtstaatliche Schulen auch keine Zuschüsse bekommen konnten 236 , setzt zunächst gern. Abs. 1 die Registrierung der aus eigener Initiative oder von Organen der lokalen Selbstverwaltung geschaffenen Lehranstalt voraus. Diese darf gern. Abs. 2 nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit verweigert werden, und dem Gründer steht ein einklagbares subjektives Recht gegen eine etwaige Ablehnung der Registrierung zu. Voraussetzung für die Registrierung ist gern. Abs.3 neben den Gründungsbeschlüssen vor allem die Vorlage eines Schulstatutes, in dem die wesentlichen organisatorischen Strukturen und die pädagogischen Zielsetzungen der Lehranstalt festgelegt sind. Mit der Registrierung bekommt die Schule gern. Abs. 5 alle Rechte einer juristischen Person. Auf Beschluß einer Expertenkommission erhält die Schule gern. Art. 33 Abs. 6 und 7 BildungsG nach der Registrierung die Lizenz durch die staatlichen oder in ihrem Auftrag handelnden lokalen Verwaltungs behörden, womit das Recht der Aufnahme des Unterrichtsbetriebs und die Privilegien, die den Lehranstalten von der Regierung der Russischen Föderation gewährt werden, verbunden sind. Die Expertenkommission setzt sich aus Vertretern der staatlichen und lokalen Verwaltungsbehörden, der bestehenden Lehranstalten und Vertretern der Öffentlichkeit zusammen. Die Expertenkommission beschließt nur über die formellen Voraussetzungen der Aufnahme des Unterrichtsbetriebes wie die Einhaltung der baupolizeilichen und gesundheitsrechtlichen Vorgaben sowie die Qualifikation der Lehrkräfte. Inhalt, Gestaltung und Methoden des Unterrichts sind dagegen nicht Gegenstand der Beurteilung (Abs. 9). Die Lizenz für eine Schule in kirchlicher Trägerschaft ist zudem gern. Abs. 7 an ein Vorschlagsrecht der Glaubensgemeinschaften gebunden. Im Rahmen der Lizensierung bedürfen Lehranstalten gern. Art. 33 Abs. 16 Russ. BildungsG der Akkreditierung, um staatlich anerkannte Abschlußzeugnisse zu erstellen und um staatliche Gelder zu erhalten. Diese Akkreditierung setzt gern. Art. 33 Abs. 17 LV.m. Abs.20 BildungsG das Entsprechen des Inhalts und der Qualität des Unterrichts denen der staatlichen Standardnormen und erfolgreiche Abschlüsse mindestens der Hälfte der Schüler in drei aufeinanderfolgenden Jahren voraus. Die Akkreditierung wird von den staatlichen Verwaltungs organen aufgrund eines Gesuchs der Lehranstalt und einer Attestierung aufgrund eines Gutachtens durch die dafür vorgesehene Attestierungsbehörde ausgesprochen und alle 5 Jahre überprüft. Obgleich das Gesetz und das Bildungsministerium zum Ziel hatten, innerhalb von 5 Jahren bis Ende 1997 alle Schulen zu akkreditieren, ist dieses Verfahren aufgrund diverser, vorstehend exemplarisch genannter Schwierigkeiten
236
s. hierzu Jenkner, Siegfried, Refonn der Schulverfassung in Rußland, S. 16 (26).
29 Jach
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noch nicht abgeschlossen. Hierbei ist die Akkreditierungsquote relativ hoch. So wurden in Moskau von den in den letzten 5 Jahren attestierten Schulen insgesamt nur 3 Schulen endgültig nicht attestiert und akkreditiert, nachdem im ersten Durchgang der Attestierung 120 Schulen, denen die Möglichkeit der Wiederholung eingeräumt wurde, diese nicht bestanden hatten.
d) Die Rechtsstellung von Schulen injreier Trägerschajt Durch den Erlaß Nr. 1 von Präsident Jelzin im Jahre 1991 und durch das Bildungsgesetz von 1992 wurde schon frühzeitig auf administrativem und einfachgesetzlichem Wege die Grundlage für die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols und die Institutionalisierung eines nichtstaatlichen Bildungssektors geschaffen. Träger nichtstaatlicher Schulen können gern. Art. 11 Russ. BildungsG entweder natürliche Personen, die die russische Staatsangehörigkeit besitzen, öffentliche oder religiöse Organisationen, die in der Russischen Föderation registriert sind, nationale oder ausländische Unternehmen oder nationale oder ausländische private Stiftungen sein. Art. 39 Abs. 13 BildungsG gewährt dabei sogar die Möglichkeit der Übernahme staatlicher oder kommunaler Bildungseinrichtungen durch private Träger. Das Verfahren der Genehmigung nichtstaatlicher Schulen umfaßt wie das der staatlichen Schulen die Stufen der Lizensierung, Attestierung und Akkreditierung. Nichtstaatliche Schulen müssen sich bei den lokalen Behörden registrieren lassen und ihr Statut vorlegen, um eine Lizenz zu erhalten. Für die staatliche Anerkennung muß eine Schule über passende Räumlichkeiten verfügen, kompetente Lehrer haben und Prüfungsergebnisse nach der 3.14., 9. und 11. Klasse vorweisen, die den staatlichen Normen entsprechen. Diese ist dann berechtigt, eigene Zeugnisse zu erstellen, wobei nur akkreditierte Institutionen - dies sind solche, die als dem Standard der staatlichen Schulen entsprechend anerkannt sind - staatliche Berechtigungen vergeben dürfen. Die Genehmigung, eine nichtstaatliche Bildungseinrichtung zu führen, in Form der Lizensierung berechtigt als solche zur Aufnahme des Unterrichts, für die staatliche Finanzierung und die Vergabe von Zeugnissen und Berechtigungen bedarf sie aber darüber hinaus der staatlichen Anerkennung in Form der Akkreditierung aufgrund einer Attestierung im Sinne eines positiven Gutachtens der Attestierungsbehördeo Innerhalb dieses Rahmens gewährt das Gesetz Autonomie hinsichtlich der pädagogischen Arbeit gegenüber der staatlichen Schulverwaltung, eine eigenständige Form der Organisation und Verwaltung der Schule und beschränkt die Eingriffsmöglichkeiten der Schulverwaltung auf die Rechtsaufsicht hinsichtlich der Einhaltung der Gesetze der Russischen Föderation.
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Das Akkreditierungsverfahren für nichtstaatliche Schulen entspricht grundsätzlich dem der staatlichen Schulen, wobei letztere allerdings im Gegensatz zu Schulen in freier Trägerschaft bis zu ihrer Akkreditierung als staatliche Schulen vorübergehend "automatisch" akkreditiert sind. Das Akkreditierungsverfahren unterscheidet sich jedoch von dem der staatlichen Schulen, als z. B. in Moskau die nichtstaatlichen Schulen von der Attestierungsbehörde (als Voraussetzung für die Akkreditierung) ein spezielles Trainingsprogramm erhalten, in welchem die notwendigen Anforderungen festgelegt sind und welches eingehalten werden muß. Nicht zuletzt damit behält das Bildungsministerium bzw. die lokale Schulverwaltung über das Akkreditierungsverfahren weitgehende Steuerungsmechanismen in der Hand. Das russische Bildungsgesetz von 1992 enthält seinem Wortlaut nach auf den ersten Blick weitreichende Gewährleistungen für nichtstaatliche Schulen. So erhalten nach Art. 5 Abs. 4 Russ. BildungsG die Bürger die Geldausgaben für den Besuch einer anerkannten (akkreditierten) nichtstaatlichen Schule grundsätzlich in dem Umfang ersetzt, der in den Normen für die Finanzierung staatlicher Schulen der entsprechenden Schulart festgesetzt ist. Damit erhalten die akkreditierten Schulen de lege lata die Ausgaben in gleicher Höhe ersetzt, wie die finanziellen Leistungen für eine vergleichbare staatliche Schule pro Schüler festgesetzt sind. Diese berechnen sich auf der Basis der Kosten für einen Schüler im Staatsschulwesen, wobei der durchschnittliche Standard in den staatlichen Schulen zugrunde zu legen ist. Das russische Schulgesetz, welches wie kein anderes in den postsozialistischen Staaten durch die Beratung westlicher Experten aus den Niederlanden und Belgien beeinflußt wurde, gewährt nicht nur die Rahmenbedingungen für die Gründung und Unterhaltung von Schulen in freier Trägerschaft, sondern ist auf den ersten Blick von Vertretern westdeutscher Privatschulen als "völlig revolutionär,,237 angesehen worden, als nicht nur den Schulen in freier Trägerschaft ein Anspruch auf Kostenerstattung in Höhe der vergleichbaren Kosten staatlicher Einrichtungen zusteht, sondern auch den Eltern, die von dem Recht auf häuslichen Unterricht für ihre Kinder Gebrauch machen. Diese einfachgesetzliche Regelung beinhaltet jedoch bei näherem Hinschauen eine Reihe problematischer Regelungen. Zudem entspricht diese Gesetzeslage nicht der Gesetzeswirklichkeit. Ungeachtet des formal liberalen Grundansatzes des Gesetzes ist nämlich festzuhalten, daß das Gesetz selbst im wesentlichen nur Rahmenbedingungen für die Errichtung, Genehmigung, Anerkennung mit weitreichenden Handlungsspielräumen der lokalen Verwaltung ohne einklagbaren Rechtsanspruch 237
S.2.
So der Bundesverband Deutscher Privatschulen, YDP, Informationsdienst 3/1994,
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
des einzelnen Schulträgers auf Finanzierung nichtstaatlicher Schulen konstituiert238 • Dementsprechend ist in Rußland nicht die normative Ausgestaltung der Bildungsfreiheit an sich problematisch, sondern deren Justitiabilität. So dauert zum einen das - für die Gewährung staatlicher Zuschüsse - notwendige Akkreditierungsverfahren bei den Behörden unverhältnismäßig lange, in der Regel mehr als drei Jahre. Im Jahre 1997 waren z. B. von 87 nichtstaatlichen Schulen in St. Petersburg, die die Akkreditierung beantragt haben, erst zwei Schulen akkreditiert, die allerdings keinerlei Zuschüsse erhalten. Zum anderen erhalten die Schulen, selbst wenn sie akkreditiert sind, unter Verweis auf die schlechte Haushaltslage schlicht keine finanziellen Mittel, obgleich sie ihnen gesetzlich zustehen. Damit unterliegen nichtstaatliche Schulen - ungeachtet dessen, daß sie normativ den staatlichen gleichgestellt sind - faktisch aufgrund fehlender Zuschüsse einer wesentlichen Ungleichbehandlung gegenüber staatlichen Schulen, da diese über die im Erlaßwege festgelegte vorübergehende fiktive Akkreditierung - zumindest unregelmäßige - staatliche Mittel erhalten. Aufgrund dieser insbesondere von der Schulverwaltung oftmals restriktiv oder gar willkürlich gehandhabten problematischen Gesetzeslage ist das Schulgesetz ungeachtet seiner Bedeutung für die Abschaffung des staatlichen Schulmonopols von den Trägem nichtstaatlicher Schulen wiederholt kritisiert und eine Novellierung gefordert worden 239 • Auch Kuebart weist in diesem Zusammenhang als exponierter Kenner des russischen Bildungswesens darauf hin, daß einerseits das Bildungsgesetz in seinem materiellrechtlichen Gehalt nur ein begrenztes Instrumentarium zur Absicherung nichtstaatlicher Schulträger bietet und anderseits gesetzliche Bestimmungen vielfach nur nach Opportunitätsgesichtspunkten umgesetzt bzw. nicht umgesetzt werden240 • Diese Einschätzung kann nach eigenen Besuchen russischer Schulen nur bestätigt werden. Darüber hinaus ist das Gesetz - wie die meisten Privatschulgesetze anderer Länder - in einem neuralgischen Punkt problematisch: der Verknüpfung von Akkreditierung, Anerkennung der Unterrichts standards und Subventionierung. Schulen erhalten nur dann die für sie existentiell notwendige, den staatlichen Schulen entsprechende finanzielle Unterstützung, wenn sie dem staatlich festgesetzten Ausbildungsniveau entsprechen, gemäß den umfangreichen Vorschriften des Art. 33 staatlich registriert, lizensiert und akkreditiert sind und
238 s. hierzu auch Glenn, Charles, Educational freedom in Eastem Europe, S.227 (228 ff.); Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (61). 239 Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (59); s. hierzu auch de Groof, Analysis of the ,,Legislation on Education of the Russian Federation". In: ders. (Hrsg.), Comments on the Law on Education of the Russian Federation. Leuven 1994, S. 31 (48 ff.). 240 Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (61 f.).
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wenn sie mindestens drei Jahre lang "gute Schulabschlüsse" nachweisen 241 . Ansonsten erhalten sie weder Subventionen, noch dürfen sie Abiturzeugnisse ausstellen. Hierbei sind die Erfahrungen mit möglichen Beschränkungen der Unterrichtsfreiheit durch die Attestierungen und Akkreditierungen jeweils nach der 4.,9. und 11. Klasse und für diese Schulstufen aufgrund der Tatsache, daß sich die meisten Schulen noch im Aufbau befinden und erst die Attestierungs- und Akkreditierungsstufe der 4. Klasse erreicht haben, relativ beschränkt. Danach haben z. B. Waldorfschulen die Attestierung nach der 4. Klasse, die im wesentlichen ein Minimum an Kenntnissen von Allgemeinwissen, der Muttersprache und der Mathematik voraussetzt, mit guten Ergebnissen bestanden. Hierbei ist Voraussetzung für ein positives Gutachten der Attestierungsbehörde, daß mindestens 50 % der Kinder den jeweiligen Leistungslevel erreicht haben. Damit erscheinen gegenwärtig keine allzu hohen Anforderungen an die Attestierung gestellt zu werden. Problematisch erscheint jedoch strukturell, daß durch eine eventuell verschärfte Attestierungspraxis schon nach der vierten Klasse reformpädagogische Unterrichtskonzeptionen, die in den ersten Jahren mehr auf die Entwicklung sozialer, tätiger und willensmäßiger Prozesse denn auf kognitives Wissen abstellen, benachteiligt werden könnten. Schulen in freier Trägerschaft verfügen bisher über keine eigenen Grundstücke und Gebäude, sondern sind Pächter staatlicher Einrichtungen, so daß es nach Ansicht russischer Erziehungswissenschaftler "Privatschulen im buchstäblichen Sinne" noch gar nicht gäbe242. Hierbei ist während der Geltung des sog. Moratoriumsgesetzes eine Übertragung staatlich-kommunaler Einrichtungen an private Träger gesetzlich ausgeschlossen, so daß die Schulträger hinsichtlich der räumlichen Unterbringung auf das administrative Wohlwollen der lokalen Verwaltungen angewiesen sind bzw. jene "an dieser Stelle vielfach den Hebel ansetzen, um unerwünschte Projekte zu verhindern oder Druck auszuüben,,243. Aufgrund dieser in der Praxis hohen Anforderungen sind die meisten nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen zwar li zensiert, aber nicht akkreditiert. So sind in Moskau von den dort existierenden ca. 200 Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft nur ein Viertel akkreditiert, wobei die Schulen teilweise nur eine Anerkennung für einzelne Schulstufen erhalten. So ist z. B. eine Waldorfschule in Moskau für den Elementarschulbereich der Klassen 1 bis 4 staatlich 241 s. hierzu Kuebart, Friedrich, Rußland, S. 165 (169); ders., Demokratisierung, S. 56 (61). 242 Gromy/w, luri V., Bildungswesen im Spannungsfeld von Demokratisierung und Privatisierung: das Beispiel Rußland, TC 1996, S. 48 (50 f.). 243 Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (62).
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
anerkannt mit der Folge einer staatlichen Finanzierung, während die (bisher nur bestehenden) Klassen 5 und 6 eine solche Anerkennung nicht erhalten haben und demnach auch nicht staatlich finanziert werden 244 • Daneben gibt es eine weitere Waldorfschule, die keinerlei staatliche Unterstützung erhält bzw. beantragt hat und sich wesentlich über ausländische (finnische) Zuwendungen unterhält245 • Darüber hinaus ist aufgrund der äußerst angespannten Haushaltslage die Implementation des neuen russischen Bildungsgesetzes bisher defizitär, weil die nach dem Gesetz zustehende Kostenerstattung noch nicht funktioniert, was zu teilweise unerträglich hohen Schulgeldern führt246 • Dies begünstigt eine Entwicklung, die in Rußland mit einer Elitenbildung im privaten Schulsektor verbunden ist247 . Aufgrund der fehlenden finanziellen Zuwendungen seitens des Staates sind die Schulgelder an nichtstaatlichen Schulen in der Regel deutlich höher als die sog. freiwilligen Zuwendungen an staatlichen Schulen oder akkreditierten Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft. Das Schulgeld nichtakkreditierter Schulen beträgt im Durchschnitt zwischen 100 und 150 $, wobei man sich vergegenwärtigen muß, daß dies dem Monatsgehalt eines Lehrers entspricht. Daneben gibt es aber auch Schulen, die überwiegend anglo-amerikanisch orientiert sind, die ein Schulgeld von 300 bis 400 $ im Monat erheben. Sofern eine nichtstaatliche Bildungseinrichtung - so die gesetzliche Bezeichnung - nicht staatlich anerkannt ist und infolgedessen keine staatlichen Zuschüsse erhält, ist deren Status als sozial selektive Eliteschule evident. Selbst an Schulen, die über externe Spender das Schulgeld niedriger halten können - wie eine Waldorfschule in Moskau, wo das Schulgeld "nur" 33 Dollar beträgt -, kann ein großer Teil der Eltern diese Gelder nicht aufbringen248 • Aufgrund der ausstehenden finanziellen Zuschüsse sind bestimmte reformpädagogische Schulen in Elternträgerschaft, die keine Eliteschulen sein wollen, nicht in der Lage, ihre Existenz zu sichern. So auch im Falle der Waldorfschule in Moskau, welche nach einer Erhöhung des Mietzinses seitens der Regierung nicht mehr in der Lage war, die laufenden Kosten zu decken. Aus diesem Grund hat die Waldorfschule in Moskau ihren Privatschulcharakter aufgegeben und sich im Sommer 1996 als Staatsschule registrieren lassen. Hierbei geht der Schulträger zwar davon aus, daß bestimmte pädagogische Selbstgestal244 Pinskij, Anatolij, Zur äußeren und inneren Lage der Waldorfschulbewegung in Rußland (übersetzt von A. Okropiridse), Erziehungskunst 1995, S. 825 (826). 245 Kleinau-Metzler, Doris, S. 27. 246 Bundesverband Deutscher Privatschulen, VDP, Informationsdienst 3/1994, S. 2 f. 247 Vgl. Mason, Peter, Real freedom, S. 20. 248 Pinskij, Anatolij, Zur äußeren und inneren Lage, S. 826.
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tungsrechte durch den voll finanzierten Status einer staatlichen Schule, etwa hinsichtlich der Qualifikationsanforderungen an die Lehrer, beschränkt werden, gleichwohl sei ein substantielles Maß an pädagogischer Selbstgestaltung auch im Status einer Staatsschule möglich 249 • Damit entspricht die Waldorfschule in Moskau dem Rechtsstatus der Waldorfschulen in Petersburg, Samara, Kasan und anderen Städten, die Waldorfpädagogik im Rechtsstatus einer staatlichen Schule betreiben 250 .
e) Minderheitenschutz Nach Art. 68 der Russ. Verf. garantiert die Russische Föderation allen ihren Völkern das Recht auf Erhalt der Muttersprache sowie auf Schaffung der Bedingungen für ihre Entwicklung. Dies beinhaltet auch das Recht der Minderheiten, eigene Schulen zu gründen und zu unterhalten sowie muttersprachlichen Unterricht in der allgemeinen Hauptschulbildung, welches durch Art. 6 Russ. BildungG gewährleistet wird. Hierbei ist die Nationalitätenfrage für Rußland von besonderer Bedeutung, weil aus russischer Sicht "die ethnische Vielfalt der Russischen Föderation ... ein sehr wichtiges Charakteristikum des kulturellen Reichtums des Landes dar(stellt),,251, wobei die besondere Problematik der Kompatibilität ethnisch-nationaler Selbstdefinition und der Schaffung eines von allen Bevölkerungsteilen akzeptierten und definierten gemeinsamen Minimalkonsenses über den sozialen Auftrag der Schule besteht, was insbesondere auf das Fehlen bürgergesellschaftlicher Strukturen zurückgeführt wird 252 • Hierbei tangiert die Frage des sozialen Konsenses auch die Grundsatzfrage des Verhältnisse von Staat und Kirche, als nämlich einerseits das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche in der Russischen Föderation Geltung beansprucht, anderseits aber in einer Reihe von Territorien und Regionen, wie zum Beispiel in der Republik Tatarstan eine islamisch geprägte. Bildungskonzeption vertreten und praktiziert wird253 . Die besondere ethnisch-nationale Vielfalt hat vor allem in Moskau zu einer Vielzahl ethnisch-konfessionell geprägter Schulen geführt. So existieren in Moskau sechs jüdische Schulen, von denen drei einen staatlichen und drei einen nichtstaatlichen Status haben. Daneben gibt es eine armenische, eine geor-
249 Pinskij, Anatolij, Über die Situation der Moskauer Waldorfschule, Erziehungskunst 1996, S. 1338 ff. 250 Pinskij, Anatolij, Über die Situation, S. 1340. 251 Gromyko, Juri V., Nationalitätenfrage im russischen Bildungswesen: neue Ansätze und Projekte, TC 1996, S. 82 (84). 252 Bacyn, Vladirnir K., Nationalitätenprobleme im Bildungswesen der Russischen Föderation, TC 1996, S. 75 (79). 253 Gromyko, Juri V., Nationalitätenfrage im russischen Bildungswesen: S. 82 (86).
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
gische, eine lettische, eine koreanische eine russisch-nationale sowie eine multinationale Schule mit Kinder aus 26 Nationalitäten 254 • f) Die Entwicklung von Schulvielfalt
Kenner des russischen Bildungswesens konstatieren, daß die "inzwischen entstandene Vielfalt in den Erscheinungsformen und Konzeptionen der nichtstaatlichen Bildungsangebote, ihrer Träger und Abnehmer ... nur schwer in einem ordnenden, typisierenden Zugriff zu erfassen (ist)", stellen aber zugleich fest, daß der reformpädagogischen Erneuerungsbewegung eine besondere Bedeutung zukommt255 . Bis Herbst 1992 hatte dies zu mehr als 100 Schulgründungen im Sekundarbereich und mehreren hundert nichtstaatlichen Schulen insgesamt, einschließlich des Primarbereichs, geführt256 , wobei der Schwerpunkt mit einem Drittel der in ganz Rußland genehmigten nichtstaatlichen Bildungsstätten eindeutig in Moskau liegt257 • Betrug im Schuljahr 1992/93 die Anzahl nichtstaatlicher Schulen 300 bei ca. 20.000 Schülern, so hat sich die Zahl zum Schuljahr 1995/96 mehr als verdoppelt, womit ca. 1 % der Schulen dem nichtstaatlichen Sektor angehören und 0,2 % der Schülerpopulation nichtstaatliche Schulen besuchen 258 . Betrachtet man das Verhältnis in den Metropolen, so ist z. B. in Moskau der Anteil der nichtstaatlichen Schulen schon über 10 % anzusetzen. Dies ist zwar ein verhältnismäßig noch geringer Anteil an der Schülerpopulation, aber die erheblichen Zuwachsraten sind um so bemerkenswerter, als festgehalten werden muß, daß die weitaus überwiegende Zahl von Schulen mangels staatlicher Akkreditierung keine staatlichen Zuschüsse erhält. Hierbei ist zu konstatieren, daß es sich zwar teilweise um Schulen handelt, die eine besondere intellektuelle Elite hervorbringen wollen - sei es im Sinne humanistischer oder auch explizit ökonomischer Bildung -, doch ist es den Schulen, die sich gesellschaftlich öffnen wollen, zumindest von der gesetzlichen Regelung her - bei staatlicher Anerkennung - möglich, den Kernunterricht gebührenfrei anzubieten und nur für bestimmte zusätzliche Ausbildungen Schulgeld erheben zu müssen 259 • Hiervon ist die Realität freilich noch weit entfernt.
Gromyko, Juri V., Nationalitätenfrage im russischen Bildungswesen: S. 82 (91). Kuebart. Friedrich. Demokratisierung. S. 56 (58). 256 Alle Informationen aus Alferov, Yuri. Russian Federation, The law on education: an overview; Non state educational establishments, Newsletter Education des Council of Europe 4/1992, S. 30-32. 257 Vgl. die Angaben bei Kuebart. Friedrich, Demokratisierung, S. 63; Pinskij, Anatolij, Zur äußeren und inneren Lage, S. 825 f. 258 Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 63; Mason, Peter, Real freedom, S. 20. 259 Zum Konzept der Pluralisierung s. a. Jenkner, Siegfried. Reform der Schulverfassung. S. 19 ff. 254 255
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Rußland
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In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, daß nach den grundlegenden Strukturänderungen zur Verwirklichung von Schulvielfalt260 reformpädagogische Konzepte wie die Freinet-, Montessori-, Jenaplan-, Tolstoi- (Alternativ-) und Waldorfpädagogik sich in Rußland angesichts ihres ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungsverständnisses zunächst wachsender Popularität erfreuten, die dazu geführt hat, daß sowohl reformpädagogische Schulen in freier Trägerschaft gegründet wurden, als auch in staatlichen Schulen zumindest Elemente dieser Pädagogik in den Unterricht integriert werden 261 • Diese bedürfen der Genehmigung durch die regionalen Behörden, um zumindest einen Teil der Kosten finanziert zu bekommen. Eine besondere Stellung nehmen dabei die Waldorfschulen ein. Hierbei wird allgemein attestiert, daß sich unter den reformpädagogischen Schulen die Waldorfschulen "bis in die russische Provinz hinein" besonderer "Beliebtheit" erfreuen 262• Neben der Eröffnung von Waldorfschulen in Moskau und Petersburg gab es schon im Jahre 1993 40 Gründungsinitiativen für Waldorfschulen 263 . Hierbei handelt es sich jedoch nicht unbedingt um eigenständige Schulen, sondern um staatliche Schulen oder um einzelne Klassen im Grundschulbereich, in denen nach Elementen der Waldorfpädagogik unterrichtet wird, die in den Räumen einer anderen, staatlichen Schule untergebracht sind. Im Schuljahr 1996/97 waren in dem vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebenen Verzeichnis der "Weltliste der Waldorfschulen" 18 russische Schulen, die ganz nach der Waldorfpädagogik arbeiten, verzeichnet. Hierbei sind nicht die Schulen erfaßt, in denen nur einzelne Klassen nach der Waldorfpädagogik unterrichtet werden, so daß ein erhebliches Maß an pädagogischen Wirkungsfeldern gegeben ist. Dieses konzentriert sich sehr stark auf Moskau und St. Petersburg. So bestehen allein in St. Petersburg vier Waldorfschulen, wovon drei staatliche Schulen sind. Bemerkenswert an der gesellschaftlichen Akzeptanz der Waldorfpädagogik ist ferner, daß die relativ weite Verbreitung der Waldorfpädagogik wie auch in anderen westeuropäischen Ländern unabhängig von der Anthroposophie als weltanschaulichem Hintergrund gesehen wird264 •
s. hierzu Randau, Susanne!Philipovski, Valentin, S. 136 (140). s. Randau, Susanne/Philipovski, Valentin, S. 136 (139). 262 Randau, Susanne, Länderstudie Rußland. In: SeyJahrt-Stubenrauch, Eckhardl Skiera, Ehrenhard, Reformpädagogik und Schulreform in Europa. Hohengehren 1996, Bd. 2, S. 495 (502). 263 Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1993, Erziehungskunst 1993, S. 1377 (1406); Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, S. 1347 (1348 f.). 264 Randau, Susanne, S. 495 (502). 260
261
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Darüber hinaus gibt es aus dem reformpädagogischen Spektrum mehrere Montessorischulen sowie diverse kirchliche Schulen, vornehmlich in Moskau und St. Petersburg 265 . g) Die rechtlichen Konsequenzen der politischen Kontroverse um eine vermeintliche Privatisierung des Bildungswesens Die Demonopolisierung des russischen Bildungswesens ist wie in keinem anderen postsozialistischen Staat von einer gesamtgesellschaftlichen PrivatisierungsdebaUe begleitet worden, der eine spezifisch russische Konstellation zugrunde liegt. Im Rahmen der Dezentralisierung, Deregulierung und Demonopolisierung der gesamten Staatstätigkeit und staatlichen Daseinsvorsorge in Rußland besteht ein latentes Spannungsverhältnis zwischen der zentralen Privatisierungsbehörde und den Fachministerien, im Bereich der Bildung, also dem Bildungsministerium. Während das Bildungsministerium, wenn auch mit deutlichen Restriktionen, von einem Nebeneinander staatlicher und privater Bildungseinrichtungen ausgeht, verfolgte die Privatisierungsbehörde zumindest in den Jahren 1993 und 1994 eine Politik, die als Anzeichen für eine vollständige Überführung der staatlichen Schulen (und Hochschulen) in eine privatrechtliche Trägerschaft interpretiert wurde und erheblichen bildungspolitischen Widerstand hervorgerufen hat266 . Ausdruck dieses Widerstandes war ein Gesetzentwurf des Föderationsrates, der im Sommer 1994 eine Novellierung des Bildungsgesetzes von 1992 vorsah, der äußerst restriktive und existenzgefährdende Regelungen für das Schulwesen in freier Trägerschaft beinhaltete. In einem politischen Kompromiß wurde dieser Gesetzentwurf nicht weiter forciert, als "Gegenleistung" jedoch mit einer Novellierung des Bildungsgesetzes im Mai 1995 ein dreijähriges Moratorium für alle Privatisierungsabsichten hinsichtlich staatlich-kommunaler Einrichtungen festgeschrieben, welches bei der Neufassung des Bildungsgesetzes 1996 bestätigt wurde. Darüber hinaus wurde 1995 ein Gesetzentwurf über den nichtstaatlichen Bildungssektor vorgelegt, der diese Schulen in eine gesamtstaatliche Bildungskonzeption einbeziehen so1l267. Wie in anderen osteuropäischen postkommunistischen Staaten scheint also auch in Rußland keine lineare Entwicklung im Sinne einer stetigen Steigerung der Deregulierung gegeben zu sein, sondern ist gesellschaftlich eine Gegenbewegung festzustellen, die nicht nur in einer kritischen Hinterfragung des Leistungspotentials dieser Schulen gründet, sondern insbesondere auch gegenüber reformpädagogischen Schulen mit christlichem Einschlag wie den Wal dorfs. hierzu Glenn, Charles, Educational freedom in Bastern Europe, S. 227 (241 f.). s. hierzu und in den nachfolgenden Details die Darstellung bei Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (59-61). 267 Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 60 f. 265 266
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schulen in Fonn einer scharfen Auseinandersetzung um den religiösen Einfluß auf das Unterrichtswesen geführt wird. So haben im Mai 1994 Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche zusammen mit solchen der katholischen und evangelischen Kirchen eine Erklärung verabschiedet, in der "die Waldorfpädagogik als eine rassistische, okkulte, antichristliche und antisemitische Bewegung dargestellt" wird und unter die totalitären Sekten eingereiht wird268 . Zugleich bestehen angesichts der aufgrund der katastrophalen Haushaltslage immanenten Verteilungskämpfe "teilweise erhebliche Widerstände auf den verschiedenen staatlichen Ebenen und Vorbehalte im politisch-gesellschaftlichen Raum" gegen eine Etablierung eines nichtstaatlichen Bildungssektors 269 . Ebenso wie in anderen postsozialistischen Staaten sind insbesondere die refonnpädagogischen Schulen in Elternträgerschaft auch in Rußland nach einer Phase der Deregulierung einer umfassenden Diskussion über Qualitätsstandards ausgesetzt. So sollte die 1992 in St. Petersburg gegründete Rudolf-SteinerSchule, die 1996 sieben Klassen umfaßte, zunächst nach Intervention der staatlichen Schul verwaltung keine Zuschüsse mehr für die neue erste Klasse erhalten 270 . Insofern ist auch in Rußland nach einer Phase der umfassenden Liberalisierung seit Mitte der 90er Jahre eine Tendenz zur Restandardisierung festzustellen, wobei die Waldorfschulen sich dem Problem der Anerkennung der Abschlüsse bis dato mangels vollständiger Klassenfolge noch nicht zu stellen brauchten. h) Die russische Variante der bürgerschaftlichen Schulverfassung als Bildungsmarkt Das russische Bildungswesen scheint mit der Adaption diverser westlicher Erziehungskonzeptionen auf einem Markt der Möglichkeiten schnell Anschluß an westliche Standards finden zu wollen. Hierbei wird sowohl eine weitgehende pädagogische Liberalisierung vorübergehend akzeptiert, als auch eine soziale Unausgewogenheit des Bildungswesens, die den sozialen Integrationsauftrag von Schulen zu gefährden scheint. Einerseits wird alles, was in westlichen Staaten offenbar bildungswirksam ist, zugelassen. Hierzu gehören Eliteschulen sowohl im staatlichen als auch im nichtstaatlichen Sektor. Gleichzeitig wird in Kauf genommen, daß Kinder aus unteren Bevölkerungsschichten durch das Bildungsnetz und damit das soziale Netz fallen. Bei alledem erscheint es so, als ob nicht ein liberal-humanitärer Bildungsauftrag im Mittelpunkt steht, sondern die Einführung eines leistungsfähigen, allein an Marktkriterien ausgerichteten
Pinkij, Anatolij, Zur äußeren und inneren Lage, S. 826. Kuebart, Friedrich, Demokratisierung, S. 56 (57). 270 Kleinau-Metzler, Doris, S. 28. 268 269
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Bildungswesens, in dessen Fortentwicklung zunächst protegierte Unterrichtskonzeptionen wie die der Reformpädagogik zukünftig in ihrer Kindzentriertheit keinesfalls eine Bestandsgarantie besitzen. Vergegenwärtigt man sich jedoch die zunehmende Breite der russischen Reformbewegung, die nicht nur in der Adaption westeuropäischer Reformpädagogik zu sehen ist und in der Tatsache ihren Ausdruck findet, daß im Jahre 1997 bereits 100 Schulen im Sinne der Tolstoipädagogik, die mit dem pädagogischen Konzept der Freien Alternativschulen Ähnlichkeiten aufweist, arbeiten271 und in der Erziehungswissenschaft einen breiten Rückhalt haben, so dürfte die bürgerschaftliche Variante der reformpädagogischen Schulen dennoch eine Perspektive in der Zukunft des russischen Bildungssystems haben. Hierbei bleibt offen, inwieweit die bestehende verwaltungsmäßige Autonomie der staatlichen Schulen ebenso wie das nichtstaatliche Schulwesen unter Berufung auf national-kommunitaristische Bildungsvorstellungen in den nächsten Jahren pädagogisch eine Rezentralisierung erfahren wird. 6. Die baltischen Staaten
Die baltischen Staaten haben nach der Unabhängigkeit durchaus unterschiedliche Wege der Schulverfassung eingeschlagen. Während Litauen einer eher etatistischen Konzeption der Schul verfassung folgte, setzten Lettland und Estland auf eine stärkere Dezentralisierung und Selbständigkeit der Einzelschule mit bürgerschaftlichen Elementen, nicht zuletzt auch auf die Öffnung des Bildungswesens für nichtstaatliche Träger. Aufgrund der verbindenden historischen Entwicklung dieser Staaten und der unvermeintlichen Tatsache, daß die im Vergleich zur Entwicklung in der russischen Föderation - wenig vorhandene Literatur oft nur einen Gesamtüberblick bietet, sollen daher die Grundzüge der Schulverfassung in den baltischen Staaten kurz skizziert werden. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung Estlands. a) Die Neuordnung der Schulveifassung in Estland
(1) Grundlagen der Schulverfassung Das estländische Bildungswesen war zwar bis zu seiner Unabhängigkeit wie in den übrigen Republiken der Sowjetunion in die zentralstaatliche Bildungsplanung und Lenkung des Unterrichts durch das zuständige Bildungsministerium eingebunden 272, bei der alle Bereiche strikt bis ins einzelne reglementiert 271
Borchert, Manfred, FJFIFIE Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 7/1997,
272
s. hierzu näher Hilkes, Peter, S. 35 ff.; Rajangu, Väino, S. 146 f.
S.6.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Baltikum
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wurden273 • Erziehungsprinzip sollte eine spezifische Fonn des sowjetischen Internationalismus sein, der die ethnisch-kulturelle Identität Estlands ebenso wie die der anderen Republiken negierte274 • Zentrale Lehrpläne und Stundentafeln "orientierten sich an einem unpersönlichen, statisch durchschnittlichen Sowjetschüler, wobei seine Fähigkeiten, Neigungen, Interessen, seine nationalen, altersbedingten und gesellschaftlichen Besonderheiten eine zweit- und drittrangige Bedeutung hatten"m. Estland konnte jedoch vor dem Hintergrund seiner gegenüber den anderen Sowjetrepubliken relativ eigenständigen Entwicklung bis 1940 (Eigenstaatlichkeit Estlands von 1920-1940) nicht nur gewisse Identitätsstrukturen bewahren 276 , sondern sich auch früher als die anderen Republiken aus der zentralstaatlichen Umklammerung befreien. So wurde schon im Jahre 1988 der Republik Estland wie auch den anderen beiden baltischen Republiken Lettland und Litauen die Hoheit über das Bildungswesen zurückübertragen und ein Prozeß der Dezentralisierung und des Abbaus behördlicher Kontrollen eingeleitet271 • Im Zuge dieser Neuordnung des Bildungswesens wurde nicht nur ein neuer Lehrplan erarbeitet, der im Rahmen der Entideologisierung von Bildung stärker schülerorientiert war und der kulturellen Identität Estlands Ausdruck verleihen sollte278 , sondern es wurde, zunächst durch ministerielle Verordnungen und dann gern. § 29 des Bildungsgesetzes vom 30.3.1992, der Einzelschule ein gewisses Maß an Autonomie sowohl hinsichtlich des Unterrichtsangebotes (Unterscheidung in Pflicht- und fakultativen Unterricht, Wahlmöglichkeit zwischen humanistischem und realem Unterricht) als auch der Unterrichtsgestaltung und -methoden, die der einzelnen Schule und den Lehrern überlassen bleiben sollten, eingeräumt279 • Gleiches gilt für die Verwendung der zugewiesenen Finanzmittef80 • Allerdings weist das estnische Bildungsgesetz gern. den §§ 4, 6 Abs. 5 BildungsG dem Bildungsministerium die Aufgabe der Ausarbeitung der Curricula und gern. § 4 Abs. 1 Satz 2 die "methodische Führung" zu, was Jenkner zu der Bemerkung veranlaßt, daß es offenbleibe, welche Auswirkung die-
Rajangu, Väino, S. 141; Virkus, Rein, S. 45. Hilkes, Peter, S. 35 (36). 275 Virkus, Rein, S. 45 (46). 276 Rajangu, Väino, S. 57. 277 Rajangu, Väino, S. 142 f. 278 Vgl. Hilkes, Peter, S. 35 (39); Virkus, Rein, S. 45 (47). 279 Vgl. Hilkes, Peter, S. 43 f.; Rajangu, Väino, S. 101, 112, 142; Jenkner, Siegfried, 273
274
Demokratisch verfaßte Schule und Schulverwaltung, Vortragsmanuskript, gehalten im Rahmen des Seminars "Schule und Berufsbildung in den baltischen Staaten im Umbruch" der Ost-Akademie Lüneburg vom 17.-20.5.1994, S. 9. 280 Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 9.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
se vage Kompetenzbestimmung auf die pädagogische Freiheit der Schule und des einzelnen Lehrers habe281 • Die normative Verbindlichkeit weit gefaßter Generalklauseln im estnischen Bildungsgesetz stellt Jenkner auch hinsichtlich der Dezentralisierung der Schulverwaltung in Frage. So gewährleiste zwar das Gesetz für die Verwaltung in §§ 4 und 9 das "Prinzip der zweckmäßigen Dezentralisierung", mache aber keine Angaben darüber, was dies im einzelnen heißen solle 282 • Hinsichtlich der Rechtsträgerschaft der Schulen ist Estland wie Lettland und Rußland den für westeuropäische Verhältnisse bemerkenswerten Weg gegangen, gern. § 29 des estländischen Schulgesetzes den Schulen den Status einer selbständigen juristischen Person zu geben 283 . Zudem sind die Schulen gern. § 31 des Bildungsgesetzes berechtigt, zusätzliche Dienstleistungen pädagogischer oder wissenschaftlicher Art gegen Entgelt anzubieten, über dessen Verwendung der Staat Vorschriften erläßt284 . Zwar wird dieser Prozeß der Selbständigkeit der Einzelschule aufgrund mangelnder Praxis und Qualifikation der Beteiligten als durchaus mit Schwierigkeiten behaftet bewertet285 , doch ist die schülerzentrierte Neuorientierung des Bildungswesens auf die "freie Entfaltung der Persönlichkeit" als grundlegende Bedingung der gesellschaftlichen Selbsterneuerung durch ein dezentralisiertes, demonopolisiertes und demokratisches Bildungswesen, in dem den am Erziehungsprozeß Beteiligten substantielle Eigenrechte zukommen, anerkanne86 • Im Zuge dieser Demokratisierung ist auch versucht worden, die Schulaufsicht in demokratische Strukturen einzubinden. So wurden bereits im Jahre 1988 kommunale Beiräte gebildet, denen neben Eltern, Lehrern und Schülern auch Vertreter der ortsansässigen Unternehmen und Behörden angehörten, und der sowohl Beratungs- als auch Aufsichtsfunktionen wahrgenommen hae87 • Im Bereich der Schulaufsicht orientiert sich die estländische Verfassung gleichwohl am Prinzip der staatlichen Schulaufsicht, die in Art. 37 Abs. 5 verfassungsrechtlich festgeschrieben ist.
Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 9. Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 10. 283 Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 8 f. 284 Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 9. 285 Rajangu, Väino, S. 143. 286 Virkus, Rein, S. 45. 287 Rajangu, Väino, S. 143. 281
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(2) Unterrichtsfreiheit und Schulen in freier Trägerschaft Ähnlich wie in Rußland gibt es in Estland einen Trend zur Stärkung des nichtstaatlichen Bildungssektors. In Estland hat die Demonopolisierung des Bildungswesens eine ebenso bedeutende Rolle für den Demokratisierungsprozeß gespielt wie in den meisten anderen osteuropäischen Ländern288 und hat zu einem relativ frühen Zeitpunkt zur Gründung und Etablierung nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere auch mit reformpädagogischer Ausrichtung, geführt. So begannen schon im Jahre 1989 fünf Elterninitiativen auf der Basis der Waldorfpädagogik ihre Arbeit, die in Schulgründungen in den Städten Aruküla, Polva, Rakvere, Tallinn und Tartu mündete, wobei die erste Waldorfschule zum 1. September 1990 eröffnet wurde 289 . Zu Beginn des Jahres 1996 gab es in Estland 35 Privatschulen, davon 5 Waldorfschulen 290 • Zu diesen wurden im Jahr 1996 zwei weitere Waldorfschulen gegründet und in Betrieb genommen, so daß es im Schuljahr 1996/97 sieben Waldorfschulen sowie einzelne Freinet- und Montessorischulen gab. Verfassungsrechtlich sind die Voraussetzungen für die Umgestaltung des Bildungswesens mit Art. 37 der Verfassung der Republik Estland vom 28.6. 1992 geschaffen worden. Auch dieser Verfassungs artikel knüpft wie andere neue osteuropäische Verfassungsurkunden an westeuropäische Schulverfassungstraditionen, die das Prinzip der sozialen Grundrechte in ihren Bildungsartikel mit aufgenommen haben, an, indem er in Abs. 1 Satz 1 das Recht auf Bildung für jedermann und in Satz 2 neben der Schulgeldfreiheit eine allgemeine Schulpflicht im Rahmen der Gesetze konstituiert. Dieses Recht auf Bildung durch die Pflicht des Staates nach Art. 37 Abs. 2 Verfassung Estlands, ein ausreichendes öffentliches Schulwesen in staatlicher und kommunaler Trägerschaft zu unterhalten, orientiert sich in Abkehr vom universalistisch-staatsbezogenen Verständnis des Rechts auf Bildung in der sozialistischen Verfassungstradition an dem Recht auf Bildung als individuelles Freiheitsrecht, welches insbesondere in Art. 37 Abs.2 Satz 2 i.V.m. Art. 37 Abs. 3 der Verfassung Estlands deutlich wird. Artikel 37 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung Estlands normiert unter dem Vorbehalt der gesetzlichen Regelungen das Recht auf Gründung anderer als staatlicher oder kommunaler Schulen einschließlich der Gründung von privaten Schulen, und nach Art. 37 Abs. 3 der Verfassung Estlands sollen die Eltern das (Letzt-)Entscheidungsrecht bei der Rajangu, Väino, S. 170. s. hierzu Priimägi, Sirje, Erste Waldorfschule in Estland, Das Goetheanum, Nr. 41 vom 7.10.1990; Ruf, Bemd, Waldorfpädagogik als freiheitliche Alternative 288
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Reise-Impressionen vom Besuch der waldorfpädagogischen Initiativen in Estland, Erziehungskunst 1991, S. 834 ff. 290 Mason, Peter, Real freedom, S. 20.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
Wahl der Schule haben. Obgleich damit die Grundlagen für eine Demonopolisierung des Bildungswesens geschaffen wurden, ist nicht zu verkennen, daß allein eine Gründungsgarantie für Schulen in freier Trägerschaft die notwendige materielle Unterstützung durch staatliche und kommunale Subventionen verfassungsrechtlich nicht sichert, so daß es im wesentlichen auf die einfachgesetzliche Ausfonnung der Unterrichtsfreiheit ankommt, inwieweit gesellschaftlich eine Entstaatlichung des Bildungswesens überhaupt wirksam werden kann. Einfachgesetzliche Grundlage für das Recht der freien Schulen ist das Gesetz über private Lehranstalten vom 2.7.1993 291 • Im Jahre 1998 wurde der Entwurf für ein neues Privatschulgesetz, der insgesamt eine enge Anbindung an die Vorgaben des staatlichen Schulsystems vorsieht, vorgelegt, der jedoch noch nicht verabschiedet ist und kontrovers diskutiert wird, so daß dieser nachfolgend unberücksichtigt bleiben muß. Das Privatschulgesetz von 1993 enthält in § 1 die Legaldefinition, daß eine Privatschule eine auf Privateigentum einer natürlichen oder juristischen Person gegründete Bildungseinrichtung ist. Gründungsvoraussetzung sind nach § 3 PrivatSchulG der Nachweis des dem Bildungsgang entsprechenden pädagogischen Personals, der Lehrplan und der geeigneten Räumlichkeiten. Die Festlegung der Gründungsbedingungen im einzelnen obliegt nach § 3 Abs. 1 Satz 2 BildungsG dem Ministerium. Die Gründung wird umgesetzt durch ein mehrstufiges Verfahren der Erbingung verschiedener Gründungsdokumente, nämlich der Satzung und des Gründungsvertrages, der Gründungsgenehmigung, der Lehrgenehmigung und der Bestätigung der Registrierung. Hierbei wird die Gründungsgenehmigung dezentral auf kommunaler Ebene erteilt (§ 6 Abs. 1 PrivatSchuIG). Sie kann verweigert werden, wenn die Gründung gegen Rechtsvorschriften verstoßen würde oder aber die Gründung der Privatschule als für die Interessen des Verwaltungs gebiets schädlich beurteilt wird (§ 7 Abs. 1 PrivatSchuIG). Hierbei erscheint der zweite Beurteilungs- und Ennessensspielraum der Behörde bezüglich des unbestimmten Rechtsbegriffs der "Schädlichkeit" unter den Aspekten grundrechtlicher Justitiabilität ebenso bedenklich wie unter dem Aspekt der Rechtssicherheit problematisch. Von der Gründungsgenehmigung, die von der Lokalverwaltung erteilt wird, ist die Lehrgenehmigung zu unterscheiden. Diese wird durch das Kultur- und Bildungsministerium erteilt. Sofern der Lehrplan, der vom Träger selbst festgesetzt wird, dem festgesetzten Bildungsstandard entspricht, kann die Schule Abschlußzeugnisse vergeben (§ 5 Abs. 3 PrivatSchuIG). Vor Aufnahme des Unterrichtsbetriebs muß die Schule registriert sein und erhält ab diesem Zeitpunkt die Rechte einer juristischen Person (§ 10 PrivatSchulG), wobei eine Verweige291 Privatschulgesetz Riigi reataja (staatliche Bekanntmachungen) I 35/1993, S. 547 mit Änderungen, 1211995, S. 119.
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Baltikum
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rung aus Erwägungen der Zweckmäßigkeit unzulässig ist (§ 11 Abs. 1 PrivatSchuIG). Die Privatschule hat grundsätzlich das Recht der eigenen Unterrichtsgestaltung. Dieses Recht wird hinsichtlich der Schulaufsicht und des Berechtigungswesens jedoch an das staatliche Schulsystem gekoppelt. Danach obliegt dem Kultur- und Bildungsministerium die Regelung der Zeugnisgebung, für die Kontrolle der Unterrichtsorganisation und -durchführung gelten die gleichen Vorschriften wie für die staatlichen Schulen, und Berechtigungen im Sinne von anerkannten Abschlußzeugnissen setzen die Gewährleistung eines Unterrichts nach den allgemeinen Bildungsstandards oder nach einem unter Beachtung des staatlichen Lehrplans genehmigten Lehrplan voraus (§§ 13 bis 16 PrivatSchuIG). Das estländische Privatschulgesetz anerkennt die Notwendigkeit staatlicher Zuschüsse für die Existenz des nichtstaatlichen Schulwesens. Danach werden gern. § 18 PrivatSchulG die Unterrichtskosten, welche die Gehälter der Pädagogen und die Unterrichtsmittel umfassen, aus dem staatlichen Etat entsprechend den Kosten staatlicher Schulen erstattet. Die Deckung der Betriebskosten, d. h., der Benutzungskosten für Gebäude und Anlagen sowie die Gehälter des technischen Personals obliegt dem Schulträger. Das Gesetz geht dabei in § 18 Abs. 2 PrivatSchulG von einer Eigenfinanzierung dieser Kosten durch Schulgeld und Zuwendungen von Stiftungen, Spenden von Institutionen, Unternehmen, Organisationen oder Privatpersonen aus. Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Lage wird diesbezüglich befürchtet, daß sich die unabhängigen Schulen in Estland gleichwohl zu sozialen Eliteschulen entwickeln292 • (3) Perspektiven der Schulverfassung Mit der Reform des estländischen Bildungswesens sind insgesamt wesentliche Elemente einer demokratischen Schulverfassung mit bürgerschaftlichen Ansätzen auf den Weg gebracht worden. Dies gilt sowohl für das staatliche wie auch das nichtstaatliche Schulwesen. Trotz der Akzeptanz nichtstaatlicher Schulen ist eine Gleichstellung aller Schulen unabhängig von der Trägerschaft der Schule jedoch nicht verwirklicht worden. Nach der Vorlage eines neuen Privatschulgesetzes bleibt offen, inwieweit Estland den Prozeß der Pluralisierung weiterverfolgt, da der Gesetzentwurf eine stärkere Akzessorität des nichtstaatlichen Sektors an das staatliche Schulwesen anzustreben scheint.
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S.7.
Horchert, Manfred, FlFIFIE Informationen für Mitglieder (Selbstverlag), 7/1997,
30 lach
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
b) Schulverfassung in Lettland Nach der Beurteilung eines ausgewiesenen Osteuropaexperten im Bildungswesen, dem Politologen Siegfried Jenkner, ist von den drei baltischen Staaten Lettland als derjenige zu bewerten, welcher die weitreichendsten Reformen im staatlichen Bildungswesen normativ verankert hat. Das lettische Bildungsgesetz vom 12.6.1992 gewährt danach gern. Art. 17 eine weitgehende Selbständigkeit hinsichtlich der gesamten Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit und begrenzt nach den Art. 6 und 8 die curricularen Befugnisse des Ministeriums ausdrücklich auf die Ausarbeitung von "Grundlinien" der Bildungsprogramme und von Musterlehrplänen, worin Jenkner Freiräume der Schulen zu eigener Ausgestaltung garantiert sieht293 • Die Selbständigkeit der Einzelschule bezieht sich darüber hinaus auch auf die Verwendung der Finanzmittel und die Auswahl und den Einsatz des pädagogischen und technischen Personals 294 • Darüber hinaus können die Schulen, die wie in Estland und Rußland gern. Art. 15 des lettischen Bildungsgesetzes den Status einer selbständigen juristischen Person haben, zusätzliche pädagogische oder wissenschaftliche Dienste anbieten und über die daraus erzielten Einnahmen frei verfügen. Das Verfassungsgesetz Lettlands (Lett. VerfG) vom 10.12.1991 regelt in den Art. 36 bis 40 das Verhältnis des Erziehungsrechts der Eltern und des staatlichen Schulwesens. Hierbei betont das Verfassungsgesetz in Art. 36 Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich den Vorrang der elterlichen Erziehungsträgerschaft für das Wohl und die Entwicklung des Kindes. Dafür Sorge zu tragen, daß die Eltern diese Erziehungsverantwortung wahrnehmen können, ist nach Art. 36 Abs. 2 Lett. VerfG Aufgabe des Staates und der Gesellschaft. Mit dem Erziehungsprimat der Eltern korrespondierend, normiert Art. 39 Lett. VerfG die Verantwortung der Eltern, den Kindern eine ihren Begabungen und den vorgeschriebenen Anforderungen der obligatorischen Grundbildung entsprechende Erziehung zu sichern. Vor dieser Grundentscheidung des Vorrangs des treuhänderisch an das Wohl des Kindes gebundenen elterlichen Erziehungsrechts normiert Art. 38 Abs. 1 Lett. VerfG das Recht auf Bildung, welches der Staat nach Abs. 2 durch den schulgeldfreien Besuch von Unterrichtsanstalten zu garantieren hat und den Zugang zur weiterführenden Bildung lediglich von der Begabung abhängig macht. Entsprechend dem Anliegen Lettlands, ein pluralistisches Bildungswesen zu schaffen, wurde insbesondere kindzentrierten, reformpädagogischen Innovatio-
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Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule. S. 9. Jenkner. Siegfried. Demokratisch verfaßte Schule. S. 9.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Baltikum
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nen strukturell sowohl in den einzelnen Schulen als auch in der Lehrerbildung breiter Raum zur Verwirklichung gegeben295 • Artikel 40 des Verfassungsgesetzes verankert schließlich in Satz 1 das Recht von Personen und Vereinigungen, nichtstaatliche Schulen auf verschiedenen Levels zu etablieren, die nach Satz 2 der Aufsicht des Staates unterliegen. Diese verfassungsrechtliche Regelung korrespondiert mit Art. 14 des Bildungsgesetzes der lettischen Republik vom 19.7.1991, wonach Lehr- und Bildungsanstalten durch Selbstverwaltungsorgane, Ministerien, Behörden oder andere juristische Personen gegründet werden können. Von diesem Recht der Gründung nichtstaatlicher Schulen in freier Trägerschaft kann jedoch nur Gebrauch gemacht werden, sofern die notwendigen Mittel hierzu von den Beteiligten selbst aufgebracht werden. So ist in Adazi eine Schule in freier Trägerschaft, die sich als Waldorfschule versteht, gegründet worden, für deren Besuch pro Schüler 5.000 Rubel aufgebracht werden müssen. Diese Schule wird auch aus Sicht der Waldorfschulen als ,,Eliteschule" klassifiziert 296 . Demgegenüber steht der auch in anderen osteuropäischen Ländern angestrebte Versuch, Waldorfpädagogik ins staatliche Schulwesen zu integrieren, um diese für alle gesellschaftlichen Schichten offenzuhalten. Dementsprechend wird in Riga in einer staatlichen Grundschule, die dem Bildungsministerium untersteht, nach der Waldorfpädagogik unterrichtet, wobei der Staat für die Lehrergehälter aufkommt und Schulgeld nicht erhoben werden muß297 . Insofern scheint sich ein ambivalentes Bild der lettischen Schul verfassung zu ergeben. Der Gewährung von rechtlicher, administrativer und pädagogischer Teilautonomie im staatlichen Schulwesen steht ein klassisch-liberales Verständnis der Schulen in freier Trägerschaft gegenüber, weIches die Gefahr der sozialen Selektion und Elitenbildung bewirkt.
c) Schulverfassung in Litauen Nach der Ansicht des schon mehrfach zitierten Politologen Siegfried Jenkner vermittelt das litauische Bildungsgesetz vom 12.2.1991 (Lit. BildungsG) im Vergleich der drei baltischen Staaten "noch am stärksten den Eindruck von traditioneller staatlicher Verfügungsgewalt über die Schule,,298, obgleich unzweifelhaft in demokratischen, rechtsstaatlichen Strukturen und nach der Ab295 s. hierzu Altermann, Klaus, Pädagogischer Pluralismus in der akademischen Lehrerlnnenbildung Ostmitteleuropas - am Beispiel Lettlands. In: lach, FrankRüdiger/Jenkner, Siegfried, Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel. Berlin 1998, S. 157 ff. 296 Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, S. 1347 (1352). 297 Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, S. 1347 (1352). 298 lenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 8.
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
schaffung des staatlichen Schulmonopols. Insgesamt bieten die normativen Regelungen gleichwohl nur wenig eigenständige Gestaltungsräume. So sind die Bildungseinrichtungen nach Art. 9 des Gesetzes der zentralen oder lokalen Administration untergeordnet und haben ihre Tätigkeit gern. Art. 28 nach staatlich vorgegebenen Regularien auszuüben, die gern. Art. 30 VOn den vorgesetzten Behörden unmittelbar kontrolIiert werden, wobei das Bildungsministerium nach Art. 31 die Bildungsstandards, Lehrpläne und Lehrmittel zentral festlegt299 • Soweit danach die Lehrer im Sinne von Art. 23 Lit. BildungsG frei über die Form und Methode des Unterrichts entscheiden können, gilt dies nur innerhalb der staatlich gesetzten Vorgaben. Auch hinsichtlich der inneren Schul verwaltung hat die einzelne Schule keine substantiellen Eigengestaltungs- oder Selbstverwaltungsmöglichkeiten. Die Finanzmittel werden gern. Art. 36 Lit. BildungsG von der zuständigen Verwaltung zugewiesen, die nach den Art. 31 und 33 Lit. BildungsG auch den Schulleiter auswählt und ernenneoo . Artikel 20 Lit. BildungsG gewährt den Eltern das Recht der freien Schulwahl zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Schule und der Teilnahme an der schulischen Selbstverwaltung. Schulen in freier Trägerschaft sind nach Art. 36 Lit. BildungsG grundsätzlich durch den Schulgründer/-träger zu finanzieren. Sofern eine Schule in freier Trägerschaft den staatlichen Normen entspricht, können ihr staatliche Zuschüsse301 gewährt werden.
7. Schulverfassung in Rumänien a) Normative Grundlagen des Bildungswesens
(1 ) Verfassungs rechtliche Grundlagen Rumänien war wie kaum ein anderes osteuropäisches Land der ideologischen Umklammerung totalitären Denkens ausgesetzt und das Bildungssystem Transformator eines ideologischen Denkens in streng hierarchischen Formen. Im Gegensatz zu den anderen osteuropäischen Staaten ist Rumänien zum einen dadurch geprägt, daß bis Ende 1996 mit der Partei der Sozialen Demokratie eine Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei die Regierungspartei stellte, zum anderen dadurch, daß während dieser Zeit aus der Sicht VOn Kritikern das "Schulwesen ... als zweitrangige Frage behandelt", ,jegliche demokratische Reform verschleppt" und erst 1995 ein neues Bildungsgesetz verabschiedet wur299 300 301
Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 8. Jenkner, Siegfried, Demokratisch verfaßte Schule, S. 8. Mason, Peter, Real freedom, S. 20.
11. Schulverfassungen in Mittelosteuropa: Rumänien
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de, welches das Bildungsgesetz von 1978 außer Kraft setzte302 • Während der Zeit zwischen 1990 und 1995 wurde das Schulwesen durch diverse Regierungsbeschlüsse im Erlaßwege geregelt. Insbesondere mit dem ersten Regierungsbeschluß im Jahre 1990 wurden die Grundlagen für eine Neugestaltung des Bildungswesens unabhängig von legislativen Maßnahmen geschaffen. Sowohl mit der Verfassung von 1991 als auch dem Bildungsgesetz von 1995 sollten die Grundlagen eines demokratischen Bildungswesens geschaffen werden. Zentrale Punkte waren dabei die Gewährung eines Rechts auf Bildung, verbunden mit der Abschaffung des staatlichen Schulmonopols, die Achtung der Freiheit des religiösen Unterrichts und der Rechte nationaler Minderheiten. Nach Art. 32 Abs. 1 Rumänische Verfassung (Rum. Verf.) von 1991 wird das Recht auf Bildung durch die allgemeinbildenden Schulen und Oberschulen gewährleistet und kann nach Abs. 2 die Ausbildung unter gesetzlich geregelten Bedingungen auch in einer Fremdsprache von internationaler Bedeutung erfolgen. In Art. 32 Abs. 4 Rum. Verf., wonach das öffentliche Schulwesen gemäß dem Gesetz kostenlos ist, ist die Unentgeltlichkeit verfassungsrechtlich garantiert. Artikel 32 Abs. 5 Rum. Verf. garantiert im Rahmen des Gesetzes das Recht auf Gründung und Unterhaltung privater Unterrichtsinstitutionen. Vor dem Hintergrund der besonderen Minderheitenproblematik enthält Art. 32 Abs. 3 Rum. Verf. das Recht der nationalen Minderheiten, ihre Muttersprache zu lernen und in dieser unterrichtet zu werden, wobei die Modalitäten einem Gesetzesvorbehalt unterliegen. Des weiteren gewährt die Verfassung gern. Art. 32 Abs. 7 Rum. Verf. die Freiheit des religiösen Unterrichts gemäß den spezifischen Erfordernissen eines jeden Glaubensbekenntnisses. Da die Regelungen des Schulverfassungsartikels der rumänischen Verfassung weitestgehend unter einem GesetzesvorbehaIt stehen, kommt es für die strukturelle Ausgestaltung der Schulverfassung wesentlich auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung an. (2) Das Unterrichtsgesetz vom 24. Juli 1995 Das Unterrichtsgesetz vom 24. Juli 1995 (Rum. UnterrG) vollzieht scheinbar den vollkommenen Bruch mit der sozialistischen Bildungsperiode und bringt die besondere Bedeutung des Bildungswesens für die Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck. Das Unterrichtsgesetz bekennt sich nicht nur gern. Art. 3 und 4 zu den Idealen einer humanistischen, demokratischen Erziehung auf der Basis der nationalen Identität, sondern erklärt in Art. 2 i.V.m. Art. 169 Rum. UnterrG den Unterricht zur "nationalen Priorität" und 302 Miclescu, Maria, Das Rumänische Bildungswesen im Wandel. Köln 1997, S. 116 (119 f., 25).
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
legt fest, daß mindestens 4 v. Hundert des Bruttoinlandprodukts für das staatliche Bildungswesen ausgegeben werden müssen. Gleichzeitig bekennt sich das Unterrichtsgesetz zu den Prinzipien des Bildungspluralismus (Art. 5 Abs. 2 Rum. UnterrG) und versucht, durch eine besondere Begabtenförderung (Art. 7 Abs.6, 10 Abs. 4, 16 Abs. 2 Rum. UnterrG) ein hohes internationales Niveau zu erreichen. Gleichzeitig aber wenden Kritiker ein, daß moralische Werte der Person im Gesetz ebenso fehlen, wie dieses Raum für die Erzwingung eines gesellschaftlichen Konformismus biete 303 • Darüber hinaus haben die Regelungen zu den Rechten der nationalen Minderheiten zu weitreichenden Spannungen geführt, in deren Folge sogar das Europäische Parlament und der Europarat angerufen wurden 304 .
b) Zentrale Steuerung und dezentrale Verwaltung des staatlichen Bildungssystems Das im Jahre 1995 erlassene Bildungsgesetz hält unbeschränkt an einer zentralistischen Struktur der Bildungsverwaltung fest. Innerhalb des rumänischen Bildungswesens kommt dem Unterrichtsministerium weiterhin eine zentrale Bedeutung zu. Gemäß Art. 141 leitet das Unterrichtsministerium u. a. das nationale Unterrichtssystem, koordiniert und kontrolliert es, bewilligt die Lehrpläne, Stoffpläne und Lehrbücher für den allgemeinbildenden voruniversitären Unterricht, koordiniert die Ernennung, Versetzung, Entlassung und Leitung des Lehrpersonals und ist den Schulinspektoren übergeordnet, die nach Art. 142 Rum. UnterrG die Schulaufsicht innehaben. Den Schulinspektoraten obliegt gern. Art. 142 insbesondere die Sicherung der Anwendung der gesetzlichen Vorschriften hinsichtlich der Organisation, Leitung und des Verlaufs des Unterrichts, sie nehmen Fortbildungsaufgaben wahr und sichern in Kooperation mit der Lokalverwaltung eine sachgerechte und ausreichende Ausstattung der Schulen. Die Schulinspektorate bestehen nach Art. 143 Abs. 4 Rum. UnterrG aus einem Verwaitungsrat und einer beratenden Versammlung. Hierbei gehören dem Verwaltungsrat die Inspektoren der verschiedenen hierarchischen Ebenen und Juristen an. Die beratende Versammlung besteht aus den Direktoren der Schulen, anderen angesehenen Lehrkräften, Elternvertretern und Vertretern der Lokalverwaltung. Mit dieser beratenden Versammlung scheint normativ, auch wenn die staatliche Schulaufsicht nicht in Frage gestellt ist, zumindest prozedual die Gewährung von Mitwirkungsrechten nichtstaatlicher Gruppen möglich.
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Miclescu, Maria, S. 36. Miclescu, Maria, S. 109 ff.
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Rumänien
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Nach Art. 7 Abs. 3 erfolgt die Finanzierung des staatlichen Unterrichts durch den Staatshaushalt und die Lokalbudgets. Hierbei haben die Gemeinden gern. Art. 169 Abs. 2 das Recht der Zuteilung zusätzlicher Ressourcen für den Unterricht. Schulen, die nach Art. 7 Abs. 4 Rum. UnterrG, sofern sie nicht nur die Grundschulklassen 1-4 umfassen, eigene Rechtsfahigkeit besitzen, haben gern. Art. 169 Abs. 3 die Befugnis, durch Eigeneinkommen, Subventionen, Schenkungen, die Erhebung von Gebühren sowie Sponsoring zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Hiermit korrespondiert das Recht der staatlichen Schulen, für einige fakultative Aktivitäten Gebühren von den Schülern zu erheben (Art. 7 Abs.2). c) Die Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft (1) Gründungsfreiheit
Die rumänische Verfassung von 1991 enthält in Art. 32 Abs. 5 eine Errichtungsgarantie für private Bildungseinrichtungen und Institutionen und eine Unterhaltungsgewährleistung nach Maßgabe der Gesetze. Die Gründung von Privatschulen unterliegt einfachgesetzlich gern. Art. 103 ff. Rum. UnterrG einem zwei stufigen Genehmigungsverfahren. Sie kann aufgrund einer Bewilligung des Schulinspektorats und aufgrund eines Bewertungsgutachtens erfolgen. Hierbei ist Voraussetzung für den Privatunterricht, daß die Standards des staatlichen Unterrichts eingehalten werden. Gleichwohl können nach Art. 108 Abs. 1 Rum. UnterrG alternative Lehrpläne verwendet werden, die aber vom Unterrichtsministerium genehmigt werden müssen. Die Genehmigung wird nach Art. 107 Rum. UnterrG zunächst vorläufig erteilt und bei positiver Begutachtung spätestens nach 4 Jahren bei Grundschulen sowie nach der ersten erfolgreichen Leistungsprüfung bzw. der Abiturprüfung für Gymnasien und Lyzeen erteilt, d. h., die Schulen unterliegen einer Probezeit. Hierbei besteht eine relativ starke Eingriffsmöglichkeit des Unterrichts ministeriums in Form des Genehmigungsvorbehalts. Nach Art. 111 Rum. UnterrG sind Diplome und Zeugnisse, die von privaten Unterrichtsinstitutionen ausgestellt werden, nur dann staatlichen Abschlüssen gleichwertig, wenn die Abschlußprüfungen vor einer staatlichen Kommission abgelegt wurden. (2) Finanzierung privater Schulen Weder die Verfassung noch das Unterrichtsgesetz bieten eine ausreichende rechtliche Grundlage für subjektive Rechte des Schulträgers auf staatliche Zuschüsse. Während die Verfassung Zuschüsse dem Regelungsvorbehalt des Gesetzgebers überträgt, enthält das Gesetz in Art. 103 Abs. 4 lediglich eine unbestimmte "Kannbestimmung", wonach Privatschulen staatlich unterstützt werden können. Gleichzeitig legt das Gesetz fest, daß der Privatunterricht nicht
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
nach gewinnmaximierenden Gesichtspunkten organisiert und durchgeführt werden darf. Diese Bestimmung in Art. 104 lit. a Rum. UnterrG ist jedoch zu unbestimmt, um etwa eine soziale Selektion zu verhindern. Auf der anderen Seite legt das Gesetz dem Schulträger bestimmte Finanzierungspflichten auf. So müssen die Schulen nach Art. 115 Rum. UnterrG nicht nur über ausreichend große und ausgestaltete Räumlichkeiten verfügen, sondern zur endgültigen Genehmigung nachweisen, daß sie während der vorläufigen Genehmigung mindestens 25 % ihres Einkommens für Investitionen verwendet haben und sich noch zwei Einschulungszyklen nach der Genehmigung mindestens 50 % der Unterrichtsräume in Eigenbesitz befinden und in dieser Zeitspanne ebenfalls mindestens 25 % ihres Einkommens für Investitionen verwandt haben. Diese Regelung dürfte für bürgerschaftliche pädagogische Initiativen, die über keine hinter ihnen stehenden Gruppen oder Institutionen verfügen, nur schwer realisierbar und von daher ein Hemmschuh für die Entfaltung privater Initiative im Bildungswesen sein. (3) Grenzen der pädagogischen Freiheit und die Aufsicht über die Privatschulen Nach Art. 141 lit. j Rum. UnterrG kontrollieren die Schulinspektorate alle Tätigkeiten und Dienstleistungen im Bereich des präuniversitären Unterrichts, die von Wirtschaftsträgem, Stiftungen, Vereinen, Religionsgemeinschaften und anderen Rechts- oder physischen Personen organisiert werden, und haben das Recht, bei einem Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen Abhilfeanordnungen zu treffen. Damit unterliegen die nichtstaatlichen Schulen als Teil des nationalen Bildungssystems einer umfassenden Schulaufsicht. Dies korrespondiert damit, daß sich die Leitung des Unterrichtsministeriums nach Art. 1 und 4 Rum. UnterrG auf das gesamte nationale Unterrichtssystem bezieht. Nach Art. 108 Abs. 1 Rum. UnterrG dürfen im sog. Privatunterricht nur ähnliche Lehrpläne wie im staatlichen Unterricht oder alternative Pläne verwendet werden, die gemäß dem nationalen Standard der staatlichen Schulen die obligatorischen, optionalen und fakultativen Fächer enthalten, wobei gemäß Art. 108 Abs. 2 Rum. UnterrG die Stoffpläne der Fächer denselben Anforderungen entsprechen müssen wie die Lehrpläne und Bücher nach Abs. 3 vom Unterrichtsministerium genehmigt werden müssen. Da zudem i.V.m. Art. 141 lit. c das Unterrichtsministerium nicht nur die Lehr- und Stoffpläne, sondern auch die Lehrbücher für alle Schulen bewilligt, ist die pädagogische Freiheit des nichtstaatlichen Unterrichts rechtlich wenig gesichert. Insofern hängt das Maß der Verwirklichung von Bildungsvielfalt wesentlich von Ermessensentscheidungen der Exekutive in Form des Unterrichtsministeriums ab. Hierbei korrespondiert eine normativ defizitäre Sicherung der Unterrichtsfreiheit mit einer defizitären Sicherung der Finanzierungsansprüche nichtstaatlicher Schulträger.
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d) Das Recht der nationalen Minderheiten Neben der Verfassung garantiert auch das Unterrichtsgesetz nach Art. 8 i.V.m. Art. 118 ff. Rum. UnterrG das Recht auf muttersprachlichen Unterricht der nationalen Minderheiten. Doch keine Minderheitenregelung der letzten Jahre war so umstritten wie die des Bildungsgesetzes aus dem Jahre 1995. Kritiker gehen gar so weit, darin eine Verschlechterung gegenüber der Situation vor 1989 zu sehen30s . Dieses Recht auf muttersprachlichen Unterricht ist in Art. 119 Abs. 1 Rum. UnterrG dahin konkretisiert, daß entsprechend den zeitlichen Erfordernissen auf Antrag der Erziehungsberechtigten Gruppen, Klassen, Abteilungen oder Schulen mit Unterricht in den Sprachen der nationalen Minderheiten eingerichtet werden, wobei hierdurch nicht das Erlernen der rumänischen Sprache beeinträchtigt werden darf. Nach Art. 121 Rum. UnterrG wird Schülern der nationalen Minderheiten, die Schulen mit rumänischer Unterrichtssprache besuchen, auf Wunsch und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen Unterricht in ihrer Muttersprache, ihrer Literatur sowie Geschichte und Traditionen zugesichert. Besonderer Kritik war demgegenüber die Regelung ausgesetzt, daß die Aufnahme- und Abschlußprüfungen "nur in den Schuleinrichtungen, -klassen und -fächern in einer Sprache der Minderheiten abgehalten werden, in denen in dieser Sprache unterrichtet wird,,306. Ferner galt die Kritik insbesondere dem Geschichts- und Geographieunterricht. In der Unterrichtsgestaltung sind nach Art. 120 Abs. 2 Rum. UnterrG im Geschichtsunterricht zwar die Geschichte und Traditionen der nationalen Minderheit zu berücksichtigen, doch werden die "Geschichte der Rumänen" und die "Geographie Rumäniens" im Sekundarbereich nur in rumänischer Sprache unterrichtet und geprüft. Insbesondere die Vertreter der 1,6 Millionen Menschen umfassenden ungarischen Minderheit sahen sich hierdurch in ihren Rechten verletzt und riefen sowohl das Europäische Parlament als auch das rumänische Verfassungsgericht an. Während das Europäische Parlament am 13. Juli 1995 das Bildungsgesetz kritisierte und eine Resolution zum Schutz der Minderheiten in Rumänien verabschiedete, wies das Verfassungsgericht eine entsprechende Klage ab307 .
e) Ansätze von Schulvielfalt am Beispiel der Waldoifpädagogik Obgleich man in Rumänien von einer bürgerschaftlichen Schulverfassung nicht sprechen kann und der Staat eine umfassende inhaltliche Steuerung des Bildungswesens anstrebt, versucht kaum ein anderes Land Osteuropas in gleicher Weise eine Adaption westeuropäischer pädagogischer Reformkonzepte Miclescu, Maria, S. 117. Miclescu, Maria, S. 114. 307 Miclescu, Maria, S. 109 ff. 305 306
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
wie Rumänien. Hierbei geht es nicht primär um die Übernahme administrativer Strukturen, sondern um die Verwirklichung pädagogischer Konzepte, die sich in den westeuropäischen Staaten fast ausschließlich im sog. Privatschulwesen finden, im staatlichen Schulwesen. In Rumänien scheint sich mit dem Umbruch seit dem Jahre 1989 im Schulwesen eine eigenständige und für die anderen west- wie osteuropäischen Staaten besondere Entwicklung zu ergeben, auf die das klassische Zuordnungsmodell zwischen nichtstaatlicher Schule als Freiraum für pädagogische Alternativen einerseits und der Staatsschule als Abstinenzort für pädagogische Alternativmodelle andererseits nicht anwendbar ist. Dies betrifft vor allem die traditionelle Trennlinie zwischen staatlichen Schulen und reformpädagogischen Schulen in Elternträgerschaft. So werden in Rumänien derzeit reformpädagogische Unterrichtskonzeptionen wie die der Waldorf-, der Freinet- und der Montessoripädagogik in erheblichem Umfang an staatlichen Schulen unterrichtet und vom Staat finanziert. Das macht diese alternative pädagogische Schulkonzeption nicht nur für breite Teile der Bevölkerung aufgrund der Nichtnotwendigkeit der Erhebung von Schulgeld zugänglich, sondern zugleich ist es so möglich, diese Unterrichtskonzeption relativ flächendekkend einzuführen. So gab es in Rumänien schon 1991 16 Schulen, in denen Lehrer, zunächst im Primarbereich bis zur Klasse drei, Versuchsklassen nach der Methode der Waldorfpädagogik unterrichteten308 • Im Jahre 1993 umfaßte dies schon 80 Klassen mit bereits bis zu fünf Klassenstufen, wobei einschließlich 50 Kindergartengruppen etwa 2.800 Kinder nach der Waldorfpädagogik unterrichtet und betreut wurden309 • So wurden allein in Bukarest an 21 Staatsschulen über 500 Schüler nach dem Lehrplan und der Methode der Waldorfpädagogik unterrichtet3lO • Der Einfluß der Waldorfpädagogik hat sich dabei auch in den Jahren der Konsolidierung des Bildungssystems weiter verbreitert, so daß im Schuljahr 1996/1997 in über 125 Klassen nach den Prinzipien der Waldorfpädagogik unterrichtet wurde3\l. Beachtenswert ist dabei an der rumänischen Entwicklung unter dem Gesichtspunkt des Bildungspluralismus nicht so sehr das sog. Privatschulwesen. Vielmehr wird die weitere Entwicklung interessante Aufschlüsse über die Möglichkeiten der Verwirklichung von alternativen Schulmodellen im staatlichen Schulwesen insgesamt geben, so daß die rumänische Entwicklung besondere Beachtung und besonderes Interesse verdient.
Zit. nach DLZ 3911991, S. 1. Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1993, Erziehungskunst 1993, S. 1377 (1406). 310 Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, S. 1347 (1354). 311 Hiller, Waldorf-Symposium in Rumänien, Erziehungskunst 1996, S. 1120. 308
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Unabhängig davon hat eine als Rechtssubjekt eigenständige Waldorfschule ihren Unterrichtsbetrieb aufgenommen 3l2 . Die besondere Stellung der Waldorfschulen im Strukturwandel des rumänischen Bildungswesens wird auch deutlich, wenn man sich den nichtstaatlichen Sektor der Schulträger näher betrachtet. Hier war die Eröffnung der ersten nichtstaatlichen Schule ebenfalls die einer Waldorfschule. Kennzeichnend ist aber auch die geringe Bedeutung der kirchlichen Schulen in Rumänien, so daß sich im sog. Privatschulwesen zumindest eine Gleichrangigkeit der Schulen in Elternträgerschaft mit den kirchlichen Schulen ergibt. Ferner ist in Rumänien eine neue Rechtsform der Beziehungen von Waldorfschulen im Verhältnis zum Staat zu sehen. Es handelt sich um die Entwicklung eines Kontraktverhältnisses, in welchem Waldorfschulen als Bestandteil des staatlichen Schulwesens einen Vertrag mit dem Bildungsministerium schließen, gleichwohl aber ihre pädagogische Selbständigkeit weitestgehend anerkannt wird. So wurde am 7.11.1996 ein allgemeines Kooperationsabkommen im Range einer staatsvertraglichen Regierungsverpflichtung unterzeichnet, nach dem sich Rumänien zur Förderung alternativen Unterrichts innerhalb des staatlichen Schulwesens auf der Grundlage der Waldorfpädagogik verpflichtet und das die Voraussetzungen für die Gründung und Unterhaltung von Waldorfschulklassen oder Waldorfschulen im staatlichen Schulsystem regelt3\3. Hierbei sichert das Kooperationsabkommen bei einer weitgehenden Anerkennung der pädagogischen Autonomie und des Rechts der Schulen auf Selbstverwaltung eine vollständige staatliche Finanzierung und regelt die besonders brisante Problematik des Berechtigungswesens. Danach soll die Abschlußprüfung in einem besonderen, dem Abitur gleichwertigen Verfahren erfolgen. Dieses Kooperationsabkommen basiert auf Art. 32 Rum. Verf. sowie Art. 14 des Unterrichtsgesetzes 84/1995, welcher sich auf die Verpflichtung des Unterrichtsministeriums bezieht, Bildungsalternativen zu prüfen und zu genehmigen, und dem Regierungsbeschluß Nr. 238/1993, der das Funktionieren von alternativen Ausbildungs- und Fortbildungsformen im Unterrichtsprozeß erlaubt. Das Abkommen zielt gern. Art. 1 ausdrücklich auf die Förderung einer dem staatlichen Unterricht äquivalenten Modalität des auf die Waldorfpädagogik gründenden alternativen Unterrichts, wobei sich die Äquivalenz gern. Art. 1 Abs. 2 auf die Gleichheit der Mindest-Finalitäten der verschiedenen Schulstufen bezieht. Gemäß Art. 2 des Abkommens kann danach die Waldorfföderation unmittelbar oder eine der Waldorfföderation angehörende rumänische Rechtsperson Beyer, Gottfried, Besuch aus Rumänien, Erziehungskunst 1996, S. 564. s. hierzu Ruf, Bemd, Deutsche Entwicklungshilfe fördert Waldorfschule in Bukarest, Erziehungskunst 1996, S. 1359 f. 312 313
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E. Die Demonopolisierung des Bildungswesens
auf der Grundlage der Waldorfpädagogik Unterricht in jeglicher ländlichen oder städtischen Ortschaft, soweit dieser den gesetzlichen Vorschriften entspricht, initiieren, organisieren und durchführen. Gegenstand der durch das Abkommen geregelten Berechtigungen sind sowohl die Begründung von Waldorfunterrichtsformen im staatlichen Schulwesen gern. Art. 5 i.V.m. Art 2 und 3 (sog. Waldorfklassen) als auch die Gründung von eigenen Waldorfschulen als Schulen in freier Trägerschaft gern. Art. 4 i.V.m. Art 2 und 3 (Waldorfschulen) des Abkommens. Voraussetzung für die Gründung einer Waldorfschule ist gern. Art. 4 Abs. in Entsprechung des Unterrichtsgesetzes 84/1995 die schriftliche Option der Eltern einer Anzahl von in vier Schulklassen erfaßten Kindern und die Vorlage einer Gründungsdokumentaion, die neben den in Abs. 1 genannten Voraussetzungen das organisatorische Schema mit dem didaktischen und sonstigen Personal und Angaben über die Sachausstattung enthält. Eine Waldorfklasse ist innerhalb des staatlichen Schulwesens gemäß dem Unterrichtsgesetz 84/1995 i.V.m. Art. 5 des Abkommens einzurichten, wenn von den Eltern von mindestens 15 Kindern eine schriftliche Optionserklärung vorliegt. Im Vergleich zu den staatlichen Schulklassen können dabei Wal dorfklassen eine höhere Schülerzahl aufweisen. Die Gründung von Waldorfklassen unterliegt dabei der Genehmigung des Kreisschulinspektorats. Hierbei verpflichtet sich das Unterrichtsministerium gern. Art. 8 die Entlohnung des Lehrkörpers unter Beibehaltung und Anerkennung des Status eines Lehrers im staatlichen Schulwesen zu sichern sowie die Regie- und Unterhaltskosten für die Gebäude zu übernehmen. Um den Besonderheiten der Waldorfpädagogik gerecht zu werden, verpflichtet sich das Unterrichtsministerium, auf zentraler und lokaler Ebene mit der Föderation zwecks Gewährleistung einer guten Arbeit und Entwicklung des alternativen Waldorfunterrichts zusammenzuarbeiten. Auf der Basis dieses Kooperationsabkommens hat das Unterrichtsministerium mit Erlaß Nr. 5773 vom 8. November 1996 die Rahmenbedingungen für die Ausweitung der bestehenden Waldorfschule Nr. 1 bis zum Abitur geschaffen. Diese Waldorfschule war im Jahre 1995 auf der Basis eines Abkommens mit dem Unterrichtsministerium vom 19.7.1995 für die Klassen 1-8 mit der Möglichkeit der Verlängerung bis zum Abitur als erste Waldorfschule genehmigt worden. Ihr wurde ausdrücklich das Recht der Selbstverwaltung auf der Grundlage der Waldorfpädagogik zugesichert und gern. Art. 6 dieses Abkommens den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend auch die Finanzierung der Regie- und Personalkosten durch die Schulbehörde. Hierbei umfaßt die Orientierung an reformpädagogischen Impulsen auch die Lehrerausbildung. "In Bukarest besteht seit 1990 ein Zentrum für Waldorfpäd-
11. Schul verfassungen in Mittelosteuropa: Rumänien
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agogik, wo angehende Lehrer ... ausgebildet werden. Das rumänische Erziehungsministerium fördert diese einjährige Zusatzausbildung, indem es 50 Bewerber pro Jahr vom Unterricht freistellt, die Lebenshaltungskosten trägt und die Wiedereinstellung regelt. Nach Abschluß der Ausbildung werden die Waldorflehrer vom Staat übernommen und erhalten das offizielle Lehrergehalt,,314. Daneben gibt es diverse nebenberufliche Weiterbildungs- und Fortbildungsangebote315 . Des weiteren scheinen sich sogar Entwicklungstendenzen abzuzeichnen, nach denen eine neu zu gründende Pädagogische Fakultät an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Bukarest von Waldorfpädagogen im Sinne der Waldorfpädagogik betrieben werden solt3 16 • Die materielle Sicherstellung von alternativen Projekten wird allerdings wesentlich durch die westlichen Länder finanziert. So basiert die Arbeit der Waldorfschulen neben Spenden aus Deutschland auch in Zuwendungen seitens des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, welches für den Bau einer Waldorfschule eine Million DM zur Verfügung gestellt hat3J7 . Obgleich Art. 15 Abs. 2 und Art. 103 Abs. 2 Rum. UnterrG die Privatschulen ausdrücklich als Bestandteil des nationalen Bildungssystems erklären und Art. 103 Abs. 1 den Privatunterricht als Alternative oder Vervollständigung des staatlichen Unterrichts erklärt, ist derzeit ihre Bedeutung für Schulvielfalt eher gering und primär sozialselektiv denn pädagogisch reformierend.
314 Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel - Euphorie und Erwachen, Erziehungskunst 1993, S. 1347 (1354). 315 Maurer, Mathias, Osteuropa im Wandel, S. 54. 316 Göbel, Nana, Waldorflehrerseminar in Bukarest wieder eröffnet, Das Goetheanum, Nr. 29/95, S. 358. 317 Ruf, Bemd, Deutsche Entwicklungshilfe, S. 1359.
F. Schlußbetrachtung Die bürgerschaftliche Schulverfassung Vergegenwärtigt man sich die dargestellten Schulverfassungstypen, so zeigt sich, daß in westeuropäischer Perspektive die liberalen Schulverfassungen Dänemarks, Belgiens und der Niederlande die größten Entfaltungsmöglichkeiten für Schulvielfalt und nichtstaatliche Schulen bieten und dem Modell der Bürgergesellschaft am besten gerecht werden. Die skandinavischen Länder Finnland, Norwegen und Schweden befinden sich zunehmend in einem Strukturwandel, der Ansätze eines bürgerschaftlichen Verständnisses der Schulverfassung erkennen läßt. Auch in den osteuropäischen Ländern sind wie in Polen, Tschechien, Ungarn und der Russischen Föderation normativ Elemente einer bürgerschaftlich verfaßten Schule erkennbar, doch sind diese nicht zuletzt aufgrund der dramatischen Haushaltslage entweder ungenügend in der Finanzierung oder nicht justitiabel und beinhalten ähnlich der aktuellen Entwicklung in England ein ambivalentes Spannungsverhältnis zwischen verwaltungsmäßiger Dezentralisierung und Deregulierung einerseits und pädagogischer Rezentralisierung über zentrale Prüfungsstandards auf den verschiedenen Schulstufen andererseits. Gegenüber dem Strukturwandel in den anderen europäischen Ländern verharren Frankreich, Deutschland, Österreich und die Schweiz trotz partieller Ansätze zur Stärkung der Selbstgestaltung der Einzelschule in ihren traditionellen Strukturen eines staatlich gesteuerten Bildungswesens. Diese Länder nehmen nicht zur Kenntnis, daß die adminstrativ-etatistisch ausgerichtete Schulverfassung mit dem Vorrang der staatlich gesteuerten Schule ihre innere Legitimität verloren hat, weil allein die von mir als bürgerschaftlich bezeichnete Schulverfassung dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger und der damit korrespondierenden Wahlfreiheit, welche Erziehung und Pädagogik sie für ihr Kind wünschen, und der zunehmenden Pluralisierung von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen gerecht wird. Insbesondere die Bundesrepublik Deutschland sollte zur Kenntnis nehmen, daß die Beschränkung der Grundungsfreiheit für Schulen in freier Trägerschaft im Grundschulbereich in Form der Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 5 GG in Europa einzigartig und mit einem bürgerschaftlichen Verständnis der Schulverfassung, welches die staatlichkommunale Schule und die Schule in freier Trägerschaft als gleichberechtigte Partner sieht, nicht vereinbar ist. Selbst in Ländern wie Österreich, wo die rechtlich institutionalisierte Unterrichtsfreiheit der Schulen in freier Trägerschaft hinsichtlich der Subventionierung von Schulen, die vom staatlichen Lehrplan abweichen, sehr defizitär aus
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gebildet ist, bietet das Institut der Unterrichts- statt Schulpflicht größere Freiräume für pädagogische Konzepte und Alternativen im Grundschulbereich als in der Bundesrepublik Deutschland. Dies gilt etwa für die Freien Alternativschulen. So werden die Freien Alternativschulen in Österreich entweder offiziell als Institution nicht zur Kenntnis genommen oder rechtlich als häuslicher Unterricht betrachtet. Der Einfluß der europäischen Integration auf das Bildungswesen führt unter dem Gesichtspunkt der Schulvielfalt und Unterrichtsfreiheit zu Ergebnissen, die die Gefahr einer indirekten Harrnonisierung der Bildungssysteme im Wege des soft law ungeachtet des allgemeinen Postulats der Vielfalt in der Einheit zu bestätigen scheinen. Traditionell liberale Länder wie England und partiell auch die Niederlande tendieren hinsichtlich der Unterrichtsinhalte und deren staatlicher Steuerung zu einer gewissen Rezentralisierung, die wesentlich in dem Verlust von Leistungsfahigkeit und damit Konkurrenzfahigkeit in dem Gemeinsamen Markt begründet zu sein scheint. Burkhard und Rolff bestätigen hierbei, daß der europaweite Wandel der Schulaufsicht in drei verschiedenen Richtungen verläuft: zum einen die Stärkung der regelmäßigen externen Schulinspektionen (England); zum anderen der Verbund interner Evaluation durch Schulen und anschließender Evaluation durch die Schulaufsicht (Niederlande) oder drittens konsequente interne Evaluation mit Abschaffung der Schulaufsicht, die Schulbesuche durch nichthierarchische Expertenkommissionen zuläßt (Schweden). Hierbei zeigt die erziehungswissenschaftliche Forschung, daß "Selbstevaluation viel einflußreicher auf die Schulentwicklung ist als bloß externe Evaluation"!. Des weiteren kommen sie zu dem Schluß, daß "der Preis der Abschwächung oder Abschaffung der Schulaufsicht ein zentrales Testsystem mit bürokratischem Anstrich" ist2• Das niederländische Bildungswesen ist dadurch hervorstechend, daß in diesem die Trennung von privater und staatlicher Schule quasi aufgehoben ist, weshalb Richter das niederländische Modell trotz der Quote von 70 % Privatschulen auch zu Recht nicht als ein Marktmodell, sondern als ein öffentlich gebundenes Kontraktmodell korporativer Prägung ansiehe. Liket weist darüber I Burkard, ChristophlRo{ff, Hans-Günter, Steuerleute auf neuem Kurs? Funktionen und Perspektiven der Schulaufsicht für die Schulentwicklung. In: Ro{ff, Hans-Günter u.a. (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 8. WeinheimIMünchen 1994, S.205 (225). 2 Burkard, ChristophlRo{ff, Hans-Günter, S. 226. 3 Richter, Ingo, Educational Decision-Making in Open Societies, Legal and Procedural Requirements - Western Europe. In. International Symposium on Law and Education (Tagungsband des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin 1993)S. 10 f.; ähnlich auch Liket, Theo, Schulaufsicht in zwei europäischen Ländern: Niederlande und Frankreich, Pädagogisches Forum 1993, S. 185 (186) hinsichtlich des "besonderen neutralen Unterrichts".
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hinaus zu Recht darauf hin, daß in Ländern, in denen staatlich-kommunale und freie Träger nicht finanziell in gleicher Weise subventioniert werden wie in den Niederlanden, der Desintegrationseffekt durch eine dann entstehende Zweiteilung des Bildungssystems in ein privates und ein staatliches Schulwesen wesentlich stärker ist als in den Niederlanden, wo weder eine Desintegration noch eine soziale Selektivität durch nichtstaatliche Schule festzustellen ist4 • Diese Einschätzung rechtfertigt sich auch nach dem OECD-Bericht über die Qualität von Schulen, der darauf hinweist, daß in den Niederlanden neben die staatliche Bezuschussung zusätzliche soziale Regulierungsmechanismen auch für private Schulen treten, wie sie in ihrer Notwendigkeit von mir zur allgemeinen Diskussion über die Autonomie von Schule skizziert wurden. So erhalten problembelastete Schulen, vornehmlich in innerstädtischen Bereichen, zusätzliche finanzielle Mittel, um die spezifischen Probleme vor Ort adäquat kompensieren zu könnenS. Die Niederlande belegen ferner, daß auch in zentralstaatlich geprägten Staaten bürgernahe Möglichkeiten der Selbstorganisation bestehen, wenn man in Weiterführung der Diskussion um die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips dieses nicht nur auf die die staatliche Dezentralisierung umfassende vertikale Dimension beschränkt, sondern die horizontale, die Staatlichkeit von Aufgaben grundsätzlich in Frage stellende Dimension des Subsidiaritätsprinzips miteinbezieht. In der Analyse der einzelnen Schulverfassungen kann nicht uneingeschränkt der Ansicht Masons zugestimmt werden, daß in Holland und Belgien die sehr weitgehende, in Holland gar vollständige6 Gleichstellung mit den staatlichen Schulen hinsichtlich der Finanzierung zwangsläufig zu einem hohen Anpassungsdruck an die staatlichen Curricula und einer starken staatlichen Kontrolle führen, die wenig Raum für Verschiedenheit und Experimente lassen7 • Die Ansicht Masons ist nur insofern zutreffend, daß ein solcher Anpassungsdruck dann besteht, wenn auch die staatlichen Lehrpläne und Curricula sowie die Schulaufsicht den staatlichen Schulen wenig EntfaItungsraum lassen. Ist dies, wie sich angesichts der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen in Holland und Belgien trotz einiger Einschränkungen insgesamt konstatieren läßt, jedoch nicht der Fall, so verbleibt auch den freien Schulen ein erheblicher Gestaltungsspiel4 Liket, Theo, Autonome Schule und Qualitätskontrolle in den Niederlanden, RdJB 1993, S. 335 (343). 5 OECD (Hrsg.), Schulen und Qualität. Ein internationaler OECD-Bericht. FrankfurtlM. 1991, S. 143. 6 Entgegen der Annahme von Mason, Peter, Independent Education, ISIS Document No 34, 2nd edition. London 1997, S. 3, werden die belgisehen Schulen nicht 100 % subventioniert. 7 Mason, Peler, S. 3 31 Jach
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raum bei gleichzeitiger weitgehender materieller Unterstützung. Gleichwohl bleibt auch in diesen Ländern ein AnnexverhäItnis zu den staatlichen Schulen bestehen, da die freien Schulen nur mittelbar und in Abhängigkeit vorn Grad der pädagogischen Freiheit im staatlichen Schulwesen profitieren, um staatliche Zuschüsse zu erhalten. Notwendig wäre insoweit auch in diesen Ländern eine Entkoppelung der Zuschüsse von der Einhaltung zu weit gehender staatlicher Vorgaben im pädagogischen Bereich. Hierbei kann man aus den Niederlanden aber noch eine weitere, für die Erneuerung des Schulwesens wesentliche Erkenntnis gewinnen. Danach sind Schulen, die sowohl strukturell als auch in der Person des Lehrers weitgehende Freiheit genießen, weit mehr geeignet, innovative Momente für das Schulsystem zu bilden, als staatliche Pilot- oder Versuchsschulen, bei denen es große Schwierigkeiten macht, Innovationen in das Gesamtsystem einzubringen 8. Interessant ist in diesem Kontext auch, daß gerade die autonomiefreundlichen Länder bzw. die Länder mit einern hohen Anteil nichtstaatlicher Schulen leistungsmäßig besser abschneiden als etwa die Bundesrepublik Deutschland. Dezentralisierte Schulverfassungen auf der kommunalen Ebene wie die Englands und Dänemarks zeigen, daß auch im kommunal-öffentlichen Schulwesen grundsätzlich Strukturelemente der bürgerschaftlich verfaßten Schulen verwirklicht werden können. Demgegenüber zeigt das zentralistische, in seinem Selbstverständnis streng kornmunitaristische Bildungssystem Frankreichs, daß es zur Verwirklichung einer bürgerschaftlichen Schulverfassung mehr als allein der Gründungsfreiheit im Sinne einer formalen Rechtsträgerfreiheit in einern durch zentrale administrative Vorgaben geprägten Bildungssystem bedarf. Die bürgerschaftlich verfaßte Schule bedarf einer Schulverfassung, die die administrative, haushaItsrechtliche und pädagogische Autonomie der Einzelschule unter Einbeziehung von Mitwirkungsrechten der Eitern und Schüler substantiell sichert. Dies ist nicht primär eine Frage der Rechtsträgerschaft, sondern der Gewährleistung von Schulvielfalt und pädagogischer Autonomie für alle Schulen. Eine schlichte Entstaatlichung schafft hierbei allein nicht die notwendigen Voraussetzungen für eine am Wohl des Kindes orientierte Schulverfassung. Vielmehr gilt es auch im staatlichen Schulwesen Handlungsräume für bürgerschaftlich verantwortete Schulkonzeptionen zu eröffnen und diese nicht auf das Reservat der Schulen in freier Trägerschaft zu begrenzen. Vorbildlich könnte insoweit die finnische Gesetzgebung sein. Diese stellt staatliche und freie Schulen materiell gleich und gibt den Schulen in freier Trägerschaft unabhängig von etwaigen Genehmigungsvoraussetzungen das Recht, einen eigenen Lehrplan zu verfolgen, sofern "die Tätigkeit der Schule auf einern inter8 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Innovative Schulsysteme im internationalen Vergleich, Bd. 1 Dokumentation zur internationalen Recherche. Gütersloh 1996, S. 44.
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national anerkannten pädagogischen System basiert", wozu der Gesetzentwurf zur Novellierung des finnischen Schulgesetzes im Jahre 1991 in seiner Begründung explizit die Freinet-, Montessori- und Waldorfpädagogik zählt. Hier zeigt sich die Akzeptanz kultureller Vielfalt als gesamteuropäisches Strukturprinzip, dem normativ Ausdruck verliehen werden kann, zumindest im Grundsatz. Des weiteren bieten die sog. reformpädagogischen Unterrichtskonzeptionen über ihren pädagogischen Impetus der Kindzentriertheit hinaus neue innovative Ansätze unter der hier gestellten Perspektive einer europäischen Bürgergesellschaft, die das Prinzip der Vielfalt in der Einheit als Konstitutionsmoment europäischer Bildungspolitik in pluralistischer, nicht nationalstaatlicher Perspektive begreift. Pädagogische Konzeptionen wie die Waldorfpädagogik verstehen sich explizit als die Verbindung internationaler und nationaler Elemente dergestalt, als es sich um einen übernationalen, internationalen Lehrplan unter spezifisch nationalen Bedingungen handelt, denen es durch eine Anpassung der Unterrichtsformen und -inhalte an die spezifischen kulturellen Bedingungen des jeweiligen Landes gerecht zu werden gilt. Freiheit im Bildungswesen erfordert neben der Freiheit, Schulen in eigener Initiative zu gründen, auch die substantielle Gewährleistung der Unterrichtsfreiheit im engeren Sinne. Neben die Verwirklichung der Unterrichtsfreiheit muß jedoch gleichzeitig eine finanzielle Gleichstellung von staatlichen und freien Schulen treten, um der sozialstaatlichen Komponente in ausreichender Weise Geltung zu verschaffen, damit ein wirkliches Wahlrecht für alle Eltern unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen besteht. Hierbei dürfen bis auf die notwendigen Mindeststandards die Prinzipien der Unterrichtsfreiheit und Subventionierung nicht miteinander gekoppelt werden, da der Staat ansonsten mit der Normierung von Anforderungen an die Unterrichtsgestaltung als Voraussetzung für die Gewährung von Zuschüssen ein massives Regelungsinstrument, welches pädagogische Vielfalt verhindert, in den Händen hält. Insoweit muß neben die freie (Rechts-)Trägerschaft die bürgerschaftliche Freiheit der Erziehungs- und Unterrichts arbeit treten. Dabei müssen sich aber die Schulen in freier Trägerschft stärker als bisher - etwa hinsichtlich der Integration ausländischer Schüler - ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung stellen. Gleichwohl bleibt Bildung auch in einer pluralistischen Gesellschaft eine wenn nicht notwendig staatliche, so doch eine öffentliche Aufgabe, die nicht dem Kalkül des Marktes zum Opfer fallen darf. Deshalb gilt es, einen gesamtgesellschaftlich verbindlichen Bezugsrahmen auch dann herzustellen, wenn dem Staat keine unmittelbaren Gestaltungsbefugnisse in der Einzelschule mehr zugestanden werden. Insofern erscheint auch in einem bürgerschaftlichen Schulsystem grundsätzlich die Erarbeitung allgemeinverbindlicher Grundkenntnisse unumgänglich, um sicherzustellen, "daß allen Kindern, unabhängig vom Geschlecht, ethnischer Herkunft oder ihrem zufalligen Lebensumfeld, wesentliches Wissen und Können, bis zu einem noch zu akzeptablen Leistungsni-
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veau, vermittelt werden,,9 kann. Hierin liegt der richtige Ansatz einer kommunitaristisch gedachten Schul verfassung, wobei es jedoch darauf ankommt, prozedual sicherzustellen, daß damit kein Eingriff in die Unterrichtsfreiheit verbunden ist. So wäre insbesondere das Prinzip der Gleichwertigkeit statt Gleichartigkeit normativ zu verankern, um zu gewährleisten, "daß es mehrere gleichwertige Wege zu einem allgemeinbildenden Curriculum gibt"lO. Unterschiedliche Wege hätten sich hierbei im gleichberechtigten Nebeneinander unterschiedlicher pädagogischer Konzeptionen zur Umsetzung vorgegebener Ziele zu profilieren. Bei alledem muß allerdings dem sozialstaatlichen Gebot der Chancengleichheit Genüge getan werden. Die Bürgerverantwortung für das Bildungswesen kann sich hierbei auf zwei Ebenen konstituieren. Einerseits durch eine stärkere Beteiligung der Eltern innerhalb der staatlichen Schule. Diese Form der stärkeren strukturellen Umsetzung der gemeinsamen Erziehungsverantwortung von Staat und Eltern kann sich jedoch nicht in einer einseitigen Inpflichtnahme der Eltern an bestehende, vom Staat vorgegebene Inhalte schulischer Erziehung manifestieren, sondern muß sich in einer stärkeren Wahlmöglichkeit und Mitbestimmungsrechten innerhalb des staatlichen Schulwesens in Richtung einer Binnenpluralität ausdrücken. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß diese Binnenpluralität angesichts der notwendigerweise bestehenden Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen Pluralität im staatlichen Schulwesen nur beschränkt sein kann und der Staat auch für diejenigen, die von einem Wahlrecht keinen Gebrauch machen wollen oder können, die schulische Grundversorgung unter Achtung der Grundsätze der Chancengleichheit und des Neutralitätsgebotes sicherstellen muß. Andererseits meint Bürgerverantwortung nicht nur die Teilhabe an staatlichen Einrichtungen, sondern die selbstverantwortete und selbstverwaltete Organisation von Bildungsprozessen in Schulen in freier Trägerschaft, die durch ein offenes oder in sich geschlossenes pädagogisches Konzept ausgewiesen sind. Der Schulverfassung kommt hierbei die Aufgabe zu, den Schulträgern diese Selbstgestaltungsrechte zu sichern und den Eltern ein echtes Wahlrecht zwischen staatlicher Schule und Schule in freier Trägerschaft unter prinzipiell gleichen materiellen Bedingungen zu ermöglichen. Diesen Strukturwandel auf die vermeintliche Kontroverse ,,Markt oder Staat" im Bildungswesen zu verkürzen bedeutet eine Verkennung des demokratietheoretischen Verständnisses der bürgerschaftlieh verfaßten Schule.
9 OECD (Hrsg.), S. 181, definiert dies als Mindeststandard für die Sicherung von Schulqualität. 10 OECD (Hrsg.), S. 181.
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