Schneller, höher, lauter: Virtuosität in populären Musiken 9783839435922

Virtuosity has been firmly established in (pop) music but why do our reactions to virtuosity keep varying between admira

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German Pages 188 [186] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Editorial
Technik, die Begeistert: Zur Sichtbarkeit Musikalischer Virtuosität von Franz Liszt bis Snarky Puppy
Varianten von Virtuosität. Innovationen Des Jazzavantgardisten Anthony Braxton
Dream Theater: Komponieren im Virtuosenkollektiv
While My Guitar Gently Weeps. Zur Sound-, Groove- und Performancevirtuosität in der Populären Musik
Zufällig gut? Über Live-Performances und Virtuositätspotentiale. Helene Fischers Berliner Auftritt im Regen
Facetten von latenter Virtuosität im Gitarrenspiel des Zeitgenössischen Flamenco
Virtuose »Nicht-Musiker«? Der Diskurs zu Virtuosität, Authentizität und Subversion beim Aufkommen Elektronischer Popmusik am Beispiel des Musikexpress — und Seine Aktuellen Nachwirkungen
Virtuoses Gitarrenspiel im Rock und Metal. Zum Einfluss von Verzerrung auf das »Shredding«
»Navigate Your Set«. Zur Virtuosität von DJs
Zu den Autoren
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Schneller, höher, lauter: Virtuosität in populären Musiken
 9783839435922

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Thomas Phleps (Hg.) Schneller, höher, lauter. Virtuosität in populären Musiken

In Memoriam Thomas Phleps (1955-2017)

Beiträge zur Popularmusikforschung 43 Herausgegeben von Thomas Phleps Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) | Prof. Dr. Ekkehard Jost † (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursˇicˇ (Ljubljana) | Prof. Dr. Winfried Pape † (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) | Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) | Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien)

Thomas Phleps (Hg.) Schneller, höher, lauter. Virtuosität in populären Musiken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat & Satz: Ralf von Appen, Eva Schuck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3592-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3592-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Editorial 7

Technik, die begeistert: Zur Sichtbarkeit musikalischer Virtuosität von Franz Liszt bis Snarky Puppy Friedrich Geiger 9

Varianten von Virtuosität. Innovationen des Jazzavantgardisten Anthony Braxton Timo Hoyer 23

Dream Theater: Komponieren im Virtuosenkollektiv Michael Custodis 41

While My Guitar Gently Weeps. Zur Sound-, Groove- und Performance-Virtuosität in der populären Musik Dirk Stederoth 51

Zufällig gut? Über Live-Performances und Virtuositätspotentiale. Helene Fischers Berliner Auftritt im Regen Barbara Hornberger und Christoph Jacke 65

Facetten von latenter Virtuosität im Gitarrenspiel des zeitgenössischen Flamenco Edin Mujkanović 83

Virtuose »Nicht-Musiker«? Der Diskurs zu Virtuosität, Authentizität und Subversion beim Aufkommen elektronischer Popmusik am Beispiel des Musikexpress — und seine aktuellen Nachwirkungen Ambra Cavallaro und Steffen Lepa 107

Virtuoses Gitarrenspiel im Rock und Metal. Zum Einfluss von Verzerrung auf das »Shredding« Jan-Peter Herbst 131

»Navigate Your Set«. Zur Virtuosität von DJs Lorenz Gilli 153

Zu den Autoren 181

EDITORIAL »...wie wir denn auch oft genug eine sehr große Virtuosität in musikalischer Komposition und Vortrage neben bedeutender Dürftigkeit des Geistes und Charakters bestehen sehen.«1 Wie hast du's mit der Virtuosität? fragt der Laie den Fachmann, als der sich der Musikwissenschaftler versteht — und der hält nicht viel davon, scheint die Virtuosität ihm doch der Musik das Gefühl und, versteht sich, den Geist zu rauben, Teufelswerk eben und zugleich teuflisch attraktive Negativfolie der heiligen Kuh aller Pop-Inszenierungen, die zu schlachten das Ende der Fabrikation von Fiktionen, aller Pop-Träume und von Pop überhaupt bedeuten würde: Die Rede ist von Authentizität, dieser höchstgeschätzten Wertkategorie populärer Musik und zugleich die mit dem höchsten Fake News-Anteil. Aus ihrer Sicht erfüllt Virtuosität den Straftatbestand der Veruntreuung der Musik — obwohl sie doch nichts weniger als ihre »liebevolle Schwester« ist (wenn Sie mir dieses nicht nur zeitlich ferne Zitat verzeihen): Ohne Virtuosität als Signum der je abgerufenen Qualitäten kein ernst zu nehmender musikalischer Vollzug, keine musikalische Produktion und Performance mit Sinn(lichkeit) und Verstand. Gleichviel. Vielleicht hätte der vorliegende Band »Schneller — höher — Männer« übertitelt sein sollen, denn Virtuosität in der populären Musik scheint eine Männerdomäne (und das lateinische virtus meint zunächst ja Mannhaftigkeit). Ausnahmen bestätigen die Regel und spielen meist in Zwischenbereichen wie die Vanessa Mays, die sich neben den David Garretts im ClassicPop tummeln — als illegitime Nachfahren des großen Nicolò Paganini, diesem ersten Megastar am bürgerlichen Konzerthimmel, der von den moralinsauren Wächtern über die hehre Musikausübung freilich sogleich unter Absingen des Kanons von Ernst, Tiefe und »dem Geistigen« (diesem alt bösen Psychopharmakon gegen die Angst vor Kontrollverlust über die holde Weiblichkeit) des Paktes mit dem Teufel überführt wurde: Virtuosen wie er (oder Liszt, alle B-Promis des Gewerbes wurden schon lange und erfolgreich 1

G.W.F. Hegel (1981). Vorlesungen über die Ästhetik I (= Werke in zwanzig Bänden 13). Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 47.

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EDITORIAL in die Lethe getunkt) störten die Andacht in den »höheren Regionen«. Aber es gab und gibt sie immer auch — und zwar ganz ohne hochgeistigen Tiefbau — unter den und vor allem für die, um es neutral zu formulieren: NichtPrivilegierten. Da die herrschenden Gedanken immer die Gedanken der Herrschenden sind, blieb die Geschichte ihrer Kultur, der populären Kultur und damit auch die Geschichte populärer Virtuosen wenig beachtet (auch der vorliegende Band setzt andere Schwerpunkte). Was gäbe es alles zu berichten von den virtuosen Tänzern wie Juba oder den Banjo- und BonesSpielern in den US-amerikanischen Minstrelshows, den primgeigenden Walzerkönigen im Wiener Prater, den Kunstpfeifern und Kunstfurzern in den französischen Varietés, den zirzensischen Musical-Clowns bis hin zu den anarchistischen Marx Brothers oder Karl Valentin, dem Meister grandiosen Scheiterns, den Gitarrenakrobaten im Blues und Rhythm & Blues (und auch der vor kurzem verstorbene Chuck Berry zauberte mit seiner Gitarre mehr als nur seinen berühmten Entengang) — wenn nicht der künstlich generierte Kunstanspruch als Alleinerbe der Heldenerzählungen des aufstrebenden Bürgertums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wie Patina die Virtuosenbilder der Popmusikgeschichte umschließen würde, um sie aufs Meistern außerordentlicher spieltechnischer Schwierigkeiten zu reduzieren. Wie gesagt: Virtuosität ist mehr als sportive Akrobatik am Instrument... Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind Schriftfassungen von Vorträgen, die anlässlich der 27. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung / German Society for Popular Music Studies e.V. (ehemals ASPM) vom 18. bis 20. November 2016 in Kooperation mit dem Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg zum Schwerpunktthema »Schneller, höher, lauter — Virtuosität in (populären) Musiken« in Hamburg gehalten wurden. Ganz besonderer Dank gebührt dem Institut für seine Unterstützung und seinen KollegInnen und Studierenden für ihre Gastfreundschaft. Der Herausgeber bedankt sich ganz herzlich bei den GutachterInnen des Peer Review-Verfahrens, die leider, aber selbstverständlich ungenannt bleiben müssen. Wer mehr wissen will über die GfPM, über aktuelle Forschungen, Publikationen und anstehende oder vergangene Tagungen, findet diese Daten, Fakten und Informationen rund um die Popularmusikforschung und vieles mehr unter www.popularmusikfoschung.de und in unserer Internetzeitschrift Samples (www.gfpm-samples.de). Thomas Phleps Kassel, im Mai 2017

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TECHNIK,

DIE BEGEISTERT:

ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY Friedrich Geiger Die Faszination, die von musikalischer Virtuosität ausgeht, gründet zu einem guten Teil darin, dass sie nicht nur dem Ohr, sondern auch dem Auge etwas bietet. Dieser Zusammenhang wurde oft bemerkt — etwa von Thomas Mann, der in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull seinen Helden wie folgt von dessen kindlicher Begeisterung für die Kurkapelle berichten lässt: »Stundenlang kauerte ich auf den Stufen des zierlichen Kunsttempels, ließ mein Herz von dem anmutig ordnungsvollen Reigen der Töne bezaubern und verfolgte zugleich mit eifrig teilnehmenden Augen die Bewegungen, mit denen die ausübenden Musiker ihre verschiedenen Instrumente handhabten«. Insbesondere vom ersten Violinisten entzückt, ahmt Felix diesen zur Erheiterung der Familie im Hotel exakt nach: »Die schwingende Bewegung der linken Hand zur Erzeugung eines seelenvollen Tones, das weiche Hinauf- und Hinabgleiten aus einer Grifflage in die andere, die Fingergeläufigkeit bei virtuosenhaften Passagen und Kadenzen, das schlanke und geschmeidige Durchbiegen des rechten Handgelenkes bei der Bogenführung, die versunkene und lauschend-gestaltende Miene bei hingeschmiegter Wange — dies alles wiederzugeben, gelang mir mit […] Vollkommenheit« (Mann 2012: 25f.). Die Passage liest sich wie eine literarische Vorahnung der Luftgitarre. Thomas Mann verweist hier auf die Möglichkeit, instrumentale Virtuosität vom Klangereignis vollkommen zu lösen und rein visuell zu vergegenwärtigen. Die Wechselbeziehungen zwischen Auge und Ohr hingegen hat niemand so auf den Punkt gebracht wie Wilhelm Busch. In der 1865 veröffentlichten Bilderfolge Der Virtuos wird der Zusammenhang zwischen virtuosem Geba-

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FRIEDRICH GEIGER

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY

Abbildung 1: Wilhelm Busch — Der Virtuos (1867/1868), Ausschnitt

ren, Auge und Ohr genauestens ins Bild gesetzt. Während das Gehör eher beim verhaltenen Spiel des Pianisten gefordert wird, tritt das Auge im Wortsinn umso mehr hervor, je exaltierter der Virtuose sein Instrument bearbeitet. Dass der von Busch karikierte Tastenmann eine gewisse Ähnlichkeit mit Franz Liszt aufweist — der damals vierundfünfzig Jahre alt war —, dürfte kein Zufall sein. Hier eine andere zeitgenössische Karikatur zum Vergleich:

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FRIEDRICH GEIGER

Abbildung 2: János Janko — Franz Liszt am Klavier (1873, siehe Essen 2006: 202f.)

Wie kein anderer Musiker verkörperte und verkörpert Liszt bis heute einen Idealtypus, der das Bild davon, was einen Virtuosen und was Virtuosität ausmache, nachhaltig geprägt hat. Anders als etwa bei Niccolò Paganini, dem »Teufelsgeiger«, der mit dem Satan im Bunde schien und beim bürgerlichen Publikum neben großer Faszination immer auch ein gewisses Unbehagen auslöste (Schottky 1974), ereignete sich die Liszt-Rezeption im Modus schierer Hingerissenheit. Dazu trugen visuelle Komponenten erheblich bei. Liszt vermochte durch sein Äußeres, sein Auftreten und die visuelle Inszenierung seines Spiels selbst einen so kritischen Geist wie Robert Schumann zu bezaubern. An der bekannten, sehr ausführlichen Rezension, die Schumann anlässlich von Liszts Konzerten in Dresden und Leipzig 1840 verfasste, ist vor allem bemerkenswert, wie stark sich hier das ästhetische Erleben auch eines Experten auf die sichtbaren Anteile der Liszt'schen Darbietung stützt — was Schumann im Übrigen selbst thematisiert: »Aber man muß das hören und auch sehen«, heißt es ausdrücklich, »Liszt dürfte durchaus nicht hinter den Kulissen spielen; ein großes Stück Poesie ginge dadurch verloren« (Schumann 1914: 479). Das bedeutet nichts anderes, als dass beim Betrachten musikalischer Virtuosität ein Mehrwert ästhetischen Erlebens entsteht, der beim bloßen Hören ausbleibt. Worin aber gründet dieser Mehrwert? Weshalb intensiviert das Zusehen bei virtuosem Spiel das Zuhören und erzeugt jene von Schumann konstatierte »Poesie«, die beide Sinne vereint? Fern von jedem Anspruch auf systematische Strenge und Vollständigkeit möchte ich hierzu einige vorläufige Beobachtungen mitteilen. Unbefriedigend ist dabei natürlich, dass sich die ästhetische Erfahrung, die der Besuch eines Konzerts von Liszt vermittelte, anhand der zeitgenössischen Rezeptionsdokumente nur mangelhaft rekonstruieren lässt.1 Ich möchte deshalb die historische Perspektive mit Hilfe eines Kontrastes schärfen, indem ich ihr eine aktuelle ästhetische Erfahrung von Virtuosität gegenüberstelle, die einem ganz anderen musikalischen Feld entstammt. Das Œuvre des New 1

Eminent hilfreich ist dabei immerhin die umfassende Dokumentation von Williams 1990.

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY Yorker Musikerkollektivs Snarky Puppy — laut Selbstbeschreibung »a pop band that improvises a lot, without vocals« (Woodard 2015: 44) — eignet sich hierzu aus zwei Gründen gut. Erstens verstehen sich die Mitglieder des Ensembles, das 2004 von dem Bassisten und Komponisten Michael League gegründet wurde, ausdrücklich selbst als Virtuosen, und sie werden von Publikum und Kritik einhellig als solche wahrgenommen. Zweitens verfolgen Snarky Puppy seit mehreren Jahren ein künstlerisches, aber auch marketingstrategisches Konzept, das stark auf der Visualisierung von Virtuosität basiert. Seit Tell Your Friends von 2010 erscheinen die Alben der Band als audiovisuelle Doppelmedien. Zusätzlich zur CD erhält der Käufer eine DVD, auf der sämtliche Tracks von der Band live im Studio vor einem kleinen Publikum gespielt werden. Die Stücke sind somit nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Mit dieser Idee konnte Snarky Puppy rasch vom Geheimtipp zu einer eminent erfolgreichen Formation avancieren, die mittlerweile bereits mit drei Grammys ausgezeichnet wurde.

I. Doch kehren wir zunächst zu Franz Liszt zurück und der Frage, was die Sichtbarkeit seines Spiels zu der von Schumann genannten »Poesie« beitrug. Der Musikhistoriker Dana Gooley hat 2004 dem Virtuosen Liszt eine ausführliche Untersuchung gewidmet, die auf der umfassenden Auswertung zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse basiert — Musikjournale, Zeitungen, Briefe, Memoiren et cetera (Gooley 2004).2 Aus diesen Quellen präparierte Gooley eine Reihe von Topoi heraus, die bei der Beschreibung von Liszts virtuoser Performanz immer wieder erscheinen. Vor dem Hintergrund von Gooleys Untersuchung entpuppt sich der erwähnte Konzertbericht von Schumann als ein Schlüsseltext, der bereits die meisten dieser Topoi versammelt und — was ihn in unserem Zusammenhang zentral macht — eben immer wieder auf das Visuelle zurückkommt. Große Bedeutung misst Schumann zunächst der äußeren Erscheinung bei. Seine ausführliche Beschreibung der Züge Liszts mündet bald in jenen Vergleich, für den auch Gooley zahlreiche weitere Belegstellen beibringt — nämlich den Vergleich von Liszt mit Napoleon Buonaparte. So schreibt Schumann über die Interpretation von Carl Maria von Webers Konzertstück f-Moll für Klavier und Orchester op. 79 geradezu einen Kriegsbericht:

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Die im Folgenden zitierten Zeugnisse werden nicht separat nachgewiesen, sondern leicht erschließbar über die Seitenzahlen bei Gooley 2004.

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FRIEDRICH GEIGER »Wie Liszt gleich das Stück anfaßt, mit einer Stärke und Großheit im Ausdruck, als gälte es eben einen Zug auf den Kampfplatz, so führt er es von Minute zu Minute steigend fort bis zu jener Stelle, wo er sich wie an die Spitze des Orchesters stellt und es jubelnd selbst anführt. Schien er an dieser Stelle doch jener Feldherr selbst, mit dem wir ihn an äußerer Gestalt verglichen [Napoleon], und der Beifall darauf an Kraft nicht unähnlich einem ›Vive l’empereur‹« (Schumann 1914: 483). Der Virtuose wird hier als siegreicher Feldherr und Herrscher gesehen. Die Zuschreibung taucht auch in verschiedenen Varianten auf — darunter auch als Bild des Löwen, des Herrschers im Tierreich, das sich kolloquial in dem Ausdruck »Tastenlöwe« bis heute erhalten hat. Der Topos erscheint aber auch in eigenartig abstrakter Weise, die das virtuose Spiel geradezu mit dem Herrschen gleichsetzt: »Es ist nicht mehr Klavierspiel dieser oder jener Art, sondern Aussprache eines kühnen Charakters überhaupt, dem zu herrschen, zu siegen das Geschick einmal statt gefährlichen Werkzeugs das friedliche der Kunst zugeteilt« (Schumann 1914: 480). Die Frage, über wen hier geherrscht oder was hier eigentlich besiegt wird, lässt sich leicht beantworten: Beherrscht wird das Instrument — besiegt werden dessen Schwierigkeiten. Gooley führt zahlreiche Berichte über Liszt an, in denen das Klavier als Feind, den es niederzuringen gilt, oder als Untertan erlebt wird. Aufschlussreich für die Geschlechterbilder des 19. Jahrhunderts ist ferner der häufig gezogene Vergleich des Klaviers mit einer Frau, die sich der Virtuose gefügig macht. Liszt sei, so schrieb 1838 ein Rezensent regelrecht lüstern, »a kindly monster, who treats his beloved — the piano — now sweetly, now tyrannically, decorates her with kisses, tears her to pieces with sensual bites, embraces her, plays with her, pouts, scolds her, strikes, grabs her by the hair, then hugs her all the more sweetly, more intimately, more passionately« (Gooley 2004: 108). Es geht also in verschiedenen Schattierungen um das souveräne Beherrschen des Instruments, das in der Performanz des Virtuosen gleichsam abstrahiert und als ein Beherrschen und Besiegen an sich erlebbar wird. Neben den Metaphern des Beherrschens, des Siegens, des Kämpfens und Unterwerfens spielen weitere Wortfelder eine Rolle. Dazu gehören Charakterisierungen, die um körperliche Kraft, um Leistungsfähigkeit und Schnelligkeit kreisen — kurz, die im Grunde der sportlichen Sphäre entstammen, die ja ebenfalls von Kampf und Sieg bestimmt ist. So staunte Schumann etwa in folgender Passage über die Liszt'sche Kondition:

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY »Noch erschöpft von der Reise, von dem vielen Konzertspielen in den vorigen Tagen, kam Liszt des Morgens an und ging bald darauf in die Probe, so daß ihm bis zur Konzertstunde nur wenig Zeit übrigblieb. Ruhe gönnte er sich gar keine. Ich darf dies nicht unerwähnt lassen; ein Mensch ist kein Gott, und die sichtliche Anstrengung, mit der Liszt des Abends spielte, war nur die natürliche Folge so vieler vorangegangenen. […] Man muß es bewundern, wo Liszt noch die Kraft hernahm, das Hexameron zur Hälfte zu wiederholen, und dann noch den Galopp zur Freude des Publikums« (Schumann 1914: 483f.). Und über das Konzertstück schreibt Schumann in bezeichnender Wortwahl, es sei die »Krone seiner Leistungen« gewesen (ebd.). Ein Konzertbericht aus dem Jahr 1842 hebt hingegen weniger die Kraft als vielmehr die Schnelligkeit hervor — ebenfalls eine sportliche Kategorie. Das Tempo des Stückes, so der Rezensent, sei so rasend gewesen, »that one could hardly follow it with the ear, and even less with the eye, for whoever looked at the fingers of the concert-giver got lost in their rapidity« (Gooley 2004: 206). Hier löst also gerade die Mühe, die das visuelle Verfolgen der virtuosen Leistung bereitet, eine spezifische ästhetische Erfahrung aus. Eng verwandt mit dem sportlichen Sprachfeld, aber nicht völlig deckungsgleich sind zwei weitere Tendenzen in der Beschreibung sichtbarer Virtuosität, die den Interpreten entweder in die Nähe des Zauberkünstlers oder in die Nähe des Zirkusartisten rücken. Wie beim Sport handelt es sich bei Zauberei und Zirkus um Darbietungssituationen par excellence, denen der Zuschauer mitfiebernd oder mit offenem Mund staunend folgen kann. Die Meisterung technischer Schwierigkeiten wird wie ein Kunststück oder ein Drahtseilakt verfolgt. Dabei entsteht das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung aus der stets drohenden Möglichkeit des Scheiterns. Vor deren Folie erst entfalten das Gelingen, das Bewältigen der Schwierigkeiten und das Vollbringen des scheinbar Unmöglichen ihre enthusiasmierende Wirkung. Ein wichtiger Bereich, dem weitere Metaphern des Virtuosen entnommen werden, ist schließlich die Technik. Gängig ist mit Blick auf Liszt der Vergleich mit Maschinen und Apparaten unterschiedlichster Art. Dabei bilden entweder das präzise Funktionieren oder die gewaltige Energie, die menschliche Grenzen zu übersteigen scheint, die Vergleichspunkte: »He is the sovereign master of his piano«, heißt es beispielsweise 1850 über Liszt, »he knows all its resources; he makes it speak, moan, cry, and roar under fingers of steel, which distill nervous fluid like the Volta's battery distills electrical fluid« (Gooley 2004: 210).

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FRIEDRICH GEIGER

II. Nachdem wir uns vergegenwärtig haben, an welchen Aspekten sich zu Liszts Zeiten die Schaulust im Konzert entzündete, vollziehen wir nun den etwas gewagten Schwenk von Liszt zu Snarky Puppy — also vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart und von der so genannten Neudeutschen Schule zum Fusion (im weitesten Sinne). Wie ich hoffe, kann der exemplarische Blick auf die Virtuosität des Musikerkollektivs, die auf der DVD sichtbar wird, zusätzliches Licht auf die skizzierten Aspekte werfen. Als Beispiel greife ich das Stück »Bent Nails« heraus, das sich als zweiter Titel auf Snarky Puppys fünftem Album groundUp findet. Dessen Entstehungsgeschichte schilderte Michael League im Booklet knapp: We »literally built a studio in an empty warehouse [in Brooklyn] in 3 days. Everything you see and hear, minus the walls and the floor, was brought in by the band and crew« (Snarky Puppy 2012: o.S.). Anders als bei Liszt haben wir bei Snarky Puppy die Möglichkeit, sowohl den auditiven wie den audiovisuellen Eindruck zu überprüfen. Was ist mit den Ohren wahrzunehmen, wenn man die ersten zweieinhalb Minuten des Stückes erst einmal ohne Bild von der CD kennenlernt? Wir hören zunächst ein Gitarrenriff in fis-Moll, das nach dem ersten Durchlauf vom Bass gedoppelt wird und das Grundgerüst des Stückes bildet. Es scheint auftaktig zu beginnen. Doch mit dem Einsatz der Rhythmusgruppe bei der dritten Wiederholung wird klar, dass dort, wo wir die Takteins vermutet haben, in Wirklichkeit die zweite Zählzeit liegt und das Riff demnach volltaktig anfängt. Schön und gut — aber in welchem Takt? Der Groove, den der Drummer Robert »Sput« Searight spielt, akzentuiert einerseits die Viertel auf der Hi-Hat, was auf einen Viervierteltakt hindeutet, den man in der Tat auch stoisch durchzählen kann. Zugleich aber geht die Phrasierung in eine andere Richtung, indem sie in vier mal sieben Achtel plus zwei Viertel gliedert. Es überlagern sich also ein Vierviertel- und ein Siebenachtel-Puls, was jenes »verbogene« Gefühl erzeugt, das der Stücktitel in das anschauliche Bild »Bent Nails« fasst. In dieses intrikate metrisch-rhythmische Gewebe, das durch jede Menge Percussion zusätzlich gezielt verunklart wird, stechen dann die Einwürfe der Bläser hinein, teils das Riff mitspielend, teils komplementärrhythmisch dazu. Es folgt, zunächst als Break wieder nur von Gitarre und Bass, ein zweites Riff, das Fragmente des ersten so repetiert, dass eine gleichsam stotternde Diktion entsteht. Die Band, die zunächst nur einzelne Akkordschläge eingeworfen hatte, steigt nach einem Durchlauf in dieses Riff ein.

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY Das liefert die Grundlage, über der sich dann das Synthesizer-Solo des Keyboarders Shaun Martin aufschwingt. Danach kehrt das erste Riff wieder. Erlebt man nun dasselbe noch einmal mit Bild, verändert sich die Wahrnehmung des Gehörten. Die sichtbare Ausführung schärft das Bewusstsein dafür, dass hier Instrumentalvirtuosen am Werk sind, erheblich. Die Bildregie, die etwa die Finger des Gitarristen in Nahaufnahme zeigt oder bei schnellen Läufen auf den jeweils Ausführenden schwenkt, macht sich diesen Effekt zunutze und steuert ihn auch gezielt. Mehrere Aspekte, die uns im Diskurs über Liszt aufgefallen sind, finden wir hier wieder. So wird die Parallele zu sportlicher Betätigung gestisch explizit gezogen, indem etwa Justin Stanton an seinem Fender Rhodes Piano vor seinem Einsatz ostentativ Aufwärmbewegungen vollführt, sich an den Tasten postiert wie ein Sprinter in den Startlöchern und seine Akkordeinwürfe wie Sprünge ansetzt:

Abbildungen 3 und 4: Justin Stanton (Snarky Puppy 2012)

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FRIEDRICH GEIGER Auch der siegreiche Kampf mit dem Instrument lässt sich verfolgen. Die bestechende Exaktheit der Bläsersätze wirkt umso eindrucksvoller, je deutlicher man sieht, welche Schwierigkeiten etwa an der Zugposaune zu überwinden sind, um die erforderliche Präzision zu erzielen. Überhaupt beeindruckt die Balance, die das Ensemble zwischen angespannter Konzentration und lässiger Spielfreude zu halten weiß. Damit der Eindruck von Virtuosität entsteht, ist offenkundig entscheidend, dass einerseits die technischen Probleme, die es zu bewältigen gilt, hinreichend erkennbar werden. Man darf also schon mal die Zähne zusammenbeißen wie der Gitarrist Mark Lettieri, um nach außen sichtbar werden zu lassen, mit welcher Konzentration hier innerlich mitgezählt werden muss, um den Einsatz nicht zu verfehlen:

Abbildung 5: Mark Lettieri (Snarky Puppy 2012)

Das punktuelle Ausstellen solcher Schwierigkeiten lässt dann das Vergnügen, das die Musiker offenkundig bei deren Meisterung empfinden, umso ansteckender wirken. So wird auch die rhythmisch-metrische Komplexität des Stückes unmittelbar anschaulich — etwa beim Betrachten der drei Perkussionisten, die man emsig an der Arbeit sieht. Vor dieser Folie frappiert dann die Sicherheit umso mehr, mit der die Band die rhythmisch irregulären Akkordschläge über dem zweiten Riff abliefert — die Einsätze kommen wie aus dem Nichts und ohne dass etwa jemand dirigieren müsste. Ein Moment, der in dieser Hinsicht die Erlebnisdifferenz zwischen bloßem Hören und Hören plus Sehen besonders deutlich werden lässt, ist das Ende des Synthesizer-Solos. Auf der Compact Disc hört das Solo einfach mit der Generalpause auf. Auf der DVD hingegen sieht man zusätzlich, wie Shaun Martin genau im richtigen Augenblick mit souveräner Sanftheit die Hand von den Tasten zieht:

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY

Abbildung 6: Shaun Martin (Snarky Puppy 2012)

Der begeisternde Effekt, der von funktionierender Technik ausgeht, lässt sich indessen nicht nur mit Blick auf jeden einzelnen Musiker wahrnehmen, sondern potenziert sich hier noch durch deren exaktes Zusammenspiel. Alles in allem vermittelt das Ensemble den Eindruck einer präzise arbeitenden Maschinerie, die wie geschmiert abläuft und alle Hindernisse zuverlässig beseitigt. Der Blick auf Snarky Puppy kann somit bestätigen, was sich bereits an Liszt zeigte: Die Faszination musikalischer Virtuosität scheint vor allem deshalb in deren Sichtbarkeit zu gründen, weil diese den Hörer zum Zeugen technischer Meisterschaft macht. Diese Meisterschaft wird, wie unbewusst auch immer, als Sinnbild für das Ausüben souveräner Herrschaft wahrgenommen und seitens der Virtuosen auch so inszeniert. Das Betrachten virtuosen Spiels erlaubt dem Hörer daher die Teilhabe an Kontrolle, Souveränität und Ausübung von Herrschaft für die Dauer der Darbietung. Zum Erlebnis dieser Teilhabe trägt augenscheinlich der so genannte Carpenter-Effekt, auch ideomotorischer Effekt genannt, wesentlich bei. Wie William Benjamin Carpenter schon 1852 bemerkte, fühlt man sich, wenn man einer bestimmten Bewegung zusieht, unwillkürlich dazu animiert, ebendiese Bewegung selbst auszuführen (Carpenter 1889: 169-172)3 — ein Effekt, in dem wesentlich auch das Vergnügen gründet, das wir als Zuschauer bei sportlichen Ereignissen verspüren. Wer musikalische Virtuosität betrachtet, wird daher unwillkürlich selbst ein Stück weit Virtuose — Wilhelm Busch hat auch diesen Effekt zielsicher ins Bild gesetzt:

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Die moderne neurowissenschaftliche Forschung hat diesen Effekt unter dem Stichwort »Spiegelneuronen« detailliert erörtert und zu begründen versucht.

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Abbildung 7: Wilhelm Busch — Der Virtuos (1867/1868), Ausschnitt

Somit liegt nahe, dass der ästhetische Genuss beim Hören und Sehen instrumentaltechnischer Meisterschaft wesentlich einem Gefühl eigener Souveränität entspringt, das dadurch ausgelöst wird. Das würde erklären, weshalb die Faszination an musikalischer Virtuosität — wie man an den Beispielen Liszt und Snarky Puppy sieht — weder historisch noch stilistisch noch lokal fixiert oder begrenzt, sondern ein universales Phänomen ist. Auch wenn im Einzelnen selbstverständlich differenziert werden kann und muss — technische Meisterschaft gehörte zu allen Zeiten und in allen Kulturen zum Erscheinungsbild der Musik, und ihre Betrachtung dürfte immer und überall ein grundsätzlich vergleichbares ästhetisches Vergnügen auslösen. Auch der Zusammenhang zwischen visualisierter Virtuosität und Popularität, der sich bei Liszt fraglos konstatieren lässt, scheint generell zu bestehen — dass Snarky Puppy erst mit den DVDs weithin bekannt wurde, scheint ebenso wenig Zufall wie die eher verhaltenen Reaktionen der Fans auf die Neuveröffentlichung Culcha Vulcha von 2017, die erstmals wieder ein reines Höralbum ist. Offenkundig spricht die Möglichkeit, virtuose Komplexität zusätzlich durch das Sehen zu erschließen, ein breiteres Publikum an. Und umgekehrt wurzelt die schlechte Presse, die auf Virtuosität gestellte Musik immer wieder erhält, in einem Ideal ›reiner‹ Instrumentalmusik, die außer dem Gehör keines weiteren Sinnes bedarf.

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ZUR SICHTBARKEIT MUSIKALISCHER VIRTUOSITÄT VON FRANZ LISZT BIS SNARKY PUPPY

Literatur Busch, Wilhelm (1867/1868). Der Virtuos. München: Braun & Schneider. Carpenter, William Benjamin (1888). »On the Influence of Suggestion in Modifying and Directing Muscular Movement, Independently of Volition.« In: Ders., Nature and Man. Essays Scientific and Philosophical. London: K. Paul, Trench & Co, S. 169-172. Essen, Gesa von (2006). »›…wie eine melodische Agonie der Erscheinungswelt‹. Literarische und feuilletonistische Liszt-Paraphrasen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.« In: Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne. Hg. v. Hans-Georg von Arburg. Göttingen: Wallstein, S. 187-216. Gooley, Dana A. (2004). The Virtuoso Liszt. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Mann, Thomas (2012). Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. In: Ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, Bd. 12, 1. Hg. und textkritisch durchgesehen v. Thomas Sprecher und Monica Bussmann in Zusammenarbeit mit Eckhard Heftrich. Frankfurt/M.: Fischer. Schottky, Julius Max (1974). Paganini's Leben und Treiben als Künstler und als Mensch. Mit unpartheiischer Berücksichtigung der Meinungen seiner Anhänger und Gegner. Walluf: Sändig [unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1830]. Schumann, Robert (1914). »Franz Liszt. I und II [Konzert]«. In: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Bd. 1. Hg. v. Martin Kreisig. Leipzig: Breitkopf & Härtel (5. Aufl.), S. 478-485. Snarky Puppy (2012). Liner Notes zur CD groundUP. Art of Groove, MIG 80162. Williams, Adrian (1990). Portrait of Liszt: By Himself and His Contemporaries. Oxford: Clarendon Press. Woodard, Josef (2015). »Thinking Person's Feel-Good Music.« In: DownBeat 82, Nr. 12, S. 44f.

Abstract It has often been noted that the visibility of a virtuoso performance plays a key role for its reception. The article traces this phenomenon on the basis of two case studies. First, it is shown which aspects regarding Franz Liszt's performance style are highlighted by his contemporaries. A second step, focusing on the US-American Fusion-Band Snarky Puppy, illustrates how these aspects endure until today. The fascination for virtuosity stems mainly from the opportunity a visible performance creates for the audience to completely empathize the musician's total control and domination of the instrument.

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VARIANTEN

VON

VIRTUOSITÄT.

INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON Timo Hoyer

1. Verständnis von Virtuosität Wer lateinisch geschulte Ohren hat (oder einfach bei Wikipedia nachschaut), hört im Wort Virtuosität den Ausdruck virtus, der gewöhnlich mit Tugend übersetzt und mit moralischen Charaktereigenschaften in Verbindung gebracht wird. Nach der ursprünglichen Bedeutung sind mit virtus allerdings Wesensmerkmale der Männlichkeit (vir) gemeint. Etwas später erhielt der Ausdruck in der römischen Antike die Bedeutung von vorzüglichen Attributen, die meistens, aber nicht ausschließlich, ethischer Natur waren (vgl. Hoyer 2005: 79f.). Der Ausdruck Virtuosität hat etwas von dieser Bedeutung bewahrt, wenngleich er nicht auf virtus oder Tugend zu reduzieren ist. Virtuosität symbolisiert eine Form praktischer Vorzüglichkeit, die das Gegenteil von Unfähigkeit und Dilettantismus ist. Deshalb kann in einem Beitrag über das zeitgenössische Musiktheater die Bemerkung fallen: »Nie war der Grat zwischen Virtuosität und Dilettantismus so schmal« (LemkeMatwey 2016: 49), was impliziert, besagter Grat sei üblicherweise breit. Virtuosität ist — wie virtus — zumeist ein werthaltiger Begriff, der eine domänenspezifische, hervorragende Könnerschaft bezeichnet, was überwiegend positiv besetzt ist. Ein Virtuose beherrscht sein Metier gut, auffällig gut. In diesem Sinne lässt der Liedermacher und Dichter Jan Böttcher in seinem Roman Das Lied vom Tun und Lassen seine Hauptfigur, einem in die Jahre gekommenen Musiklehrer, selbstkritisch feststellen, er sei höchstens ein brauchbarer Rhythmusgitarrist, aber: »Kein Solist und schon gar kein Virtuose« (Böttcher 2011: 72).

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TIMO HOYER Virtuosität erschöpft sich nicht in der meisterhaften Erfüllung anspruchsvoller Erwartungen und Normen; das wäre bei Böttcher die Rubrik des Solisten. Um als Virtuose zu gelten, müssen Momente der Übererfüllung von Aufgaben, des Exorbitanten, der verblüffenden Normabweichung, der situativen Steigerung hinzukommen. Noch ein Beispiel aus der Belletristik: Gabriel García Márquez schreibt über eine Person, die sich in die Planung eines Begräbnisses hineinsteigert, sie sei »mehr als eine Spezialistin«, nämlich »eine Virtuosin in Sachen Tod« (Márquez 1997: 315). Nicht zufällig bestand das Motto der Tagung zum Thema Virtuosität, auf der die Urfassung dieses Beitrags zur Diskussion gestellt wurde, aus Komparativen: höher, schneller, lauter — als ginge es um Leistungssport. Tatsächlich hat Virtuosität einen sportlichen Charakter. Wie eine Sportart kann Virtuosität bis zu einem gewissen Grad trainiert, geübt werden. Und wie beim Leistungssport nimmt Virtuosität Maß an anderen, vergleichbaren Leistungen. Wenn es eine Virtuosin in Sachen Tod gibt, dann muss es zumindest vorstellbar sein, dass es Menschen gibt, die die Sache ähnlich, weniger oder gar nicht virtuos betreiben. In der Musik werden solche Maßstäbe meistens mit bestimmten Personen verbunden: Ein Bebop-Saxophonist etwa muss sich als Virtuose an Charlie Parker messen, ein Cool Jazz-Saxophonist an Lee Konitz, ein Bluesrock-Gitarrist, je nach Stil, an Buddy Guy, Eric Clapton, Johnny Winter oder Stevie Ray Vaughan, ein Heavy Metal-Sänger, je nachdem, an Robert Plant oder Attila Csihar. Virtuosität folgt, auch darin dem Sport verwandt, einer Steigerungs- und Bestmarkenlogik. Was ehemals als virtuos galt, kann deshalb mit der Zeit wie gehobener Dilettantismus wirken (man schaue sich nur alte Fernsehaufzeichnungen von Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften an). Lightnin' Hopkins hat seinen Spitznamen einst erhalten, weil man ihn für sein blitzschnelles Gitarrenspiel bewunderte. Heute würde man ihn eher Slowhand Hopkins taufen, wobei auch Langsamkeit — siehe Clapton, siehe Konitz — in Abhängigkeit vom musikalischen Beurteilungsmaßstab eine Virtuositätsnorm abgeben kann. Manche Instrumentalisten wie Charlie Parker oder Jimi Hendrix erwerben sich den legendären Ruf, in puncto Virtuosität unübertreffbar zu sein, obgleich ihnen mittlerweile in technischer Hinsicht einige das Wasser reichen. Virtuosität ist folglich nicht unbedingt gleichbedeutend mit angelernter technischer Bravour, also nicht bloße Spitzenleistung. Das unterscheidet sie vom Leistungssport, wo am Ende allein das messbare Resultat zählt. Drängt sich die technische Meisterschaft penetrant in den Vordergrund, verwandelt sich Virtuosität sogar ins Zirkushaft-Artistische. Der Wertbegriff kann dann eine pejorative Bedeutung annehmen. Ein letztes Beispiel aus der

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON Literatur: In Gottfried Kellers Der grüne Heinrich leidet der Protagonist darunter, dass er es zwar fertigbringe, dank seiner »eingelernten Pinselvirtuosität« (Keller 1919: 293) ansehnliche Bilder zu malen, diese seien aber ohne Gehalt und Seele, schnöde Kunstfertigkeit. Kraft seiner »lächerlichen Virtuosität« (ebd.: 298) überdeckt er lediglich seinen Mangel an Poesie. Jedem fallen, nehme ich an, auch aus der Musikbranche solche Fälle lächerlicher Virtuosität ein, wo künstlerische Substanz von technischer Brillanz überlagert wird. Wobei zu fragen ist, ob es sich überhaupt um Virtuosität handelt, wenn Instrumentalisten hochkomplizierte, irrsinnig anspruchsvolle Leistungen wie Zirkusnummern oder eingelernte Kabinettstücke abrufen. Dann wäre ja das Player Piano von Conlon Nancarrow unschlagbar virtuos. Doch das Adjektiv will einem hier nicht über die Lippen. Und warum nicht? Die unmenschlich schnellen Tonkaskaden lassen keinen Zweifel, dass dort ein programmiertes Gerät am Werk ist. Die Mechanik ist fremdbestimmt, sie verfügt über keine Gestaltungs- und Ausdrucksfreiheit, sie kennt nicht die Möglichkeit des Scheiterns, sie funktioniert oder ist defekt. Das ist unvereinbar mit dem Begriff von musikalischer Virtuosität, der auf nichtdeterminierte künstlerische Handlungen rekurriert und Fehlbarkeit einschließt. Buchstäblich gestanzte, mechanische Virtuosität ist deshalb nicht einmal lächerlich, sondern überhaupt keine Virtuosität. Ich halte die geläufige Unterscheidung von klassischer europäischer Kunstmusik (E-Musik) und populärer Musik (U-Musik) für unsinnig und hinfällig (vgl. Hoyer 2017). Aber so verkehrt und unscharf die Trennung ist, so unscharf und oberflächlich möchte ich behaupten, die »populäre Musik« hat das Erscheinungsbild und den Stellenwert von Virtuosität immer dort am stärksten geprägt, wo sie den Performancekünstlerinnen und -künstlern umfangreiche Gestaltungsspielräume gewährte. Damit sind wir beim Jazz und bei der Improvisation angelangt.

2. Virtuosität im Jazz Zu diesem Punkt nur kurz und thesenhaft: Der Jazz hat mit dem für diese Musikrichtung elementaren »Prinzip Freiheit« (John Litweiler) zugleich das Element der Virtuosität wie kaum eine andere Musikform kultiviert. Man kann darüber streiten, ob Virtuosität im Jazz das Salz in der Suppe oder gar die Suppe selbst ist, unstrittig dürfte sein, dass im Jazz Gestaltungsfreiheit und Virtuosität substantielle Faktoren sind.

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TIMO HOYER Der tieferliegende Grund dafür ist in dem Umstand zu suchen, dass der »Lebensnerv des Jazz« (Steve Lacy) auf Improvisation beruht (vgl. Feige 2014). Im traditionellen Jazz — ebenso wie in allen anderen Musikformen, die umfangreiche Improvisationsanteile enthalten (vgl. Bailey 1987) — ist Virtuosität vorrangig eine Domäne des improvisierenden Musikers. Die Jazz-Avantgarde hat seit den 1960er Jahren die Parameter des Jazz von Grund auf reformuliert und dekonstruiert. Die erste und zweite US-amerikanische Generation der Avantgardisten — Ornette Coleman, John Coltrane, Sun Ra, Cecil Taylor, Albert Ayler, Archie Shepp etc. (vgl. Litweiler 1988; Wilmer 1992) — und die frühen europäischen Improv- und Free Jazz-Musiker — Derek Bailey, Peter Brötzmann, Evan Parker, Han Bennink etc. (vgl. Noglik 1981) — revolutionierten und erweiterten vor allem das Improvisationsspektrum und stärkten somit die Stellung des Virtuosen. Zu fundamentalen Neudefinitionen von Improvisation und Virtuosität kam es dann vor allem in der dritten US-amerikanischen Generation der Jazzavantgarde. Vorneweg die Mitglieder der »Association for the Advancement of Creative Musicians« (AACM) erarbeiteten umwälzende musikalische Konzepte, die nicht selten den Rahmen des Jazz sprengten (vgl. Lewis 2008). Davon handeln die anschließenden Überlegungen, die einen Musiker dieser Organisation ins Zentrum rücken: Anthony Braxton.

3. Vier Varianten von Virtuosität Anthony Braxton, 1945 in Chicago geboren, zählt neben Muhal Richard Abrams, George Lewis, Roscoe Mitchell, Leo Smith und Henry Threadgill bis auf den Tag zu den produktivsten Multiinstrumentalisten, Komponisten und Theoretikern aus den Reihen der AACM. Das Konzept der Virtuosität wird von Braxton zugleich modifiziert und unterlaufen. Seine Herangehensweise zeichnet Wege vor, die der progressive Jazz seit den 1970er Jahren einschlagen sollte. Es muss freilich anderen Arbeiten vorbehalten bleiben, seinen vielfach bezeugten Einfluss auf die nachfolgenden Generationen von, sagen wir, John Zorn, Ken Vandermark, Angelika Niescier und Mary Halvorson unter den hier thematisierten Gesichtspunkten aufzuzeigen. Wenn im Folgenden rekonstruiert wird, wie das Phänomen der Virtuosität im Werk Braxtons in Erscheinung tritt, dann geschieht dies, ohne dass er selbst an irgendeiner bedeutsamen Stelle seiner breit angelegten Musikästhetik (Braxton 1985) oder in einem seiner ungezählten Interviews das Thema der Virtuosität von sich aus angeschnitten hätte. Gleichwohl kann

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON der analytische Zugriff in seinem gewaltigen Œuvre vier Varianten von Virtuosität ausfindig machen.

3.1. Selbstbestimmte Virtuosität Insbesondere in der ersten Hälfte seiner musikalischen Laufbahn — sie umfasst nach meiner Einschätzung den Zeitraum 1967 bis 1993 — treibt Braxton in einer bestimmten Hinsicht das virtuose Spiel auf seinen einheimischen Instrumenten (Saxophon und Klarinette) ins Extrem. Das geschieht vorneweg in seiner Solomusik für Altsaxophon (vgl. Heffley 1996: 236ff.; Lock 1995). Bis zur Veröffentlichung seines Doppelalbums For Alto war, von punktuellen Ausnahmen abgesehen, das unbegleitete Spiel im Jazz eine Domäne von Pianisten und Gitarristen. Als der noch weitgehend unbekannte 23-jährige sich 1968/69 erkühnte, gleich vier Plattenseiten mit nichts anderem als seinem Altsaxophon einzuspielen — lauter Eigenkompositionen — , war das ein Wagnis, das Türen öffnete. Seitdem ist der unbegleitete Auftritt im Jazz jedem Instrument, auch der Stimme, erlaubt; Soloaufnahmen gibt es mittlerweile in Hülle und Fülle, wenngleich überwiegend von eher experimentellen Künstlerinnen und Künstlern. Braxton ließ seiner Pioniertat in kurzen Abständen weitere Soloeinspielungen und zahllose Solokonzerte folgen. Neben Anerkennung brachte ihm das unter Kollegen und von Kritikerseite auch den Vorwurf des Egozentrismus ein: Hier pfeife einer auf das kollektive Miteinander, was als Regelbruch diskreditiert wurde. Phil Woods etwa hat sich derart geäußert (Radano 1993: 181). Ähnliche Maßregelungen hatte bereits die erste Generation der Jazzavantgarde zu hören bekommen, damals allerdings waren die Kollektivimprovisationen Stein des Anstoßes (vgl. Jost 1982: 181). Als moralisches Urteil ist der Egozentrismus-Vorwurf, man kann es nicht anders sagen, dämlich. Doch ein markanter Regelbruch lag bei Braxton in der Tat vor. Nach konventionellem Verständnis benötigt der Jazzvirtuose, jedenfalls wenn er ein single line-Instrument spielt, einen ihn einbettenden Rahmen, ein containment. Dieses containment bilden herkömmlicherweise die Mitspieler, aber auch bekannte Performancestrukturen (z.B. Head-Solo-Head) und harmonische, melodische und rhythmische Grundmuster. Der klassische Jazz besteht im Allgemeinen aus der Kombination dieser drei Elemente. Innerhalb dieses Rahmens dürfen sich die Instrumentalisten, ohne dass ein Phil Woods die Egozentrismus-Keule schwingen würde, solange solistisch verausgaben, wie es ihnen beliebt. Der gezielte Regelbruch des Solomusikers Braxton bestand darin, dass er auf diese Rahmenbedingungen komplett

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TIMO HOYER verzichtete. Damit fügte er dem Jazz eine neue Gestalt hinzu, für viele Liebhaber der Jazzmusik eine durchaus inakzeptable. Mit dem Verzicht auf das übliche containment ist der Solist in jeder Hinsicht auf sich allein gestellt. Der Instrumentalist muss sich und sein Spiel im wahren Sinne des Wortes selbstbestimmen, er ist, mit einem anderen Ausdruck, autark. Auch als Virtuose. Mit der Abwendung vom geläufigen Jazzrahmen verlieren die darin implementierten Qualitäts- und Virtuositätsmaßstäbe mit einem Schlag an Geltung und Verbindlichkeit. Wer diesen gewagten Schritt ins musikalische Neuland partout abwerten will, soll ihn als egozentrisch oder ultra-individualistisch verhöhnen, doch damit verfehlt man das strukturell Neue daran. Apropos Abwertung: Erfüllt Braxton überhaupt die Mindestvoraussetzung eines Saxophonvirtuosen: Ist er ein Meister seines Instruments? Das ist allen Ernstes in Zweifel gezogen worden. Phil Woods und andere lästerten über den Solomusiker und sprachen ihm das technische Vermögen ab (während er gleichzeitig in Down Beat in manchen Jahren zum besten Altsaxophonisten gekürt wurde). Auch solche Herabsetzungen mussten sich vor und neben Braxton andere Jazzavantgardisten gefallen lassen, die törichterweise vom bornierten Jazzestablishment als handwerklich inkompetent verspottet wurden (vgl. Jost 1982: 182). Wenn der Saxophonist Braxton kein Virtuose ist, dann habe ich keine Ahnung, was der Ausdruck bedeutet. Braxtons notengebundenes Spiel und seine Improvisationen sind sagenhaft kompliziert, anspruchsvoll, enorm abwechslungs- und einfallsreich, unverwechselbar und innovativ, und das in technischer, klanglicher wie struktureller Hinsicht. Virtuosität par excellence! Ich lasse hier die einzelnen spieltechnischen Neuerungen Braxtons beiseite (über For Alto vgl. z.B. Radano 1993: 134f.). An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass Braxton das musikalische Vokabular und das Klangspektrum für Holzblasinstrumente kontrolliert erweiterte. Nach der Verabschiedung der gängigen containment-Elemente ging er im Nu dazu über, ein eigenes Bezugssystem zu entwickeln: die Language Music. Diese setzt sich aus zwölf Kategorien zusammen: Nr. 1 Long Tones, Nr. 2 Accented Long Tones, Nr. 3 Trills, Nr. 4 Staccato Formings, Nr. 5 Intervallic Formings, Nr. 6 Multiphonics, Nr. 7 Short Attacks, Nr. 8 Angular Attacks, Nr. 9 Legato Formings, Nr. 10 Diatonic Formings, Nr. 11 Gradient Formings, Nr. 12 Sub-identity Formings (vgl. Wilson 1993: 98ff.; Wooley 2016b). Mit diesem zwölfteiligen Schema im Kopf organisiert Braxton sein kompositorisches Gesamtwerk, sein eigenes Instrumentalspiel und mitunter auch das der Mitspieler/innen. Wenn alles, was er an Musik bislang hervorgebracht hat, ein einziger komplexer Organismus ist, dann ist die Language Music, wie Braxton selbst

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON manchmal sagt, dessen DNA. Mit der Language Music hat seine Musik ein selbstgeschaffenes containment erhalten. Im Rahmen dieses containments ist auch Virtuosität neu zu verorten. Sie ist erkennbar am kompetenten (verständnisvollen, vorzüglichen ...) und kreativen (originellen, erfindungsreichen...) Umgang mit den Vorgaben des zwölfteiligen Vokabulars. Und mir scheint, als besäßen wir damit eine ganz brauchbare (nein, nicht erschöpfende) Definition von Virtuosität im Allgemeinen: kompetent-kreativer Umgang mit den Vorgaben eines bestimmten Vokabulars. Wenn ich im Weiteren von Virtuosität spreche, dann in diesem Verständnis.

3.2. Untergrabene Virtuosität Die Frage ist noch offen, wie es angehen kann, dass Leute wie Phil Woods Braxton die vorhandene Spieltechnik absprechen? Es ist ähnlich wie beim Egozentrismus-Verdikt. Das respektlose Urteil ist zwar abwegig, aber die darin zum Ausdruck kommende Verunsicherung hat ihren nachvollziehbaren Grund. Braxton unterläuft als Instrumentalist und Komponist nicht nur die konventionellen Virtuositätsstandards, indem er das gewohnte Jazzcontainment hinter sich lässt. Obendrein untergräbt er mit Absicht Virtuositätsmaßstäbe, die auf Perfektion und Korrektheit ausgerichtet sind. Wie macht er das? Um zunächst mit den Solokompositionen fortzufahren: Deren »Partituren«, wenn man sie so nennen mag, bestehen aus untereinander aufgereihten schriftlichen Spielanweisungen, gelegentlich ergänzt um Zeichen, bewegte Linien und Muster, aber nur höchst sporadisch aus Noten oder irgendwelchen Angaben, von denen man sagen könnte, wie sie exakt klingen müssten. Die Composition No. 106a etwa enthält dreizehn Punkte, von denen die ersten acht hier genügen mögen: »1. Quarter Note Piece 2. Long Winding Sound Lines 3. Sound Line ›Dips‹ in the Middle 4. Long Sound ›Winnie‹ 5. Long Sound ›Curl‹ – at the end of P.G. 6. ›Tightish‹ Vibrato 7. ›Bent‹ Sound Line Constructions 8. Curve Sound Line Shapes« (Braxton 1988: 259). Der Interpret Braxton nimmt es bei der Realisation seiner eigenen Angaben nicht besonders genau, sie dienen ihm als Stimulus und ungefähre Orientie-

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TIMO HOYER rung, werden aber selten konsequent oder vollständig ausgeführt. In seinen Solokonzerten spielt er alle Stücke frei aus der Erinnerung, und die ist unzuverlässig und darf das auch sein. Entsprechend unterschiedlich fallen die beiden Live-Aufnahmen aus, die von 106a verfügbar sind (Solo [Brussels] 1985; 19 [Solo] Compositions, 1988). Eine sozusagen textgetreue, die einzelnen Punkte der Komposition der Reihe nach berücksichtigende Umsetzung liegt uns von Matthew Welch vor, der 106a im Studio akkurat nach der Vorlage eingespielt hat — auf dem Dudelsack (10 [Solo Bagpipe] Compositions 2000). Doch wissen wir dadurch wirklich, wie sich 106a korrekt gespielt anhört? In formaler Hinsicht schon, aber nicht dem musikalischen Gehalt nach. Eine musikalisch präzise Version von 106a kann es gar nicht geben, da für »Long Sound ›Winnie‹« und dergleichen keine genauen akustischen Modelle existieren, die als klangliches Richtmaß heranzuziehen wären. Diese Uneindeutigkeit ist von Braxton beabsichtigt. Wer sich als Interpret auf die Solostücke einlässt, ist aufgefordert, individuelle Lösungen zu finden, wie die Worte und Zeichen in Musik zu übersetzen sind. Die mitunter mehr als skurrilen Aufforderungen verlangen vom Instrumentalisten in jedem Fall Witz und Phantasie, aber nicht unbedingt eine brillante Spieltechnik: »Dog barks« (Composition No. 99g), »Japanese steadyness« (No. 99e), »Squeak« (No. 106f) oder, in der »Bach piece« benannten Composition No. 118c: »›go back to VIENNA‹ (smile)«, um nur einige Beispiele zu nennen. Das vom Instrumentalisten Braxton kontrolliert erweiterte Vokabular, von dem die Rede war, erstreckt sich auch auf den Einsatz von Geräuschen (Klappengeräuschen, Atemgeräuschen usw.) sowie auf bewusst inakkurate Artikulation und »false sounds«. Das Ergebnis hört sich dann streckenweise so unakademisch an wie ein Objekt von Joseph Beuys aussieht, und dieser ungewöhnliche Vergleich ist gar nicht mal so weit hergeholt. Die Phil Woods dieser Welt mögen das in ihrer Engstirnigkeit mit fehlender Expertise verwechseln, doch damit hat es nichts zu tun. Ein weiteres Feld, auf dem Braxton mit Virtuositätskonventionen bricht, sind Jazzstandards. Seine zahlreichen Einspielungen von Fremdkompositionen sind alles, nur keine schulmäßigen Interpretationen der Originale. »Ich spiele die Titel seit über 40 Jahren, da ist es mir ein Bedürfnis, sie lebendig zu erhalten, indem ich vom Üblichen abweiche«, hat Braxton einmal in einem Interview seinen Ansatz erläutert (Hoyer 2006: 57). Buchstäblich alle Verwendungsweisen und Umstrukturierungen der Standard-Grammatik scheinen erlaubt, nur Einfallslosigkeit, Imitation und Langeweile nicht. Die Ergebnisse — jüngst eine 7-CD-Box mit Kompositionen von Lennie Tristano und den Musikern aus dessen Umfeld (Quintet [Tristano] 2014) — können

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON Jazzpuristen schon mal zur Weißglut bringen, zählen aber ohne Wenn und Aber zu den atemberaubenden Lesarten des Jazzkanons (vgl. z.B. Wilson 1993: 209ff.; Hawkins 2016). Wie wenig Braxton an der Erfüllung oder Überbietung von Virtuositätsmaßstäben liegt, unterstreicht er auf eigentümliche Weise seit 1994, als er das erste Mal mit Auftritten überraschte, in denen er in einem Quartett als Pianist zu hören war. Zig Auftritte und Aufnahmen — darunter auch die Tristano-Box — in unterschiedlichen Formationen und als Solopianist sollten folgen; ausnahmslos stehen Standards auf dem Programm. Braxton hatte in den Jahren vor seinem ersten Auftritt als Pianist eifrig Klavierspielen geübt, aber reichte das, und wenn ja, wofür? Man wird ihn nicht als Dilettanten am Piano bezeichnen können, dafür ist sein Spiel zu versiert, planvoll und durchdacht, kurz: zu gekonnt (vgl. Day 1998). Insofern fraglos kompetent und kreativ. Also, nach obiger Definition, regelrecht virtuos? Nein, so kompetent nun auch wieder nicht. Man erkennt nach einer Weile, dass sein Gestaltungsrepertoire als Pianist einigermaßen beschränkt ist (vergleichbar in der Malerei mit dem wunderbaren Henri Rousseau oder im Jazz mit dem Violinspiel Ornette Colemans). Und man ahnt, dass er sich diese Begrenzung des Vokabulars nicht mutwillig auferlegt hat, wie es manche bildendenden Künstler in bestimmten Werkphasen tun. Wenn man Braxton als Klaviervirtuosen bezeichnen würde (oder Coleman als virtuosen Violinisten, Rousseau als virtuosen Maler), wie wollte man dann die ungleich größere Meisterschaft, Ausdruckspalette und Instrumentalbeherrschung eines Cecil Taylor, Keith Jarrett oder einer Irène Schweizer bezeichnen? Deren Möglichkeiten sind selbstredend auch nicht unbegrenzt, scheinen aber so. Beim Pianisten Braxton sind die spieltechnischen Limitationen offensichtlich, er will sie auch gar nicht überspielen oder verheimlichen, er reizt seine begrenzten Möglichkeiten vielmehr so geschickt und variantenreich aus wie ein Haiku-Dichter die Begrenzung der lyrischen Form. Und während man dem Piano-Novizen dabei zuhört, wie er die Jazzstandards aus den Angeln hebt, wird einem nebenbei klar, dass Meisterschaft und Instrumentalbeherrschung nur Mittel zum Zweck sind und dass Virtuosität in der Kunst wahrlich nicht der Zweck an sich ist. »If the music is played too correctly it was propably played wrong« (Braxton 1989, o.S.), leitet Braxton sein Werkverzeichnis ein. Damit will er selbstverständlich nicht zur Stümperei oder Nachlässigkeit ermutigen. Das Bonmot ist Ausdruck seiner non-perfektionistischen Grundeinstellung. Wenn alles exakt und vollkommen ist, dann gibt es keine Entwicklung, keine Bewegung, keine Kreativität. Deshalb bevorzugt Braxton auf hohem Niveau das Unvollkommene und Inkorrekte. Als Komponist und Bandleader hat er es da-

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TIMO HOYER rauf abgesehen, beides zu provozieren. Konkret geschieht dies durch Überforderung. Braxton führt sich — nicht nur als Pianist — und seine Musiker/ innen (von seinem Publikum ganz zu schweigen) unentwegt an die Grenzen des Machbaren und häufig ein wenig darüber hinaus, was bei den exquisiten Musiker/innen, mit denen er sich umgibt, gar nicht einfach ist: Stücke gespielt in irrwitzigem Tempo, andere, die Mikroimprovisationen von wenigen Sekunden und den permanenten Wechsel zwischen unterschiedlichen Kompositionen verlangen, Aufführungen, die ohne Unterbrechung acht Stunden dauern (Sonic Genome), Kompositionen, in denen die Musiker/innen ihre Instrumente spielen, iPods bedienen, graphische Notationen entziffern, Spielanweisungen geben und welche empfangen — und das alles zur gleichen Zeit (Echo Echo Mirror House), vertrackte Opernlibretti, die aus ellenlanger philosophischer Prosa bestehen (Trillium) und anderes mehr. Jeder noch so versierte Musiker wird unter solchen Anforderungen aus seiner Komfortzone gescheucht. Das ist ein Grund, weshalb in Braxtons Werk von lächerlicher Virtuosität so wenig zu hören ist: Jenseits der Komfortzone sind die Gelegenheiten rar, Kabinettstücke routiniert abzuspulen. Nun weiß jeder, der Braxtons Musik ein wenig kennt, dass vor allem in seinen Quartetten der 1970er, 1980er und frühen 1990er Jahre ausgiebig und glanzvoll improvisiert wurde. Doch selbst in seiner verhältnismäßig jazznahen Quartett-Musik hat Braxton den Spielplatz virtuoser Gefälligkeit zusehends eingeschränkt, namentlich mit der Entwicklung seiner Co-ordinate Music. Das ist ein ausgetüfteltes Collage-System bestehend aus heterogenen Eigenkompositionen und Improvisationen (vgl. Wilson 1993: 112ff.; Heffley 1996: 336ff.). Der Korpus der Co-ordinate Music wechselt während einer ungefähr 60-minütigen Aufführung wie ein Kaleidoskop fortwährend die Gestalt, durch die sich die Musikerinnen und Musiker hindurchschleusen, während sie sie formen. Bei der »navigation through form«, wie Braxton dieses Gestaltungsprinzip nennt (vgl. Corbett 1994), steht das kollektive Modulieren eines Klanggebildes im Vordergrund. Der klassische Jazzsolist bekommt darin noch hin und wieder eine Bühne, doch das virtuose Solo ist lediglich eine unter vielen Facetten im Gesamtbild und nicht dessen Fluchtoder Höhepunkt.

3.3. Virtuose Ensembles An der Entwicklung von Braxtons Quartett-Musik lässt sich bereits ein Motiv ablesen, das besonders in der zweiten Hälfte seiner Karriere bestimmend werden sollte. Diese beginnt nach der Auflösung seines Quartetts 1993 mit einem neuen Kompositionsmodell, das den Namen Ghost Trance Music

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON (GTM) trägt. In der GTM ebenso wie in allen darauf folgenden Kompositionsmodellen Braxtons (vgl. Wooley 2016a), und nicht zuletzt in seinen Orchesterwerken und seinem ausladenden Opernzyklus Trillium (dem Magnum Opus seines Spätwerks), macht sich Virtuosität weniger an einzelnen Glanzleistungen fest; die Spielräume hierfür werden durchweg minimiert. Maximiert — oder besser: demokratisiert — werden stattdessen die Möglichkeiten der kollektiven Formgebung und die Gestaltungsoptionen der Musiker und Musikerinnen. Mit anderen Worten: Virtuosität verlagert sich von der kreativen Einzelperson auf das kreative, demokratisierte Ensemble. Wie solch ein demokratisches Ensemble funktioniert, ist an besagter GTM zu studieren (vgl. Dicker 2016). Die GTM setzt sich aus drei Materialsorten zusammen. Erstens aus einer ausnotierten, bis zu 80 Seiten umfassenden Basiskomposition, der »Primary Melody«.

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Abbildung 1: Ghost Trance Music. Anthony Braxtons Composition No. 243, erste Partiturseite

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TIMO HOYER Sie stellt innerhalb der Infrastruktur einer Gesamtkomposition gewissermaßen die Hauptstraße dar, auf der sich das Ensemble fortbewegt. Daneben gibt es viele Abzweigungen und Parallelstraßen, die mal von diesem, mal von jenem Teil des Ensembles genutzt werden. Die beiden anderen Materialsorten legen den groben Verlauf dieser zusätzlichen Wege fest. Das »Secondary Material« umfasst eine Reihe von einseitigen Partituren — wie alles hier aus Braxtons Feder —, die als Solo, im Duo, Trio oder anderen Kleinformaten zu spielen sind.

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Abbildung 2: Anthony Braxtons Composition No. 243. Secondary Material. Nr. I

Die Zeitpunkte, an denen das im Laufe einer meist rund einstündigen, ununterbrochenen Aufführung geschehen kann, werden über Dreiecke innerhalb der Basiskomposition angezeigt. Die Ensemblemusiker/innen entscheiden eigenständig, zu welchem »Secondary Material« sie greifen, und sie wählen gegebenenfalls Mitspieler/innen aus. Die Verständigung kann im Vorfeld des Konzerts geschehen oder, was vorwiegend der Fall ist, während der Auffüh-

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON rung spontan über ein Handzeichensystem. Tauchen in der Partitur der »Primary Melody« Quadrate auf, dann dürfen die Musiker/innen sich in derselben Weise darüber verständigen, welches »Tertiary Material« sie einbeziehen wollen. Unter diesen dritten Materialtyp fallen praktisch sämtliche Kompositionen Braxtons (um die 500), aus denen vor dem Konzert einige Musiker/innen, die Sectionleaders, eine Auswahl treffen. Insgesamt ein Haufen Noten also! Und wo ist bei all dem Platz für Improvisation? Den symbolisieren Kreise innerhalb der Basiskomposition. Die Musiker/innen haben dann die Wahl, nach Lust und Laune zu improvisieren, oder sich dabei, allein oder mit anderen, auf einen Typus der Language Music zu beziehen. Es steht ihnen aber auch frei, weiter der »Primary Melody« zu folgen oder sich auf eine nächste Gruppenaktivität vorzubereiten. Einen Bandleader gibt es auch, er ist dafür verantwortlich, dass alle Mitglieder des Ensembles ab und an auf der Hauptstraße zusammenfinden. — Als Hörbeispiel sei die grandiose CD/DVD-Box 9 Compositions (Iridium) 2006 empfohlen. Die Virtuosität solch eines Ensembles ergibt sich, wie man sieht, nicht aus der Summe virtuoser Solisten, die sich innerhalb eines vorgegebenen Schemas reihum profilieren, wie man es aus dem traditionellen Big Band Jazz kennt. Virtuos ist das Ensemble in der gemeinsamen Gestaltung eines musikalischen Gebildes. Das erinnert an die Gruppenimprovisationen der ersten und zweiten Jazzavantgarde und an europäische Improv-Projekte, an denen sich Braxton auch wiederholt beteiligt hat. Die musikalische Formgebung geschieht in Braxtons Konzepten jedoch nicht vorrangig über offene oder gelenkte Improvisationen, sondern folgt einer festgelegten Grammatik, deren Bestandteile, Strukturen und Regeln die Ensemblemitglieder erlernen müssen, um sie kompetent und kreativ nutzen zu können. Dieser distinktiven Grammatik ist es zu verdanken, dass sämtliche Aufführungen der GTM ungeachtet aller einkalkulierten Unvorhersehbarkeit und der strukturellen Offenheit eine unverwechselbare Textur besitzen: die Handschrift des Komponisten. Das ist ein Charakteristikum aller Kompositionsmodelle, die Braxton entworfen hat.

3.4. Virtuoses Komponieren Die GTM-Partituren sind eine Augenweide: klar wie mathematische Formeln und rätselhaft wie eine Geheimlehre. Von Karlheinz Stockhausen hat Braxton gelernt, den Niederschriften seiner Kompositionen eine ästhetische Qualität zu geben, die über die reine Funktionalität der Notenschrift hinausweist. Mittlerweile hängen seine Partituren in Galerien und Ausstellungen (z.B. Kramer 2015). Als für sich stehende Kunstwerke gehen besonders seine

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TIMO HOYER visuellen Notationen und seine gezeichneten Kompositionstitel durch (vgl. Lock 2008). Einen abermals herausgehobenen Stellenwert hat eine Gruppe graphischer, nichtlinearer »Partituren«, die in der Anfang 2000 entwickelten Falling River Music und in der Diamond Curtain Wall Music zum Einsatz kommen — zwei konzeptionelle Prototypen, mit denen Braxton das Feld intuitiver Improvisation auskundschaftet (vgl. Hoyer 2006: 58).

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Abbildung 3: Falling River Music. Anthony Braxtons Composition No. 366c

Sollten rotierende Pinselstriche, farbige Linien, Punkte, Zahlen- und Zeichenkolonnen eine sinnvolle Spielvorgabe abgeben, wird sich manch einer beim Betrachten dieser notenschriftlosen Leadsheets denken, dann wären doch die Museen der Moderne voll von unentdeckten »Partituren«. Ja, aber warum eigentlich nicht? Wenn Partituren nicht mehr unbedingt der musikalischen Realisation bedürfen, um als ästhetische Objekte wahrgenommen zu werden, warum sollten dann Werke der Bildenden Kunst nicht als Partituren heranzuziehen sein? Braxton untermauert mit seinen visuellen Kompositionen, dass die Korrespondenzen zwischen (frei) improvisierter Musik und (abstrakter) Malerei (vgl. Wilson 1999: 68ff.) noch längst nicht ausgereizt sind. Als Komponist ist er selbstredend nicht nur kreativ in der ästhetischen Gestaltung differenter Spielvorgaben, sondern allen voran in der Weiterentwicklung von musikalischen Vokabularen und Grammatiken. »I've never really been interested in anarchy«, hat er sich 1978 von der brachialen Free Jazz-Attitüde abgegrenzt, »but rather I've been interested in the initiation

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VARIANTEN VON VIRTUOSITÄT. INNOVATIONEN DES JAZZAVANTGARDISTEN ANTHONY BRAXTON of alternative languages as a means to reconnect to what I call the metareality implications of world culture« (Enstice / Rubin 1994: 51). So vorzüglich und originell Braxton seit einem halben Jahrhundert die Sprache der transidiomatischen Musik bereichert, ist er ein beispielhafter Protagonist virtuosen Komponierens, der Maßstäbe setzt. Er geht dabei, wie schon deutlich geworden sein dürfte, systematisch vor, wobei sein System nicht in Marmor gemeißelt, sondern dynamisch und entwicklungsoffen ist (vgl. Hoyer 2014). Sein Gesamtkonzept, hat Braxton kürzlich erklärt, »is a system of becoming, not a system of arriving« (Mollesen 2016). Die Grundkomponente dieses Systems besteht in der kompositorischen Arbeit mit drei Notationskategorien. Braxton unterscheidet »stable logics« (z.B. das abendländische Notensystem), »mutable logics« (offen gehaltene Spiel- und Improvisationsaufforderungen, z.B. die Language Music) und »synthesis logics« (synergetische Notationsverfahren) (vgl. Heffley 2000). Auf diese Typologie greift der Komponist Braxton zurück, um in ein ums andere Mal verblüffenden Varianten das Geplante und das Spontane, das Wiederholbare und das Einmalige, das Vereinbarte und das Unvorhergesehene miteinander zu verschränken. Sein Gesamtwerk ist eine einzige ideenreiche, um nicht zu sagen virtuose Antwort auf die Frage, wie aus diesen drei »Logiken« unerhörte Musik entstehen kann.

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Abstract Based on an explanation of the meaning of virtuosity and a brief comment on virtuosity in traditional jazz, the contribution reconstructs four variations of virtuosity in the work of the jazz avant-gardist Anthony Braxton: autonomous virtuosity, undermined virtuosity, the virtuosic ensemble, and the virtuosic composer.

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DREAM THEATER: KOMPONIEREN IM VIRTUOSENKOLLEKTIV Michael Custodis Virtuosität entfaltet in solchen Momenten eine besondere Faszination, wenn dank ausgefeilter technischer Fähigkeiten mit großer Sorgfalt, Routine und Gelassenheit komplizierte Zusammenhänge so transparent werden, dass die Komplexität dieser Vorgänge sich wie von selbst zu erklären scheint. Und dennoch verbleibt im Feld der Musik ein fast mystischer, unerklärlicher Rest von Unverständnis auf Seiten des Publikums. Auch präzise spieltechnische Analysen können nicht in Gänze erfassen, weshalb gerade die Virtuosität von Musikern auf die Emotionalität ihrer Zuschauer besonders einwirkt. Die Musiker wiederum betrachten sich selbst selten in der abstrakten Pose eines Virtuosen. Sie arbeiten sich selbstkritisch an den Grenzen ihrer musikalischen Ausdrucksmittel ab, die sie von noch größerer musikalischer Perfektion trennen, wenn dies ihr Ziel ist. Ihre Spieltechnik ist daher nur Mittel zum Zweck, nicht aber Selbstzweck. Um aus der Sicht des Publikums auf Virtuosen und aus der Selbstwahrnehmung von Virtuosen dieses Wechselverhältnis von technischer Versiertheit und musikalischer Ausdrucksfähigkeit besser zu verstehen, scheinen einige historische Bemerkungen vorab hilfreich. Soweit historische Quellen zurückreichen, wurden virtuose Musiker vor allem für ihr Talent bewundert, mit außergewöhnlichen Fertigkeiten die Gefühle ihrer Zuhörer zu rühren, angefangen bei Gott Apollo und Orpheus, der sogar Tiere und unbelebte Materie zu erweichen wusste. Klischees von Virtuosität als göttlicher Gabe, als Teufelspakt oder artistisch-sportlicher Leistungsschau bestimmen seither die Debatten, deutlich intensiviert mit dem Aufkommen italienischer und deutscher Musikästhetiken um das Jahr 1700 (Mattheson 1722: 114; Stößel 1749: 418). Johann Kuhnau widmete diesem Thema einen eigenen Roman, dessen Titel Der musicalische Quacksalber bereits die Tendenz andeutet, Virtuosität bei mangelnder Charakterstärke als Domäne von Scharlatanen und Betrügern zu klassifizieren. Nicht zufällig ist es daher die Sphäre des Religiösen, die nach vielen Kapiteln den

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MICHAEL CUSTODIS Protagonisten Caraffa auf den rechten Weg zurückführt, als ihm ein Priester zur Vergebung seiner Sünden einen Bußkatalog von 64 Paragraphen mit dem Titel Der wahre Virtuose und glückselige Mensch überreicht. Abgesehen von nationalistischen Vorurteilen gegen italienische Oberflächlichkeit ist der achte Paragraph besonders aufschlussreich, der die wahre Virtuosität eines Künstlers als Einheit theoretischer Kenntnisse, kompositorischer Erfahrung und instrumentaler Praxis definiert (Kuhnau 1700: 500). Die Personalunion von Komponisten und Interpreten als Virtuosen verlor sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts, bis im Begriff der »Werktreue« die Hierarchie von kompositorischem Genie und ausführenden Interpreten so dominant wurde, dass Virtuosität insgesamt in Verruf geriet (Dahlhaus/ Eggebrecht 1967: 1047f.; Reimer 1972). Leopold Mozarts Lehrbücher unterschieden entsprechend zwischen einer echten und falschen Form von Virtuosität als Differenz von geschmackvoller Eleganz und der Vorführung rein mechanischer Brillanz (Mozart 1770: 262f.). Im anschließenden 19. Jahrhundert konnten es reisende Virtuosen im expandieren europäischen Musikmarkt zu Ruhm und großem Reichtum bringen, wobei vor allem die Geschmäcker von Publikum, Verlegern und Konzertveranstaltern die Auswahl und Gestaltung erfolgversprechenden Repertoires beeinflussten. So sehr Kritik und Publikum Interpreten wie Niccolo Paganini und Franz Liszt frenetisch feierten, so sehr misstrauten sie zugleich deren kompositorischem Können, was die Lisztforschung bis heute beschäftigt. Auch Alban Berg verbat sich im Programm für Arnold Schönbergs Wiener Verein für musikalische Privataufführungen (1918-21) mit einem eigenen Paragraphen explizit jedes Zurschaustellen von Virtuosität (Berg 1984: 5; Jütte 2009; Riethmüller 2001). Vergleichbar der Zwiespältigkeit, mit der man Virtuosität in der klassischen Musik bis heute beäugt und zugleich insbesondere auf der Opernbühne feiert, wird sie auch im Bereich der Rockmusik vom Publikum in Form exzentrischer Soli erwartet und ist zugleich der Kritik ausgesetzt. Insbesondere dort, in der Rockmusik, kommt die etymologische Ableitung des Virtuosen vom lateinischen Wort »vir« für »Mann« als genderspezifisches Element zum Tragen (Bork 2010: 510f.). Abgesehen von Sängerinnen wird Rockmusik in den allermeisten Fällen bis heute von männlichen Instrumentalisten dominiert, ohne dass bislang eine soziologisch befriedigende Erklärung für dieses Phänomen gefunden worden wäre. Erwartungen, Vorurteile und Bewunderung — allen diesen Perspektiven gemeinsam ist der Blick auf Virtuosen. Als Ausnahmekünstler bewerten wir zwar ihre technischen Fähigkeiten nach mehr oder weniger sachlichen Kriterien. Gleichzeitig aber steht immer auch die ethische Angemessenheit zur Disposition, eine solche technische Überlegenheit stolz oder bescheiden zur

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DREAM THEATER: KOMPONIEREN IM VIRTUOSENKOLLEKTIV Schau zu stellen. Wie aber denken solche Künstler selbst über Virtuosität und wie setzen sie diese gezielt als dramatisches Mittel ein? Denn Virtuosität ist weniger eine Kategorie, die der Selbstwahrnehmung von Künstlern entspricht, sondern vielmehr — in der umgekehrten Blickrichtung — eine Rezeptionsweise bei der Betrachtung solcher Ausnahmemusiker. Erläutern lässt diese These am Beispiel der Band Dream Theater in einem methodischen Zweischritt: Da Virtuosität untrennbar an die Live-Präsenz von Musikern gebunden ist, um einer staunenden und begeisterten Zuhörerschaft die Finessen einer Komposition oder Improvisation buchstäblich vor Augen zu führen, thematisiert der erste Punkt das spontane Interpretieren arrangierter und damit konstruierter Komplexität. Im Sinne einer Steigerung der Stilmittel nimmt der zweite Punkt das Komponieren in Dream Theaters Virtuosenkollektiv in den Blick. Erst hier, in der Balance hohen technischen Anspruchs (einschließlich aller Bereiche von Sound und Bühnenshow) und alternativer Stilmittel (z.B. ruhiger melodischer Passagen) ist zu studieren, wie Kontraste die Wirkung eingestreuter virtuoser Passagen steigern.

I. Linearität und Komplexität Jenseits musikalischer Fähigkeiten beginnt technische Perfektion bei physiologischen Gegebenheiten, da Muskeln speziell entwickelt, Bewegungsabläufe permanent trainiert und kleineste Details so verinnerlicht werden müssen, bis aus ihrer musikalischen Verselbstständigung ein eigener Stil entstehen kann. Diesen Aspekt ständigen routinierten Trainings teilen Musiker mit Sportlern. Wenn zu außergewöhnlichem Fleiß noch außergewöhnliches Talent hinzukommt, erreichen solche Musiker ein grundlegendes Niveau, das für andere bereits virtuos und kaum erreichbar wirkt, während es für sie noch keine Herausforderung beinhaltet. Die Mitglieder der US-amerikanischen Progressive Metal-Band Dream Theater werden im Bereich der Rockmusik hierfür gerne als Vorbilder angeführt, ohne dass die Geschichte der 1985 von Schlagzeuer Mike Portnoy, Gitarrist John Petrucci und Bassist John Myung gegründeten Gruppe an dieser Stelle mit wegen Worten zusammenzufassen wäre.1 Festzustellen ist, dass bis zur heutigen Konstellation — 1991 kam Sänger James LaBrie hinzu, acht Jahre später Keyboarder Jordan Rudess sowie 2011 Schlagzeuger Mike Mangini — jede Umbesetzung die Musikalität und technische Finesse der Gruppe weiter steigerte, vor allem in der 1

Vergleiche zur Bandbiografie zahlreiche Fanseiten im Internet, insbesondere die von der Band und ihrem ehemaligen Mitglied Mike Portnoy selbst gepflegten Websites.

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MICHAEL CUSTODIS Selbsteinschätzung ihres kreativen Potenzials. Die oft bemühten Vergleiche von Dream Theaters technischer Versiertheit zu Kollegen aus dem Bereich der klassischen Musik sind durchaus zutreffend, da alle nicht nur ihre Instrumente studierten — die meisten am Berklee College of Music, wo Magini bis zu seinem Einstieg bei Dream Theater auch als Professor unterrichtete, während Rudess im Solistenprogramm der New Yorker Juilliard School eingeschrieben war (Custodis 2016). Vielmehr pflegen alle bis heute auch eine entsprechend hohe individuelle Übungsroutine und kollektive Probendisziplin. Wenn hinsichtlich der Bewertungsmaßstäbe festgestellt wurde, dass Parts auf durchschnittlichere Musiker bereits virtuos wirken, die für technisch extrem versierte Musiker noch keine Herausforderung darstellen, gilt dies insbesondere für das Zusammenspiel von Virtuosen. Wenn (wie im Fall von Dream Theater) die Interpreten ihre eigenen Stücke komponieren, lohnt ein Blick auf jene Passagen, die nicht als explizite Solostellen die Fertigkeit einzelner Musiker besonders hervorheben, sondern umgekehrt ihr Zusammenspiel betonen. Ein gutes Beispiel ist der Beginn des zwanzigminütigen Stücks »In The Presence Of Enemies«, das in zwei Teilen Dream Theaters 2007 erschienenes neuntes Studioalbum Systematic Chaos2 eröffnet und beschließt. Zu diesem Album wurde ein Songbook vorgelegt, in dem entlang der Noten verfolgt werden kann, wie durch Schichtungen und Verdichtungen die rhythmische Komplexität eines Songs langsam gesteigert wird und wie sie dank kurzer, gut zu identifizierender Motive dabei transparent bleibt. Wenn eine Schicht etabliert ist, wird sie von einer weiteren überlagert, die zunächst wie ein Solo wirkt und doch nur eine nächste Ebene bildet. Richten wir für einen Moment, quasi mit einer musikanalytischen Lupe, den Blick auf den Beginn des Stücks: Die ersten vier Takte umspielen unisono mit Terzschritten einen abwärts geführten d-Moll-Akkord, bei dem der Tonraum einer Quinte kaum verlassen wird. Mit D als Orgelpunkt übernimmt anschließend die Gitarre die Stimmführung und etabliert eine zweitaktige Einheit, bei der D als repetierter Referenzton fungiert:

Abbildung 1: Dream Theater — »In The Presence Of Enemies«, Takt 5-6

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Dream Theater (2007). Systematic Chaos. Roadrunner Records RR 7992-8.

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DREAM THEATER: KOMPONIEREN IM VIRTUOSENKOLLEKTIV Auch wenn das Notenbild diese zweitaktige Einheit als Kombination eines 7/8- mit einem 6/8-Takt ausweist, überspielen die Gitarrenfiguren diesen Taktwechsel. Vergleicht man diese Stelle im Höreindruck, erklärt sich dieser Effekt als geschicktes Spiel mit musikalischen Erwartungen und konventionellen Hörweisen: Mit der dritten Wiederholung des D beginnt eine charakteristische Pendelbewegung, die zunächst von den Intervallpaaren D-A, D-G und wieder D-A bis auf die Septime D-C springt (Markierung 1). Wie an der eingezeichneten Spiegelachse zu sehen ist, kehrt sich diese Figur um, so dass auf einen größeren Intervallsprung H-D die ursprüngliche Pendelbewegung folgt (um ein Pärchen verkürzt), diesmal in umgekehrter Reihenfolge G-D und A-D. Verkürzt man diese gesamte Figur auf vier Töne vor und vier Töne hinter der Spiegelachse, findet man sie mit identischen Bewegungsrichtungen wieder (Markierung 2), diesmal im Übergang der beiden Taktstriche. Da die letzte Sechzehntelnote D, mit der die Figur beginnt, aber noch dem ersten der beiden Takte zugeordnet wird, ist dieser Taktwechsel nur virtuell und nicht im Höreindruck erkennbar. Wie an Markierung 3 zu erkennen ist, schließt die gesamte Figur mit einer Wiederholung des Mittelsegments aus der ersten langen Notenkette (Markierung 1). Es folgt eine neue Figur der Gitarre, bis sie in den Takten 9 bis 17 den drei anderen Instrumenten Gelegenheit gibt, mit Bruchstücken der Gitarrenlinie zu kommentieren. Ab Takt 18 steigt die Band endgültig ein und kehrt noch einmal zum Anfang zurück, wobei nun das Keyboard mit Unterstützung des Schlagzeugs die Stimmführung übernimmt, während die Gitarre Harmoniewechsel des Basses akkordisch untermalt. Hier erleben wir ein weiteres Prinzip von Dream Theaters Musik, nur sehr selten, als besonderer Effekt, Songteile wortwörtlich zu wiederholen. Im Regelfall wiederholter Refrains oder Strophen gewinnen sie lieber den jeweils zugrunde gelegten Ideen weitere Spielarten ab, um die Instrumentalparts damit abwechslungsreicher zu gestalten. Der ab Takt 26 einsetzende B-Teil — nun auf der Quinte A — komprimiert die bisherige Leitidee, den Grundton mit wechselnden Taktschwerpunkten zu umspielen, auf wenige Töne. Der Fokus liegt, nicht zuletzt dank des wieder aufgenommenen Unisono-Spiels der drei Melodieinstrumente, noch stärker auf den vom Schlagzeuggroove vorangetriebenen ungleichmäßigen Betonungen. Ausgangspunkt ist nun ein 9/16-Takt, der mal um ein, zwei, vier oder fünf Sechzehntel verlängert wird und auch bei mehrmaligem Hören eigenwillig zu zählen ist:

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Abbildung 2: Dream Theater — »In The Presence Of Enemies«, Takt 26-29

Den Kern bildet eine Gruppe von sechs Tönen, die als wellenförmige Bewegung den Ausgangston A umspielt (siehe Ziffer 1). Darauf folgt eine nachgeschobene kürzere Einheit, zunächst mit drei abwärts geführten Noten (Ziffer 2), im zweiten Fall mit vier aufwärts strebenden Tönen (Ziffer 3). Der dritte Takt wiederholt wörtlich den ersten, bevor der vierte Takt auf engstem Raum die größte Variationsdichte entfaltet: Zum einen wird die mit einem Kasten markierte Sechstongruppe um zwei Töne verlängert (Ziffer 1*), die aufwärts steigen wie im zweiten Takt (Ziffer 3*), an die sich aber ausnahmsweise die bekannte Gruppe aus drei abwärts geführten Tönen anschließt (Ziffer 2). Vernachlässigt man im vierten Takt den ersten Ton (siehe Ziffer 4 mit Spiegelachse), lässt sich auch das bereits bekannte Prinzip einer figurativen Spiegelung von Motiven identifizieren. Ein entscheidender Vorteil dieser Vorgehensweise ist die Steuerung der Wahrnehmung: Bei wachsender Komplexität eines Parameters — hier der rhythmischen Anordnung — sorgt ein anderes Element für stete Orientierung, in diesem Fall durch die Reduzierung des Tonumfangs sowie der Stimmführung im Unisono. Damit bleiben die Abweichungen vom bisherigen Schema erkennbar und das Gesamtbild wird nicht zu unübersichtlich. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass aus einem mehr als fünfminütigen Vorspiel für einen 20 Minuten langen Song hier nur wenige Takte isoliert wurden, um ein Prinzip zu demonstrieren, das dennoch repräsentativ für ein Kompositionsprinzip von Dream Theater ist: die Strukturierung großer Zusammenhänge über melodische und rhythmische Motive. Im realen Kontext des Stückes ist diese Passage zwar deutlich komplexer, wird in rasantem Tempo ausgeführt und bezieht alle Instrumentenstimmen ein, die sich in unterschiedlichen Konstellationen verzahnen oder kommentieren. Dennoch ist — quasi auf der mikroskopischen Ebene — zu erkennen, wie sich mit diesem und weiteren Prinzipen große dramatische Zusammenhänge konzipieren lassen. Wenn man erstens bedenkt, dass hier nur der Kontext der instrumentalen Gestaltung berücksichtigt wurde, und zweitens die Möglichkeiten hinzu-

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DREAM THEATER: KOMPONIEREN IM VIRTUOSENKOLLEKTIV nimmt, mit Songtexten musikalische Stimmungen zu ganzen Geschichten auszuformen, ahnt man das Potenzial einer Band wie Dream Theater.

II. Komponieren für Virtuosen Häufig stehen junge Musiker zu Beginn ihrer Karriere vor der Schwierigkeit, nicht nur als originelle Songwriter auf sich aufmerksam zu machen, sondern auch unter Beweis stellen zu wollen, dass sie ihr Handwerk als Instrumentalisten verstehen. Dies kann einerseits zu Spannungen innerhalb einer Band führen, wenn z.B. ein Sologitarrist zum Missfallen der Kollegen bei Auftritten bevorzugt das Rampenlicht sucht. Andererseits können Songs zu überladen ausfallen, wenn sie zu vielen Zwecken auf einmal dienen sollen. Wie aber komponiert man, wenn man diese Phase schon lange hinter sich hat und — wie im Fall von Dream Theater — als Performer von Fachleuten und Fans dutzendfach mit Preisen ausgezeichnet wurde, so dass die Reputation respektabel nachgewiesen ist? Wie also gestaltet man Musik, bei der Virtuosität ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses ist, mit der spieltechnisch aber nichts mehr bewiesen werden muss? Im Lauf der Jahre kristallisierten sich aus Dream Theaters Band-Repertoire bestimmte Songs zu festen Bestandteilen der Konzerte heraus, bei denen die Zuhörer Solopassagen in allen Einzelheiten genießen, so dass das Verlangen des Publikums nach gemeinsam zelebrierter Virtuosität einen festen Platz hat. Wie aber kalkulieren Musiker selbst ihre Stilmittel, wenn ihre Fähigkeit, außergewöhnlich schnell und kompliziert spielen zu können, nur eine unter vielen Möglichkeiten ist? In diversen Gesprächen schilderte Jordan Rudess dem Autor, dass er selbst seine Wahrnehmung (und die seiner Kollegen) als Virtuosen durchaus ambivalent sieht.3 Einerseits beinhaltet diese Anerkennung ein Kompliment für solide Technik, die er fortlaufend trainieren muss, um sie zu erhalten. Trotz gegenteiliger Absichten können außergewöhnliche technische Fähigkeiten andererseits auch verängstigen und als Konkurrenzverhalten interpretiert werden. Die künstlerischen Konsequenzen dieser Ambivalenz sind musikalische und soziologische: Musikalisch macht Virtuosität den Versuch sichtbar, physische und psychische Einschränkungen zu überwinden, um musikalische Absichten möglichst direkt und pur auszudrücken. Ästhetischer Motor ist das übergeordnete Streben nach musikalischer Perfektion, das sich in diesem Fall in der kompositorischen Arbeit und ihrer performativen Inter-

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Der Autor steht seit 2013 regelmäßig mit Jordan Rudess in Kontakt.

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MICHAEL CUSTODIS pretation manifestiert. Daher umfasst die virtuose Beherrschung des Instruments gerade auch die leisen Töne, um kontrastierende, polychrome Stimmungen zu erzeugen. Die harmonische und rhythmische Komplexität, die gesteigerte Ansprüche an das musikalische Abstraktionsvermögen der Zuhörer stellt und damit bestimmte Publikumsteile besonders anspricht, wird damit zum Gegenpol melodischer und atmosphärischer Elemente, die sich emotional direkter vermitteln. Diese Balance aus Komplexität und Emotionalität entwickelte Dream Theater zum Markenkern ihrer Musik. Als erfahrene und etablierte Musiker kommt ihnen dabei ein Effekt zugute, den man »virtuelle« oder »imaginierte Virtuosität« nennen könnte. Im Wissen um ihr immer wieder bestätigtes Können lenkt beim Hören und Betrachten ihrer Arbeit diese virtuelle, imaginierte Virtuosität unsere Wahrnehmung: Wenn man sich bewusst macht, wie viel Musik sie bereits geschaffen und gespielt haben, kann ein neuer Song auf bestimmte Elemente konzentriert bleiben oder auch verzichten, wenn man ihn ins Verhältnis zu den Dutzenden bereits geschriebenen Songs setzt. Dream Theaters eigenwillige Mischung gefühlvoller, balladesker Passagen mit schnellen, rhythmisch vertrackten Abschnitten machte sie zwar berühmt, doch wuchs mit ihrer Bekanntheit auch die Kritik an diesem Stil. Bezeichnenderweise bedienen sich kritische Fans und Rezensenten weniger musikalischer Argumente, sondern reduzieren ihre Einwände auf soziologische Stereotype: Während die komplexen Anteile als Kopfmusik für Nerds bezeichnet werden, gelten die emotionalen balladenartigen Songteile Gegnern dieser Musik als zu weich und weibisch. Darüber hinaus machte Rudess im Gespräch die aufschlussreiche Bemerkung, dass eine überschwängliche oder kritische Bewertung seiner Virtuosität auch genreabhängig ist und unterschiedliche soziale Orte hat: Während seine Fingerfertigkeit sowie seine Art der Klavierbegleitung im Kontext von Dream Theaters Progressive Metal bisweilen deutlich negative Reaktionen provoziert, erntet er mit exakt denselben Charakteristika höchstes Lob, zuletzt für seine Mitwirkung im Jazzrock-inspirierten Instumentaltrio mit Tony Levin und Marco Minneman. Zieht man eine Zwischensumme dieser Beobachtungen, ermöglicht den Musikern von Dream Theater das Komponieren im Virtuosenkollektiv, auf eine Stilbreite zurückgreifen zu können, die ein Mitglied oder ein Album allein nicht leisten könnte. Im Umkehrschluss sind die musikalischen Gemeinsamkeiten aber auf den zuvor beschriebenen stilistischen Markenkern der Traditionen von Metal und Progressive Rock konzentriert. Andere Interessen der verschiedenen Bandmitglieder bleiben außen vor, wie die zahlreichen Nebenprojekte von Jordan Rudess, die Soloalben von Sänger James LaBrie und die Projektband The Jelly Jam von Bassist John Myung dokumentieren.

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DREAM THEATER: KOMPONIEREN IM VIRTUOSENKOLLEKTIV Gemessen am übrigen Komplexitätsgrad von Rockmusik und Metal stellt sich abschließend die Frage, ob der Erfolg, den sich Dream Theater über Jahrzehnte bei einem Millionenpublikum weltweit erspielt haben, nicht im Widerspruch steht zu den erforderlichen Vorkenntnissen, diese Musik in allen Details zu verstehen, sowie zu den notwendigen technischen Fähigkeiten, ihre Songs nachzuspielen? Erstaunlicherweise besteht aber gerade kein Widerspruch zwischen den technischen Fertigkeiten der Musiker und ihrer Popularität. Stattdessen ist ihr Erfolg ein aussagekräftiges Phänomen unserer heutigen Musikkultur: • Die allermeisten Vorgänge in unserer hoch technisierten Welt sind heute so kompliziert, dass sie sich dem Verständnis der meisten von uns entziehen. Wir vertrauen uns daher Experten an, die diese Komplexität transparent und rezipierbar aufbereiten, damit wir uns dazu verhalten können. Auf ihrem Gebiet komponieren Dream Theater einen so herausfordernden Grad an musikalischer Komplexität, dass es ihrer Interpretationsfähigkeit als Live-Musiker bedarf, uns die Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit und Genussfähigkeit solch komplizierter Strukturen — als Ausdruck von Kunst — vor Ohren und Augen zu führen. • In einer Zeit scheinbar unbegrenzter digitaler Zugriffsmöglichkeiten haben wir uns inzwischen auf totale Manipulierbarkeit eingestellt, nicht nur, aber auch akustischer und visueller Artefakte. Ein entscheidender Faktor für den Erfolg von Dream Theater und anderen Virtuosen ist ihre Live-Präsenz, mit der uns die menschliche Gestaltung von Zusammenhängen bewiesen wird, deren Komplexität die meisten von uns überfordern würde. • Bei aller Expertendistanz, die technische Fähigkeiten in der Praxis ausstrahlen können, schaffen gerade diese elaborierten Kunstmittel eine besondere Nähe zum Publikum. Eine solche Virtuosität wirkt nicht bedrohlich oder kalt, sondern ist ein entscheidendes Kommunikationsmittel um zu verdeutlichen, warum man genau solche Bands braucht und weshalb sie sich mit diesem Markenzeichen schon so lange im Geschäft halten können: Trotz aller technischen Mittel bleibt die menschliche Komponente die entscheidende Zutat von Musik. Im Fall von Dream Theater ist sie komplex und lebendig zugleich, was sie zu einem spannenden Rätsel macht. Einfache Lösungen werden schnell langweilig und gerade auch der Progressive Metal fordert seine Liebhaber mit hintergründigen Resultaten heraus. Für deren Gestaltung ist Virtuosität eine Schlüsselkompetenz.

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Abstract While technical skills are often valued as a key feature for the artistic quality of rock music (especially in progressive rock and metal) virtuosity seems not the primary concern of musicians that are labeled virtuoso. Instead virtuosity is a receptional category of looking at musicians and their performance. To understand how musicians craft complex, technically ambitious pieces and why they balance the desire to create new challenges, the essay concentrates on the US-American band Dream Theater. Furthermore the paper describes how the band uses virtuosic passages as a tool for direct emotional interaction with their fans during live concerts.

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WHILE MY GUITAR GENTLY WEEPS. Z U R S O U N D -, G R O O V E - U N D P E R F O R M A N C E VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK Dirk Stederoth Zuletzt 2012 tourten die »G3«, also Steve Morse, Joe Satriani und Steve Vai, den Zappa seinen »Stunt-Gitarristen« nannte, durch die Lande und zeigten aller Welt, was Virtuosität auf der Rock/Pop-Gitarre zu bedeuten hat. In Fortsetzung der Tradition, die bereits in den 1980er Jahren mit John McLaughlin, Al Di Meola und Paco de Lucía und der Nacht in San Francisco ihren Anfang nahm, dudeln die G3 schon seit 1996 in unterschiedlichen Besetzungen und atemberaubender Fingergeschwindigkeit über die Bretter, um zu zeigen, was ›state of the art‹ des Gitarrenspiels ist. Hierbei folgen sie einem Virtuosenbegriff, der, wenn nicht im Piano-Battle von Franz Liszt und Sigismund Thalberg in den 1830er Jahren seinen Hintergrund, so doch zumindest in Paganini seinen Ahnherrn hat. Dies wird jedenfalls sehr deutlich in Interviews, die Satriani und Vai im September 2016 für die Zeitschrift Gitarre & Bass gegeben haben. Satriani, auf Virtuosität in der Rockmusik hin angesprochen, antwortet hier selbstkritisch, er sei »der am wenigsten technisch versierte«, zudem gibt er kund, »dass ich der Langsamste in diesem Haufen bin« und er »immer noch mit dem Gefühl zu kämpfen hat, dass die Gitarre schwierig zu spielen ist«, weshalb er »beim Spielen vielleicht eine Erfolgsrate von 85% [habe], während die anderen Jungs fast jeden Abend die 100% erreichen« (Menge 2016: 33). Diese klare Bestimmung des Virtuosenbegriffs ergänzt sich sehr schön durch die Bestimmung von Vai: »Mein Ziel war es immer, herausragende technische Fähigkeiten auf dem Instrument zu erlangen, ich mag das einfach und dafür konnte ich mich begeistern. Es fühlt sich toll an, dieses Instrument fast mühelos spielen zu können« (ebd.: 39). Die technische Versiertheit auf einem Instrument, die Fähigkeit, komplexe tonale Gebilde in rasender Schnelligkeit spielen zu können, scheinen also immer noch die bestimmenden Merkmale für den Virtuosenbegriff zu sein, was wie gesagt bereits für das 19. Jahrhundert galt.

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DIRK STEDEROTH Dieser Virtuosenbegriff wurde aber schon im 18. Jahrhundert eher negativ besetzt (vgl. Reimer 1973) und ihm die positive Form eines Virtuosen im Ausdruck gegenübergestellt. Auch im 19. Jahrhundert wurde Virtuosität dann nicht nur gefeiert, wenn etwa Hugo Riemann in den 1890er Jahren anprangert, man sei »heute längst dabei angekommen, den Virtuosen um seiner Virtuosität willen anzustaunen, gleichviel auf welche Weise er dieselbe bethätigt, so dass das inhaltsloseste Phrasenwerk, der jämmerlichste Firlefanz und musikalische Hokuspokus das Konzertpublikum zu ›frenetischem Applaus‹ hinzureissen vermag« (Riemann 1967: 3). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Virtuosenbegriff nicht auch anders zu bestimmen wäre, zumal wenn man sich die Frage vorsetzt, was denn virtuositas, also Tugend im weiteren Sinne in der Musik zu bedeuten hat. Wenn Riemann davon spricht, dass solche Virtuosenpräsentationen häufig das »inhaltsloseste Phrasenwerk« zum Besten geben, dann richtet sich das wohl darauf, dass es in ihnen nicht um eine besondere komponierte Struktur und ihre angemessene Interpretation geht, als vielmehr darum, in variativen Phrasen ihre technischen Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Gleiches kann für Fälle wie die G3 im Rahmen der populären Musik gelten, insofern solche virtuosen Präsentationen von Popmusik-Klassikern in gleicher Weise wenig songorientiert sind und ebenso die Darstellung ihrer technischen Fertigkeiten als vordergründiges Ziel intendieren. Es fragt sich also, ob nicht jenseits der Zurschaustellung technischer Fähigkeiten sinnvoll von Virtuosität gesprochen werden kann. Dies sei im Folgenden in zwei Schritten untersucht, wobei zunächst nach einer anderen Bestimmung von Virtuosität im Rahmen strukturorientierter Musik gefragt wird, um von dieser ausgehend dann eine eigenständige Bestimmung dieses Begriffs im Rahmen der populären Musik vorzunehmen.

1. Die tugendhafte Interpretation Wenn hier von strukturorientierter Musik die Rede ist, so ist damit gemeint, dass es bei ihr um die Interpretation einer festgelegten Struktur bzw. eines Werkes zu tun ist, das in Form einer Partitur oder Ähnlichem vorliegt. Dass dabei der Grad der Festlegungen und Freiheiten innerhalb dieser Struktur unterschiedlich hoch sein kann, spielt zunächst keine Rolle — wichtig ist hier lediglich, dass die in einer Partitur oder Ähnlichem niedergelegte musi-

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK kalische Struktur all das enthält, was dem Komponisten als zentral für die musikalische Idee erschien, die er in dieser Struktur auszudrücken sich vorgenommen hat. Eine Interpretation hat sich entsprechend an dieser musikalischen Idee, wie sie in der Partitur niedergelegt ist, zu orientieren, wobei ihr so viele Freiräume bleiben, wie sie von jener zugelassen sind. Paradigmatisch für eine solche strukturorientierte Musik, insofern sie einen sehr hohen Grad an Festlegungen beinhaltet, ist beispielsweise die klassische Kunstmusik etwa von der Wiener Klassik bis zur Zwölftonmusik von Schönberg und Webern. Aber Zappa ist das beste Beispiel dafür, dass solche strukturorientierte Musik auch in anderen Genres vorkommen kann, war für ihn in seiner späten Phase u.a. das Vermeiden von Fehlern und Freiheiten der Grund dafür, lieber mit dem Synclavier zu arbeiten als mit einer Band.1 Doch zum Thema: Was ist wirklich virtuos, also tugendhaft bei der Interpretation einer Partitur? Ich möchte dies in drei Bereichen thematisieren: einmal im Bereich der Interpretation des Tonalen, die sich in der Instrumentierung und Klangfarbe kundgibt; zweitens in der Interpretation der Rhythmik und Metrik, die sich an der Phrasierung und agogischen Dynamik zeigt; und schließlich bezogen auf die gesamte Komposition, die sich in der Gesamtinterpretation als Einheit der beiden vorausgehenden Momente darstellt sowie im Zusammenspiel der einzelnen Instrumente sich ausdrückt. Um mit der Tonalität zu beginnen, so möchte ich für diese Thematisierung auf ein Zitat aus Adornos dritter Vorlesung über die »Funktion der Farbe in der Musik« zurückgreifen, in der er sagt: »[E]s wäre nämlich an der Zeit, daß die Instrumentalisten selber sich dessen bewußt werden, daß die strukturelle Darstellung von Musik in weitem Maße nur möglich ist durch die bewußte Verfügung über die Timbres, die dem einzelnen Instrument und die der Singstimme zur Verfügung stehen […] und diese Seite der instrumentalen Wiedergabe, nämlich daß jedes Instrument innerhalb seiner Möglichkeiten sich soweit schattieren muß, soweit verschiedene Klangfarben benutzen muß, wie sie in der Komposition […] angelegt sind, das ist eigentlich einer der Punkte, von denen man sagen kann, daß nach wie vor die Technik der instrumentalen Wiedergabe hinter den Anforderungen der Kompositionen selber vollständig zurückgeblieben sei« (Adorno 2014: 527).

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»Substracting the bullshit and the mistakes [played by Live-Musicians, D.S.], if I had to choose between live musicians or La Machine, I must admit, from time to time I'm almost tempted to opt for the ›human element‹« (Zappa 1989: 173). — Ob das eine gute Idee ist, fragt sich angesichts seiner LP Jazz From Hell (1986), die bis auf einen Song vom Synclavier eingespielt wurde.

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DIRK STEDEROTH Worauf Adorno hier verweist, ist der Anspruch, dass eine tonale Interpretation nicht nur die einfache Wiedergabe der in der Partitur notierten Töne und Harmonien ist, sondern dass sich die Intonation und farbliche Gestaltung der einzelnen Töne von der Idee der Komposition her bestimmen muss oder besser: sollte. Idealiter hat jeder Ton aufgrund seiner spezifischen Funktion im gesamten Kompositionsgefüge eine eigene Färbung, die der Interpret angesichts der Idee der Komposition auszuführen bzw. einzustimmen hat. Eine solche Konzentration auf die jeweilige Färbung einzelner Töne in ihrer Bezogenheit auf das Ganze der Komposition hin, wäre in diesem Sinne die höchste Form von tonaler Virtuosität im Rahmen einer strukturorientierten bzw. notationsbezogenen Musik. Entsprechend verhält es sich dann auch im Bereich der Rhythmik und Metrik, insofern auch hier die bloße 1:1-Übertragung der rhythmischen Strukturen der Partitur für eine angemessene, oder eben virtuose Interpretation nicht ausreicht. Riemann hatte entsprechend im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Entwicklung eines ergänzenden Zeichensystems versucht, dieser Problematik gerecht zu werden, insofern seine agogischdynamischen Zeichen dem Komponisten die Möglichkeit geben sollten, die Lebendigkeit im interpretativen Ausdruck notierbar zu machen (vgl. Riemann 1884). Im Hintergrund dieses Bestrebens liegt natürlich, dass eine notierte Melodie erst durch die spezifische Phrasierung an Lebendigkeit gewinnt, wobei man auch hier davon ausgehen muss, dass diese Lebendigkeit von der Idee des Werkes her bestimmt sein sollte und eben nicht von der bloßen Individualität des Interpreten. Rhythmische Virtuosität im Rahmen einer Interpretation zeichnet sich demnach dadurch aus, dass die Melodien und rhythmischen Gebilde einer Partitur von der Idee des Werkes her in ihrer jeweiligen Eigenheit phrasiert werden müssen, so dass jedes einzelne rhythmische Gebilde in seiner kompositorischen Funktion für die ganze Komposition adäquat interpretiert wird. Blickt man nun drittens auf die Komposition als Ganzes so integrieren sich einmal die beiden geschilderten Momente zu einer Einheit und zudem kommt noch das Zusammenspiel der einzelnen Instrumente als ein weiteres Moment in den Blick. Diesbezüglich möchte ich auf eine Passage aus Adornos Einleitung in die Musiksoziologie verweisen, in der er sich mit dem adäquaten Spiel in einem Kammerorchester beschäftigt. Sie lautet: »Der erste Schritt, Kammermusik richtig zu spielen, ist, zu lernen, nicht sich aufzuspielen, sondern zurückzutreten. Das Ganze konstituiert sich nicht durch die auftrumpfende Selbstbehauptung der einzelnen Stimmen — sie ergäbe ein barbarisches Chaos — sondern durch einschränkende Selbstreflexion. […] Große Kammermusikspieler, die im Geheimnis der Gattung sind,

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK neigen dazu, so sehr auf den anderen zu hören, daß sie den eigenen Part nur markieren« (Adorno 1975: 109f.). Dieses Zitat zeigt sehr schön, dass ein virtuoses Zusammenspiel nur durch ein adäquates Einpassen der eigenen Stimme in den Gesamtzusammenhang möglich ist, insofern auch das Zusammenspiel nicht der Demonstration individueller Fähigkeiten zu dienen hat, sondern vielmehr der angemessenen Darstellung der Idee der Komposition. Hier wird der Unterschied zu dem landläufigen Virtuosenbegriff wohl am deutlichsten, insofern es diesem ja wie gesagt primär um die Darstellung von individuellen technischen Fähigkeiten geht und eben nicht um die Orientierung an der überindividuellen Idee der Komposition, wie sie für die hier vorgeschlagenen Virtuositätsbegriffe, also tonale, rhythmische und Ensemble-Virtuosität, wie man es vielleicht nennen könnte, einschlägig sind. Die Partitur bzw. die Idee des Werks hat hier das letzte Wort und virtuos kann in dieser Hinsicht nur derjenige sein, der dieses Wort am adäquatesten artikulieren kann.

2. Sound-, Groove- und Performance-Virtuosität In einem zweiten Schritt sei nun die Frage untersucht, ob für Musik, die nicht primär von einer musikalischen Struktur, sondern vielmehr von der musikalischen Realisierung ausgeht, was für die meiste populäre Musik gelten kann, vergleichbare Virtuositätsformen bestimmbar sind. Zur Einstimmung auf diese Frage, sei zunächst noch einmal auf das erwähnte Interview mit Satriani zurückgekommen. Mit Bezug zu seiner Einschätzung, dass er sich nicht für einen virtuosen Gitarristen hält, kommt er dann auch auf die Beatles zu sprechen: »Schau dir die Beatles an. Keiner von ihnen war im klassischen Sinne virtuos. Da hört man nie Zeug, das sehr schnell oder kompliziert wäre. Aber sie haben tolle Musik gemacht, großartige Songs geschrieben, sehr gut zusammen gespielt und gesungen. […] Die meisten Bands, die ich mochte, waren so, und wenn, wie zum Beispiel bei Led Zeppelin, auch mal hervorragende Musiker spielten, dann stellten sie das nicht in den Vordergrund. Die eigene Karriere oder dein Können haben nichts in einem Song verloren« (Menge 2016: 34). Und entsprechend fällt dann auch die Auswahl seiner Gitarristen-Vorbilder aus: »Mich haben immer Gitarristen fasziniert, die sich auf den Song konzentriert haben. Die Vorbilder für mein Spiel waren George Harrison, Keith Richards, Jimi Hendrix und Jimmy Page« (ebd.).

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DIRK STEDEROTH Bezieht man diese Aussagen von Satriani auf das, was oben über die Virtuosität in der strukturorientierten Musik ausgeführt wurde, dann könnte man einmal sagen, dass er zwar immer noch dem, wie er es nennt, »klassischen Virtuosenbegriff« anhängt, jedoch eigentlich ganz ähnliche Tugenden von Rock-Gitarristen beschreibt, wie sie oben in Abgrenzung zu jenem Begriff von Virtuosität entfaltet wurden. Am Song orientiert sein, gutes Zusammenspiel, ohne sich in den Vordergrund zu rücken, das wären die eigentlichen virtuositas der Rockinstrumentalisten, und eben nicht technisches Artistentum. So verweist dann Satriani in Bezug auf das Spiel von Rocksoli auf u.a. George Harrison, »bei dem auch jedes Solo speziell an den Song angepasst war. Das war nie: ›Ich bin George Harrison und so klingt es, wenn ich ein Solo spiele.‹ Eine Einstellung, die ja in den 80ern populär wurde. Da war jedes Solo eine Zirkusnummer« (ebd.: 34f.). Kurz: wenn man den oben entfalteten Virtuosenbegriffen folgt, sind es gerade nicht die Zirkusnummern, durch die sich wirkliche Virtuosen auch in der Rockmusik auszeichnen, sondern vielmehr die songorientierte Anpassung des eigenen Spiels. Nimmt man vor diesem Hintergrund einen Song wie beispielsweise »While My Guitar Gently Weeps«, so wären etwa die beiden sehr songdienlichen Soli von Eric Clapton aus der Beatles-Originalversion als wesentlich virtuoser zu bezeichnen, als das sehr artistisch gestaltete Cover von Jeff Healey aus den späten 1980ern, das fraglos technisch herausragend gespielt ist, jedoch das Solo und nicht den Song in den Vordergrund stellt und das zumal in einer für Jeff Healey typischen Weise. Jedoch drängt sich hier sofort eine nicht ganz unerhebliche Frage auf: Was ist denn eigentlich der Song »While My Guitar Gently Weeps« und was ist seine Idee? Wollte man die oben erläuterten Virtuosenbegriffe auf die populäre Musik übertragen, müsste es auch eine entsprechende Idee eines Songs geben, an der sich das Spiel entsprechend anmessen kann. Doch was wäre in diesem Fall eine solche Idee? Harrison schreibt über die Entstehung dieses Songs, dass er, inspiriert durch das I Ging, eine Zufallsentscheidung treffen wollte und eine beliebige Passage aus einem Buch zum Thema erheben wollte — dieses zufällig gefundene Thema war dann »Gently Weeps«.2

2

Vgl. Harrison 1980: 120: »Around the time of writing While My Guitar Gently Weeps I had a copy of the ›I Ching — the (Chinese) Book of Changes‹ which seemed to me to be based on the Eastern concept that everything is relative to everything else, as opposed to the Western view that things are merely coincidental. This idea was in my head when I visited my parents' house in the North of England. I decided to write a song based on the first thing I saw upon opening any book — as it would be relative to that moment at that time. I picked up

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK Doch ist dies nun die Idee des Songs? Für die Originalversion scheint die »sanft weinende Gitarre« in der Tat im Hintergrund der Soundgestaltung die Feder geführt zu haben, denn diese Sound-Verbindung von Chorus, Crunch und Tremolo, die den E-Gitarrensound bestimmt, hat in der Tat etwas Wimmerndes. Und auch die Spielart der Sologitarre nutzt die vielen Bendings, um einen klagenden Sound zu generieren. Dann ist auch die kaum vernehmbare Orgel lediglich dafür eingesetzt, dem Gitarrensound etwas sphärischkreischendes zu geben. Und schließlich gibt neben den Dur-Moll-Wechseln in der harmonischen Struktur auch der Groove des Songs, betont durch das Schluchzen der sich schließenden HiHat am Anfang des Songs, noch die angemessene harmonische und rhythmische Basis. Kurz: Hier wird in der Tat alles getan, um der »sanft weinenden Gitarre« einen Ton zu verleihen. Und keine Coverversion hat es bisher in vergleichbarer Weise geschafft, auch nicht die sehr eng am Original produzierte Version von Peter Frampton aus dem Jahre 2003, diesem Bild der weinenden Gitarre adäquat Ausdruck zu verleihen. Und möglicherweise kann man in diesem Falle sogar Theodor Gracyk Recht geben, dass diese Aufnahme den Status eines Werks einnimmt, an dem alle weiteren Coverversionen sich zu messen haben (vgl. Gracyk 1996: 37ff.). Besser und im entsprechenden Sinne virtuoser kann man dies wohl nicht gestalten.3 Nun kommt es in der Popmusik allerdings nur äußerst selten vor, dass eine Songidee so eng mit einer musikalischen Soundidee verwoben ist wie in »While My Guitar Gently Weeps«. Zumeist liegen bei einem Song ja lediglich ein Text und ein bestimmtes Harmonieschema vor, was zusammen mit der Aufzeichnung des Strophen-Refrain-Verlaufes das Leadsheet bildet, an dem sich Popmusiker zumeist orientieren. Ein solches Leadsheet kann aber nun keineswegs als Werk im Sinne einer ausgearbeiteten musikalischen Struktur bezeichnet werden bzw. würdigt man Popmusik im Vergleich zu komplex ausgearbeiteten strukturorientierten Werken von vornherein ab, wenn man dies als Werk behandelt. Vielmehr lässt sich eher in Anschluss an Daniel Martin Feiges Philosophie des Jazz (vgl. Feige 2014: 83f.) auch von Popmusik als »Musik ohne Werk« sprechen und den Primat bei Popmusik auf die Musikrealisierung legen. Ohne das hier weiter auslegen zu können, stellt sich aber dann doch die Frage, in welcher Weise die oben dargelegten drei Virtuosenbegriffe noch auf Popmusik beziehbar bleiben, wenn kein Werk

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a book at random — opened it — saw ›Gently weeps‹ — then laid the book down again and started the song.« Lediglich die ironische Brechung dieses Themas scheint hier eine interessante Weiterführung zu sein, wie sie in der Version von Marc Ribot (1990) vorliegt, der im Kontrast zum sanften Wimmern eher ein stoßweises Gitarrenschreien hervorzaubert.

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DIRK STEDEROTH und entsprechend auch keine feste, in einer Partitur niedergelegte musikalische Idee vorliegt? Es wurde an anderer Stelle ausführlicher dargelegt (vgl. Stederoth 2017), dass zur ästhetischen Untersuchung einer partiturorientierten Musik Tonalität, Rhythmik/Metrik und Komposition als drei Strukturkategorien zugrunde gelegt werden können, die ja auch oben der Dreiteilung des Virtuosenbegriffs als Orientierung dienten. Diesen drei Kategorien entsprechen dann Felder einer realisierungsorientierten Musik, die sich nicht auf eine Partitur bezieht, die Kategorien Sound, Groove und Performance. Ohne diesen Ansatz hier vertiefen zu können, sei nur so viel gesagt, dass die beiden Bereiche der Struktur- und der Realisierungskategorien sich insofern gegenüberstehen, als die mit ihnen verbundenen Musiken jeweils von einem anderen Primat ausgehen. Während partiturbezogene Musik ihren Primat eben in der musikalischen Struktur und der in ihr verfassten Idee hat und die Realisierung dieser Idee als Interpretation immer an diesem Primat orientiert ist, zeigt sich in der realisierungsorientierten Musik eine Umkehrung des Primats, insofern hier von Sound, Groove und Performance ausgegangen wird und die musikalische Struktur eher sekundären Charakter hat.

Abbildung 1: Musikästhetisches Spannungsfeld

Bezieht man dies nun auf die drei Virtuosenbegriffe, so bedeutet dies, dass dem tonalen Virtuosen, der in seiner Interpretation die musikalische Idee bis in den einzelnen Ton hinein färben muss, der Sound-Virtuose gegenübersteht, der von der Soundgenerierung ausgeht und diese erst sekundär auf eine tonale/harmonische Struktur bezieht. Mag sein, dass Harrison seine Idee aus einem Buch hatte — die Regel ist in der Popmusik, dass beim Expe-

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK rimentieren mit Sounds ein interessanter Sound die Inspirationsquelle für eine Songidee ist. So erzählt, wäre die Story gleichermaßen, ja für popmusikalische Kompositionen in aller Regel vielleicht sogar noch plausibler. Entscheidend ist jedoch, dass der Song auch ohne den Hinweis auf die »sanft weinende Gitarre« eine Sound-Virtuosität darstellt. Und vergleicht man die Originalversion mit Harrisons erster Aufnahmesession, die nur mit Akustikgitarren und Orgel aufgenommen wurde, dann wird deutlich, wie viel Sound-Virtuosität in der Originalfassung steckt und vor allem auch, wie sehr Popmusik durch den Sound lebt. Wenn hier nun von Sound-Virtuosität gesprochen wird, dann sollte man nicht sogleich an die riesigen Effektracks eines John Petrucci denken, insofern Effekte zur Modulierung eines Gitarrensounds lediglich einer von vielen Parametern ist, die zu der Kategorie Sound gehören, wobei der wirkliche Sound-Virtuose die Fähigkeit hat, alle diese Parameter zu einer stimmigen Einheit zusammenzubringen. Wie man an »While My Guitar Gently Weeps« sehr schön hören kann, reichen nur wenige Effekte für einen virtuosen Sound aus, wenn die Lautstärke, die Spielweise, der Anschlag, das Instrument etc. pp. in einer gelungenen Weise sich ergänzen und potenzieren. Viele mit digitalen Effektracks produzierte Sounds verlieren gerade durch die mehrfache digitale Bearbeitung ihre Dynamik im Anschlag, den Eigensound des Instruments und andere wesentliche Parameter, die zur Soundgestaltung beitragen können. Der wirkliche Sound-Virtuose hingegen ist bestrebt, die Ergänzung der unterschiedlichen Parameter möglichst gewinnbringend zu gestalten. Dass dies keineswegs weniger komplex ist als die angemessene farbliche Interpretation einer musikalischen Idee, die den tonalen Virtuosen auszeichnet, wird angesichts der Vielzahl der zu berücksichtigenden Parameter deutlich (siehe Abbildung 2 auf S. 60). Aber nicht nur ein einzelnes Instrument kann sound-virtuos gespielt sein, sondern es kann ebenso ein gesamter Bandsound virtuos sein, und es versteht sich von selbst, dass hiermit nicht gemeint ist, dass eine Mehrzahl der Bandmitglieder befähigt ist, eine Unzahl an schwierigen Passagen in atemberaubendem Tempo spielen zu können. Ganz im Sinne von Adornos Anmerkung zum gelungenen Kammerorchesterspiel, jedoch übertragen auf die Sphäre des Sounds, lässt sich sagen, dass ein Bandsound dann virtuos gestaltet ist, wenn alle Soundbestandteile zu einer günstigen Einheit sich verbinden. Selbstredend sind für eine solche Virtuosität nicht nur die Bandmitglieder verantwortlich, sondern im Live-Kontext gleichermaßen der Mixer, wie im Studio-Setting zusätzlich noch der Produzent. Dies sei hier jedoch nicht vertieft, sondern vielmehr auf die zweite Realisierungskatego-

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Abbildung 2: Parameter einer Soundanalyse

rie Groove und die Frage eingegangen, was in ihrem Rahmen unter Virtuosität verstanden werden könnte. Blickt man zunächst auf die jüngeren Forschungen zum Thema »Groove« in der populären Musik die Groove als mikrorhythmische Abweichungen vom Taktmaß fassen (vgl. den Überblick in Pfleiderer 2006: 84ff.), so muss man sagen, dass mit der bloßen Feststellung dieses Tatbestandes für die Klärung der Frage, was denn Groove wirklich sei, recht wenig gewonnen ist. Einen Schritt weiter geht dagegen Charles Keil, wenn er den Begriff der »participatory discrepancies« als Grundlage für Groove einführt (vgl. Keil 1994), da in diesem Begriff die für das Phänomen Groove eigentümliche Spannung mitschwingt. Führt man diesen Gedanken weiter, dann zeichnet Groove gerade die Abweichung vom gegebenen Maß aus, die in dieser Spannung nicht den Bezug zu diesem Maß verliert. Groove kann also nur dann entstehen, wenn die Abweichung des Spiels solchermaßen gestaltet ist, dass das Maß als imaginärer Fokus immer noch mitschwingt bzw. als Fokus permanent »umspielt« wird, wodurch er lediglich indirekt zum Ausdruck gebracht wird. Die Fähigkeit, ein solches Umspielen möglichst kreativ zu gestalten, ist aber nur eine Komponente, die eine Groove-Virtuosität kennzeichnet. Eine zweite deutet sich in dem an, was man gemeinhin als den »Atem« eines

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK Songs oder eines Grooves bezeichnet. Ein Groove braucht »Luft zum Atmen«, weshalb eine permanente Erhöhung der Spielfrequenz von Tönen, die mit dem klassischen Virtuosenbegriff einhergeht, nicht unbedingt förderlich für die Entstehung von Groove ist, ihr manchmal sogar gerade entgegenwirken kann, denn das Umspielen des imaginären Fokus lebt häufig insbesondere durch die geschickte Auslassung von Tönen. Entsprechend kann die kreative und angemessene Wahl von Pausen als eine weitere Komponente für eine Groove-Virtuosität gelten. Eine dritte Komponente deutet sich an, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unterschiedliche Groove-Formen differenziert werden können. Es wurde an anderer Stelle ausführlicher erörtert (vgl. Stederoth 2017), dass sich in einem ersten Schritt vier solcher Formen phänomenologisch unterscheiden lassen: 1. Drive (treibend, Polka), 2. Groove (kreisend, Soul), 3. Swing (wellenförmig, Jazz) und 4. Boogie (spiralig, Disco). Es liegt auf der Hand, dass jede dieser Groove-Formen eine eigenständige Art des Umspielens erfordert, weshalb der Groove-Virtuose auch die jeweils angemessene Form des Umspielens zum Ausdruck bringen muss. Dabei wäre zu untersuchen bzw. gilt es als offene Frage, ob wirkliche Virtuosität nicht immer nur in einer dieser Formen erreicht werden kann oder ob sich Musiker auch in unterschiedlichen Groove-Formen virtuos ausdrücken können. Dies muss aber zunächst ebenso als ungeklärt gelten wie die Frage nach einer weiteren Differenzierung solcher Grundformen des Grooves. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass jenes Umspielen zwar auch in einem solistischen Spiel (ohne weitere Musiker) möglich ist, sich in der populären Musik jedoch zuallermeist in einem Bandkontext vollzieht. Dabei kommt es (wie schon bei der Erörterung der Sound-Virtuosität) darauf an, dass die unterschiedlichen Glieder einer Band gemeinsam ein solches Umspielen bewerkstelligen. Das bedeutet für eine groove-virtuose Band, dass alle Bandmitglieder sich in den verschiedenen Komponenten produktiv ergänzen, damit, um ein Beispiel zu geben, eine kreativ gesetzte Pause des Bassisten nicht durch ein massives Spiel eines Gitarristen wieder überspielt wird. Jedoch führen diese Erörterungen bereits zur dritten Realisierungskategorie, die mit »Performance« sich insbesondere auf das Zusammenspiel der Bandmitglieder richtet, was nun in den Fokus treten soll. Es wurde am Beginn dieses Abschnitts schon im Rekurs auf eine Aussage von Satriani darauf hingewiesen, dass sich die Grundtugenden des Zusammenspiels in einer Rockband nur wenig von denen eines Kammerorchesters, wie sie von Adorno beschrieben wurden, unterscheiden. Es sei jedoch an dieser Stelle auch auf einen Unterschied verwiesen, der zentral für das sein könnte, was eine Performance-Virtuosität auszeichnet. Der Unterschied zwi-

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DIRK STEDEROTH schen einer strukturorientierten Interpretation und einer realisierungsorientierten Performance liegt zunächst darin, dass — wie oben erörtert — eine Interpretation sich an einer vorgegebenen Struktur, dem Werk orientiert, während das für eine realisierungsorientierte Performance nicht in gleicher Weise gelten kann. In seiner Philosophie des Jazz hat Feige (2014) herausgearbeitet, dass es sich bei Standard-Jazz vielmehr um eine Musik handelt, die fast vollständig aus dem Aktual der musikalischen Performance heraus verstanden werden muss, insofern Tonales und Rhythmisches fast vollständig während der Performance verhandel- und veränderbar sind. Bezieht man diesen Ansatz nun auf Popmusik im engeren Sinne, so lässt sich sagen, dass die Verhandel- und Veränderbarkeit fast gleichermaßen für sie zutrifft, allerdings mit dem Unterschied, dass die Verhandlungen bereits vor der Performance getroffen werden, obgleich es zu einer guten Pop-, Rock- oder Soul-Performance ebenso gehört, dass die Musiker während des Spielens aufeinander reagieren und spontane Variationen kreieren, was aber bei Weitem nicht in dem Umfang geschehen kann, wie das im Standard-Jazz der Fall ist. Demgegenüber kommt der Performance im Popbereich noch eine Komponente zu, die für den Jazz weniger zentral ist und das ist die Einbeziehung des Publikums in die Performance. Dies kann in der Popmusik soweit gehen, dass das Publikum gleichsam zu einem weiteren Bandmitglied wird, insofern die Kommunikation zwischen Band und Publikum die gesamte Performance trägt. Auch wenn eine solche Publikumsorientierung gleichermaßen virtuos gestaltet sein kann (man denke etwa an Mick Jagger), soll sie hier nicht weiter untersucht werden. Vielmehr seien nochmal die mehr musikalischen Merkmale einer Performance-Virtuosität genauer in den Blick genommen. Neben den bereits an entsprechender Stelle angedeuteten Sound- und Groove-Komponenten sei noch auf eine weitere Komponente hingewiesen, die jene beiden ergänzt, jedoch zugleich auch eine Basis für diese darstellt: Es ist das kreative Wechselspiel von spontanen Einfällen und Variationen. Virtuos ist eine StandardJazzband dann, wenn alle beteiligten Musiker idealerweise permanent offen sind für die Einfälle und Variationen der jeweils anderen Musiker und zugleich auf der Basis dieser Einfälle und Variationen eigene spontane Einfälle und Variationen in das Wechselspiel einbringen. Da dieser ideale Fall eine Gleichzeitigkeit von wacher Aufmerksamkeit und kreativer Produktion erfordern würde, die letztlich in absoluter Weise nicht erreichbar ist, deutet diese Gleichzeitigkeit doch eine Zielrichtung an, auf die hin eine Performance-Virtuosität sich bewegt. Zugleich kommt in diesem Wechselspiel, und zwar insbesondere in der Popmusik, dem Verhältnis von variativen und stabilisierenden Elementen eine besondere Bedeutung zu, wobei alle Band-

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ZUR SOUND-, GROOVE- UND PERFORMANCE-VIRTUOSITÄT IN DER POPULÄREN MUSIK mitglieder gleichzeitig ihr Augenmerk darauf richten müssen. Stört dieser Einfall den Gesamtgroove? Verändert dieses Lick die aktuale Spannungsentwicklung des Songs? Stört die variative Änderung der Lage, in der ein Lauf gespielt wird, den Gesamtsound? Solche und Unmengen ähnlicher Fragen müssen während einer Performance populärer Musik in actu entschieden und angemessen umgesetzt werden. Die Komplexität dieses Geschehens steigert sich natürlich immens dadurch, dass jedes Bandmitglied parallel mit solchen Fragen und Entscheidungen konfrontiert ist, wobei die jeweiligen Entscheidungen unmittelbar wiederum in die jeweils eigenen weiteren Erwägungen einfließen müssen. Dieses äußerst komplexe Geschehen macht überdeutlich, dass Performance ein weites Feld für die Ausbildung von virtuosen Fähigkeiten bildet, die erst einmal wenig mit technischer Brillanz zu tun haben. Stellte sich eingangs die Frage, ob der klassische Virtuosenbegriff, der insbesondere mit technischen Fähigkeiten im Zusammenhang steht, nicht durch weitere Virtuosenbegriffe ergänzt werden kann, so wurde im Verlauf des Textes versucht zu zeigen, dass mindestens sechs solcher Formen sich bestimmen lassen, wobei drei mehr in das Feld strukturorientierter Musik fallen (tonale, rhythmische und Ensemble-Virtuosität) und drei weitere sich aus dem Feld einer realisierungsorientierten Musik herleiten (Sound-, Groove- und Performance-Virtuosität). Der Vorteil einer solchen Differenzierung von Virtuosität ist nicht nur, dass in Bezug auf ihn dezidiert musikalischen Kategorien in den Blick treten, sondern auch, dass es durch sie zuallererst möglich wird, die eher stillen Virtuosen in der Musik ausfindig zu machen, so dass das Spiel eines George Harrison möglicherweise als weit virtuoser bezeichnet werden kann als die Griffbretteskapaden mancher Gitarren-Sportler, denen eine »sanft weinende Gitarre« nur schwerlich aus den Fingern rinnt.

Literatur Adorno, Theodor W. (1975). Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (2014). Kranichsteiner Vorlesungen. Hg. v. Klaus Reichert und Michael Schwarz. Berlin: Suhrkamp. Feige, Daniel Martin (2014). Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp. Gracyk, Theodore (1996). Rhythm and Noise. An Aestethics of Rock. London, New York: I.B. Tauris. Harrison, George (1980). I, Me, Mine. Guildford: Genesis Press. Keil, Charles / Feld, Steven (1994). Music Grooves. Chicago: University of Chicago Press.

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DIRK STEDEROTH Menge, Marian (2016). »G3 2016. Joe Satriani & Steve Vai über eine Institution.« In: Gitarre & Bass, H. 9 (September), S. 32-41. Pfleiderer, Martin (2006). Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik. Bielefeld: transcript. Reimer, Erich (1973). »Die Polemik gegen das Virtuosenkonzert im 18. Jahrhundert. Zur Vorgeschichte einer Gattung der Trivialmusik.« In: Archiv für Musikwissenschaft 30, H. 4, S. 235-244. Riemann, Hugo (1884). Musikalische Dynamik und Agogik. Lehrbuch der musikalischen Phrasierung auf Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik. Hamburg, Leipzig, St. Petersburg: Rahter, Kistner, Büttner. Riemann, Hugo (1967). »Das Überhandnehmen des musikalischen Virtuosentums.« In: Ders., Präludien und Studien I. Hildesheim: Georg Olms, S. 3-12. Stederoth, Dirk (2017). »Sound, Groove, Performance. Musikästhetische Realisierungskategorien zur Charakterisierung populärer Musik.« In: Was ist Popmusik? Konzepte, Kategorien, Kulturen. Hg. v. Timo Hoyer, Carsten Kries und Dirk Stederoth. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (im Druck). Zappa, Frank / Occhiogrosso, Peter (1989). The Real Frank Zappa Book. New York u.a.: Poseidon Press.

Diskografie Frampton, Peter (2003) »While My Guitar Gently Weeps.« Auf: Now. CD. 33rd Street Records 3321. Ribot, Marc (1990). »While My Guitar Gently Weeps.« Auf: Rootless Cosmopolitans. CD. Antilles 314-510 091-2. The Beatles (1968). »While My Guitar Gently Weeps.« Auf: The Beatles [White Album]. 2 LPs. Apple Records PCS 7067/8. Zappa, Frank (1986). Jazz From Hell. LP: Barking Pumpkin Records ST 74205.

Abstract Based on the assessment that the classical notion of the virtuoso as defined by his or her technical prowess is also prevalent within the sphere of popular music, this text initially engages with the classic critiques of this term. Following a musicaesthetic differentiation of structure-oriented and realization-oriented music, the text first develops three notions of the virtuoso for notation-based, structureoriented music (tonal, rhythmic, and ensemble virtuosity) in order to distill corresponding definitions of the virtuoso within the sphere of realization-oriented music (sound, groove and performance virtuosity) that prove themselves to be pertinent to a clearer determination of virtuosity in popular music, which is substantiated on the example of the song »While My Guitar Gently Weeps«.

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ZUFÄLLIG HELENE

GUT?

Ü B E R L I V E -P E R F O R M A N C E S UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE. FISCHERS BERLINER AUFTRITT IM REGEN

Barbara Hornberger und Christoph Jacke

1. Einleitung »Miele, Miele, sprach die Tante, die alle Waschmaschinen kannte« (Miele, 1926) oder »Aus Erfahrung gut« (AEG, 1958 u. 1976) — Werbe-Slogans setzen auf Vertrauen: Erfahrung, das bedeutet abgesichertes Wissen, fundierte Kenntnisse, Verzicht auf waghalsige Experimente. Wer das kauft, so die Botschaft, der geht kein Risiko ein, der kauft keine Katze im Sack, der erwirbt ein ausgereiftes, erprobtes Produkt, egal, ob es sich um eine Waschmaschine, einen Staubsauger oder einen Föhn handelt. Denn niemand möchte etwas kaufen, das nur zufällig gut ist, bei dem man Glück haben muss, wenn es hält, was man sich davon verspricht — so wie die Persiflage des Slogans »AEG — Aufstellen — Einschalten — Geht nicht« von der Nicht-Einhaltung des Funktions-Versprechens erzählt. Heute werden die von den Slogans behaupteten Lebens- und somit auch Waschmaschinen-Erfahrungen der Tante im Netz durch Bewertungen und Testergebnisse ergänzt, die die vollmundigen Werbeversprechungen der Hersteller durch ›echte‹ Erfahrungswerte anderer Käufer und Nutzer verifizieren. Der Bedarf nach dieser Form von Vertrauensbildung ist da, denn die Warenwelt ist eine, in der ausgewählt wird, und Verlässlichkeit ist in diesem Prozess von immenser Bedeutung. Diese Art von Vertrauen und die damit verbundenen professionalisierten Vertrautheitsinszenierungen (vgl. Zurstiege 2005: 198) nutzen wir auch für kulturelle Waren. Genres z.B. sind von der Kulturindustrie etablierte, bedeutende Komplexitäts- und somit Risikoreduzierer, die uns die Auswahl erleichtern, weil wir uns darauf verlassen, dass CD-Cover, Filmplakate oder auch nur Casts Hinweise darauf geben, was wir zu erwarten haben. Und noch eindeutiger fällt die Wahl aus, wenn wir bereits eigene Erfahrungen mit einem

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE Produkt haben, die die Tante überflüssig machen können: Denn so wie wir genau wissen, wie der Cheeseburger in der Burgerkette schmecken wird, wissen wir auch, was wir von Wacken zu erwarten haben, von einem Bruce Springsteen-Konzert oder einem Helene Fischer-Abend. Wobei der Unterschied sein dürfte, dass wir bei den Cheeseburgern den genormten, immer gleichen Geschmack in Kauf nehmen — vielleicht sogar schätzen —, während wir bei Wacken, Springsteen oder Fischer durchaus in jeder Performance Variationen erkennen (wollen). Auf je eigene Weise ist jedes dieser Konzerte kultürlich eine genau abgestimmte Inszenierung, in der die Live-Präsentation der Songs verknüpft wird mit der performativen Darstellung des Star-Images und einem Gemeinschaftserlebnis von Star und Publikum. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die Inszenierung die Erwartung des Publikums in irgendeiner Form trifft und dieses im Sinne Simon Friths (1996) zum Bestandteil der Performance wird: Auch ein einfaches »Nur-auf-der Bühne-Sein« folgt dieser Logik und unterstützt — z.B. bei Nirvana — das entsprechende Image (hier: Verweigerung von Glamour, Anti-Showbiz). Bei Live-Inszenierungen populärer Musik lassen sich verschiedene Dimensionen von Virtuosität beobachten und unterscheiden, die alle gleichermaßen die Ereignishaftigkeit der Aufführung und das jeweilige Star-Image unterstützen, die sogar — als in Aussicht gestellte Leistung — Konsumentscheidungen wie den Kauf von Eintrittskarten attraktiv machen. In Live-Situationen wird zudem der Zufall als Mitspieler interessant. Denn in vom Zufall beeinflussten Situationen entfaltet sich die Virtuosität des Performativen, die wir besonders in den Blick nehmen und am Beispiel eines Helene Fischer-Konzerts explorieren wollen.

2. Inszenierung und Aufführung: Zufällige Performances — performte Zufälle Live-Konzerte sind präzise, auf Erwartungshorizonte und Imagetransfers angelegte Inszenierungen. Als Inszenierungen bezeichnen wir in diesem Zusammenhang den »Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien [...], nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll« (Fischer-Lichte 2005b: 146). Inszenierungen bedürfen also des Moments der Aufführung, um ihre Wirkung zu entfalten.1 1

Diese Definition des Inszenierungs- und Aufführungsbegriffs ist abzugrenzen von erweiterten Konzepten von Performance und Liveness im digitalen Zeitalter, wie sie etwa Philip Auslander (2012) entwickelt hat. In Fischer-Lichtes theater-

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE Mit Richard Schechner (1988: 72) würde man vom »Script« sprechen als »the basic code of the event«. Als Aufführung — oder mit Schechner »Performance« — gilt das jeweils einzigartige und gegenwärtige Ereignis, das vor und mit Publikum realisiert wird. Zuschauer und Zuschauerinnen und ihre »leibliche Ko-Präsenz« (Fischer-Lichte 2005a: 16) mit den Stars im Handlungsraum Konzert sind daher für die Aufführung als Ereignis konstitutiv. Ob dieses Ereignis als ›gut‹ oder eben ›nicht gut‹ beurteilt wird, hängt maßgeblich von der Passgenauigkeit der Inszenierung in Bezug auf das Star-Image ab, aber eben auch davon, was in der jeweilig einmaligen Aufführung, in der Interaktion mit dem Publikum, im transitorischen und flüchtigen Geschehen des Konzerts, wirklich geschieht, und zwar auf der Ebene der Vergemeinschaftung wie auf der Ebene der Star-Performance. In den meisten Popkonzerten finden sich Elemente, die das Zusammenspiel und das Gemeinschaftserlebnis, aber auch die Ereignishaftigkeit und Einzigartigkeit verstärken. Solche Elemente integrieren das Publikum als handelnd in den Ablauf. Das können einfache Kommunikationsakte sein (schon das Kasperle ruft: »Seid Ihr alle da« und das Publikum ruft »Ja« zurück), musikalische Interaktionen (Mitsingen, Call and Response, Klatschen), und performative Handlungen (Stage Diving, Air Guitar spielen). Die Beteiligung des Publikums ist also erwünscht, ja, notwendig. Zugleich wirkt das Publikum wie ein Zufalls-Generator, weil sich seine Handlungen nicht im Detail kalkulieren lassen, und das kann, insbesondere für choreografisch und szenografisch besonders aufwändige Inszenierungen, zum Problem werden. In vielen Shows wird darum im Voraus geplant, dass und in welchem Rahmen Publikumshandlungen evoziert werden. Dafür werden inszenatorische Pre-Sets eingesetzt, die die Spontaneität und damit auch den Zufall kalkulierbar machen. Allerdings geht es eben im Live-Konzert auch um das Hervorbringen, Zeigen und Bestätigen der Star-Figur, die auf der Folie des bereits medial entstandenen Images performt und rezipiert wird. Und dieser Vorgang ist mit der Inszenierung eng verknüpft, denn von ihr hängt ab, wie diese Performance gestaltet werden kann. Eine vor allem von spektakulären Effekten geprägte Show zeigt Stars — wie etwa Madonna, Michael Jackson, Lady Gaga, Rammstein oder auch in den 1970er Jahren Pink Floyd — als Teil eines gesamtkünstlerischen Panoramas, ein (scheinbar!) wenig inszeniertes Bühwissenschaftlichem Aufführungsbegriff ist die leibliche Ko-Präsenz beim Erleben des in dieser Situation unberechenbaren Zufallseinbruchs elementar. Da wir in unserem Beitrag vorrangig Live-Situationen in den Blick nehmen, scheint uns diese Unterscheidung sinnvoll und ihre Bedingung angemessen. Sobald LiveEreignisse analog oder digital reproduzierbar werden und in Serie gehen oder Anwesenheit virtuell wird, müsste unser Konzept, z.B. mit Auslander, modifiziert werden.

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE nengeschehen kann wiederum Nähe zum Fan und die ›Natürlichkeit‹ des Stars vermitteln. In jedem Fall gibt die Inszenierung die Rahmenbedingungen nicht nur für das Agieren des Publikums vor, sondern auch für die Stars und ihre Hervorbringung der Bühnen- und Starfigur in ihrem künstlerischen und performativen Handeln. Um dieser Performance zusätzlichen Raum zur Entfaltung zu geben, stellen manche Popkonzerte innerhalb der geplanten Inszenierung Freiräume, Leerstellen bereit, in denen nicht vollständige kalkulierbare Interaktionen stattfinden können. Wenn — wie z.B. beim Robbie Williams-Konzert in Knebworth (England) im Jahr 2003 — einzelne Fans auf die Bühne geholt werden, wenn längere Gespräche mit ausgesuchten Personen aus dem Publikum geführt werden, ist die Situation offener; der Verlauf hängt dann von beiden — Star und Fan — ab. Dabei begegnen sich auch Medienprofis und Bühnen-Laien, sofern diese Situationen nicht auch durchgeplant und -choreographiert sind. Und je ungewöhnlicher die Situation verläuft (häufig durch eine nicht erwartete Handlung der beteiligten ›Laien‹), desto einzigartiger und nicht-konventioneller wirkt sie und desto mehr hat der Star die Möglichkeit, sein Image respektive seine Bühnenfigur performativ zu zeigen (vgl. Hornberger 2017). Durch den gelenkten Zufall (vgl. Großmann 1999: 125-129) entsteht ein spezifischer, aleatorisch geprägter Handlungsraum, in dem sich der Star beweisen kann — aber auch muss. Es hängt maßgeblich von der Souveränität des Stars ab, ob solche Situationen gelingen und etwas Besonderes hervorbringen, ob sie ›gut‹ sind — und in diesem Sinn bedeutet ›gut‹ zumeist als Zuschreibung innerhalb von Authentifizierungsstrategien glaubwürdig und ›un-inszeniert‹ (vgl. Jacke 2013). Wie offen solche Inszenierungen gehalten werden können, hängt auch davon ab, wie souverän der Star das Spiel mit dem eigenen Image beherrscht. Das Image des Popstars kann dort besonders hervortreten, wo die Inszenierung über die reine Song-Aufführung hinausreicht, darum werden solche Momente vor allem bei den Konzert-Inszenierungen von Stars eingebaut, die mit ihrer Bühnenfigur und ihrem Image sicher, also spielerisch umgehen können.2 Der gelenkte Zufall im Sinne Großmanns ermöglicht dem Star das Ausspielen seiner Performer-Qualität und bietet im Fall des Gelingens dem Publikum ein spezifisches ästhetisches und soziales Erlebnis: »Die Künste wollen den Zufall, benötigen ihn geradezu systematisch. Sie versuchen ihn eben deshalb auf immer neue Weise zu platzieren,

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Wir verstehen Images hier als im weiten Sinne multimediale Gesamt-Texte (vgl. Jacke 2011), die von den historische Personen, den beteiligten Medien und den Rezipienten gleichermaßen geschaffen werden (vgl. Lowry 2003; Hügel 2007).

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE [...] herzustellen, an einen wichtigen Punkt im ästhetischen Gefüge zu stellen« (Gendolla/Kamphusmann 1999: 7).3

3. Virtuositätsbegriffe populärer M usik Es lassen sich bis hierhin im Kontext Live-Konzert zunächst zwei verschiedene Formen von Virtuosität unterscheiden, die jeweils mit der Inszenierung und ihrem Umgang mit Zufall eng zusammenhängen. Eine genau geplante Konzert-Inszenierung zeigt Virtuosität eher auf der Ebene der Show als Ganzes — im Ineinandergreifen von visuellen Effekten, Licht-Technik, Sound, Choreografie und der sich darin souverän bewegenden Künstler. Virtuosität ist hier sowohl seitens der Regie als auch seitens der Technik und natürlich auch seitens der Ausführenden notwendig, damit das Spektakuläre seine überwältigende Wirkung entfalten kann. In den Inszenierungen, die Momente der Unkalkulierbarkeit zur Verfügung stellen, liegt wiederum die Virtuosität deutlicher bei den performenden Musikerinnen und Musikern, in der souveränen Beherrschung der eigenen Bühnenfigur sowie der Situation, die durch den Zufall bestimmt ist. Wer sich hier beweist, kann seine Star-Figur nicht nur zeigen, sondern zugleich authentifizieren. Zunächst sind Virtuosität und der Virtuose als »eine Figur der (Über-) Steigerung« beschreibbar, die »in einem bestimmten Typ von Performer« inkorporiert ist, als ein Konzept, das vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart »im Kontext abendländischer Kulturen Grenzen des menschlichen Handelns angeht, sie im Zuge ihrer Achtung und Missachtung, ihrer Überschreitung, Um- oder Überspielung evident macht und den Wert dieser Evidenz in künstlerische, ökonomische oder politische Kalküle integriert« (Brandstetter/Brandl-Risi/Eikels 2017: 9). Für diesen Vorgang sind, wenn er im Bereich des Künstlerischen stattfindet,4 künstlerische und performative Fähigkeiten 3

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Bisher wenig behandelt scheint der Begriff des Zufalls in den Kultur-, Medienund Musikwissenschaft und erst Recht in der Popmusikkulturforschung. Hier sind die Beiträge in dem von Peter Gendolla und Thomas Kamphusmann herausgegebenen interdisziplinären Sammelband Die Künste des Zufalls (1999) hilfreich, insbesondere sowohl die eher naturwissenschaftlichen Einführungstexte von Claus Grupen und Wolfgang Coy als auch die eher auf Musik und in Ansätzen sogar das Populäre bezogenen Überlegungen von Holger Schulze und Rolf Großmann. Ob die Kategorie des Virtuosen auch für ökonomische und politische Felder in Anspruch genommen werden kann, ist durchaus umstritten, Denn häufig werden diese im Diskurs dem Bereich der Ästhetik entgegengesetzt. Dies gilt implizit schon, wenn etwa Hegel den ›wahren‹ (nämlich schöpferischen) vom ›bloßen‹ (lediglich handwerklich-technischen) Virtuosen unterscheidet (vgl. Brandstet-

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE zugleich notwendig: Ein Virtuose kann charakterisiert werden als ein Künstler, »der etwas kann und dies auf exponierte Weise zeigt« (Hügel 2003: 491), womit er andere übertrifft. Im 18. und 19. Jahrhundert ist das Virtuose in erster Linie eine Domäne der Musik,5 im Kontext des bürgerlichen Konzertlebens werden unter dem gezeigten ›Können‹ üblicherweise künstlerisch-handwerkliche Fähigkeiten verstanden, z.B. eine besondere Fingerfertigkeit oder Stimmgewalt. Aus diesem Grund sind Virtuosen oder Virtuosinnen stets professionelle Künstler und als solche Teil des öffentlichen Kulturbetriebs. Aus dieser Verortung heraus entsteht die »Überzeugung, der Ursprung von Begriff und Konzept des Virtuosen liege in der Kunst; die Unterstellung einer Deckungsgleichheit von Kunst und ›dem Ästhetischen‹; und vor allem die Annahme, Kunst, Ökonomie und Politik seien zwar prozessual irgendwie verflochten, wertemäßig aber sauber voneinander abgrenzbare Bereiche mit ihren je eigenen Kriterien und einem spezifisch zuständigen Vokabular, das die Wertseparation bewacht« (Brandstetter/Brandl-Risi/Eikels 2017: 8). Hierin sehen Brandstetter et al. »Effekte einer Fraglosigkeit, die stille Abmachungen in der Allianz von bürgerlicher Kultur und akademischen Kultur-Wissenschaften schützt« (ebd.). In dieser Überbetonung des Künstlerischen gerät jedoch aus dem Blick, dass das öffentliche Aufführen der herausragenden Fähigkeiten dem Publikum das Verstehen der Leistung und den Genuss erheblich erleichtert, gerade in der Musik: Denn es muss die herausragende Leistung nicht hörend erkennen, sie wird ihm außerdem gezeigt. So verstanden ist Virtuosität bereits ein Popularisierungsvorgang (vgl. Hügel 2003).

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ter/Brandl-Risi/Eikels 2017: 16f.). Was nicht schöpferisch ist, ist demnach auch nicht wirklich virtuos, schlimmer noch: Das nur scheinbar Virtuose ist suspekt: »Die Instrumentalisierung der ästhetischen Dignität von Kunst für irreguläre Gewinne, die ihren ökonomisch und politisch interessierten Charakter durchblicken lassen, kommt den Spekulationen auf eine gute, gesellschaftlich bildende Kraft ästhetischer Autonomie in die Quere. Die spielerische Freiheit des Virtuosen droht vorab das zu vergiften, was den zum Publikum versammelten Subjekten ästhetischer Erfahrung von autonomer Kunst an Befreiung geschenkt werden soll. [...] Die heute vorherrschende Verengung des Verständnisses von Virtuosität auf ›die Kunst‹, gleichgesetzt mit ›dem Ästhetischen‹, vergisst diese Konflikte, die bis in die Entstehungsphase der ästhetischen Theorie zurückdatieren« (ebd.: 17). Damit zentral verbunden ist die Bühne als der Ort, an dem diese Virtuosität gezeigt und bezeugt wird. Nicht zufällig gelten daher auch einzelne Tänzerinnen wie Marie Taglioni und Fanny Elßler und etwas später Schauspieler und Schauspielerinnen wie Frédérick Lemaître, Sarah Bernhardt oder Eleonora Duse als virtuos.

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE Diese Ambivalenz ist bis heute unaufgelöst: Auch in der populären Musik wird Virtuosität (insbesondere das Gitarrensolo) als eine an der E-Musik orientierte Leistungsschau und ostentative Dauer-Überbietung zugleich gefeiert und kritisiert. In der Betonung der künstlerischen Leistung gerät der Blick auf die performative Leistung häufig flüchtig, sie wird mitunter sogar als effekt- und affekthaschend und übertrieben und daher störend wahrgenommen oder sogar relativiert, ironisiert und lächerlich gemacht. Gerade in der populären Musik gilt noch immer weitgehend, was Peter Wicke konstatierte: die »Abwesenheit des Begriffs ›Virtuosität‹« (Wicke 2004: 232) in der Begriffswelt der Popmusik und ihrer Erforschung. Dies lässt sich zum einen auf die Verortung des Begriffs in der bürgerlichen E-Kultur zurückführen, die tendenziell noch immer als eine gilt, gegen das Populäre sich abzugrenzen habe. Zum anderen aber liegt das Problem der mangelnden Erforschung auch darin, dass das »Urteil ›virtuos!‹ […] selbst genuin unsachlich [ist]. Es enthält einen Exzess an Wertzuschreibung, ein Zuviel, das es zugleich als Akt der Anerkennung fragwürdig macht. Es lässt sich weder phänomenal objektivieren noch in einer allgemein nachvollziehbaren Evaluation verankern« (Brandstetter/ Brandl-Risi/Eikels 2017: 10). Es erscheint daher zunächst einmal naheliegend, den Begriff weiter ruhen zulassen. Allerdings kommen mit dem Begriff der Virtuosität dann doch bestimmte Aspekte von Popmusik in den Blick, die bei aller Unschärfe für die Texte und Kontexte von Popmusik (und freilich die Diskussionen darum) von erheblicher Bedeutung sind: das Spektakuläre, die Frage nach Leistung und ihrer subjektiven oder objektiven Bewertung, die emotionale Qualität von Live-Performances. Diese Dimensionen lassen sich, wie wir meinen, über den Begriff der Virtuosität auch in ihrer Verbindung beobachten und erschließen.6 Tatsächlich erläutert bereits Wicke profund, dass Konzepte von Virtuosität nur scheinbar unpassend für die Reflexion und Erforschung von Popmusik sind. Wicke unterscheidet die musikalisch-ästhetische, sozial-kulturelle und symbolische Dimension von Virtuosität und betont die Bedeutung der popmusikalischen Aufführung und der Performances ihrer Akteure: »[E]ntscheidend ist der Charakter der Einmaligkeit und nach Möglichkeit auch des Scheins der Unwiederholbarkeit, der die Performance als Form der

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Zu dem Themengebiet scheinen die beiden grundlegenden Beiträge zur musikalischen Virtuosität von Wicke (2004) und Hanns-Werner Heister (2004) weiterhin ebenso angebracht wie Hans-Otto Hügels Ausführungen zum Virtuosen (2003).

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE Begegnung von Musiker und Publikum zumindest temporär den Apparaturen der Musikindustrie entzieht« (Wicke 2004: 236). Vor dem Hintergrund von Performativität lassen sich die drei von Wicke genannten Dimensionen modifizieren: Virtuosität populärer Musik verlangt in ihrer Aufführung Kompetenzen, die mal eher technisch ausgefeilt scheinen (musikalisch-technisch), mal in einem besonderen Auftreten (sozial-kommunikativ) liegen, oder in dem Gespür für die Situation und ihre Gestaltung (situativ-performativ) liegen.7 Die Verbindung von auditiver und visueller Wahrnehmung von Virtuosität betonen auch Hans-Otto Hügel (2003) und Simon Frith (1996), indem sie Sinnlichkeit und Körperlichkeit als zentrale Faktoren populärer Musik akzentuieren: »[T]o hear music is to see it performed, on stage, with all the trappings« (Frith 1996: 211). Dies hat auch grundsätzliche Konsequenzen für die Konzeptualisierung von populärer Musik: »In den populären Musikformen steht nicht das ›Werk‹ im Mittelpunkt, auch nicht in Analogie dazu der Song, sondern vielmehr die ›Performance‹« (Wicke 2004: 234). Erst im Gegenüber aus Performenden und Zuschauenden entsteht letztlich sozial-kommunikativ eine Kooperation, ein Gemeinsames und sei es noch so para-interaktiv. In »Musik mit ihrer komplexen inneren Dialektik von Ich und Wir, Individualität und Kollektivität, werden die beiden Grundformen menschlicher Beziehungen — Kooperation und Konfrontation — auf besondere Weise gespiegelt« (Heister 2004: 19-20). Es geht dabei oft mehr um die »Komplizenschaft« (Wicke 2004: 235) zwischen Star und Fan als um das meisterhafte Beherrschen der Musik-Interpretation oder gar der Instrumente. Doch auch wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Bühne und die Performance verlagert, so scheint eine gewisse Mühelosigkeit des Auftritts doch wichtig, um den Eindruck von Virtuosität hervorzurufen. Heister spricht hier vom speziellen »Als ob«, einem Effekt, der alles quasi automatisch gelingend erscheinen lässt, und nennt dies das »Zirkus-Prinzip«, wobei das Gelingen — als Zeigen von Fähigkeiten — wichtiger ist als die Qualität der Herausforderung. »Bei Virtuosität ist überdies mindestens zu differenzieren zwischen der Meisterung tatsächlicher Schwierigkeiten und der Darstellung zwar effektvoller, aber bloß scheinbarer technischer Schwierigkeiten« (Heister 2004: 24). Das »Als ob« kann nach Frith durchaus naturalisiert und 7

»Der Virtuose sollte zwar ein Interpret von höchstem Rang sein, aber auch ein Konzertereignis« (Motte-Haber 2004: 179). An H. Kuppens und Frank van der Pol (2014) haben für niederländische Black Metal-Fans konstatiert, dass Authentizität innerhalb der Musikindustrie von Konsumenten gleichbedeutend bewertet wird wie die musikalischen Fähigkeiten eines Künstlers und somit zum integralen Bestandteil der kommunikativen Erfahrung eines Konzert-Ereignisses werden kann.

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE in die Performance integriert sein: »It's as if the ›as if‹ of the song performance is foregrounded in order to naturalize the ›as if‹ of the musical performance« (Frith 1996: 211). In jedem Fall geht es darum, Herausforderungen — des Instruments, des Werks, der Situation — zu meistern, das Virtuose entsteht in einem vielfältigen Dazwischen: »Der Virtuose steht daher historisch und systematisch zwischen dem Künstler, der den Status eines Handwerkers hat, und dem, der ein Star ist. Kommt es bei jenen nur auf die Leistung an, die er hervorbringt, geht es bei diesem vor allem um das von ihm hergestellte Image. Wird etwa bei einem höfischen Tafelmusiker vor allem das dargebotene Musikstück rezipiert, kommuniziert man beim Star mit der Kunst-Figur, die dialektisch Selbst- und Rollendarstellung verbindet« (Hügel 2003: 492). Diese Mehrdimensionalität kann soweit führen, dass sogar vermeintlicher Dilettantismus hoch organisiert und virtuos ›gemeistert‹ wird, wie etwa bei Helge Schneider, oder dieser bewusst zelebriert, zur Kunstform erklärt wird wie bei den Musikerinnen und Musikern der Genialen Dilettanten.8

4. Helene Fischer live oder: Der Einbruch des Regens Live-Konzerte verlangen Virtuosität in allen drei von uns genannten Dimensionen: Selbstverständlich sollen Künstlerinnen und Künstler zeigen, dass sie ihre Stimme oder ihr Instrument musikalisch-technisch beherrschen, und genau so wird erwartet, dass sie ihr Star-Image kommunikativ hervorbringen und bestätigen. Situativ-performative Virtuosität ist der transitorischen Qualität der Aufführung ohnehin eingeschrieben, sie ist allerdings in besonderem Maße gefordert, wenn der Zufall nicht mehr gelenkter, kalkulierter Moment und Teil der Inszenierung ist, sondern tatsächlich als Realität in eine Show hereinbricht. In gewisser Weise ist das in jeder Live-Show der Fall, in Form von Fehlern und Pannen: Die Saite reißt, der Monitor-Sound ist schlecht, ein Bühnen-Licht fällt aus, dem Sänger ist der Text entfallen etc. Diese Pannen werden, wenn sie professionell gehandhabt, also z.B. rasch behoben oder souverän überspielt, werden, vom Publikum häufig kaum 8

Auch in den Diskursen zur Erforschung von populärer Musik lassen sich übrigens Spuren von Virtuosität und Dilettantismus finden: Der Pop-sensible Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher (2010: 210) spricht in seinen Überlegungen zum Besser- und Fan-Wissen im Pop-Diskurs in Anlehnung an Diedrich Diederichsen von dessen Wunsch nach weniger disziplinärer Professionalisierung als vielmehr professionalisiertem Dilettantismus für den wissenschaftlichen Pop-Diskurs.

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE wahrgenommen, weil der Ablauf der Inszenierung dadurch nicht wirklich gestört wird. Anders ist es, wenn der Zufall die Aufführung determiniert. Dann liegt die Aufmerksamkeit der Zuschauenden ganz auf der Frage, wie die Künstlerinnen und Künstler mit dem Unvorhergesehenen umgehen, denn hier verspricht die Inszenierung durchlässig zu werden für einen Blick ›hinter die Kulisse‹. Darum ist hier vom Star neben der künstlerisch-performativen Arbeit ein besonderes Maß an Selbst-Darstellung gefordert — was ihm Gelegenheit bietet, über das geprobte Material hinaus etwas Außerordentliches zu zeigen, sich gewissermaßen im Wettbewerb mit sich selbst zu steigern und schließlich durch Virtuosität zu glänzen. Wie diese situativ-performative Virtuosität ihre Wirkung entfaltet, lässt sich zeigen am Beispiel eines Open Air-Konzerts des Schlager-Stars Helene Fischer im Olympiastadion in Berlin am 5. Juli 2015, das wegen eines schweren Gewitters abgebrochen werden musste.9 Das Konzert ist Teil der Tour zum Album Farbenspiel im Jahr 2015, eine ausgesprochen aufwändige und sehr genau geplante Show: 17 Musiker, 12 Tänzerinnen und Tänzer, sechs Kostümwechsel, akrobatische Flugshow — wahrscheinlich ist Fischer derzeit der einzige deutsche Star, der eine solch aufwändige Form des Live-Entertainments zeigt, die eher für US-amerikanischen Topstars wie Beyoncé typisch ist.10 Darüber hinaus hat man auf der Fischer-Tour das Repertoire der Publikums-Beteiligung um eine Smartphone-App erweitert, die es den Besitzern bei einem bestimmten Song erlaubt, selbst mit ihren Geräten die Light Show zu generieren. Die App übersetzt die Musik in Helligkeit und Farbigkeit des Displays, im Konzert erscheint der Publikumsraum als respondierendes Element der Musik und als Live-Transformation des Tour-Titels Farbenspiel 9

http://www.bild.de/unterhaltung/musik/helene-fischer/konzertabbruch-wege n-unwetter-41655006.bild.html (Stand vom 17.2.2017); http://www.abendblatt.de/vermischtes/article205446727/Helene-Fischer-kapi tuliert-vor-dem-Unwetter-und-bricht-ab.html (Stand vom 17.2.2017); http://www.morgenpost.de/berlin/article205446011/Helene-Fischers-Konzertin-Berlin-wegen-Unwetter-abgebrochen.html (Stand vom 17.2.2017). 10 Dies zeigt sich in dem enormen finanziellen, technischen und inszenatorischen Aufwand der Show: »Der technische Aufwand für die Fischer-Show ist immens, die Vorbereitungen für die Tournee dauerten 18 Monate. 250 Beteiligte sind rund sechs Wochen lang durch Europa unterwegs, um 22 Konzerte in 14 Stadien auf die Bühne zu bringen. Der Tross von 41 Trucks und sieben Nightlinern wird bis zum Ende der Tournee mehr als 8000 Kilometer zurückgelegt haben. Die Bühne ist 52 Meter breit, 26 Meter tief und 18 Meter hoch und wiegt 52 Tonnen. Videowände links und rechts der Bühne tragen Helene Fischer bis in die letzte Reihe. Für die Technik am Abend werden Stromanschlüsse von fast 4000 Ampere benötigt. Das sind Anschlusswerte, die normalerweise für 2500 Einfamilienhäuser benötigt werden« (HA/dpa, zit. n. Hamburger Abendblatt vom 6. Juli 2015, http://www.abendblatt.de/vermischtes/article205446727/Helene-Fi scher-kapituliert-vor-dem-Unwetter-und-bricht-ab.html (Stand vom 17.2.2015).

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE (vgl. Flath 2016). Die Fischer-Show adressiert hier modern und integrativ — anders als das Stereotyp vom Schlager als Musik alter, provinzieller Modernisierungsverlierer es will — ein junges, technikaffines Publikum, das sich an einem schnelle, urbanen Lifestyle orientiert (den auch der Titel »Atemlos« in seinen Lyrics trifft; vgl. Siebert 2014). In diese Inszenierung, die sogar die private Technikausstattung der Zuschauer einkalkuliert, bricht am 5. Juli 2015 der Zufall ein — in Form eines schweren Gewitters, das um 22:30 zum Abbruch des Konzerts zwingt. Auf der Tour wird der größte Hit, »Atemlos«, erst als Zugabe gespielt und da es unter diesen Umständen keine Zugaben geben kann, zieht man das Lied als letztes Lied des Abends vor. Diverse Videoaufnahmen dieses verfrühten Konzert-Endes sind auf YouTube zu sehen11 und an ihnen lassen sich exemplarische Beobachtungen über das Verhältnis von Planung und Zufall und darin entstehende Virtuositäten machen. Unser Blick richtet sich insbesondere auf die inszenatorische Rahmung und den situativ-performativen Umgang mit dem Regen als hereinbrechender Umwelt; dafür nehmen wir eine kulturwissenschaftlich-hermeneutische Perspektive ein, die theaterund medienwissenschaftlich geprägt ist. Auch wenn wir an dieser Stelle die Seite der Show-Produktion und ihre Logiken nicht in den Blick nehmen, lässt sich doch postulieren, dass es heute vermutlich keinen Veranstalter mehr gibt, der für ein Open Air-Ereignis dieser Größenordnung keine genauen meteorologischen Prognosen hat. Dass ein Gewitter droht, dürfte man schon am Nachmittag gewusst haben, als Profis werden sich alle Beteiligten darauf vorbereitet haben. Insofern steckt in der Bewältigung dieses Zufalls eine gute Portion Planung. Allerdings ist weder kalkulierbar, wie schwer und lang genau ein Sommergewitter letztlich sein wird, noch ist es möglich, Teile der Show völlig neu zu entwerfen. Tatsächlich kann man im Vergleich der Video-Mitschnitte mit dem Live-Mitschnitt des Stadionkonzerts für das ZDF auch sehen: Der IntroTeil des Songs »Atemlos« ist choreografisch der gleiche; Fischer bewegt sich auf dem runden Steg vor der Bühne. Sie trägt in diesem Fall allerdings nicht das Originalkostüm, statt eines weißen Shirts trägt sie ein grünes, mit Glanzperlen übersätes Shirt. Schon in den ersten Zeilen betont der Star die 11 Viele dieser Videos sind Mitschnitte, die aus dem Publikum gemacht wurden und darum eher unruhig und gelegentlich unscharf sind und häufig Publikum im Bild haben. Es existieren aber auch einige Videos, die mit vergleichsweise hoher Auflösung und ruhiger Kameraführung einen guten Blick auf das Bühnengeschehen ermöglichen. Darunter ist ein offizielles Video: https://www.youtube. com/watch?v=YTjAqIyFsWw (Stand vom 17.2.2017) sowie zwei Videos, die das Geschehen am Schluss zeigen: https://www.dailymotion.com/video/x3ewa7u und https://www.youtube.com/watch?v=zrLso6FpuUg (Stand vom 17.2.1017).

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE Einzigartigkeit des Moments: »Ja, das werde ich nie vergessen«. Damit stellt Fischer erstens Nähe zum Publikum her, weil sie Einblick in ihr Empfinden des Moments gibt. Zweitens spricht sie aus, was viele — so kann man vermuten — auch gerade denken und stärkt so kommunikativ die Verbindung zwischen sich und den Fans. Der an dieses langsame Intro anschließende Performance-Teil wird zwar gleich eingeleitet: »Seid Ihr bereit?«, verläuft dann aber gekürzt und verändert. Ein Teil der Originalchoreografie wird getanzt, vieles ist aber durch den regennassen Boden nicht möglich. So entfallen zum Beispiel alle Hebungen. Ein Glücksfall ist sicher, dass der Schluss der Choreografie nicht nur regenkompatibel ist, sondern hierdurch sogar besonderen Ausdruck gewinnt: Dass mit dem Stampfen der Tänzerinnen und Tänzer auf den Boden die Wassertropfen im Scheinwerferlicht aufspritzen und glitzern, steigert die Expressivität erheblich und unterstreicht das im Songtext artikulierte Gefühl von lebendigem Gegenwartserlebnis und unbedingter Körperlichkeit. Auch das Kostüm passt sich perfekt ein: Die glitzernden Regentropfen verschmelzen mit den Glanzpunkten auf dem grünen Shirt, so dass die Künstlerin sich optisch mit dem Regen zu verbinden scheint.12 Insbesondere in den professioneller gefilmten Video-Mitschnitten erscheint dieses Outfit wie eigens ausgewählt, um die Lust am Regen reizvoll in Szene zu setzen.

Abbildung 1: Choreografie zum Schluss von »Atemlos«. Videostill aus dem Mitschnitt https://www.youtube.com/watch?v=zrLso6FpuUg ab 00:35

12 Dass das nasse und glitzernde Shirt frappierend an das Kostüm bzw. die Erscheinung einer Meerjungfrau erinnert, ist wohl kaum kalkuliert, aber ein Effekt, der die ›saubere‹ Sexualität der Starfigur Fischer noch hervorhebt.

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE Der erste Teil folgt also weitgehend der Inszenierung, der zweite modifiziert diese, beide bleiben allerdings im Rahmen planbarer Interaktion. Erst am Schluss des Konzerts nutzt Fischer den Zufall für sich: Nach dem Abschluss der Nummer, vielen Verbeugungen in verschiedene Richtungen, während die Namen der Beteiligten über die seitlichen Screens flimmern und als die Musiker und Tänzer bereits die Bühne verlassen, verlangen die Zuschauer — in gewisser Weise der Konvention des Popkonzerts gehorchend — eine Zugabe. Und Fischer gibt eine.13 Ohne Begleitung beginnt sie einige Zeilen aus »Purple Rain« von Prince zu singen und sich dabei in eine Wasserlache zu legen. Als sie wieder aufsteht, zeigt sie ihre triefende Nässe durch das Schütteln der Haare und bekräftigt noch einmal: »Ich hab es so geliebt, im Regen mit euch.«

Abbildung 2: Helene Fischer performt »Purple Rain«. Videostill aus dem Mitschnitt https://www.youtube.com/watch?v=zrLso6FpuUg ab 03:29

Fischer gelingt es, die zufällig eingetretene Situation virtuos mehrfach zu nutzen, indem sie sowohl ihre Starfigur zeigt als auch das Gemeinschaftserlebnis forciert. Zunächst zeigt sie sich als professionelle Künstlerin, die die Show auch bei widrigen Bedingungen durchzieht. Auf der Ebene der Inszenierung passt sich Fischer — wie auch die ganze Inszenierung — nicht nur der Situation an, manche Effekte werden durch den Regen sogar verstärkt. Als sie am Ende den Prince-Klassiker »Purple Rain« — sicher nicht zufällig ein Titel, der zum Titel Farbenspiel exzellent passt — zitiert, stellt sie einen 13 Vgl. den Video-Mitschnitt https://www.dailymotion.com/video/x3ewa7u ab 3:10 bzw. https://www.youtube.com/watch?v=zrLso6FpuUg ab 3:27 (Stand vom 17.2.2017).

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BARBARA HORNBERGER UND CHRISTOPH JACKE Bezug zum internationalen Popgeschäft und seinen Legenden her und zeigt sich auf diese Weise als breit orientierte Entertainerin jenseits des SchlagerGenres. Sie ist in der Lage, ihr Image nicht nur performativ hervorzubringen, sondern potentiell zu erweitern: »Although classified as a ›Schlagersängerin‹, Fischer has changed the image of the schlager singer progressively but radically […]. Her stage show, in which she sings, dances and even performs stunts, displaying not only great ability as a performer but also, more unusually for schlager, great sensuality« (Mendívíl 2017: 105). Außerdem produziert Fischer einen einzigartigen Moment, der überhaupt nur durch den Regen möglich ist, einen Moment, der die Flüchtigkeit und Einmaligkeit dieser besonderen Aufführung betont. Während das Absolvieren der Show vor allem ihre Professionalität beweist, liegt im Zitat von »Purple Rain« ein Moment von Übersteigerung, das sie als virtuose Performerin auszeichnet: Ihr Publikum hat zwar eine halbe Stunde weniger Konzert sehen können, dafür aber einen einzigartigen, unwiederholbaren Moment geteilt. Gerade weil das Publikum über Kennerschaft bezüglich der Grenzen üblicher Live-Performances verfügt, kann es diesen Moment sowohl kognitiv als emotional (vgl. Hügel 2003: 491) als virtuos begreifen und schätzen. Die geteilte Emotionalität ist wiederum für eine Konzeptionierung von Virtuosität als Steigerungs-Moment von wesentlicher Bedeutung: »In jedem Fall sollte eine Verhandlung des Virtuosen dort ansetzen, wo die Selbstvergewisserungen einer Kulturindustrie, die sowohl die Reste bürgerlicher Kunstverehrung als auch die Massenunterhaltung bedient, heute für gewöhnlich aufhören: bei den starken Emotionen, die Performen bei Performenden und der Performance Beiwohnenden katalysiert« (Brandstetter/ Brandl-Risi/Eikels 2017: 12).

5. Fazit Wir haben verschiedene Arten von Virtuosität und Zufall in popmusikalischen Performances zu identifizieren und hier an einem Fallbeispiel zu überprüfen versucht. Offenbar lassen sich in dieser zugegebenermaßen zugespitzten, ganz besonderen Performance von Helene Fischer auf bestimmten Ebenen musikalisch-technische, sozial-kommunikative und situativ-performative Virtuositäten erkennen. Zudem scheinen bei Fischers Berliner Unwetter-Auftritt die verschiedenen Umgangsformen mit Zufall im Rahmen von Pop-Inszenierungen im wahrsten Sinn des Wortes eine, ihre Rolle ge-

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ZUFÄLLIG GUT? ÜBER LIVE-PERFORMANCES UND VIRTUOSITÄTSPOTENTIALE spielt zu haben: Das Ereignis startete im Olympiastadion als absolut geplante Performance mit Showbusiness-Elementen, die auch das Publikum einbeziehen, antizipiert daher geplante kleinere Unkalkulierbarkeiten, lenkt Zufälle aleatorisch, ohne das Gesamtkonzept zu gefährden und wird dann vom ›wirklichen‹ Zufall in Form eines Unwetters überrascht. Bei all dem ergeben sich ungeplante Räume, die hier von Fischer performativ genutzt werden. Würde man an herkömmliche Konzepte von Virtuosität und die auch bei Heister nur in der Herleitung der Begriffe vorgebrachte Dualität von Virtuosität und Dilettantismus anschließen, ließe sich sogar sehr deutlich zeigen, inwiefern Fischer hier als virtuos beschrieben werden kann: »Virtuosität ist, unabhängig vom Gebiet, die Hoch- bis Höchstleistung, und zwar die jeweils historisch — sozial, kulturell, nach gesellschaftlichen Sphären u.a.m. — mögliche Höchstleistung. Gegentyp der Virtuosität ist Dilettantismus, das Wenig- oder Nichtskönnen, ›unprofessionelles‹ Vorgehen usw. […] Virtuosität drängt nach immer weiterer Optimierung, unendlicher Perfektionierung: ein immanentes Fortschritts-Prinzip« (Heister 2004: 17). Wobei es wegen der vielfältigen Mischformen und Multidimensionalitäten naheliegend erscheint, Virtuosität und Dilettantismus nicht bipolar, sondern als gegenüber liegende Endpunkte einer Skala zu verstehen. Virtuosität im genannten Sinn wird hier von Fischer musikalisch-technisch, sozial-kommunikativ, vor allem aber situativ-performativ geleistet. Der ›wirkliche‹ Zufall dient also gewissermaßen als virtuelle, im Sinne von mögliche, Leerstelle, um Können zu beweisen, die Herausforderung zu meistern. Diese Leerstelle leistet für Live-Aufführungen, -Konzerte und -Performances in Pop das Gleiche, was Leerstellen generell im Star-Image leisten, z.B. das Privat-Private innerhalb des Rollenkonglomerats, Lücken oder Geheimnisse in Star-Biographien etc. Erst durch diese funktionalen Leerstellen entstehen Räume für Geschichten und aus ihnen Mythen, von denen Pop und Medien bekanntlich leben.

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Abstract In our contribution we discuss different concepts of virtuosity focusing on popular music. Based on Peter Wicke's three dimensions of virtuosity in popular music, we suggest a modification of his concept of musical-technical virtuosity, communicative-social virtuosity, and performative-situative virtuosity. Regarding these dimensions we discuss the role of coincidences and accidents in popular music live performances. These coincidences seem to open up new spaces and possibilities for creativity and virtuosity. The modes of coincidences and their management are, on the one hand, organized or controlled coincidences as often to be observed in popular music when performers or audiences seem to (re-)act spontaneously. On the other hand, one can find uncontrolled, ›real‹ coincidences or accidents. The case study presented here is a live performance by the famous German Schlager singer Helene Fischer at an open air concert in Berlin in the summer of 2015. This show was stopped by a sudden heavy thunderstorm which led to a — in our definition — virtuosic performance by Helene Fischer managing the weather driven sudden final song of her show.

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FACETTEN

VIRTUOSITÄT IM ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO

VON LATENTER

GITARRENSPIEL

DES

Edin Mujkanović Die Virtuosität einer hochklassigen Flamenco-Performance zieht in den Bann und zeigt sich auf der Bühne am ehesten durch rasante Staccatoläufe auf der Gitarre, die synchron mit der exzessiven Fußarbeit der Tänzerinnen und Tänzer zelebriert werden, durch komplexe und ausgefeilte Choreografien, spektakuläre kollektive Breaks sowie eine maximale Expressivität aller Beteiligten. Die internen Funktions- und Kommunikationsmechanismen, die Gewichtung von fest einstudierten und improvisierten Anteilen, die Codes und unausgesprochenen Gesetzmäßigkeiten bleiben den meisten in der Regel aber verschlossen, sofern sie nicht selber als Aficionados intensive Hörerfahrungen, oder als Gitarrist/inn/en oder Tanzende/r praktische Erfahrungen gesammelt haben. Ausgehend von der Prämisse, dass sich Virtuosität im Flamenco nicht allein anhand technischer Höchstleistungen als Ausdruck »psychomotorischer Optimierungsprozesse« (Kopiez 2004: 212ff.) manifestiert, möchte ich mich der Frage widmen, wie sich Virtuosität im zeitgenössischen Toque1 äußert und welche Bedeutungsebenen der Begriff auf der musikalischen Ebene einschließt. Mein Ansatz geht davon aus, dass es im Flamenco nicht nur eine Form von Virtuosität gibt. Hierbei zeige ich ausgewählte Aspekte auf, die ich begrifflich als latente Virtuosität fassen möchte. Der Fokus richtet sich dabei auf einige Sachverhalte, die während des Hörens in der Regel schwieriger zu identifizieren sind, weil sie sich dem ohren- und augenscheinlichen Virtuositätsprinzip des »Schneller — höher — lauter« weitgehend entziehen. Es sind die nicht offensichtlichen oder sich erst auf den zweiten Blick erschließenden bzw. nur mittels einer gewissen Hörerfahrung erkennbaren Kunstfertigkeiten und Höchstleistungen. Ich stütze mich auf Beobachtungen der zeitgenössischen gitarristischen Flamencoszene, die ich als aktiver Musiker und Forschender, also als involvierter Beteiligter im Sinne des Musicking (Small 1998) aus vielerlei Perspektiven 1

Flamenco besteht im traditionellen Verständnis aus den Elementen Gesang (Cante), Tanz (Baile) und Gitarre (Toque).

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EDIN MUJKANOVIĆ studiere.2 Latente Virtuosität im Flamenco kann sich beispielsweise durch besondere Fähigkeiten in der kommunikativen Interaktion bei der Gesangsund Tanzbegleitung zeigen.

Virtuosität als interaktive Facette in der Gesangs- und Tanzbegleitung Flamencomusiker/innen sind sich in der Regel einig, dass die Essenz des Toque in der Tanz- und Gesangsbegleitung verborgen ist. Innerhalb der Flamencokultur genießt eine hinreißend ausgeführte Gesangsbegleitung ein ungleich höheres Ansehen als das rein solistische Spiel. Jede/r Flamencogitarrenschüler/in in Andalusien sammelt mit dem Begleitspiel die ersten Erfahrungen und vor allem die sichere Beherrschung des Compás3. Ein guter Begleitgitarrist beherrscht alle Cantes und Bailes meist so gut, dass er sie ebenfalls singen oder tanzen könnte. Alle Gitarrenvirtuosen verfügen über ein enzyklopädisches Wissen im Hinblick auf Gesangs- und Tanzbegleitung, können selber hochklassige Palmas4 produzieren und zumeist auch einen mehr als ordentlichen Gesang abliefern. Eminent wichtig für die Begleitung ist der Instinkt, die nächsten Schrittfolgen des Tänzers oder die Wendungen des Sängers antizipieren zu können, um mit einer adäquaten musikalischen Phrase die Stimmung der Tänzer und Sänger zu intensivieren. Dem Tocaor wird dabei die Sensibilität und Intuition abverlangt, Phrasen und harmonische Umschlagpunkte vorauszuahnen, mit angepasster Dynamik und Intensität zu agieren, und ein Gespür zu entwickeln, wann das Tempo zu beschleunigen oder wann laid back zu spielen ist. Der Gitarrist hat vielleicht die anspruchsvollste Aufgabe in einer Fla2

3

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Christopher Smalls Begriff des Musicking erweist sich als hilfreich, die eigene Position als Forschender zu erklären und sich einem Komplex wie dem Flamenco zu nähern. Small revitalisierte die Idee, Musik eher als ein Verb zu betrachten und weniger als ein Nomen. Dahinter steht der Gedanke, alle sozialen Aktivitäten, die musikalischen Text und Erfahrungen produzieren, in die Analyse einzubeziehen. Musicking umfasst Komposition, Performance, Hören, Tanzen u.v.m. Dieser multiple Ansatz entspricht meiner ganzheitlichen Annäherungsweise, bei der ich Konzerte und Juergas besuche, wann immer es geht, Aufnahmen studiere, mich mit anderen Aficionados austausche, Unterrichtsstunden nehme und gebe, Workshops besuche, Magazine lese, Tanz- und Gesangsbegleitung als Gitarrist absolviere und Konzerte spiele. Der Begriff des Compás ist komplexer Natur und weist zunächst auf die dem Flamenco zugrunde liegenden Rhythmusmodelle hin. Näheres folgt im Laufe der weiteren Ausführungen. Die für den Flamenco typischen rhythmischen Klatschtechniken werden als Palmas bezeichnet.

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO mencoformation. Er muss sein Instrument so sicher beherrschen, dass er mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei den anderen Protagonisten sein kann. »Dabei ist es aber nicht etwa so wie im klassischen Tanz oder im Jazz, dass der Tänzer der Musik folgt bzw. der Solist sich im Rahmen der Rhythm-section bewegt. Nein, der Tänzer bestimmt Tempowechsel, Remates5 [...] und Abfolge oft aus dem Moment heraus — genauso wie der Sänger, [der] sobald er zu singen beginnt, für die Gitarre den Ton angibt. Wir [die Musiker] haben gleichzeitig zu folgen und zu steuern; auftretende Fehler liegen grundsätzlich beim Gitarristen, da es seine Aufgabe ist, wie ein Torwart alles aufzufangen« (Iven 1990: 140). Latente Virtuosität zeigt sich in der Fähigkeit, die anderen musikalischen Akteure glänzen zu lassen und aus dem Augenblick heraus intuitiv und risikoreich die passenden Entscheidungen zu treffen ohne sich auf die eingetreten Pfade der zweifellos vielfach vorhandenen Klischees zu beschränken. Virtuose Gesang- und Tanzbegleitung kommt ganz ohne technische Manierismen aus. Es zählen expressive und kommunikative Fähigkeiten auf der Grundlage des Erfahrungsschatzes und gleichzeitig der Mut, neue Wege zu begehen ohne die Cantaora oder den Cantaor mit dem eigenen Spiel so zu verunsichern, dass die Inspiration zum Singen verschwindet oder Einsätze nicht gefunden werden. Bei dieser Form der Virtuosität geht es auch um Höchstleistungen, aber diese basieren auf einer gruppendynamischen und kommunikativ-spielerischen Durchdringung und Bewältigung von riskanten Situationen oder zumindest wenig kalkulierbaren Erfahrungsräumen in performativen Zusammenhängen. Die Ausführung besitzt bei dieser spielerischen Erforschung von kontrollierter Freiheit Vorrang gegenüber dem Inhalt, d.h. entscheidend ist die Interpretation und Art und Weise, wie und weniger was gespielt wird. Eine Facette der Virtuosität besteht im Wagnis, aus der ausschließlich dienenden Rolle des Begleiters herauszutreten und die eine oder andere bislang ungehörte und spektakuläre musikalische Aktion aus dem Moment heraus zu demonstrieren. Dies kann sich in kleinen Details zeigen: ein, zwei untypische Akkorde in einem ungewöhnlichen Voicing, eine rhythmische Variation, ein unerwarteter Akzent, eine ideenreiche ornamentale Figuration als Antwort auf eine Gesangsphrase oder in einem gewissen Moment auch einmal nichts zu spielen, den Mut zu atmosphärischen Lücken aufzubringen und so neue Klangräume zu eröffnen und zu erschaffen. Virtuosität heißt in diesem Sinne, im richtigen Moment das Richtige zu fühlen und in 5

Hierunter wird der so charakteristische Flamencoabschluss verstanden. Die aufgebaute gebündelte Energie und Spannung einer Passage kulminiert und entlädt sich in einem Remate.

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EDIN MUJKANOVIĆ musikalische Handlungen und Aktion umzusetzen. Pedro Sierra (*1966) aus Barcelona, Manuel Parilla (*1967) und Diego del Morao (*1979) aus Jerez sind als herausragende Vertreter einer solch virtuosen Gesangs- und Tanzbegleitung zu nennen.

Virtuosität als Beherrschung der Technik Flamencogitarristen beherrschen eine Reihe von spezifischen Techniken, die im Repertoire der klassischen Gitarre gar nicht oder nur am Rande Verwendung finden. Spieltechnik sowie deren Ausführung im Hinblick auf einen erwünschten Ausdruck sind nicht voneinander zu trennen, »da eine Spieltechnik letztlich nichts anderes ist als die materiale Ausführungsseite einer ideellen Konzeption. Umgekehrt jedoch hängt die musikalische Ausdrucksfähigkeit ganz wesentlich von der Perfektionierung der technischen Möglichkeit ab« (Schulze 1985: 152). Die Flamencospieler messen ihrer Technik und Spielkultur einen hohen Stellenwert bei, betonen aber stets, dass die Technik nicht um ihrer selbst willen eingesetzt wird, sondern nur als Transportvehikel einer persönlichen Ausdrucksweise und damit spezifischen Klangund Spielästhetik zu betrachten ist. Obwohl das technische Niveau der Spitzenmusiker äußerst hoch ist, agieren die Musiker in dem Selbstverständnis, keine Virtuosen zu sein. Kaum jemand käme auf die Idee, sich selber mit diesem Prädikat zu versehen. Um die zentralen Techniken stichwortartig zu benennen: Rasgueado: Durch Auf- und Abschläge der Finger realisierte volltönende, rasante und zugleich dichte Akkordfolgen; sie sind »heart and soul of the ›sound of flamenco‹« (Faucher 1994: 19) Golpe:

Schläge mit einzelnen Fingern auf die Gitarrendecke

Tremolo:

Tonwiederholungen in Quintolen

Pulgar: Alzapúa:

angelegtes Daumenspiel »das Plektrum anheben«: schnelles Auf- und Abschlagen des Daumens

Arpeggio:

Akkordzerlegungen

Tapado:

abgedämpfte perkussive Gitarrenrhythmen der rechten Hand

Picado:

angelegter Wechselschlag; schnelle Staccatoläufe

Der Übeaufwand für die meisterhafte Beherrschung der skizzierten Gitarrentechniken ist immens. Im Fall einer gekonnten Ausführung wird das klangliche und visuelle Resultat einer Technik während einer Performance meist per se als spektakulär und virtuos wahrgenommen. Anders gesagt: Die skiz-

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO zierten Techniken sind wie dafür gemacht, augen- und ohrenfällige Virtuosität zu demonstrieren. Schnelligkeit in Form von sauber und rasant ausgeführten Picados oder Alzapúas als Element zur Intensivierung des Ausdrucks genießt eine gewisse Anerkennung unter den Tocaores. Es stellt eine große Herausforderung dar, die Techniken schnell und sauber auf einem konstanten Level flüssig in verschiedenen Spielsituationen zu absolvieren. Die Beherrschung dieser Elemente entspricht dem Kern der allgemeinen Vorstellung vom Virtuosen, der die schnellsten und waghalsigsten Läufe in scheinbarer Leichtigkeit spielen kann. Die aktuelle Generation der Gitarristen beherrscht die virtuosen Techniken bereits mit jungen Jahren und betrachtet dies als selbstverständliche Voraussetzung. Mit zunehmender musikalischer Reife und fortschreitendem Lebensalter liegt der Fokus dann eher auf Aspekten der Komposition, der Musikalität sowie auf der Schöpfung einer individuellen Ausdrucksweise, eines eigenen Ideolekts. Die hier umrissene technische Virtuosität bildet im Kern nur die Grundlage für die tatsächliche Meisterschaft, die sich als eine der im Folgenden skizzierten Facetten von Virtuosität präsentieren kann.

Virtuosität als vollkommene Internalisierung des Compás Im Flamenco ist der Compás das Maß der Dinge. Der Begriff besitzt zum einen die Bedeutung von Rhythmus im Allgemeinen, zum anderen bezeichnet er den charakteristischen Rhythmus eines bestimmten Cante inklusive seiner Akzente (z.B. Compás de Bulerías). Der Compás ist die allen Flamencoformen immanente Ordnungsstruktur, welche ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende wiederkehrt und einem Ostinato vergleichbar wäre (Manuel 2006: 102). Gleichwohl gestaltet sich das Konzept Compás viel komplexer und impliziert daneben harmonische Wechsel, rhythmische Spannungsmuster, timbrale Aspekte und melodische Formeln, die den Grundgestus eines Palo6 6

Unter Palos sind die verschiedenen stilistischen Gattungen des Flamenco zu verstehen. Sie bilden die musikalische Grundlage und unterscheiden sich hinsichtlich verschiedener Parameter. Hierzu zählen u.a. Metrum, Rhythmus, Melodie, Harmonieschemata, tonaler Bezugspunkt, Tempo, Textinhalt und Aufführungspraxis. Alle Palos kennzeichnet zudem eine eigene qualitative Atmosphäre, ein bestimmtes definiertes Flair und ein Charakter, welcher im Flamenco mit dem Begriff Aire beschrieben wird. Dazu existieren unzählige personelle und regionale Ausprägungen der einzelnen Gattungen. Der Name einer Form definiert traditionell die soeben aufgezählten Parameter. Jeder Palo gibt ein Grundgerüst vor, innerhalb dessen die ausführenden Künstler ihre individuellen Versionen realisieren können.

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EDIN MUJKANOVIĆ im Flamenco definieren: »Compás communicates emotion and mood« (Landborn 2015: 86). Es ist der gemeinsame Herzschlag oder der Teppich, auf dem die Musiker/innen zum Flug animiert werden. Der zyklische Charakter des Compás wird gerne anhand einer Flamencouhr veranschaulicht. Hierbei werden die zwölf Schläge als Ziffern einer Uhr dargestellt. Der Zeiger dreht sich kontinuierlich im Kreis und passiert immer alle Ziffern.

Abbildung 1: Compás-Uhr

Die Flamencouhr ist ein simplifizierendes Modell, denn es bedeutet nicht, dass die tatsächlich gespielte Musik fortwährend genau den Akzenten des Schemas folgt oder die Bulerías immer im 12er-Puls gedacht, gefühlt, gespielt, gelernt oder gelehrt wird. Der flexible 12er-Compás der Bulerías beispielsweise lässt unendliche Möglichkeiten zu, sich künstlerisch auszuleben. Der musikalische Bogen dieses Pulses birgt eine inhärente Tendenz zur rhythmischen Verdichtung und lässt gleichzeitig viel Spielraum für Binnendifferenzierungen, Akzentverschiebungen, Flexibilität und improvisatorischen Freiraum. Viele Musiker zählen gar nicht, sondern spüren einfach oder nehmen allenfalls auf den 6er bzw. 3er Puls (ritmo de tierra) Bezug. Die Uhr suggeriert außerdem, dass die musikalischen Phrasen immer oder in der Regel auf der Zählzeit 12 beginnen und auf der 10 stoppen. Die Vielfalt der heutigen Interpretationen einer Bulerías zeigen jedoch, dass die Musiker

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO sich auch von diesen traditionellen Betonungsschemata stark emanzipiert haben. Der Einstieg (Inicio) der Falsetas7 oder in die Paseos als charakteristische Akkordfolge, die den Palo definieren, wird im Prinzip auf jeder Zählzeit realisiert. Die gleichsam kraft- wie wirkungsvollen Abschlüsse (Remates) werden entweder direkt klassisch auf die Zählzeit 10 oder synkopisch davor gesetzt, oder eben auch auf die 9 oder 8+ oder 8, manches Mal auf die 4+ oder die 11+. Die Akzenten und Abschlüsse werden spielerisch platziert: Je virtuoser die ausführenden Musiker/innen, desto überraschender, abenteuerlicher und scheinbar völlig ins Off gesetzt sind die Akzente letztlich. Bulerías ist letztlich ein permanentes rhythmisches Spiel, bei dem sich je nach beteiligten Akteuren verschiedene rhythmische Schichten und damit auch Akzente überlagern können. Der Stellenwert einer totalen Compás-Sicherheit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Metapher eines permanent rotierenden Rades hilft zu verstehen, dass ein grundlegender Aspekt der Virtuosität im Flamenco darin besteht, in jeder Situation auf das drehende Compás-Rad auf- und abspringen zu können und zu jeder Zeit intuitiv zu wissen, an welchem Punkt oder in welcher Phase der Umdrehung man gerade ist. Virtuosität heißt, dass der Compás in allen maßgeblichen Palos völlig internalisiert ist und die Musiker/innen absolut frei von metrisch-rhythmischen Restriktionen oder Hemmnissen agieren. Jede und jeder, der sich in Tanz oder Gitarrenspiel bereits mit den Grundlagen oder Feinheiten des Compás auseinandergesetzt hat, weiß um die Herausforderung dieses für viele zumeist lebenslangen Lernens, nämlich einerseits a compás zu sein und andererseits innerhalb dieses strikten Regiments Freiheit zu erlangen und sich nach Belieben bewegen und artikulieren zu können.

Virtuosität als meisterhafte Beherrschung des Contratiempo Eines der entscheidenden Merkmale des modernen Toque liegt in der rhythmischen Ausformung. Das Prinzip des Compás als metrische Grundformel der Zeitgestaltung ist weitgehend unangetastet geblieben, aber die Spielpraxis basiert deutlich auf einer starken Offbeat-Phrasierung durch synkopischvertrackte Akzentverschiebung. Dieses Spiel »gegen den Beat« oder »gegen 7

Falsetas sind die üblicherweise von den Gitarristen auskomponierten Kompositionsbausteine. Ihre Länge ist variabel und es kann sich dabei um eine solistische melodische Phrase oder der Kombination aus Melodie- und Akkordspiel handeln, die z.B. nach einer Gesangseinlage eingeleitet wird.

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EDIN MUJKANOVIĆ die Zeit« bezeichnen die Flamencos als Contratiempo. Die Einführung größerer Ensembles mit Begleitgitarren, Palmeros sowie Perkussion inklusive ein oder gar zwei Cajónisten hat die Gitarre von der früheren rhythmischen Funktion, den Compás zu markieren, weitgehend entlastet. Gleichzeitig hat dadurch die Vielfalt an von der Gitarre gespielten komplexen Phrasierungsmustern, Gegenrhythmen und polyrhythmischen Prozessen enorm zugenommen und kann inzwischen als das Markenzeichen des modernen Gitarrenspiels gelten. Die Falsetas besitzen nicht mehr den durchlaufenden Charakter vergangener Zeiten, sondern zeichnen sich ebenso durch eine breite Entfaltung der dynamischen Möglichkeiten aus. Das zeitgenössische Toque lässt Lücken und bietet dynamische Kontraste durch zwischenzeitliche Stille und unvermittelt eintretende explosionsartige Steigerungen der Lautstärke und Intensität an bestimmten Punkten. Einer der musikalisch einflussreichsten Gitarristen, der diese Spielweise perfektioniert hat, ist der in Sevilla geborene, aber in Córdoba verwurzelte Gitarrist Vicente Amigo (*1968). Seine Melodien zeichnen sich durch eine dezidierte Offbeat-Phrasierung (Contratiempo) aus. Ganz typisch sind Bindungen (Ligados) zur schweren Zählzeit hin sowie synkopische Antizipationen von Zieltönen, die dann von nachschlagenden Akkorden gestützt werden. Der Ausschnitt der Falseta aus »Campo de la Verdad« (s. Abb. 2) demonstriert das Arpeggiospiel als eine der herausragenden Techniken dieses Musikers. Hierbei werden immer wieder einzelne Töne rhythmisch vorgezogen, auf die nächste Zählzeit übergebunden und durch das angelegte Spiel des einzelnen Ringfingers herausgehoben. Über den Compás bildet sich so durch die Akzente in den Arpeggios eine zweite unabhängige Rhythmusschicht, ein fast polyrhythmischer Effekt zum Beat der Cajón bzw. Palmas. Im Klangbild hat dies einen luftigen und fließenden Charakter zur Folge. Im weiteren Verlauf werden von Compás zu Compás-Durchlauf nicht nur die Harmonien, sondern auch die Zerlegungsmuster verändert. Das Contratiempospiel zeigt sich noch ausgeprägter in dem für Vicente Amigo so charakteristischen langsamen Bulerías-Typus mit dem Titel »Río de la Seda« vom Album Tierra. Die Transkription (s. Abb. 3) zeigt, dass die Einsätze der Melodie und die Akkordakzente zum Ende eines jeden Compás permanent synkopisch gesetzt sind. Die Art der Phrasierung in Bezug auf den Puls ist so galant-leichtfüßig wie beständig ins Offbeat gesetzt, dass der Eindruck entsteht, das Stück sei durchgängig um eine Achtel versetzt zum Puls angelegt. In dieser Anlage von zwei übereinander gelegten rhythmischen Schichten, in der in einem unaufgeregten Duktus elegante und mühelos schwebende Falseta-Linien viel Luft und Raum lassen, zeigt sich Virtuosität par excellence.

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO

Abbildung 2: Vicente Amigo — »Campo de la Verdad«, Falseta 2, ab 2:398

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Die Notationen und Transkriptionsmodi von Flamencomusik sind immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Im Falle der Bulerías habe ich mich der besseren Lesbarkeit wegen bewusst für die Schreibweise von vier Dreivierteltakten für einen Compás-Durchgang entschieden. Die übliche Anfangszählzeit 12 wird hier als Taktanfang und Schwerpunkt notiert. Um die Flamenco basierte Logik von Bewegungen und Voicings auf dem Griffbrett besser nachvollziehen zu können, ist zusätzlich das Tabulatursystem angegeben.

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EDIN MUJKANOVIĆ

Abbildung 3: Vicente Amigo — »Río de la Seda«, Falseta 1, ab 1:489

Das Beherrschen des Contratiempo ist das Schlüsselelement des zeitgenössischen Flamenco und dies gilt im Besonderen für die Bulerías. Die Kultivierung des Contratiempo ist für die Künstler das Mittel, ihre Meisterschaft in Form einer völligen Kontrolle dieser Komponente zu beweisen. Der Compás und die auf seiner Basis entstehenden Melodien werden durch Contratiempo zum Leben erweckt. Dieses skizzierte gehobene Spiel ist gewiss dem Einfluss 9

Das Beispiel wird mit dem Kapodaster im ersten Bund gespielt und klingt damit einen Halbton höher als notiert.

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO und Erbe Paco de Lucías (1947-2014) zuzuschreiben. Er demonstriert Mitte der 1970er Jahre als einer der ersten eine gänzlich neue Phrasierung und rhythmische Auffassung im Flamenco, in der auf der Grundlage des Compás Melodien auf einer neuen unabhängigen musikalischen Ebene entwickelt werden. Er brach das starre Korsett des Compás auf und emanzipierte die Melodie als eigenständige Komponente unabhängig von der Gravitation des Compás. Künstlerisch und spielerisch bedeutet dies einen enormen Zuwachs an melodischer Freiheit. Wichtig festzuhalten ist, dass sich all die scheinbar schwerelos mäandernden Melodien nur gegen einen gleichbleibenden Puls als Referenz entwickeln können. Dieser solide Puls verlangt selber nach einem speziellen Feeling in der Ausführung, bei dem der Musiker seinen persönlichen Swing und Groove (Aire/Soniquete) auch als individuelles Alleinstellungsmerkmal etablieren kann. Eng verbunden mit dieser rhythmischen Komponente ist der virtuose Umgang mit dem oben erwähnten Element der Dynamik. Vor allem im LiveEinsatz wird das rhythmisch-dynamische Spiel perfektioniert und spiegelt in fast ritualisierter Form das Erscheinungsbild des modernen Flamenco wieder. Paco de Lucías Art, rhythmische Tapados bis an die maximale Spannungsgrenze zu spielen, um danach mit einem spektakulären Rasgueado oder Picado die melodischen Themen zu eröffnen, setzte Maßstäbe im Toque und hat Gitarristen wie Vicente Amigo und viele andere nachhaltig geprägt. Die hochgetriebene Spannung der rhythmischen Muster der Gitarren und oft zweier Cajónisten entlädt sich in fulminanten Akzentfeuerwerken in den Remates, um dann augenblicklich in Momente völliger Stille zu münden. Diese kollektive Dynamisierung der Rhythmik ist ein wichtiges Merkmal der Spielpraxis des modernen Flamenco und hat entsprechend bestimmte Erwartungshaltungen beim Konzertpublikum verankert. Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen und die These wagen, dass sich die Evolution der virtuosen zeitgenössischen Flamencogitarre vor allem in diesem skizzierten Feld abspielt.

Virtuosität als Kreation von frictions Musikalische Entscheidungen basieren in Bezug auf einen musikalischen Stil häufig auf der Annahme von operativen Regeln und dem Umstand, dass diese Regeln gebrochen werden können. Diese Regeln können in allen musikalischen Domänen existieren: Rhythmus, Harmonien, Melodie, Produktion, Instrumentation. Allan Moore präferiert den Begriff der Normen und ersetzt das Konzept des Regelbruchs durch eine Idee, bei der es um die »creation of

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EDIN MUJKANOVIĆ friction« (Moore 2013: 167f.) geht. Frictions werden in diesem Sinne als Spannungen oder Reibungen verstanden zwischen akzeptierten Normen eines Stils bzw. dem, was der Hörer in Abhängigkeit von seinem Grad an Kompetenz zu hören erwartet und dem, was letztlich in einem Track passiert. Jede auftretende Differenz zwischen beiden Polen kann als friction gedeutet werden, welche zugleich immer affektive Werte beinhaltet, über die sich formidabel diskutieren lässt. Gerade am Beispiel von Flamencogitarristen lassen sich frictions zwischen akzeptierten Normen und realen Erscheinungsformen bestens darlegen. Die Virtuosen des Flamenco spielen virtuos mit der Möglichkeit, konstant Spannungen zwischen kanonisiertem Vokabular und ihren individuellen kreativen Impulsen und künstlerischen Ansprüchen zu kreieren, da ihr Fokus sich nicht mehr ausschließlich auf die Überwindung von technischen Limitationen richtet. Ein Musiker, der im traditionellen Flamenco verwurzelt ist, aber gleichzeitig keinerlei Berührungsängste mit anderen Gattungen wie Jazz, Funk, Pop und Latin kennt, ist der aus Jerez de la Frontera stammende Gerardo Núñez (*1961). Er ist einer der großen Innovatoren des Flamencospiels, der mit zahlreichen Jazz- und Fusion-Musikern zusammenarbeitete und den Flamenco-Jazz maßgeblich mitgestaltete. Ihn nur darauf zu reduzieren, wäre aber unangemessen, denn für ihn und andere Virtuosen der Flamencogitarre ist kennzeichnend, dass sie unterschiedlichste Spielkonzepte verinnerlicht haben und je nach Kontext variabel bedienen können. In den eher traditionell ausgerichteten Liebhaberclubs, den Peñas, pflegen sie unter Umständen eine erdige und schnörkellose Spielweise, aufgelockert mit knackig-punchigen Pulgar-Falsetas. In einem oft kurzfristigen angesetzten Tourkontext liegt der Fokus wegen der kaum vorhandenen gemeinsamen Proben eher im improvisierten Spiel und in Adhoc-Arrangements, während im Rahmen der eigenen CD-Produktion schließlich das volle Potential an Innovation, Grenzgängertum und Avantgarde ausgelebt werden kann. Das Stück »Compás Interior« aus dem Jahr 2012 ist von Gerardo Núñez mit Soleá-Nana als Palo-Bezeichnung überschrieben (s. Abb. 4). Die charakteristische E-Phrygisch-Tonalität der Soleá wird hier durch die in Scordatur (C-G-D-G-H-E) gespielte Gitarre aufgegeben, da C-Dur als tonales Zentrum fungiert. Das nur etwa 1:20 lange Stücke ist ein Beispiel für einen sehr freien, unkonventionellen Umgang mit der traditionellen Form der Soleá. Die eher traditionelle Auffassung der Gattungen (Palos) im Sinne von »Gussformen, geprägt durch die Tradition« (Caballero 1995: 47) impliziert eine verbindliche Festlegung im Hinblick auf einen emotionalen Grundgestus, rhythmische Akzente, Tonalität etc. Gerardo Núñez wiederum ist ein Vertreter, der diese Zuschreibungen aufweicht und mit ihnen spielerisch und kreativ

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO

Abbildung 4: Gerardo Núñez — »Compás Interior«, ab 0:52

umgeht. Im Falle des Transkriptionsbeispiels ist die Soleá in Hinblick auf das Tempo und den selbstreflektierenden und introvertierten Charakter noch zu erahnen. Die für eine Soleá ganz und gar untypische Tonalität, der fehlende phrygische Modus, die realisierten harmonischen Bewegungen, die ausbleibende andalusische Kadenz, die asymmetrische Phrasenbildung (s. Takt 1: Phrase beginnend auf der Zählzeit 10) sowie das fehlende typische Akzentschema demonstriert dagegen einen sehr freien Umgang mit dem Formenvokabular. Subtile Bezüge zur Soleá existieren zwar, denn er spielt verein-

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EDIN MUJKANOVIĆ zelt für diesen Stil typische Figuren einschließlich der Remates (s. Takt 1417), belässt es aber bei diesen Andeutungen und stellt es der Hörerin und dem Hörer frei, zu verstehen und zu entscheiden, was dieses Stück nun zur Soleá macht oder nicht. Das Stück ist technisch mit einiger Spielerfahrung auf der Gitarre umzusetzen und die Frage, was an dem Stück nun handwerklich virtuos sein soll, ist sicherlich berechtigt, weil es nicht der allgemeinen Vorstellung von Virtuosität entspricht. Die Virtuosität besteht nicht zuletzt im Mut zum Spiel mit den Grenzen. Dieses Spiel wird nachträglich dadurch legitimiert, da die nächste Generation von Tocaores es bereitwillig nachahmt, variiert und spielerisch weiterentwickelt. Das vorliegende Stück weist auf zwei relevante Aspekte des zeitgenössischen Toque im Kontext von Virtuosität hin: Anfang der 1990er Jahre vollzogen einige Gitarristen einen bewussten Bruch mit den überlieferten Normen der tonalen Zuordnungen. Gerardo Núñez gebrauchte in seiner Siguiriya »Remache«, üblicherweise por medio (A-Phrygisch) ausgeführt, den Modus por Granaína (H-Phrygisch). Das düstere und verzweifelte Aire des Palos wird zwar durch die ›Quasi-Monotonie‹ der auf H herunter gestimmten E-Saite unterstrichen, für die Aficionados war die Aufnahme dennoch ein ästhetischer Schock, da sie den Palo aufgrund der für sie klanglich ungewohnten Tonartencharakteristik nicht mehr auf Anhieb als Siguiriya identifizieren konnten (Torres Cortés 2006: 22f.). Claude Worms bezeichnet den Ansatz, die Verbindung mit den traditionellen Tonarten aufzugeben, beziehungsweise Tonalitäten neu zuzuordnen als »Metaflamenco« oder »toque en segundo grado« (Claude Worms, zit.n. Torres Cortés 2006: 22). Diese Praxis, erstmalig durch Paco de Lucía im Jahr 1972 mit dem Fandangos »Canastera« in Rondeña-Stimmung10 angewandt, breitet sich unter den Tocaores verstärkt aus. Mittlerweile existieren etliche Palos por Rondeña: Bulerías por Rondeña (Manolo Sanlúcar: »Tercio de Vara«, 1998), Rumba por Rondeña (Gerardo Nuñez: »La Habana A Oscuras«, 2004) und viele mehr. Gerardo Nuñez verwendet in seinem Stück »Soleá de la Luna Coja« (2004) die Rondeña-Stimmung in C#, spielt aber in der Tonart D-Phrygisch. Dies ist eher ungewöhnlich, da die Musiker in der Regel in der durch die Gitarrenstimmung vorgegebenen Tonart bleiben.

10 Der Gitarrist Ramón Montoya (1879-1949) etablierte in den 1930er Jahren die Rondeña als einen eigenen Palo. Die Rondeña verwendet die alte Lautenstimmung D-A-D-F#-H-E (von der tiefsten zur höchsten Saite) und stellt eine reine gitarrenbasierte Soloform dar, ein Toque libre mit einem freien Dreierpuls in C#-Phrygisch. Der Faszination dieser Stimmung kann sich kaum ein Flamencogitarrist entziehen, weil voll und dicht klingende Harmonien mit einem Minimum an Greifaufwand zu erzielen sind.

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO Auch Vicente Amigo überwand zu Beginn seiner Karriere die traditionellen Hörgewohnheiten, indem er seine Granaína »Morente« im Modus D#Phrygisch spielte, ebenso wie die Soleá por Bulería »Reino de Silia«. Seine Alegrías »Maestro Sanlúcar« wird im Modus der Minera (G#) und die Bulerías »El Mandaíto« in C# ausgeführt. Mittlerweise sind diese Tonalitäten ganz selbstverständlich in den Kanon aufgenommen, wobei das traditionelle Verhältnis der Palo/Tonalität-Zuordnung weitgehend aufgehoben ist, da neue Kompositionen heute in allen möglichen Modi komponiert werden. Willkür, Dekonstruktion oder gar ein Verlust der Identität werden dennoch nicht Einzug halten, da dem Flamenco durchaus die Fähigkeit zur Selbstregulation innewohnt. Virtuosität zeigt sich auch am Augenmaß und Bauchgefühl der Protagonisten. Experimentierfreudigkeit und Genre- oder Gattungserweiterung stehen meist in gesunder Balance mit traditionellen Formen- und Spielvokabular. Die bisherigen Plattenveröffentlichungen von Gerardo Núñez etwa bestätigen dieses Gesamtbild anschaulich. Ein zweiter nennenswerter Aspekt bezieht sich auf alternative Gitarrenstimmungen (Scordaturas) im Flamenco. Nach einer langen Phase der seit Ramón Montoya bewährten Tonarten por arriba (E-Phrygisch), por medio (A-Phrygisch), por Taranta (F#-Phrygisch), por Granaína (H-Phrygisch), por Minera (G#-Phrygisch) und der C#-Tonalität in der Rondeña-Stimmung etablierten sich mit den Musikern Paco de Lucía, Manolo Sanlúcar (*1945) und Victor Monge, genannt »Serranito« (*1942) neue Tonarten wie der C#-Modus in Normalstimmung, D#- sowie D-Phrygisch. Dieser Prozess vollzog sich über einen längeren Zeitraum, denn die Gitarristen, die diese Modi aufnahmen, mussten dieses für sie tonale Neuland erst mit entsprechenden Fingersätzen und Variationen erkunden und internalisieren. Auch die Hörer gewöhnten sich an die neuartigen Kadenzen, um sie schließlich als Teil des Kanons zu akzeptieren. Neben dem Zuwachs an Tonalitäten in den einzelnen Palos sind vor allem neue Gitarrenstimmungen Ausdruck des zeitgenössischen virtuosen Spiels. Die Stimmungen bedeuten, neben einer Erweiterung der Register der Gitarre, die Möglichkeit zu neuen Griffkombinationen und damit neuen bislang ungehörten und unerwarteten Harmonien und Akkordfolgen mit entsprechenden charakteristischen Dissonanzen durch die Verwendung der Leersaiten. Die Vorteile der Scordaturas im Hinblick auf die klangerweiternden Möglichkeiten und Akkordschattierungen, auch vermehrt dissonanter Natur, beschränken sich in der Regel auf eine Tonart. Im Folgenden ist eine Übersicht gebräuchlicher Stimmungen aufgeführt. Die Angabe der Töne erfolgt von der tiefsten zur höchsten Saite der Gitarre:

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EDIN MUJKANOVIĆ C-A-D-G-B-E:

Gerardo Núñez — »Siempre es Tarde« (Bulerías;

C-G-C-G-B-E:

Tomatito — »Barrio Santiago« (Bulerías) Gerardo Nuñez — »Los Caños de la Meca« (Bulerías)

D-A-D-F#-A-D:

Diego del Morao — »Gañanía« (Soleá)

Dropped C-Tuning)

Gerardo Nuñez — »Compás interior« (Soleá-Nana) D-A-D-F#-B-E:

Ramon Montoya, ca. 1930 (Rondeña-Stimmung)

D-A-D-G-A-D:

Dani de Morón — »Immigración« (Bulerías)

D-A-D-G-Bb-D:

Tomatito — »Caminillo Viejo« (Tangos)

D-A-D-G-B-E:

Ramon Montoya, ca. 1912-1927 (Dropped D-Tuning)

D-G-B-G-B-E:

Tomatito — »Armonias del Romañe« (Colombianas)

D-G-D-G-B-E:

Esteban de Sanlúcar — »Mantilla de Feria« (Fantasía)

Eb-Ab-Db-G-B-E: Gerardo Núñez: »Templo Del Lucero« (Soleá por Bulerías) E-A-C#-A-C#-F#: Tomatito — »Callejon de las Canteras« (Tarantas) E-A-D-G-A-D:

Rafael Riqueni — »Agüita clara« (Bulerías)

E-A-D-G#-C-E:

Carlos Piñana — »La voz del viento« (Farruca)

E-A-D-G-Bb-D:

Paco de Lucía — »Piñonate« (Bulerías)

A-A-D-G-A-D:

Paco de Lucía — »La Cañada« (Tangos)

B-A-D-G-B-D#:

Gerardo Núñez — »Remache« (Siguiriya)

B-A-D-G-B-E:

Chicuelo — »Cambalache« (Bulerías)

Die Stimmungen erfordern meist komplett neue Fingersätze und -positionen der linken Hand. Eine pragmatische Herangehensweise besteht aber darin, etwa bewährte Griffmuster z.B. für Dominantsept- oder Major 7-Akkorde einfach beizubehalten und so innerhalb der Scordaturas neue spannungsreiche und teils impressionistisch anmutende Färbungen zu erzielen. Hier wird in Flamencomanier kein übergeordnetes zielgerichtetes Harmoniekonzept verfolgt; die Finger suchen sich vielmehr ihren Weg und etablieren so ein eigenes Konzept inklusive Theorie, die eben nicht in verschriftlichter Form, sondern als stilles Wissen vorliegt. Die alleinige Anwendung von neuen Stimmungen oder alternativen Modi mag selbst noch nicht virtuos sein, sondern vielleicht allenfalls innovativ. Derartiges kann sich auch als Geistesblitz eines unerfahrenen Spielers ereignen. Ein Kriterium kann hier die Häufigkeit sein, die sicherlich in absoluter Dimension nicht zu quantifizieren ist. Der Virtuose aber besitzt die Fähigkeit, einer Idee, einem Impuls aus dem Bereich des Nicht-Greifbaren und Grenzenlosen, seines Wissensschatzes, seiner Erfahrung und seines Verstehens immer wieder zu folgen und Ausdruck zu verleihen und das mit dem

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO Anspruch von Konstanz, Häufigkeit und Wiederholung innerhalb eines längeren Zeitraumes. Es ist kein Zufall, dass die technisch stärksten Spieler dieses Potential zur Erneuerung des Genres besitzen und auch ausspielen, wie sich leicht am Beispiel von Gerardo Núñez und Vicente Amigo zeigen lässt. In einem technisch eher unspektakulären Stück wie »Compás Interior« schwingt jene Facette der Virtuosität deshalb unweigerlich mit. Die erwähnten Musiker sind technisch so beschlagen, dass sie ab einem bestimmten Punkt ihrer Karriere ihr virtuoses Potential vornehmlich im Bereich musikalischer Grenzüberschreitungen, Visionsfähigkeit und eigenständiger Kreationen entfalteten. Dabei spielen sie in technischer Hinsicht längst nicht alles aus, was möglich wäre. Etwas flapsig ließe sich sagen: Der Dilettant will und kann nicht, während der Virtuose kann und nicht will. Technisch-handwerkliche Virtuosität bildet letztlich die Grundlage für eine tiefergehende kompositorisch-interpretierende Originalität, welche in meinem Verständnis eine wesentliche Facette von Virtuosität darstellt. Nicht selten wiederum sind solche Momente der Überschreitung eines vorgegebenen Rahmens eng mit den von Moore beschriebenen frictions gekoppelt.

Virtuosität als Erbe des Meisters: Paco de Lucía Es ist kaum möglich, über das virtuose Gitarrenspiel im Flamenco zu schreiben, ohne die populärste Figur der letzten fünf Dekaden, Paco de Lucía (1947-2014), unerwähnt zu lassen. Der Musiker ist das beste Beispiel dafür, wie auf der Grundlage einer spektakulären Technik Virtuosität in dem hier verstandenen erweiterten Sinne entsteht. Mit ihm etablierte sich erstens ein bislang neuartiges technisches und expressives Niveau und zweitens die Integration musikkulturfremder Elemente in den Flamenco. Gerade der zuletzt genannte Faktor löste ab Mitte der 1970er Jahre die Welle des Nuevo Flamenco aus, in der parallel zu den gesellschaftspolitischen Umbrüchen in Spanien eine Vielzahl von genreübergreifenden und grenzüberschreitenden Projekten dem Flamenco einen kosmopolitischen Anstrich gaben. De Lucía redefinierte die Ästhetik des Flamenco und trug darüber hinaus enorm zur Popularisierung der Musik bei. Seine Virtuosität bestand vor allem im kreativen Umgang mit der Tradition und hatte eine substantielle Veränderung im Kern der Musik zur Folge, bei der auf der Basis des Compás rhythmische, harmonische und melodische Prozesse in neuer Weise exponiert und miteinander ins Verhältnis gesetzt wurden. An dieser Stelle sollen nur einige Neuerungen ins Gedächtnis gerufen werden:

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EDIN MUJKANOVIĆ • Mit Paco de Lucía öffnete sich der Flamenco für andere Genres wie Jazz und lateinamerikanische Musik. • Er führte die ursprünglich aus Peru stammenden Transportkiste und dann als Rhythmusinstrument zweckentfremdeten Cajón in den Flamenco ein. Flöte und E-Bass etablierte er als Standard im Flamenco. Er verwendete Orchesterarrangements und integrierte neue Instrumente wie Bouzouki, Mandoline, Mundharmonika und Trompete. • Die Basismodelle der andalusischen Kadenz wurden von ihm durch Variantenbildung, Akkordsubstitution, Modulation etc. bereichert und erweitert. • Kooperation mit Jazz-Musikern, dadurch Aneignung der Grundlagen der Improvisation mit Skalenmaterial aus der Jazzmusik: Ganzton-, HalbtonGanzton und Melodisch-Moll-Skalen. Skalenbasierte Improvisation etablierte sich in der Folge im Flamenco. • Kollektive Virtuosität: schnelle und komplexe Unisonolinien von E-Bass, Gitarre und Flöte. Die Ausführungen sollen nun nicht den Eindruck erwecken, es hätte zu Beginn der 1970er Jahre keine weiteren erfindungsreichen Musiker im Flamenco gegeben. Im gleichen Atemzug sollten auch »Serranito« und Manolo Sanlúcar erwähnt werden. Paco de Lucía war jedoch die dominierende Figur »because he has opened many doors« (Enrique Morente, zit. n. Gamboa 1992: 34). Die Erneuerungen setzten sich in der Folge als anerkannte und quasi-verbindliche Spielnormen durch und wurden als Teil eines weiter aufgefächerten und flexibler werdenden Flamencokanons akzeptiert. Paco de Lucías Wirken beeinflusste die jüngere Generation von Gitarristen so eklatant, dass es sinnvoll scheint, hier von einem Paradigmenwechsel zu sprechen (Krüger 2002: 28). Eine Reihe von Gitarristen übernahmen die Elemente seiner Modernisierung und entwickelten sie kontinuierlich weiter. Neben den bereits erwähnten lange im Musikgeschäft tätigen Spielern wie Pepe Habichuela (*1944) Tomatito (*1958), der Folgegeneration mit Gerardo Nuñez (*1961), Rafael Riqueni (*1962), Juan Manuel Cañizares (*1966), Juan Gómez »Chicuelo« (*1968), Vicente Amigo (*1968) sind die heutigen Stars des Toque u.a. Antonio Rey (*1981), Diego del Morao (*1979) und Daní de Morón (*1981). Alle hier aufgeführten Musiker sind ausnahmslos brillante Techniker und Virtuosen, die ihr Handwerk bereits in jungen Jahren von Grund auf als Tocaor in der Gesangs- und Tanzbegleitung erlernt haben. Sie sind heute auch solistisch tätig und bespielen trotz einer ökonomisch oft heiklen Situation des Kultur-, Konzert- und Festivalwesens in und außerhalb Spaniens zum Teil mittlere bis große Konzertsäle. Das Erbe de Lucías zeigt

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO sich zunächst am offensichtlichsten in der Besetzung und Instrumentierung der musikalischen Formationen sowie der von ihm Mitte der 1980er Jahre eingeführten und bewährten Abfolge und Dramaturgie eines Konzertes. Zunächst spielt der Solist ein bis drei Stücke ohne jegliche Begleitung, anschließend wird die Besetzung sukzessiv vom Duo, Trio bis hin zur vollen Sextett- oder Septettformation in der zweiten Konzerthälfte aufgebaut. Erst hier erreicht das Konzert den musikalisch-dramaturgischen Höhepunkt inklusive Perkussion, Palmas, Tanz, Gesang, Gitarren und Improvisationen. Die Besetzung wird generell flexibel je nach Spielsituation und Finanzierung beliebig reduziert oder erweitert.

Schlussbemerkung Die Ausführungen eignen sich sicherlich nicht primär dafür, den Begriff der Virtuosität zu schärfen, ihn einzugrenzen oder aus dem Bereich des Diffusen zu befreien. Sie sind vielmehr ein Plädoyer dafür, ihn in seiner Vielgestaltigkeit zu akzeptieren und auf Varianten hinzuweisen, die sich dem Zuschauer oder Zuhörer nicht zwingend offenbaren. Um Höchstleistungen handelt es sich dennoch, welche aber spielerisch-kreativ entwickelt werden und nicht ausschließlich mit den handwerklich orientierten Kategorien und Tugenden des Schwitzens, Übens, Leidens, Verzichtens und Quälens einhergehen. Diese technischen Qualitäten sind allerdings die notwendigen Bedingungen dafür, dass sich die hier geschilderten latenten Facetten mit allen Komponenten der Expressivität, Kommunikation oder des Innovationspotentials zeigen können. Technische Virtuosität ist nur die Grundlage, auf der sich latente Virtuosität entfalten kann. Die erwähnten Musiker können in der Regel nahezu alles in ihrem Genre spielen und besitzen instrumentale Fähigkeiten, die schwerlich zu überbieten sind. Wenn sich nun einer dieser Gitarristen entschließt, den einen Akkord in einer bestimmten Spielsituation über einen halben Compás einfach zu halten, kann das für diesen Kontext in diesem Moment sehr wohl hochgradig virtuos im Sinne eines kreativen Umgangs mit den Hörererwartungen sein, denn dahinter steht die intuitiv-künstlerische Entscheidung, dies in diesem Moment genauso zu tun und nicht anders. Sicherlich braucht es dafür auch den Hörer und Zuschauer, der dies als virtuos empfindet oder erkennt oder den Musikforscher oder Liebhaber, der darauf hinweist. Einem Anfänger, der den gleichen Akkord zwei Takte hält, weil er keine Alternative kennt, wird man nie Virtuosität attestieren wollen. Natürlich völlig zu Recht, denn die Entscheidungsgrundlage des Spielenden ist eine gänzlich

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EDIN MUJKANOVIĆ andere. Die Qualität des stillen Wissens, das der (intuitiven) Entscheidung vorausgeht, eben genau diesen Akkord zu halten, zeugt von einem anderen Bewusstsein und Fundus an Optionen als bei einem Schüler, dessen Auswahl sich auf zwei Akkorde beschränkt und der sich keiner anderen Möglichkeiten bedienen kann. Die Umsetzung einer außergewöhnlichen oder gar brillanten Idee mit besonderen handwerklichen Mitteln kann also ein Aspekt latenter Virtuosität sein. Die musikalischen Beispiele waren Beleg dafür, dass sich Virtuosität im zeitgenössischen Flamenco darüberhinaus ganz entscheidend im rhythmischen Bereich manifestiert. Die Grundlage hierfür ist die beschriebene Internalisierung des Compás. Das moderne Gitarrenspiel zeichnet sich darauf aufbauend vor allem durch eine Priorität der rhythmischen Ereignisse wie Síncopas, Contratiempos und Polirítmicos aus. Das äußert sich neben einer perfekt artikulierten Spielweise des Contratiempo beispielsweise auch darin, dass rhythmische Akzente einer Siguiriyas über einer Bulerías gespielt oder der Compás eines Tanguillos mit einer Alegrías verknüpft werden. Dies wäre gar eine Ausweitung des skizzierten Metaflamenco auf den rhythmischen Bereich. Die skizzierten heutigen Entwicklungen im Toque sind im hohen Maße dem Innovationsgeist Paco de Lucía zu verdanken. Er gilt als Personifikation eines Virtuosen schlechthin. Eine seiner bemerkenswerten virtuosen Fähigkeiten lag vor allem darin, auf seine Umwelt zu reagieren, die aktuellen Strömungen und Tendenzen, auch die seiner Musikerkollegen, aufzunehmen und sogleich künstlerisch zu verarbeiten. Wie lassen sich abschließend die künftigen Entwicklungen des zeitgenössischen Toque in der Post-Paco-Ära im Hinblick auf den Aspekt der Virtuosität skizzieren? Bezüglich des Repertoires dominieren die populären Stile eines überschaubaren Kernkanons, allen voran Bulerías, Tangos und Rumbas. Beliebt bei Gitarristen sind ebenso diejenigen Palos, die sich zur Demonstration einer musterhaften gitarristischen Technik eignen, wie Zapateados oder metrisch freie Stile, die eine Kombination von üppiger präludierender Virtuosität und hoher Expressivität vertragen können wie Granaínas, Tarantas oder Rondeñas. Auf die schweren sublimen, bisweilen tragischen JondoFormen wird zumeist verzichtet, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Trotz der offensichtlich wachsenden musikalischen Vielfalt und technischen Perfektion der jüngeren Gitarristen, werden gewisse Tendenzen von manchen kritisch betrachtet. Die aktuelle Ausrichtung der Spielweise der Flamencogitarre birgt die Gefahr, dass erstens das Gitarrenspiel zur reinen Demonstration technischer Meisterschaft und rhythmischer Dominanz mutiert und zweitens, die Grundlagen des Spiels, die Gesangs- und Tanzbeglei-

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO tung sowie die Kenntnisse der alten Meister in den Hintergrund geraten. Norberto Torres Cortés äußert sich kritisch im Hinblick auf die Zukunft des Flamencospiels und entdeckt hinsichtlich der verwendeten Rhythmen, Harmonien, Kadenzen, Modulationen, Stimmungen und genreüberschneidenden Fusionen Tendenzen eines Stillstandes, weil alle Parameter bereits von den vielen auf dem Musikmarkt konkurrierenden Gitarristen überbordend ausgereizt wurden (Torres Cortés 2006: 32f.). Dem ist meiner Ansicht nur bedingt zuzustimmen. Das zeitgenössische Gitarrenspiel ist weit davon entfernt, in Erstarrung zu verfallen und nur noch bekannte Formeln zu reproduzieren. Für die Musiker mit dem Anspruch, etwas Neues zu erfinden, ist es zwar zweifelsohne schwieriger als noch zu Beginn der 1970er Jahre. Dennoch darf ihre Kreativität und Originalität nicht unterschätzt werden, da sie immerfort zu neuen stilistischen und ästhetischen Synthesen führt. Einigen Gitarristen wird genau die Verknüpfung aus gefühlsbetontem Spiel und perfekter Technik, d.h. die Brücke zwischen Ausdruck und Artistik vorzüglich gelingen. In kurzen Intervallen erscheint doch immer wieder eine neue Veröffentlichung, die einen Teil der Fachwelt und/oder den Verfasser staunen lässt angesichts der gekonnten Präsentation von Virtuosität als höchste Musikalität und geschmackvolle Innovation. Der Einfallsreichtum des heutigen Toque ist subtiler geworden und die Feinheiten des Spiels zeigen sich, und das ist das zentrale Ergebnis meiner Studie, in latenter Form erst auf den zweiten Blick. Mit Sicherheit wird die weitere Entwicklung des Toque, wie bisher in seiner über 150jährigen Geschichte, ein dezenter und langsamer Prozess werden. Paco de Lucía brachte es kurz vor seinem Tod auf den Punkt: »La evolución está en matices« [»Die Evolution [der Flamencogitarre] vollzieht sich in Nuancen«] (zit. n. Fernández 2010).

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Diskografie Amigo, Vicente (1991). »Maestro Sanlúcar«, »Morente«, »Reino de Silia«. Auf: De mi Corazón al Aire. CBS/Sony, COL 468932 1. Amigo, Vicente (1995). »El Mandaito«. Auf: Vivencias Imaginadas. CBS/Sony, COL 481197 2. Amigo, Vicente (2005). »Campo de la Verdad«. Auf: Un Momento en el Sonido. Sony BMG Music Entertainment, 82876698742. Amigo, Vicente (2013). »Río de la Seda«. Auf: Tierra. Sony Music, 88765435322. Chicuelo (2000). »Cambalache«. Auf: Cómplices. Harmonia Mundi, HME 987024. Isla, Camarón de la / Lucía, Paco de (1972). »Canastera«. Auf: Canastera. Phillips, 6328076. Morao, Diego del (2010). »Gañanía«. Auf: Orate. Warner Music Spain, 5249835702. Morón, Dani de (2012). »Immigración«. Auf: Cambio De Sentido. La Voz Del Flamenco, LVF1099. Nuñez, Gerardo (1987). »Los Caños de la Meca«. Auf: El Gallo azul. Flamenco Accidentales, FA-001. Nuñez, Gerardo (1997). »Remache«. Auf: Jucal. Alula Records, ALU 1002. Núñez, Gerardo (2004). »La Habana a Oscuras«, »Siempre es Tarde«, »Soleá de la Luna Coja«, »Templo del Lucero«. Auf: Andando el Tiempo. ACT, ACT 9426-2. Núñez, Gerardo (2012). »Compás Interior«. Auf: Travesía. ACT, ACT 9534-2. Lucía, Paco de (1981). »Piñonat«. Auf: Sólo quiero caminar. Philips, 6301030.

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FACETTEN LATENTER VIRTUOSITÄT IM GITARRENSPIEL DES ZEITGENÖSSISCHEN FLAMENCO Lucía, Paco de (1987). »La Cañada«. Auf: Sirocco. Mercury, 830913-4. Piñana, Charlos (1999). »La Voz del Viento«. Auf: Calibiri. Big Bang, BB430CD. Riqueni, Rafael (1995). »Agüita clara«. Auf: Mi Tiempo. Nuevo, 12658. Sanlúcar, Esteban de (1954). »Mantilla de Feria«. Auf: Flamenco! RCA Victor, LPM3209. Sanlúcar, Manolo (1998). »Tercio de Vara«. Auf: Tauromagia. Polygram, 835552. Tomatito (1991). »Armonias del Romañe«, »Callejon de las Canteras«, »Caminillo Viejo«. Auf: Barrio negro. Nuevos Medios, 13588 LE. Tomatito (1997). »Barrio Santiago«. Auf: Rosas del Amor. Hispavox, 7243859440 2 4.

Abstract In contemporary Flamenco guitar-playing virtuosity cannot be reduced to technical perfection alone. Starting off from this premise the article analyses the levels that are included in the concept of virtuosity within the genre under musical aspects. The focus is on selected creative musical artistic tools, generally harder to be identified by the inexperienced recipient or fan and mostly beyond the familiar principle »faster — higher — louder«.

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V I R T U O S E »N I C H T -M U S I K E R «? DER DISKURS ZU VIRTUOSITÄT, AUTHENTIZITÄT UND SUBVERSION BEIM AUFKOMMEN ELEKTRONISCHER POPMUSIK AM BEISPIEL DES MUSIKEXPRESS — UND SEINE AKTUELLEN NACHWIRKUNGEN Ambra Cavallaro und Steffen Lepa

1. Einführung: Verlust von Authentizität und Aura durch Elektronik? Mit der Verbreitung von elektronischen Instrumenten und Sequenzern in der populären Musik seit den 1970er Jahren sind neue elektronische Genres entstanden, welche die besonderen Klang- und Kompositionsmöglichkeiten solcher »Werkzeuge« stark betonten (bspw. Disco, Synth-Pop, NDW). Von Journalisten wurde der elektronischen populären Musik von Anfang an eine maschinelle Ästhetik, mangelnde Virtuosität und das Fehlen politischer Botschaften vorgeworfen. Ihr wurde nachgesagt, einem oberflächlichen massentauglichen und dabei kapitalistischen Utopismus zu folgen sowie dem Verlust der Authentizität bzw. Aura in den Klängen und den damit verbundenen sozialen Praxen zu Vorschub zu leisten (vgl. Garcia 2014: 2f.). Ziel des Beitrags ist es zu untersuchen, wie es zu solchen weitverbreiteten Zuschreibungen insbesondere im westdeutschen musikjournalistischen Diskurs kam und ob diese für zeitgenössische Musiker noch relevant sind. Dabei geht es uns nicht um eigene Definitionen von Virtuosität, sondern darum aufzuzeigen, welche Debatten um die Werte Virtuosität, Authentizität und Subversion geführt worden sind, als diese neuen Musikrichtungen sie provokativ in Frage stellten. In der ersten Teilstudie wird eine historische Perspektive eingenommen und untersucht, ab wann und in welcher Art und Weise vom westdeutschen Musikjournalismus ein problematisches Verhältnis zwischen elektronisch

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA programmierten Klängen und den genannten Werten diskursiv konstruiert wurde. In der zweiten Teilstudie wird die zeitgenössische elektronische Popmusik (ab etwa 2000) in den Blick genommen, welche heute stark vom Einsatz von Software-Instrumenten und Laptops dominiert ist. Dieser technologische Wandel erlaubt die Verwendung sehr vielfältiger haptischer Interfaces in Performances und damit auch eine Wiederkehr musikalischer Live-Praktiken für die elektronischen Popmusik-Genres, wodurch sich erneute Veränderungen bei der diskursiven Zuschreibung von Authentizität und Virtuosität ergeben könnten (siehe dazu den Beitrag von Lorenz Gilli in diesem Band). Bevor die beiden empirischen Teilstudien und ihre Ergebnisse dargestellt und interpretiert werden, soll jedoch kurz dargestellt werden, welche musiktechnologischen Veränderungen seit den 1970er Jahren in die Popmusik Einzug hielten und damit eine Auseinandersetzung des Popmusikjournalismus mit Fragen von Virtuosität, Authentizität und Subversion provozierten.

2. Dimensionen des musiktechnologischen Wandels Nach einer anfänglichen experimentellen Phase, in der nur wenige Avantgarde-Komponisten (z.B. Karlheinz Stockhausen, John Cage) elektronische Musikinstrumente nutzten, begann in den 1970er Jahren deren Massenvermarktung. Durch die damit ausgelöste zunehmende Verwendung von Synthesizern, Sequenzern und später Samplern wurden viele klangliche und dramaturgische Paradigmen der populären Musik revolutioniert. Diese Studie konzentriert sich vorwiegend auf drei Dimensionen solcher kulturbezogenen Veränderungen: Komposition, Performance und Identität. Synthesizer und Sequenzer erweiterten erstens die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten immens, wodurch gänzlich neue Kompositionstechniken und Klangdimensionen jenseits von Jazz, Rock und Schlager entstanden. Die ersten anwenderfreundlichen Synthesizer-Modelle (etwa Moog) verliehen den Musikern die Möglichkeit, hunderte verschiedenste Instrumentenklänge mit einer einzigen Tastatur abzurufen und in Echtzeit zu steuern und zu beeinflussen oder auch ganz neue synthetische Klänge zu erzeugen (Pinch/ Bijsterveld 2003: 547). Außerdem wurde mit den Sequenzern eine noch größere Innovation eingeführt: die Möglichkeit einzelne Klangsequenzen aufzunehmen, nachträglich zu manipulieren und in beliebiger Reihenfolge in einem beliebigen Tempo in Musikstücke einzubauen. Dadurch war es Musikern möglich, ihre komplexen kompositorischen Ideen sofort und unabhängig von

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? ihren eigenen instrumentalen Fähigkeiten erklingen zu lassen, letztlich sogar die Grenzen jedweden menschlichen Könnens zu überschreiten und Melodien und Rhythmen zu generieren, die von Instrumentalisten bis zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu erzeugen waren. Somit verschmolz einerseits die Rolle des Komponisten mit der des aufführenden Musikers und der des Toningenieurs zum »Musikproduzenten«, andererseits entstanden auch völlig neue künstlerisch-musikalische Formen und Klangwelten. Zusammengenommen musste die Verbreitung von Synthesizern und Sequenzern notwendigerweise Einfluss auf die Bewertung von Virtuosität und Schönheit von Musikkompositionen haben (Collins/Schedel/Wilson 2013: 21-23). Insbesondere Sequenzer haben zweitens aber gleichzeitig auch das Verständnis von Musikperformance geändert, da die prinzipielle Programmierbarkeit der gesamten musikalischen Aufführung den Musikern nun den Freiraum verlieh, nicht alles hörbare Material während der Aufführung durch eigene körperliche Handlungen hervorrufen zu müssen. Die Bühnenbewegungen der Musiker wurden somit — zum ersten Mal in der Musikgeschichte — in Teilen unabhängig vom Instrumentalspiel. Das unmittelbare historische Ergebnis war allerdings eine auffallende Unbeweglichkeit der performenden Musiker, die zunächst noch keine Strategien des Umgangs damit entwickelt hatten (»Impossible Performance«) — was oft als »unvirtuos« bezeichnet wurde (ebd.: 21-23). Dieser Aspekt verursachte kontroverse Debatten bezüglich der Authentizität von Live-Veranstaltungen, da bisher z.B. in der Rockmusik der Virtuositäts-Maßstab für Konzerte gewissermaßen proportional zum Niveau der (Gitarren-)Soli war. Die komplette Abwesenheit solcher Elemente in entsprechenden Aufführungen elektronischer Popmusik destabilisierte den bislang existierenden Begriff von »Live« — sowie die Position seiner ideologischen Vertreter (Auslander 1999: 10). Gleichzeitig entstand ein neues Verständnis von Virtuosität, im Sinne der gelungenen Erzeugung auratischer Momente, die sich in einem ekstatisch tanzenden Publikum versinnbildlichte, welches zusätzlich zu den ausführenden Künstlern als Teil der Performance betrachtet und miteinbezogen wurde (Collins/Schedel/ Wilson 2013: 21-23). Somit förderten die neuen Instrumente auch das Entstehen neuer »Kultorte« (Discos und Clubs) für Leute mit ähnlichen Idealen und ähnlichem Musikgeschmack (Thornton 1996: 3). Eine dritte Umgestaltung vormaliger populärmusikalischer Paradigmen die mit der Verbreitung von Synthesizern und Sequenzern einherging betrifft die Identität der Musiker und das Verhältnis von »Mainstream« und »Subversion«. Vormals war es nur bereits etablierten Künstlern möglich gewesen, sehr aufwändige, klanglich und kompositorisch komplexe Werke zu schaffen, aufzuführen und zu verbreiten. Punk hatte in dieser Hinsicht eine Gegenbe-

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA wegung dargestellt, welche sich bewusst subversiv von diesen »Kulturindustrien« absetzte und auf »Handgemachtes« als Ausdruck einer politischen Attitüde gegen den Mainstream setzte. Diese einfache Opposition und damit verbundene öffentliche Zuschreibungen wurden nun hinfällig, als kostengünstige elektronische Musikinstrumente aus Fernost nach einiger Zeit für jedermann erschwinglich waren und komplexe und klanglich aufregende Musikkompositionen im Heimstudio ermöglichten. Gleichzeitig entstand durch jene Preispolitik ein Zugang zum Musikschaffen auch für Angehörige benachteiligter Schichten und Milieus, die sich vormals keine kostenintensive Musikausbildung oder den Erwerb kostenträchtiger Musikinstrumente hätten leisten können. Populäre Musik war nun prinzipiell von jeder Person produzierbar, die entsprechende Geräte besaß, und nicht wie vormals ausschließlich von einer kleinen, musikgebildeten und gut vernetzten und geförderten Elite. Somit wurden durch die Verbreitung elektronischer Instrumente auch bisherige journalistische Zuschreibungen von »Gegenkultur« und »Massenkultur« hinfällig.

3. Teilstudie 1: Diskursanalyse der Musikexpress-Ausgaben (1975-1984) Welche Folgen hatten die im vorangegangen Kapitel dargestellten Herausforderungen musikalischer Kompositions-, Aufführungs- und Identitätspraktiken nun für den popmusikjournalistischen Diskurs? Dieser Frage widmet sich die im Folgenden dargestellte empirische Teilstudie, die analysiert, wie der Mainstream-Popjournalismus in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland auf die Verwendung von Synthesizern und Sequenzern reagierte. Laut Michel Foucault (1972) stellen Diskurse, genau wie das Medium Sprache selbst, soziale Praktiken dar. Diese zirkulieren nicht einfach frei in der Gesellschaft, sondern verschiedene sozialen Institutionen trachten danach, ihre Macht und ihr Subversionspotential durch bestimmte Mechanismen und Prozeduren1 einzuschränken (ebd.: 4f.). Foucaults Werk bietet einen theoretischen Zugang, der zu verstehen hilft, wie in und mit Diskursen soziokulturelle Konventionen und Wertmaßstäbe geformt werden. Die nachfolgende Analyse zielt auf die systematisch-interpretative Enthüllung des 1

Unterschieden werden hier interne (Klassifizierung, Regulierung in Form von Kommentaren, Disziplinierungen, oder ökonomisch-kultureller Verknappung der sprechenden Subjekte) von externen Prozeduren (Verbote — in Form von Tabu oder der Etablierung von Kontrasten wie Vernunft/Wahnsinn, wahr/falsch).

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Zusammenhangs zwischen sozialen Strukturen und institutionellen Konventionen. Diese bezieht neben der Herausarbeitung und Interpretation von expliziten und impliziten sprachlichen Legitimations- und Delegitimationsstrategien im massenmedialen Diskurs oft auch extra-linguistische Elemente (bspw. soziale Kontexte und intertextuelle Verweise) in die Analyse ein. Das analysierte Datenmaterial besteht aus 50 Beiträgen (Interviews und Artikeln) der Zeitschrift Musikexpress über Popmusiker und ihre erschienenen Platten und Aufführungen, die zwischen den Jahren 1975 und 1984 ihr Debüt mit elektronisch programmierbaren Instrumenten hatten. Diese Gruppe von Musikern wird der Einfachheit halber im Folgenden als EPM-Musiker bezeichnet (EPM für »elektronische programmierte Popularmusik«), unabhängig davon, welche musikalische Genrezugehörigkeit ihnen konkret im populärkulturellen Diskurs zugeschrieben wurde. In die eigentliche Diskursanalyse kamen dabei nur solche Auszüge aus den Beiträgen, in denen entweder von den Journalisten oder von den Musikern die Thematik EPM — der Gebrauch von Synthesizern, Sequenzern oder ähnlichen elektronisch programmierbaren Instrumenten — direkt und eindeutig wertend aufgegriffen wurde (d.h. keine Rezensionen oder Retrospektiven). Dies waren in der Regel interviewartige Passagen. Der Zweck dieses methodischen Vorgehens war es, eine direkte Gegenüberstellung der Haltungen und Provokationen der Journalisten bezüglich der EPM-Thematik und den jeweiligen Reaktionen der Musiker vorzunehmen. Der monatlich erscheinende Musikexpress wurde für die Analyse als Zeitschrift ausgewählt, da er trotz seiner Ursprünge als holländisches Szenemagazin in seiner in Deutschland vertriebenen und kommerziell relativ erfolgreichen Version niemals als ein Untergrundmedium agierte, sondern von Anfang an am Massengeschmack und einem traditionellen Journalismus- und Musikverständnis orientiert war (Hildebrandt 1980: 227). Die Zeitschrift bekam 1984 mit dem Schweizer Verleger Marquardt eine neue Führung und eine andere programmatische Ausrichtung, da sie mit der Zeitschrift Sounds zusammengelegt wurde (Dax 2013: 3).Für die interessierende Epoche wurde sie als Materialquelle eingesetzt, um insbesondere die Annäherung des Mainstream-Musikjournalismus an den technologisch bedingten musikkulturellen Wandel nachvollziehen zu können. Die Dekade 1975 bis 1984 wurde ausgewählt, da ab Mitte der 1970er Jahre elektronische Instrumente (bspw. asiatische Synthesizer) zunehmend in der Popmusik verwendet wurden. Das Analyseende wurde auf 1984 festgelegt, da zu diesem Zeitpunkt die Popularität von EPM-Musikstilen in Gestalt der »Neuen Deutschen Welle« ihren Höhepunkt fand und sich der Fokus

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA der Berichterstattung, auch durch die Zusammenlegung mit Sounds, nun deutlich veränderte. Der Ablauf der Analyse erfolgte nach der CDA-Methodik (CDA für Critical Discourse Analysis) von Norman Fairclough (1989) und Jean Paul Gee (1999), die drei Schritte beinhaltet: 1 Descriptive Stage: Bei diesem ersten Schritt werden die formalen Eigenschaften des sprachlichen Diskurses (Wörter, Text, Struktur, Grammatik) analysiert. Hierbei ging es darum, mit welchen Begriffen, Argumenten und Phrasen Virtuosität, Authentizität und Subversion von Journalisten und Musikern verhandelt und (de-)legitimiert wurden. 2 Interpretative Stage: In der zweiten Phase wird untersucht, welche Interaktionsstrukturen im Diskurs vorliegen und wie Deutungshoheit hergestellt wird. Zu diesem Zweck wurden im Material besonders die performativen Interaktionen zwischen Künstlern und Journalisten analysiert, die sich in den abgedruckten Interviewauszügen dokumentierten, und die dabei eingesetzten Sprechakte, rhetorischen Schemata und Sprechrollen untersucht. 3 Explicative Stage: Im letzten Schritt der Analyse wird versucht zu verstehen, wie sich vermittels des Diskurses Machtverhältnisse auf der institutionellen Ebene aufbauen und welche historische Ursachen hinter den verwendeten Legitimierungsstrategien stecken. Dazu wurde in der vorliegenden Studie der Zusammenhang zwischen den analysierten linguistischen Interaktionen und den dahinterstehenden institutionellen sozialen Kontexten (Pop-Journalismus, Tonträgerindustrie) betrachtet, um deren engen Bezug begreifen zu können.

3.1. Teilstudie 1: Materialüberblick Im Folgenden wird ein Überblick des der Diskursanalyse zugrundeliegenden Materials gegeben. Tabelle 1 zeigt die Anzahl der Beiträge, die vom Musikexpress während der betrachteten Dekade das Thema EPM zum Gegenstand hatten. Im Jahr 1975 wurde noch kein Beitrag zu EPM veröffentlicht, obwohl elektronisch programmierbare Instrumente bereits langsam dank Musikern wie Kraftwerk populär wurden. Die ersten Artikel erscheinen dann ab der zweiten Hälfte des Jahres 1976 in

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Jahr 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984

Beiträge 0 2 3 5 3 5 6 20 3 3

Tabelle 1: Datenbasis

VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Form eines vierteiligen Dossiers mit dem Titel »Musik aus der Steckdose«. In jeder Folge werden hier ein bestimmter innovativer Aspekt der elektronisch-populären Musikstile detailliert erläutert, die jeweiligen Pioniere vorgestellt und ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen für den Aufbau eines »richtigen« Wortschatzes zum Thema geboten. In der Zeitspanne von 1977 bis 1981 bleibt die Anzahl der veröffentlichten Artikel ziemlich konstant und beschränkt, mit einer leichten Tendenz zur Steigerung während der letzten Jahre. 1982, als die so genannte »Neue Deutsche Welle« (NDW) die Spitze ihres kommerziellen Erfolgs erreichte, findet sich plötzlich eine auffallend große Anzahl an Beiträgen, die das Auswahlkriterium erfüllten. Außerdem erscheinen ab 1982 zwei neue Rubriken in Musikexpress mit den Titeln »Deutsche Tänze« und »Neue Gesichter«, die jedoch 1983 wieder abgesetzt werden. Parallel nimmt auch die explizite Auseinandersetzung mit elektronisch-populärer Musik wieder deutlich ab. Betrachtete Musiker (Jahr des Debüts mit EPM-Instrumenten) ABC (1983)

Gary Numan (1979)

O.M.D. (1980)

Alan Parsons (1977)

Giorgio Moroder (1979)

Palais Schaumburg (1981)

Alan Vega (1980)

Heaven 17 (1981)

Pere Ubu (1978)

Ash Ra Tempel (1976)

Holger Czukay (1979)

Pete Schelley (1981)

Au Pairs (1982)

Human League (1979)

Peter Gabriel (1977)

B.E.F. (1980)

Japan (1978)

Phil Collins (1980)

Bananarama (1983)

Jean Michel Jarre (1973)

Siouxsie & The Banshees

Brian Eno (1975)

John Foxx (1980)

(1979)

Classic Nouveaux (1981)

John Watts (1982)

Soft Cell (1981)

Culture Club (1982)

Kim Wilde (1982)

Taco (1980)

Cyndi Lauper (1983)

Klaus Nomi (1982)

Talking Heads (1982)

D.A.F. (1979)

Klaus Schulze (1972)

Tangerine Dream (1974)

Depeche Mode (1981)

Kraftwerk (1970)

Ultravox (1978)

Devo (1979)

Level 42 (1981)

Vince Clarke (1980)

Die Krupps (1981)

Malaria (1982)

XTC (1979)

Eberhard Schoener (1971)

Michael Hoenig (1978)

Yazoo (1982)

Fashion (1979)

Nena (1982)

Yello (1980)

Tabelle 2: Liste der in den analysierten Beiträgen erwähnten EPM-Musiker

Tabelle 2 zeigt eine Liste der in den analysierten Beiträgen erwähnten Musiker und den Zeitpunkt ihres jeweiligen Debüts mit elektronisch programmierbaren Instrumenten, das für die meisten zu Beginn der 1980er Jahre liegt. In nur wenigen Fällen begann die Aktivität deutlich früher (z.B. Eberhard Schoener, Jean Michelle Jarre, Klaus Schulze und Kraftwerk), diese können somit als ›Pioniere‹ des EPM-Einsatzes gelten.

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA

3.2. Teilstudie 1: Ergebnisse Jahr 1976

Kern der Kritiken (Journalisten)

Kern der Verteidigungen (Musiker)

• mangelnde körperliche Beziehung zu den Instrumenten

• Bewusstsein der musikalischen Strukturen vorhanden • mit elektronischen Instrumenten muss man sich auf der Bühne auch konzentrieren • intellektuelle Musik • stark intellektuelle und strukturierte Musik

• Synthesizer auf der Bühne (werden nicht als »echte« Instrumente identifiziert)

1977

• mangelnde Originalität der EPMMusiker • unüblicher Sound

1978

• EPM vorwiegend unterhaltungsfokussiert • bewegungslose Performance der Musiker • mangelnde Originalität der EPMMusiker

1979

• EPM stark mit Kulturindustrie verbunden • EPM kalt und gefühllos

1980

• elektronische Instrumente bieten endlose Möglichkeiten • Bewusstsein der musikalischen Strukturen vorhanden • elektronische Instrumente haben nicht zwangsläufig einen »kalten« Sound — • EPM ist unkonventionell • öffentliche Meinung in der Musikszene oft resistent gegen Veränderungen • EPM bringt Originalität und Innovation

1981

• EPM-Musiker inkompetent • EPM-Musiker sind vor allem Amateure • EPM-Musiker bringen zu viele Instrumente auf die Bühne

• EPM führt eine neue Konzeption von Originalität ein. Musik ist damit nicht mehr elitär. EPM ist nicht unbedingt als »kalt« anzusehen • Entertainment-Charakter ist auch wichtig • EPM-Musiker brauchen viele Instrumente auf der Bühne, um deren Klänge zu erstellen

1982

• die meisten elektronischen LivePerformances sind vorprogrammiert • EPM enthält keine politische Mitteilung • mangelnde Virtuosität der EPM • mangelnde Originalität der EPM • Programming vs. Composing —

• elektronische Instrumente haben nicht zwangsläufig »kalten« Sound • EPM-Musiker sind nicht nur Entertainer oder Amateure • EPM drückt die gesellschaftliche Gegenwart aus

• Knöpfe drehen vs. Instrumente spielen • Automatisierung des kreativen Prozesses

• elektronische Instrumente bieten endlose Ausdrucksmöglichkeiten • Komposition mit elektronischen Instrumenten erfordert einen langen kreativen Prozess

1983 1984

• EPM kann durchaus politische Mitteilungen enthalten

Tabelle 3: Kern der Kritiken/Verteidigungen im untersuchten Material

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Tabelle 3 zeigt schlaglichtartig die zentralen Ergebnisse von Schritt 1 der Diskursanalyse geordnet nach dem zeitlichen Ablauf der zugrundeliegenden Beiträge. Die linke Spalte fasst die jeweils meist verwendeten Provokationsund Kritikargumente der Journalisten zum Thema EPM zusammen, die rechte stellt diesen die häufigsten Reaktionen der Musiker auf solche ›Angriffe‹ gegenüber. Die Kritiken beziehen sich im anfänglichen Zeitraum meistens auf die elektronische Natur der Instrumente und auf die vermeintlich mangelnde körperliche Beziehung der Musiker zu diesen »Maschinen«: »ME: Welche physische Beziehung gibt es mit euren Instrumenten? Ist das so wie bei einer Gitarre? TD: Es ist nur ein optischer Unterschied, du bist unheimlich konzentriert, das ist auch ein physisches Erlebnis, obwohl niemand da unten wahrnimmt das was passiert […], während du drehst, drückst und hörst. Du wartest ja nicht 5 Minuten lang und dann passiert etwas!« (Schober 1976a). In diesem Auszug aus einem Interview mit Tangerine Dream wird die Band befragt, wie sich die körperliche Interaktion mit einem Synthesizer »anfühlt«. Die Reaktion lässt sich zunächst als Belehrung interpretieren, die schließlich in einer Art Polemik (»5 Minuten«) mündet, welche typische Vorurteile des Interviewers bezüglich des betrachteten Themas herausstellt und verdeutlicht, dass es sich — genau wie bei Gitarren — durchaus um Instrumente handelt, die »in Echtzeit« und mitunter virtuos bedient werden müssen. Mit der stärkeren Verbreitung solcher Instrumente verschob sich auch die Art der Kritik der Journalisten auf den abstrakteren Kreativitätsbereich und die Identität der Künstler. Beispiele dafür sind Vorwürfe eines Mangels an Originalität, Authentizität und politischer Haltung sowie der Vorwurf vermeintlicher »Kälte« des Klanges elektronischer Musik. Im folgenden Beispiel wird die Band Die Krupps mit D.A.F. — einer der zu dieser Zeit berühmtesten NDW-Bands — stark mit einem vermeintlich populären Trend verglichen und damit implizit wegen vermeintlicher ›Originalitätslosigkeit‹ kritisiert: »ME: Die neue Band der neuen deutschen Tanzmusik verrenkt sich die Hüfte beim Mussolini2. […] Rund um die monotonen Klangexperimente der Stahlwerk Symphonie3 hat die Modern-Dance-Truppe ihre Musik für Durchschnittstänzer aufgebaut. […] Die Krupps haben sich ebenfalls für die Industrie ent-

2 3

»Der Mussolini«, Titel der Band D.A.F. Debütalbum der Band.

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA schieden und präsentieren deren reduziertes Konzept in einem D.A.F-Format, obwohl die Band sich natürlich gegen jeden Vergleich wehrt […]. DK: D.A.F. sind doch ein Indiz für Ja-Tanzmusik, da diese effektvoll weiterverarbeitet wird. ME: Aber ihr benutzt doch textliche Imperative, genauso wie D.A.F.!« (Meierding 1982a). Während der letzten zwei betrachteten Jahre (1983 und 1984) sind Argumente ähnlicher Natur wie in 1975 und 1976 zu finden, die aber diesmal auf eine neue Generation von elektronisch programmierbaren Instrumenten gerichtet sind: Die zu dieser Zeit sich stark verbreitenden MIDI- und SoftwareSequenzer, welche die vormals in Synthesizern eingebauten Step-Sequenzer ablösten und nun das Verschalten und Steuern des gesamten Geräteparks ermöglichten. In der Folge wurden vor allem die damit ermöglichten neuen Kompositionstechniken unter die Lupe genommen und das Programmieren von Musik zusammen mit der neuen Gestaltung der Aufnahme- und Probestudios, ähnlich wie vormals die Verwendung von Synthesizern, mit stark ideologisch aufgeladenen Argumenten abgelehnt. »ME: Die Muse küsst den Künstler nicht mehr im stillen Kämmerlein, sondern versteckt sich in den Floppy Discs des Fairlight-Computers von Vince Clarke, Mastermind der Gruppen Depeche Mode, Yazoo und Assembly […]. Hier [im Vince Clarke Studio] wird kein mechanisches Instrument zu Hilfe gezogen, hier wird Musik per Knopfdruck gemacht, hier werden Songs nicht länger geschrieben, sondern programmiert. […] Das sind das Mischpult, die Aufnahmegeräte, Mikrophone, Lautsprecher, ein Fairlight Computer […]. Durch eine gläserne Verbindungstür kommt man in dem zweiten Raum, wo normalerweise Musiker ihre Instrumente spielen, welcher in ein Büro verwandelt wurde« (Evert 1984). In der Einführung des Artikels »Im Studio mit Vince Clarke — Computer Kid« beschreibt der Journalist dessen Tonstudio, das anscheinend komplett aus digitalen Instrumenten besteht. Es wird unterstrichen, dass die Natur dieser Geräte in der Verabschiedung der klassischen Musikkomposition läge, und sprachlich angedeutet, dass dafür keinerlei Vorkenntnisse mehr benötigt würden, da die Musik einfach mit einem Knopfdruck produziert werden könne. Ähnliche latente Kritiken und Provokationen finden sich auch in den Überschriften verschiedener Artikel: »Wir sind eine Radio Station« (Kraftwerk) »Laser in Concert« (Eberhard Schoener) »Die Mensch-Maschine« (Gary Numan) »Maschinen machen mich zum Menschen« (John Foxx)

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? »Magie aus dem Computer« (Holger Czukay) »Emotion & Electronic« (Soft Cell) »Intelligent und tanzbar« (Palais Schaumburg) In diesen Beiträgen wird der Einsatz von elektronischen Instrumenten seitens der betrachteten Musiker als vorrangiges stilistisches Element jeweils stark hervorgehoben. Manche lassen auch darauf bezogene Kritik anklingen, die später innerhalb des Textes metaphorisch weiter ausgearbeitet wird, wie etwa die häufige Kombination von »Mensch« und »Maschine« oder die semantische Annäherung zwischen Attributen wie »intelligent«/»tanzbar« oder »Gefühle«/»Elektronik«. Die Musiker zeigen ihrerseits unterschiedliche Reaktionsformen. In den häufigsten Fällen versuchen sie den Kritiken argumentativ etwas entgegen zu setzen, wobei sich einige Künstler (meistens die kommerziell erfolgreichen oder Pioniere) auch trauen, die Provokationen mit eigenen Provokationen zu beantworten. Dem nachfolgenden Auszug lässt sich eine entsprechende provozierende Antwort von Sal Solo entnehmen, Sänger der Band Classic Nouveaux, als seine künstlerische Annäherungsweise als zu »entertaining« bezeichnet wird: »ME: Sal Solo bekennt sich ohne Verlegenheit zum reinen Entertainment für seine erste Konfrontation mit dem Pop-Sound […]. CN: Der unterhaltende Aspekt ist für mich wichtiger, weil man sich sonst viel zu schnell in eine Sache hineinsteigern kann […]. Politik und all diese Dinge haben ihren Platz, aber sie sollten nie auf die Musik übergreifen. Wenn du Politiker werden willst, solltest du Politiker und nicht Musiker werden« (Meierding 1981a). Eine wichtige, mehrfach aufscheinende Strategie zur Verteidigung gegenüber dem Vorwurf mangelnder Virtuosität ist das Reklamieren der betroffenen Musiker (hier: Kraftwerk), trotz des Einsatzes von elektronisch programmierbaren Instrumenten durchaus über ein Bewusstsein für musikalische Strukturen zu verfügen: »ME: Was passiert, wenn ihr an eurem Synthesizer sitzt? KW: Du weißt, wenn du Scheiß spielst; Wir wissen auch, wenn wir von AMoll auf D-Dur wechseln. Diese Sachen stehen auch sehr im Vordergrund« (Schober 1976b). Ähnlich auch in einem Interview mit Michael Hoenig: »ME: Wie kann jemand, der Musik macht, behaupten, ›dass die Grundelemente der Musik für ihn keine Bedeutung haben‹? MH: Dieser Satz ist etliche Jahre alt. Inzwischen hat die Musik das Elektronische etwas zurückgedrängt. Ich habe keine klassische musikalische Ausbil-

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA dung. Ich bin natürlich mittlerweile in der Lage, auf dem Klavier Harmonien und Klangstrukturen aufzubauen« (Freund 1978). Darüber hinaus weisen einige Pioniere wie Brian Eno auch deutlich auf den innovativen Charakter elektronischer Musikinstrumente hin sowie auf die Tatsache, dass die neuen Produktionsformen auch eine »neue« Gesellschaft widerspiegeln würden: »BE: Bezüglich der neuen Musik, die ich heutzutage höre, möchte ich darauf hinweisen, dass es hier etwas Neues und Anderes gibt, und dass es Zeit wird, eine adäquate Sprache zu entwickeln, um darüber zu sprechen« (In Hülsen 1982b). Negative Annäherung ■ Bananarama ■ B.E.F. ■ Depeche Mode ■ Die Krupps ■ Fashion ■ OMD ■ Ultravox ■ Yazoo

Positive Annäherung ◀ Alan Vega ◀ Brian Eno ◀ Giorgio Moroder ◀ Holger Czukay ▷ Jean Michel Jarre ◀ John Foxx ◀ John Watts ◀ Pere Ubu ◀ Pete Schelley

Neutrale Annäherung ■ Classic Nouveaux ▷ Eberhard Schoener ■ Heaven 17 □ Klaus Schulze □ Kraftwerk ■ Palais Schaumburg ■ Soft Cell □ Tangerine Dream ■ Yello ◀ Vince Clarke

Legende: □ Pioniere, ■ Debut Synth Pop-Bands, ▷ Komponisten, ◀ Etablierte E-Musiker

Tabelle 4: Typen der diskursiven Annäherung nach Musikertypen

In Tabelle 4 sind die Typen der diskursiven Annäherung der Journalisten nach Musikertypen zusammengefasst. Es ist leicht zu bemerken, wie bei den damals debütierenden Synth Pop-Bands eine negative Annäherung überwiegt (u.a. Depeche Mode, Ultravox!, OMD) und wie anderseits eine positive Annäherung bei klassisch-kompositorisch arbeitenden und etablierten E-Musikern (Jean Michelle Jarre und Brian Eno) wie auch kommerziell erfolgreichen Künstler (u.a. Giorgio Moroder) vorgenommen wurde. Gemischte bzw. neutrale Annäherungsstrategien finden sich vor allem gegenüber den Pionieren der elektronischen Musik (u.a. Klaus Schulze, Kraftwerk und Eberhard Schoener): Auf der einen Seite werden sie tatsächlich schon aufgrund ihres kommerziellen Erfolgs anerkannt, anderseits behalten die Journalisten dennoch einen teils kritischen Unterton bei. Die nachfolgenden zwei Beispiele zeigen den deutlichen Annäherungsunterschied, den es bei Synth Pop-Musikern im Unterschied zu klassisch ausgebildeten Komponisten gibt.

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? »ME: Auf den britischen Inseln sind sie die Stars, Stars für unzählige Fußpaare auf dem Post-Travolta-Tanz-Boden. Stars für die schminkfreudigen New-Romantic-Pfaue, Stars für die Freude der Pop-Musik, aus den Oszillatoren und Filtern des elektronischen Instrumente Parks, der mit jedem Tag größer, besser und billiger wird […]. [Das Debut-Album] Speak and Spell ist schon in den Charts, eine wunderbare kleine Pop-Praline aus dem Baukasten und noch ein Album im New Wave Fach der örtlichen Schallplattenläden. […] Habt ihr denn so was wie eine Botschaft? Wollt ihr Leute glücklich machen? DM: Da ist keine Botschaft… Außerdem sind wir keine glücklichen Typen, oder? We're just a fun band!« (Güldner 1982c). Ganz anders als bei Depeche Mode wird der Gebrauch von Synthesizern beim anerkannten Komponisten Jean Michel Jarre eingeführt: »ME: Die konventionellen Lehrmethoden hatten ihn jedoch der klassischen Musik entfremdet aber er hat es mit der musikalischen Recherche nicht aufgegeben. […] Er experimentiert jetzt mit einem Synthesizer. JMJ: Meine Aufgabe besteht darin, andere zu inspirieren und höhere Vorstellungen und Gefühle zu erzeugen« (Trenkler 1979). Die dargestellte Einführung des Artikels über Depeche Mode erscheint ziemlich negativ und von latenten Vorwürfen durchzogen, was die Band und ihr erstes Album betrifft. Es wird als ein konstruiertes Supermarkt-Produkt dargestellt, welches gleich jedem anderen Produkt aus dem Regal sein könnte. Völlig gegensätzlich wird demgegenüber der Einsatz von Synthesizern seitens Jean Michel Jarre aufgewertet, etwa mit dem Hinweis darauf, dass er über eine klassische musikalische Ausbildung verfügt. Infolgedessen, so scheint das Beispiel nahezulegen, ist ihm das Experimentieren mit elektronischen Instrumenten erlaubt.

4. Teilstudie 2: Interviewanalyse (2000er) Die Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten elektronisch programmierbarer Instrumente haben sich seit den 1970er Jahren stark weiterentwickelt und damit nicht nur neue Genres hervorgebracht, sondern die Popmusik insgesamt verändert. Bestimmend ist heute die Verwendung von Computern bei der Musikproduktion und Musikperformance, welche nun Software Tools für das Sequencing und die Klangsynthese bereitstellen. Die HardwareInstrumente aus den 1970er und 1980er Jahren stellen für viele nun mehr »kultige« Vintage-Objekte dar, die aber dennoch von einigen Künstlern immer noch in Anspruch genommen werden (Pinch/Reinicke 2009).

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA Mit der massiven Einführung des Computers in das Musikschaffen verschwammen ehemalige Unterscheidungen zwischen Hochkultur und Massenkultur sowie zwischen Amateur- und Profimusikern noch stärker, da es nicht einmal mehr spezifischer musikelektronischer Gerätebedarf, um klanglich hochwertigen musikalischen Ausdruck zu erzeugen. Jeder Computerbesitzer kann ein potentieller Remixer oder Produzent werden und hat dazu noch die Gelegenheit, Inspirationen und Austausch innerhalb der Netzwerke und Communities des Internets zu erlangen (Cox 2004: XIV) oder seine Musik losgelöst von klassischen Vertriebsstrukturen der Tonträgerindustrie hier vertreiben. In der zweiten Teilstudie des vorliegenden Beitrags werden daher Musiker in den Blick genommen, welche diese neue Generation der elektronisch programmierbaren Instrumente verwenden. Ziel ist es herauszuarbeiten, ob und inwiefern der Diskurs bezüglich vermeintlich mangelnder Authentizität, Virtuosität und Subversion von EPM auch für die zeitgenössische Szene eine Bedeutung hat. Dazu wurden drei Leitfaden-Interviews mit gegenwärtig aktiven Künstlern aus unterschiedlichen Bereichen der elektronischen Musik geführt. Diese wurden akustisch-digital aufgezeichnet, anschließend transkribiert und später nach der Grounded Theory von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (1999) interpretiert. Diese Methode erlaubt es, mit Hilfe der thematisch-hermeneutischen Codierung des Aussagenmaterials ein systematisches Bild von der Weltkonstruktion der betrachteten Akteure zu bekommen. Die Auswahlkriterien für die zu befragenden Musiker wurden so gestaltet, dass mit einem ziemlich beschränkten Sample eine möglichst umfangreiche Perspektive der heutigen EPM-Landschaft resultieren würde. Aus diesen Überlegungen heraus wurden drei professionelle MusikerInnen befragt, die über mindestens zehn Jahre Erfahrung im Bereich der elektronischen Musikproduktion und -Performance mit dem Computer hatten. Um einen möglichst breiten Blick auf die elektronische Musikszene zu bekommen, wurden drei MusikerInnen ausgewählt, die möglichst kontrastierende ästhetische Strategien vertreten und unterschiedliche Perspektiven zur Frage der Kommerzialität aufweisen sollten: Ein Techno-Produzent (Musiker 1), ein IDM-Produzent4 (Musiker 2), und eine experimentelle Klangkünstlerin (Musiker 3). Diese wurden per E-Mail kontaktiert, nachdem nach in Berlin wohnenden MusikerInnen gesucht worden war, welche die dargestellten Kriterien erfüllen könnten.

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IDM = Intelligent Dance Music, Szene-Bezeichnung für experimentellere elektronische Popmusik-Genres und -Musiker.

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Die TeilnehmerInnen wurden gleich zu Beginn der auf Englisch durchgeführten Interviews gebeten, sich als qualifiziertes Publikum (und nicht als Musiker) zu betrachten, um ihre Relevanzsetzungen bezüglich der Authentizität und Virtuosität der elektronischen Live-Performance besser herauszuarbeiten und möglichst wenig Selbstrepräsentationsstrategien hervorzurufen. Die resultierenden Aussagen dürfen dennoch nicht als authentischer Selbstausdruck betrachtet werden, sondern müssen weiterhin als eine bestimmte Form der PR-Arbeit gesehen werden, die Aufschluss über die für sie als befragte Musiker bestimmende Diskursordnung gibt und somit den Vergleich mit den Analyseergebnissen der CDA erlaubt. Die Interpretation der Interviews erfolgte in drei sequenziellen Schritten: 1 Open Coding und Memoing: Bei diesem ersten Schritt werden die wichtigsten Phänomene (im Sinne sprachlicher Konstrukte) innerhalb der gesammelten Daten identifiziert, markiert, in Form von paraphrasierenden Codings verdichtet und ggf. als semantischer Blöcke ähnlichen Bedeutungsgehalts miteinander vernetzt. 2 Selective Coding: Bei dieser Stufe werden aus den identifizierten semantischen Blöcken ein oder mehrere Kernkategorien abgeleitet, welche die Unterkategorien miteinander verbinden. In der konkreten Studie waren dies die aufscheinenden Wertschätzungs- und Legitimations-Dimensionen im Hinblick auf die Forschungsfrage. 3 Integrating, Refining and Writing Up: In dieser Phase wird aus den kodierten Daten eine fundierte Theorie unter Rückbezug auf die Forschungsfrage und Literatur abgeleitet. Im konkreten Fall wurde hier die Integration mit den Ergebnissen der CDA unternommen.

4.1. Teilstudie 2: Ergebnisse In Tabelle 5 sind die Ergebnisse des Selective Codings zusammengefasst. Einige der Standpunkte werden von allen Teilnehmenden geteilt, wie etwa die Auffassung, dass es unabhängig von der Medientechnologie die Möglichkeit gäbe, virtuose und authentische Musik zu produzieren. Trotzdem lassen sich auch Unterschiede innerhalb der betrachteten Dimensionen bezüglich der zugeschriebenen Eigenschaften einer »authentischen« Performance und der darauf bezogenen Prioritäten auf der Bühne bemerken, wie die folgenden Interviewauszüge mit den Interviewten aus Techno und IDM zeigen: »The medium doesn't really make a difference, […] important is the output […] one thing that actually GIVES you energy is when the crowd, let's say,

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA when the magic happens, then you find yourself FULL of energy« (Musiker 1 — Techno). »I mean for me there is no difference between a hardware-based live performance and a computer. For me, what is impressing is the way you can affect my perception, and that's it. Because for me, it is not important what kind of information or setup you have, but the way you can connect all this… […] but I mean, this can happen via laptop, via hardware… at the end there is no difference, I think« (Musiker 2 — IDM). Während die Musiker 1 (Techno) und 2 (IDM) sich stärker auf ästhetische und technische Elemente konzentrieren (Feedback des Publikums, Set-Up-Organisation der Instrumente, technisches Knowhow), kann man feststellen, dass die Teilnehmerin 3 (Experimentell) demgegenüber eher auf die Dimension der narrativen Mitteilung fokussiert scheint: »I don't really care about that [the technological medium], because, for me, what is important is the message that they are sending… if they play live with software or not, that's up to them, I don't get annoyed by it« (Musiker 3 — Experimentell). Diese Unterschiede spiegeln sich auch in den Interviewaussagen zur Art der Veranstaltungen wider, auf denen die Künstler typischerweise tätig sind: Während als Maßstab für die Unterhaltsamkeit und Attraktivität einer Techno-Veranstaltung ein voller Dancefloor mit tanzendem Publikum genannt wird, fühlt sich laut Angaben der Experimentalkünstlerin das Publikum ihrer Konzerte stärker von künstlerisch kommunizierten, subversiven Mitteilungen angesprochen. Infolgedessen wird den genannten Faktoren die zum Erreichen jeweiliger Ziele notwendig sind, von den Befragten auch ein unterschiedliches Gewicht eingeräumt (für 1 und 2 ist dies eher das technische Knowhow, und für 3 der Aufbau einer musikalischen Dramaturgie die dem Transport der intendierten Botschaft dient). Nichtsdestotrotz scheinen sich Teilnehmer 1 (Techno) und 2 (IDM) im Laufe des Interviews zu widersprechen, was ihre vorherigen Aussagen betrifft. Obwohl sie, angesprochen auf die eigene Praxis, behaupteten, dass die Auswahl der Instrumente die Virtuosität einer musikalischen Performance und/oder Produktion kaum beeinflussen würde, reagieren sie bei der Thematisierung von Aspekten mangelnder Authentizität bei anderen Musikern überraschend ›konservativ‹: »Actually there are many many performances, especially within the dancefloor-oriented domain [that I consider as] boring! I mean, in terms of sound, research, because anyway they reproduce the same drum machine and so on… [When I have to ask to myself if the musician on stage is really playing,]

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Kategorien

Definition von Authentizität

Definition von Virtuosität

Definition von Subversion

Definition authentischer Performance

Definition nichtauthentischer Musiker und Performances

Argumente pro Software

1. Techno

2. Ambient/IDM

• von Medientechnologie unabhängig sein • lange/erfolgreiche Musikkarriere haben • Experimentelles + Innovation kombinieren • bedeutungsvoller Selbstausdruck (kein Mainstream) • Multimedialität + Dekonstruktion • Publikums-Feedback und Interaktion fördern

• von Medientechnolo- • von Medientechnologie unabhängig sein gie unabhängig sein • Experimentelles + • lange/erfolgreiche Innovation kombiMusikkarriere haben nieren • Talent + Kreativität • High Quality-Ästhetik + Charakter haben haben • Originalität liefern

• Avantgardismus • Experimentelles + Innovation kombinieren • Entdeckung + Innovation auf der Bühne • Qualität des Outputs • recycelte Objekte als Instrumente • DJ-Sets

• Avantgardismus • neue musikalische Sprache und Instrumentennutzung • Experimentelles + Innovation • hybride Natur der Performance • inspirierende Performance

• politisches Engagement • Genderfragen adressieren • Interaktion mit dem Publikum • bedeutungsvolle Inhalte • Präsenz auf der Bühne

• stetige Wiederholung erfolgreicher Patterns • stark standardisierte Komposition • vorprogrammierte Performance • zu viele Instrumente oder Laptop auf Bühne

• stetige Wiederholung erfolgreicher Patterns • stark standardisierte Ästhetik • vorprogrammierte Performance • DancefloorVeranstaltungen • zu starke musiktheoretische Annäherung • Erschwinglichkeit + Tragbarkeit • zeitgenössische Musikwerkzeuge

• standardisierte Ästhetik • zu viele Instrumente auf der Bühne • mangelnde Bühnenpräsenz

• Erschwinglichkeit + Tragbarkeit • zeitgenössische Musikwerkzeuge

3. Experimental

• Forschung bezüglich • Kreativität Ästhetik durchführen • Komposition + • gekonnte Set-UpNarration Organisation • musikalisches • technisches KnowTraining how • Improvisation

• Erschwinglichkeit

Tabelle 5: Selective Coding-Kategorien

intellectually this is actually like an offence, because you are not honest as artist. […] This often happens when you are booked for Techno events, with artists coming from different background playing on the same stage, […] I mean, they just push ›play‹« (Musiker 2 — IDM). Auch der befragte Techno-Artist argumentiert in ähnlicher Weise:

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA »I have been disappointed from guys just pushing play on the laptop […]. I find it more interesting as a performance-charisma to see something else than just a laptop, you know, a laptop is a very important tool, but hm… let's say, there is something that always catches my curiosity when I see something is going without a laptop. [I feel] pretty disappointed, if I understand that something is TOO prepared with very little room for improvisation in the performance, then it becomes uninteresting, then I can just go in a music shop and buy a release of them… [I also feel disappointed] when the approach is too easy. I mean, when I see that it is mostly about like… just pushing play, or… calling it a live performance just because they're playing their own things, that they're producing in the studio… It's like if you see a concert of Daft Punk, probably everything there is prepared« (Musiker 1 — Techno). Beide Befragten kritisieren Musiker, die ausschließlich mit Laptop und vorab aufgenommenen Sequenzen auftreten. Sie bezeichnen diese als uninteressant und beklagen die mangelnde Virtuosität (»Just push Play«, »boring«), sowohl ästhetisch als technisch. Wo 1 (Techno) diesbezüglich sehr Hardware-orientiert scheint, macht 2 (IDM) hier vor allem einen prinzipiellen Nachteil von Dancefloor-Veranstaltungen aus: beide beziehen sich dabei auch auf die Bewegungslosigkeit von Laptop-Musikern. Musiker dieses Genres seien sich einander sehr ähnlich hinsichtlich der Produktions- und Auftrittsweisen, daher seien sie typischerweise nicht besonders originell. Im Gegensatz dazu bleibt die 3. Teilnehmerin (Experimentell) konsequent bei ihren vorherigen Aussagen bezüglich der softwarebasierten elektronischen Musikszene. Sie bezieht als einzige nicht die Instrumente in ihre Argumentation bezüglich eines vermeintlichen Mangels an Originalität und Virtuosität der Musiker ein und argumentiert, dass diese nur Werkzeuge darstellten, womit man seine eigene Mitteilung ausdrücken könne. Für sie hängt sich die Legitimität an der tatsächlichen Nutzung seitens der Musiker auf: »I have a critique about it, because nowadays the people focus a lot on the visual performance, in the sense of having a lot of cables, a lot of weird instruments which look cool, and ok, I agree... you need a lot of work in order to do that, but they just focus on the visual aspect, to look weird, but it doesn't also SOUND weird! There is no narrative in that, it is more the spectacle of using machines which they build up themselves« (Musiker 3 — Experimentell). In jedem Fall sind sich alle drei — aus ihrer Perspektive als Performer — einig, dass der Einsatz softwarebasierter Instrumente eine finanzielle Erleichterung gegenüber dem Kauf von Hardware wie etwa einem modularen

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Synthesizer bedeutet. Deswegen erscheinen deren Auswirkungen auf die Virtuosität auch akzeptabel: »It also depends a lot on the possibilities, because, bringing equipment costs a lot of money and that impacts on your actual earnings, […] and if you travel just with a laptop, your life is easier« (Musiker 1 — Techno). »I questioned myself about it because I started playing with the computer, with a laptop, because that was accessible for me. At that time, I didn't have the money for synthesizers« (Musiker 3 — Experimentell). Die Analyse-Ergebnisse zeigen, dass bestimmte marktorientierte Standpunkte von den interviewten, kommerziell erfolgreichen Musikern aus alternativen und experimentell-explorativen Szenen durchaus geteilt werden und weniger Wert daraufgelegt wird, die dominierenden Regeln zu brechen. Insofern lässt sich behaupten, dass auch in diesen vermeintlich ›alternativen‹ Szenen kulturökonomische Wertmaßstäbe zählen, die musikalischen Erfolg mit einer gekonnten Marktpositionierung gleichsetzen.

5. Integration der Teilstudien: Virtuose Nicht-Musiker? Die erste Teilstudie der vorliegenden Analyse demonstrierte am Beispiel der Mainstream-orientierten Musikzeitschrift Musikexpress, wie im Musikjournalismus der Diskurs um Authentizität und Virtuosität elektronisch-populärer Musik ab Mitte der 1970er Jahre begann. Im Falle von Musikexpress zeigten sich die Musikredakteure im betrachteten Zeitraum zunächst widerstrebend, überhaupt über die neuen musikalischen Tendenzen zu berichten und ignorierten diese zunächst. Als diese einen kritischen Grad an kommerziellem Erfolg erreicht hatten, ist die Thematik jedoch auch vom Musikexpress in Form von Dossiers eingeführt worden. Ein wichtiges Element dieser DossierReihe war das angeschlossene Glossar, weil damit eine neue ›Sprache‹ zwecks Etablierung neuer kultureller Bewertungsmaßstäbe für EPM eingeführt werden konnte. Nach dieser Vorstellung der neuen Musikstile und der Einführung von darauf abgestimmten Bewertungskriterien wurden von Jahr zu Jahr mehr Künstlerinterviews zum betrachteten Thema veröffentlicht, mit einem Höhepunkt im Jahr 1982. Trotz erhöhter Aufmerksamkeit wurden die meisten debütierenden EPM-Bands im Beobachtungszeitrum von den Journalisten in Interviews und Kommentaren jedoch weiter aufgrund ihrer vermeintlichen Virtuositätslosigkeit explizit und implizit ästhetisch abgelehnt, wohingegen

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA kommerziell erfolgreiche oder klassisch-ausgebildete Musiker weitaus mehr Respekt erfuhren. In den letzten Jahren der analysierten Zeitspanne (19831984), als der Einsatz von Synthesizern und Sequenzern zu einem Massenphänomen wurde, verlagerte sich die Kritiken auf die Verwendung einer neuen Generation computergesteuerter MIDI-Instrumente, u.a. wegen der nun möglichen Programmierung der Kompositionen. Die am häufigsten vorkommenden Vorwürfe der Journalisten gegenüber den Musikern sind der Mangel an Virtuosität und Originalität sowie die (zunächst) bewegungslose Performance. Dazu homologe Elemente und Argumentationsfiguren finden sich interessanterweise auch innerhalb der 30 Jahre später getroffenen Aussagen der interviewten MusikerInnen in der zweiten Teilstudie, dies gilt vor allem für 1 (Techno) und 2 (IDM). Ferner sollte ursprünglich untersucht werden, ob es möglicherweise neue oder andere Diskreditierungsargumente bezüglich der Verwendung elektronischer Instrumente und Programmierung in den kontemporären Szenen gibt, aber es konnten hauptsächlich Übereinstimmungen mit denjenigen der 1970er und 1980er Jahre gefunden werden. Beispiele dafür sind etwa die Auffassung, dass programmierte und Laptop-Performances im Kern nicht virtuos seien (»Just push Play«), und die Abqualifizierung reiner Dancefloor-Veranstaltungen. Es fielen darüber hinaus gewisse Widersprüche in den Äußerungen der Künstler auf, wenn diese sich bezüglich anderer Musiker äußerten, die in denselben Szenen aktiv sind und die gleichen Musiktechnologienbenutzen wie sie. Aus der Tatsache, dass dieses ausschließlich bei den kommerziell erfolgreichen Musikern auftrat, lässt sich ableiten, dass auch vermeintlich alternative Musikszenen von starkideologisch geprägten diskursiven Rahmen begrenzt und beeinflusst werden.

6. Gesamtinterpretation: Diskursordnung und Kulturindustrie Die vorliegende Studie konnte einen Beitrag zum besseren Verständnis der Interdependenz von Technologieentwicklung, künstlerischen Praktiken und popkulturellen Diskursen leisten, insbesondere im Hinblick auf die Frage nach dem Wandel kultureller Wertschätzungsmaßstäbe und Legitimationsstrategien. Darüber hinaus werfen die Ergebnisse auch Schlaglichter auf die Rolle der Massenmedien in diesem Prozess, wodurch sich deren ideologischer Einfluss auf die Popkultur besser nachvollziehen lässt.

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Aus den Ergebnissen der beiden Teilstudien wird sichtbar, wie der musikjournalistische Diskurs um elektronisch programmierbare Instrumente und die damit verbundenen neuen Musikstile von Anfang an von Marktmechanismen geprägt ist. Offenbar öffnen sich die Rock/Pop-Journalisten des Musikexpress in den 1970er und 1980er Jahren erst auf ökonomischen Druck hin dem Thema und etablieren dann eine neue Diskursordnung, die es erlaubt, etablierte Wertmaßstäbe bezüglich der aufkommenden Fragen der Rolle von Technik und Aura auch im Hinblick auf EPM beantworten zu können. In diesem Prozess adaptieren sie Prinzipien für die Bewertung von Authentizität, Virtuosität und Subversion aus dem Rock, einem damals erfolgreichen Stil populärer Musik, der zudem die Journalisten selbst stark prägte. Es fließen ferner auch kritische linksintellektuelle Diskurspositionen etwa aus dem Werk Adornos (1941 u. 1947) ein, wenn zuweilen etwa die neuen Stile als Produkte der Kulturindustrie und des »Commodity Listening« delegitimiert und Authentizität im Lichte »kalter Elektronik« beschworen wird. Erstaunlicherweise scheint die resultierende Diskursordnung heute, 35 Jahre später, auch innerhalb der kontemporären (und kommerziell erfolgreichen) elektronischen Musik-Szene immer noch teilweise wirksam zu sein, wie die Interviewanalyse zeigen konnte, vermutlich auch wegen der gestiegenen Bedeutung des Musikjournalismus als intermediärer Institution am digitalen Musikmarkt. Diese Schlussfolgerungen unterliegen freilich gewissen Limitationen: Die erste Teilstudie bezieht sich ausschließlich auf die westdeutsche Musikszene und die Perspektive des Mainstream-Musikjournalismus. Weder wurden andere relevanter Länder betrachtet (bspw. Großbritannien und USA), noch wurden avantgardistische Magazine berücksichtigt. Schließlich wäre es zukünftig auch interessant, den Untersuchungszeitraum der Diskursanalyse bis in die 1990er Jahre hinein zu erweitern und für die Interviewstudie eine größere Stichprobe zu wählen. Die vorliegenden Ergebnisse sollten daher als explorativ verstanden werden und möchten vor allem für weitere empirische Untersuchung historischer Diskursordnungen der populären Musik werben.

Literatur Adorno, Theodor W. (1941). »On Popular Music.« In: Studies in Philosophy and Social Science 9, H. 1 (New York: Institute of Social Research), S. 17-48. Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido. Auslander, Philip (1999). Liveness: Performance in a Mediatized Culture. London: Routledge.

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA Collins, Nick / Schedel, Margaret / Wilson, Scott (2013). Electronic Music. Cambridge Introductions to Music. Cambridge: Cambridge University Press. Cox, Christoph (2004). »Introduction: Music and the New Audio Culture.« In: Audio Culture: Readings in Modern Music. Hg. v. Christoph Cox und Daniel Warner. New York: Bloomsbury Academic, S. XIII-XVII. Dax, Max (2013). »Eines von mehreren möglichen Vorworten.« In: Spex — Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop. Hg. v. Max Dax und Anne Waak. Köln: Metrolit, S. 5-12. Fairclough, Norman (1989). Language and Power. New York: Longman Inc. Foucault, Michel (1972). L'ordre du Discours. Paris: Gallimand. Garcia, Luis-Manuel (2014). »Richard Dyer, ›In Defense of Disco‹ (1979).« In: Geschichte der Gefühle — Einblicke in die Forschung, November, https://www. history-of-emotions.mpg.de/de/texte/richard-dyer-in-defence-of-disco-1979 (Stand vom 20.4.2017). Gee, Jean Paul (1999), An Introduction to Discourse Analysis. Theory and Method. London: Routledge. Glaser, Barney / Strauss, Anselm (1999). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Piscataway, NJ: Adline Transaction (Erstausgabe 1967). Hildebrandt, Barbara (1980). »Information als Werbung — Werbung als Information. Musikzeitschriften.« In: Porträts der deutschen Presse. Politik und Profit. Hg. v. Michael Wolf Thomas. Berlin: Volker Spiess, S. 227-236. Pinch, Trevor J./ Bijsterveld, Karin (2003). »Should One Applaud? Breaches and Boundaries in the Reception of New Technology on Music.« In: Technology and Culture 44, Nr. 3 (Juli), S. 536-559. Pinch, Trevor J. / Reinicke, David (2009). »Technostalgia: How Old Gear Lives on in New Music.« In: Sound Souvenirs: Audio Technologies, Memory and Cultural Practices. Hg. v. Karin Bijsterveld und José van Dijck. Amsterdam: University Press, S. 152-166. Thornton, Sarah (1996). Club Cultures: Music, Media and Subcultural Capital. New England: Wesleyan University Press.

Verzeichnis der analysierten Musikexpress-Artikel Es ist leider nicht immer möglich, die vollständigen Namen der verantwortlichen Journalisten zu ermitteln, deswegen wird in der nachfolgenden Liste teils mit Namenskürzeln gearbeitet (soweit verfügbar), und teils »Anon.« als Autor angeführt. Zum Erleichtern des Auffindens werden ferner die jeweils behandelten Musiker/ Bands in eckigen Klammern genannt. ME = Musikexpress. Anon. (1976). »Disco Sound: Fließband's Baby, Tanzmusik.« In: ME, Nr. 8 (Aug.), S. 42-45. Anon. (1982). (Kein Titel) [Level 42]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 16. Anon. (1976a). »Musik aus der Steckdose 1.« In: ME, Nr. 6 (Juni), S. 16-18. Anon. (1976b) »Musik aus der Steckdose 2.« In: ME, Nr. 7 (Juli), S. 34-36. Anon. (1976c). »Musik aus der Steckdose 3.« In: ME, Nr. 8 (Aug.), S. 34-36. Anon. (1976d). »Musik aus der Steckdose 4.« In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 34-36.

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VIRTUOSE »NICHT-MUSIKER«? Bauduin, Wolfgang (1977). »Der Tüfftler aus der Abbey Road« [Alan Parsons]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 10. Bonici, R. (1979). »Die Mensch-Maschine« [Gary Numan]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 1618. Evert, Manfred (1982). (Kein Titel) [Culture Club]. In: ME, Nr. 11 (Dez.), S. 14. Evert, Manfred (1984). »Im Studio mit Vince Clarke — Computer Kid« [Vince Clarke]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 48-50. Freund, W. (1978). »Blubber, blubber, zisch... Der Elektronik Michael hebt ab!« [Michael Hoenig]. In: ME, Nr. 8 (Aug.), S. 9f. Gockel, Bernd (1981). »Der Tanz der glücklichen Kühe« [Yello]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 28. Güldner, Ulli (1982a). (Kein Titel) [B.E.F.]. In: ME, Nr. 1 (Jan.), S. 18-20. Güldner, Ulli (1982b). »Intelligent und tanzbar« [Palais Schaumburg]. In: ME, Nr. 3 (März), S. 24. Güldner, Ulli (1982c). (Kein Titel) [Depeche Mode]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S.16. Güldner, Ulli (1982d). »Pin up-Pop« [Kim Wilde]. In: ME, Nr. 7 (Juli), S. 36-38. Güldner, Ulli (1982e). (Kein Titel) [Bananarama]. In: ME, Nr. 8 (Aug.), S. 14. Gülden, Gitti (1982f). (Kein Titel) [Fashion]. In: ME, Nr. 10 (Okt.), S. 16. Güldner, Ulli (1982g). (Kein Titel) [Au Pairs]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 14. Güldner, Ulli (1982h). (Kein Titel) [Yazoo]. In: ME, Nr. 12 (Dez.), S. 16. Hoff, Hansi (1980). »Abschied von Winston« [OMD]. In: ME, Nr. 10 (Okt.), S. 30. Hospelt, Tom (1982). »John Watts: Going on« [John Watts]. In: ME, Nr. 4 (April), S. 46-47. In Hülsen, Harald (1978). »Der Sound kommt aus dem Stahlwerk« [Pere Ubu]. In: ME, Nr. 7 (Juli), S. 30f. In Hülsen, Harald (1979). »Herz aus Glas«. [Siouxsie & the Banshees]. In: ME, Nr. 4 (April), S. 16-18. In Hülsen, Harald (1980a). »…Just Drums & Wires!« [XTC]. In: ME, Nr. 1 (Jan.), S. 20-22. In Hülsen, Harald (1980b). »Weiße Hypno-Tone« [Human League]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 25-27. In Hülsen, Harald (1982a). (Kein Titel) [Pete Schelley]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 18. In Hülsen, Harald (1982b). (Kein Titel) [Brian Eno]. In: ME, Nr. 6 (Juni), S. 36-38. In Hülsen, Harald (1982c). »Der letzte Rebell« [Alan Vega]. In: ME, Nr. 6 (Juni), S. 46-48. In Hülsen, Harald (1982d). (Kein Titel) [Malaria]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 18. In Hülsen, Harald (1982e). (Kein Titel) [Japan]. In: ME, Nr. 12 (Dez.), S. 28-30. Loder, Kurt (1984). (Kein Titel) [Cyndi Lauper]. In: ME, Nr. 7 (Juli), S. 30-33. Meierding, Gabriele (1977). »Ungeschminkt« [Peter Gabriel]. In: ME, Nr. 3 (März), S. 17. Meierding, Gabriele (1981a). »Dschingis Kahn der Avantgarde« [Classix Nouveaux]. In: ME, Nr. 7 (Juli), S. 20f. Meierding, Gabriele (1981b). »Magie aus dem Computer« [Holger Czukay]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 14-16. Meierding, Gabriele (1981c). »Midlife Crisis einer Band« [Ultravox]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 34-36. Meierding, Gabriele (1982a). (Kein Titel) [Die Krupps]. In: ME, Nr. 3 (März), S. 26f. Meierding, Gabriele (1982b). (Kein Titel) [Klaus Nomi]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 38f. Meierding, Gabriele (1982c). (Kein Titel) [ABC]. In: ME, Nr. 9 (Sep.), S. 14. Mia (1982). »Emotion & Electronic« [Soft Cell]. In: ME, Nr. 1 (Jan.), S. 14.

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AMBRA CAVALLARO UND STEFFEN LEPA Schober, Ingeborg (1976a). »Ein Traum bekommt Flügel« [Tangerine Dream]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 8-10. Schober, Ingeborg (1976b). »Wir sind eine Radiostation« [Kraftwerk]. In: ME, Nr. 12 (Dez.), S. 12-14. Schober, Ingeborg (1977). »Neuer Start in London« [Ash Ra]. In: ME; Nr. 7 (Juli), S. 18. Schober, Ingeborg (1978a). »Laser in Concert« [Eberhard Schoener]. In: ME, Nr. 1 (Jan.), S. 34. Schober, Ingeborg (1978b). »Die aufrechten Vier« [Talking Heads]. In: ME, Nr. 10 (Okt.), S. 14. Schober, Ingeborg (1980a). »De-vo Da-da (oder auch ›Diewo Dada!‹)« [Devo]. In: ME, Nr. 2 (Feb.), S. 26-28. Schober, Ingeborg (1980b). »Maschinen machen mich zum Menschen« [John Foxx]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 34-36. Schober, Ingeborg (1981a). (Kein Titel) [DAF]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 28f. Schober, Ingeborg (1981b). (Kein Titel) [Phil Collins]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 48. Schober, Ingeborg (1983). »Mit Swing und Schmalz« [Taco]. In: ME, Nr. 3 (März), S. 22f. Schoeneberger, F. (1984). »Endstation Schlaraffenland« [Giorgio Moroder]. In: ME, Nr. 12 (Dez.), S. 26-29. Sveboda, Stefan (1983a). (Kein Titel) [Nena]. In: ME, Nr. 5 (Mai), S. 22-26. Sveboda, Stefan (1983b). (Kein Titel) [Heaven 17]. In: ME, Nr. 8 (Aug.), S. 40. Trenkler, Winfrid (1978). »Der Magier am großen Moog« [Klaus Schulze]. In: ME, Nr. 11 (Nov.), S. 20-22. Trenkler, Winfrid (1979). »Der Sound kommt aus dem Knopf« [Jean Michel Jarre]. In: ME, Nr. 3 (März), S. 12-14.

Abstract The contribution analyses the rise and development of the West-German journalistic discourse about the use of electronic synthesizers, sequencers, and samplers by pop musicians. A discourse analysis reveals the changes in attributions of virtuosity, authenticity and subversion taking place from the 1970s to the1980s as a result of the new electronic means of artistic expression. A complementing interview analysis reveals that the resulting order of discourse is still relevant for the identity of contemporary electronic music artists.

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL. ZUM EINFLUSS VON VERZERRUNG A U F D A S »S H R E D D I N G « Jan-Peter Herbst Als Sinnbild für den spieltechnisch herausragenden Instrumentalvirtuosen wird gemeinhin Nicolò Paganini angesehen (vgl. Metzner 1998: 113ff.). Er setzte nicht nur performativ neue Maßstäbe, sondern lieferte mit dem Klang und der Spielweise seiner Violine eine perfekte Vorlage für das Gitarrenspiel in der Rockmusik in den 1960er und 1970er Jahren (vgl. Middleton 1990: 30ff.; Walser 1993: 63; Custodis 2011: 1). Es dürfte also kaum dem Zufall geschuldet sein, dass vor allem frühe Rock- und Metal-Gitarristen wie Ritchie Blackmore und Uli Jon Roth gleichzeitig die Grenzen verzerrten Gitarrenspiels ausloteten und barocke wie auch klassische Melodie- und Motivtechniken adaptierten (vgl. Middleton 1990: 30ff., Walser 1993: 63ff.). Nachfolgende Spieler wie Randy Rhoads und Yngwie Malmsteen entwickelten diesen Ansatz weiter und nutzten die Instrumententechnologie, um spieltechnische Schwierigkeiten zu überwinden. Obwohl Rhoads um 1980 auf ein größeres Verzerrungspotential als seine Vorbilder zurückgreifen konnte, nahm er seine Soli stets auf drei Spuren auf, um durch den zwar weniger transparenten aber volleren Sound den Eindruck eines flüssigeren Spiels zu erzielen (vgl. Obrecht 2010). Malmsteen dagegen höhlte in der Tradition Blackmores sein Gitarrengriffbrett aus, um dank des geringeren Fingerkontakts kraftsparender spielen zu können (vgl. Frudua 2010). Diese Entwicklung kulminierte schließlich im »Shred-Style« des Hair und Heavy Metal der 1980er Jahre (vgl. Walser 1993: 101). Auch wenn das effektvolle Solospiel in den Charts ab den 1990er Jahren durch den Erfolg des Grunge ein jähes Ende fand (vgl. Waksman 2003b: 128), spielt es in vielen Stilrichtungen des Rock und Metal nach wie vor eine bedeutende Rolle, wie gitarrenorientierte Literatur (vgl. Waksman 2003b: 124ff.), Stilanalysen (vgl. Elflein 2010: 305ff.) und auch journalistische Auflistungen der vermeintlich besten Gitarristen (vgl. McIver 2008: 9) demonstrieren. Noch deutlicher weist Custodis darauf hin, dass Rock neben dem

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JAN-PETER HERBST Jazz eines der wenigen Genres sei, in denen technische Virtuosität nicht nur geschätzt, sondern zum Teil sogar eingefordert werde: »most clichés and connotations of the guitar virtuoso combine elements of historic role models of 19th century's icons Paganini and Liszt with the distortion sound and the habitus of playing an electric guitar« (Custodis 2011: 1). Der Zusammenhang von Gitarrenverzerrung1 und schnellem Solospiel wurde bislang nur vermutet (vgl. Walser 1993: 57ff.), ein akustischer Nachweis aber nicht erbracht. Hinweise darauf, dass Rocksoli während der letzten fünfzig Jahre schneller wurden, liefern Slaven/Krout (2016) mit einer empirischen Studie, die jedoch keine Erklärungen bereitstellt. Weitere Studien beschäftigen sich mit virtuosem E-Gitarrenspiel oder mit spezifischen Spielweisen, ohne explizit die Verzerrung zu berücksichtigen (vgl. Waksman 2001: 128f., 2003b: 124ff.). Experimentelle Untersuchungen existieren nur wenige und auch die detaillierteste Sound-Studie von Einbrodt (1997) thematisiert nicht den Zusammenhang von Verzerrung und schneller Spieltechnik, sodass ein populärmusikwissenschaftlicher Nachweis noch aussteht. Abgesehen von diesem Desiderat spielt das Thema Verzerrung auch für Gitarristen eine große Rolle, wie vor allem Diskussionen in Online-Foren zeigen. Dort wird der Gebrauch von Verzerrung mit Bezug zur spieltechnischen »Leistung« — meist im Sinne eines schnellen Spiels unter Anwendung diverser Spieltechniken wie Wechselschlag, Sweeping, Hammer-On, Pull-Off oder Zweihand-Tapping — kritisch abgewogen, und gleichsam werden Übestrategien für künftige »Shredder« ausgetauscht. Der vorliegende Beitrag geht deshalb den Fragen nach, welche Folgen starke Verzerrung für ein virtuoses Solospiel im Rock und Metal hat. Die Studie beginnt mit einer Inhaltsanalyse von Argumentationen aus OnlineForen. Die daran anschließende Analyse der Verzerrung untersucht allgemeine Klangcharakteristika und ihre Auswirkungen auf die Grundtechniken des Instruments. Als experimenteller Ansatz beruht die Analyse auf zwei Fallstudien aus der Rockgeschichte. Abschließend erfolgt die Reflexion der analytisch-empirischen Ergebnisse zum verzerrten Spiel.

1

Für eine detaillierte Analyse von Gitarrenverzerrung siehe Herbst 2016: 35-42, 115-142.

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL

Gitarrenverzerrung in Online-Musikerforen Per Google-Suche wurden mit den Stichworten »Verzerrung« (bzw. »distortion«) und »Gitarre« (bzw. »guitar«) relevante Postings in Musiker- und Gitarrenforen ausfindig gemacht. Weitere Suchvorgänge innerhalb der entsprechenden Foren ergänzten die Google-Suche. Durch manuelle Auswahl wurden Themen herausgefiltert, die nicht das Gitarrenspiel bzw. das »Shredding« betrafen. Neben dem Musiker-Board als größtem deutschsprachigen Forum fanden das Shred Academy Board, das Ultimate Guitar Board und das Guitar Masterclass Board Eingang in die Analyse. Eine derartige Auswahl ließ zwar keine repräsentative Auswertung zu, aber sie lieferte einen bedeutsamen Einblick in die diskutierten Themen. Um die Auswertung zu strukturieren, wurde eine zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse mithilfe von MAXQDA 10 durchgeführt (vgl. Kuckartz 2010). Untersucht wurden 21 zum Teil mehrseitige Threads, deren Überschriften sich einteilen lassen in 1. Spieltechniken (Wechselschlag, Sweeping, Legato, Tapping), 2. »Shredding« und 3. »Cheating«. Die Detailanalyse machte allerdings schnell deutlich, dass in allen Threads die angeblich spielvereinfachende oder gar »betrügerische« Auswirkung der Verzerrung einigen Komplikationen gegenübersteht. Implizit ist stets ein Wettbewerbsgedanke erkennbar, wie er als charakteristischer Bestandteil von Virtuosität beschrieben wird (vgl. Pincherle 1949: 227). Die Themenüberschriften deuten bereits an, dass das Thema »Cheating« ausgiebig diskutiert wird — vor allem bezüglich der Soundgestaltung. Die Inhaltsanalyse bestätigt diese Annahme, denn sie zeigt eine Fülle an Maßnahmen zur Instrumentenpräparation, um das Spiel in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Genannt werden die Verwendung von dünneren Saiten für einen geringeren Kraftaufwand, ein mehrfaches Aufnehmen von Soli für eine flüssigere Wirkung, alternative Stimmungen sowie die Nutzung von aktiven Tonabnehmern mit mehr Ausgangsleistung. Ferner werden die Effekte Wah Wah, Echo und Hall als Mittel für das Verschleiern von Spielfehlern beschrieben. Die Frequenzbearbeitung spielt ebenfalls eine Rolle, da durch den dumpferen Hals-Tonabnehmer oder den Ton-Potentiometer die Transparenz reduziert und dadurch ein sauberes Spiel »vorgegaukelt« werden könne. In ähnlicher Weise wird ausgiebig die Verwendung eines Haarbandes diskutiert, das durch ein sanftes Aufliegen auf den Saiten ungewünschte Saitenschwingungen verhindern und somit Nebengeräusche herausfiltern könne. Auf spieltechnischer Ebene stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf

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JAN-PETER HERBST einen regelmäßigen Anschlag zugunsten einer Legato-Spielweise als Betrug zu werten sei. Der quantitativ bedeutendste Kritikpunkt betrifft die Verzerrung, weil sie potenziell unsauberes oder fehlerhaftes Spiel maskieren könne. So äußert Nutzer Jak888 im Shred Academy Board: »when you get a Boss MT-2 (metalzone), that distortion, overdrive and compression thing, all at once, you can shred like a god, just because the sound hides all your mistakes.« Ähnlich repräsentativ ist die Aussage von Maidenheadsteve im Ultimate Guitar Board: »The closest thing I can think of [bezüglich ›cheating‹] is hiding behind lots of distortion so it sounds unclear to cover up technical deficiency.« One Vision resümiert im Ultimate Guitar Board daher bezüglich des Verzerrungsgrads: »To a true virtuoso, the amount of gain doesnt matter, he or she can play it either way.« Neben der ethischen Dimension des Betrugs existieren Aussagen, die Verzerrung gar als notwendige Voraussetzung für einige Spieltechniken erkennen lassen. Bspw. äußert der bereits zitierte One Vision: »I still feel cheap when I use lots of it. But, like when I really need it for something like diminished LEGATO string skipping. Come on. Mad legato stretches. I tried doing it with less gain and I can't get the Tap-Slides to sound AT ALL.« Abgesehen von der Kritik an den potenziell spielvereinfachenden Auswirkungen der Verzerrung, gibt es eine vernachlässigbare kleine Anzahl von Aussagen, welche die eingeschränkte Artikulation des verzerrten Stils betonen; zum Beispiel Vercingetorix im Shred Academy Board: »Now one of the good reasons to practice clean is so you can hear what you are playing with nothing hiding your mistakes, listening for the clean distinction between each note, even timing for each pick strike, and that they are all coming in at the same volume. All these characteristics can be masked by playing with gain and FX (reverb, delay, phaser, compressor and wah) you get the drift.« Dieser Kritik stehen einige wenige Äußerungen gegenüber, die die Herausforderungen beim Spiel mit Verzerrung hervorheben, etwa die Schwierigkeit, mit stark verzerrtem Sound noch dynamisch differenziert zu spielen. Ein weiterer Nutzer argumentiert, dass Verzerrung Spielfehler noch offensichtlicher mache. Andere heben hauptsächlich die schwer kontrollierbaren kompressionsbedingten Nebengeräusche hervor. Bspw. schreibt Matrix Claw im Ultimate Guitar Board: »I feel the complete opposite. Playing clean won't show any of your lack of muting strings and playing cleanly, I don't understand why people say that at

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL all. If anything, playing clean hides sloppiness because it's not being amplified as distortion and is often times in-audible when playing on a clean channel. I know I sound a hell of a lot better playing shred on the clean channel than I do on the distortion channel«.2 Insbesondere im Zusammenhang mit den Spieltechniken Sweeping und Tapping wird diese Notwendigkeit betont. Wenngleich in den Diskussionen die Kritik an den täuschenden Maßnahmen und insbesondere an der Verzerrung weit verbreitet ist, legt eine Umfrage im Ultimate Guitar Forum3 über den Verzerrungsgrad beim »Shredding« doch nahe, dass die meisten Spieler nicht auf die positiven Effekte verzichten möchten. Während von den 76 Befragten nur 5% angeben, keine Verzerrung zu nutzen und weitere 18% nur wenig »Gain«, so spielt die Mehrheit nach eigenen Aussagen mit viel (47%) oder extrem viel (29%) Verzerrung. Diese Angaben können als Indiz für die wettbewerbsorientierte Denkweise gedeutet werden, weil ein geringerer Verzerrungsgrad potenziell einem spielerischen Nachteil gleichkommen könnte. Wenn auch die wenigsten Nutzer solcher Online-Boards auf einer Bühne live gegeneinander »antreten«, gibt es doch eine rege Community in Foren und auf Videoplattformen, wo Cover von spieltechnisch anspruchsvollen Stücken vorgestellt werden, deren Spieler der Kritik ausgesetzt sind.4 Daneben existieren in Videoplattformen unzählige »Wettkämpfe« bekannter »Shred«-Gitarristen wie Michael Angelo Batio, Rusty Cooley, Paul Gilbert, Marty Friedman oder Joe Satriani, die sich entweder durch zusammengestellte Kompilationen virtuell oder in speziellen Shows live »duellieren«. Ein weiteres Phänomen sind Reihen wie »Betcha Can't Play This!«, in denen renommierte Gitarristen ihre anspruchsvollsten »Licks« vorstellen und damit Amateure zum Wetteifern anspornen.

2 3 4

»How To Set Amp/Effects For Shred«, verfügbar unter: https://www.ultimateguitar.com/forum/showthread.php?t=987527 (Stand vom 23.3.2017). »How many of you shred with distortion?«, verfügbar unter: https://www. ultimate-guitar.com/forum/showthread.php?t=802738 (Stand vom 23.3.2017). Vgl. bspw. die Themen »An alle fortgeschrittenen Gitarristen: Zeigt[,] was ihr könnt« oder »Zeigt[,] was ihr könnt!: Metal Style« im Musiker-Board.

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JAN-PETER HERBST

Analyse der Auswirkung von Verzerrung auf das Spiel Methode Die Analyse des Einflusses von Soundcharakteristika auf die Spiel- und Ausdrucksfähigkeit profitiert von einem multimethodischen Ansatz. Strukturorientierte Methoden können klangliche Phänomene kaum adäquat erfassen (vgl. Schneider 2002: 111), weshalb akustische, strukturelle und perzeptive Verfahren kombiniert wurden. In einem ersten Schritt fand die Visualisierung der akustischen Eigenschaften durch detaillierte Spektraldarstellungen (Sonic Visualiser) und Wellenformendiagramme (Audacity) statt. Hiermit konnte einerseits ein besseres Verständnis über die gegenseitige Beeinflussung spektraler und dynamischer Eigenschaften gewonnen werden. Andererseits trugen die Abbildungen als objektive Repräsentationen zur Erfüllung empirischer Qualitätskriterien wie Wiederholbarkeit und Transparenz bei (vgl. Cook/Clarke 2004: 4). Zusätzlich wurden einzelne Töne für eine akustische Feature-Analyse exportiert, um spezifische Eigenschaften verschiedener Spieltechniken zu identifizieren. Die Features wurden mit der MIR Toolbox (vgl. Lartillot/Toiviainen 2007) extrahiert. Das Dynamikverhalten wurde außerdem mit Adobe Audition 3 überprüft. Zur methodischen Absicherung und für einen tiefergehenden Erkenntnisgewinn wurden die unterschiedlichen visuellen und statistischen Ergebnisse trianguliert. In dem experimentellen Ansatz dienten eigens aufgenommene Ausschnitte veröffentlichter Rock- und Metalsoli als Analysematerial. Die Sampleauswahl unterlag weniger der musikhistorischen Bedeutung als dem Einsatz wesentlicher Spieltechniken innerhalb eines kurzen Ausschnittes. »Groove Or Die« (1997) des Gitarrenvirtuosen Andy Timmons wurde nicht nur wegen der hohen spieltechnischen Herausforderungen gewählt, sondern auch weil mehrere Anschlagstechniken in einer Phrase verglichen werden konnten. Für die Legato-Technik wurde aufgrund der schnellen Spielweise das Intro-Solo von Queens »I Want It All« (1989) gewählt. Um die akustischen Effekte der Gitarrenverzerrung analysieren zu können, wurden Aufnahmen mit verschiedenen Sounds erstellt. Gegenüber einer Analyse originaler Hörbeispiele konnte mit dem experimentellen Vorgehen eine weit bessere Kontrolle über relevante Variablen, insbesondere Verzerrung, ausgeübt werden. Des Weiteren konnten so Interferenzen mit anderen Instrumenten ausgeschlossen werden (vgl. Einbrodt 1997: 18ff.). Jede Performance wurde zunächst über eine DI-Box direkt in den Sequenzer

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL (Apple Logic Pro 9 mit Presonus FirePod Soundkarte) eingespielt. Mit der Palmer Daccapo Box konnten die Signale mehrfach mit verschiedenen Verstärkereinstellungen aufgenommen werden (»Re-Amping«). Drei Sounds wurden im Crunch-Kanal eines Marshall JCM 2000 TSL Röhrenverstärkers erzeugt: Ein unverzerrter Sound mit niedriger »Gain«-Einstellung (Clean), ein mittelmäßig verzerrter Sound (Overdrive) und ein stark verzerrter Sound (Distortion), für den ein Fulltone OCD Pedal hinzugefügt wurde. Als Box wurde das Modell 1960BV von Marshall mit Celestion G12 Vintage 30 Lautsprechern genutzt. Mikrofoniert wurden die Aufnahmen mit einem dynamischen Shure SM57 nah vor dem Lautsprecher. Insgesamt repräsentierte die Verstärkungsanlage ein weitverbreitetes Setup in Rock- und Metal-Genres seit den 1970er Jahren. Transistor- und moderne Simulationsverstärker wurden wegen der nach wie vor geringen Verbreitung (vgl. Herbst 2016: 300f.) nicht berücksichtigt. Mit einer ähnlich traditionsbewussten Zielsetzung wurden auch die Gitarren ausgewählt: Eine Fender American Stratocaster mit Seymour Duncan SH-4 Humbucker am Steg für »Groove Or Die« und eine Gibson Les Paul mit 490T Tonabnehmer für »I Want It All«. Diese Gitarren sind in den genannten Genres immer noch beliebt (vgl. ebd.: 298f.). Beim Audio-Export wurden die Produktionen zwecks vergleichbarer Lautheit auf −0.1 dBFS normalisiert.

Allgemeine Klangcharakteristika Um die akustischen Veränderungen der Verzerrung als Vorbereitung für die Fallanalysen grundlegend zu betrachten, wurde der Einzelton E5 (659 Hz) visuellen und quantitativen Verfahren unterzogen. Eine erste visuelle Annäherung erfolgte anhand von Spektral- und Wellenformdarstellungen.

Abbildung 1: Ton einer Gibson Les Paul mit Vibrato und Saitenziehen. Links: Clean, Mitte: Overdrive, rechts: Distortion; 21 bis 18.000 Hz

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JAN-PETER HERBST Die Gitarre produziert, wie das Spektrogramm veranschaulicht, periodische Wellen. Die tiefste Schwingung ist in diesem Fall der Grundton, die folgenden sind harmonische Obertöne. Zur Klangcharakteristik des Instruments tragen die Anzahl der Teiltöne, ihr Lautstärkenverhältnis und ihre zeitliche Entwicklung wesentlich bei (vgl. Pierce 1985). Bei der unverzerrten Gitarre lassen sich im Spektrogramm neben der Grundschwingung drei Obertöne erkennen, die anzeigen, dass der primäre Frequenzbereich zwei Oktaven beträgt. Die moderat verzerrte Aufnahme unterscheidet sich von der unverzerrten nur geringfügig. Nach wie vor sind die ersten vier Teiltöne dominant, wobei auch höherrangige Obertöne zu erkennen sind, die allerdings kurz nach dem Anschlag verklingen. Dagegen unterscheidet sich die sehr verzerrte Gitarre deutlich, denn sämtliche harmonischen Obertöne sind verstärkt und erweitern das Signal auf einen Frequenzbereich von fast fünf Oktaven. Trotz des eingeschränkten Reproduktionsraums des Lautsprechers bis ca. 5 kHz, der in den Spektrogrammen an dem Geräuschband klar zu erkennen ist, sind Klanganteile von beträchtlicher Lautstärke im Höhen- und Präsenzbereich vorhanden. So verfügen höhere Obertöne wie etwa A9 (13.290 Hz) mit −35 dB gegenüber dem ersten Oberton E6 (1.319 Hz) mit −25 dB über eine nur wenig geringere Lautheit. Der Vergleich der drei Sounds in der dreidimensionalen Darstellung verdeutlicht folglich, dass der in der Wellenform erkennbare Kompressionseffekt nicht linear verläuft, sondern in Abhängigkeit zur Frequenz steht. Ein geringes Hinzufügen von Verzerrung intensiviert vor allem die unteren Teiltöne im Bass- und Mittenregister. Deutlich mehr Verzerrung scheint notwendig, um auch die höheren Teiltöne zu verstärken und über einen längeren Zeitraum schwingen zu lassen. Dieses als »Sustain« bezeichnete Merkmal erweitert die Möglichkeiten der E-Gitarre als Melodieinstrument erheblich (vgl. Middleton 1990: 30ff.; Walser 1993: 63ff.; Herbst 2016: 143-237). Neben diesen frequenzabhängigen Kompressionseffekten veranschaulicht die Spektralanalyse, dass hauptsächlich harmonische Teiltöne (vgl. Pierce 1985: 37f.) und weniger ganze Frequenzbereiche verstärkt werden. Andernfalls würde der Sound an Klarheit verlieren und eine durchdringende Schärfe erhalten (vgl. Doyle 1993: 56f.). Da die Studie davon ausging, dass selbst geringe akustische Veränderungen beträchtlichen Einfluss auf die Spielfähigkeit nehmen, wurden die Aufnahmen einer Feature-Analyse unterzogen:

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL

Clean

Overdrive

Distortion

Primärer Frequenzbereich

E5 (659 Hz) − E7 (2.637 Hz)

E5 (659 Hz) − E7 (2.637 Hz)

E5 (659 Hz) − D10 (18.323 Hz)

Anschlagszeit

32 ms

48 ms

50 ms

Anschlagsphase

0,5 s

1,77 s

3,53 s

Lautheit (RMS)

−27,86 dB

−11,55 dB

−6,77 dB

Spektraler Mittelwert

1.855 Hz

1.321 Hz

2.118 Hz

Tabelle 1: Akustische Features der drei Sounds

Im Fokus standen vor allem Aspekte der Hüllkurve, die sich spektralanalytisch nur grob erfassen lassen. Während allgemein viele Instrumente in der »Sustain«-Phase ähnlich klingen, nimmt die Anschlagsphase großen Einfluss auf den Instrumentenklang (vgl. Barkowsky 2009: 71). Eine »Gain«-Zunahme von einem unverzerrten zu einem moderat verzerrten Gitarrensound erhöht die Anschlagszeit, d.h. die Zeit vom Saitenkontakt bis zur maximalen Ausschwingung (vgl. Lartillot/Toiviainen 2007: 114), um circa ein Drittel. Mehr Verzerrung verlängert die Anschlagszeit kaum weiter. Dagegen reagiert die Anschlagsphase als die Zeit zwischen dem Anschlag und der Ausschwingphase (vgl. ebd.: 122) sensibel auf den Verzerrungsgrad, sodass sich die Phase von Clean zu Overdrive ungefähr verdreifacht und von Overdrive zu Distortion nochmal verdoppelt. Die festgestellten Veränderungen in der Hüllkurve lassen den Schluss zu, dass Verzerrung die Definition des Anschlags sowohl aufgrund unpräziserer Anschlagsphasen und -zeiten als auch wegen der größeren Geräuschhaftigkeit des Plektrumanschlags negativ beeinflusst. Letzteres ist im Spektrogramm ersichtlich. Die Dynamik unterliegt erwartungsgemäß größeren Veränderungen durch den Verzerrungsgrad. Die durchschnittliche Lautheit (RMS in dBFS) erhöht sich von Clean zu Overdrive um 141% und von Overdrive zu Distortion um weitere 71%. Die Helligkeit, berechnet aus dem spektralen Mittelwert (vgl. McAdams/Depalle/Clarke 2004: 191), verändert sich ebenfalls je nach Verzerrungsgrad (Tab. 1). Ein moderates Hinzufügen von Verzerrung senkt den spektralen Mittelwert beträchtlich. Die Spektraldarstellung verdeutlicht, dass nichtlineare Verzerrung nicht nur die Obertöne verstärkt, sondern auch die Lautstärkerelation der Teiltöne beeinflusst. Im vorliegenden Fall wird die Grundtonschwingung um ca. 6 dB lauter, was ungefähr einer doppelten Lautstärke entspricht (vgl. Barkowsky 2009: 31). Dadurch werden die leicht verstärkten Obertöne ausgeglichen und der Ton bekommt einen wärmeren, bassbetonteren Sound. Anders verhält es sich bei der Distortion-Aufnahme, wo die starke Verzerrung die Grundtonfrequenz zwar ebenfalls deutlich an-

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JAN-PETER HERBST hebt, allerdings in den oberen Harmonischen verhältnismäßig lauter und langanhaltender. Dies führt zu einer Erhöhung des spektralen Mittelwerts und somit der Helligkeit. Ein solch heller Sound könnte sehr verzerrten Gitarren mehr Klarheit verleihen und die negativen Effekte der undefinierteren Hüllkurvenentwicklung teilweise ausgleichen.

Spiel mit Plektrum Die Tonerzeugung auf der elektrischen Gitarre erfolgt im Normalfall mit einem Plektrum. Wie Einbrodt (1997) in seiner experimentellen Untersuchung detailliert nachwies, ist die Art des Anschlags für den Gitarrensound von entscheidender Bedeutung. Inwiefern sich die Verzerrung auf das Spiel mit dem Plektrum auswirkt, soll exemplarisch an »Groove Or Die« (1997) untersucht werden:

Abbildung 2: Anfangsmotiv von Andy Timmons' »Groove Or Die« (1997)

Das Arpeggio im ersten Takt des Anfangsmotivs stellt für das Plektrumspiel eine Herausforderung dar. Üblicherweise wird für schnelles Spiel ein Wechselschlag eingesetzt, da durch das abwechselnde Anschlagen von oben und unten das Tempo, im Gegensatz zu reinen Abschlägen, verdoppelt werden kann. Die Wechselschlagtechnik ist bei Arpeggios oder Melodien mit nur einem Ton pro Saite allerdings weniger effektiv (vgl. Govan 2002b: 34ff.). Für solche Spielarten ist die Technik des Sweepings5 besser geeignet, da sich die Anschlagsrichtung nach der Anzahl der Töne pro Saite richtet und unnötige Bewegungen vermieden werden. Im zweiten Takt des Motivs wird eine aufsteigende E-Moll-Skala mit einem abgedämpften Wechselschlag gespielt. Die in den Noten mit P.M. (ausgeschrieben: Palm Mute) gekennzeichnete Technik des Abdämpfens erfolgt mit der Anschlagshand, die während des Spiels 5

Der Begriff »Sweeping« leitet sich vom englischen Verb »to sweep« ab, was so viel wie »fegen« bedeutet. Ähnlich wie mit einem Besen gleitet das Plektrum in einer gleichmäßigen Bewegung und ohne größere Betonungen über die Saiten.

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL auf die Saiten nahe am Steg gelegt wird. Daraus resultiert ein kurzer, perkussiver Klang mit einem reduzierten Höhenanteil (vgl. Govan 2003: 25f.). Die geschilderten Spieltechniken gehören zum Standardrepertoire eines fortgeschrittenen Gitarristen und stellen per se keine größere Herausforderung dar. Dies ändert sich jedoch bei einem hohen Spieltempo, das im vorliegenden Beispiel über elf Töne pro Sekunde beträgt und daher besonders aufschlussreich für die Analyse des Einflusses von Verzerrung auf die Spielbarkeit erscheint.

Abbildung 3: Erste zwei Takte von »Groove Or Die« (1997). Oben: unverzerrt, unten: sehr verzerrt; 21 bis 2.200 Hz

Die Spektral- und Wellenformdarstellungen zeigen charakteristische Unterschiede zwischen abgedämpften (P.M.) und offen gespielten (Wechselschlag und Sweeping) Tönen. In der unverzerrten Aufnahme ist erkennbar, dass sich die freischwingenden Töne — unabhängig der jeweiligen Spieltechnik — etwas überlappen, nahtlos ineinander übergehen und daher flüssig klingen. Die abgedämpften Töne haben eine akzentuierte Anschlagsphase und eine kürzere wie leisere Ausklingphase. Dieser Hüllkurvenverlauf zusammen mit der obertonarmen Frequenzverteilung lässt einen wenig transparenten Klang erwarten, und doch ist der Sound dem Höreindruck nach klar artikuliert. Dies ist vermutlich auf die kurzen Pausen zwischen den Tönen zurückzufüh-

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JAN-PETER HERBST ren, die eine kognitive Differenzierbarkeit der Töne begünstigen. Die verzerrte Gitarre unterscheidet sich bereits auf den ersten Blick durch die größere Anzahl von Teiltönen und deren höheren Lautstärken. Wie die Analyse der Verzerrungscharakteristika bereits nachwies, hat der angeschlagene Ton mit einem verzerrten Sound in allen Phasen der Hüllkurve einen größeren Geräuschanteil (vgl. Einbrodt 1997: 170ff.) — unabhängig von der Anschlagstechnik. Die Unterschiede zwischen den beiden nicht-abgedämpften Spieltechniken lassen sich in Bezug zum Sound kaum im Spektrogramm finden. Die dynamischen Wellenformdarstellungen verdeutlichen, dass die flüssige Wirkung im unverzerrten Sound durch die verzerrungsbedingte Kompressionswirkung weiter verstärkt wird. Verzerrung verkürzt also die Pausen zwischen den offen angeschlagenen Noten, und beim Sweeping verbindet sie die Töne nahezu übergangslos, was in beiden Fällen zu einem flüssigeren Klangeindruck führt. Bei den abgedämpften Tönen hingegen zeigen sich im Spektrogramm größere Unterschiede zwischen den Sounds. In der verzerrten Aufnahme sind die ersten Obertöne lauter und zusätzlich sind mehrere höhere Teiltöne angedeutet. Aufgrund der Kompression sind die verzerrten Töne in allen Phasen der Hüllkurve laut und haben fließende Übergänge, weshalb abgedämpfte Töne mit zunehmender Verzerrung mehr legato klingen. Aus Gründen der Daten- und Methodentriangulation wurden die grafischen Analysen mit gemessenen akustischen Werten ausgewählter Töne verglichen. Hierfür wurden die Mittelwerte relevanter Parameter von drei offen gespielten Tönen (G4, B4, G4), drei abgedämpften Tönen (D4, E4, F#4) und drei mit Sweeping gespielten Tönen (E4, B3, B3) betrachtet. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die unterschiedlichen Tonhöhen nur eine tendenzielle Vergleichbarkeit der Spieltechniken zuließen: unverzerrt

verzerrt

offen

gedämpft

sweeping

offen

gedämpft

sweeping

Anschlagsphase

140 ms

80 ms

144 ms

168 ms

146 ms

143 ms

Lautheit (RMS)

−26 dB

−24 dB

−42 dB

−19 dB

−19 dB

−20 dB

Tabelle 2: Akustische Features der Spieltechniken

Die Anschlagsphase wird auf der unverzerrten E-Gitarre zum Teil von der Spielweise beeinflusst. Während sich der offene Anschlag und das Sweeping nur unwesentlich unterscheiden, verfügt die abgedämpfte Spieltechnik erwartungsgemäß über eine deutlich kürzere Anschlagsphase. Bei einem verzerrten Sound hingegen ist die Anschlagsphase der abgedämpften Töne nur etwas kürzer. Ähnliche Phänomene zeigen sich bezüglich der Lautheit. Wäh-

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL rend auf der unverzerrten Gitarre die mit Sweeping gespielten Töne deutlich leiser sind, ist die Intensität mit einem verzerrten Sound bei allen Spieltechniken fast identisch. Unter Berücksichtigung der grafischen und akustischen Ergebnisse kann gefolgert werden, dass die Unterschiede zwischen den Spieltechniken beim unverzerrten Sound größer sind. Verzerrung scheint zu Angleichungen zu führen, weil sie die klanglichen Eigenschaften verschiedener Spielweisen reduziert. Dies verdeutlicht auch ein Frequenzvergleich eines G3-Tons, der in dem Sampleausschnitt sowohl offen als auch abgedämpft erklingt: -5 0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

9000

10000

-25

-45

-65

-85

-105 unverzerrt offen

unverzerrt abgedämpft

verzerrt offen

verzerrt abgedämpft

Abbildung 4: Frequenzanalyse des G3-Tons unterschieden nach Spielweise und Verzerrungsgrad

Bezüglich Virtuosität stellt sich nun die Frage, wie der Einfluss von Verzerrung auf das Spiel zu bewerten ist. Zunächst kann festgehalten werden, dass Verzerrung die Töne ungeachtet der jeweiligen Spieltechnik verlängert und damit einen flüssigeren Klangeindruck bewirkt. Wie die vorangegangene akustische Analyse bereits nahelegte, verlängert Verzerrung die Anschlagszeit und -phase, was zusammen mit dem erhöhten Geräuschanteil zu einem weniger artikulierten Anschlag führt. Diese Beobachtung stimmt mit den spektralen und dynamischen Ergebnissen überein. In der Praxis gilt, dass ein sauberes Gitarrenspiel die präzise Abstimmung zwischen Greif- und Anschlagshand verlangt, damit der Ton nicht abgehackt und undefiniert klingt (vgl. Weissberg 2010: 99f.). Die akustischen Klangeigenschaften der Verzerrung können solche Unsauberkeiten zu einem gewissen Grad maskieren, sodass mangelnde Präzision weniger auffällt und der ausführende Interpret schneller als mit einem unverzerrten Sound spielen und dem Hörer bzw. Zuschauer eine höherentwickelte Spielfähigkeit

143

JAN-PETER HERBST »vorgaukeln« kann. Vor allem Nicht-Gitarristen und Gitarrenanfänger können eine nur schnelle Spielweise schwerlich von einem wirklich virtuosen Spiel unterschieden. Abgesehen von den geringeren Erfordernissen einer synchronen Handabstimmung werden durch die Kompression ungleichmäßige Lautstärken wie auch fehlende Dynamik und Akzente kompensiert. Insgesamt betrachtet können die akustischen Auswirkungen der Verzerrung das expressive Potenzial der Gitarre gleichermaßen erweitern wie auch beschränken. Im ungünstigen Fall beeinträchtigt Verzerrung die Klarheit in schnellen Melodielinien. Diese negative Folge kann durch abgedämpftes Spiel mit kleinen Pausen zwischen den Tönen gemindert werden, ohne dass die flüssige Wirkung verloren geht. Je nach Präzision erzeugt Verzerrung in Verbindung mit einem abgedämpften Anschlag einen präzisen und kraftvollen Sound; oder aber unsauberes Spiel bzw. Abstimmungsprobleme zwischen den Händen werden kaschiert. Durch das Abdämpfen werden die Grundtonfrequenz und die ersten Teiltöne verstärkt, sodass ein voller und definierter Sound entsteht. Ein positiver Nebeneffekt ist die Reduzierung störender Geräusche von nicht gespielten Saiten. Zu viel Verzerrung hingegen maskiert die Töne durch Geräusche (vgl. Einbrodt 1997: 170ff.), sodass selbst sauberes Spiel an Klarheit verliert. Ferner minimiert Verzerrung die dynamischen Ausdrucksmöglichkeiten, was die Expressivität des Spiels einschränken kann.

Legato Bei der Gitarre beruhen Legato-Techniken auf dem weitgehenden Verzicht auf Plektrumanschläge, deren Akzentuierung den flüssigen Klang unterbrechen. Die Legato-Spielweisen werden wegen ihrer Klangwirkung, aber auch aus spieltechnischen Gründen verwendet, wie die Forenanalyse verdeutlichte. Die Auswirkung von Verzerrung auf das Spiel wird an den ersten zwei Takten des Introsolos von Queens »I Want It All« (1989) untersucht:

Abbildung 5: Anfang des Introsolos von Queens »I Want It All« (1989)

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL Beide experimentellen Aufnahmen verdeutlichen im Spektrogramm eine weitgehend geräuschfreie Einschwing- wie Ausschwingphase legato gespielter Töne. Die gezogenen Töne (»Bendings«) sind angeschlagen und verfügen über ein lauteres und länger anhaltendes Geräusch. Diese unharmonischen Klanganteile lassen sich auch in den Legato-Phrasen erkennen, da angeschlagene Töne aufgrund von Saitenwechseln vorkommen. Aus dem Vergleich der beiden Tonerzeugungsweisen kann geschlossen werden, dass der Legato-Klangeindruck auf eine geringere Geräuschhaftigkeit zurückzuführen ist. Dies bekräftigt die Klanganalyse, denn die Anschlagsphase verlängert sich im Legato-Spiel durch ein Hinzufügen von Verzerrung nur um 10% gegenüber einer Verlängerung um 28% bei angeschlagenen Tönen. Die verkürzte Anschlagsphase scheint folglich ein Merkmal des Legato-Klanges zu sein.

Abbildung 6: Anfang des Introsolos von Queens »I Want It All« (1989). Oben: unverzerrt, unten: sehr verzerrt; 43 bis 4.350 Hz

Beide grafischen Darstellungen liefern Anzeichen für eine vereinfachte Spielbarkeit der Legato-Technik durch einen verzerrten Sound. In der unverzerrten Aufnahme sind die Teiltöne der angeschlagenen Töne wesentlich lauter als diejenigen der legato gespielten Töne. Im Höreindruck sind die

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JAN-PETER HERBST gebundenen Töne deutlich leiser, sodass sie in einer Bandsituation leicht untergehen würden. Beim verzerrten Sound zeigt sich die Kompression darin, dass alle Teiltöne unabhängig von der jeweiligen Spieltechnik verstärkt sind. Noch eindeutiger unterstützt die Wellenformdarstellung diese Beobachtung, denn Verzerrung wandelt den perkussiven Klangeindruck des unverstärkten Instruments in ein lang ausklingendes Instrument, unabhängig der Spieltechnik. Die Feature-Analyse bestätigt die unterschiedliche Dynamikrelation. Während das gebundene Spiel auf der unverzerrten Gitarre durchschnittlich 13,29 dB leiser als das angeschlagene ist, beträgt die Differenz mit einem verzerrten Sound lediglich 4,61 dB. Diese eingeschränkte Dynamik erleichtert es dem Spieler, beide Techniken in einer Phrase zu benutzen. Zwar ist eine ähnliche Lautstärke durch Übung zu erreichen, allerdings wird die exakte Ausführung bei höheren Spielgeschwindigkeiten schwieriger, wobei Verzerrung hilft, das Spiel durch Kompression zu vereinfachen und ähnlich wie beim Plektrumspiel spieltechnische Mängel zu maskieren. Insbesondere ein zweihändiges Legato-Spiel (»Tapping«) wird durch Verzerrung deutlich leichter, da weniger Kraftaufwand erforderlich ist. Darüber hinaus verdeutlichen die grafischen Analysen und die akustischen Werte, dass Verzerrung die Dauer der Töne verlängert. Nicht nur schwingen die Teiltöne aufgrund der Kompression länger aus, auch setzt der Ton früher ein, was die Töne mit weniger oder kürzeren Pausen verbindet. Mit einer unverzerrten oder akustischen Gitarre braucht es deutlich mehr Anstrengung, um einen solch flüssigen Klang zu erzielen.

Diskussion und Fazit Der Beitrag untersuchte die Auswirkungen von Verzerrung auf die Spielbarkeit der E-Gitarre unter besonderer Berücksichtigung des »Shreddings«, dem schnellen Solospiel. Während wissenschaftliche Studien (vgl. Walser 1993: 57ff.; Weissberg 2010: 99f.) die begünstigenden Effekte dieses Sounds auf ein virtuoses Solospiel im Rock und Metal bislang nur vermuteten, zeigte die Inhaltsanalyse der Musikerforen viele Facetten des verzerrten Gitarrenspiels; sie betonte aber auch die vereinfachende Wirkung. Die seltenen Ausführungen zur Verzerrung in der instrumentalpädagogischen Literatur, die an dieser Stelle nicht näher beschrieben werden können (vgl. Herbst 2016: 239-255), beschränken sich ebenfalls weitgehend auf die Vereinfachung, weshalb mehrheitlich das Üben mit einem unverzerrten Sound empfohlen wird (vgl. Culpepper 1996: 2; Govan 2003: 18).

146

VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL Die Ergebnisse der Fallanalysen liefern akustische Belege für die spielvereinfachende Wirkung der Verzerrung, hauptsächlich aufgrund von Kompression, mehr Sustain sowie der veränderten Hüllkurve. Viele Spieltechniken wie Wechselschlag, Sweeping, künstliche Obertöne, Hammer-On, PullOff und Zweihand-Tapping profitieren von den akustischen Veränderungen, andere hingegen, etwa ein kontrolliertes Feedback, hängen sogar davon ab (vgl. Herbst 2016: 143-237). Da es vor allem beim Wechselschlag als der Standardtechnik des Melodiespiels schwer ist, die Hände beim »Shredding« zu synchronisieren, verhilft Verzerrung dem Spiel zu einem flüssigeren und gleichmäßigeren Klangeindruck. Die Töne verbinden sich, Lautstärkeunterschiede und Akzente werden reduziert und überdies findet eine Angleichung der Spieltechniken statt, sodass mangelnde oder fehlerhafte Phrasierungsfähigkeiten weniger auffallen. Einige dieser Folgen der Verzerrung wurden von den Gitarristen in den Foren kritisch diskutiert. Selbst wenn den Ergebnissen zufolge das schnelle Spiel durch Verzerrung begünstigt wird, dürfen die in den Foren ebenfalls genannten Herausforderungen nicht außer Acht gelassen werden. Einige der Schwierigkeiten werden auch in den wenigen instrumentalpädagogischen Texten betont: »a heavily overdriven amp is a frisky beast, and the slightest of accidental hand movements at your end can turn into an enormous and unpleasant racket by the time it reaches the speakers. In a context like this, you have to be more conscious than ever of damping all unwanted strings, just to make sure that there's a difference in volume level between when you're playing and when you're not« (Govan 2003: 26). Zusätzlich zum Verstärkerrauschen erzeugt die Kompression einen intensiven Geräuschuntergrund, wodurch selbst kleinste Schwingungen von nicht gespielten Saiten im Gesamtklang auffallen (vgl. Einbrodt 1997: 175) und sogar die gespielten Töne überdecken können. Vor allem kurze Spielpausen aber auch gegriffene Töne können durch Rückkoppelungen zum Problem werden (vgl. Govan 2003: 19). Rock- und Metal-Gitarristen müssen deshalb zu Experten der klanglichen Kontrolle werden, damit das Gespielte klar bleibt und Nebengeräusche nicht im Bandzusammenklang auffallen (vgl. ebd.: 18). Einerseits müssen nicht gespielte Saiten gedämpft werden. Das geschieht vor allem mit dem Zeigefinger der Greifhand, der durch leichte Berührung diese Saiten am Schwingen hindert. Andererseits muss die Anschlagshand die Schwingung von tieferen Saiten unterdrücken, während die höheren Saiten gespielt werden (vgl. Baxter 2002: 65f.). Die Ausführung erfordert eine gute Synchronisation mit der Greifhand (vgl. Govan 2003: 26) und einen kontrollierten Druck auf die entsprechenden Saiten am Steg, da-

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JAN-PETER HERBST mit die gespielten Töne nicht versehentlich abgedämpft werden (vgl. Baxter 2002: 65). Eine andere Konsequenz der Verzerrung, die in den Forenbeiträgen kaum zum Ausdruck kam, ist die eingeschränkte Dynamik, die sich negativ auf die Ausdrucksfähigkeit auswirken kann. Das Spiel mit einem verzerrten Sound erfordert mehr Aufwand, um Akzente und Phrasen dynamisch zu gestalten. Hinzu kommt, dass ein Crescendo in Abhängigkeit vom Verzerrungsgrad weniger die Lautstärke erhöht, sondern eher die Klangfarbe verändert (vgl. Govan 2003: 29). Ein kräftigerer Anschlag führt zu stärkerer Verzerrung mit mehr Obertönen und Geräuschanteilen. Dahingegen produziert ein sanftes Anschlagen einen wärmeren Klang (vgl. Einbrodt 1997: 170ff. und 210f.). Folglich muss der Verzerrungsgrad während des Spiels mit dem Lautstärkeregler des Instruments flexibel eingestellt werden, um ein größeres Dynamik- und Klangspektrum zu erreichen. Das Beherrschen solcher Fertigkeiten unterscheidet vermutlich den »wahren« Virtuosen vom »nur schnellen« Spieler (vgl. Reimer 1972: 572f.). Das Abdämpfen (»Palm Mute«) ist eine wichtige Artikulationstechnik für ein dynamisches Spiel. Es verringert den charakteristischen flüssigen Klangeindruck der Verzerrung, ohne die Wirkung der Kompression zu reduzieren. Ein kraftvoller perkussiver Klang resultiert daraus, der je nach Druck und Position der Hand höhen- oder bassbetonter ist (vgl. Govan 2003: 25). Allerdings muss der Spieler zur Vermeidung unsauberer Intonation gleichzeitig darauf achten, die Tonhöhe nicht zu verändern (vgl. ebd.). In schnellen Sololäufen kann die bewusste Auswahl abgedämpfter und offen gespielter Töne zur Betonung einzelner Melodietöne genutzt werden, was jedoch viel Kontrolle erfordert. Bevorzugt wird die Dämpftechnik auf den tiefen Saiten angewandt, da dies die klare Trennung der tiefen Töne beim schnellen Spiel begünstigt (vgl. Herbst 2016: 243). Die Glättungswirkung der Verzerrung wird reduziert, was ein synchroneres Spiel beider Hände sowie die Klanggestaltung durch die Anschlagshand notwendig macht. Diese Vorgehensweise ist weniger ein Zeichen besonderer Virtuosität, sondern vielmehr ein Erfordernis für einen differenzierten Sound. Dennoch ist auch nicht-abgedämpftes Spiel nicht einseitig mit vereinfachtem Spiel gleichzusetzen, da die verzerrungsbedingte Betonung des Höhenbereichs die Klarheit der Artikulation verbessert und ein nicht-synchrones Spiel beider Hände auffallen würde (vgl. Govan 2003: 20). Ein weiterer Unterschied zwischen den Sounds ist in der verlängerten Tondauer der verzerrten Gitarre begründet. Dieses Phänomen kann zwar eine mangelnde Synchronisierung zwischen beiden Händen maskieren; einerseits ist es aber schwieriger, die Töne rhythmisch genau abzustoppen,

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VIRTUOSES GITARRENSPIEL IM ROCK UND METAL und andererseits führen überlappende Töne nicht nur zu wenig angenehmen Schwebungen, sondern reduzieren auch die Klarheit der Melodie. Beim Sweeping ist dies besonders problematisch (vgl. Govan 2002a: 63), wie es einige Aussagen in den Foren bestätigen. Die Verzerrung kann in mancherlei Hinsicht die Expressivität einschränken oder zumindest die Phrasierung erschweren, dennoch muss ihr zugestanden werden, dass sie viele gitarrenspezifische Spiel- und Ausdrucksweisen in den Genres Blues, Rock und Metal geprägt hat (vgl. Waksman 2003a: 114f.; Herbst 2016: 143-237). Nach Walser (1993: 42) und Jauk (2009: 268f.) nähert sich die verzerrte Gitarre der Gesangsstimme an, indem die Klangfarbe eine Ähnlichkeit mit einem rauen Stimmtimbre erhält. Ebenso erweitern sich bestimmte Phrasierungsmöglichkeiten. Bspw. kommen das Saitenziehen (»Bending«) wie auch intensivere Formen des Vibratos durch das verlängerte »Sustain« besser zur Geltung (vgl. Herbst 2016: 178ff.). Die Wahl des Tonabnehmers und die Anschlagsposition ermöglichen es außerdem, verschiedene Vokalklänge in Abstimmung mit dem Volumenregler zu imitieren (vgl. Traube/Depalle 2004). Die Spieltechnik kombiniert mit der Soundgestaltung am Instrument bewirkt eine Klangfilterung wie ein Equalizer (vgl. Jauk 2009: 268). Dieser Effekt kann durch ein Wah Wah-Pedal noch intensiviert werden, wenngleich auch diese Art der Klanggestaltung sensibel auf den Grad der Verzerrung reagiert (vgl. Herbst 2016: 181ff.). Selbst das Gesangsfalsett kann durch künstliche Obertöne und Feedback imitiert werden (vgl. ebd.: 178ff.). So folgert Gitarrenvirtuose Christopher Amott, dass sich das unverzerrte deutlich von einem verzerrten Gitarrenspiel unterscheidet: »distortion is almost an instrument in itself [...]. There are many beautiful tones and effects you can get from it, as all the little details of your playing, like pick scrapes and overtones come through stronger than if you were to play with a clean sound« (zit. n. ebd. 2016: 321). Nach vorausgegangener Betrachtung kann resümiert werden, dass die Vorstellung von Verzerrung als eine rein vereinfachende und somit potenziell »betrügende« Klanggestaltung im Sinne des virtuosen »Shreddings« als zu kurz gegriffen scheint. Diese Erkenntnis wird in den regen Forumsdiskussionen untermauert, wo die Verzerrungsbefürworter stets die Herausforderungen betonen, wenngleich sie mehr die Nebengeräusche thematisieren als die Schwierigkeiten einer artikulierten Phrasierung zu benennen. Vor allem Anfänger sehen sich mit dem Problem konfrontiert, verzerrungsbedingte Nebengeräusche zu kontrollieren. Darin stimmen die musik- und inhaltsanalytischen Ergebnisse überein. Von Verzerrung profitieren vor allem fortge-

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JAN-PETER HERBST schrittene Spieler, denn die Auswirkungen dieses Sounds erlauben insbesondere in der »Shred-Spielweise« ein schnelleres, aber nicht zwangsläufig ein saubereres Spiel. Ein hohes Maß an Kontrolle wird jedoch benötigt, um die teilweise eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten auszugleichen und detaillierte Klangnuancen phrasieren zu können (vgl. Govan 2003: 18ff.). Daher ist es auch entgegen vieler Ratschläge (vgl. Culpepper 1996: 2) sinnvoll, ja gar notwendig, mit und ohne Verzerrung zu üben, um sowohl die saubere Ausführung sicherzustellen als auch das expressive Potenzial dieses Sounds bestmöglich zu nutzen. »Wahre« Virtuosen wie bspw. Eddie Van Halen, Paul Gilbert, Steve Morse, John Petrucci, Joe Satriani oder Steve Vai sind sich der Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten bewusst und können diese gezielt in schnellen wie in langsamen Phrasen einsetzen. Folglich sollten die vielfältigen gestalterischen Möglichkeiten, die Verzerrung bietet, von »ShredGitarristen« erkannt werden. Daher wäre es wünschenswert, wenn sich der Fokus vom rein negativen Image des »Cheatings« zum expressiven Potenzial hin verlagern würde. Virtuoses E-Gitarrenspiel erfordert ungeachtet des Verzerrungsgrads einerseits die volle Kontrolle über das Instrument. Gleichzeitig müssen andererseits die speziellen Ausdrucksweisen mit verschiedenen Sounds für die Umsetzung der musikalischen Intention beherrscht werden.

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Abstract »Shredding«, the fast and virtuous guitar playing, is a central stylistic element of many rock and metal music genres. Previous research has claimed distortion to increase the guitar's potential as a virtuoso solo instrument but acoustic evidence is still missing. Apart from this academic desideratum, distortion is lively debated in online musicians' boards for its supposed »cheating« effect. This study aims at investigating distortion's effect on the electric guitar tone and its consequences for virtuoso playing. After a qualitative content analysis of discussions in online boards, an analytic case study of two guitar solos examines distortion's effect on musical performance. The findings confirm distortion's simplifying effect whilst also highlighting challenges less commonly considered in research, journalism, and performance practice.

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»N A V I G A T E Y O U R S E T «. Z U R V I R T U O S I T Ä T V O N DJ S Lorenz Gilli »We all hit play« — mit diesen Worten beginnt Joel T. Zimmerman einen BlogEintrag im Jahr 2012. Zimmerman, besser bekannt als Deadmau5 (sprich: deadmaus), tritt mit diesem eine Diskussion um Live-Praktiken in der Electronic Dance Music (EDM)1 und die Relevanz des Beatmatching2 als technische Fertigkeit von DJs3 los (Deadmau5 2012, vgl. Attias 2013). Für den hier vorliegenden Beitrag habe ich dieses Statement als Startpunkt meiner Überlegungen genommen: Wenn DJs wirklich nur den Start-Knopf drücken, was sind dann die Fertigkeiten, die ein DJ haben muss und die dann so kunstfertig wie möglich — oder eben: virtuos — auszuführen sind? Damit meine ich nicht Fähigkeiten, die feiernden Massen verbal oder gestikulierend zu animieren, oder die Geschicklichkeit beim Selbstmanagement und bei der Selbstvermarktung oder die Kunstfertigkeiten als Studio-Produzent von EDM. Ich beziehe mich nur auf jene Aspekte, welche die musikalischklangliche Darbietung des DJing betreffen. Unter DJing verstehe ich das Ab1

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»Electronic Dance Music« (EDM) verwende ich, wie in der wissenschaftlichen Literatur üblich, als Überbegriff für eine Vielzahl von Genres wie House, Techno, Trance, Drum'n'Bass, Dubstep u.v.m. Im medialen Diskurs damit — oftmals abwertend — ein kommerziell ausgerichtetes Sub-Genre gemeint ist (vgl. Rietveld 2013a: 2), das ich (mit Holt 2017) als »EDM Pop« bezeichne. Zum Begriff »Beatmatching« siehe Abschnitt 2. Fachbegriffe aus der Praxis und Kultur DJs (wie Beatmatching, Routine, Turntablism, Mixing, Programming etc.) verwende ich in der englischen Form, des Schriftbildes wegen aber werden sie bei Verwendung als Subjektiv groß geschrieben. Bei Verwendung in englischsprachigen Zitaten bleibt die Schreibweise wie im Original. »DJ« leitet sich aus dem engl. Begriff »disk jockey« ab, ist aber mittlerweile fast nur mehr in der abbrevierten Form anzutreffen. Der Lesbarkeit halber wird der Begriff nur in seiner männlichen Form verwendet — leider entspricht eine männliche Dominanz in dieser Berufsgruppe auch empirisch den Tatsachen (vgl. Female Pressure 2013). Der Begriff »DJane« für weibliche DJs ist umstritten und wird daher von mir nicht verwendet — ggf. wird bei Relevanz der geschlechtlichen Identität des DJs der Begriff um »weiblich« bzw. »männlich« ergänzt.

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LORENZ GILLI spielen und Mischen von medientechnisch fixierten Musik- und Klangstücken, die größtenteils von anderen Personen geschaffen wurden und die vom DJ vor Live-Publikum dargeboten werden. Der DJ ist hier also begrifflich strikt abzugrenzen von Akteuren, die v.a. ihre eigene Musik aufführen und die in der Literatur und Praxis als »Live-Act«, »Live-PA« oder »laptop performer« bezeichnet werden (vgl. Butler 2014: 6f.). In den Texten, auf die im Folgenden referiert wird, fällt auf, dass einige der Autoren (Katz 2010; Veen/Attias 2011; Attias 2013; Reynolds 2013; Schüttpelz 2015) explizit die Begriffe »Virtuose« oder »Virtuosität« nutzen, jedoch eine Diskussion und Definition der Begriffe umgehen. Umgekehrt verweist Peter Wicke (2004) deutlich auf einige Kontinuitäten des Begriffs, nutzt ihn aber für die populäre Musik auffallend vorsichtig. Dennoch weist er darauf hin, dass die Abwesenheit des Begriffs Virtuosität nicht auch die Abwesenheit der entsprechenden Fertigkeiten bedeute. Dieser zurückhaltenden Anwendung des Begriffs in der populären Musik möchte ich mit diesem Beitrag bewusst entgegentreten und für eine Ausweitung des Konzepts auf die DJ-Kultur plädieren. Außerdem möchte ich dem von Hanns-Werner Heister (2004: 29/38) formulierten Desiderat der Ausdifferenzierung des Begriffs für unterschiedliche Musikkulturen, hier konkret: der DJ-Kultur, nachkommen. Als theoretische Ausgangslage für den Virtuositätsbegriff dient mir u.a. ebendieser Text »Zur Theorie der Virtuosität. Eine Skizze«, in der Heister sieben Dimensionen von Virtuosität unterscheidet. Zusammenfassend könnte man musikalische Virtuosität bei ihm verstehen als jeweils sozial, historisch, technisch, kulturell und lokal bestimmte Höchstleistung von Spezialisten, die darin besteht, eine besondere und als solche erkennbare Schwierigkeit bei der Reproduktion eines musikalischen Werkes mit scheinbarer Mühelosigkeit und als materiell-technische Ausführung von zugrunde liegenden künstlerisch-geistigen Prozessen zu bewältigen. Anhand dieser begrifflichen Basis werde ich die Praktiken und Fertigkeiten des DJs untersuchen. Damit möchte ich zu einer Erweiterung oder Neuausrichtung des Konzepts der Virtuosität beitragen, die die Spezifika der DJ-Kultur und der Elektronischen (Tanz-)Musik mit berücksichtigt und somit einer Aktualisierung des Begriffs für zeitgenössische populäre Musik dient. Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten werde ich auf unterschiedliche kulturelle Ausformungen des DJs und insbesondere auf die damit verbundenen unterschiedlichen Inszenierungen des DJs eingehen. Hier werden insbesondere die Aspekte der kulturellen Bedingungen und der Sichtbarkeit bzw. Erkennbarkeit der Schwierigkeit angesprochen. Im zweiten Teil werde ich eine zentrale Fertigkeit des DJs, das Mixing, erläutern und im Besonderen auf den medialen Diskurs um die Mix-Technik des Beat-

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS matching sowie dessen Relevanz für das DJing im digitalen Zeitalter eingehen. Hier steht grundlegend die Frage nach der Existenz und der Ausprägung der Schwierigkeit sowie ihrer scheinbar mühelosen bzw. risikoreichen Ausführung im Fokus. Im dritten und letzten Teil schließe ich eine theoretische Betrachtung an, inwiefern die aufgeworfenen Argumente praxistheoretisch und kulturanthropologisch zu belegen und zu rahmen sind. Diese Betrachtungen erweitern das Spektrum der Praktiken auf die zweite zentrale Fertigkeit des DJs, das Programming. Dieses umfasst v.a. die Auswahl der Tracks und den dramaturgischen Aufbau des gesamten DJ-Sets, womit die Dimension der materiell-technischen Ausführung von zugrunde liegenden künstlerisch-geistigen Prozessen in den Mittelpunkt rückt. Zum Abschluss dieser Einleitung möchte ich mich selbst als Forscher im Feld positionieren und damit dem Leser meine eigene Herangehensweise an das untersuchte Phänomen aufzeigen. Dies scheint mir insbesondere aufgrund der Tatsache wichtig, dass ich das Phänomen nicht nur als kulturwissenschaftlich orientierter Medienwissenschaftler, sondern auch als Person mit Erfahrungen als DJ und Tänzer, vor allem in der Goa- und TechnoSzene, betrachte. Daher fließen meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen als DJ und Tänzer ebenso in die Thematik ein.

1. Inszenierung des DJs Wenn ich Personen in meinem Umfeld erzählt habe, dass ich mich für einen Vortrag mit der Virtuosität von DJs beschäftige, dachten viele zuerst an die so genannten Turntablists und ihre beeindruckenden Mix-Techniken.4 Das ist kaum überraschend, da bei diesen Praktiken die bewusste Zurschaustellung der spieltechnischen Fertigkeiten prägnant hervortritt. Dieses Element identifizieren Heister (2004: 22ff.) und Wicke (2004: 235) als konstitutiv für Virtuosität. Der Begriff »Turntablist« bzw. »Turntablism« wurde 1995 von DJ Babu geprägt und bezeichnet jene Art von DJing, bei der mit den Schallplatten und dem darauf gespeicherten Klang, in Verbindung mit der Reproduktionstechnologie des Plattenspielers, neue Klänge und neue Musik erschaffen wird: Turntablists »are what I would call performative DJs, who manipulate

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Vgl. bspw. die Videos auf www.youtube.com/DMCworldchamps (Stand vom 3.1. 2017).

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LORENZ GILLI recordings in live performance, transforming bits of preexisting recorded sounds into wholly new music« (Katz 2010: 125).5 Am anschaulichsten wird diese Neuschöpfung bei der Technik des Scratching: Scratches sind die rhythmischen Bewegungen des Plattentellers bei aufliegendem Tonarm und die dadurch produzierten, kratzigen Geräusche, die einerseits als rhythmische Erweiterung des zugrundeliegenden Grooves, andererseits als solistische Einzelleistung des DJs eingesetzt werden können (vgl. Rappe 2010, Tb. I: 161). Der dadurch entstehende Klang lässt u.U. den ursprünglichen Klang, aus dem der Scratch erwächst, nicht mehr erkennen. Neben dem Scratching sind die grundlegenden Techniken des Turntablism das Beatmatching (siehe Abschnitt 2) und das Breakbeating, bei dem einzelne rhythmische Passagen wiederholt, aneinandergereiht, geschichtet oder verschoben werden, sodass ein kontinuierlicher Rhythmus oder auch völlig neue rhythmische Pattern entstehen (vgl. ebd.; Rappe 2010, Tb. II: 133ff.).6 Turntablism stellt mit seiner bewussten Zurschaustellung artistischer Techniken eine Teilmenge des DJing in der HipHop-Kultur dar, die daneben auch das DJing im Club, im Radio und als Produzent umfasst. Die »DJBattle« genannten Wettkämpfe sind eine Unterart des Turntablism, bei denen von einer Jury und/oder dem Publikum ein Sieger bestimmt wird: »Once on stage, the battle DJ has a scant few minutes to demonstrate his (and occasionally her) virtuosity, originality, and crowd appeal. Battle routines are therefore rarely leisurely affairs, and aspire to demonstrate every facet of the turntablist's art, from boasting and dissing to scratching and beat juggling« (Katz 2010: 133). Sowohl DJ-Battles im Speziellen als auch Turntablism-Veranstaltungen generell sind nicht als Tanzveranstaltung für ein Publikum intendiert: »The tempos, timbres, textures and rhythms change every few seconds; what would clear a dance floor in record time (so to speak), instead draws the rapt attention and enthusiastic applause cheers of the crowd. (I can always tell newcomers to a turntablist showcase when they try, always unsuccessfully, to dance)« (Katz 2014). DJ-Battles und Turntablism unterscheiden sich von anderen, als Tanzmusik konzipierten Veranstaltungsformaten in mehrfacher Hinsicht. Am auffälligs5

6

In diesem und allen folgenden Zitaten führe ich Hervorhebungen sowie Schreibund Tippfehler wie im Original an; der mitunter sehr häufig zu setzende Hinweis »[sic!]« entfällt so. Nur bei vom Original abweichender Darstellung weise ich explizit darauf hin. Für eine detaillierte Erläuterung der Techniken des Mixing und der Klangmanipulation siehe Rappe (2010) oder Broughton/Brewsters (2002), spezifisch für das Scratching: Hansen (2010) oder Sonnenfeld (2011).

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS ten ist die Länge der Performance: während die Performance eines BattleDJ nur wenige Minuten dauert, spannen sich DJ-Sets im HipHop und in der EDM über mehrere Stunden. Die Zusammenstellung der Tracks bzw. der Fragmente daraus und deren kunstfertige Kombination und Manipulation bei DJ-Battles wird als Routine bezeichnet, während im Club-Kontext vom Set oder DJ-Set gesprochen wird (vgl. Butler 2006: 202-254; 327).7 Diese Routines sind sehr stark geplant und einstudiert, wodurch kaum Raum für Improvisation bei der Performance bleibt. Allerdings wird im Vorfeld viel Zeit und Recherche darauf verwendet, die Routine auf das jeweilige Event und die einzelnen Gegner anzupassen. Nach Katz (2010: 136) ist die Originalität der wichtigste der drei genannten Faktoren. Nach Heister ist Originalität jedoch als Bestandteil von Virtuosität zu denken. Für ihn ist Virtuosität gekennzeichnet durch den Doppelcharakter der technischen Perfektion: aus Üben und Wiederholen — fast bis zur Automatisierung — einerseits, und durch Ausprobieren und Experimentieren, durch »Veränderung des jeweils Neuen« andererseits (Heister 2004: 17). Darüber hinaus geht es bei DJ-Battles darum, in der kurzen Zeit alle möglichen Facetten des Könnens zu zeigen — die bewusste Darstellung der Kunstfertigkeiten ist ein essentieller Bestandteil. Diese zu bewerten fällt jedoch oft schwer, da nur durch Zuhören die Routines oft nicht hinreichend verstanden und ihre Komplexität und ihr Anforderungsniveau nicht erkannt werden können. Die visuelle Information ist essentiell und wird von den DJs bewusst betont, teilweise durch sogenannte »body tricks« auch überbetont. Deren Einsatz als reines Show-Element ist umstritten und wurde seit den 1990er Jahren zugunsten einer höheren Musikalität wieder vermindert (vgl. Katz 2010: 135f.). Die Abgrenzung von Virtuosität als Meisterung einer echten technischen Schwierigkeit von einer effektvollen, aber bloß scheinbaren Schwierigkeit sieht Heister als besonders wichtig an und bezeichnet letzteres als »warenästhetische[n] Schein« und »Schatten« der Virtuosität (Heister 2004: 24). Battle-DJs sind sich also dieses Aspekts durchaus bewusst und reagieren sensibel auf Entwicklungen hin zu einem bloßen Schein von Virtuosität. Die elaborierten Praktiken des Turntablism können aber auch als artistisches Element im Rahmen von längeren DJ-Sets oder Club-Nächten, also bei Tanzveranstaltungen für ein Publikum, eingesetzt werden. Bei derartigen Tanzveranstaltungen in Clubs oder bei Festivals ist die primäre Aufgabe des 7

Im HipHop-Kontext wird mit »DJ-Set« hingegen das Equipment des DJs bezeichnet, das in seiner Grundform aus zwei Turntables, einem Mischpult und Schallplatten als Klangquelle besteht (vgl. Rappe 2010, Tb. I: 222).

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LORENZ GILLI DJs, den Anwesenden eine musikalische Basis zum Tanzen zu bieten. Dies gilt prinzipiell für alle Formen und (Sub-)Kulturen zeitgenössischer populärer Dance Music. In Bezug auf sozio-kulturelle und musikalisch-ästhetische Einbettung in eine bestimmte (Sub-)Kultur, auf die visuelle Inszenierung des DJs sowie die ökonomische Ausrichtung unterscheiden sich die diversen Veranstaltungen enorm, wie ich im Folgenden kurz aufzeigen werde. Jan Kühn (2013: 167ff.) formuliert aus soziologischer Perspektive im Anschluss an Pierre Bourdieus »kulturelle Felder« und Sarah Thorntons »subkultureller Hierarchie« eine Opposition zwischen subkulturellen und massenkulturellen Szenen. Subkulturelle Szenen sind durch aktiv-produzierende Teilnahme der Szeneakteure und durch kleinwirtschaftlich strukturierte, oftmals nicht auf Profit, sondern Kostendeckung ausgerichtete Szenewirtschaft gekennzeichnet. Musik und Feierkultur stellen dabei den finalen Zweck dar. Die Größe der Veranstaltungen liegt typischerweise zwischen 150 und 2000 Menschen. Oftmals wird ihr »familiärer« Charakter betont, durch den über ähnliche Interessen und anschlussfähige soziale Hintergründe die Homogenität der Gruppe hergestellt wird. Lokalitäten, in denen solche Veranstaltungen ausgerichtet werden, bezeichnet Kühn als »Clubdisco« (ebd.: 175). Aufgrund der verbreiteten Terminologie des »Club« und entsprechend des »Club DJ« (Fikentscher 2013: 125) bzw. »Club-DJ« (Wicke 2004: 237) verwende ich den Begriff »Club« in diesem, von Kühn formulierten Sinne. Kühns Feststellung, dass es sich nicht um herkömmliche Clubs mit verbrieften Mitgliedschaften und regelmäßigen Beiträgen handelt, sei hier explizit erwähnt (vgl. Kühn 2013: 175). Als typische Beispiele können die Berliner Clubs wie »Berghain« oder »about: blank« angeführt werden. Den subkulturellen Szenen diametral gegenüber stehen bei Kühn die massenkulturellen Szenen, die »wesentlich nachfrage- und kapitalorientierter« (ebd.: 169) handeln. Die Akteure sind oftmals szenefern, richten sich an eine möglichst große Zielgruppe und zielen auf Profitgenerierung ab. Deswegen orientiert sich die musikalische Ausrichtung nicht an ästhetischen sondern kommerziellen Parametern (vgl. ebd.). Die konträren Veranstaltungsformen zum Club sind die Discotheken und Volksfeste: »Beliebige und undefinierte Menschenmassen, ob jung oder alt, tanzen zu populären Stücken der Musikindustrie aus Radio, Fernsehen und Charts, dem ›Besten der 70er, 80er und 90er‹« (Kühn 2013: 172f.). Ähnlich wie Kühn spricht auch Holt (2017) von Underground, und grenzt ihn gegen EDM Pop ab. Underground versteht er mit Bezug auf Richard Peterson (1997) als harten Kern der Genres (»hard core«) und EDM Pop als weiche Hülle (»soft shell«), bei der die Musik mit popmusikalischen Elementen angereichert wird, um sie einer größeren Anzahl von Menschen zugäng-

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS lich und damit kommerziell erfolgreicher zu machen (vgl. Holt 2017: 4). Holt begreift EDM Pop, ähnlich wie Kühn, als »mass culture entertainment«, dessen ästhetische und inszenatorische Kernaspekte »theme park designs«, Feuerwerke und Bombast sind (ebd.: 3). EDM Pop-Festivals, die er untersucht und die als typische Beispiele gelten, sind »Tomorrowland« (Belgien, seit 2015 auch Brasilien) oder »Electric Daisy Carnival« und »Ultra Music« (beide USA). Hillegonda Rietveld bezeichnet solche Festivals und Inszenierungsstrategien mit Rückgriff auf Guy Debord als »Spektakel«, bei denen der DJ auf einer hohen Bühne platziert und in Licht gebadet wird. Der DJ bekommt nicht nur auditiv, sondern auch visuell eine hohe Aufmerksamkeit und wird als »god-like creative Frankenstein« (Rietveld 2013b: 80) gefeiert. Diese Art von Inszenierung des DJs wird als »Stadium-DJ«, »Arena-DJ« (ebd.) oder »Superstar DJ« (Hall/Zukic 2013: 106) bezeichnet. Die hier aufgezeigten Oppositionen sind in der Praxis in vielerlei Mischformen zu finden. Daher sind diese als theoretisch gefasste Extrempole zu verstehen – die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Veranstaltungen und insbesondere der Inszenierungen und der Praktiken des DJs, auf die ich in diesem Beitrag noch genauer eingehen werde, bewegen sich entlang einer Linie, die zwischen den beiden Extrempolen gedacht werden kann.

1.1. Sichtbarkeit und Erkennbarkeit Durch die Positionierung des DJs auf einer spektakulär visuell inszenierten und hoch erhobenen Bühne wird nicht nur eine hohe Sichtbarkeit der Person gewährleistet, sondern auch eine strenge Hierarchie zwischen Publikum und DJ etabliert (vgl. Rietveld 2013b: 80). Auch wenn aufgrund der Größe der Veranstaltung die Sichtbarkeit nicht unbedingt mit Erkennbarkeit gleichzusetzen ist, in symbolischer Form ist sie jedenfalls vorhanden. In den so genannten »Underground«-Clubs hingegen kommt eine solche Hierarchie aufgrund der Ideale der Partizipation und Familiarität gar nicht oder nicht in diesem Maße vor. Im Gegenteil: In diesen gilt ein unsichtbarer oder zumindest nicht so stark im Vordergrund stehender DJ als Ideal (vgl. ebd.: 81ff.; Reynolds 2012). Die Sichtbarkeit ist Grundbedingung für einen zentralen Bestandteil von Virtuosität, nämlich das »Ausstellen spieltechnischer Fertigkeiten und [der] zelebrierte[n] Veräußerlichung dieses Aspekts bis hin zum Sportlich-Zirzensischen« (Wicke 2004: 235). Heister betont zudem, dass die Beherrschung der Schwierigkeit auch als solche erkannt werden muss. Darüber hinaus stellt sich das Problem, dass die Virtuosität für den Laien und den Professionellen gleichermaßen als solche erkennbar sein soll, was Heister als »strukturelles

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LORENZ GILLI Binnenproblem der Virtuosität« bezeichnet. Er unterscheidet zwischen einer exoterischen, also für alle erkennbaren, und einer esoterischen, also nur für Experten oder gar den Virtuosen selbst erkennbaren Virtuosität (Heister 2004: 22f.). Der Turntablist ist also eher ein exoterischer Virtuose: auch wenn nicht immer alle Ausführungen und Manipulationen verstanden und nachvollzogen werden können, so ist doch zumeist ein Gesamteindruck von Virtuosität auszumachen, dem mit den Strategien der »body tricks« — sofern maßvoll eingesetzt — nachgeholfen werden kann. Beim Stadium- und beim Club-DJ ist die Sache anders gelagert: Während der Stadium-DJ zwar extrem sichtbar inszeniert ist, ist die Sichtbarkeit und die Nachvollziehbarkeit seiner instrumentellen oder technischen Ausführungen kaum gegeben. Beim Club-DJ wird das Problem noch einmal verschärft, wenn er nicht besonders sichtbar inszeniert wird; andererseits kann er aber aufgrund der kleineren Veranstaltungsgröße und des weniger erhöhten DJPults besser zu beobachten sein.

2. Mixing — Beatmatching Kann man trotz geringer oder nicht vorhandener Sichtbarkeit dennoch von Virtuosität sprechen? Im Folgenden werde ich am Beispiel der Mix-Technik des Beatmatching zeigen, dass auch unsichtbare Praktiken als virtuos erkannt werden können. Dabei kommt ein bisher in der Literatur wenig beleuchteter Aspekt von Virtuosität zum Tragen: das Risiko. Darüber hinaus zeigt sich am Beispiel des Beatmatching außerdem, dass Virtuosität (bzw. ein Teilaspekt: die technische Beherrschung des Instruments) diskursiv als Machtinstrument eingesetzt und als Kriterium für Ein- und Ausschlüsse genutzt wird. Das Mixing definiert Kai Fikentscher (2013: 125) als »the way a transition is accomplished from one record or track to another« und es ist neben dem Programming eine von zwei »principal skills involved in EDM DJing« (Butler 2006: 326). Fikentscher stellt damit die Gestaltung des Übergangs von einem Track zum nächsten innerhalb eines gesamten, ein- oder oft mehrstündigen DJ-Sets in den Vordergrund. Beim Turntablism hingegen steht, wie eingangs erwähnt, das kontinuierliche Hin- und Her-Blenden, das Loopen und Schichten von einzelnen Fragmenten aus mehreren Schallplatten im Vordergrund. Eine Möglichkeit, diesen Übergang zwischen zwei Tracks zu gestalten, stellt das Beatmatching dar, das in Genres wie House, Techno oder Trance häufig eingesetzt wird. Dabei erfolgt das Überblenden zwischen zwei Tracks

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS graduell, teilweise über mehrere Minuten hinweg. Auch die Manipulation der klanglichen Textur durch Filter und Equalizer erfolgt zumeist langsam, und abrupte Klangmanipulationen wie Scratchen oder ähnliches werden selten genutzt.8 Außerdem orientieren sich DJs beim Mix weniger an einzelnen Beats oder Takten, sondern an größeren Zyklen, was Butler (2006: 179ff.) als »multimeasure patterning« bezeichnet. Rietveld bezeichnet diese Art des Mixings deshalb als »Slow-Mix« und identifiziert sie als Mix-Stil, »der industriellen Techno, psychedelischen Trance und soulorientierten Garage verbindet, auch wenn sich diese Tanzmusikgenres in ihrem kulturellen Bezugsrahmen, ihrer ›Textur‹, in den bevorzugten Gegenrhythmen und im Tempo gravierend voneinander unterscheiden« (Rietveld 2001: 269). Damit grenzt sie diesen Stil von den »abrupten Cutting-Techniken« bspw. im Reggae und im HipHop ab (vgl. ebd. u. 279f.). Simon Reynolds (2013: 576f.) argumentiert ähnlich und grenzt die beiden Stile mit »smooth« und »rough« voneinander ab und beschreibt ersteren auch als »long mix«, letzteren als »much shorter«. Der Slow-Mix setzt voraus, dass die zu mixenden Tracks synchron in Bezug auf das Tempo als auch in Bezug auf den Beat abgespielt werden.9 Da in vielen Fällen das Tempo der Tracks innerhalb eines Genres zwar ähnlich, aber nicht gleich ist, erfordert dies beim Auflegen mit Vinyl ein manuelles Anpassen des Tempos: das wird als Beatmatching oder als Beat Mixing bezeichnet (Butler 2006: 325, Rappe 2010, Tb. II: 133). DJ-Plattenspieler verfügen daher über einen Regler (»pitch control«), der diese Tempoänderung ermöglicht. Beim synchronen Abspielen über eine Zeitdauer, die wenige Sekunden übersteigt, müssen die Platten immer wieder leicht nachjustiert werden, was von den DJs meistens mit einem kurzen Anschieben oder Abbremsen einer der beiden Plattenteller ausgeführt wird. Diese Synchronizität über mehrere Minuten aufrechtzuerhalten und das Mixen beider Tracks zu einem neuen Klangstück10 durchzuführen, wird als »riding the mix« bezeichnet (Butler 2006: 93). Beim DJing mit Vinyl beansprucht das Beatmatching beträchtliche Zeit und Aufmerksamkeit. DJs wie Richie Hawtin, Carl Cox oder Jeff Mills sind 8

Eine prominente Ausnahme stellt das oftmals abrupt durchgeführte Absenken und wieder Anheben der Bassfrequenzen durch den DJ dar (»withholding the beat«, Butler 2006: 91ff.). 9 Physikalisch gesprochen: synchron in Bezug auf Phase und Puls. 10 Butler bezeichnet das flüchtige Klangstück, das sich aus dem Mixen zweier Tracks ergibt und in dieser Form nicht medial fixiert existiert, als »third record« (vgl. Butler 2006: 94/243, 2014: 41ff.).

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LORENZ GILLI bzw. waren für das meisterhafte »riding the mix« oder das Mixing mit drei oder vier Plattenspielern bekannt (vgl. Veen/Attias 2011; Attias 2013: 25; Reynolds 2013: 577). Das muss insofern historisiert werden, als dass z.B. Hawtin selbst seit vielen Jahren digitale DJ-Techniken nutzt und deren technologische Weiterentwicklung mit vorantreibt (vgl. McGlynn 2016). Cox legt auch nur noch selten mit Vinyl auf: Für das Abschluss-Set seiner 15-jährigen Residency im Club »Space« (Ibiza/Spanien) nutzte er zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder Vinyl und betont den damit verbundenen nostalgischen Charakter (vgl. Turner 2016). Die Fertigkeit des Beatmatching zu erlernen und fehlerfrei zu beherrschen ist keine triviale Angelegenheit, was viele DJs und Autoren betonen und ich selbst aus eigener Erfahrung weiß. Aktuelle DJ-Software wie »Serato DJ« oder »Traktor Pro« und digitale DJ-Controller führen die Anpassung von Tempo und Beat automatisch und unmittelbar aus. Zum Aufrufen dieser Funktion gibt es meist einen Knopf, der mit »Sync« beschriftet ist. Beatmatching als für DJs essentielle Fertigkeit ist also durch DJ-Software und den berühmt-berüchtigten »Sync-Button« eigentlich hinfällig geworden. Dennoch — oder gerade deswegen? — gibt es einen großen Diskurs um und widersprüchliche Sichtweisen über das Beatmatching als unumgängliche Fertigkeit, die ein DJ haben muss. Diesen Diskurs möchte ich im Folgenden kurz aufzeigen. Einige Protagonisten lehnen Beatmatching als Kunstfertigkeit ab, wie der eingangs erwähnte Deadmau5: »›beatmatching‹ isnt even a fucking skill as far as i'm concered anyway. so what, you can count to 4. cool. i had that skill down when i was 3, so dont give me that argument please« (Deadmau5 2012). Allerdings ist Deadmau5 weniger daran gelegen, das automatisierte Beatmatching zu legitimieren. Ihm geht es laut eigener Aussage vor allem darum aufzuzeigen, dass EDM-Musiker auf der Bühne nicht »on the fly« (ebd.) neue, originale Tracks erschaffen. Vielmehr betont er, dass seine Skills dort glänzen, wo sie zu glänzen haben: im Studio und auf den Veröffentlichungen. Seine Live-Show hingegen sei sehr stark durchgeplant und mit den Licht- und Video-Elementen synchronisiert, sodass kaum Raum für Echtzeit-Aktivitäten bleibt: »[It] doesnt give me alot of ›lookit me im jimi hendrix check out this solo‹ stuff, because im constrained to work on a set timeline« (ebd.). Aus theoretischer Sicht entzieht sich Deadmau5 damit der Virtuositäts-Debatte, da der Virtuositätsbegriff fast immer an die Aufführung, nicht an die Komposition (oder in diesem Falle: Produktion) gekoppelt ist (vgl. Heister 2004: 27ff.; Wicke 2004: 235; Lösch 2004: 12). Allerdings findet im Diskurs eine Vermengung der Begriffe »DJ« und »Laptop-Performer« statt — sowohl im Statement von Deadmau5 als auch in den Kommen-

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS taren, wo scheinbar jeder, der EDM vor Live-Publikum aufführt, als DJ bezeichnet wird. In ebendiesen Diskursen wird das Beatmatching immer wieder als Maßstab dafür herangezogen, ob sich jemand als DJ qualifiziert oder nicht, unabhängig davon, ob es sich um einen Laptop-Performer oder einen DJ handelt. Die kreative Fülle an Verunglimpfungen des Sync-Buttons bzw. der DJs, die sich auf ebenjenen beim Mixing verlassen, wird offenkundig, wenn man eine Suchmaschinen-Anfrage mit dem Begriff »Sync Button« oder »Sync Button Meme« durchführt. Diese Verunglimpfungen basieren auf dem Gedanken der meisterhaften Beherrschung des Instruments, einem Aspekt von Virtuosität, den neben Heister (2004: 17) auch Wicke (2004: 233) und Hans-Georg von Arburg (2006: 102) als zentral für Virtuosität ansehen. Die Nutzung des Sync-Buttons zur automatischen Tempo-Synchronisation wird im Diskurs als illegitime Möglichkeit des Umgehens dieses technischen Aspektes, als ›Schwindeln‹, angesehen. Das Auflegen mit Turntables und Vinyl hingegen (so die implizite Argumentation) würde den Schwindler entlarven und somit die Spreu vom Weizen trennen, wie bspw. in diesem Internet-Mem des Blogs DJWORX ersichtlich ist.

Abbildung 1: Internet-Mem (Settle 2015)

Hier dient also die virtuose Beherrschung des Instruments als Abgrenzungsund Ausschlussmerkmal gegenüber anderen, vermeintlich nicht-virtuosen DJ-Praktiken und gegenüber jenen Personen, die diese Praktik nicht zuverlässig beherrschen. Andererseits wird aber durch das diskursive Aufrechterhalten des Beatmatching als vermeintlich notwendige Bedingung eine künstliche Virtuosität

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LORENZ GILLI konstruiert, die aufgrund der Digitalisierung keine praktische Notwendigkeit mehr besitzt. Eine ähnliche Feststellung macht Wicke hinsichtlich der LivePerformance von Rockgitarristen: »Lässt das musikalische Material [...] eine Demonstration der spieltechnischen Fertigkeiten nicht zu, so werden erschwerende artistische Elemente in die Show eingebaut, die einen maximalen Körpereinsatz verlangen und allein dadurch selbst eine simple Spielfigur zu einer spieltechnischen Meisterleistung machen« (Wicke 2004: 237). Als Beispiele führt Wicke unter anderem den Entengang von Chuck Berry oder das Gitarrenspiel von Jimi Hendrix mit Zähnen, Ellbogen und Zunge an. Auch die Body Tricks der Turntablists stellen teilweise eine solche bewusst eingesetzte Hürde dar (vgl. Katz 2010: 135). Allerdings betont Wicke (2004: 238), dass es sich dabei nicht um »Mätzchen« handelt, sondern dass diese artistischen Elemente Teil einer ritualisierten Performance-Strategie sind, die einen wichtigen Teil der gesamten Konzerterfahrung, des gesamten Rituals Rockkonzert, darstellt. Analog kann man das Beatmatching und das Auflegen mit Vinyl als eine eigene Performance-Strategie der DJ-Kultur ansehen — auch wenn diese von vielen mittlerweile als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird. Das Auflegen und Beatmatching mit drei oder vier Plattenspielern wäre dann noch eine Steigerung dieser Virtuosität. Außerdem wird bei Verwendung von Plattenspielern und Vinyl das Problem der Sichtbarkeit der manuellen Live-Praktiken reduziert, da hier die Praxis des DJs leichter sichtbar und nachvollziehbar ist als beim DJ mit Laptop, DJ-Software und Hardware-Controller.11 Insgesamt gesehen sind DJs nie so sichtbar und damit ihre Virtuosität nie so offen ausgestellt wie bspw. Rockgitarristen oder Geigenvirtuosen wie Nicoló Paganini. Turntables, die man sich ähnlich wie eine Gitarre umhängen kann (vgl. Claudius 2016), werden wohl kaum über den Status als Gag hinauskommen und sich nicht bei der breiten Masse durchsetzen. Welchen Stellenwert die Sichtbarkeit und die damit verbundenen virtuosen Praktiken in der EDM-Kultur, besonders in der Club-Kultur haben und dass auch unsichtbare Praktiken als Virtuosität gefasst werden können, werde ich im Folgenden aufzeigen.

11 Vgl. Butler (2014: 95ff.) zu diesem Problem, das er als »Conveying Liveness in Performance« bezeichnet.

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS

2.1. Risiko Die Automatisierung und Digitalisierung des DJing eliminiert nicht nur die mühsam erlernte Fertigkeit des Beatmatching, sondern darüber hinaus einen essentiellen Bestandteil des DJing, wie Tobias C. van Veen, Kulturwissenschaftler und Techno-DJ, aufzeigt: »[The] ›DJ culture‹ [...] loses touch not with the vinyl format, but with what constitutes the virtuosity of playing an inventive instrument — RISK. Without risk of fucking-up (trainwrecking, skipping the needle, a bad mix, etc.), there is no need for the human whatsoever« (Veen/Attias 2011).12 Die Nutzung einer Technologie, die bestimmte manuelle Fertigkeiten benötigt, ist mit einem Risiko verbunden und die Automatisierung dieser Fertigkeiten eliminiert auch das Risiko. Inwiefern aber das Eingehen eines solchen Risikos als Virtuosität verstanden werden kann, zeigt der Medientheoretiker Erhardt Schüttpelz (2015), der gerade das Handeln in einer potentiell misslingenden Situation als Grundlage von Virtuosität ansieht. Er beschreibt das Erlernen von Skills13, wie sie in technischen und wissenschaftlichen Laboren gefordert sind. Dabei bezieht er sich auf die Ausführungen von Hubert Dreyfus (2002) und gliedert den Erwerb von Fertigkeiten in drei Stufen: Der Novize erhält die Aufgabe in möglichst kleine und einfache Teilaufgaben zergliedert, die in einem geschützten Raum erlernt werden können. Nach und nach werden diese »Gebrauchsanweisungen« erweitert und zu »Richtlinien«. Der Fortgeschrittene hingegen verlässt den geschützten Raum und bekommt nur mehr grobe »Faustregeln« oder »Maximen« auf den Weg, die ihm als standardisierter Plan helfen, die Situation zu bewältigen. Durch eigene Fehler und Erfolgserlebnisse steigt die Kompetenz und er wird zu einem »technisch versierten, erfahrenen Techniker«. In einer unvorhergesehenen Situation »sieht er, was zu tun ist« und entscheidet aufgrund von Regeln und Analysen. Der Virtuose schließlich sieht zusätzlich, »wie das Ziel zu erreichen ist« und muss nicht auf Regeln und Analysen zurückgreifen, sondern kann sich auf die eigene, erlernte Improvisationsfähigkeit verlassen, um das Ziel zu erreichen (vgl. Schüttpelz 2015: 167-169).14 12 »Trainwrecking« bedeutet, dass der DJ durch falsche Trackauswahl oder unpassende Mix-Technik die Intensität der Musik abrupt abbremst — sprichwörtlich einen in voller Fahrt befindlichen Zug entgleisen lässt. 13 Der Begriff »Skill« bezeichnet im Englischen sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch »Geschicklichkeit«, »technisches Können« oder »Kunstfertigkeit« und hat insbesondere in der Praxistheorie in den letzten Jahren hohe Resonanz erfahren (vgl. Schüttpelz 2015: 153). 14 Schüttpelz expliziert nicht, weshalb er den Begriff »Virtuose« verwendet, zumal Dreyfus nur von »expert« als höchste (bei ihm fünfte) Stufe spricht.

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LORENZ GILLI Hierin liegt für Schüttpelz der entscheidende Unterschied zwischen Fortgeschrittenen und Virtuosen: »Der Virtuose in einem Gebiet, die wirkliche Expertin hingegen verlässt sich darauf, dass die Ressourcen der erfolgreichen Bewältigung einer technischen Aufgabe im Laufe ihrer Ausarbeitung noch auftauchen werden — eine Vorstellung, die in der geschützten Welt des Novizen Panik und in der Welt des Fortgeschrittenen den Wunsch nach fremden Ratschlägen und Hilfestellungen auslösen würde« (ebd.: 168-169). Virtuosität ist also dann vorhanden, wenn trotz auftretender Schwierigkeiten und Gefahren die Aufgabe weiterhin ausgeführt und das Ziel konsequent verfolgt wird — ohne Hilfe von außen oder ohne Unterbrechung zur Planung der weiteren Schritte. Die Ausführung und die Planung der weiteren Handlungen erfolgen zeitgleich. Virtuosität ist demzufolge also ein der aktuellen Situation dienlicher Einsatz der Ressourcen und der eigenen Expertise — und damit auch ein oftmals unsichtbarer Prozess. Veen hebt in seiner Beschreibung genau diese beiden Aspekte — Gleichzeitigkeit und Unsichtbarkeit — hervor: »beatmatching in foreign set-ups to a full floor of hundreds/thousands and holding a mix for minutes on end is still a thrilling and dangerous experience, as correcting the record in-the-mix while EQing, slicing & dicing and preparing the next record is a skill indeed. Doing so without the audience noticing corrections is quite an art« (Veen/Attias 2011). Das scheinbar mühelose Meistern einer schwierigen Aufgabe ist Bedingung für Virtuosität, mehr noch: es muss als Schwierigkeit auch erkennbar sein. Andererseits sollen aber »die technischen Probleme eben nicht als solche fühlbar werden und damit gar ablenken vom ästhetischen, sinnlich-geistigen Genuss« (Heister 2004: 26). Zwar müssen die technischen Schwierigkeiten irgendwie vermittelt werden, dürfen aber auch nicht zu sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Und ein bewusstes Heraustreten aus der laufenden Aufgabe zwecks Planung weiterer Schritte, wie es Schüttpelz für den Fortgeschrittenen beschreibt, würde einer Virtuosität sofort zuwider laufen. Bemerkenswerterweise spricht Heister nicht von »Sichtbar-Werden« der Probleme, sondern vom »Fühlbar-Werden« und weicht damit terminologisch von einer rein visuell vermittelten Virtuosität ab. Dies ist besonders aufgrund der verminderten Sichtbarkeit des Club-DJ relevant. Denn ein meisterhaft durchgeführter Mix per Beatmatching kann auch rein auditiv erfahren werden: »the overall mix is a much more driving experience for the dancefloor too. Though not all dancers might understand what is happening, I would argue

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS that dancefloors instinctively respond to longer-held mixes as the affect of blended sounds creates heightened tension as the tracks play off each other. And once dancers realise you are mixing, bringing a record in and out repeatedly, and building the two records together to a mutual climax, the audience, well, err… comes along with you« (Veen/Attias 2011). Hier stellt sich die Frage nach der Relevanz des Beatmatching im Vergleich zum Sync-Button. Natürlich spielt die Auswahl der Tracks eine große Rolle — doch diese fällt nicht in das Regime des Beatmatching, sondern des Programming (siehe Abschnitt 3). In Bezug auf das Risiko beim Beatmatching stellt sich die Frage, wie der Rezipient am Dancefloor dieses Risiko erkennt: wohl nur durch kleine Imperfektionen, die sich im manuellen Beatmatching kaum vermeiden lassen (vgl. ebd.). Über diese wird das klangliche Ergebnis als Produkt einer hoch-riskanten manuellen Fertigkeit auditiv erfahrbar. Da aber nur erfahrene Hörer dies ohne weiteres erkennen können, kann man hier im Sinne Heisters (2004: 23) von einer esoterischen Virtuosität sprechen. Virtuosität ist also offenbar nicht vereinbar mit Perfektion in der Ausführung, sondern eine erkennbare Gratwanderung. Der Sync-Button, der dieses Risiko eliminiert bzw. aus der Kontrolle des DJs und seinen manuellen Fertigkeiten hin zur verwendeten Hard- und Software verschiebt, eliminiert also auch die Virtuosität des Beatmatching per se. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist dieser Umstand interessant, da in diesen Momenten der hörbaren Überlagerung und Vermischung die zugrundeliegende Medientechnologie erkennbar und somit offengelegt wird. Malte Pelleter und Steffen Lepa (2007: 208) haben dies für das Sampling und das Scratching im HipHop aufgezeigt und es kann auf das Beatmatching übertragen werden. Aber nicht nur eine medientechnologische Offenlegung findet hier statt, sondern auch eine medienästhetische. Yvonne Spielmann (2002: 245) konstatiert für die Filmästhetik, dass gerade in jenen Momenten, in denen die Schnitte, Brüche und »Kippfiguren« für den Rezipienten wahrnehmbar werden, (medien-)ästhetische Erfahrungen möglich werden. Analog erlaubt es auch das Beatmatching und dessen meisterhafte, aber doch erkennbare Ausführung der Überlagerung, eine auditive Erfahrung zu machen, dessen Reiz zusätzlich in der Flüchtigkeit und Einmaligkeit ihrer Ausführung besteht. Aus der Beschreibung von Veen wird darüber hinaus ersichtlich, dass es sich beim Beatmatching nicht um eine handwerkliche Fertigkeit als bloßen Selbstzweck handelt, sondern um etwas, was im Dienste der Musik passiert: dass zwei Tracks jeweils ihre Stärken ausspielen (»play off each other«) und zu einem gemeinsamen Höhepunkt (»mutual climax«) hinarbeiten. Beat-

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LORENZ GILLI matching ist hier lediglich die Technik, mit der diese performative KlangNeuschöpfung vom DJ ausgeführt wird. Die meisterhafte Ausführung muss aber einen irgendwie gearteten musikalischen Mehrwert bieten, um als Virtuosität zu gelten. Dieser musikalische Mehrwert ergibt sich bei Heister aus einem Spannungsverhältnis zwischen der »materiell-technischen« und der »geistigen Dimension«. Den Endpunkt des Geistigen markieren dabei Kriterien wie »Ausdruck«, »Seele oder Sinn«, »Bewusstsein« oder »Darstellung der musikalischen Sache« (Heister 2004: 27f.). In populären Musikkulturen jedoch ist dieser Gegenpol weniger durch diese Aspekte, sondern durch die Bindung an den »ritualisierten Handlungskontext« (Wicke 2004: 243) gekennzeichnet, den der Künstler (in diesem Fall der DJ) gestalten und anführen muss. Die meisterhafte Beherrschung der Technik reicht dafür nicht aus: »Gelingt es, die Welt der Apparate zu transzendieren, vermittels derselben, aber doch jenseits von ihnen den DJ und die tanzenden Körper untereinander und in Bezug aufeinander zu synchronisieren, dann erwächst eine Form von kollektivierter Selbsterfahrung daraus, die anderswo nicht zu haben ist« (ebd.: 242). Wicke spricht in diesem Zusammenhang auch vom DJ als »Schamanen«. Heister begreift sogar den Schamanen des Spätpaläolithikums und seine Spezialisierung auf Ekstase- und Trance-Techniken als »früheste wenigstens in Umrissen greifbare Erscheinungsform der Virtuosität« (Heister 2004: 35). Die EDM-Kulturen schließen hier offenbar wieder an: nicht nur, dass ein Genre der EDM als »Trance« bezeichnet wird oder dass häufig Parallelen zwischen DJs und Schamanen bzw. EDM-Veranstaltungen und religiös-rituellen Zeremonien gezogen werden.15 Wicke schließt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass Künstler der populären Kultur zwar nicht Virtuosen genannt werden, aber dass die »Ritualisierung durch Virtuosität [...] für die Popmusik viel zu fundamental [sei], um auch nur den Eindruck zuzulassen, es wären irgendwo Akteure am Werk, denen diese Fähigkeit abgeht« (Wicke 2004: 243).

15 Zum Beispiel: Der Techno- und Trance-DJ Sven Väth bezeichnet sich selbst als »Techno-Schamanen« (Schwarz 2002); der Goatrance-DJ Goa Gil ist selbst ein sadhu (hinduistischer »holy man«) und St John (2012: 91) bezeichnet ihn als »dark yogi«; zum Thema insgesamt vgl. den Sammelband Rave Culture and Religion (St John 2004).

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3. Programming — »Journey« und Navigation Die eben ausgeführten Punkte verdeutlichen, dass zu den Skills eines DJ auch die Auswahl der Tracks zählt: zum einen, da diese beim Mixing auch zueinander passen müssen und sich gegenseitig ergänzen können, und zum anderen, damit aus der mehrstündigen Aneinanderreihung von Tracks auch die beschriebenen ekstatischen Selbsterfahrungen möglich werden. In der DJ-Kultur sind für die Gestaltung dieser Art von musikalischen Erfahrungen vor allem zwei Metaphern beliebt: »to take people on a journey« und »to tell a story« (Reynolds 2013: 577; vgl. auch Broughton/Brewster 2002: 139; Fikentscher 2013: 130). Die konkrete Ausgestaltung dieser Geschichte oder Reise durch den DJ ist Bestandteil der zweiten zentralen Fertigkeit des DJing: dem Programming. Dieses beschreibt Fikentscher als »strategic combination of control over tempo, pacing, selection of repertoire and sound effects, including even the manipulation of dynamics and distribution (emphasis or de-emphasis) of frequency bands« (Reynolds 2013: 125). Der Begriff leitet sich also aus der Gestaltung des musikalischen Programms ab, und sollte daher nicht als starre Planung oder als Erstellen eines Algorithmus (auch nicht in einem metaphorischen Sinne) verstanden werden. Andere Autoren teilen die Fertigkeiten von DJs in drei Bereiche ein und führen neben dem Mixing und der Auswahl der Platten den »dramaturgischen Aufbau« (Reitsamer 2010: 170) oder »the psychological and spiritual aspects of the craft« (Reighley 2000: 147) an. Es ist unklar, ob Fikentscher diesen Bereich auch als dritten und eigenständigen Bereich fasst oder nicht: »The concept of a ›musical journey‹ is closely related, not surprisingly, to that of a programme crafted by a DJ« (Fikentscher 2013: 130). Eine weitere Untersuchung und Ausdifferenzierung dieser Systematiken wäre noch notwendig — für diesen Beitrag fasse ich die genannten Aspekte unter das Programming und fokussiere auf die von Butler vorgeschlagene Zweiteilung in Mixing und Programming. Auch Beatport, ein großer Online-Store für elektronische Tanzmusik, nutzt die Reise-Metapher gemeinsam mit der damit verwandten Metapher der Navigation, um das im Jahr 2016 eingeführte Tagging-Verfahren zu bewerben: Bei diesem Verfahren sind die Veröffentlichungen mit Tags, also Schlagworten, versehen, die dann als Such- und Filterkriterien sowohl beim Einkauf als auch in der eigenen Musikbibliothek für die Ordnung der Tracks genutzt werden können. Der User kann auch eigene Tags vergeben. Diese Tags beinhalten u.a. auch die vorgeschlagene Position des Tracks im Ablauf eines ganzen DJ-Sets (»Set Time«): Im entsprechenden Newsletter und auf

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LORENZ GILLI der Website werden die drei Kategorien »Opening Tracks«, »Peak Hour Tracks« und »Closing Tracks« verwendet (vgl. Beatport 2016). In der Desktop-Anwendung von Beatport sind diese auf dreizehn verschiedene Tags weiter ausdifferenziert (vgl. Beatport 2017). Ganz ähnliche Kategorien beschreibt der DJ und Musiker Solomun (Mladen Solomun) in einem Interview: »Ich habe jede Woche zwei Ordner mit vielleicht fünfzig, sechzig neuen Tracks, die ich noch mal unterteile, nach dem Schema Warm-up, Halb-Peaktime, Peaktime, geht richtig ab und morgens« (Solomun, zit. n. Klein 2014). Mit diesen und anderen Tags wie »mood«, »venue«, »bpm« oder »genre« kann der DJ seine Musikbibliothek ordnen und für den Auftritt vorbereiten. Allerdings zeichnet sich ein ClubAbend durch seine Offenheit und Unbestimmtheit aus, und es wird als essentiell angesehen, dass der DJ seine Musikauswahl an die lokalen und räumlichen Gegebenheiten, die Stimmung, das Publikum und die Auftrittszeit anpasst (vgl. Fikentscher 2000: 78-92; Montano 2009: 85-87). In den Diskursen um relevante Fertigkeiten des DJs findet sich diese Erwartung der Flexibilität und Anpassung häufig als Gegenargument zum Beatmatching als wichtigster Skill — so auch in den Kommentaren zum erwähnten Blog-Eintrag von Deadmau5: ein DJ definiere sich nicht so sehr dadurch, ob er das Beatmatching beherrsche, sondern durch »the journey s/he takes the dance floor on« (ultraaman 2012) oder dass er wisse, »how to work a crowd« (Horn 2014). Der Blog-Eintrag, aus dem das in Abb. 1 dargestellte Internet-Mem entnommen ist, wendet eben dieses Mem positiv und schließt mit der Abbildung einer enthusiastischen Menschenmenge und dem Schriftzug: »Everyone is a DJ if they have one of these in front of them« (Settle 2015).

3.1. Social Navigation Um ein solches Handeln in einer offenen sozialen Situation besser beschreiben zu können, greife ich auf ein theoretisches Modell aus der KulturAnthropologie zurück: Social Navigation wird vom dänischen Kulturanthropologen Henrik Vigh in zwei Texten aus 2008 und 2009 als theoretisches Modell zur Beschreibung von Handeln in instabilen und bewegten sozialen Umwelten konzipiert.16 Die Betonung einer bewegten, fluiden Umwelt findet sich bereits im lateinischen Begriff »navigare«, der sich nur auf die Seefahrt und nicht auf die Bewegung an Land bezieht. Das Konzept selbst beschreibt Vigh wie folgt: 16 Vigh beschreibt in beiden Artikeln die instabile Situation im Bürgerkrieg gebeutelten Land Guinea-Bissau, betont aber die Anwendbarkeit des Modells auf unterschiedliche soziale Settings und Situationen (vgl. Vigh 2009: 420).

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS »The concept […] highlights motion within motion: it is the act of moving in an environment that is wavering and unsettled, and when used to illuminate social life it directs our attention to the fact that we move in social environments of actors and actants, individuals and institutions, that engage and move us as we move along« (Vigh 2009: 420). Social Navigation ist also die Art und Weise, wie Menschen sich in beweglichen Umwelten bewegen, und es betont die Unbestimmtheit von Subjekt und Umwelt. Damit unterscheidet sich das Konzept von anderen Theorien in den Sozialwissenschaften, die sich, laut Vigh, traditionellerweise entweder auf die Veränderung sozialer Formationen über die Zeit hinweg konzentrieren oder auf die Art und Weise, wie soziale Einheiten sich innerhalb sozialer Formationen bewegen. Social Navigation hingegen versucht, beides zeitgleich zu sehen und damit die Interaktivität der beiden zu beleuchten. Er würdigt zwar Bourdieus Praxis-Konzept, doch auch dieses geht für ihn in diesem Aspekt nicht weit genug (vgl. ebd.: 426f.). Für dieses Handeln in bewegten Umwelten existiert in Guinea-Bissau ein eigener Begriff: »dubriagem«. Es ist ein Begriff der lokalen Verkehrssprache Krioulu, die auf dem Portugiesischen basiert. Vigh vergleicht es mit dem Englischen »muddling through« — auf Deutsch könnte man wohl »durchsteuern« oder »durchwursteln« dazu sagen.17 Dubriagem wird von Vigh beschrieben als »the ability to envision one's way through emergent and volatile socio-political cirumstances as well as being the actual practice of doing so« (ebd.: 424). Besonders bedeutsam ist hier die Gleichzeitigkeit von Erkennen der Handlungsoptionen und der konkreten Ausführung dieser Optionen — trotz unklarer und jederzeit veränderlicher Rahmenbedingungen. Genau das hat Schüttpelz als entscheidenden Unterschied zwischen dem fortgeschrittenen Techniker und dem Virtuosen formuliert.

3.2. Der DJ als »Social Navigator« Da auch EDM-Events häufig als bewegte und offene Umwelten gekennzeichnet sind, lässt sich dieses Konzept auf die Praxis des DJing übertragen und näher analysieren. Konkret fokussiere ich die Analyse auf die Zergliederung der Entscheidungsprozesse und ihrer Ausführungen.

17 Allerdings bezieht sich Vigh nicht auf das gleichnamige Konzept aus der Organisationssoziologie (»Muddling-Through«) nach Lindblom (1959), das die OnlineEnzyklopädie wikipedia.de mit »Sich-Durchwurschteln« übersetzt (https://de. wikipedia.org/wiki/Muddling-Through, Stand vom 29.1.2017).

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LORENZ GILLI Aus Vighs Beschreibungen gehen einzelne Teilschritte hervor, in die sich die Social Navigation aufgliedern lässt. Bei der Suche nach Lösungen für die alltäglichen Schwierigkeiten führt er drei Aspekte auf: »social life is surveyed, assumptions critically assessed and action tactile and tentative« (Vigh 2009: 422). Es handelt sich also um: Beobachtung der sozialen Umwelt, Bewertung der Annahmen und versuchsweise Handlung. Neben der Gleichzeitigkeit der Prozesse ist außerdem anzunehmen, dass diese Prozesse auch in zirkulären Schleifen ablaufen und sich stark gegenseitig bedingen. Dennoch bietet es sich an, sie für die theoretische Auseinandersetzung einzeln und getrennt zu betrachten. Die Beobachtung, also die gezielte visuelle Wahrnehmung der sozialen Umwelt des DJs, kommt in der DJ-Kultur durch den Begriff »read the crowd«18 zum Ausdruck, der sich in vielen Diskursen und Aussagen wiederfindet. Beispielweise betont Fatboy Slim (Norman Cook): »A good DJ is always looking at the crowd, seeing what they like, seeing whether it's working; communicating with them, smiling at them. A bad DJ is always looking down at the decks and just doing whatever they practised in their bedroom, regardless of whether the crowd are enjoying it or not« (Fatboy Slim, zit. n. Brewster/Broughton 2006: 20). Allerdings ist diese Beobachtung nicht nur eine monodirektionale Aktivität, die der DJ von seiner (mal mehr, mal weniger) erhöhten Kanzel her ausführt, sondern ein bidirektionales Verhältnis, eine Kommunikationsbeziehung (vgl. Rietveld 2013b: 80ff.). Auch sollte hervorgehoben werden, dass die visuelle Wahrnehmung nicht die einzige Modalität ist, in der diese Kommunikationsbeziehung vonstattengehen kann. Ein verbreiteter Begriff ist jener des »vibe«, der vom DJ ›gefühlt‹ werden muss (»feel the vibe«, Fikentscher 2000: 91). DJ Calemma (Giovanni Calemma) hingegen spricht von »empathic communication« (Calemma 2015). Obwohl diese Begrifflichkeiten in den Aussagen oftmals nicht einer theoretischen Fundierung genügen, zeigen sie in ihrer alltäglichen Verwendung doch auf, dass zumindest subjektiv nicht nur die visuelle Wahrnehmung als Sinnesmodalität zur Kommunikation eingesetzt wird. Der DJ ist aber nicht nur Kommunikationspartner, er ist auch Teilnehmer, was sich maßgeblich auf die Art und Weise auswirkt, wie die Bewertung der Annahmen durchgeführt werden kann. Für David Mancuso, einer der Gründungsfiguren der Discokultur, ist der DJ zugleich Performer und Rezipient und hat »one foot on the dancefloor and one in the booth« (zit. n. Brewster/Broughton 2006: 20). Butler hat diese Doppelfunktion als Perfor18 Auf Deutsch etwa: »das Publikum lesen«.

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS mer und Rezipient weiter ausgeführt und mit seinem Konzept der »listener orientation« beschrieben, wie Laptop-Performer und DJs die Möglichkeit haben, der Musik zuzuhören, während diese ohne ihr Zutun weiterspielt. Das unterscheidet sie von Musikern, die auf traditionellen Instrumenten19 spielen: »DJs are continuously evaluating the current configuration of sounds; determining if, when, and how it should change; and thinking about what sort of sound or record should follow next« (Butler 2014: 106). DJs bewerten also die momentan gespielte Musik aus der Perspektive des Hörers heraus und treffen gleichzeitig Entscheidungen darüber, welche weiteren Schritte zu setzen seien, also: welche Annahme(n) als passend zu bewerten sei(en). Die Umsetzung dieser Annahme(n) erfolgt als versuchsweise Handlung: So empfehlen die beiden Autoren Frank Broughton und Bill Brewster für die Entscheidung hinsichtlich des nächsten Tracks, dass zu jeder potentiellen Auswahl weitere fünf Anschluss-Tracks vorhanden sein sollen, um je nach Reaktion des Publikums in die eine oder andere Richtung weiter zu gehen. »In your mind you should see a network of records and their possible connections.« (Broughton/Brewster 2002: 138). Das bedeutet, dass jeder Track auch immer ein Test ist, wie das Publikum reagiert und was anschließend zu tun sei. Dieses Vorgehen wurde mir von DJ Calemma in einem Interview bestätigt (vgl. Calemma 2015). Der DJ muss also die Bewegtheit und Offenheit der sozialen Umwelt in eine Offenheit der Track-Auswahl, des Programming übersetzen. Insofern könnte man hier von einer Erweiterung der Navigation in das Feld des Klanglich-Musikalischen und somit des Ästhetischen, also von einer »aesthetic navigation«, sprechen. Die bereits mehrfach betonte Gleichzeitigkeit von Planung und Handlung bestimmt die Qualität des musikalischen Outputs, insbesondere das Timing rhythmischer Aktivitäten wie die des Beatmatching. Dies stellt auch Rosa Reitsamer in ihrer soziologischen Untersuchung von DJs fest: »Im Zusammenspiel aus dem Hören des anberaumten Musikstücks über Kopfhörer, dem Hören des gerade gespielten Musikstücks über die Lautsprecher im Club und den Bewegungsabläufen der Hände bei der Bedienung der technischen Geräte verringert jedes Überlegen der Arbeitsschritte und ihrer Abfolge die Wahrscheinlichkeit einer präzisen Übereinstimmung der unterschiedlichen Rhythmen und Takte der Musikstücke« (Reitsamer 2010: 170, Hervorhebungen LG). Dieses »Technik-Wissen«, wie Reitsamer den soeben beschriebenen Wissensbestand der DJs bezeichnet, ist verkörpertes Wissen, auf das DJs intuitiv 19 Der Begriff »traditionelle Instrumente« wird von Butler (2014: 105) in Abgrenzung zum Instrumentarium der elektronischen Musik genutzt.

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LORENZ GILLI zugreifen können — ein bewusstes Überlegen der auszuführenden Schritte würde das Ergebnis verschlechtern und damit eine möglicherweise virtuose Performance verhindern. Aber nicht nur das Technik-Wissen, sondern auch das »Szene-Wissen« wird über körperliche Lernprozesse akkumuliert und wieder intuitiv abgerufen. Unter Szene-Wissen versteht sie unter anderem das Wissen, die Stimmung des Publikums durch entsprechende Wahl der Art des Mixings und der auszuwählenden Tracks positiv zu lenken. Die Auswahl der Tracks bildet den letzten der drei Wissensbestände von DJs, das »MusikWissen« (vgl. ebd.: 167ff.). Der bereits genannte Vibe dient in der DJ-Kultur zur Beschreibung der Stimmung des Publikums, auf die der DJ entsprechend den Bedürfnissen der Crowd reagieren soll — andere Begriffe sind Energy oder Atmosphere. Umgekehrt ist der Vibe wiederum stark durch den DJ bestimmt, wodurch eine Rückkoppelung bzw. Feedbackschleife entsteht (vgl. Fikentscher 2000: 79ff.). Damit ist die Arbeit des Club-DJ als ein performativer Akt im Sinne Erika Fischer-Lichtes beschrieben: Für sie ist es konstitutiv für performative Akte, dass keine klare Trennung zwischen Akteur und Publikum, also keine Subjekt-Objekt-Dichotomie besteht, sondern dass das Verhältnis der Anwesenden als »leibliche Ko-Präsenz« besteht und verstanden wird. Die Anwesenden stehen durch eine Feedback-Schleife in ständigem, wechselseitigem Austausch, wodurch Ereignisse entstehen, die nicht völlig planbar und vorhersagbar sind (vgl. Fischer-Lichte 2004: 58ff.). Da die Auswahl der Tracks nicht von vorherein feststeht, sondern oftmals stark improvisierend vorgenommen wird, muss sie auch als Teil der Performance und somit als mögliches Feld, in dem Virtuosität sich manifestieren kann, betrachtet werden. Eine virtuose Selection wäre also eine Track-Auswahl, bei der der DJ den momentan existierenden Vibe richtig aufzunehmen weiß, einen Track auswählt, der diese Stimmung in die richtige Richtung weiterlenken kann und der vom DJ mit der passenden MixTechnik in den gerade gespielten Track eingeblendet wird. Diese Mix-Technik und der eingespielte Track würden dabei in positiver Weise Spannung aufbauen, die dann im richtigen Moment eingelöst würde und somit die Euphorie und Ekstase beim Publikum verstärken würde. Der Rahmen dafür, also welche Tracks, Stile und (Sub-)Genres in Frage kommen und dem DJ zur Auswahl stehen, ist dabei weder völlig offen noch willkürlich eingeschränkt, sondern unterliegt szene-internen Regulationsprozessen und Diskursen (vgl. Bonz 2014: 243ff.; Doehring 2015: 148ff.). Vor allem aber ist es ein höchstens in Umrissen kanonisiertes und nicht durch formale musikalische Bildung erlernbares Wissen, sondern hauptsächlich

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»NAVIGATE YOUR SET«. ZUR VIRTUOSITÄT VON DJS durch aktive Teilnahme an der entsprechenden (Sub-)Kultur erlernbar (vgl. Reitsamer 2010: 167ff.; Bonz 2014: 243ff). Es handelt sich also um einen Wissensbestand, den DJs beherrschen müssen, ähnlich den musik-immanenten Einschränkungen und Grenzen, die der Virtuose zu beachten hat und die das ihm zur Verfügung stehende musikalische Material begrenzen. Heister (2004: 29) nennt dies »das Externe«. Dieses Externe ist bei der DJ-Kultur und ihren individuellen, lokal geprägten und schnell wandelbaren Szenen diffus, fragmentiert und ständig im Wandel — und gerade deshalb ist das meisterhaft ausgeführte und situativ angepasste Schöpfen aus diesem musikalischen Fundus eine virtuose Angelegenheit. Oder wie es Brewster und Broughton (2006: 16) formulieren: »A DJ's job is to channel the vast ocean of recorded sound into a single unforgettable evening.«

4. Fazit Die unterschiedlichen kulturellen Ausformungen und Inszenierungen des DJs bestimmen die Sichtbarkeit und Erkennbarkeit. Damit sind die Möglichkeiten der bewussten Zurschaustellung der eigenen Kunstfertigkeiten als eine Dimension von Virtuosität betroffen. Im ersten Abschnitt habe ich gezeigt, dass Turntablists und Battle-DJs diese Dimension offensiv nutzen und somit als exoterische Virtuosen angesehen werden können. Stadium-DJs und ClubDJs hingegen sind mit dem Problem der geringeren Sicht- bzw. Erkennbarkeit konfrontiert. Im zweiten Abschnitt habe ich die Mix-Technik des Beatmatching für die sog. »Slow-Mix«-Stile analysiert. Diese Technik ist beim besonders langen Halten des Mixes (»riding the mix«) oder bei der Ausführung mit drei oder vier Plattenspielern besonders schwierig und wird bereits als virtuos bezeichnet. Die damit adressierte Dimension der meisterhaften Beherrschung des Instruments droht mit dem Sync-Button hinfällig zu werden; sie ist aber auch jene Dimension, die im Diskurs um das Beatmatching besonders betont und diskursiv als Machtinstrument eingesetzt wird. Darüber hinaus kann das Beatmatching als eine künstliche Virtuosität im Rahmen einer ritualisierten Performance-Strategie genutzt werden. Das Risiko, das mit dem Beatmatching in Live-Situationen verbunden ist und sich darin manifestiert, dass Unvorhergesehenes gemeistert und gleichzeitig die Aufgabe weiterhin erfüllt wird, ist bei Schüttpelz das Kriterium, das den Virtuosen vom Techniker unterscheidet. Und da dieses Risiko über das Beatmatching vom Rezipienten rein auditiv erkennbar wird, kann es als

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LORENZ GILLI esoterische Virtuosität bezeichnet werden. Der musikalische Mehrwert, der diese Praxis von einer rein materiell-technischen Ausführung unterscheidet, ergibt sich durch den vom DJ hergestellten rituellen Rahmen, in dem die Rezipienten eine einzigartige Selbsterfahrung erleben. Der dritte Abschnitt hat den zweiten wichtigen Skill von DJs, das Programming, beleuchtet, die mit Navigation nicht nur als Metapher, sondern auch als theoretisches Modell umrissen werden kann. Fluide Situationen erfordern vom DJ ein gleichzeitiges Planen und Ausführen der drei Teilaspekte Beobachtung, Bewertung der Annahmen und versuchsweise Handlung. Alle drei Teilaspekte werden in der Praxis in einzigartiger, für die DJ-Kultur spezifische Art und Weise ausgeführt und formen letztendlich die Stimmung des Publikums, den Vibe. Es ist vor allem die sich entfaltende, auditiv wie leiblich erfahrbare Klangwirkung, die am Ende über die Virtuosität des DJs entscheidet. Virtuosität beim DJ geht über eine spieltechnische Meisterschaft hinaus und muss um eine soziale sowie ästhetische Komponente erweitert werden; dementsprechend müssen DJs als virtuose Agenten in einer unklaren, veränderlichen Umwelt angesehen werden, in der Technologie, Klänge und Menschen vernetzt und wechselseitig miteinander in dauerndem Austausch stehen.

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Abstract This article explores whether DJ skills and practices can be included in the concept of virtuosity. At first, difficulty as a basic requirement for virtuosity is analysed for different types of DJ performances. I then explain one of the DJ's principal skills, mixing: By focusing on beatmatching I evaluate its relevance for DJing in the digital age, ask if risk is a necessary ingredient in virtuosity and frame these arguments with practice-theoretical observations. In reference to socio-anthropological concepts I highlight the dramaturgical, performative, and social aspects of DJing and position the DJ as a »social navigator«. In so doing, I propose expanding the notion of virtuosity to include the specificities of DJ culture and electronic (dance) music, thereby updating the concept to be applied to contemporary popular music.

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ZU

DEN

AUTOREN

Ambra Cavallaro (*1987), Studium der Sprachwissenschaften (B.A.), Studium der Medienwissenschaft (M.A.) mit Schwerpunkt Audiokommunikation, seit 2016 freie Forschungsarbeiten zum historischen und kontemporären Interdependenzverhältnis von Musiktechnologie, Musikkultur und Musikjournalismus mit dem Ziel einer Promotion. Email: [email protected]. Michael Custodis (*1973), Studium der Musikwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Filmwissenschaft in Mainz, Bergen (Norwegen) und Berlin (Freie Universität); 2003 Promotion zum Kölner Musikleben nach 1945; von 2003-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter im musikwissenschaftlichen Teilprojekt (Leitung Albrecht Riethmüller) des DFG-Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«; 2008 Habilitation im Fach Musikwissenschaft; 2010 Ruf an die Westfälische Wilhelms-Universität auf eine Professor für Musik der Gegenwart und Systematische Musikwissenschaft. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Musik und Politik, Wechselwirkungen zwischen »populärer« und »klassischer« Musik, Progressive Rock und Metal, Musikleben der nordischen Länder. • E-Mail: michael. [email protected]. Friedrich Geiger (*1966) studierte Musik, Historische und Systematische Musikwissenschaft sowie Lateinische Philologie in München und Hamburg. Promotion 1997, Habilitation 2003 mit einer Arbeit über die Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin. 1997 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden und der Freien Universität Berlin, daneben zahlreiche Lehraufträge. Seit Sommersemester 2007 ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. • Bibliographie: https://www.kultur.uni-hamburg.de/hm/personen/geiger/publikatio nen.html • E-Mail: [email protected]. Lorenz Gilli (*1977), Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Wien und Berlin, 2008-2012 Repertoire-Manager für Xenox Music and Media in Bozen/Italien, seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen am Lehrstuhl für Medienästhetik, arbeitet an einer Dissertation zu »Ästhetik und Performativität des DJ-Sets in der Elektronischen Tanzmusik«. • Veröffentlichungen siehe: http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/ publikationen/lorenz-gilli. • E-Mail: [email protected]. Jan-Peter Herbst (*1984) lehrt an den Universitäten Bielefeld und Paderborn. Er studierte u.a. E-Gitarre, Musikpädagogik, Musikwissenschaft sowie Populäre Musik und Medien in Köln, Los Angeles, Detmold und Paderborn. Seine

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ZU DEN AUTOREN Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen populäre Musik, Musikanalyse, Klangforschung, Musiktechnologie und Musikpsychologie. Er promovierte mit der Arbeit Netzwerk Sound. Eine didaktische Herausforderung der populären Musik (Wissner 2014) und veröffentlichte vor Kurzem die Monografie Die Gitarrenverzerrung in der Rockmusik. Studie zu Spielweise und Ästhetik (LIT 2016). • E-Mail: [email protected]. Barbara Hornberger (*1970), Professorin für die Didaktik populärer Musik am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück. Kulturwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Populäre Kultur und Musik, Kulturgeschichte des Populären, Didaktik des Populären. • https://www.hs-osnabrueck.de/de/ prof-dr-barbara-hornberger. • E-Mail: [email protected]. Timo Hoyer (*1964), Professor für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Studium der Erziehungswissenschaft, Philosophie und Neueren deutschen Literatur in Frankfurt/M. Monografien (Auswahl): Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografie und Rezeption (2002), Tugend und Erziehung. Die Grundlegung der Moralpädagogik in der Antike (2005), Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich — ein Porträt (2008), Begabung. Eine Einführung (2013), Sozialgeschichte der Erziehung. Von der Antike bis in die Moderne (2015). (Mit-)Herausgeber (Auswahl): Zeitgeschichte und historische Bildung (2005), Erziehung und Mündigkeit (2006), Vom Glück und glücklichen Leben (2007), Alexander Mitscherlich: Kranksein verstehen (2010), Der Mensch in der Medizin (2011), Sozio-Emotionalität von hochbegabten Kindern (2014). Artikel und Musikrezensionen unter anderem in Neue Zeitschrift für Musik, Jazzthetik, testcard. • Homepage: https:// www.ph-karlsruhe.de/de/institute/ph/ew/personen/timo-hoyer. • E-Mail: [email protected]. Christoph Jacke (*1968), Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik der Universität Paderborn. Studiengangsleiter »Populäre Musik und Medien BA/MA«. Erster Vorsitzender/Chair der »International Association for the Study of Popular Music D-A-CH« (Deutschland/ Schweiz/Österreich). Mitbegründer und Sprecher (2009-2017) der »AG Populärkultur und Medien« in der »Gesellschaft für Medienwissenschaft« (GfM), Mitglied in diversen wissenschaftlichen Beiräten u.a. des Instituts für Populäre Musik der Folkwang Universität der Künste Essen/Bochum. Journalistische Tätigkeiten für u.a. Frankfurter Rundschau, Testcard, Spex, De:Bug, Intro und Die Aufhebung. Aktuelle Publikationen: Einführung in Populäre Musik und Medien (Münster: LIT 2013, 2. Aufl.); mit Charis Goer und Stefan Greif (Hg.): Texte zur Theorie des Pop (Stuttgart: Reclam 2013); mit Thomas Mania, Sonja Eismann, Monika Bloss und Susanne Binas-Preisendörfer (Hg.): ShePop. Frauen. Macht. Musik! (Münster: Telos 2013); mit Martin James und Ed Montano (Hg.): »Music Journalism.« In: IASPM@journal 4, Nr. 2 (2014); mit Michael Ahlers (Hg.): Perspectives on German Popular Music (New York/ London: Routledge 2017). • Homepage: www.christophjacke.de. • E-Mail: [email protected].

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ZU DEN AUTOREN Steffen Lepa (*1978), Studium der Medienwissenschaften, Psychologie und Medientechnik (M.A.), Studium des Medienmanagements (M.A.), Promotion in Bildungs- und Sozialwissenschaften (2009), seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin, 2012-2014 Leiter des DFG-Forschungsprojekts »Survey Musik und Medien«, arbeitet zurzeit an einer Habilitation zu Methoden der Analyse des medialen Musikhörens im Alltag. • Aktuelle Publikationsliste: http://www. steffenlepa.de • Email: [email protected]. Edin Mujkanović (*1973), Studium der Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück, seit 2012 Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Osnabrück. Zurzeit Arbeit an einer Dissertation zu Stil und Individualisierung am Beispiel ausgewählter Gitarristen des Flamenco. Seit 2001 als freiberuflicher Musiker und Referent zu musik- und kulturhistorischen Themen für Bildungseinrichtungen sowie Kultur- und Kunstvereine tätig. • Homepage: www.edemusic.de. • E-Mail: emujkano@ uos.de. Dirk Stederoth (*1968), Studium der Philosophie, Soziologie und Politik an der Universität Kassel, Promotion in Kassel (2001, Hegel), 2002-2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, 2007-2014 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Philosophie der Universität Kassel, seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, 2013 Habilitation und Privatdozentur am FB 02 der Universität Kassel, Forschungsschwerpunkte: Kritische Theorie, Musikphilosophie, Bildungsphilosophie. • Veröffentlichungen: www.unikassel.de/go/stederoth. • E-Mail: [email protected]

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GfPM Gesellschaft für Popularmusikforschung / German Society for Popular Musik Studies e.V. (vormals Arbeitskreis Studium Populärer Musik e.V.) Die GfPM ist der mitgliederstärkste Verband der Popularmusikforschung in Deutschland. Die GfPM fördert fachspezifische und interdisziplinäre Forschungsvorhaben in allen Bereichen populärer Musik (Jazz, Rock, Pop, Neue Volksmusik etc.). Die GfPM sieht ihre Aufgaben insbesondere darin • • • •

Tagungen und Symposien zu organisieren, Nachwuchs in der Popularmusikforschung zu fördern, Informationen auszutauschen, wissenschaftliche Untersuchungen anzuregen und durchzuführen.

Die GfPM ist ein gemeinnütziger Verein und arbeitet international mit anderen wissenschaftlichen und kulturellen Verbänden und Institutionen zusammen. Die GfPM gibt die Zeitschriften Beiträge zur Popularmusikforschung und Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung (www.gfpm-samples.de) sowie die Schriftenreihe texte zur populären musik heraus. Informationen zum Verband und zur Mitgliedschaft: Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM) Ahornweg 154 25469 Halstenbek E-Mail: [email protected] Online: www.popularmusikfoschung.de

Musikwissenschaft Michael Rauhut

Ein Klang — zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3387-0 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4

Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.)

Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 (unter Mitarbeit von Innokentij Kreknin) März 2017, 380 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2534-9 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2534-3

Johannes Gruber

Performative Lyrik und lyrische Performance Profilbildung im deutschen Rap 2016, 392 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3620-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3620-2

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Musikwissenschaft Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch (Hg.)

Wissenskulturen der Musikwissenschaft Generationen — Netzwerke — Denkstrukturen 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3257-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3257-0

Mark Nowakowski

Straßenmusik in Berlin Zwischen Lebenskunst und Lebenskampf. Eine musikethnologische Feldstudie 2016, 450 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3385-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3385-0

Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige (Hg.)

Musik und Narration Philosophische und musikästhetische Perspektiven 2015, 350 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2730-5 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2730-9

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