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German Pages 247 [248] Year 1994
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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Hans-Joachim Birkner f , Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge
Band 14
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
Martin Rössler
Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1994
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Rössler, Martin: Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie / Martin Rössler. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 14) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014171-X NE: GT
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1992/93 von der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Sie ist entstanden auf Anregung von Prof. Dr. Hans-Joachim Birkner und wurde von ihm bis zu seinem Tod gefördert und begleitet. Daran denke ich dankbar zurück. Herr Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock hat sich freundlicherweise zur Übernahme des Erstgutachtens bereiterklärt, Herr Prof. Dr. Reiner Preul hat das Korreferat erstellt. Beiden gilt mein herzlicher Dank. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Hermann Fischer für mancherlei freundliche Unterstützung. Ihm und den übrigen Herausgebern des Schleiermacher-Archivs danke ich auch für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Die Drucklegung wurde dankenswerterweise großzügig unterstützt von der Nordelbischen EvangelischLutherischen Kirche, der Schleiermacherschen Stiftung, Berlin sowie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Zu danken habe ich schließlich dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die erteilte Genehmigung, die Vorlesungsnachschrift Jonas in Auszügen zu veröffentlichen. Hamburg, im April 1994
Martin Rössler
Inhaltsverzeichnis Vorwort Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen Einleitung I.
Schleiermachers Theologische Enzyklopädie 1. „Enzyklopädie" und „theologische Enzyklopädie" als literarische Gattungen 2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"
V IX 1 7 7 10
II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie . 1. Das System der Wissenschaften a) Gestalt und Geltungsanspruch des Systems b) Die Ableitung des Wissenschaftssystems c) Die Bedeutung der „Kritik" in Schleiermachers System der Wissenschaften 2. Theologie als positive Wissenschaft a) Die positiven Wissenschaften b) „Religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" als konstitutive Elemente der Theologie 3. Die Gliederung der Theologie
18 20 20 26
III. Das Programm der Philosophischen Theologie 1. Der „Inhalt" der Philosophischen Theologie 2. Methode und Aufgabe der Philosophischen Theologie . a) Das „kritische" Verfahren α) Die Struktur des „kritischen" Verfahrens ß) Die beiden Vollzugsformen des „kritischen" Verfahrens b) Die Philosophische Theologie als „kritische" Disziplin α) Die doppelte Aufgabe der Philosophischen Theologie
72 76 78 78 83
31 44 45 53 64
85 94 95
Vili
Inhaltsverzeichnis
β) Die zweite Aufgabe der Philosophischen Theologie c) Die unterschiedliche Fassung in der Erstauflage der „Kurzen Darstellung" 3. Apologetik und Polemik a) Die Begründung von Apologetik und Polemik b) Das Verhältnis zwischen Apologetik und Polemik . . . 4. Allgemeine und spezielle Philosophische Theologie 5. Das Verhältnis der drei theologischen Disziplinen zueinander a) Der Zusammenhang der drei theologischen Disziplinen α) Philosophische und Historische Theologie ß) Philosophische und Praktische Theologie b) Die unterschiedliche Zweckbezogenheit der drei theologischen Disziplinen 6. Zusammenfassung: Der Praxisbezug der Philosophischen Theologie IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie 1. Zur „Einleitung" in die Glaubenslehre 2. Grundsätze der Apologetik a) Allgemeine Apologetik α) Die apologetische Grundaufgabe ß) Die übrigen Leitbegriffe der Apologetik b) Spezielle Apologetik 3. Grundsätze der Polemik V.
Schlußbetrachtungen 1. Die Funktionalität der Theologie 2. Die Funktionalität der Philosophischen Theologie
Literaturverzeichnis Namenregister
98 106 113 113 122 126 133 134 135 140 141 146
150 152 162 162 163 172 187 196 203 203 215 221 233
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
1. Sigla für die von Schleiermacher verfaßten Texte ALe ÄO
An Ammon Briefe Gaß Briefe I-IV Briefe Meisner CG 1
CG 2
ChS
DA,
Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg.v. T. Lehnerer, PhB 365, Hamburg 1984 Ästhetik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male hg.v. R. Odebrecht, Berlin/Leipzig 1931 An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Säze, Berlin 1818, in: KG A 1/10, 17-92 Fr. Schleiermacher's Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Mit einer biographischen Vorrede hg.v. W. Gaß, Berlin 1852 Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen, Bde. 1-2, Berlin 2 1860, Bde. 3-4 hg.v. L. Jonas und W. Dilthey, Berlin 1861-1863, Nachdruck Berlin/New York 1974 Schleiermacher als Mensch. [Bd. 2:] Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834, hg.v. H. Meisner, Gotha 1923 Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), KGA 1/7.1 und 2, hg.v. H. Peiter, Berlin/New York 1980 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage 1830/31, hg.v. M. Redeker, 2 Bde., Berlin 1960 Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. L. Jonas, SW 1/12, Berlin 2 1884 Dialektik (1811), hg.v. A. Arndt, PhB 386, Hamburg 1986
Χ DA2
DJ DO
E Einrichtung
Gedanken V Gel. Ged. Grundlinien HK2 HuKF
HV KD
KD1 KD2 KG KS Marg.
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), hg. v. A. Arndt, PhB 387, Hamburg 1988 Dialektik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse hg.v. L. Jonas, SW 111/4,2, Berlin 1839 Dialektik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials hg.v. R. Odebrecht, Leipzig 1942, Nachdruck Darmstadt 1976 Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu hg. und eingeleitet v. O. Braun, Werke II, Leipzig 2 1927 Professor Schleiermacher über die Einrichtung der theologischen Facultät, in: R. Köpke: Die Gründung der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860, Nachdruck Berlin 1981, 211-214 Gedanken V (1800-1803), in: K G A 1/3, 281-339 Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, Berlin 1808, in: SW III/l, 535-644 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, in: SW III/l, 1-344 Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. und eingeleitet v. H . Kimmerle, AHAW.PH 1959, Heidelberg 2 1974 Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers hg. und eingeleitet v. M. Frank, Frankfurt a. M. 1977 Die allgemeine Hermeneutik (1809/10), N s . A. Twesten, hg.v. W. Virmond, in: K.-V. Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Bd. 2, 1271-1310 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe hg.v. H. Scholz, Q G P 10, Leipzig 1910, Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1982 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage Berlin 1830 Geschichte der christlichen Kirche, hg.v. E. Bonnell, SW 1/11, Berlin 1840 Kleine Schriften und Predigten, 3 Bde., hg. v. H. Gerdes und E. Hirsch, Berlin 1969-1970 Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Marginalien in Schleiermachers Handexem-
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
XI
piar (bis § 75), KGA 1/7.3, hg. v. U. Barth, Berlin/New York 1984, 1-207 Ns. Jonas Theologische Encyclopädie nach dem Vortrage des H . Dr. Schleiermacher. Wintercursus 1816/17. Jonas, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Schleiermacher 547/1 PrTh Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. J. Frerichs, SW 1/13, Berlin 1850, Nachdruck Berlin/New York 1983 PW Pädagogische Schriften I. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, unter Mitwirkung von T. Schulze hg.v. E. Weniger, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983 R1 Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, in: KGA 1/2, 185-326 R 2 (1806), ed. Pünjer Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 2. Auflage, Berlin 1806, in: Reden Ueber die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Zugrundelegung des Textes der ersten Auflage besorgt von G. C. B. Pünjer, Braunschweig 1879 R 3 (1821), ed. Pünjer Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 3. Auflage, Berlin 1821, in: Reden Ueber die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Zugrundelegung des Textes der ersten Auflage besorgt von G. C. B. Pünjer, Braunschweig 1879 Erstes Sendschreiben Uber seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Erstes Sendschreiben, ThStKr 2 (1829), 255-284, in: KGA 1/10, 309-335 Zweites Sendschreiben Uber seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben, ThStKr 2 (1829), 481-532, in: KGA 1/10, 337-394. SW Sämmtliche Werke, 30 Bde. in 3 Abteilungen, Berlin 1834-1864 Th Schleiermacher's handschriftliche Anmerkungen zum ersten Theil der Glaubenslehre, hg. v. C. Thönes, Berlin 1873, zitiert nach CG 2 ThEnz. Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. v. W. Sachs, SchlA 4, Berlin/New York 1987 Werke Werke. Auswahl in vier Bänden, hg. v. J. Bauer und O. Braun, Leipzig 21927-1928
XII
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
2. Abkürzungen Asth Beil. Dial Einl. i. O. KGA Ls. Marg. Ms. Ns. SchlA SW Tl. Zs.
Ästhetik Beilage Dialektik Einleitung im Original Kritische Gesamtausgabe (Paragraphen-)Leitsatz Marginalie (Vorlesungs-)Manuskript (Vorlesungs-)Nachschrift Schleiermacher-Archiv Sämmtliche Werke Teil Zusatz
Einleitung Schleiermachers „philosophische Theologie" trägt in zweierlei Hinsicht programmatische Züge. Denn zum einen partizipiert sie als theologische Disziplin am prinzipiell-programmatischen Charakter der Schleiermacherschen Enzyklopädie: Die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" enthält eine Neubestimmung und -begründung sowohl der Theologie im ganzen als auch ihrer einzelnen Disziplinen.1 Von dieser Neugestaltung ist dabei die Philosophische Theologie in besonderer Weise betroffen: Wie Schleiermacher selbst betont, ist diese „Disziplin [...] als Einheit noch nicht aufgestellt oder anerkannt" 2 . Programmatischen Charakter besitzt die Philosophische Theologie hier also im Sinne einer neu konzipierten theologischen Disziplin. Zum anderen ist die Philosophische Theologie aber auch darin Programm, daß sie - wie alle Disziplinen - in der „Kurzen Darstellung" lediglich eine formal-enzyklopädische Behandlung erfahren hat 3 : „Die formelle Encyclopädie enthält nur die Organisation der ganzen Wissenschaft und ihrer Zweige, sie enthält gleichsam blos die 1 Vgl. das hochgestimmte Urteil H. Scholz': „Es war eine Programmschrift erster Ordnung, voll neuer, epochemachender, revolutionärer Ideen, die Schleiermacher mit seinem Kompendium der theologischen Welt und Wissenschaft vorlegte." (H. Scholz: Einleitung, in: K D , X I I - X X X V I I , X V I I ) 2 K D § 24 Zs.; vgl. auch ThEnz. 24,21 f. Dies gilt nicht nur für die Philosophische Theologie im ganzen, sondern auch für ihre Subdisziplinen Apologetik und Polemik: „Beide Disziplinen der philosophischen Theologie sehen ihrer Ausbildung noch entgegen" ( K D § 68); vgl. dazu auch H.-J. Birkner: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, T E H 178, München 1974, 27 Anm. 21. 3 Der zweifache Programmcharakter der „Kurzen Darstellung" wird auch von G . Ebbrecht unterstrichen: der Ausdruck „Programm" enthalte einerseits „die vorwärtsweisende Programmatik", den „Modellcharakter und das Grundsätzliche", die Theologie neu Begründende; andererseits signalisiere er „die Kürze, das Andeutende, Unausführliche, Aphoristische" der „Kurzen Darstellung" (G. Ebbrecht: Theologie als positive Wissenschaft. Interpretation der „Einleitung" in Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen" im Zusammenhang seiner Wissenschaftskonzeption, Diss. (Masch.), 2 Bde., Heidelberg 1977,15). Ebbrechts eigene terminologische Erwägungen münden darin, daß er die „Einleitung" in die „Kurze Darstellung" zutreffend als „Programm des theologischen Programms" bezeichnet (a.a.O., 17f; vgl. 3 u.ö.).
2
Einleitung
Ueberschriften" 4 . Der programmatische Charakter ist in diesem Falle weniger prinzipiell als pragmatisch begründet: Nach den Bestimmungen des den ersten Teil der „Einleitung" abschließenden § 20 der „Kurzen Darstellung" 5 will die formal-enzyklopädische Darstellung nur die „richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Teile der Theologie" (KD § 18) vermitteln und kann daher die einzelnen Disziplinen nur im Blick auf ihre „Organisation" (ThEnz. 19,33) betrachten. Deswegen ist sie von einer inhaltlich-materialen Ausarbeitung der jeweiligen Disziplin zu unterscheiden: hier werden „blos die Aufgaben gegeben" (ThEnz. 48,11), die in einer gesonderten Behandlung und Entfaltung jeder einzelnen Disziplin zu lösen wären. 6 Eine Untersuchung des Schleiermacherschen Programms der Philosophischen Theologie hat also beide Aspekte ihres programmatischen Charakters zu berücksichtigen. Dabei versteht sie den Ausdruck „philosophische Theologie" als Schleiermacherschen Systembegriff7: Er soll einen bestimmten Ausschnitt innerhalb des von Schleiermacher entworfenen Organismus der theologischen Wissenschaften bezeichnen. Den Gegenstand der Untersuchung bildet also nicht etwa die philosophische Gotteslehre als vermutete „Nahtstelle des philosophischen
4 ThEnz. 19,33-35; vgl. 48,10-14; 111,15f. Zum Begriff der formalen Enzyklopädie vgl. unten S. 9f. 5 Während die §§ 1-20 der Einleitung die Theologie und die Theologische Enzyklopädie zum Gegenstand haben, enthält der zweite Teil (§§ 21-31) eine Begründung der drei theologischen Disziplinen und ihres Zusammenhanges; vgl. zur Gliederung der Einleitung etwa Ebbrecht: Theologie, 96. 6 Eine solche Ausführung des enzyklopädischen Programms hat Schleiermacher nur in einer einzigen theologischen Disziplin, der Dogmatik, zur Veröffentlichung gebracht („Der christliche Glaube", 1821/22, 2 1830/31). Daneben hat er jedoch zahlreiche Schriften zur Exegetischen Theologie veröffentlicht (vgl. SW 1/2), und Vorlesungen über Exegetische und Praktische Theologie sowie über Kirchengeschichte, Christliche Sittenlehre und Kirchliche Statistik gehalten (vgl. zu Schleiermachers Vorlesungstätigkeit die von A. Arndt und W. Virmond zusammengestellte vollständige Liste seiner angekündigten und gehaltenen Vorlesungen: A. Arndt/W. Virmond (Hgg.): Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, SchlA 11, Berlin/New York 1992, 300-330). Die Philosophische Theologie hat Schleiermacher dagegen nicht als Einzeldisziplin ausgearbeitet. Für sie gilt also das von ihm selbst auf F. A. Wolf in bezug auf die Disziplin der philologischen Kritik gemünzte Diktum: „Allein Wolf hat nur die Aufgabe gestellt und nicht selbst Hand angelegt, ja die Art wie er sie stellte zeigt, daß er nur im Kampf gegen herrschende geringschätzige Vorstellungen solche Ansprüche für diese Disziplin geltend machen konnte." ( H u K F 347,29-33) 7 Zur methodologischen Unterscheidung zwischen interpretierenden „Deutebegriffen" und Schleiermachers eigenen „Systembegriffen" vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, 19f.
Einleitung
3
und theologischen Denkens Schleiermachers"8, sondern Schleiermachers Verständnis der von ihm selbst so genannten und begründeten theologischen Disziplin „philosophische Theologie" 9 . Die hier vorgelegte Interpretation der Philosophischen Theologie beschäftigt sich also mit einem Teilthema der Theologischen Enzyklopädie Schleiermachers: Aufgabe und Begründung der Philosophischen Theologie als theologische Disziplin stehen im Zentrum der Untersuchung. Ihr liegt daher als Haupttext Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" 10 zugrunde, deren aphoristische Gestalt neuerdings durch die Edition einer Vorlesungsnachschrift ergänzt und bereichert worden ist.11 Es handelt sich also im folgenden um eine Interpretation des ersten Teils der „Kurzen Darstellung", d.h. um den Versuch einer Rekonstruktion der inneren und äußeren Zusammenhänge, in die Schleiermacher die von ihm konzipierte Disziplin der Philosophischen Theologie gestellt hat. 12 Damit ist zugleich intendiert, eine die Einzelbestimmungen systematisierende Verstehenshilfe derjenigen Texte zu geben, die dieses „sperrigste Stück" 13 der Schleiermacherschen Enzyklopädie enthalten. Aus dieser Intention ergibt sich dann auch die Gliederung der Arbeit: Zunächst ist in einem kurzen Eingangskapitel Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" als Hauptquelle der Untersuchung vorzustellen. Daran anschließend kann die Philosophi8 M. Eckert: Gott - Glauben und Wissen. Friedrich Schleiermachers Philosophische Theologie, SchlA 3, Berlin/New York 1987, 27. Der Eckertschen Arbeit liegt ein in dieser Hinsicht präzisierter eigener Deutebegriff von „Philosophischer Theologie" zugrunde. 9 Als Name für diese von Schleiermacher konzipierte Disziplin soll im folgenden der Ausdruck stets in Großschreibung und ohne Anführungszeichen zitiert werden. 10 Berlin 1811, 2 1830. Kritische Ausgabe hg.v. H. Scholz, Q G P 10, Leipzig 1910, Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1982 11 F. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg.v. W. Sachs, SchlA 4, Berlin/New York 1987. Zitatnachweise aus diesen beiden Hauptquellen gebe ich, um den Anmerkungsapparat zu entlasten, direkt im Text. Zitate aus den übrigen Werken Schleiermachers und aus der Sekundärliteratur werden dagegen in den Anmerkungen nachgewiesen. 12 Während die Literatur zu Schleiermachers Religionsphilosophie „eine halbe Bibliothek" füllt (G. Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, E d F 217, Darmstadt 1984, 127), ist die Theologische Enzyklopädie von der Sekundärliteratur geradezu vernachlässigt worden. Daher erübrigt sich für die vorliegende Untersuchung ein Literaturüberblick; die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur findet am Ort des jeweils zu verhandelnden Problems in den Anmerkungen statt. 13 E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. V , Gütersloh 2 1960, 351
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Einleitung
sehe Theologie selbst betrachtet werden. Ein angemessenes Verständnis dieser theologischen Disziplin setzt aber eine Orientierung über den dabei in Anspruch genommenen Theologiebegriff voraus; der wiederum kann nur verstanden werden im Rahmen der Schleiermacherschen Konzeption des Wissenschaftssystems. Denn die Theologie steht zu diesem Wissenschaftssystem in einem ambivalenten Verhältnis: Einerseits ist ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nur dadurch eingelöst, daß sie aus dem System der Wissenschaften ihre methodischen und thematischen Kriterien bezieht und ihm dadurch eingegliedert ist. Andererseits ist sie als ausschließlich funktional konstituierte Wissenschaft dem Wissenschaftssystem in bestimmter Weise gegenübergestellt.14 Die Verortung der Philosophischen Theologie innerhalb des Theologiebegriffs macht es also erforderlich, die Funktionalität der Theologie und ihr damit festgelegtes Verhältnis zum System der Wissenschaften zur Darstellung zu bringen (Kapitel II). Erst dann kann in Kapitel III eine Interpretation der programmatischen Bestimmungen der Philosophischen Theologie selbst unternommen werden. Dabei wird sich auch für diese Disziplin die Funktionalität der Theologie, ihr Praxisbezug, als wesentliches Charakteristikum erweisen. Im IV. Kapitel soll dann eine Rekonstruktion der inhaltlich-materialen Ausführung des enzyklopädischen Programms erfolgen. Die Grundschwierigkeit besteht hier aber darin, daß Schleiermacher eine solche Ausführung nur als Fragment vorgelegt hat: Bekanntlich enthält die Einleitung zu seiner Dogmatik „Der christliche Glaube" neben anderen Fragestellungen auch Themen der Philosophischen Theologie, die dort allerdings in der Funktion einer Dogmatik-Grundlegung verhandelt werden. 15 Die Einleitung in die Glaubenslehre wird also so in den Blick zu nehmen sein, daß sie als fragmentarische Entfaltung derjenigen programmatischen Bestimmungen erkennbar wird, die der Philosophischen Theologie innerhalb der Enzyklopädie zugeschrieben worden sind. Im abschließenden Kapitel V soll schließlich versucht werden, die Funktionalität der Theologie, die das zentrale Charakteristikum des Schleiermacherschen Theologiebegriffs wie seines Programms der Philosophischen Theologie darstellt, in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext zu würdigen.
14 Vgl. dazu unten II.2. 15 Zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Philosophischen Theologie und der Einleitung in die Glaubenslehre vgl. unten IV. 1.
Einleitung
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Die vorliegende Arbeit verfolgt also das Ziel, die - im oben erläuterten doppelten Sinne - programmatischen Bestimmungen der Philosophischen Theologie, wie sie Schleiermacher im Rahmen seiner Theologischen Enzyklopädie als eigene Disziplin entworfen hat, in einer eingehenden Analyse zur Darstellung zu bringen. Diese Intention ist auch dadurch gerechtfertigt, daß die Philosophische Theologie als Schleiermacherscher Systembegriff bisher noch nicht im Zusammenhange dargestellt worden ist: Zwar wird in nahezu jedem Beitrag zur Interpretation der Einleitung in die Glaubenslehre erwähnt, daß Schleiermacher die in der Einleitung zur Glaubenslehre verhandelte Thematik - enzyklopädisch betrachtet - seiner Disziplin „philosophische Theologie" zugewiesen hat 16 ; die Philosophische Theologie selbst wurde aber bislang noch nicht zum eigenen Hauptgegenstand einer Untersuchung erhoben. Ein solches Vorhaben ist jedoch in jüngster Zeit dadurch begünstigt worden, daß mit der Edition der Vorlesungsnachschrift David Friedrich Strauß' zu Schleiermachers Enzyklopädievorlesung im Wintersemster 1831/32 ein authentischer Kommentar zur „Kurzen Darstellung" vorliegt, der eine einzigartige Verstehens- und Interpretationshilfe darstellt. Aber nicht nur die Enzyklopädie selbst wird durch eine systematische Darstellung der für die Philosophische Theologie entwickelten Bestimmungen erhellt; vielmehr kann eine solche Darstellung ihre Bedeutung auch für ein Verständnis der Einleitung in die Glaubenslehre beanspruchen, soweit diese Elemente einer Entfaltung des enzyklopädisch aufgestellten Programms der Philosophischen Theologie enthält. Denn bereits im allgemeinen stellt die Theologische Enzyklopädie Schleiermachers den unentbehrlichen Rahmen dar für ein adäquates Verständnis seiner Auffassung jeder theologischen Einzeldisziplin. 17 Daher gilt auch in diesem Falle für eine Interpretation der philosophisch-theologischen Elemente innerhalb der Einleitung in die Glaubenslehre, daß sie nicht vollständig und sachgemäß erfaßt werden können, wenn ihre enzyklopädische Grundlegung (innerhalb der Philosophischen Theologie) keine Berücksichti16 Vgl. etwa stellvertretend D. Offermann: Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre. Eine Untersuchung der „Lehnsätze", TBT 16, Berlin 1969, 238f. 27f. 30f. 17 Diese Bedeutsamkeit seiner „Kurzen Darstellung" hat Schleiermacher selbst hervorgehoben: „[...] auf diese [sc. Theologische Enzyklopädie] würde ich mich eben so zu berufen haben in jedem theologischen Lehrbuche, das ich noch schreiben könnte" (Zweites Sendschreiben 510, KGA 1/10, 367,20-22). Daher kann von der „Kurzen Darstellung" gesagt werden, daß sie „der Schlüssel der Schleiermacherschen Theologie überhaupt geworden ist" (K. R. Hagenbach: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Leipzig ['1833] 4 1854, 101).
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Einleitung
gung findet.18 Wie also für ein Verständnis der Schleiermacherschen Dogmatik insgesamt ihre enzyklopädische Verortung (innerhalb der Historischen Theologie) notwendig zu berücksichtigen ist 19 , so ist diese Verortung auch für die Dogmatik-£in/«i«wg eine unabdingbare Verstehensvoraussetzung. Eine Untersuchung des Programms der Philosophischen Theologie wird also möglicherweise auch einen lohnenswerten Zugang zum Verständnis der Einleitung in die Glaubenslehre eröffnen.
18 Auf diesen Sachverhalt hat bereits H. Süskind hingewiesen, der die „Bestimmungen der Encyklopädie" als „Schlüssel zum Verständnis der Einleitung in die G I L " angesehen hat (H. Süskind: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, 1. [einziger] Teil: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsphilosophie, Tübingen 1911, 31). Bei Süskind wird dieser Zusammenhang allerdings unzutreffend damit begründet, daß das von ihm bei Schleiermacher diagnostizierte „Schwanken, die Zweiseitigkeit in der geschichtsphilosophischen Begründung des Christentums" (ebd.) in der „Kurzen Darstellung" deutlicher zutage trete; vgl. zu Süskinds Schleiermacher-Deutung insgesamt unten S. 88ff, Anm. 89. 19 Vgl. dazu besonders H.-J. Birkner: Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik, NZSTh 5 (1963), 119-131, 124ff.
I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie 1. „Enzyklopädie" und „theologische Enzyklopädie" als literarische Gattungen Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" gehört als theologische Enzyklopädie einem literarischen Genus an, das zu seiner Zeit bereits eine eigene Entwicklungsgeschichte durchlaufen hat. Diese soll im folgenden kurz skizziert werden. 1 D e r Begriff „Enzyklopädie" ist eine gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufkommende Neuschöpfung des Humanismus: Einerseits eine Rückübersetzung des lateinischen Ausdrucks „orbis doctrinae", knüpft sie andererseits an den klassischen Ausdruck „έγχύχλιος παιδεία" an, der ursprünglich die ausführliche musische Bildung des attischen freien Bürgers bezeichnet hatte 2 , seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert aber als Kreis der vorbereitenden Wissenschaften und Fertigkeiten verstanden wurde. 3 Während im 16. Jahrhundert unter dem Titel „Enzyklopädie" vorwiegend Fragen nach der Ordnung und Einteilung des Wissensganzen verhandelt wurden 4 , deuteten sich im 17. Jahrhundert Differenzierungen in der Verwendung des Ausdrucks an 5 , die in der Folgezeit zu grundsätzlichen Unterscheidungen innerhalb des Enzyklopädiebegriffs führten: So entstanden auf der ei1 Vgl. dazu U. Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, A B G Suppl. 2, Bonn 1977; G . Ebeling: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, ZThK 67 (1970), 479-524, 484ff; G . Hummel: Art. „Enzyklopädie, theologische", in: T R E Bd. 9, 716-742; C. F. G. Heinrich Art. „Encyklopädie, theologische", in: R E 3 Bd. V, 351-364. 2 Vgl. Dierse: Enzyklopädie, 5f. Gemeint ist mit „enkyklios" demnach „nicht der Kreis der Wissenschaften, sondern der Kreis des Chores" (a.a.O., 6). 3 Vgl. Hummel: Enzyklopädie, 717,1-4. 4 Vgl. Dierse: Enzyklopädie, 9-15. 5 Diesen Sachverhalt hat G . Hummel (a.a.O., 720,1-20) exemplarisch am Werk J . H. Alstedts erläutert, der „encyclopaedia" einerseits als Summenbegriff im Sinne einer Universalenzyklopädie mit der Philosophie insgesamt identifiziert, andererseits aber als formalen Methodenbegriff versteht, indem er sie als „methodische Zusammenfassung dessen, was der Mensch lernen kann" (Dierse: Enzyklopädie, 18-20) definiert.
8
I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie
nen Seite die Universalenzyklopädien, von denen das von Diderot und d'Alembert herausgegebene Großprojekt der „Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers"6 die bekannteste geworden ist.7 Sie versteht sich zwar trotz ihrer alphabetischen Anordnung zugleich als systematischer Aufriß aller Wissensgebiete und Wissenschaften.8 In ihrem Gefolge entwickelte sich jedoch auch ein Verständnis von „Enzyklopädie" als lexikalischer Ansammlung von Wissen, die keine systematische Ordnung mehr beanspruchte, so daß der Ausdruck faktisch eine doppelte Bedeutung erhielt.9 Auf der anderen Seite kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - insbesondere durch deren Förderung an der Universität Göttingen10 - die Fach-Enzyklopädien auf, die zugleich die Aufgabe hatten, als „Methodologie" in das Studium der jeweiligen Fakultät einzuführen: Sie entstanden zunächst für die Jurisprudenz11 und die Theologie 12 , dann auch in der Kameralwissenschaft, den historischen Wissenschaften und der Militärwissenschaft.13 Ergibt sich bereits aus dem Ansatz und der Aufgabe der speziellen (Fach-)Enzyklopädie überhaupt, daß sie „stets an den praktischen Unterricht gebunden bleibt" 14 , so gilt auch für die theologische Enzyklopädie der Folgezeit, daß sie in erster Linie als propädeutische Einführung in das Theologiestudium fungiert, dabei aber ihren Gegenstand, die Theologie selbst,
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Bd. 1-28, Paris 1751-72; Supplément Bd. 1-5, Amsterdam 1776-77 Vgl. dazu Dierse: Enzyklopädie, 52-71. Vgl. Hummel: Enzyklopädie, 720,45-721,11. U. Dierse hat (a.a.O., 70f) darauf hingewiesen, daß sich eine Zusammenfassung beider Bedeutungen bereits bei Schleiermacher findet: In der Einleitung zur Ästhetik wird das „Encyclopädischefnj" einerseits als „Auszug des Materiellen" verstanden, also als thematischer Abriß der jeweiligen Wissenschaft ohne strenge Systematik (Ästh 1819 (Ms.), Ä O 14,28f (ÄLe 6,13f)); andererseits gilt jedoch: „Es muß einen Zyklus, eine wesentlich verbundene Mannigfaltigkeit der Teile geben, wenn eine Enzyklopädie bestehen soll" (Ästh 1819 (Ns.), Ä O 14,30-32).
10 Vgl. Dierse: Enzyklopädie, 73-78. 11 Vgl. a.a.O., 78-81. 12 Vgl. a.a.O., 77f; zur Bezeichnung einer methodologischen Einführung in das theologische Studium wurde der Begriff „Enzyklopädie" jedoch zunächst nicht verwendet (vgl. J . F. Buddeus: Isagoge historico-theologica ad theologiam universam singulasque eius partes, Leipzig 1727-31, Bd. 1, 106) bzw. abgelehnt (vgl. J. A. Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Halle 1786-89, Bd. 1, 35). S. Mursinna hat den Begriff dann für die Theologie übernommen: Primae lineae encyclopaediae theologicae, Halle 1764. 13 Vgl. Dierse: Enzyklopädie, 83-86. 14 A.a.O., 73
1. „Enzyklopädie" und „theologische Enzyklopädie" als literarische Gattungen
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als gegeben voraussetzt. 15 Erst Schleiermachers „Kurze Darstellung" ist mit dem Anspruch aufgetreten, zugleich eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Theologie zu leisten. Dadurch tritt aber die theologische Enzyklopädie insgesamt unter die gegenläufigen Bestimmungen, einerseits ,,praktische[n] Bedürfnissefn]" zu befriedigen und andererseits ein „wissenschaftliche^] Ideal" 16 zu erfüllen: propädeutische Hinführung und prinzipielle Grundlegung müssen zum Ausgeich gebracht werden. 17 Darüber hinaus läßt sich durch diese Neubestimmung auch die Unterscheidung zwischen „materialer" und „formaler" Enzyklopädie entwickeln: Ist in der einen für jede theologische Disziplin zugleich ein inhaltlicher Überblick und damit die Disziplin durch einen thematischen Abriß im Kern bereits selbst enthalten, so bietet die andere lediglich die äußere Ableitung der Disziplinen aus dem gewonnenen Begriff der Theologie. Auch Schleiermachers „Kurze Darstellung" ist als eine solche „formale Enzyklopädie" 18 anzusehen. Daher vertritt sie in besonderer Weise das literarische Genus „Compendium" 19 , das keine inhaltlich-materiale Vollständigkeit bezweckt,
15 Als exemplarisch für diese Tendenz können, was die Gliederung der Theologie angeht, die Enzyklopädien von Planck und Schmidt angesehen werden, vgl. G . J . Planck: Einleitung in die Theologische Wissenschaften, Leipzig 1794-95; J . E. C. Schmidt: Theologische Encyklopädie, Gießen 1811. 16 Vgl. Dierse: Enzyklopädie, 196. Unter diesem Gegensatz ist bei Dierse die Geschichte der theologischen Enzyklopädie im 19. Jahrhundert insgesamt dargestellt (vgl. a.a.O., 194-207). 17 Als Repräsentanten einer besonderen Betonung nur jeweils einer dieser beiden Intentionen können die Enzyklopädien von K. R. Hagenbach und K . Rosenkranz angesehen werden: Während die eine ein „»Studentenbuch«" sein will (Hagenbach: Encyklopädie, V I I I ) , in dem die Grundlegung der theologischen Wissenschaft und eine Studienanleitung derart „verschmolzen" sein sollen, daß die Methodologie „die Encyklopädie selbst duchdringt" (a.a.O., X ) , strebt die andere eine Darstellung der „Idee der Theologie" an (K. Rosenkranz: Encyklopädie der theologischen Wissenschaften, Halle 1831, V I I ) , die „alle Methodenlehren für unwirksam [hält], wenn sie mehr sein wollen, als der einfache Begriff der Wissenschaft selbst" (a.a.O., X X X I I I ) . Diesen Unterschied zwischen seiner eigenen Enzyklopädie und derjenigen Rosenkranz* hat bereits Hagenbach selbst festgestellt: „Die Bücher werden sich gegenseitig keinen Eintrag thun, da sie einem durchaus verschiednen Zweck dienen" (Hagenbach: Encyklopädie, V I I I (Vorrede zur zweiten Auflage)). 18 K D 2 § 20 Zs.; vgl. auch die „Vorrede" der Erstauflage: „[...] mir sener denen zu folgen, welche [...] lieber alle Aufmerksamkeit festhalten" ( K D 1 Vorrede O.S.). 19 Zur Bezeichnung der „Kurzen Darstellung" als „Compendium" (12.6.1813, an F. Schlegel); Briefe Meisner, 138 (13.9.1811, an J .
schien es angemesauf dem Formalen vgl. Briefe III, 430 Schulze).
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I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie
sondern bestrebt ist, den systematischen Zusammenhang darzustellen. 20
2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der „Kurzen Darstellung" 21 , so geht schon aus deren vollständigem Titel hervor, daß Schleiermacher sie „zum Behuf einleitender Vorlesungen" verfaßt hat: er hat sie seiner Vorlesung über „Theologische Enzyklopädie" zugrundegelegt. Dieses Kolleg ist eine seiner Hauptvorlesungen gewesen, die er insgesamt nicht weniger als elfmal gehalten hat22; bereits in seinem ersten Hallenser Semester gehörte sie zu seinem Vorlesungspensum: „Auch die theologische Encyclopädie ist mir wichtig und ich denke fast sie zu einem stehenden Collegio zu machen."23 Dabei kann der Beginn der Vorlesungstätigkeit in Halle geradezu als biographischer Anlaß für eine theologisch-enzyklopädische Grundlagenreflexion angesehen werden: Die Aufgabe, theologische Vorlesungen zu halten, erforderte eine „grundsätzliche[n] Besinnung über Wesen und Aufgabe der Theologie" 24 . Von Anfang an hat Schleiermacher sich auch mit dem Gedanken einer Veröffentlichung seiner theologischen Enzyklopädie getragen25: Ursprünglich bereits für die Michaelismesse 1806 20 Vgl. Gel. Ged. 559,1-10: „Auf der Universität dagegen ist man hierauf [sc. auf den Gesamtzusammenhang des Wissens] so sehr bedacht, daß man in jedem Gebiet das encyklopädische, die allgemeine Uebersicht des Umfanges und des Zusammenhanges als das n o t w e n d i g s t e voranschikkt [...]." Daher sind die „Hauptwerke der Universität als solcher [...] Lehrbücher, Compendien", die nicht „die Wissenschaft im einzelnen zu erschöpfen oder zu bereichern" haben, sondern „deren Verdienst in der höhern Ansicht, in der systematischen Darstellung besteht". 21 Uber die Entstehungsgeschichte gibt die seiner Edition der „Kurzen Darstellung" vorangestellte Einleitung von H . Scholz umfassend Auskunft (vgl. Scholz: Einleitung, XII-XXIII); vgl. auch Ebeling: Fundamentaltheologie, 487f Anm. 17 sowie H.-J. Birkner: Vorwort, in: ThEnz., VII-XI. 22 Vgl. Arndt/Virmond: Briefwechsel, 300ff. Nach den dort genannten Angaben sind die für das Wintersemester 1813/14 sowie das Sommersemester 1824 angekündigten Vorlesungen ausgefallen. 23 Briefe IV, 105 (4.11.1804, an G. Reimer); vgl. auch Briefe Gaß, 2 (= Briefe Meisner, 21; 13.11.1804). 24 Birknen Beobachtungen, 123 25 Vgl. Briefe IV, 105: „Vielleicht ist auch die das Erste worüber ich etwas drucken lasse. Denn ein oder das andere aphoristische Compendium möchte ich doch schreiben, es ist eine hübsche Gattung."
2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"
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geplant26, hat sie jedoch noch vier Jahre auf sich warten lassen, bis Schleiermacher unter dem 29.12.1810 seinem Freunde Gaß vermelden konnte: „Die theologische Encyklopädie ist nun endlich fertig geworden [ . . . f 2 7 . Ihre Gestalt als Vorlesungsaufriß ist zugleich der Grund dafür, daß die Schrift nach Schleiermachers eigener Auffassung „an und für sich sehr schwer verständlich" 28 ist. Verdanken sich die Kürze und Unklarheit der „Kurzen Darstellung" ursprünglich einem didaktischen Interesse29, so hat Schleiermacher bereits früh den Plan zu einer erweiterten Ausgabe gehabt.30 Für die zweite Auflage hat er daher die knappen Leitsätze der Paragraphen immerhin mit erklärenden Zusätzen versehen, die nach der „Vorerinnerung zur zweiten Ausgabe" den Zweck haben, „dem Leser eine Erleichterung zu gewähren" 31 . Die Umgestaltung der Zweitauflage betrifft neben den erwähnten Erweiterungen
26 Vgl. Briefe II, 48 (21.12.1805, an G. Reimer). 27 Briefe Gaß, 87. Schleiermachers Vorsatz der Veröffentlichung wurde bestärkt durch die Auseinandersetzung um die „Anweisung für angehende Theologen", eine von der theologischen Fakultät in Halle veröffentlichte Studienordnung, die in der Jenaer Literaturzeitung heftig kritisiert worden war (vgl. H.-J. Birkner Schleiermachers „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm, in: H. Hultberg/K. F. Johansen/T. j0rgensen/F. Schmöe (Hgg.): Schleiermacher in besonderem Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte in Dänemark. Vorträge des Kolloquiums am 19. und 20. November 1984, Kopenhagen/München 1986 (Kopenhagener Kolloquien zur Deutschen Literatur 13 = Text & Kontext Sonderreihe 22), 59-81, 79 Anm. 4). Schleiermacher billigte zwar diese Kritik, hatte sich aber verpflichtet gefühlt, eine gegen sie gerichtete offizielle „Erklärung" der Hallenser Fakultät mit zu unterzeichnen (vgl. Briefe Gaß, 53). Eine Drucklegung seiner eigenen Enzyklopädie hat er „wegen dieser Geschichte nur um so sicherer" beabsichtigt (ebd.). 28 Briefe Meisner, 138 (13.9.1811, an J. Schulze). Noch die zweiten Auflage der Glaubenslehre hält fest, daß „jene Schrift [...] zu kurz und aphoristisch [sei], als daß es nicht nötig sein sollte, dem dort Gesagten mit einigen Erläuterungen zu Hülfe zu kommen" (CG 2 § 1.1, Bd. I, 9,4-6). 29 Vgl. Briefe Meisner, 151 (27.3.1813, an A. Dohna): „Aber ein Handbuch ist nur für die Zuhörer, denen es in den Vorlesungen erklärt wird, es soll gerade ihnen die Sachen vorher unverständlich machen, die sie leider großentheils schon zu verstehen glauben, und soll ihnen hernach dienen, um an jeden Paragraphen eine Masse von Erinnerungen anzuknüpfen". 30 Vgl. Briefe Meisner, 138f (13.9.1811, an J. Schulze): „Bei den nächsten Vorlesungen will ich eine kleine literarische Anleitung hinzufügen, die dann, so Gott will, in eine zweite Auflage mit übergehen kann". 31 KD XLII; vgl. auch die briefliche Anfrage an Gaß, „ob meine Aenderungen auch Besserungen sind, und ob die kleinen Zusäze dem Leser helfen, ohne einen Drüberleser zu geniren." (Briefe Gaß, 228; 18.11.1830)
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I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie
zahlreiche Umstellungen und terminologische Modifikationen.32 Im ganzen sind aber keine gewichtigen sachlichen Veränderungen festzustellen.33 Die zweite Auflage ist 1830 erschienen und war nur noch einmal Grundlage einer Vorlesung: im Wintersemester 1831/32. Unter den 89 bzw. 90 Hörern dieser Vorlesung34 befand sich auch David Friedrich Strauß, der nach beendigtem Vikariat und vollzogener Promotion 35 eigentlich ,,[u]m Hegels willen" 36 nach Berlin gekommen, aber auch für die Auseinandersetzung mit Schleiermacher bestens gerüstet war: Nach eigener Meinung ist er „durch genaue Kenntnis von Schleiermachers Schriften und durch philosophische Studien mehr als seine gewöhnlichen Hörer auf seine Vorlesungen vorbereitet" 37 gewesen. Er kann also aufgrund seiner schon mitgebrachten SchleiermacherKenntnis 38 als kompetenter Vorlesungshörer gelten; wegen seiner virtuosen Mitschreibetechnik39 muß aber auch die von ihm angefertigte Vorlesungsnachschrift als höchst bedeutsam angesehen werden. Es ist daher als „Glücksfall" 40 anzusehen, daß diese Vorlesungsnachschrift durch die sachkundige Entzifferung und Edition von W. Sachs veröffentlicht werden konnte.41 Die Beschäftigung mit Schleierma32 Die meisten Abweichungen finden sich im dritten Teil „Von der praktischen Theologie", vgl. etwa K D 1 77 §§ 1-3 mit K D 2 §§ 309-311. 313 sowie K D 1 87-89 §§ 17-22 mit K D f §§ 291-295 und schließlich K D ' 91 § 1 mit K D 2 § 335. 33 Diese Behauptung soll für die Philosophische Theologie im einzelnen entfaltet und belegt werden, vgl. unten S. 106ff. 34 Vgl. die divergierenden Nachweise bei C. Clemen: Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, ThStKr 78 (1905), 226-245, 227 einerseits und bei Arndt/Virmond: Briefwechsel, 328 andererseits. 35 Vgl. W. Sachs: Einleitung des Herausgebers, in: ThEnz., X I I I - X L , XVIIff. 36 A.a.O., X X I 37 D. F. Strauß: Gesammelte Schriften Bd. 5, 7, zit. nach Sachs: Einleitung, X I V . 38 Zum damaligen Verhältnis zwischen Strauß und Schleiermacher vgl. D. Lange: Historischer Jesus und mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen F. Schleiermacher und D. F. Strauß, Gütersloh 1975, 190-194. 39 Vgl. Sachs: Einleitung, X I V . 40 Birkner: Vorwort, X ; vgl. die emphatische Aufnahme diese Diktums bei K. Nowak: Rezension von ThEnz., T h L Z 114 (1989), 291. 41 M. Junker weist zu Recht darauf hin, daß die Edition „ein altes Desiderat der Schleiermacher-Forschung" erfüllt. Dabei sei das Problem der Uberlieferung des Schleiermacherschen Werkes in Vorlesungsnachschriften durch die Zuverlässigkeit der Nachschrift und die „Entschlüsselungskompetenz des Herausgebers" „so gut wie überhaupt möglich gelöst" (M. Junker: Theologie im Aufriß [ = Rezension von ThEnz.], E K 21 (1988), 738). Für K. Nowaks auf den Ton der „Euphorie" (Nowak: Rezension, 291) gestimmte Rezension stellt die Edition insbesondere einen „förderlichen Impuls dar, auf erweiterter Textbasis" die Auslegung der „Kurzen Darstellung"
2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"
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chers theologischer Enzyklopädie wird durch diese Edition auf eine neue Grundlage gestellt.42 Anders ist dagegen eine weitere Vorlesungsnachschrift zu beurteilen, die im Wintersemster 1816/17 zu Schleiermachers Enzyklopädievorlesung entstanden ist. 43 Sie stammt von Ludwig Jonas. Jonas, geboren 1797, studierte von 1816 bis 1819 in Berlin und wurde Schüler Schleiermachers; darüber hinaus entwickelte sich zwischen ihnen ein enges Freundschaftsverhältnis.44 So stimmten sie nicht nur in politischen 45 und theologisch-kirchenpolitischen Fragen 46 überein, sondern der „Lieblingsschüler Schleiermacher's" 47 fand bei diesem auch persönlich freundschaftliche Aufnahme: Schleiermacher vollzog 1829 Jonas' Trauung mit Elisabeth von Schwerin und beauftragte ihn „neuerlich zu beleben" (ebd.); vgl. auch W. Kern: Rezension von ThEnz., ZKTh 111 (1989), lOlf. 42 Dabei sind Gewicht und Grenzen der Funktion von Vorlesungsnachschriften für die Schleiermacher-Interpretation zu berücksichtigen, die H.-J. Birkner eingehend und abschließend erörtert hat (Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, T B T 8, Berlin 1964, 16-20). 43 Das vollständige Titelblatt dieser Nachschrift lautet: „Theologische Encyclopädie nach dem Vortrage des H. Dr. Schleiermacher. Wintercursus 1816/17. Jonas". Sie wird im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Signatur „Nachlaß Schleiermacher 547/1" aufbewahrt und umfaßt 150 beidseitig beschriebene, aber nur einseitig paginierte Blätter. Sie wird im folgenden zitiert als „Ns. Jonas"; dabei werden die im Original nicht bezifferten Rückseiten mit dem Zusatz „R" versehen. Die zahlreichen Abkürzungen und gelegentlichen Schreibfehler Jonas' werden stillschweigend aufgelöst. Eine ausführliche Einführung in diese Nachschrift gibt H. J. Adriaanse: Der Herausgeber als Zuhörer. Ein SchleiermacherKollegheft von Ludwig Jonas, in: G. Meckenstock/J. Ringleben (Hgg.): Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, T B T 51, Berlin/New York 1991, 103-124. Adriaanse bietet auch eine auszugsweise Wiedergabe des Textes, zum Teil als Paraphrase. 44 Zur Person Jonas' vgl. F. Jonas: Art. „Jonas: Ludwig J.", in: ADB Bd. 14, 497f; F. W. Kantzenbach: Ludwig Jonas, Schüler und Freund Schleiermachers, ein Kämpfer für die Selbständigkeit der Kirche. Ein Beitrag zu seiner Biographie, J B B K G 44 (1969), 167-191; H.-F. Trauisen: Aus Schleiermachers letzten Tagen (25. Januar bis 12. Februar 1834), ZKG 102 (1991), 372-385, 372f. 45 Jonas' politische Aktivitäten (u. a. seine Teilnahme am Wartburgfest 1817) führten dazu, daß er 1822 trotz seines mit „vorzüglich" (vgl. Jonas: Art. „Jonas", 497) bestandenen ersten Examens zunächst keine Anstellung als Pfarrer erhielt; erst durch die Vermittlung Schleiermachers wurde er in eine Patronatspfarrei in Pommern berufen. 46 So beteiligte sich Jonas 1829 nach heftigen Angriffen der „Evangelischen Kirchenzeitung" gegen Schleiermacher an der schriftlichen Verteidigung seines Lehrers (vgl. Trauisen: Aus Schleiermachers letzten Tagen, 373) und trat auch später dafür ein, daß „die Grundsätze Schleiermacher's in Bezug auf die praktischen brennenden Fragen der Zeit, auf Union und selbständige Kirchenverfassung, weiter durchgeführt wurden" (Jonas: Art. „Jonas", 497). 47 Ebd.
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I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie
schließlich kurz vor seinem Tod mit der Verwaltung seines wissenschaftlichen Nachlasses.48 Die Vorlesungsnachschrift, die Jonas 1816/17 im Alter von 19 bzw. 20 Jahren angefertigt hat, stellt jedoch keine der Strauß'schen Nachschrift vergleichbare Interpretationshilfe dar: Sie ist offensichtlich nicht die kompetente Mitschrift eines promovierten Vikars, der „sich schon ins Einzelne der [Schleiermacherschen] Theologie vertieft hat" 49 , sondern der Versuch des Studienanfängers, möglichst viel des vom Vortragenden Geäußerten unmittelbar festzuhalten. Daher ist zum einen die Handschrift durch offenbar hastiges Mitschreiben stellenweise sehr unleserlich 50 ; zum anderen läßt sich inhaltlich eine zusammenhängende Argumentation nicht immer erkennen. 51 Hat die Nachschrift als ganze also einen geringeren Wert für ein Verständnis der Schleiermacherschen Enzyklopädie insgesamt, so ist sie möglicherweise dann von Interesse, wenn es um die Klärung von Detailproblemen der Erstauflage der „Kurzen Darstellung" geht. Sie ist daher insbesondere bei einem Vergleich beider Auflagen zu berücksichtigen.52 Die unmittelbare Aufnahme der „Kurzen Darstellung" ist bescheiden ausgefallen: Es sind nur wenige Rezensionen der Erstauflage bekannt geworden. Die bekannteste stammt von F . H . C h r . Schwarz 53 und ist bereits von H. Scholz ausführlich gewürdigt worden 54 , der ihren kritischen Gehalt in drei Punkten zusammengefaßt hat: Schwarz glaubt in der Gründung der (positiven) Theologie auf die (abso-
48 Vgl. dazu neuerdings Trauisen: Aus Schleiermachers letzten Tagen, 374ff. Jonas war im Rahmen der „Sämmtlichen Werke" Herausgeber der „Christlichen Sitte",· der Akademie-Abhandlungen und der „Dialektik". Daneben bereitete er den wissenschaftlichen Briefwechsel Schleiermachers zur Veröffentlichung vor, der dann von Dilthey herausgegeben wurde (Briefe III und IV). 49 Vgl. ThEnz. l,6f. 50 Den auffälligen Wechsel zwischen kaum leserlichen und deutlich besser entzifferbaren Passagen erklärt Adriaanse mit der einleuchtenden Vermutung, daß Jonas Abschriften aus dem „Kollegheft eines Kommilitonen" benutzt hat (vgl. Adriaanse: Herausgeber, 108). 51 Vgl. wiederum das Urteil Adriaanses, der Text sei „alles andere als vollendet formuliert; längere Anführungen sind ohne Glättung oft nicht genießbar" (a.a.O., 110). 52 Vgl. unten S. 106ff. 53 Rezension von F. Schleiermachen KD 1 und J. E. C . Schmidt: Theologische Encyklopädie, Gießen 1811, Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 5 (1812), 513532. Die Besprechung ist als Doppelrezension angelegt und beurteilt beide Enzyklopädien als „polarisch verschieden" (a.a.O., 532); die Schmidtsche Enzyklopädie verhandelt Schwarz allerdings nur anhangsweise auf den letzten drei Seiten. 54 Vgl. Scholz: Einleitung, XVIII-XX.
2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"
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lute) Wissenschaft der Ethik einen Widerspruch zu erkennen55, übt scharfe Kritik am Ausdruck „Standpunkt über dem Christentum"56 und erhebt Einspruch gegen die Zurücksetzung des Alten Testaments in Schleiermachers „Kurzer Darstellung".57 Die beiden letzten Kritikpunkte haben offenbar Auswirkungen auf die veränderte Fassung der zweiten Auflage gehabt, ohne jedoch eine wesentliche sachliche Umformung zu bewirken.58 Eine andere Rezension, auf die W. Birnbaum hingewiesen hat59, ist 1812 in der Neuen Leipziger LiteraturZeitung erschienen.60 Der anonyme Verfasser, der ebenfalls Schleiermacher und Schmidt gemeinsam rezensiert, bietet eine ausführliche und im ganzen zustimmende Paraphrase der „Kurzen Darstellung" und unternimmt es nach kritischen Einzelbeobachtungen61, „das System des Hrn. Verf. selbst mit einem prüfenden Auge zu betrachten" 62 . Dabei übt der Rezensent in dreifacher Weise Kritik an Schleiermachers Theologiebegriff: Zum einen werde durch Schleiermachers Sprachgebrauch der Unterschied zwischen Theologie und Religions55 Dieser Einwand beruht darauf, daß Schwarz den Ausdruck „positive Theologie" (Schwarz: Rezension von KD 1 , 527) als auf eine bestimmte positive Religion, das Christentum, bezogen mißversteht: „Gleich der erste Satz nimmt die Theologie als eine positive Wissenschaft an, und bald nachher wird sie doch als so abhängig von der Philosophie angesehen, daß die Ethik sie durch und durch bestimmen soll [...]." Auf diese Weise werde „alles Positive unter der Hand abgestreift: dann gehört aber das Ganze nicht mehr zu einer positiven Theologie [...] nämlich des Christenthums, [...] sondern es steht alles außerhalb der historisch-positiven Religion und unserer Kirche." (a.a.O., 527) Die Beziehung der Theologie zum geschichtlichen Christentum und ihr Gegründetsein auf die wissenschaftliche Ethik werden also von Schwarz im Sinne eines ausschließenden Gegensatzes mißverstanden (vgl. a.a.O., 522f). 56 Vgl. a.a.O., 525. 57 Vgl. a.a.O., 526. 58 Die vermeintliche Geringschätzung des Alten Testaments wird in KD 2 abgemildert: So wird KD 1 33f § 3 in KD 2 § 115 in entschärfter Form wiedergegeben; KD 2 § 128 fügt neben KD 1 37 § 19 die Notwendigkeit an, auch die alttestamentischen Bücher in ihrer Grundsprache zu verstehen; KD 2 § 141 Zs. knüpft an KD 1 34 § 4 an, bedeutet aber zugleich eine Aufwertung des Alten Testaments, indem es als „Hilfsbuch" auf den Kanon (und nicht auf die Historische Theologie insgesamt) bezogen wird. Zu den Auswirkungen der Kritik an der Wendung „Standpunkt über dem Christentum" vgl. unten S. 108ff. 59 Vgl. W. Birnbaum: Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth. Eine enzyklopädische Studie zur praktischen Theologie, Tübingen 1963, 98. 60 Theologische Encyklopädie, in: Neue Leipziger Literatur-Zeitung 1812, Nr. 102/103, Sp. 809-822 61 Schleiermachers Zurückstufung des Alten Testaments wird auch hier beanstandet (vgl. a.a.O., 816), aber mit Verweis auf KD 1 34 § 4 in abgeschwächter Weise verstanden. - S. 818 moniert das Fehlen des Ausdrucks „Homiletik", den Schleiermacher in der zweiten Auflage (KD 2 § 285) nachgeliefert hat. 62 A.a.O., 819.
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I. Schleiermachers Theologische Enzyklopädie
Wissenschaft aufgehoben 6 3 , zum anderen wird an der Dreiteilung der Theologie deren daraus resultierende Ähnlichkeit mit der „ihr doch nur gewissermassen verwandten Rechtslehre" 6 4 bemängelt. Drittens schließlich findet sich bereits hier der Vorwurf, daß die Funktionalisierung der Theologie durch die Kirche ihre Unabhängigkeit und Wissenschaftlichkeit beeinträchtige: Denn die Theologie verhalte sich zur Kirche wie ein „Mittel zum Zweck, und in jener ist Alles nur wahr und gut, was und in wiefern es für diese brauchbar ist" 6 5 . Die Stichhaltigkeit dieses Einwandes, der seither die SchleiermacherKritik durchgehend begleitet hat 6 6 , wird anhand einer ausführlicheren Analyse des Schleiermacherschen Theologiebegriffs 6 7 zu prüfen sein. Eine weitere, ausführliche Rezension findet sich in der Allgemeinen Literatur-Zeitung des Jahres 1811 68 . Sie ist überwiegend kritisch gehalten und beklagt vielfach die Unverständlichkeit der Schleiermacherschen „Aphorismen" 6 9 . Auffällig ist hier die scharfe Kritik an Schleiermachers Entwurf der Polemik: Die Bereinigung von „krankhaften Abweichungen" ( K D 1 14 § 15), der sich die Polemik widmen soll, berge die „Gefahr einer Rechtfertigung aller Aeußerungen der Intoleranz, selbst aller möglichen Gräuel der Inquisition und Kezzer63 Vgl. a.a.O., 819. 64 A.a.O., 822. Hier fügt der Rezensent einen eigenen Gliederungsvorschlag an, der die Theologie in eine „reine" (nämlich die „Erforschung und Darstellung des wahren, allgemein und für immer gültigen Christenthums, als Lehre und Institut betrachtet", und daher in exegetische und systematische zerfallend) und eine „angewandte" unterteilt, die der historischen und der praktischen Theologie „ihren schicklichen Platz und ihre wahre Bedeutung" zukommen ließen (ebd.). 65 A.a.O., 819. 66 So bezeichnet es D. F. Strauß als das Problem der Schleiermacherschen TheologieKonzeption, daß ihr „Grundgedanke nicht der immanente Begriff der christlichen Religion und Theologie" sei, „sondern nur ein äußerer Zweck der letzteren, nämlich die Kirchenleitung" (D. F. Strauß: Charakteristiken und Kritiken, Leipzig 1839,214). H. Scholz hat schließlich in der Einleitung zu seiner Edition der „Kurzen Darstellung" diesen kritischen Einwand wiederholt: Durch die Bestimmung der Kirchenleitung als eines konstitutiven Prinzips der Theologie werde diese einem „Motiv" untergeordnet, „das im Wortsinn konsequent entwickelt, die Theologie zu ruinieren droht, indem es sie zu einer höheren Technik erniedrigt" (Scholz: Einleitung, XXVIII). Allerdings ist bei Scholz dieser Vorwurf dadurch abgeschwächt, daß er selber auf den Zusammenhang zwischen dem Begriff der Kirchenleitung und dem ihm zugrundeliegenden „Interesse am Christentum" hingewiesen hat (a.a.O., X X X ) . Auch in jüngerer Zeit ist diese Kritik noch artikuliert worden, vgl. unten S. 61, Anm. 283. 67 Vgl. unten II.2.b). 68 Rezension von K D 1 , in: Allgemeine Literatur-Zeitung 1811, Nr. 171-173, Sp. 409429. 69 A.a.O., 409.
2. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"
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Verfolgung"70. Dadurch werde die „Idee" des Christentums, die der Polemik als Kriterium gegeben ist, zu einer „unbekannten Despotin, welche mit ihrem Zauberstabe nach Willkür Ketzer und Schismatiker stempelt"71. Insgesamt seien daher die polemischen Grundsätze „weder in der gesunden Vernunft noch in den christlichen Religionsurkunden begründet"72. Schließlich ist Schleiermachers Enzyklopädie auch in den von L. Wachler herausgegebenen „Theologischen Annalen" besprochen worden73: Die beifällige Rezension gibt eine knappe Zusammenstellung der Hauptgedanken Schleiermachers zu jeder theologischen Disziplin und schließt mit dem Wunsch nach einer zumindest partiellen Ausführung des enzyklopädischen Programms.74 Betrachtet man abschließend Schleiermachers theologische Enzyklopädie auf dem Hintergrund der Geschichte dieser Disziplin, so läßt sich zusammenfassend festhalten, daß Schleiermacher die traditionelle Einführung ins Studium der Theologie zur wissenschaftstheoretischen Grundlagendiszplin umgestaltet hat: Die Theologie wird nicht mehr nur als Inhalt des theologischen Studiums vorausgesetzt; vielmehr wird der Theologiebegriff selbst zum Gegenstand der Reflexion. Diese Neufassung gilt auch für die Behandlung der theologischen Disziplinen, die nicht als für das Studium der Theologie vorfindlich übernommen, sondern aus dem aufgestellten Begriff der Theologie abgeleitet werden.75 In der theologischen Enzyklopädie erfolgt also mit Schleiermacher die „Wende zum System", insofern hier erstmals eine „umfassende[n] Entfaltung der Theologie aus einem einzigen Begriff"76 geleistet ist.
70 71 72 73 74
A.a.O., 413. A.a.O., 415. Ebd. Rezension von KD 1 , in: Theologische Annalen 1812, 95-100. Vgl. a.a.O., 100: „[...] daß es dem Verf. gefallen möge, nach den hier gegebenen Winken ein oder anderes Fach der theologischen Wissenschaften, und am liebsten den philosophischen und practischen Theil, wofür er am meisten Virtuosität besitzen möchte, für das größere Publikum weitläuftiger bearbeitet, herauszugeben!" 75 Vgl. dazu unten II.3. 76 Hummel: Enzyklopädie, 732,31f (Hervorhebung i.O.). U . Dierse hat daher zu Recht Schleiermachers Behandlung der Enzyklopädie mit dessen eigenen Worten als „Reinigung und Ergänzung" (KD § 19) der Disziplin „Enzyklopädie" beschrieben (vgl. Dierse: Enzyklopädie, 197). Damit wird der „Kurzen Darstellung" diejenige Bedeutung bescheinigt, die Schleiermacher selbst als Ausweis der theologischen „Virtuosität" (ThEnz. 17,38) betrachtet hat, vgl. dazu unten S. 73ff.
II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie Schleiermachers Verständnis einer einzelnen Wissenschaft oder wissenschaftlichen Disziplin kann angemessen aufgefaßt und beurteilt werden nur im Zusammenhang seines Systems der Wissenschaften. Denn nach Schleiermachers Uberzeugung bilden Einheit und Zusammenhang ein wesentliches Kennzeichen der Wissenschaft überhaupt: In seiner Universitätsschrift 1 ist die „nothwendige und innere Einheit aller Wissenschaft" 2 zentrales Charakteristikum des dabei vorausgesetzten Wissenschaftsverständnisses.3 Dabei folgt der Zusammenhang der Wissenschaften aus dem Wissenschaftsbegriff selbst: Wenn die Wissenschaft definiert wird als auf die „Idee der Einheit und Totalität des Wissens" 4 bezogen, dann kann diese Idee nicht zusammenhanglos und unvollständig verfolgt werden. Vielmehr muß auch für die Wissenschaft selbst die Forderung nach Einheit und Totalität gelten, so daß nach Schleiermachers Verständnis jede Einzelwissenschaft konstitutiv auf den systematischen Zusammenhang aller Wissenschaften bezogen ist. Daraus folgt für die Darstellung und Interpretation einer jeden Einzelwissenschaft, daß vorab dieser systematische Zusammenhang eigens
1 Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, Berlin 1808 (zitiert nach SW I I I / l , 535-644) 2 A.a.O., 539,30 3 Daher liegt das „Bewußtsein von der nothwendigen Einheit alles Wissens" (Gel. Ged. 549,5f), der „allgemeine Sinn für die Einheit und den durchgängigen Zusammenhang alles Wissens" (a.a.O., 553,2f), jeder wissenschaftlichen Tätigkeit zugrunde. Diese Idee der Einheit der Wissenschaft bezeichnet Schleiermacher auch als „wissenschaftlicher Geist"; vgl. unten S. 55. 4 Der dritte Teil der Güterlehre von 1812/13, „Von den vollkommenen ethischen Formen" (E 320-371), bestimmt Wissenschaft als „diejenige Construction gleichartiger Actionen, welche den Grund ihrer Form in der Idee der Einheit und Totalität des Wissens hat" (Ethik 1812/13, E 351 (§ 161)); vgl. zur Erläuterung dieser Definition H. Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verständnis der Schleiermacherschen Theologie, Berlin 1909, 49f.
II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
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zu berücksichtigen ist.5 Und diese Interpretationsregel kann sich wiederum auf Schleiermacher selbst berufen: „Wenn man anfängt eine Disciplin zu behandeln, besonders aus einem Gebiet der positiven Wissenschaft: so muß man sich zuerst orientiren über den Ort die Bedingungen und den Zusammenhang derselben mit andern." 6 Diese allgemeine methodische Forderung gilt nun auch für eine Untersuchung von Schleiermachers Verständnis der Philosophischen Theologie. Sie erhält in diesem Fall zusätzliche Plausibilität durch die Beobachtung, daß Schleiermacher bei der Bestimmung von Wesen und Aufgabe der Philosophische Theologie selbst auf sein System der Wissenschaften verweist, indem er sie den unterschiedlichen Teilbereichen „Ethik" (KD § 35) und „Kritik" (KD § 37) zuordnet. 7 Diese sind daher in der folgenden Rekonstruktion des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems (II.l) besonders zu berücksichtigen. Zu den näheren Voraussetzungen der Philosophischen Theologie gehört sodann der Theologiebegriff selbst. Es ist deshalb unumgänglich, auch auf Schleiermachers Definition der Theologie als positiver Wissenschaft einzugehen (II.2), um abschließend seine Gliederung der Theologie in Einzeldisziplinen nachzuzeichnen (II.3), in der dann die Philosophische Theologie ihren enzyklopädischen Ort erhält.
5 Ein solches Vorgehen befindet sich in großer Übereinstimmung mit v. a. neueren Arbeiten der Sekundärliteratur (vgl. etwa Birknen Sittenlehre, 30-64; W. Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, G T A 14, Göttingen 1980,16-26; T. Lehnerer Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Deutscher Idealismus 13, Stuttgart 1987, 15-89; Chr. Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher O r t und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, SchlA 15, Berlin/New York 1994, 15-104). Darüber hinaus entspricht es nach Schleiermachers Diagnose der philosophischen Tendenz schon seiner eigenen Zeit: „In der neueren Philosophie ist es nicht selten, daß auch da, wo es nur auf Darstellung eines bestimmten Theiles angesehen ist, auch die ersten Grundzüge des ganzen Systems in verschiedenen Formen wiederholt werden [...]" (Briefe IV, 579,20-23). 6 PrTh 6,10-13; vgl. auch Gel. Ged. 539,23-28: „Wie genau hängt doch alles zusammen und greifet in einander auf dem Gebiet des Wissens, so daß man sagen kann, je mehr etwas für sich allein dargestellt wird, um desto mehr erscheine es unverständlich und verworren, indem streng genommen jedes einzelne nur in der Verbindung mit allem übrigen ganz kann durchschaut werden [...]." 7 Eine solche Zuweisung ist allerdings kein Spezifikum der Philosophischen Theologie, sondern folgt aus dem „positiven" Charakter der Theologie: Alle „positiven" Wissenschaften (bzw. ihre einzelnen Disziplinen) haben ihren ursprünglichen O r t im System der „realen" Wissenschaften, vgl. unten S. 47f.
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II. D e r enzyklopädische O r t der Philosophischen Theologie
1. Das System der Wissenschaften a) Gestalt und Geltungsanspruch des Systems Jede Darstellung und Interpretation von Schleiermachers Wissenschaftssystem als demjenigen Bezugsrahmen, der seinen wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt zugrunde liegt, hat in erster Linie den Charakter einer Rekonstruktion. 8 Denn Schleiermacher hat dieses System nicht als solches im Zusammenhange dargestellt 9 , sondern in verschiedenen Kontexten aus jeweils unterschiedlichen Motiven 10 zur Sprache gebracht. 11 Den Zusammenhang der Wissenschaften untereinander hat Schleiermacher also nur vereinzelt und ohne expliziten Anspruch auf Vollständigkeit entwickelt und vorgestellt. Neben dieser offenen und fragmentarischen Gestalt ist aber eine Relativität auch des Geltungsanspruchs dieses Wissenschaftssystems festzustellen. Zu dieser Vermutung geben wenigstens 12 zweierlei Indizien Anlaß: (1) Die Ethik-Einleitung von 1816 setzt ein mit einer Erörterung der „Bedingungen für die Darstellung einer bestimmten Wissenschaft" 13 . Darin begründet Schleiermacher die Notwendigkeit, für jede Wissenschaft eine „Ableitung vom höchsten Wissen" 1 4 zu führen: Nur durch eine solche Deduktion ist gewährleistet, daß die Bestimmung von Gegenstand und Methode einer Wissenschaft sowie ihre Abgrenzung gegen benachbarte Disziplinen nicht „willkührlich" 15 sind und ein bloßes „Werk der Meinung" 16 darstellen. Das „höchste Wissen", das den Ausgangspunkt und die Begründungsinstanz der Deduktion 8 Vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, 20f; Lehnerer: Kunsttheorie, 32; Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 17f. 9 U n d die faktische Gestaltung, in der Schleiermachers Gesamtwerk überliefert ist, kann bekanntlich nicht unmittelbar mit dem von ihm vorausgesetzten Wissenschaftssystem identifiziert werden, vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, 20f. 10 Explizit erwähnt wird die Intention etwa in der Ethik-Einleitung 1 8 1 6 / 1 7 , E 524,25: „Ableitung der Ethik" (Uberschrift des zweiten Abschnitts der Einleitung). 11 In den Einleitungen zur Ethik 1812/13 ( E 2 4 5 - 2 5 8 ) , 1813(16) ( E 4 8 7 - 5 1 1 ) und besonders 1 8 1 6 / 1 7 ( E 517-557), sowie in der Dialektik 1 8 1 4 / 1 5 (Tl.l §§ 197. 2 0 9 - 2 1 1 , D A 2 54f. 60f (DJ 130f. 142-147); T1.2 §§ 111-116, D A 2 115f (DJ 3 0 8 f dort §§ 3 4 1 - 3 4 6 ) und 1822 ( D O 271 f (DJ 424f). 461-464). 12 Vgl. Scholz: Christentum, 37ff, der neben der Relativität des Wissenschaftssystems die „undogmatische Haltung" der Philosophie Schleiermachers überhaupt betont, für die er unterschiedliche Begründungen bzw. Belege anführt. 13 Ethik 1816/17, E 517,2f (Uberschrift des ersten Abschnitts der Einleitung) 14 Ethik 1816/17, E 520 (§ 3) 15 A.a.O., § 3 2 s . 16 A.a.O., § 3
1. Das System der Wissenschaften
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bildet, kann jedoch nach Schleiermacher nicht für sich entwickelt und gewußt werden, sondern nur mit dem ihm untergeordneten zusammen. Denn „vollkommen verstanden" ist das „höchste Wissen" erst, wenn auch sein „Gegensaz", das Einzelwissen, „vollkommen verstanden ist" 17 . Daher gilt: „Alles Wissen kann [...] nur insgesammt zugleich vollendet sein und vollkommen" 18 . Diese Vollendung und Vollkommenheit kann jedoch nicht als verfügbarer Ausgangspunkt der Ableitung einer Wissenschaft oder des Wissenschaftssystems fungieren. Vielmehr ist sie stets nur approximativ erreichbar: Jede wirkliche Darstellung des „höchsten Wissens" kann „immer nur Abbild sein [...], in der Annäherung begriffen" 19 . Den Idealbegriff des „höchsten Wissens", der vom wirklichen Wissen nur näherungsweise erreicht werden kann, hat Schleiermacher auch als „Philosophie" - in emphatischem Sinn20 - sowie als „Idee der Weltweisheit" beschrieben: „Philosophie" als „das höchste Denken mit dem höchsten Bewußtsein" 21 besteht in der vollständigen „Durchdringung" 22 von spekulativem und empirischem 23 sowie ethischem und physischem 24 Wissen und ist wegen dieser nie schlechthin erreichbaren Vollkommenheit weniger ein realer Begriff als vielmehr ein Ideal: die „Idee der Weltweisheit"25. Sie ist die Vorstellung vom Gewußtwerden alles Wißbaren und daher nur als idealer Zielbegriff formulierbar. Zugleich bildet diese Idee jedoch als „höchstes Wissen" - diejenige Instanz, von der alles Einzelwissen hinsichtlich seiner Geltung abhängig ist. Das oberste Prinzip von Schleiermachers Wissenschaftssystem dient also seiner Geltungsfunktion nach als Ausgangspunkt, kann aber aufgrund seiner die Vollkommenheit des Wissens voraussetzenden Konstruktionsform nur als Ziel-
17 A.a.O., § 5 18 A.a.O., S 6 19 A.a.O., Randbemerkung 20 Scholtz: Philosophie, 73 unterscheidet diesen Begriff der „wahre[n], endgültige[n] Philosophie" von einem engeren Philosophiebegriff bei Schleiermacher, der auf die spekulative Erkenntnis- und Wissensform beschränkt ist. 21 Dial 1814/15, Einl. § 6, DA 2 3 (DJ 3) 22 Dial 1814/15, Tl.l § 209.1, DA 2 60 (DJ 142); vgl. Dial 1822 (Ns.), 86. Stunde, D O 461,34-36. 462,13; Ethik 1816/17, E 536 (§ 61). 23 Vgl. Dial 1814/15, Tl.l §§ 209f, DA 2 60f (DJ 142-144). T1.2 §§ 112f, DA 2 115 (DJ 308f d o n SS 342f), Ethik 1816/17, E 536 (§ 61). 24 Vgl. Ethik 1816/17, E 536 (S 61). 25 Dial 1814/15, T1.2 S 113, DA 2 115 (DJ 309 dort S 343); vgl. Ethik 1816/17, E 536 (S 61).
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
begriff verstanden werden. 26 Aus dieser Ambivalenz ergibt sich eine eigentümliche Relativität des Wissenschaftssystems. Denn die Darstellung einer bestimmten Wissenschaft muß angesichts des Dilemmas, daß eine Ableitung vom „höchsten Wissen" zwar notwendig ist, dieses aber nicht zur Verfügung steht, zwangsläufig und notgedrungen „unvollkommen anfangen" 27 . Schleiermacher erwägt nun zwei Möglichkeiten des unvollkommenen Anfangs 28 : Nach der „ersten Art" 29 verzichtet die Wissenschaft ganz auf eine ursprüngliche Ableitung innerhalb des Wissenschaftssystems, um zunächst ihren eigenen Gegenstand bearbeiten zu können 30 , während die „andere Art des Anfangs" 31 zwar eine solche Deduktion vom „höchsten Wissen" aus intendiert, sich zugleich aber dessen Unvollkommenheit und Vorläufigkeit bewußt ist.32 Beide defizienten Modi der Wissenschaftskonstitution haben verschiedene Vorzüge und Nachteile: Das Hauptproblem der „ersten Art" der Begründung einer Wissenschaft besteht in der Willkürlichkeit der Abgrenzung, die „durch ein dem Wissen fremdes Interesse bestimmt" sein muß und so die Wissenschaft selbst „in das Gebiet der Meinung" 33 verlagert. Dagegen verfügt die „zweite Art" mit der Ableitung zwar über ein Kriterium, aber ein unausgewiesenes, das nämlich selbst „nur als Meinung auftreten" 34 kann. Gemeinsam ist aber beiden unvollkommenen Formen der Wissenschaftskonstitution die Vorläufigkeit und Relativität, mit der die so oder so begründete Wissenschaft Geltung beanspruchen kann. Zudem stehen beide Verfahrensarten nach Schleiermacher in ei26 Auch W. Gräb hat darauf hingewiesen, daß die „Idee der Weltweisheit" bei Schleiermacher einerseits - hinsichtlich ihrer Konstitutionsweise - „in der Funktion eines regulativen Zielbegriffs den Schlußstein des Wissenschaftssystem" bildet, andererseits aber in ihrer Geltungsfunktion ein „notwendiges Prinzip der systematischen Wissenskonstruktion" überhaupt darstellt (Gräb: Humanität, 25; vgl. auch a.a.O., 59f). 27 Ethik 1816/17, E 521 (§ 8); vgl. auch Ethik 1812/13, E 245,15-18 (Randbemerkung). 28 Vgl. Ethik 1816/17, E 521 (§ 8). 29 A.a.O., § 9 30 Sie will „sich innerhalb ihrer Grenzen möglichst vollenden," ihre „Anleitung" hingegen erst später „hinzufügen" (Ethik 1816/17, E 521 (§ 8 Zs.)). 31 Ethik 1816/17, E 522 (§ 13) 32 Sie geht daher - zusammen mit dem „gleichzeitig werdenden höchsten Wissen" (Ethik 1816/17, E 521 ( § 8 Zs.)) und in Abhängigkeit von ihm - einen Entwicklungsprozeß ein, so daß sich auch ihre inhaltliche Ausarbeitung und „Vollendung" erst allmählich vollzieht. 33 Ethik 1816/17, E 521 (§ 9); vgl. zum „fremden Interesse" auch: Bemerkungen zur Ethik 1832, E 630,1-7 (Zu § 10). 34 Ethik 1813(16), E 489 (§ 9)
1. Das System der Wissenschaften
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nem Entwicklungsprozeß, insofern sie sich angesichts ihrer Unvollkommenheit jeweils revidieren und erneuern müssen. 35 Die einzelne Wissenschaft läßt sich also nicht endgültig deduktiv begründen, sondern ist stets „im Werden begriffen" 36 . Die Unvollkommenheit und der Werdecharakter sind zugleich der Grund dafür, daß verschiedene Entwürfe derselben Einzelwissenschaft entstehen: „So lange die Wissenschaft unvollendet ist, existirt sie auch in mannigfaltigen Gestalten, von denen keine allgemeingültig sein kann." 3 7 Innerhalb dieses Prozesses stehen die verschiedenen, jeweils unvollkommenen Entwürfe der Wissenschaftsbegründung in einem Konkurrenzverhältnis, in welchem jeder die absolute Geltung des je anderen bestreitet. Den aus dieser Konkurrenzsituation entstehenden Vergleich der verschiedenen Entwürfe, der deren jeweilige Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten aufdeckt, bezeichnet Schleiermacher nun als ein „jede Wissenschaft in ihrem Werden begleitendes kritisches Verfahren, welches sucht, indem es diese Gestaltungen in nothwendigen Bezug auf einander bringt, schon im Werden der Wissenschaft ihre Vollkommenheit aufzufinden". 3 8 Die Korrektur und wechselseitige Kritik bezieht sich dabei auf beide unvollkommene Begründungsweisen: Bezüglich der „ersten Art" bewirkt der kritische Vergleich, daß die verschiedenen fremden Interessen sich gegenseitig als unsachgemäß entlarven; die „einseitigen Versuche der Ableitung" 3 9 nach der „zweiten Art" können als einander ergänzend gedeutet werden. 40 Das „kritische Verfahren" besteht demnach in einer vergleichenden Untersuchung verschiedener positioneller Darstellungen einer Wissenschaft mit dem Ziel, zu deren wissenschaftstheoretischer Fundierung selbst beizutragen. Als Vergleich vorliegender Konzeptionen ist es aber ein ,,geschichtliche[s] Erkennen", das derselben Relativität verhaftet ist wie sein Gegenstand: Auch von ihm gilt, daß es nie „vollkommen gegeben, sondern nur im Werden 35 Vgl. Ethik 1816/17, E 523 (§ 17). 36 Ethik 1816/17, E 521 (§ 7); vgl. Ethik 1812/13, E 249,1 (Überschrift des dritten Abschnitts der Einleitung). 37 Ethik 1812/13, E 249 (§ 35) 38 Ethik 1816/17, E 523 (§ 18) 39 A.a.O., § 18 Zs. 40 Vgl. ebd. Diese Passage auf die beiden „Arten des Anfangs" zu beziehen, legen formale wie inhaltliche Beobachtungen nahe: Der äußeren Parallelität („indem [...] und indem") entsprechen inhaltliche Bezüge zu den §§ 9-15: „fremdetr] Interessen" charakterisieren die „erste Art" (vgl. §§ 10. 11 Zs. 16), während „einseitigefn] Versuche der Ableitung" die stets nur in „mehrern Gestalten" ( § 1 3 Zs.) vorhandene „andere Art" kennzeichnen.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
begriffen" ist. 41 Als Ergebnis seiner wissenschaftstheoretischen U n tersuchungen der „Bedingungen für die Darstellung einer bestimmten Wissenschaft" hält Schleiermacher daher fest: „Ehe die oberste Wissenschaft vollendet ist, kann auch dem, was behufs der Ableitung einer untergeordneten aus ihr mitgetheilt wird, keine Allgemeingültigkeit zukommen." 4 2 (2) Ein weiteres Indiz für die Vermutung, der Geltungsanspruch des Wissenschaftssystems werde von Schleiermacher relativiert, findet sich bei der Betrachtung des systematischen Ortes, den Schleiermacher der Systembildung selbst zuweist 43 : Das „architektonische Verfahren", das die letzte „Abtheilung" des zweiten Teils der Dialektik darstellt 44 , hat die Aufgabe, die „Vielheit [sc. des Wissens] zu ordnen und auf Einheit zu bringen" 45 . Es bildet zusammen mit der „Heuristik", die die Wissensverknüpfung von der Einheit ausgehend zum Thema hat 46 , die Theorie der „Combination" des Wissens. Für beide Aspekte der „Combination" gilt nun, daß in ihnen der künstlerische Charakter der Dialektik dominiert: „Das architektonische Verfahren von dieser Seite aus trägt am bestimmtesten den Charakter der Kunst an sich, wie wir dies von unserem ganzen Verfahren behauptet haben." 4 7 Kunst, sofern sie nicht bloß „mechanisch" bleibt, ist aber für Schleiermacher immer eine von Individualität und „Talent" ( K D § 265 2s.) der Produzierenden abhängige Tätigkeit: Die „höheren Künste" sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß die Ausführung von handlungsan41 Ethik 1816/17, E 524 (§ 19). Der eigentliche Wert des „kritischen Verfahrens" liegt daher weniger in seiner Begründungsfunktion als vielmehr in seiner regulativen und limitativen Kraft: „Es ist aber für jeden das beste Verwahrungsmittel nicht in der ihm eigentümlichen Einseitigkeit befangen zu bleiben." (Ethik 1816/17, E 524 (§ 20 Zs.) 42 Ethik 1816/17, E 524 (§ 22) 43 Vgl. Scholtz: Philosophie, 66. 44 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 §§ 105-116, D A 2 115f (DJ 300-309 dort §§ 335-346); Dial 1818 (Ns.), DJ 303-310; Dial 1822 (Ns.), D O 456-464. 45 Dial 1814/15, T1.2 § 5.1, D A 2 76f (DJ 180 dort § 234.1) 46 Vgl. ebd. 47 Dial 1822 (Ns.), 86. Stunde, D O 459; vgl. auch Dial 1818 (Ns.), DJ 307: „[...] im freien architektonischen Verfahren sind die Verhältnisse der einzelnen Gedanken noch nicht so fest bestimmt, und darum ist hier die Vollkommenheit in einem weit höheren Grade Kunst." Der Entwurf von 1814/15 legt dagegen den Akzent stärker auf das „heuristische Verfahren": „Es ist daher in allen seinen Zweigen wesentlich Kunst" (Dial 1814/15, T1.2 § 104, D A 2 115 (DJ 299 dort § 334). Hier wird allerdings bereits in der „Einleitung" der Dialektik insgesamt ein künstlerischer Charakter zugesprochen (vgl. Dial 1814/15, Einl. §§ 24f, D A 2 5 (DJ 12)), der aber seine „Vollendung" erst in der „Construction des Organismus des Wissens", der Architektonik, findet (Dial 1814/15, Einl. § 47, D A 2 8 (DJ 19).
1. Das System der Wissenschaften
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leitenden Regeln (einer „Kunstlehre") „nicht wieder unter Regeln zu bringen" 48 ist, sondern eine individuelle Veranlagung erfordert. Für ein solches von individuell zufälligen Gegebenheiten und Begabungen abhängiges Handeln ist nun zwar eine „Allgemeingültigkeit des Resultats" 49 anzustreben; diese unterscheidet sich aber von der strengen Allgemeingültigkeit des durch Objektivität und Intersubjektivität definierten Wissens: Es wird „vorgestellt [...] mit der N o t w e n d i g keit, daß es von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde" 5 0 . Die Allgemeingültigkeit des künstlerischen Handelns ist dagegen „eine durch die Darstellung des producirenden vermittelte" 51 . Kunstprodukten kommt demzufolge eine nur eingeschränkte Allgemeingültigkeit zu. 52 Dann muß aber auch für die Architektonik des Wissenschaftssystems vermutet werden, daß ihre Allgemeingültigkeit durch die jedenfalls auch künstlerische Art und Weise ihres Zustandekommens begrenzt und relativiert wird. 53 Diese Relativierung hat für Schleiermacher daher die Konsequenz, daß der Geltungsbereich philosophischer Systeme durch die Individualität ihres Produzenten eine Einschränkung erfährt: „Ein philosophisches System ist allemal ein Individuelles aus allgemeinen Elementen [...]". 5 4 Die Auswertung der beiden genannten Indizien führt also zu dem Ergebnis, daß der Geltungsanspruch des Wissenschaftssystems von Schleiermacher in bestimmter Weise eingeschränkt und geschichtlich relativiert wird. Diese Absage an den Absolutheitsanspruch des wissenschaftlichen Systems ist als Konsequenz aus Schleiermachers „Einbeziehung der Empirie" 5 5 in sein Systemkonzept zu verstehen: Wird 48 H u K F 360,12; Dial 1811 (Ms.), 43. Stunde, D A ! 50 (DJ 350) 49 Dial 1814/15, Tl.l § 89, D A 2 16 (DJ 4 6 ) 50 Dial 1814/15, Tl.l § 87, D A 2 16 (DJ 4 3 ) 51 Dial 1814/15, Tl.l § 8 9 Zs„ D A 2 16 (DJ 4 6 ) 52 Denn bei ihrer Herstellung und Beurteilung ist - im Unterschied zum „Gebiet des Erkennens" - „die persönliche Eigentümlichkeit des einzelnen mit in Rechnung" zu stellen (Dial 1822 (Ns.), 18. Stunde, D O 133,3-5). 53 Vgl. Diltheys Interpretation des „architektonischen Verfahrens" (Gesammelte Schriften, Bd. X I V / 1 , 2 2 0 - 2 2 7 ) ; hier wird die Notwendigkeit einer „Ahnung (des Ganzen), Divination, die dem künstlerischen Vermögen analog in eins wirkt" (a.a.O., 223) für die Architektonik besonders betont. 54 Ethik 1804/05, E 51. Mit derselben Intention betont Dial 1828, 18. Stunde, DJ 452 „die Folgerung [...], daß jedes aus einem einzelnen Denker entstehende System auch als eine individuelle Gestaltung anzusehen sei." Vgl. auch die zustimmende Aufnahme des „wahren und noch lange nicht nach seinem ganzen Umfange erkannten und angewendeten" Fichteschen Diktums, „daß am Ende das philosophische System eines Jeden von seinem Charakter abhängt" ( K G A 1/3, 471,26-472,1). 55 Scholtz: Philosophie, 6 9 (i. O . kursiv)
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II. Der enzyklopädische O n der Philosophischen Theologie
die Integration der geschichtlichen und natürlichen Empirie in das spekulative System schlüssig vollzogen, so kann sie nicht ohne Auswirkungen bleiben auf den Charakter des Systems selbst. Es macht also die zentrale Eigenart des Schleiermacherschen Systems aus, daß es „der Mannigfaltigkeit und Unabgeschlossenheit der Geschichte Rechnung trägt" 56 . Dabei führt Schleiermacher den Gedanken der Gleichwertigkeit von Spekulation und Empirie konsequent so zu Ende, daß dieser die geschichtliche Relativierung des Geltungsanspruchs seines philosophischen Systems bedeutet. Für die Philosophische Theologie ist dieser Sachverhalt deswegen von eigenem Belang, weil auch sie eine Form der Vermittlung von Spekulation und Empirie darstellt. 57 b) Die Ableitung des Wissenschaftssystems Für die Deduktion des Systems der Wissenschaften geht Schleiermacher auf einen obersten Teilungsgrund zurück: „Der höchste Gegensaz, unter dem uns alle andern begriffen vorschweben, ist der des dinglichen und des geistigen Seins. [...] Er ist aber der aller Wissensthätigkeit als ihre allgemeinste Bedingung einwohnende." 58 Ihre Begründung erhält die Annahme eines solchen „höchsten Gegensazes" aus dem Begriff des Wissens. In der Dialektik definiert Schleiermacher „Wissen" als eine bestimmte Form des Denkens: das durch die Ideale der Intersubjektivität und Objektivität bestimmte Denken. 59 Jedes Denken besteht aber für Schleiermacher aus zwei irreduziblen Erkenntnisstämmen 60 ; Vernunft und Organisation haben zwei für das Denken gleichermaßen konstitutive Funktionen: die „Bestimmung" der durch die organische Tätigkeit vermittelten diffusen Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken einerseits, und die „Belebung" der durch die intellektuelle Tätigkeit gewährleisteten Einheit des Gedachten andererseits.61 Die Betätigung der einen Funktion kann ohne 56 57 58 59 60
A.a.O., 78 Vgl. zum ganzen unten III.2.a). Ethik 1816/17, E 531 (§ 46) Dial 1814/15, Tl.l § 87, D A 2 16 (DJ 43); vgl. Lehnerer: Kunsttheorie, 18ff. Vgl. Dial 1814/15, Tl.l § 92, DA 2 17 (DJ 47): Denken als „ein gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden"; § 98 (DA2 18 (DJ 52)) spricht von der „organischen" und „intellectuellen Function". 61 „Ohne Einheit und Vielheit ist die Mannigfaltigkeit unbestimmt; ohne Mannigfaltigkeit ist die bestimmte Einheit und Vielheit leer" (Dial 1814/15, Tl.l § 119, DA 2 23 (DJ 64)). Schleiermachers Anlehnung an Kant geht hier offenbar bis in die Formulierung (vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Β 75; Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abteilung, Kants Werke,
1. Das System der Wissenschaften
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Beteiligung der jeweils anderen noch nicht oder nicht mehr als „Denken" bezeichnet werden. 62 Das Ideal der Objektivität des Wissens hat aber Auswirkungen auf die Bestimmung von Vernunft und Organisation im Denken: Beide Funktionen müssen sich auf ein Sein beziehen.63 Und beide Funktionen müssen sich auf dasselbe Sein beziehen.64 Wenn aber das Wissen seinem Gegenstand entsprechen können und also wahrheitsfähig sein soll, dann muß die Ubereinstimmung beider unterschiedlicher Funktionen möglich sein: „Das Bild und der Begriff repräsentiren also dasselbe Sein."65 Soll aber zugleich die grundsätzliche Verschiedenheit beider erkennender Funktionen aufrechterhalten werden, dann muß das solchermaßen repräsentierte Sein als unterschiedenes gedacht werden: es ist „als Begreißares und Abbildbares gesetzt" 66 . Der Differenz beider Erkenntnisformen entspricht also das Nebeneinander zweier „modi des Seins", des „Idealen" und des „Realen" 67 . Sie bilden den „höchsten Gegensaz" 68 , der damit als „Bedingung der Realität des Wissens" 69 fungiert. Die Pointe der Schleiermacherschen Konzeption des „höchsten Gegensazes" besteht nun aber darin, daß diese ontologische Gegenüberstellung zweier Seinsmodi mit der erkenntnistheoretischen Differenz von Wissen und Sein identifiziert wird 70 : „Dinglich ist das Sein als das Gewußte, geistig als das Wissende, beides natürlich im weitesten Sinne genommen." 71 Wo also überhaupt Denken und Gedachtes unterschieden werden, da wird der „höchste Berlin 1902-1923, Nachdruck als: Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 3, 75,14062 Vgl. Dial 1814/15, Tl.l §§ 107-109, DA 2 20 (DJ 55-57). 63 Denn Wissen ist gerade dasjenige Denken, „welches [...] vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend" (Dial 1814/15, Tl.l § 87, DA 2 16 (DJ 43)). 64 Denn die geforderte Entsprechung wäre unvollständig, wenn nicht das Wissen »von beiden [sc. Functionen] aus gleich ursprünglich auf das außer ihm als Sein gesezte bezogen" würde (Dial 1814/15, Tl.l § 99, DA 2 18 (DJ 52)). 65 Dial 1814/15, Tl.l § 129 Zs., DA 2 26 (DJ 74) 66 Lehnerer: Kunsttheorie, 43 (Hervorhebung i. O.) 67 Dial 1814/15, Tl.l § 132, D A 2 27 (DJ 75f) 68 Dial 1814/15, Tl.l §§ 133ff, DA 2 27f (DJ 76ff) 69 Dial 1814/15, Tl.l § 136, D A 2 28 (DJ 77) 70 Damit werden die logische und die ontologische Ebene in Schleiermachers Theorie des höchsten Gegensatzes „[kjofundiert"; so erweist sich „als der höchste Gegensatz zum Wissen sein Gegenstand, der Gegenstand des Wissens als sein Gegensatz" (R. Rieger: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund, SchlA 6, Berlin/New York 1988, 239f). 71 Ethik 1816/17, E 531 (§ 46 Zs.)
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
Gegensaz" bereits in Anspruch genommen.72 Daher läßt er sich auch nicht im strengen Sinne beweisen: Die Zustimmung zu diesem Grundgegensatz kann nicht durch eine begriffliche Begründung eingefordert werden, sondern ist Ergebnis eines jeweils nur subjektiv vollziehbaren Evidenzgeschehens.73 Die Anerkennung dieser in jedem Selbstbewußtsein vorausgesetzten Evidenz ist jedoch der jeweiligen „Gesinnung" 74 anheimgestellt. Denn der „höchste Gegensaz" muß zwar notwendig vorausgesetzt werden, wenn Wissen möglich sein soll; die Möglichkeit des Wissens selbst zuzugeben, ist aber nach Schleiermacher kein kognitiver, sondern ein sittlicher Akt. 75 Die Ableitung des Wissenschaftssystems geht nun von der Voraussetzung des „höchsten Gegensazes" aus76; er bildet dabei zugleich Ausgangspunkt und Gliederungsprinzip, indem ein jeweiliges Uberwiegen77 eines der beiden Pole 78 konstruiert wird: Auf der den Gegen72 Vgl. Ethik 1816/17, E 525 (§ 23 Zs.). 73 Denn nur „im Selbstbewußtsein ist uns gegeben, daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider" (Dial 1814/15, T1.1 § 101, D A 2 19 (DJ 53). 74 Dial 1814/15, Tl.l § 134, DA 2 28 (DJ 76) 75 „Wer ein Wissen will d. h. das Gefühl der Ueberzeugung anerkennt muß diese Duplicità! wollen[...]" (Dial 1814/15, Tl.l § 134.1,DA 2 2 8 ( D J 7 6 ) (Hervorhebung M.R.)). Auch Lehnerer geht (a.a.O., 46f) in seiner Interpretation dieses Paragraphen ausführlich darauf ein, daß die Annahme des höchsten Gegensatzes nicht argumentativ bewiesen wird, sondern „Sache der subjektiven Gesamthaltung" ist und letztlich in der individuellen „Anschauung des Lebens" (a.a.O., 47) gründet. Diesem Befund widerspricht allerdings Lehnerers Schlußfolgerung, daß Schleiermacher für die Wahrheit dieser „Anschauung" denn doch einen „Beweis" zu führen suche (ebd.). 76 Diese Voraussetzung steht gleichwohl in Ubereinstimmung mit der aufgewiesenen Unmöglichkeit, die Deduktion des Wissenschaftssystems von einem „höchstes Wissen" aus vorzunehmen (vgl. oben S. 20f); denn der „höchste Gegensaz" kann nur negativ beschrieben, nicht aber selbst konstruiert werden: „der Gegensaz selbst bleibt dabei immer hinter dem Vorhang" (Dial 1814/15, Tl.l § 133.1, DA 2 27 (DJ 76). Dabei ist die metaphorische Sprache nicht willkürlich, sondern konsequent: Der Gegensatz selbst läßt sich nicht begrifflich entwickeln; vielmehr kann sich die Sprache ihm nur entweder „poetisch" oder „rhetorisch d.h. leer" (a.a.O., § 133.2) annähern und ihn in unterschiedlicher Terminologie beschreiben; vgl. Ethik 1812/13, E 248 (§ 27); Dial 1814/15, T1.1 § 133, DA 2 27 (DJ 76); Ethik 1816/17, E 531 (§ 46). Ein „Wissen von Bestimmungen des höchsten Gegensatzes" selbst (Lehnerer: Kunsttheorie, 51) wird von Schleiermacher also gerade nicht in Anspruch genommen. 77 Damit ist nicht ein rein quantitatives Mengenverhältnis, sondern eine sachliche Uberordnung bezeichnet: „Das Uebergewicht ist aber [...] in nichts anderm zu sezen, als daß das eine aus dem Gesichtspunkt des andern und von ihm abhängig erscheint." (Ethik 1816 § 41 Zs., E 530) 78 Vgl. Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 38ff. Hier wird die „Gegensatzkonstruktion als die konstitutive methodische Figur des Gesamtsystems" (a.a.O., 38) Schleiermachers erwiesen.
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standsbereich des Wissens, das Sein als „das Gewußte" 7 9 bezeichnenden Seite ergibt sich daraus der subordinierte Gegensatz von Vernunft (Überwiegen des Idealen) und Natur (Überwiegen des Realen). 80 Dieser Gegenüberstellung entspricht auf der Seite des Erkenntnissubjekts das Nebeneinander von Spekulation (als Überwiegen der Begriffsform des Wissens) und Empirie (Überwiegen der Urteilsform) als verschiedene Methoden der Erkenntnis. 81 Eine Wissenschaftssystematik ergibt sich aus dieser Beziehung von Empirie und Spekulation auf Natur und Vernunft aber erst dadurch, daß beide Erkenntnismethoden auf beide Gegenstandsformen bezogen werden: So konstituieren sich die beiden „Vernunft"-Wissenschaften „Ethik" und „Geschichtskunde" einerseits, die beiden „Natur"-Wissenschaften „Physik" und „Naturkunde" andererseits.82 Diesen vier Realwissenschaften übergeordnet ist dann die „Idealwissenschaft Dialektik" 8 3 : Sie hat die Struktur und die Bedingungen des Wissens selbst zum Thema, so daß sich das gesamte Gebiet der reinen, d. h. aus der Idee des Wissens selbst abgeleiteten Wissenschaften in das bekannte Schema der fünf Grundwissenschaften gliedert. Eine genauere Bestimmung erfährt dabei noch das Verhältnis der spekulativen zu den empirischen Wissenschaften: Erstens besteht Schleiermacher darauf, daß dieser Gegensatz - wie im übrigen alle anderen auch - ein relativer ist 8 4 : Die Unterscheidung kann nicht als Trennung, sondern muß als ein jeweiliges Überwiegen der begrifflichen bzw. urteilsmäßigen Erkenntnisart verstanden werden. 85 Daher sind Ethik und Geschichtskunde voneinander abhängig und müssen stets aufeinander bezogen werden, anderenfalls sind sie „zusammengehörige Nichtigkeiten" 86 . 79 Ethik 1816/17, E 524 (§ 23) 80 Vgl. Ethik 1816/17, E 532 (§ 47). 81 Vgl. Dial 1814/15, Tl.l § 197, D A 2 54 (DJ 130). In Schleiermachers Terminologie stehen sich hier das „beschauliche" und das „beachtende[s] oder „erfahrungsmäßige" Wissen gegenüber (vgl. Ethik 1816/17, E 535 (§§ 57f). Der Ausdruck „beschaulich" ist möglicherweise eine wörtliche Übernahme des griechischen Ausdrucks „θεωρία", vgl. G . Scholtz: Schleiermacher und die Geisteswissenschaften, in: W. SchmidtBiggemann (u.a.): Disiecta membra. Studien Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag, Basel 1989, 123-135, 129. 82 83 84 85
Vgl. Ethik 1816/17, E 535f (§§ 59f); Dial 1822 (Ns.), 86. Stunde, D O 461f. Scholtz: Philosophie, 67 Vgl. Birkner: Sittenlehre, 33f. „Eben so ist alles empirische unphilosophisch, wenn es nicht zugleich speculativ, und alles speculative, wenn es nicht zugleich empirisch ist" (Ethik 1816/17, E 537 (§ 61 Zs.). 86 Ethik 1816/17, E 549 (§ 108 Zs.); vgl. auch a.a.O., 538-540 (§§ 65. 70-72).
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Zweitens wird das Verhältnis zwischen Spekulation und Empirie dadurch präziser bestimmt, daß Schleiermacher zwei Formen von „Brücken-Disziplinen" 87 einführt, die eigens dieses Verhältnis zum Thema haben: die „kritischen" und die „technischen" Disziplinen. 88 Dabei kommt den „kritischen" Disziplinen die Aufgabe zu, das aus der Geschichte empirisch Gegebene mit dem in der Vernunft spekulativ Entfalteten so zu vergleichen, daß eine Bestimmung und Beurteilung der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen ermöglicht wird. Sie vollziehen damit die „sittliche Kritik der Geschichte" 89 . Neben dieser theoretischen Verhältnisbestimmung von Spekulation und Empirie hat das „regelgebende oder technische Verfahren" die Aufgabe, eine „praktische Beziehung" zwischen beiden Wissenschafts- und Erkenntnisformen herzustellen.90 Damit entfernen sich die „technischen" Disziplinen - zu ihnen zählt Schleiermacher etwa Pädagogik 91 , Praktische Theologie 92 , Hermeneutik und Kritik 93 - aus dem eigentlichen Bereich der Wissenschaften und nähern sich „der Seite der Kunst" 94 . Ihre Aufgabe ist die Ermittlung und Beschreibung derjenigen Bedingungen, die eine angemessene und daher gelungene Praxis innerhalb einzelner geschichtlicher Erscheinungen (Staat, Kirche, Wissenschaft) ermöglichen. 95 Damit kann die Rekonstruktion des Systems der Wissenschaften als abgeschlossen gelten. Bevor aber das Verhältnis der Theologie zu 87 Schohz: Philosophie, 70; vgl. Scholtz: Geisteswissenschaften, 127. 88 Vgl. Ethik 1812/13, E 252 (§§ 57-61); Ethik 1813(16), E 505f (§§ 92-96); Ethik 1816/17, E 549f (§ 109). Auch mit dieser Unterscheidung geht Schleiermacher wie mit der Dreigliederung der Philosophie in Dialektik, Ethik und Physik (vgl. Scholtz: Philosophie, 68) - möglicherweise auf Vorbilder der Antike zurück, etwa die platonische Gegenüberstellung von Ιπιταχτιχόν und χριτιχόν μέρος, vgl. Scholtz: Geisteswissenschaften, 134 Anm. 20. 89 Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.) 90 Vgl. Ethik 1816/17, E 550 (§ 109 Zs.). 91 Vgl. Ethik 1812/13, E 332 (§ 74); Ethik 1816/17, E 550 (§ 109 Zs.); K D § 294 Zs. 92 Vgl. Ethik 1812/13, E 366 (§ 231); K D § 25; PrTh 25,9-16; 735,5-7 (Ms. 1828). 93 Vgl. Ethik 1812/13, E 356 (§ 189); H u K F 71,2f (Ms. und Ns.); H K 2 73 (Anm. 1812). 159. 94 Ethik 1816/17, E 550 (§ 109 Zs.) 95 W. Grab hat die „technischen" Disziplinen zutreffend beschrieben als Wissen, das nicht „durch seinen propositionalen Gehalt", sondern durch den „sowohl zielorientierten wie situationsadäquaten Umgang mit propositionalen Gehalten definiert ist" (W. Grab: Kirche als Gestaltungsaufgabe. Friedrich Schleiermachers Verständnis der Praktischen Theologie, in: G. Meckenstock/J. Ringleben (Hgg.): Schleiermacher, 147-172, 163). Wenn Grab (a.a.O., 164) diese Bestimmung dann aber auch auf die „Kritik" ausgedehnt, wird der spezifische Unterschied zwischen beiden Wissenschaftsformen wieder nivelliert.
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diesem Wissenschaftssystem betrachtet werden kann, ist auf eine Detailfrage innerhalb dieses Systems einzugehen, die für das Verständnis der Philosophischen Theologie von unmittelbarer Bedeutung ist. c) Die Bedeutung der „Kritik" in Schleiermachers System der Wissenschaften Da Schleiermacher selbst den „wissenschaftlichen Gehalt" der Philosophischen Theologie als „Kritik" bestimmt (KD § 37), ist deren Stellung und Bedeutung innerhalb des Wissenschaftssystems einer genaueren Analyse zu unterziehen. N u n hatte die Rekonstruktion der Grundzüge des Wissenschaftssystems für den Kritik-Begriff das auffällige Resultat ergeben, daß er an zwei Stellen begegnet: Erstens als „sittliche Kritik der Geschichte" 96 , die in der Form der ,,kritische[n] Disziplinen" 97 zwischen Ethik und Geschichtskunde zu vermitteln hat. Und zweitens als eine der Hermeneutik beigeordnete „Kunstlehre", die wie diese zu den „philologischen Disziplinen" zählt.98 Angesichts dieses Befundes ist daher die Frage zu stellen, ob diesen beiden Verwendungsweisen des Ausdrucks „Kritik" bei Schleiermacher ein einheitlicher Kritik-Begriff zugrunde liegt. (1) Die erste Verwendungsweise findet sich in den verschiedenen Fassungen der Ethik-Einleitung 99 sowie im ersten transzendentalen Teil der Dialektik 100 . Die genannten Stellen stimmen darin überein, daß sie „Kritik" als ein Verfahren beschreiben, welches die beiden unterschiedlichen Wissensformen „Spekulation" und „Empirie" aufeinander bezieht. Damit stellt „Kritik" die „relative Gestalt der Weltweisheit" 101 dar, deren absolute Fassung in einer vollständigen „Durchdringung" beider Formen bestünde. 102 Diese „Durchdringung" als „wahre reale Weltweisheit"103 ist jedoch dem endlichen, unter den Be-
96 97 98 99
Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.) Ethik 1812/13, E 252 (§ 58) Vgl. HuKF 71,2-8 (Ms. und Ns.). Ethik 1812/13, E 252 (§ 57f); Ethik 1813(16), E 505 (§ 92f); Ethik 1816/17, E 549f (S 109) 100 Dial 1814/15, Tl.l § 210, DA 2 61 (DJ 144); Dial 1822 (Ms.), XLVII. Stunde, D O 271f (DJ 424f) 101 Dial 1814/15, Tl.l % 210.1, DA 2 61 (DJ 144) 102 Vgl. zu dieser „erkenntnistheoretischefn] Ableitung und Begründung" der Kritik Süskind: Christentum, 67. 103 Dial 1814/15, Tl.l § 209.1, DA 2 60 (DJ 142)
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dingungen des Gegensatzes stehenden Wissen nicht möglich: Es kann sich dem Idealbegriff „Philosophie" immer nur annähern. 104 Die Aufgabe der „Kritik" besteht nun in einer Würdigung der empirisch-geschichtlichen Phänomene am Maßstab der spekulativethischen Grundbegriffe, „nemlich zu beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee [...] verhalten." 105 Eine solche „Beurteilung" der geschichtlichen Phänomene hat ihren Ausgangspunkt innerhalb der ethischen Grundbegriffe, geht aber zugleich über sie hinaus. Denn in der Ethik werden zwar die fundamentalen Formen „alles menschlichen Seins und Wirkens" 106 begründet und als legitim erwiesen; deren konkret-geschichtliche Entfaltung kann sie jedoch - als überwiegend spekulative Wissenschaft nicht beschreiben. Diese beurteilend mit einzubeziehen, ist erst das Geschäft der „kritischen Disziplinen" 107 , deren „Cyclus" 1 0 8 Schleiermacher u.a. die Religionsphilosophie109, die Ästhetik 110 und die Politik/Rechtsphilosophie 111 zuordnet. An diesen Beispielen läßt sich das Verhältnis von Ethik und „kritischen Disziplinen" und damit deren Funktion und Aufgabe selbst noch einmal veranschaulichen. In der Ethik werden neben anderen Geschichtskategorien jedenfalls auch „Staat", „Religion" und „Kunst" als notwendige Außerungsbzw. Ausdrucksformen des menschlichen Geistes nachgewiesen. Enthält jeder dieser Grundbegriffe seinerseits begriffliche Differenzie104 Vgl. oben S. 20f. Die Vorlesungsnachschrift 1818 (DJ 144 Anm.) bezeichnet die kritische Vermittlung der beiden Wissensformen geradezu als „Ersaz" für die nicht realisierte Idee des Wissens und spricht ihr zugleich die Funktion einer „Vergleichung" des realen mit dem „höchsten" Wissen zu. Parallele Formulierungen finden sich in der Ethik-Einleitung, nach welchen der „höhere kritische Prozeß" eine Vermittlungsposition zwischen realem und absolutem Wissen einnimmt (Ethik 1812/13, E 253 (§ 64); vgl. Ethik 1813(16), E 507 (§ 101). 105 Ethik 1812/13, E 252 (§ 57); vgl. die spätere Fassung der Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.): „Ihr Hauptgeschäft ist die Nachweisung der Bedeutung einzelner Theile der Geschichte in Bezug auf das Handeln der Vernunft überhaupt [...]". 106 Gel. Ged. 573,11 107 Vgl. Ethik 1812/13, E 274 (§ 76): „Eben so wenig aber darf die Darstellung alle Zustände des Werdens und alle einzelnen Gestaltungen jener großen Formen erschöpfen, weil sie sonst das Geschichtliche mit enthielte. Sie muß nur das Princip der Mannigfaltigkeit mit auffassen und muß das Uebrige den kritischen Disciplinen überlassen." 108 Ethik 1812/13, E 252 (§ 58) 109 Vgl. Ethik 1812/13, E 365 (§ 231); C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,9-12. 110 Vgl. Ethik 1812/13, E 366 (§ 232); K D § 23 Zs. 111 Vgl. K D § 23 Zs.; ThEnz. 23,14; C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,10 - die Terminologie ist hier uneinheitlich; vermutlich zählt hierzu auch die in Ethik 1812/13, E 252 (§ 61) „Staatslehre" genannte Disziplin (vgl. Süskind: Christentum, 56 Anm. 3).
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rangen und Bestimmungen, so fällt deren Explikation ebenfalls noch in den ethischen Gegenstandsbereich. 112 Damit ist das jeweilige „Princip der Mannigfaltigkeit" 113 aufgefaßt, die ethische Aufgabe abgeschlossen. Für die Untersuchung der „Mannigfaltigkeit" selbst, d. h. der Vielfalt der individuellen geschichtlichen Erscheinungen, sind dagegen die „kritischen Disziplinen" zuständig. Sie stellen eine Beziehung her zwischen dem in der Ethik entfalteten Begriffsgefiige und den empirischen Daten, indem sie einzelne geschichtliche Größen entsprechenden begrifflichen Bestimmungen zuordnen. Das Geschichtlich-individuelle wird also unter das Begriffliche subsumiert 114 . Diese Vermittlung von empirischem und spekulativem Wissen ermöglicht zugleich ein „Begreifen" des geschichtlich Gegebenen 115 , weil so die Mannigfaltigkeit der Geschichtsdaten auf ihr „Princip" 116 im ethischen Begriff bezogen werden kann. Die „Kritik" besteht also darin, „das in der Erfahrung gegebene Sittliche in das beschaulich Gewußte aufzulösen und aus diesem also philosophisch zu begreifen". 117 Für die einzelnen „kritischen Disziplinen" läßt sich die Aufgabe dann so formulieren, daß jede auf ihrem Gebiet das Wesen der jeweiligen geschichtlichen Erscheinungen zu bestimmen hat. So hat die Religionsphilosophie „die individuelle Differenz der einzelnen Kirche in comparativer Anschauung zu fixiren"118, also das jeder geschichtlichen Religion Eigentümliche, sie im Unterschied zu anderen Charakterisierende auszumachen, während etwa der Ästhetik die Aufgabe zukommt, „den Cyclus der Künste zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstformen darzustellen" 119 . Die Pointe der sich 112 F ü r den Staat ist dies der „Gegensaz von Obrigkeit und Unterthanen" (Ethik 1812/13, E 334 (§ 85); vgl. SW III/8, 3,1-3), das „wesentliche Schema des Staates" (SW III/2, 261,26), für die Kirche der von „Klerus und Laien" (Ethik 1812/13, E 361 (§ 209)) oder auch das Gegenüber von Vernunft- und Naturreligionen (vgl. E 364f (§§ 227f)). 113Ethik 1 8 1 2 / 1 3 , E 2 7 4 ( § 7 6 ) 114 Eine anschauliche Skizze dieser Vorgehensweise gibt Schleiermacher in der E n z y klopädie-Vorlesung am Beispiel der Religionsphilosophie: T h E n z . 24, 5-15, vgl. bes. Z. 14f. 115 Vgl. C G 1 § 6.3, K G A 1/7.1, 21,30-33: J e d e s Begreifen eines geschichtlich [ . . . ] gegebenen ist immer zusammengesezt aus gefundenem und vorausgeseztem; und eine solche Zusammensezung entsteht aus dem angedeuteten vergleichenden Verfahren." lieEthik 1812/13, E 274 ( § 7 6 ) 117 Ethik 1 8 1 6 / 1 7 , E 549 (§ 109 Zs.) 118 Ethik 1 8 1 2 / 1 3 , E 365 (§ 231) 119 Ethik 1 8 1 2 / 1 3 , E 3 6 6 (§ 232). Vgl. auch SW III/7, 2 3 , 2 9 - 3 1 . - F ü r die „Politik/Rechtsphilosophie" hat Schleiermacher die Aufgabenstellung in Analogie zur Religionsphilosophie lediglich angedeutet: „[...] welche mit Bezug auf den in der
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in einzelnen Disziplinen vollziehenden „sittliche[n] Kritik der Geschichte" 120 ist also darin zu sehen, daß sie ermöglicht, individuelle geschichtliche Erscheinungen hinsichtlich der sie charakterisierenden Wesensmerkmale zu erfassen.121 (2) In seinen Vorlesungen über Hermeneutik hat Schleiermacher die zu seiner Zeit geläufige122 sachliche Zusammengehörigkeit von „Hermeneutik" und „Kritik" übernommen. 123 Dabei stellt er beide „philologische" Disziplinen als einander wechselseitig voraussetzend und ergänzend gegenüber.124 Für beide Disziplinen hat er aber die gängigen Definitionen und Begründungen als ungenügend empfunden: In der Hermeneutik mußte Schleiermacher bekanntlich feststellen, daß „die allgemeinen Principien nirgends aufgestellt waren" 1 2 5 , so daß er sich zu nichts geringerem als einer Neubegründung der
Ethik entwickelten Begriff des Staates dasselbe zu leisten hätte für die verschiedenen individuellen Gestaltungen bürgerlicher Vereine" ( C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,12-14), vgl. ThEnz. 23,22-25. Als Vorarbeit zur Ausführung dieses „rechtsphilosophischen" Programms kann die Akademierede „Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen" (vorgelesen am 24. März 1814, abgedruckt SW III/2, 246-286) gelten: Ausgehend von den Grundgegensätzen „Regierung und Unterthan" sowie - als deren spezifische Tätigkeiten - „Gesez und Geschäft" (261 f) konstruiert Schleiermacher ein dreistufiges Entwicklungsmodell des Staates (vgl. bes. 278f), das dem religionsphilosophischen Stufenschema (vgl. C G 2 § 8) vergleichbar ist. Eine Subsumtion der geschichtlichen Staaten unter dieses Begriffsgefüge nimmt Schleiermacher hier allerdings nicht explizit vor. 120 Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.) 121 Vgl. Birkner: Sittenlehre, 35. 122 Bei F. A. Wolf bilden „Grammatik, Hermeneutik und Kritik" eine sachliche Einheit (F. A. Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wen, Berlin 1807, Nachdruck Weinheim 1986, 74,13f; vgl. 36-41). F. Ast behandelt „Hermeneutik und Kritik" als zusammengehörige Größe im Anschluß an die Grammatik (F. Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, 163), sie bedingen sich gegenseitig: „Die Kritik [...] setzt das Verständniß und die richtige Erklärung voraus" (a.a.O., 216); umgekehrt gilt jedoch: „Wo die Hermeneutik sich gehemmt fühlt [...]: da tritt die Kritik ein, um f...] die Gründe für die Aechtheit und die Unächtheit einer Schrift [...] gegeneinander abzuwägen" (a.a.O., 216f). 123 So stellt Schleiermacher in der „Allgemeinen Einleitung" ausdrücklich fest, daß „Hermeneutik und Kritik zusammengehören" ( H u K F 71,21 (Ms. und Ns.)); vgl. auch H u K F 353,35f sowie Allgemeine Hermeneutik (1809/10), H V 1310,8f. Entsprechend hat er seine Hermeneutik-Vorlesungen vom WS 1826/27 an unter dem gemeinsamen Titel „Hermeneutik und Kritik" angekündigt, vgl. Arndt/Virmond: Briefwechsel, 322ff. 124 Vgl. H u K F 71,2-15 (Ms. und Ns.); H K 2 73 (Anm. 1812). 159. 125 H K 2 123, vgl. W. Gräb: Die unendliche Aufgabe des Verstehens, in: D . Lange (Hg.): Friedrich Schleiermacher 1768-1834. Theologe - Philosoph - Pädagoge, Göttingen 1985, 47-71, 48f.
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gesamten Disziplin genötigt sah. 1 2 6 Auch im Blick auf die „Kritik" konstatiert Schleiermacher jedoch, daß die herkömmlichen Bestimmungen von „ U m f a n g und Inhalt derselben" nicht ausreichten. 1 2 7 In der Einleitung seiner Vorlesungen über „Kritik" 1 2 8 , besonders aber in seiner Akademie-Abhandlung „Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik" 1 2 9 hat Schleiermacher daher Überlegungen zu einer Neubestimmung auch des Kritik-Begriffs angestellt. 130 Der Vergleich bereits bestehender Definitionen von „Kritik" bildet dabei den Ausgangspunkt: Neben der „philologischen Kritik", die für die Echtheitsfrage schriftlicher Dokumente zuständig ist 1 3 1 , finden sich hier die „doktrinale Kritik", die „Würdigung eines Werkes in bezug auf seinen Gattungsbegriff" 1 3 2 , sowie die „historische Kritik", die Schleiermacher folgendermaßen beschreibt: „Ich glaube indes nicht was die Sache betrifft weit zu fehlen, wenn ich darunter die Kunst verstehe aus Erzählungen und Nachrichten die Tatsachen auszumitteln." 1 3 3 In den genannten Texten geht Schleiermacher dann der Frage nach, wie das Verhältnis dieser drei unterschiedlichen Auffassungen von „Kritik" zu 126 „[...] ich mußte also meinen eigenen Weg einschlagen" ( H K 2 123). Zum „geschichtlichen O r t " der Schleiermacherschen Hermeneutik vgl. B. Rösslen Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik. Untersuchungen am Beispiel M. Dummetts und F . D . E. Schleiermachers, Erfahrung und Denken 72, Berlin 1990, 168-174; vgl. auch die Rekonstruktion der „Vorgeschichte" (Rieger: Interpretation, 1 ) der Schleiermacherschen Hermeneutik im ersten Teil der Untersuchung Riegers. 127 Vgl. H u K F 348,8f. 128 Vgl. H u K F 241-257. 129 Gelesen am 20. März 1830, SW III/3, 387-402, zitiert nach H u K F 347-360 130 Daher markiert Schleiermachers Kritik-Begriff mit dieser Neufassung den Beginn einer „Methodologie der sich entwickelnden Geisteswissenschaften" (H. Holzhey: Art. „Kritik II.", in: HWP Bd. 4, 1267-1282, 1278). 131 „Man sagt wohl, die philologische Kritik beschäftige sich mit Schriften, insbesondere des klassischen Altertums, und zwar in Beziehung auf deren Echtheit" (HuKF 241,34-36 (Ns.)). Vgl. auch die Wiedergabe der im ganzen ähnlichen Definitionen Wolfs und Asts H u K F 348,15-20. 132 H u K F 351,26f. Den Begriff „doktrinale Kritik" übernimmt Schleiermacher von Wolf (vgl. H u K F 241,19 (Ns.); Wolf: Darstellung, 38,27), die Definition hingegen von Ast (vgl. H u K F 351,25-27). Allerdings gehört für Ast die „Beurtheilung und Würdigung des Geistes einer Schrift" (Ast: Grundlinien, 205) nicht zur Kritik, sondern bildet den Abschluß der Hermeneutik. Darüber hinaus benennt er kein einheitliches Kriterium einer solchen „Würdigung": Sie ist „relativ" als Vergleich verschiedener Schriftsteller (a.a.O., 206f), „national", wenn der „Genius des Volkes und des Zeitalters" berücksichtigt wird (a.a.O., 207) und „unbedingt", sofern ein Werk an „dem Wahren, Schönen und Guten an sich" gemessen wird (a.a.O., 209f). Schleiermachers Kritik-Begriff erhält dagegen durch die Einführung des „Gattungsbegriffs" ein einheitliches Beurteilungskriterium. 133 H u K F 354,36-39, vgl. 241,25-29; 245,38-40 („aus vorhandenen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Tatsache auszumitteln" (Ns.)).
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bestimmen ist. Dabei stellt er zunächst fest, daß sich die Aufgabe der „philologischen" unter den Begriff der „historischen Kritik" subsumieren läßt: Weil das Problem der Verfasserschaft eines Textes denselben Bedingungen unterliegt wie jede andere historische Frage, bildet die „philologische" einen Sonderfall der „historischen Kritik". Die Behauptung der Echtheit fungiert hier als „Erzählung", während die wirkliche - d.h. historisch am besten begründbare - Verfasserschaft der zu ermittelnden „Tatsache" entspricht. 134 Auch die „doktrinale Kritik" läßt sich jedoch nach Schleiermachers Ansicht der „historischen" unterordnen. Denn die Entscheidung der Frage, ob und inwiefern ein Werk seinem Gattungsbegriff, seiner „Idee" 1 3 5 , entspricht, kann ebenfalls mit der Formel der „historischen Kritik" beschrieben werden: Die „Gattungsbegriffe" als „Richtungen und Typen der Produktion" 1 3 6 können nämlich als „Tatsachen" aufgefaßt werden, zu welchen das jeweilige Werk eine „Erzählung" darstellt, indem es sie mehr oder weniger gelungen repräsentiert. 137 Daher kann Schleiermacher resümieren: „Und so läßt sich die doktrinale Kritik ebenfalls in die historische auflösen." 138 Der Begriff der „historischen" Kritik kann also so weit gefaßt werden, daß er sowohl die „philologische" als auch die „doktrinale" mit einschließt, und daher als allgemeinste Formulierung für die Aufgabe der Disziplin „Kritik" gelten. 139 Die eingangs gestellte Frage nach der Vereinbarkeit der beiden skizzierten Verwendungsweisen des Ausdrucks „Kritik" bei Schleiermacher läßt sich nun folgendermaßen beantworten: Die Bedeutung des 134 Vgl. H u K F 248f (Ns.). 354f. 135 A.a.O., 241,21 (Ns.); 245,4 (Ns.) 136 A.a.O., 357,30 137 Vgl. a.a.O., 357,30-34: „Aber was sind sie [sc. die Gattungsbegriffe] so betrachtet anders als die eigentlichste innerste Tatsache, und die einzelnen Werke selbst sind nichts anderes als Erzählungen von dieser Tatsache, Erscheinung oder Widerschein derselben in einem einzelnen." 138 A.a.O., 357,34f. In diesem Zusammenhang erwägt Schleiermacher eine noch größere Ausweitung des Kritik-Begriffs, unter den dann alles fällt, „was wir irgend im wissenschaftlichen Sinne des Wortes Kritik nennen". Diesem allgemeinsten KritikBegriff kann nur noch eine, nämlich die „produktive" Tätigkeit gegenübergestellt werden, „und beide in ihrer Beziehung aufeinander konstituieren das ganze geistige Leben" ( H u K F 358,6f); vgl. Holzhey: Art. „Kritik", 1278; M. Baum: Art. „Kritik I. Philosophisch", in: T R E Bd. 20, 68,44-48. 139 Von dieser Begriffsbestimmung aus kann Schleiermacher dann auch die traditionelle „Einteilung" der Disziplin neu begründen: Die „höhere" Kritik nimmt eine willkürliche Handlung zwischen ursprünglicher Tatsache und ihrer Uberlieferung in der Erzählung an, während die „niedere" Kritik eine unwillkürliche Veränderung unterstellt (vgl. H u K F 251ff (Ns.). 358f).
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Ausdrucks „Kritik" ist in beiden Fällen so verschieden, daß beide Verwendungsweisen nicht ohne weiteres zu einem einheitlichen KritikBegriff zusammengefaßt werden können. Schleiermacher gebraucht also den Ausdruck „Kritik" offenbar äquivok. Diese These legt sich aus vier Gründen nahe. Erstens ist die „historische Kritik", berücksichtigt man ihre eigene Verankerung im Wissenschaftssystem, keine „kritische", sondern eine „technische" Disziplin. Dieser Sachverhalt erhellt schon daraus, daß sie der explizit als „technische Disciplin" 1 4 0 bezeichneten Hermeneutik koordiniert ist. Aber auch die „Kritik" selbst wird von Schleiermacher als „Kunst" 1 4 1 bzw. „Kunstlehre[n]" 142 bezeichnet. Wenn also die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von „kritischen" und „technischen" Disziplinen soll aufrechterhalten werden können, dann dürfen „Kritik" und „kritische Disziplinen" nicht einfach identifiziert werden. 143 Zweitens besteht ein struktureller Unterschied zwischen dem Verfahren der „sittlichen Geschichtskritik" und der Methode der „philologisch-historischen Kritik". Denn die Ermittlung von „Tatsachen" aus „Erzählungen" setzt nicht spekulativ entwickelte Begriffe und empirisch gewonnene Urteile zueinander in Beziehung, sondern ist eine Abwägung verschiedener geschichtlich-empirischer Erkenntnisse: Weder die „Erzählung", deren begrifflicher Anspruch ja gerade geprüft werden soll, noch auch die zu ermittelnde „Tatsache" 144 besitzen den Status des spekulativ entwickelten Begriffs. Die Tätigkeit der „historischen Kritik" bleibt also eine Operation innerhalb des 140 Vgl. Ethik 1812/13, E 356 ($ 189). R. Rieger weist dagegen die Hermeneutik den „technischen" und den „kritischen" Disziplinen zu (vgl. Rieger. Interpretation, 245. 257f), weil die technischen „auf die kritischen Disziplinen angewiesen" seien (a.a.O., 257). Die aus dieser zutreffenden Feststellung gezogene Folgerung, die Hermeneutik sei zugleich Technik und Kritik, übersieht jedoch, daß Schleiermacher selbst der „technischen" Disziplin Hermeneutik als „kritische" Disziplin nicht wiederum die Hermeneutik, sondern die „Grammatik" zuordnet (Ethik 1812/13, E 357 (§ 190); vgl. auch HuKF 77,3f (Ms. 1828)). 141 HuKF 71,6 (Ms. und Ns.); 245,38; 354,37 142 HuKF 71,3 (Ms. und Ns.); vgl. die explizite Erörterung des regelgebenden Charakters der „Kritik": Die Anwendung der kritischen Regeln ist eine - selber nicht wieder unter Regeln zu bringende - Kunst, die Kritik selbst mithin eine „Kunstlehre" (vgl. HuKF 360,1-14); vgl. zu Schleiermachers Kunstbegriff oben S. 24f. 143 Vgl. jedoch M. Frank: Einleitung, in: HuKF, 7-67, 61f; Scholtz: Philosophie, 147. 144 Auch eine „Tatsache" ist für Schleiermacher kein ungeschichtlicher, der Spekulation angehörender Begriff, sondern wird „als Teil eines zusammenhängenden geschichtlichen Ganzen angesehen" (HuKF 305,25f).
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geschichtlichen Erkennens, während eine „kritische" Wesensbestimmung über das Empirisch-geschichtliche hinauszugehen hat. Drittens scheint sich für eine Interpretation von Schleiermachers Erwägungen zum Begriff der „philologischen Kritik" auf den ersten Blick folgende Parallelisierung nahezulegen: Schleiermacher stellt der „historischen Kritik", der er die „philologische" unterordnet 145 , den Begriff der „doktrinalen Kritik" gegenüber, und diese Gegenüberstellung entspricht ihrerseits dem Verhältnis von Spekulation und Empirie. Denn der „historische" Aspekt der Kritik untersucht das Verhältnis des geschichtlich Gegebenen zu seiner historischen Tatsächlichkeit, während ihre doktrinal-„ethische" 146 Dimension das Einzelne mit seiner „Idee" vergleicht. 147 Diese Deutung stellt also zugleich den Versuch dar, die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Kritik" zu integrieren. 148 Sie läßt sich jedoch aus zwei Gründen nicht aufrechterhalten: Zum einen steht nach Schleiermachers Meinung die „doktrinale" Kritik der „historischen" ja nicht selbständig gegenüber, sondern ist ebenfalls unter sie zu subsumieren. 149 Und zum anderen haben die genannten Ausdrücke für Schleiermachers eigenen KritikBegriff gar keine konstitutive Funktion. 150 Sie bilden lediglich das geschichtliche Material, den Ausgangspunkt der Erwägungen eines einheitlichen Begriffs der „philologischen Kritik". 1 5 1 Schleiermacher äußert sich hier also nicht „systembezogen" 152 , sondern untersucht „kritisch" - eine ihm vorgegebene Terminologie. Viertens schließlich unterscheiden sich beide Verwendungsweisen durch die Art und Weise der jeweiligen Begriffsbestimmung: Im Falle der „kritischen Disziplinen" handelt es sich um einen neuen, von 145 Vgl. H u K F 249,14-16 (Ns.); 355,3-6. 146 H u K F 245,26 (Ns.) 147 Vgl. Lehneren Kunsttheorie, 34f. 148 So Lehnerers (a.a.O, 34) explizit vorausgeschickte „These", die einen seiner von ihm programmatisch beschrittenen „integrative[n] Lösungswege" (a.a.O., 11) darstellt. 149 Vgl. H u K F 357,24ff. 150 Vgl. H u K F 357,18-20: „Die Tripartition, doktrinale, philologische, historische Kritik, haben wir nicht abgeleitet sondern nur aufgenommen". 151 Besonders deutlich ist dieses Vorgehen in der Vorlesung 1832 ( H u K F 241ff (Ns.)): Seinem didaktisch-hermeneutischen Konzept entsprechend setzt Schleiermacher ein mit der „Darlegung des muthmaßlichen Zustandes in welchem sich die Zuhörer befinden", dem „populärefn]" Element (Gel. Ged. 575,19) und stellt die schon vorhandenen Kritik-Begriffe vor ( H u K F 241 f (Ns.)). Sie fungieren damit als didaktischer Anknüpfungspunkt, nicht als sachliche Grundlegung für die eigene „productive" Erörterung (Gel. Ged. 575,24). 152 Vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, 21.
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Schleiermacher selbst konzipierten Begriff von „Kritik". Denn die Vermittlung zwischen Ethik und Geschichtskunde ist ein von Schleiermacher konstruiertes, in seinem Wissenschaftssystem verankertes Verfahren, das von ihm den Namen „Kritik" erhält.153 Durch diese Verwendungsweise wird also dem vorhandenen Ausdruck definitorisch eine neue Bedeutung zugewiesen. Im Falle der „philologischen Kritik" dagegen wird lediglich der Gebrauch eines schon üblichen Namens für eine bereits bestehende wissenschaftliche Disziplin erweitert und modifiziert - der Ausdruck selbst wird nicht programmatisch neu definiert. 154 Hat sich somit die Annahme eines einheitlichen Kritik-Begriff in Schleiermachers Gesamtwerk als unplausibel herausgestellt, dann ergibt sich daraus für die Interpretation möglicher weiterer Vorkommen des Ausdrucks „Kritik" bei Schleiermacher, daß sie nicht einfach mit einer der beiden divergenten Verwendungsweisen identifiziert werden können. Vielmehr muß im Einzelfall geprüft werden, ob inhaltliche Ubereinstimmungen mit einer der bisher diskutierten Verwendungsweisen bestehen; dabei ist auch die Stellung im jeweiligen Kontext und Erörterungszusammenhang eigens zu berücksichtigen. Im „Zweiten Technischen Teil" der Dialektik findet sich im ersten Abschnitt der „Construction des Wissens"155 innerhalb der „Theorie der Begriffsbildung" 156 folgende Passage: „Die Relativität kann zum Wissen nur erhoben werden durch das kritische Verfahren, welches also ein unnachläßliches Correlatum des unmittelbaren ist." 157 Mit „Relativität" ist hier der Sachverhalt bezeichnet, daß der Begriffsbildung keine absolute Allgemeingültigkeit zukommen kann: Sie ist eingeschränkt durch die „Relativität des Wissens" 158 . Dieses unter-
153 Daher sieht sich Schleiermacher auch genötigt, die von ihm vorgenommene Bezeichnung eigens zu legitimieren, vgl. ThEnz. 35,19-26. 154 Für diese Einschätzung spricht auch die Beobachtung, daß Schleiermacher an anderer Stelle „Kritik" als Bezeichnung für die philologische Disziplin als selbstverständlich übernehmen kann, vgl. die Aufnahme der „höhere[n]" (KD §§ 110. 113) und „niederen Kritik" (KD § 118) in die Exegetische Theologie, die die Ausdrücke lediglich „hergebrachtermaßen" verwendet (KD § 118 Zs.). 155 Vgl. Dial 1814/15, T1.2, §§ 7-100 (DA 2 78-114 (DJ 182-286 dort §§ 236-329)). 156 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 §§ 19-74 (DA 2 84-110 (DJ 195-260 dort §§ 248-303)). 157 Dial 1814/15, T1.2 § 47, DA 2 99 (DJ 231 dort § 276); vgl. die aufgrund des Kontextes identifizierbaren Parallelstellen Dial 1811 (Ms.), 39f. Stunde, D A , 46f (DJ 345f); Dial 1822 (Ns.), 68. Stunde, D O 378-381; Dial 1831 (Ms.), LXIX. Stunde, DJ 550 (§§ lOf). LXXVI. Stunde, DJ 560 (§ 23). 158 Dial 1814/15, T1.2 §§ 44f, DA 2 97f (DJ 228f dort §§ 273f)
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liegt zwar einerseits dem Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit159, ist aber andererseits der „Irrationalität" 160 der Sprache verhaftet, die ihre unhintergehbare Voraussetzung bildet. Schleiermacher muß hier also einen Widerspruch konstatieren zwischen der Forderung einer „Identität des Denkens", ohne die sich die Idee des Wissens nicht aufrechterhalten läßt, und der „Differenz des Gedachten" 161 , die aus der Individualität und Unverrechenbarkeit der Sprache162 resultiert.163 Und die Notwendigkeit, die Identität des Gedachten trotz der Individualität der Sprache anzunehmen, also den Widerspruch aufzulösen, begründet die Notwendigkeit eines „kritischen Verfahrens": Der Widerspruch kann nur dadurch aufgehoben werden, daß die „Relativität des Wissens" bei der Forderung seiner InterSubjektivität berücksichtigt wird. 164 Der unübertragbare Charakter des je einzelnen „Bezeichnungssytem[s]" 165 muß also selbst Gegenstand des Wissens sein, damit dieses - eine „indirecte" - Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. 166 Auf diese Weise die der Identität des Wissens tendenziell zuwiderlaufende Individualität der Sprache in den Prozeß der Begriffsbildung einzuholen, bedeutet daher, „die Irrationalität durch Kritik aufzuheben". 1 6 7 Dieses „kritische Verfahren", durch das die „Relativität des Wissens" ihrerseits relativiert - nämlich: „zum Wissen [...] erhoben" wird, bildet also deswegen ein „unnachläßliches Correlatum" 168 des 159 Vgl. Dial 1814/15, T1.1 § 87, D A 2 16 (DJ 43). 160 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 44.1, D A 2 97 (DJ 228 dort § 273.1). 161 Dial 1814/15, T1.2 § 45, D A 2 98 (DJ 231 dort § 229) 162 Vgl. Dial 1814/15, Tl.l § 125.2, D A 2 25 (DJ 68f): „Kein Wissen in zwei Sprachen kann als ganz dasselbe angesehen werden; auch Ding und A = A nicht". Deswegen „giebt es in der Realität kein reines Wissen sondern nur verschiedene concentrische Sphären der Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Principien" (a.a.O., § 125, D A 2 24 (DJ 68)). 163 Vgl. Lehnerer. Kunsttheorie, 35f. 164 Die Relativität muß mithin „selbst auf ein Wissen gebracht werden" (Dial 1814/15, T1.2 § 45, D A 2 98 (DJ 229 dort § 274). 165 Dial 1814/15, T1.2 § 43.1, D A 2 96 (DJ 225 dort § 272.1) 166Vgl. Dial 1811 (Ms.), 39. Stunde, DAi 46 (DJ 345): „d.h. dadurch daß man das Princip der Eigenthümlichkeit als ein eignes Sein mit zu verstehen sucht und dadurch eine indirecte Gemeinschaft des Denkens zu Stande bringt." 167 Dial 1811 (Ms.), 39. Stunde, DAi 46 (DJ 345). Dieser Kritik-Begriff ist wohl auch im „Brouillon zur Ethik" (1805/06) vorausgesetzt: Auch hier soll durch „Kritik" kompensiert werden, daß das Wissen „durch das Element des Besonderen ein Unübertragbares, also Unverständliches" wird (Brouillon zur Ethik 1805/06, 53. Stunde, E 169). Daher ist „im Erkennen des Erkennens eine Aufgabe gesezt das Individuelle in Objectives aufzulösen, und dies ist das Object der Kritik" (ebd.; vgl. auch a.a.O., 173. 175). 168 Dial 1814/15, T1.2 § 47, D A 2 99 (DJ 231 dort § 276)
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realen Wissens, weil es an dessen Intersubjektivität weiterhin festzuhalten ermöglicht.169 Es hat daher für das „Gebiet des Wissens im engeren Sinne" eine konstitutive Funktion. 170 Damit ist es jedoch auf einer prinzipielleren Ebene angesiedelt als die „kritischen Disziplinen" und geht deren Tätigkeit sachlich voraus: Es besteht nicht in einer Vermittlung von spekulativem Begriffswissen und empirischem Urteilswissen, sondern bezieht sich auf den Vorgang der Begriffsbildung selbst.171 Die „kritischen Disziplinen" bilden also eine Erweiterung und Anwendung172 des „kritischen Verfahrens" der Begriffsbildung: Wie hier „der individuelle Faktor" 173 der Sprache bei der Bildung von Begriffen berücksichtigt werden muß, so ist dort die begrifflich unableitbare Entwicklung der Geschichte „kritisch" mit dem in der Ethik aufzustellenden „Princip der Mannigfaltigkeit"174 zu vergleichen. Kann somit das „kritische Verfahren" mit keiner der beiden bisher erörterten Verwendungsweisen des Ausdrucks „Kritik" unmittelbar identifiziert werden175, dann ist das vorausgesetzte Verhältnis dieser drei eigenständigen Kritik-Begriffe folgendermaßen zu rekonstruieren: Legt man den in der „sittlichen Geschichtskritik" zu vermittelnden Gegensatz von spekulativ-begrifflichem und empirischgeschichtlichem Erkennen zugrunde, so lassen sich die beiden anderen Kritik-Begriffe jeweils einem Glied dieses Gegensatzes zuordnen. Denn das „kritische Verfahren" der Dialektik ist auf die Begriffsbildung bezogen, die Tatsachenermittlung der „philologisch-historischen Kritik" dagegen hatte sich als eine auf das geschichtliche Gebiet beschränkte Erkenntnisweise herausgestellt.176 Oder anders formuliert: Das die Begriffsbildung begleitende „kritische Verfahren" ist ,ober169 „Das kritische ist also ein ursprüngliches Element des Wissens, da es schon bei der frühesten Form der Begriffsbildung unentbehrlich ist" (Dial 1811 (Ms.), 40. Stunde, DAi 47 (DJ 346); vgl. Dial 1831 (Ms.), L X I X . Stunde, DJ 550 (§ 11)). Die Fassung von 1831 erwähnt darüber hinaus ein im Entwurf 1814/15 nur angedeutetes (vgl. T1.2 § 44.2, DA 2 98 (DJ 229 dort § 273.2)) „[k]ritisches Verfahren" im Deduktionsprozeß, das gegen „verkehrliche[n] oder polemische[n]" Begriffsbildungen gerichtet ist (Dial 1831 (Ms.), LXXVI. Stunde, DJ 560 (§ 23)). 170 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 48, DA 2 99 (DJ 231 dort § 277). 171 Vgl. Dial 1831 (Ms.), LXIX. Stunde, DJ 550 (§11). 172 Vgl. Dial 1822 (Ns.), 68. Stunde, D O 381,3. 173 A.a.O., D O 379 174 Ethik 1812/13, E 274 (§ 76); vgl. oben S. 32f. 175 Vom Begriff der „philologischen Kritik" als einer auf geschichtliches Erkennen bezogenen „Kunst(lehre)" (HuKF 71,3.6) ist es klar unterschieden. 176 Denn „Erzählung" und „Tatsache" stehen beide innerhalb des Geschichtszusammenhangs; vgl. oben S. 37f.
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halb' der sittlichen Geschichtskritik angesiedelt, bezieht sich nämlich auf das Gebiet des spekulativ-begrifflichen Wissens. Die „philologischhistorische Kritik" hingegen vollzieht sich ,unterhalb' der „kritischen Disziplinen", weil sie eine geschichtlich-empirische Erkenntnisweise darstellt. Neben diesen drei spezifischen, aber unterschiedlichen Verwendungsweisen des Kritik-Begriffs findet sich der Ausdruck bei Schleiermacher auch in der allgemeinen und herkömmlichen Bedeutung von „Beurteilung" und „Prüfung": So bestimmen die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" 177 , das „Geschäft einer solchen Kritik" als die Untersuchung der Frage, „in wiefern die Ethik in ihren bisherigen Gestalten den Anspruch eine eigne und ächte Wissenschaft sein zu wollen gerechtfertiget hat" 1 7 8 . Die „Kritik" besteht hier also in einer Prüfung des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit; mit dieser Bedeutung trifft sich das bereits erwähnte, ebenfalls „kritisch" genannte Verfahren 179 , das in einem Vergleich verschiedener Entwürfe ein und derselben Wissenschaft besteht. 180 In diesem allgemeinen Sinne einer 177Berlin 1803, zitiert nach SW III/l, 1-344 178 Grundlinien 9,22-25. Dabei wird zwar die Art und Weise dieser „Kritik" genau bestimmt als eine „Kritik [...] der wissenschaftlichen Form" der Ethik (a.a.O., 8,16) nach bestimmten Grundsätzen und innerhalb bestimmter „Grenzen" (vgl. a.a.O., 9ff). Daß aber mit „Kritik" stets eine „Beurteilung" oder „Prüfung" gemeint ist, wird dabei als Grundbedeutung vorausgesetzt: der Kritiker wird als „der urtheilende" bezeichnet (a.a.O., 4,18); vgl. zu „Beurteilung" auch a.a.O., 5,18; 17,6f. Den „Grundlinien" liegt also das allgemeine Verständnis einer rezensierenden „Kritik" zugrunde (vgl. E. Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, 174f), die der „Geschichtlichkeit des Wissens" Rechnung trägt (a.a.O., 233f); sie repräsentieren somit noch nicht den späteren, spezifischen Begriff der „kritischen Disziplinen" als „Durchdringung des Spekulativen und Historischen" (Scholtz: Geisteswissenschaften, 129). 179 Auf diesen Zusammenhang verweist auch E. Herms: Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher, ZThK 73 (1976), 471-523, 505. 180 Ethik 1816/17, E 523f (§§ 18-20); vgl. dazu oben S. 23f. Daß dieses „kritische" Verfahren der Wissenschaftsprüfung nicht gleichzusetzen ist mit der sittlichen Geschichtskritik der „kritischen" Disziplinen, mithin in der Ethik-Einleitung von 1816/17 zwei divergente Kritikbegriffe (E 523f und E 549f) vorliegen, hat E. Herms überzeugend klargelegt (vgl. Herms: Ethik, 503f). Sein Versuch, diese Divergenz als „Dokument der Werdegeschichte der Schleiermacherschen Ethik" (a.a.O., 504) zu deuten, ist jedoch weniger plausibel, weil er mit einigen Schwierigkeiten in der Detailinterpretation belastet ist: Die Behauptung, „die Auffassung von Abschnitt III" (also der Ethik 1813(16), E 505 (§§ 92f) und Ethik 1816/17, E 549f (§ 109) vorgestellte Kritikbegriff) erscheine „erstmals in dem Vorentwurf zur Ethikeinleitung von 1816" (Herms: Ethik, 505) übersieht den Sachverhalt, daß diese Auffassung der „Kritik" bereits in Ethik 1812/13, E 252 (§§ 57f) anzutreffen ist. Die ausführliche Einzelexegese von § 18 der Ethik-Einleitung (E 523,24ff; vgl. Herms: Ethik, 503f) wird Schleiermachers Zuordnung des „kritischen" Verfahrens zu beiden Arten der unvolkommenen
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„Prüfung" und „Beurteilung" wird der Ausdruck „Kritik" von Schleiermacher häufig verwendet 181 ; dabei betont er gelegentlich auch den künstlerischen Charakter dieser Tätigkeit. 182 Die Vielfältigkeit und Uneinheitlichkeit, mit der die Begriffe „Kritik" und „kritisch" bei Schleiermacher Verwendung finden, zeigt sich schließlich darin, daß er ein weiteres „kritisches" Verfahren kennt, das im Wissenschaftssystem zwischen Ethik und Physik lokalisiert ist 183 : Es läßt sich keinem der genannten Kritik-Begriffe zuordnen und ist im übrigen „noch so gut als gar nicht bearbeitet" 184 . Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Schleiermacher verwendet den Ausdruck „Kritik" nicht einheitlich, sondern in unterschiedlichen Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen. Trotz dieses uneinheitlichen Sprachgebrauchs läßt sich abschließend die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten dieser verschiedenartigen Verwendungsweisen stellen. Damit sollen allerdings die bestehenden Unterschiede nicht nachträglich nivelliert, sondern zusammenfassend beurteilt werden. Nun hat Schleiermacher selbst zur Bedeutung des Ausdrucks „kritisch" folgende terminologische Erwägung angestellt: „Kritisch ist im Allgemeinen überall die Construction des Individuellen in einen Begriff." 185 Diese Definition kann so aufgefaßt werden, daß in ihr das zumindest den drei spezifischen und in sich einheitlichen KritikBegriffen Gemeinsame enthalten ist. Sie bildet dann die allgemeine Wissenschaftsbegründung nicht gerecht (vgl. dazu oben S. 23, Anm. 40). Das „kritische" Verfahren der Begriffsbildung in der Dialektik (vgl. Dial 1814/15, Ί\2 §§ 47f, D A 2 99 (DJ 231 dort §§ 276f)) wird von Herms (a.a.O., 507f) problemlos mit dem von ihm rekonstruierten Kritikbegriff der Ethik identifiziert und die Dialektik ohne Anhalt an den von Schleiermacher selbst vorgenommenen Bestimmungen ihrerseits als „kritische Disziplin" (a.a.O., 508) verstanden. Und die Beurteilung des § 109 der Ethik-Einleitung von 1816/17 (E 549f) als „Zwischenformulierung" (Herms: Ethik, 512), die zu den „vom Autor selbst zur Überholung bestimmte[n] [...] Werkstattformulierungen" zu zählen sei (ebd. Anm. 230), ist deswegen problematisch, weil nach der Notiz E 515,2 alles dafür spricht, daß Schleiermacher diese Fassung der Einleitung eigens als veröffentlichungsreif angesehen hat, vgl. H.-J. Birkner: Einleitung, in: F . D . E . Schleiermachen Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von O . Braun hg. und eingeleitet v. H.-J. Birkner (PhB 335), Hamburg 1981, V I I - X L , X X I X . 181 Vgl. etwa C G 2 § 95 Ls., Bd. II, 48,21; Ethik 1812/13, E 246 (§ 6); Ethik 1812/13, E 348,20.23 (Randbemerkung); Dial 1828, 53. Stunde, D J 477,5; 56. Stunde, D J 478,8. 182 So bezeichnet K D § 18 Zs. die Fähigkeit, sich wissenschaftliche Leistungen anderer anzueignen, als „kritische Kunst"; vgl. zum Verhältnis zwischen „Kritik" und „Kunst" auf dem Gebiet der Homiletik SW 1/5, 463ff. 183 Vgl. Ethik 1816/17, E 550 (§ 109 Zs.). 184 Ebd. 185 Dial 1814/15, T1.2 § 47 Zs., D A 2 99 (DJ 231 dort § 276)
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Formel, in der die drei unterschiedlichen Verwendungsweisen von „Kritik" zusammengefaßt werden können, je nachdem, wie ihre drei Bestandteile „Construction", „Individuelles" 186 und „Begriff" 187 definiert werden.
2. Theologie als positive Wissenschaft Die Rekonstruktion des Schleiermacherschen Systems der Wissenschaften hat ergeben, daß es aus dem Begriff des Wissens selbst abgeleitet wurde und begrifflich-spekulativ entfaltet worden ist. Als solches kann es Vollständigkeit beanspruchen: jedes Wissensgebiet hat seinen Ort im spekulativen System. 188 Der geschichtlich entstandene Organismus der Wissenschaften, wie er in den vier Fakultäten der zeitgenössischen Universität zum Ausdruck kommt, ist jedoch mit diesem Wissenschaftssystem für Schleiermacher nicht einfach identisch: Nicht die Gesamtheit der an der Universität vertretenen Wissenschaften stellt eine Abbildung des Wissenschaftssystems dar, sondern lediglich die philosophische Fakultät als die „eigentliche Universität" 189 . Für die übrigen Fakultäten 190 ist dagegen kein ursprünglicher Ort im Wissenschaftssystem vorgesehen: Sie entspringen für Schleiermacher nicht der Idee des Wissens selbst, sondern sind geschichtlich-individuell aus jeweils unterschiedlichen praktischen Bedürfnissen entstanden.191 Das spekulativ vollständige Wissenschaftssystem erweist sich somit als geschichtlich ergänzungsbedürftig. Diese Ergänzung nimmt Schleiermacher vor, indem er eine weitere wissenschaftstheoretische Unterscheidung einführt: „Es giebt 2erley Arten von Wissenschaften, reine oder 186 Nämlich entweder als empirisch erkennbare geschichtliche Erscheinung, als zu ermittelnde geschichtliche „Tatsache" oder als „individueller Faktor" der Sprache. 187 Im engsten Sinn das Produkt des dialektisch-technischen Verfahrens der Begriffsbildung, in einem weiteren Sinne die spekulative Erkenntnisart und im ganz allgemeinen die Uberlieferungsform geschichtlicher „Tatsachen" als „Erzählung". 188 Vgl. Ethik 1816/17, E 534 (§ 55). 189 Gel. Ged. 581,10; vgl. a.a.O., 582,30f: „In dieser Einen ist daher die ganze natürliche Organisation der Wissenschaften enthalten." 190 Dazu zählt für Schleiermacher neben Medizin, Jurisprudenz und Theologie (vgl. Gel. Ged. 58lf) auch die neu entstehende „staatswissenschaftliche Facultät", vgl. PrTh 9,7f; Pädagogik 1826 (Ns.), PW, 358,40-43. 191 Sie sind die ursprünglichen staatlichen „Specialschulen", die sich erst später den eigentlich „wissenschaftliche[n] Verein", die philosophische Fakultät, angegliedert haben. Im Beieinander der vier Fakultäten spiegelt sich daher für Schleiermacher „die Geschichte der Universitäten in ihren Grundzügen ab." (Gel. Ged. 581,10-22)
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nothwendige und positive. [...] Alle nothwendigen Wissenschaften faßt die Philosophie zusammen wogegen die übrigen Facultäten positive Wissenschaften enthalten"192. Schleiermachers Bestimmung der von ihm „positiv" genannten Wissenschaften sowie seine Zuordnung der Theologie zu dieser Wissenschaftsgattung sollen daher im folgenden nachgezeichnet werden. Dabei sind besonders die Konsequenzen zu berücksichtigen, die sich aus dieser Zuordnung für den Theologiebegriff ergeben. a) Die positiven Wissenschaften Zur Vorgeschichte des Begriffs der „positiven Wissenschaft" und seiner Verwendung bei Schleiermacher läßt sich folgendes erkennen: Der Ausdruck findet sich bereits in W.T. Krugs „Versuch einer systematischen Enzyklopädie der Wissenschaften"193, der die „Realwissenschaften" in „natürliche" und „positive" gliedert: „Auch kann man die Wissenschaften in freie oder natürliche und gebundne oder positive eintheilen, je nachdem ihr Inhalt von der freien Thätigkeit des menschlichen Geistes allein abhangt oder durch eine äußere Autorität [...] bestimmt ist."194 Letzteres gilt Krug zufolge für Theologie und Jurisprudenz.195 Schelling nimmt dann den Begriff in seinen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums"196 auf; für ihn zählt allerdings neben Theologie und Jurisprudenz, von denen „allgemein angenommen" werde, daß sie „eine positive Seite"197 enthielten, auch die Medizin zu den „positiven" Wissenschaften: Sie ist diejenige 192ThEnz. 1,14-19. Die Terminologie ist hier ungewöhnlich: üblicherweise nennt Schleiermacher die aus der Idee des Wissens abgeleiteten Wissenschaften nicht „rein" oder »notwendig", sondern „real" (vgl. etwa Briefe IV, 581,18f.22; 584, 26.32f; Ethik 1812/13, E 248 (§§ 22.26)). Der Ausdruck „reine Wissenschaften" ist hier allenfalls als zusammenfassende Bezeichnung für die realen, d. h. gegenstandsbezogenen Wissenschaften und die „ideale" Wissenschaft Dialektik zu verstehen. Die realen Wissenschaften unterteilen sich dann in spekulativ und empirisch verfahrende (vgl. Ethik 1812/13, E 252 (§ 54)). Die positiven Wissenschaften sind also keinesfalls mit den empirischen zu verwechseln: diese sind spekulativ deduziert, verfahren aber empirisch; jene sind dagegen empirisch-geschichtlich begründet, können aber in ihrer Methode sowohl spekulativ wie empirisch vorgehen. 193 Wittenberg/Leipzig 1796; vgl. Dierse: Enzyklopädie, 270. 194 W. T. Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte, 5 Bde., Leipzig 1827-34, Bd. 4, 470 195 Vgl. ebd. 196 Tübingen 1803; zit. nach F. W.J. Schelling: Sämmtliche Werke, hg. v. K.F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856-61, Bd. V, 207-352 197 A.a.O., 284
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Form der Naturwissenschaft, bei der „das Wissen in ihr zur äußeren und öffentlichen Pflicht wird" 198 . Mit dieser Zuordnung zu den drei oberen Fakultäten hat dann Schleiermacher den Begriff seinem Umfang nach übernehmen können 199 , inhaltlich aber in seiner Rezension der Schellingschen Schrift200 dessen Bestimmungen für unzureichend erklärt: In der 7. Vorlesung201 beschreibt Schelling den Staat als eine äußerliche Objektivierung des Wissens, die zugleich den äußeren Organismus für das Wissen darstellt: „die Wissenschaften aber, insofern sie durch oder in bezug auf den Staat Objektivität erlangen, heißen positive Wissenschaften."202 Darin besteht für Schleiermacher eine „Verwechselung" 203 der organisierenden Funktion des Staates für die Wissenschaft überhaupt mit der besonderen Funktion, die nach seiner Ansicht umgekehrt die positiven Wissenschaften für den Staat ausüben204: Jede an der Universität betriebene Wissenschaft steht in einer sie organisierenden Beziehung zum Staat; die „positiven" Wissenschaften hängen jedoch darüber hinaus „von der besondern Beschaffenheit eines jeden Staates ab, und von den Zwecken, welche er sich wirklich sezt" 205 . Nach Schellings Definition wären dagegen alle realen Universitätswissenschaften „positiv" - einschließlich „Phytonomie" und „Metallurgie"206; seine Beschränkung des Begriffs auf die drei oberen Fakultäten verdankt sich Schleiermacher zufolge einem „Hinschielen auf die wirkliche dermalige Organisation der Universitäten" 207 . Schleiermachers Kritik deutet also Schellings Begriff der „positiven Wissenschaft" bereits im eigenen Sinn. Der von ihm eingeklagte Gedanke der Zweckbezogenheit208 der positiven Wissenschaften, ihre Funktionalität, wird allerdings schon bei Kant angedeutet: Im Zusammenhang seiner Erklärung, daß der „Streit der Facultäten um den Einfluß aufs 198 A.a.O., 285 199 Vgl. Birkner. Reformprogramm, 66. 200Jenaische Litteraturzeitung 1804, 137-151; zit. nach Briefe IV, 579-593 201 „Ueber einige äußere Gegensätze der Philosophie, vornämlich den der positiven Wissenschaften." (Schelling: Werke V , 276-285) 202 A.a.O., 282 203 Briefe IV, 582,18f 204 Vgl. a.a.O., 582,16-37. 205 A.a.O., 29f; bereits in den Vorarbeiten zur Rezension (Gedanken V , 208-213, K G A 1/3,336f) betont Schleiermacher die „Positivität der Wissenschaften durch den Staat" (Gedanken V, 211, K G A 1/3, 337,30206 Briefe IV, 588,25 207 A.a.O., 22f 208 Vgl. a.a.O., 582,30.
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Volk geführt" 209 werde, bezieht Kant die drei „Oberen Facultäten" auf dessen „natürliche[n] Zwecke[n]": Seligkeit, Besitzsicherung und Gesundheit. 210 Daher ist zu vermuten, daß Schleiermacher den Begriff der „positiven Wissenschaft" von Schelling, den Gedanken der Zweckbezogenheit dieser Fakultäten dagegen von Kant übernommen hat.211 Sein eigenes Verständnis der „positiven Wissenschaften" ist nun durch folgende Merkmale charakterisiert: (1) Zweckgebundenheit: Die Beziehung auf einen äußeren, d.h. außerhalb des Wissens selbst liegenden Zweck ist notwendiger und hinreichender Grund für die Einheit der Wissenschaft. Ihre äußere Geschlossenheit und innere Identität gründen sich nicht auf den Begriff des Wissens, sondern beruhen auf „einem äußeren Geschäft" 212 . Gemeinsam ist damit allen positiven Wissenschaften ihre Zweckbezogenheit; die Zwecke selbst sind jedoch unterschiedlich: „So bezweckt die Medicin die Herstellung des menschlichen Körpers in seinen Normalzustand, die Jurisprudenz die Hervorbringung des Rechtes, die Theologie die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft" (ThEnz. 1,19-22). (2) Methodische und sachliche Vielfalt: Weil der Einheitsgrund der positiven Wissenschaft ein äußerlicher ist, bildet sie selbst keine wissenschaftliche Einheit, sondern besteht aus möglicherweise sehr verschiedenartigen Elementen. 213 Sie stellt ein Ensemble unterschiedlicher Disziplinen und Methoden dar 214 , die allerdings abgesehen von ihrer Vereinigung zur positiven Wissenschaft je für sich einen ursprünglichen Ort im System der realen Wissenschaften beanspruchen: Nur dadurch sind sie als Wissenschaften überhaupt ausgewiesen. Auch die
2091. Kant: Der Streit der Facultäten; Werke Bd. 7, 29,34f 210 Vgl. a.a.O., 30,5-9. 211 Vgl. W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987,247f. Zugleich kann Schleiermacher damit die Tradition der „positiven Theologie" in seinen Theologiebegriff integrieren (vgl. a.a.O., 240ff). Der wesentliche Unterschied zur altprotestantischen „theologia positiva" besteht allerdings darin, daß bei Schleiermacher nicht eine einzelne theologische Disziplin „positiv" heißt, sondern die Theologie als ganze dieser wissenschaftstheoretischen Bestimmung unterworfen wird. 212 Gel. Ged. 582,6; vgl. K D § 1 Zs. 213 Es ist geradezu der „Charakter des positiven, daß wissenschaftliche Elemente, die in der Behandlung nicht zusammengehören, zusammengestellt werden [...]" (PrTh 8,21-23). 214 Daher ist sie als „Inbegriff wissenschaftlicher Elemente" zu bezeichnen (KD § 1 Zs.).
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Theologie ist daher keine homogene Wissenschaft, sondern enthält einen Kanon unterschiedlicher Disziplinen. 215 (3) Praxisbezug: Der die positive Wissenschaft konstituierende Zweck ist stets ein praktischer; in allen Fällen soll erfolgreiches Handeln ermöglicht werden: „Alle diese Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines hervorbringen wollen" (ThEnz. l,22f). Die Einheit der positiven Wissenschaft besteht demnach darin, daß verschiedene wissenschaftliche Elemente zusammengeführt werden mit dem Ziel, die Optimierung der Praxis auf einem bestimmten Gebiet (Gesundheit, Recht, Religion) zu ermöglichen. 216 Daraus erklärt sich zugleich die gemeinsame Bezeichnung für diese Wissenschaften: sie verdanken ihre Einheit der praktischen Bewältigung einer positiv-gegebenen Aufgabe. 217 (4) Geschichtliche Bedingtheit: Dieses die positiven Wissenschaften begründende Tätigkeitsfeld muß jedoch einen bestimmten Grad an Komplexität erreicht haben. Nicht die Praxis überhaupt ist der hinreichende Grund für die Ausbildung einer sie reflektierenden Theorie, sondern das Bedürfnis, diese Praxis nach Regeln zu leiten: Erst wenn eine individuelle und intuitive Wahrnehmung der Tätigkeit auf dem politisch-sozialen, medizinischen oder religiösen Handlungsfeld nicht mehr ausreicht, wird eine Reflexion dieser Tätigkeit erforderlich, die schließlich wissenschaftliche Form annehmen kann. Die jeweilige Handlungssphäre muß also innerhalb der Gesellschaft einen bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstand erreicht haben. Befindet sich eine Gesellschaft dagegen in einem „elementarische [n] Zu215 „Alle theologischen Wissenschaften wurzeln so in einem andern Gebiet; ihre Einheit ist nur die religiöse Beziehung" ( K G 623,12-14 (Ms. 1806)); vgl. auch K D § 6 Zs. und dazu ThEnz. 10,15ff. 216 „Die positiven Facultäten sind einzeln entstanden durch das Bedürfniß, eine unentbehrliche Praxis durch Theorie durch Tradition von Kenntnissen sicher zu fundiren" (Gel. Ged. 581,22-25); vgl. auch PrTh 8,13; 9,4. 217 Der dabei vorausgesetzte Sprachgebrauch ist von Schleiermachers Aufnahme des auf die Religion bezogenen Begriffspaares „natürlich" und „positiv" ( K D § 43) zu unterscheiden (vgl. Birkner: Sittenlehre, 51): den Ausdruck „positiv" verwendet Schleiermacher in zwei verschiedenen Bedeutungen. Ein Zusammenhang beider Verwendungsweisen besteht aber darin, daß auch der Begriff der „positiven Wissenschaft" seinem Ursprung nach den Gegensatz zu „natürlichen" Wissenschaften einschließt: Krug hatte ja dieses ursprünglich in Theologie und Jurisprudenz beheimatete Begriffspaar in die Enzyklopädie der Wissenschaften übertragen, um damit diese beiden auf „Autorität" gegründeten Wissenschaften den „natürlichen" gegenüberzustellen (vgl. oben S. 45). Diese Unterscheidung kehrt dann bei Schleiermacher in veränderter Gestalt als Gegensatz von „realen" und „positiven" Wissenschaften wieder an die Stelle der „Autorität" ist die Beziehung auf einen „praktischen Zweck" getreten.
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stände" 218 , besteht keinerlei Nötigung für die Ausbildung von positiven Wissenschaften. Diese Bedingung gilt nach Schleiermacher gleichermaßen für alle positiven Wissenschaften 219 ; im Falle der Theologie hat er sie jedoch näher erläutert und bestimmt 220 : Die in einer religiösen Gemeinschaft versammelten Subjekte bringen ihre Verbundenheit durch Kommunikation zum Ausdruck; auf dem Gebiet der Religion vollzieht sich die Praxis daher in erster Linie als „Mittheilung" 221 . Diese Praxis als solche ist aber noch keine hinreichende Bedingung für einen Theorie- und damit Theologie-Bedarf. Denn in einer kleineren Gemeinschaft kann die religiöse Kommunikation spontan, individuell und relativ regellos erfolgen: Die Praxis muß noch nicht organisiert und reflektiert werden. 222 Dabei bleibt die Differenz von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit auf Unterschiede zwischen Individuen beschränkt und verfestigt sich noch nicht als Gegenüberstellung verschiedener Gruppen. 223 Für die Ausbildung einer Theologie ist also eine bestimmte Komplexität der Religionsgemeinschaft nötig: Sie muß - quantitativ - einen bestimmten Umfang erreicht haben, so daß sie „geschichtliche Bedeutung und Selbständigkeit gewinnt" (KD § 2). Und sie muß - qualitativ - in ihrer Darstellungsweise theoriefähig sein; dabei unterscheidet Schleiermacher zwischen „Vorstellungen" und „symbolischen Handlungen" als Formen religiöser Kommunikation: Erst die sprachliche religiöse Kommunikation als Austausch von „Vorstellungen" erfordert zu ihrer Anleitung und Deutung eine Theorie, während bloße Riten und symbolische Verrichtungen durch 218PrTh ll.29.34f 219Zu Medizin und Jurisprudenz vgl. PrTh 11,25-12,2. 220 Innerhalb der „Einleitung" in die Praktischen Theologie (PrTh 12ff) sowie K D §§ 2f; ThEnz. 2f. Vgl. auch Ebbrecht: Theologie, 182ff, der seine ausführliche Exegese von KD §§ 2-4 unter die Uberschrift „Geschichtliche Legitimation der Theologie" stellt, sowie W. Gräbs Verweis auf die „religions- und sozialgeschichtlichen Randbedingungen für das Entstehen von wissenschaftlicher Theologie" (Grab: Kirche, 157). 221 Denn neben dem „Bewußtseyn der Ähnlichkeit" ist es gerade der „Zustand der Mittheilung", der eine Gemeinschaft überhaupt konstituiert (vgl. ThEnz. 3,1-5). 222 In einem „engen Umfange solches Gesammtiebens, w o alle im wesentlichen denselben [sie!] Eindrukk unterworfen sind, da geht auch alle Thätigkeit mehr von dem unmittelbar momentanen aus, da ist also an eine Theorie nicht zu denken" (PrTh 48,1-4); vgl. auch KD § 2 Zs. Exemplarisch repräsentiert sieht Schleiermacher diesen geringen Umfang im Kreise „des geselligen Familienlebens" (KD § 5 Zs.): „Der FamilienVater theilt den Glauben den Seinigen mit, und es entsteht eine Gemeinschaft, welche keine besondre Leitung nöthig hat, da [...] in der Mittheilung schon auch die Leitung ist" (ThEnz 9,9-12). 223 Der „Gegensatz zwischen den Hervorragenden und der Masse" hat also noch keine „bestimmte Gestaltung" angenommen (KD § 267 Zs.).
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eine „rituale Technik" geleitet werden können, die „nicht leicht den Namen einer Wissenschaft verdient" ( K D § 2 Zs.). Hat sich aber eine religiöse Gemeinschaft in dieser Weise geschichtlich entwickelt und ausdifferenziert, dann nimmt der individuelle Gegensatz von Produktivität und Rezeptivität die Gestalt zweier Gruppen innerhalb der Gemeinschaft an, die sich relativ stabil gegenüberstehen: es bildet sich der das „Wesen der Kirche" kennzeichnende ethische Grundgegensatz von „Klerus und Laien" 2 2 4 . Denn die - unüberschaubarer und komplexer gewordene - Praxis kann nicht mehr auf individuelle Weise und intuitiv wahrgenommen werden, sondern bedarf der theoretischen Steuerung und Begleitung: Die Zweckmäßigkeit und Angemessenheit einzelner Handlungsweisen ergibt sich nicht mehr von selbst, sondern muß begründet werden. Diese begründende Reflexionsleistung setzt aber die Fähigkeit voraus, in der religiösen Gemeinschaft als dem Gegenstand des Handelns Wesentliches von Zufälligem zu unterscheiden: Nur wenn die für die Gemeinschaft insgesamt wesentlichen „Factoren" von bloßen „Coefficienten" 225 unterschieden werden können, kann auch die bessere von einer schlechteren Praxis unterschieden werden. Und diese Fähigkeit nennt Schleiermacher „geschichtliches Bewußtseyn" 2 2 6 : „was aber das Bewußtsein zu einem geschichtlichen macht, ist daß ich das geschehene als einen bestimmten Ausdrukk des Begriffs erkenne, daß ich es zerlege in eine Mannigfaltigkeit von Factoren, von denen einige besonders hervortreten, wozu die anderen nur Coefficienten sind." 227 Zur Bildung und Erhaltung eines solchen Bewußtseins ist aber eine Theorie erforderlich: die positive Wissenschaft Theologie. Damit stehen die Anbildung der Theologie und die Konstituierung einer „Kirchenleitung" innerhalb einer Religionsgemeinschaft in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. 228 Denn die „Kirchenleitung" ist nichts anderes als „die Thätigkeit der Wenigen, welche im Besiz des geschichtlichen Bewußtseyns sind, um die Identität und die 224 Ethik 1812/13, E 361 (§ 209). Dieser Gegensatz ist im „Hordenzustand der Religion" noch nicht gegeben, sondern entwickelt sich erst im „organisirten Zustand [...] der Kirche" (E 359 (§ 198); vgl. auch Bemerkungen zur Ethik 1832, E 657,21-23 (Zu § 196). 225 Vgl. PrTh 23,16f. 226 Vgl. ThEnz. 3,14.16.19; 175,26. 227 PrTh 23,7-18 228 D. h., „zu gleicher Zeit" entstehen „die Idee einer eigentlichen Theologie und die Ueberzeugung der Notwendigkeit einer leitenden Thätigkeit in der Kirche" (PrTh 14,25-27); vgl. auch K D § 3.
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Mittheilung des Glaubens zu erhalten." 229 Die Entwicklung zur „Kirchenleitung" 230 bedeutet also eine - geschichtlich notwendig gewordene - Institutionalisierung des Gegensatzes von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Für diese Stabilisierung gilt jedoch eine doppelte Einschränkung: Zum einen erläutert Schleiermacher den Begriff der Kirchenleitung durch einen Vergleich von Kirche und Staat231: Die „Ungleichheit" zwischen Obrigkeit und Untertan ist im Staat als notwendig bestehende Bedingung vorausgesetzt, so daß „ohne sie gar kein Staat ist" (ThEnz. 3,31). Dagegen ist die „Ungleichheit" in der religiösen Gemeinschaft für diese keineswegs konstitutiv, sondern Resultat einer geschichtlichen Entwicklung. 232 Der ethische Grundgegensatz von „Obrigkeit und Untertan" definiert den Staat also auf andere Weise als das Auseinandertreten von „Klerus und Laien" die Kirche. Zum anderen besteht die „Kirchenleitung" nicht nur aus dem ,,organisierte[n] Element" der kirchlichen „Autorität" (KD § 313). Vielmehr ist ihr als wesentlicher auch die „freie geistige Macht" zuzurechnen (ebd.), d. h. die „freie[n] Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt" (KD § 312). Die „Kirchenleitung" gründet sich also auf die im Wesen der Religion selbst verankerte „Mittheilung" 233 und ist deren bestimmten geschichtlichen Bedingungen angemessene Form. 234 Werden nun diese allgemein religionsgeschichtlichen Betrachtungen zum Verhältnis von Religion und Theologie auf das Christentum übertragen, so ergibt sich für Schleiermacher, daß die für einen Theologie-Bedarf notwendige Komplexität hier wie in keiner anderen geschichtlichen Religion erreicht ist: Dem Umfang nach hat es sich über die meisten „Sprach- und Bildungsgebiete" verbreitet (KD § 4), und seine Darstellungsweise ist „ganz vorzüglich [...] durch die Sprache bedingt" 235 . In Analogie zu dieser Differenziertheit der Kirche 229 ThEnz. 3,18-20; vgl. auch K D § 8 Zs. 230 Vgl. zu diesem Begriff ausführlicher unten S. 56ff. 231 Vgl. ThEnz. 3,21-4,10. 232 Denn „die religiöse Gemeinschaft [ist] wesentlich eine unter Gleichen, die nur vorübergehend sich ungleich erscheinen, und eine KirchenLeitung ist nur bey einem großen geschichtlichen Umfang der Kirche nothwendig" (ThEnz. 3,31-34). 233 ThEnz. 3,5; 9,11 234 Zur Abwehr des Mißverständnisses einer „klerikalen Engführung" des Begriffs der Kirchenleitung vgl. Grab: Kirche, 153f Anm. 12. 235PrTh 15,5f. Daß die Sprache im Christentum die entscheidende Kommunikationsform darstellt (vgl. C G 1 § 3.1, K G A 1/7.1, 16,32-34; ThEnz. 227,25-27; 230,25),
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ist dann die ihr assoziierte Theologie von allen „die ausgebildetste" ( K D § 4): Allein die christliche Theologie hat sich nach Schleiermachers Ansicht in einem Kulturkreis gebildet, in dem eine deutlichere Ausprägung des „speculativen Denkens" 2 3 6 stattgefunden hat. Daher kann er in zugespitzter Formulierung erklären, „daß andre Religionen nur eine Mythologie keine Theologie haben, und darum kann man in einem gewissen Sinn sagen, die christliche [...] Kirche ist die einzige, die eine eigentliche Theologie hat." 2 3 7 Nach dieser Illustration der geschichtlichen Voraussetzung für die Ausbildung positiver Wissenschaften am Beispiel der (christlichen) Theologie kann nun zusammenfassend zur Charakterisierung der positiven Wissenschaften überhaupt festgehalten werden: Sie sind durch das Zusammenwirken zweier Prinzipien konstituiert, die erst in ihrer Verbindung Wissenschaftlichkeit und Einheit der positiven Wissenschaft begründen können. Denn ohne den methodischen Standard der Wissenschaft kämen sie nur zu einer „handwerksmäßigen" Bearbeitung ihres Gegenstandes „in ganz unwissenschaftlicher Oberflächlichkeit" 2 3 8 ; ihre spezifische Aufgabe wäre damit nicht wahrgenommen. Und ohne den Bezug zur jeweiligen Praxis besäßen sie keinen einheitstiftenden Faktor; die einzelnen Disziplinen fielen an ihren ursprünglichen wissenschaftlichen Ort zurück. 239 Diese doppelte Konstitutionsweise positiver Wissenschaften 240 durch Theorie und Praxis hat Schleiermacher für die Theologie de-
ist dabei nicht zufällig, sondern in der Sprachlichkeit seines Ursprungs begründet: Denn „die ganze Wirksamkeit des Erlösers war mitbedingt durch die Mitteilbarkeit seines Selbstbewußtseins vermöge der Rede [...]." ( C G ^ § 15.2, Bd. I, 106,26-28) Ohne diese sprachliche „Entwicklungsstufe des Bewußtseins" (a.a.O., 25) hätte also das Christentum gar nicht entstehen können. 236ThEnz. 5,30. Vgl. dazu den Begriff des „reinen" Denkens (Dial 1833, § 1, DA 2 117-126 (DO 5-13)). 237ThEnz. 5,34-37; vgl. CG 2 § 16.3, Bd. I, 110,20-24. 238 Gel. Ged. 586,4-6 239 „Denn die theologische Gelehrsamkeit wird nur zusammengehalten in Bezug auf die Kirche" (KG 626,9f (Ms. 1806)); vgl. auch KD § 6. 240 Bei der Erörterung der subjektiven Voraussetzungen für die Eignung zu einer wissenschaftlichen Bildung (Gel. Ged. 552,32-553,20) benennt Schleiermacher zwei Faktoren, „woran sich zeigen muß, ob ein Mensch für diese höhere Bildung sich eigne" (a.a.O., 552,32f): Neben dem „systematisch philosophische[n] Geist", der das „wissenschaftliche Princip" repräsentiert (a.a.O., 553,3f.8), ist dies „ein bestimmtes Talent, welches ihn an ein einzelnes Feld der Erkenntniß fesselt" (a.a.O., 552,33-553,2). Ohne eine solche Begabung für einen bestimmten Erkenntnisbereich findet nämlich der wissenschaftliche Geist keinen Gegenstand, sondern verharrt in bloßer Abstrak-
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taillierter und differenzierter anhand eines eigenen Begriffspaares beschrieben: b) „Religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" als konstitutive Elemente der Theologie Als positive Wissenschaft ist die Theologie für Schleiermacher konstitutiv auf eine geordnete Praxis der Kirche, die Kirchenleitung, bezogen. Beide, Theologie und Kirchenleitung, sind jedoch ihrerseits auf subjektive Bedingungen und Befähigungen zurückzuführen: das Nebeneinander von „religiösem Interesse" und „wissenschaftlichem Geist" 2 4 1 . Das wechselseitige Beziehungs- und Begründungsgefüge dieser beiden Begriffspaare soll im folgenden so dargestellt werden, daß zunächst „religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" als die dem handelnden Subjekt zugrundeliegenden Motive erwiesen werden, um anschließend die Konsequenzen für den Begriff der Kirchenleitung und ihr Verhältnis zur Theologie beurteilen zu können. (1) „Religiöses" oder „kirchliches Interesse" 2 4 2 bezeichnet für Schleiermacher den zur Selbsttätigkeit innerhalb der Kirche motivierenden Handlungsimpuls: „Die Ausübung ist das, was unmittelbar aus [...] dem religiösen Interesse entsteht. Das religiöse Interesse also
tion, „weil er eben keines Stoffes recht Meister ist" (a.a.O., 553,13f). Aus der Sicht des zur Wissenschaft zu bildenden Subjekts ist also jede Wissenschaft überhaupt auf eine individuelle Neigung gegründet: das Interesse für einen bestimmten Gegenstand. Ist damit die Wissenschaft überhaupt durch das Nebeneinander von „Talent" und „Geist" konstituiert (vgl. a.a.O., 553,5-14), so kann vermutet werden, daß nach Schleiermachers Verständnis „reine" bzw. „reale" und „positive" Wissenschaften ihrerseits nur einen relativen Gegensatz bilden. Und diese Vermutung wird bestätigt durch eine Passage der Nachschrift Jonas zu Schleiermachers Enzyklopädie· Vorlesung aus dem Wintersemester 1816/17: „Positiv ist aber für uns ein relativer Ausdruck. [...] Auf diese Art können also wol alle Wissenschaften positiv seyn? Ja, je mehr eine Wissenschaft durch einen bestimmten Gegenstand gebunden, desto mehr positiven Charakter hat sie. Aber eben deshalb sind die Theologie, Jurisprudenz und Medicin auf eine vorzügliche Weise positive Wissenschaften." (Ns. Jonas 2) 241 Vgl. etwa K D §§ 9. 12. 242 Schleiermacher verwendet beide Ausdrücke in einheitlichem Sinn; die Vermutung eines wesentlichen Bedeutungsunterschiedes zwischen beiden Formulierungen trägt für ein Verständnis des Schleiermacherschen Textes selbst offenbar wenig aus (vgl. etwa K. Dunkmann: Die theologische Prinzipienlehre Schleiermachers nach der Kurzen Darstellung und ihre Begründung durch die Ethik, B F C h T h 20, Gütersloh 1916, 13f). Im Vergleich der ersten und zweiten Auflage der „Kurzen Darstellung" läßt sich jedoch eine geringfügige terminologische Entwicklung vom „religiösen" zum „kirchlichen Interesse" erkennen (vgl. W. Steck: Der evangelische Geistliche. Schlei-
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richtet sich an und für sich auf die Ausübung f...]." 2 4 3 Für diese „Ausübung" bildet das „Interesse" insofern eine Vorbedingung, als ohne eine irgendwie geartete Anteilnahme am Zustand der Kirche ein solches Handeln keinerlei Veranlassung besäße.244 Der Antrieb zu solcher Aktivität hat seinen Ursprung aber nicht in einem Wissen, sondern in einer Bestimmtheit des Gefühls: Schleiermacher grenzt das „Interesse" vom kognitiven „Begriff" deutlich ab 245 und lokalisiert es im Bereich des „Gemüths" 246 . Jeglichem Handeln, das auf die religiöse Gemeinschaft bezogen ist, also auch der eigentlichen „Kirchenleitung", liegt somit ein „Interesse am Christentum" zugrunde. 247 Daher kann der Ausdruck „religiöses Interesse" als Grundlage einer ermachers Begründung des religiösen Berufs, in: Selge, Kurt-Victor (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, 2 Bde., Sehl A 1, Berlin/New York 1985, Bd. 2, 717-770, 751 Anm. 151). Weitere Bezeichnungen sind „das religiöse und christliche Interesse" (PrTh 31,1) oder „Interesse am Christentum" (KD § 8). Die Wendung findet sich bereits im zweiten der beiden „unvorgreiflichefn] Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat" von 1803 (SW 1/5, 41-156): Im Rahmen einer Beschreibung der „Beschaffenheit der Religionslehrer" (a.a.O. 133ff) beklagt Schleiermacher unter anderem, daß nicht wenige „Candidaten des Predigtamtes" ganz ohne „eigenes Interesse für die Religion" seien (a.a.O. 138,3). 243ThEnz. 12,4-6. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem „religiöse[n] Interesse" und den von ihm ausgehenden „gesellige[n] Verbindungen" konstatiert auch Ethik 1812/13, E 370 (§ 256); vgl. ferner ThEnz. ll,28f; ChS 22,19-29 (Ns. 1822/23). Auch M. Doerne betont den Drang des Interesses zur „Teilhabe an der Kirchenleitung hin" (M. Doerne: Theologie und Kirchenregiment. Eine Studie zu Schleiermachers praktischer Theologie, NZSTh 10 (1968), 360-386, 361) und identifiziert es geradezu mit einer „Teilhabe am Kirchenregiment" (a.a.O., 362). Ebenso deutet G. Ebbrecht „Interesse" als „Impuls, Antrieb oder Motiv" (Ebbrecht: Theologie, 234 Anm. 1), trifft dann aber noch die Unterscheidung zwischen ,Praxisinteresse' und .Erkenntnisinteresse' (a.a.O., 239ff), die an Schleiermachers Text keinen Anhalt hat. 244 Vgl. PrTh 27,31-33: „Von einem dem der ganze Zustand der Kirche gleichgültig wäre, könnte keine Thätigkeit ausgehen." 245 Vgl. ChS 20,12-14. 18-23 (Ns. 1822/23). 246 Vgl. PrTh 27,20-22 : „Ein solches Interesse ist nicht ohne Gemüthsbewegung: denn günstige Ereignisse will man fördern, ungünstigen in den Weg treten." (Hervorhebung i. O.) 247 Diese Form der auf die (kirchliche) Gemeinschaft und ihre Erhaltung gerichteten Praxis ist also von demjenigen Handeln, das schon aus dem christlich-frommen Bewußtsein selbst entspringt, wohl zu unterscheiden: Während dieses ganz allgemein den Ubergang des frommen Selbstbewußtseins zu einem Handlungsimpuls darstellt (vgl. Birkner Sittenlehre, 67-69) und also alle Formen christlicher „Handlungsweise[n]" (CG 1 § 32.1, KGA 1/7.1, 113,2) umfaßt, ist jene in eingeschränkter Weise diejenige Tätigkeit, die die christliche Gemeinschaft selbst zum Gegenstand hat: Sie verdankt sich nicht nur der Agilität des frommen Gefühls überhaupt, sondern ist zusätzlich auf ein „Interesse am Christentum" gegründet, das eine Einflußnahme auf den Zustand der frommen Gemeinschaft fordert. Der Unterschied zwischen beiden Formen des Handelns innerhalb der christlichen Gemeinschaft ist
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Theorie des Gottesdienstes innerhalb der Praktischen Theologie fungieren. 248 Das zweite der „beiden Elemente[n] der theologischen Gesinnung" (KD § 262), der „wissenschaftliche Geist" 2 4 9 , ist zugleich ein Leitbegriff der Schleiermacherschen Universitätstheorie 250 . Er bezeichnet die im Subjekt selbst liegende Konstitutionsbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis 251 , das „Talent für die ersten Prinzipien" 252 . Diese fundamentale Disposition des Subjekts, Einheitlichkeit und Vollständigkeit des Wissens zu denken, ist aber für Schleiermacher stets auf materiale Erkenntnis bezogen und kann nie isoliert als reine intellektuelle Anschauung „in bloßer Transcendentalphilosophie"253 dargestellt werden; sie verwirklicht sich nur jeweils als reales Wissen. 254 Seinen institutionellen Ort findet der wissenschaftliche Geist an der - von Schleiermacher „zwischen" 255 Schule und Akademie lokalisierten Universität. Ihr Wesen besteht in der Hervorbringung und Pflege dieses Geistes: Sie erhält die Aufgabe, daß „durch sie der wissenschaftliche Geist in den Jünglingen soll gewekkt und zu einem klaren Bewußtsein gesteigert werden." 256 Uberblickt man nun die Bestimmungen dieser beiden Elemente im Zusammenhang, so ergeben sich folgende Gemeinsamkeiten und Unauch daran abzulesen, daß die erste in der Christlichen Sittenlehre beschrieben wird (vgl. Grab: Kirche, 162), während die letztere den Gegenstand der Praktischen Theologie bildet. 248 Danach ist die „Circulation des religiösen Interesses" der „eigentliche Zwekk der religiösen Gemeinschaft" (PrTh 65,29-31); vgl. dazu Steck: Der evangelische Geistliche, 752. 249 Dieses Element wird von Schleiermacher auch „philosophische[r]" und „speculative^] Geist" (Gel. Ged. 557,18; 559,23) oder „wissenschaftliche^] Interesse" ( K D § 193; ThEnz. 180,7f. 33) genannt. Einen terminologischen Sonderfall stellen die nicht dem spezifischen Begriff des „religiösen Interesses" gegenübergestellten Ausdrücke „theologisches Interesse" ( K D § 194 Zs.) und „Interesse an der Theologie" (ThEnz. 4,25f; 13,2f) dar. 250 Vgl. Gel. Ged. 556,32; 557,18; 559,23; 561,9f.29; 563,lf; 567,22.29; 603,30; 605,18. 251 Denn er ist auf das „Gesammtgebiet des Wissens" bezogen (Gel. Ged. 568,1) und bildet das „höchste Princip, die unmittelbare Einheit aller Erkenntniß" (Gel. Ged. 561,1 Of); diese Idee der Einheit (und Totalität) des Wissens ist aber ihrerseits wesentliches Charakteristikum wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt; vgl. oben S. 18, Anm. 3. 252 Dial 1811 (Ns.), 1. Stunde, DAi 1; vgl. P W 367,20f: „das spekulative Talent". 253 Gel. Ged. 561,12 254 Vgl. Gel. Ged. 561,22-25. Zu den sich daraus ergebenden philosophiedidaktischen Konsequenzen vgl. Dial 1814/15, Einl. § 23, D A 2 5 (DJ 10f). 255 Vgl. Gel. Ged. 551ff, bes. 556,20f; 561,28f. 256 Gel.Ged. 567,22f; vgl. auch a.a.O., 557,25f; 603,29-31.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
terschiede: Beide Ausdrücke bezeichnen individuell-subjektive Motive, die sich teils auf „Gemüthsbewegungen" gründen, teils als „Talent" bezeichnet werden können. 257 Diese Zugehörigkeit beider zur individuellen Sphäre des Subjekts erhellt auch daraus, daß beide die wesentlichen Faktoren bei der individuellen Entscheidung für einen der beiden „Zweige"258 kirchlicher Tätigkeit, der „klerikalischen" oder der im engeren Sinn „theologischen" 259 , darstellen. Denn diese Entscheidung hängt nach Schleiermacher in erster Linie davon ab, wie der einzelne die Frage nach seiner persönlichen Eignung beantwortet 260 , „nach Maßgabe, wie eines von jenen beiden Elementen in ihm überwiegt." 261 Stimmen also beide Momente darin überein, daß sie individuelle Anlagen und Voraussetzungen beschreiben, so unterscheiden sie sich hinsichtlich der in ihnen veranlagten Fähigkeiten: kirchliches Handeln einerseits, wissenschaftliche Erkenntnis andererseits. Beide zielen in unterschiedliche Richtungen und realisieren sich in verschiedenen Tätigkeitsformen: „Das religiöse Interesse also richtet sich an und für sich auf die Ausübung, - der wissenschaftliche Geist unmittelbar auf die Theorie" (ThEnz. 12,5-7). Das Verhältnis dieses Begriffspaares zum Gegenüber von Theologie und Kirchenleitung läßt sich somit vorläufig als das von Ursprung und Ziel beschreiben.262 (2) Auf diesem Hintergrund kann nun das Beziehungsgefüge näher betrachtet werden, das zwischen den beiden Außerungsformen „Theologie" und „Kirchenleitung" selbst besteht. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß Schleiermacher den Begriff der Kirchenleitung in dreifacher Weise - mit jeweils abnehmendem Begriffsumfang - ge257 Vgl. PrTh 27,20f; Dial 1811 (Ns.), 1. Stunde, D A ! 1. 258 Vgl. ThEnz. 14,27; 15,16.32f. 259 Zu dieser Unterscheidung vgl. ausführlicher unten S. 58ff. 260 K D § 13. Daneben erwägt Schleiermacher auch die Beurteilung der gegenwärtigen kirchlichen Situation als Kriterium einer solchen Entscheidung („die Betrachtung des Zustandes der Kirche": ThEnz. 14,29f). Letztere kommt aber wegen der Unüberschaubarkeit der Gesamtkirche faktisch nicht zustande (vgl. ThEnz. 14,36-39). 261 Die Gewichtung dieser beiden subjektiven Momente im Individuum bezeichnet Schleiermacher auch als „inneren Beruf" (KD § 13 Zs.). Es ist vermutet worden, daß Schleiermacher damit an das traditionelle Lehrstück von der „vocatio interna" anknüpft (vgl. D. Rösslen Vocatio interna. Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Bildes vom Kirchenfürsten, in: E. Jüngel/J. Wallmann/W. Werbeck (Hgg.): Verifikationen, FS G. Ebeling, Tübingen 1982, 207-217, bes. 216). Darüber hinaus verwendet Schleiermacher den Ausdruck aber auch in allgemeinerem Sinne (vgl. etwa PrTh 424,2). 262 Vgl. ThEnz. 12,7f.
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braucht. In einem allgemeinen und unspezifischen Sinne bezeichnet der Ausdruck jede Form überwiegender Selbsttätigkeit innerhalb der Kirche: „Jeder Christ der einen Einfluß auf Andre zu üben sucht in Beziehung auf das Christenthum, ist in der Kirchenleitung begriffen" (ThEnz. 8,38f). In dieser allgemeinsten Form ist der Begriff also identisch mit dem der „Mittheilung" 263 : Schon die religiöse Produktivität als solche, das Handeln allein aus „religiösem Interesse", wird „Leitung" genannt. Diesen Sprachgebrauch erwähnt Schleiermacher zwar lediglich, um ihn wieder zu verlassen264; denn eine solche Ineinssetzung unterläuft die Differenzierung zwischen der religiösen Äußerung überhaupt und ihrer institutionell organisierten Form. Diese terminologische Vagheit entspricht aber der ausdrücklichen Einbeziehung auch des „ungebundenen" Elements (KD § 312) in die Leitung der Kirche: Die „Kirchenleitung" geht für Schleiermacher nie in ihrer rein institutionellen Gestalt auf. Von dieser weiten Fassung des Begriffs ist die engere zweite durch das Kriterium der Zweckmäßigkeit unterschieden: Nicht jede beliebige Selbsttätigkeit in der religiösen Gemeinschaft, sondern nur diejenige, die sich als „zusammenstimmende Leitung" 265 ausweisen läßt, kann als „eigentliche" Kirchenleitung (ThEnz. 11,36) oder „Kirchenregiment " (KD § 5) bezeichnet werden. Den Ermöglichungsgrund für diese Zweckmäßigkeit bildet aber die Theologie; denn sie besteht nach der bekannten Definition des § 5 der „Kurzen Darstellung" - in nichts anderem als genau denjenigen „Kenntnissen und Kunstregeln", die der Kirchenleitung zu einer solchen Zweckmäßigkeit verhelfen können. 266 Damit ist die Theologie konstitutiv auf die Kirchenleitung bezogen, da nur diese die Einheit und Theologizität der theologischen Disziplinen verbürgt: Ohne Bezug zur Kirchenleitung - und d. h. ohne das dieser zugrundeliegende Handlungsmotiv - bilden die disparaten Wissenschaften kein einheitliches Ganzes 267 und „hören auf, theologische zu sein".268 263 ThEnz. 3,5; 9,11 264 Vgl. ThEnz. 8,39f. 265 KD § 5; vgl. ThEnz. 8,37f; 9,3. 266 Das handlungsmotivierende „Interesse" kann daher „nur durch Aneignung jener Kenntnisse sich in einer zweckmäßigen Tätigkeit äußern" (KD § 8; Hervorhebungen M.R.). 267 Denn „nur durch das Interesse am Christentum [sind] jene verschiedenartigen Kenntnisse zu einem solchen Ganzen verknüpft [...]" (KD § 8). Diese Auffassung äußert Schleiermacher auch in seinem Fakultätsgutachten von 1810; vgl. Einrichtung 211,31 f.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
Umgekehrt befindet sich aber die „Kirchenleitung" in diesem eingeschränkten und präzisierten Sinne in Abhängigkeit von der Theologie, sofern sie zugleich theoretisch geleitetes Handeln ist: Denn nur durch eine theologische Fundierung kann sich die religiöse Produktivität der bloßen Zufälligkeit und Beliebigkeit entziehen 2 6 9 und damit die Stufe der „eigentlichen" Kirchenleitung erreichen. Diese Abhängigkeit kommt auch darin zur Geltung, daß der Theologie die Funktion zugeschrieben wird, das für eine „zusammenstimmende Leitung" unabdingbare Einheitsbewußtsein innerhalb der Kirche zu befestigen. 270 Theologie und Kirchenleitung stehen damit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Dieses Verhältnis ist jedoch durch die Berücksichtigung einer weiteren Bestimmung folgendermaßen zu präzisieren: Die Theologie steht der Kirchenleitung nicht in äußerlicher Weise gegenüber, sondern ist ihr als die eine ihrer beiden Tätigkeitsformen eingegliedert. Denn die Kirchenleitung als ganze stellt für Schleiermacher einen in sich gegliederten Organismus dar, der in „2 Hauptzweige" (ThEnz. 15,16) zerfällt: die „theologische" und die „klerikal[isch]e Thätigkeit" 2 7 1 . Beide unterscheiden sich in der individuellen Konstellation der ihnen zugrundeliegenden Elemente; daher beschreibt Schleiermacher diesen Unterschied primär aus der Perspektive des handelnden Subjekts: „Derjenige, welcher von jener Idee einseitig abweicht durch 268 K D § 6. Für die solcherart kirchbezogenen Wissenschaften hat Schleiermacher sogar eine Namensänderung erwogen (wenn „die den Staat zum Zwecke habenden Wissenschaften Staatswissenschaften heißen, so sollten genauer die theologischen Wissenschaften kirchliche Wissenschaften genannt werden": ThEnz. 1,26-2,1), einer möglichen Umbenennung jedoch selbst entgegengehalten, daß sich Namen „nicht willkührlich ändern" lassen (ThEnz. 2,6f). 269 Darin ist für Schleiermacher die Konvention begründet und legitimiert, „daß ein Antheil an der KirchenLeitung nur denen gegeben wird, welche sich über den Besiz der theologischen Kenntnisse ausweisen können [...]" (ThEnz. 10,40f). - Charakteristisch für die Ausführungen der Vorlesungsnachschrift ist der sich daran anschließende Nebengedanke, daß mit dieser Bestimmung auch eine Beteiligung von Nichttheologen an der Kirchenleitung (in Synoden und kirchlichen Gremien) in Einklang stehe, da diese als „Menschen von allgemeiner Bildung" (ThEnz. 4,23) immer auch der Theologie verbunden seien und zudem ihre Tätigkeit mehr der „äussern" Kirchenleitung angehöre (ThEnz. 11 »25). 270 Vgl. ThEnz. 9,27-29: „So ist die protestantische Kirche realiter getrennt, aber das Leben in der Theologie ist Eines in ihr, und diese Einheit der Theologie vorzüglich erhält das Bewußtseyn der Einheit der Kirche [...]." Diesem in der Theologie repräsentierten inneren Zusammenhalt entspricht dann für Schleiermacher als äußere Gewährleistung dieser Einheit „das Uebergehen von Theologen von einer Landeskirche in die andre [...]" (ThEnz. 9,29f). 271 Zur Terminologie vgl. etwa K D § 11 Zs.; ThEnz. 12,26; 13,23; 14,6.14.
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das Uebergewicht des wissenschaftlichen Geistes, der ist, was wir den Theologen im engeren Sinne nennen; derjenige, in welchem sich das religiöse Interesse überwiegend entwickelt hat, den nennen wir jenem gegenüber den Kleriker [...]." 272 Dieser Verschiedenheit der subjektiven Motivation entspricht ein Unterschied auch in der Art und Weise der Wirksamkeit: Die Dominanz des kirchlichen Interesses drängt den Kleriker zur praktischen Ausübung, während der Theologe sich wissenschaftlich-theoretisch äußert. 273 „Theologische" und „klerikalische" Tätigkeit erstrecken sich also umfassend über das gesamte Gebiet der „Kirchenleitung". 274 Eine dritte Verwendungsweise dieses Ausdrucks ergibt sich dann daraus, daß auch die „klerikale" Tätigkeit selbst von Schleiermacher „Kirchenleitung" bzw. „KirchenRegiment" genannt wird. 275 Die drei Bedeutungen des Ausdrucks „Kirchenleitung" unterscheiden sich also der Sache nach hinsichtlich der jeweils zugrundeliegenden Motivkonstellation: Die allgemeinste Fassung („Mittheilung") bezeichnet ein Handeln ohne wissenschaftlichen Geist, während die „eigentliche KirchenLeitung" (ThEnz. 11,36) sich dem Nebeneinander von religiösem Interesse und wissenschaftlichem Geist verdankt. Als „klerikalisch" ist schließlich diejenige kirchenleitende Tätigkeit zu bezeichnen, bei der das kirchliche Interesse den wissenschaftlichen Geist überwiegt. In dieser engsten Bedeutung steht die „Kirchenleitung" der „Theologie im engeren Sinne" - als „klerikalische" der „theologischen" Wirkungsart - in einem relativen Gegensatz gegenüber: Ihre Duplizität begründet die „Geschäftsvertheilung" (ThEnz. 14,25f) innerhalb der Kirche; sie unterscheiden sich voneinander als „Handeln" und „Den272 ThEnz. 12,16-20; die Vorlesungsnachschrift Jonas erklärt dieses „Übergewicht" genauer als jeweilige Abhängigkeit: „Wenn der wissenschaftliche Geist das weniger Dominirende ist, so ist die Praxis das Hervortretende und die Wissenschaft wird als Mittel dazu angesehen. Wenn das Wissenschaftliche prädominirt, so wird sich das religiöse Interesse immer nur in der Beschäftigung mit der Wissenschaft äußern und das ist der Theologe im engern Sinne" (Ns. Jonas R 5 zu KD 1 3 § 10). 273 Diese begriffliche Differenzierung ist für Schleiermacher mit dem empirischen U n terschied zwischen ausübendem Geistlichen und akademischem Lehrer nicht einfach identisch; vgl. ThEnz. 12,30-35. Letzterer gehört der „freie[n] Geistesmacht" in der Kirche an und ist damit ein wesentlicher Bestandteil des „ungebundenen" Elements der Kirchenleitung (vgl. K D §§ 328. 330). 274 Vgl. K D § 270. 275 Vgl. ThEnz. 13,23; 12,29. An beiden Stellen ist explizit von einer der Theologie im engeren Sinne gegenübergestellten, aus überwiegendem kirchlichem Interesse geschehenden Wirkungsart die Rede („unmittelbare und stetige Ausübung": ThEnz. 12,29; „Thätigkeit": ThEnz. 13,22).
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
ken". 276 Der Gegensatz ist aber kein absoluter: Beide gründen sich auf religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist; sie sind durch das relative Übergewicht des einen, nicht aber durch das Fehlen des jeweils anderen Elementes unterschieden. Denn auf der einen Seite ist die Betätigung des wissenschaftlichen Geistes ohne kirchliches Interesse keine Theologie mehr, sondern stellt eine - theologisch „entfärbt[e]" (ThEnz. 124,29) - reale Wissenschaft dar. 277 Und auf der anderen Seite kann eine „klerikalische" Handlung, die ohne jegliche theologische Bildung unternommen wird, nur als „verworrene Einwirkung" (KD § 1 2 Zs.) beurteilt werden. „Religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" bezeichnen also die irreduziblen und unverzichtbaren Motive für theologisches Wissen und kirchliches Handeln. 278 Sie sind beide im selben Maße unentbehrlich, „weil man ohne jenes nur zufällig, ohne diese[n] aber unbewußt wirkt" 2 7 9 . Damit bildet dieses Begriffspaar das sachliche Fundament des Schleiermacherschen Theologiebegriffs: „Kirchlichkeit" und „Wissenschaftlichkeit" können als „Prinzipien der Theologie" bezeichnet werden. 280 Daß beide Prinzipien zwar einen Gegensatz, nicht aber einen Widerspruch darstellen, wird dabei von Schleiermacher durchgängig vorausgesetzt: Weder die beiden „Thätigkeiten" „Theologie" und (klerikale) „Kirchenleitung" 281 noch die ihnen gleichermaßen zugrundeliegenden Motive werden als sich wechselseitig ausschließend gedacht. So betont die „Kurze Darstellung" bei der ab276 ThEnz. 13,25-29. Diesen Unterschied illustriert Schleiermacher an der Verschiedenheit der Predigt von der Homiletik; vgl. ThEnz. 13,29-33. 277 Vgl. KD § 12 Zs. und das ThEnz. 12,37-13,6 angeführte Beispiel. Daß die theologische Aufgabe faktisch nicht selten in dieser defizitären Form wahrgenommen werde, hat Schleiermacher als Grundschwierigkeit der Theologie nicht nur seiner eigenen Zeit angesehen: „Die theologischen Wissenschaften werden bei weitem größtentheils von solchen betrieben, die gar keinen religiösen Sinn haben." (Briefe Gaß, 30; 6.9.1805) 278 Aus diesem Grunde sind beide Ausdrücke auch wesentlicher Bestandteil der Schleiermacherschen Theorie des religiösen Berufes. Auf diesen Sachverhalt hat W. Steck aufmerksam gemacht, der das Begriffspaar als Beschreibung der notwendigen Kompetenz des religiösen Berufsträgers interpretiert hat (vgl. Steck: Der evangelische Geistliche, 751-755). Dabei werden die konstitutive Bedeutung beider Motive für den Theologiebegriff sowie der durch sie verbürgte Zusammenhang von Theologie und Kirchenleitung allerdings nur am Rande erwähnt (vgl. a.a.O., 752f). 279F.H.C. Schwarz: Rezension von K D 1 , 519 280 Vgl. E. Schrofner: Theologie als positive Wissenschaft. Prinzipien und Methoden der Dogmatik bei Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1980, 77 i. 281 Vgl. ThEnz. 14,22-24: „Vergleichen wir nun diese beyden Thätigkeiten, so werden wir sagen müssen: unmittelbar können wir nicht sagen, daß sie einander widersprechen [...]."
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schließenden Betrachtung der „Kirchengeschichte": „ D a s kirchliche Interesse und das wissenschaftliche können bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte nicht in Widerspruch miteinander geraten." 2 8 2 Eine solche Widerspruchsfreiheit, die der Sache nach natürlich alle Disziplinen mit umfaßt, ist aber nur dann möglich, wenn das handlungsmotivierende „kirchliche Interesse" die Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Erkennens selbst nicht beeinträchtigt. Diese Bedingung ist jedoch dadurch erfüllt, daß dem „Interesse" keinerlei Einfluß auf die jeweilige Wissenschaft selbst, ihre Methoden und Ergebnisse, zugestanden wird: Es fungiert lediglich als äußerer Grund der Einheit von unterschiedlichen Einzelwissenschaften. „Religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" können somit nicht als einander grundsätzlich widersprechende Größen verstanden werden 2 8 3 , sondern sind als prinzipiell vereinbar zu denken. 2 8 4 Der grundlegenden Bedeutung beider Elemente für den Theologiebegriff entspricht dann auch eine faktische Relevanz des Begriffspaares innerhalb der Schleiermacherschen Enzyklopädie: Die „2 Prinzipien der theologischen Wissenschaft" (ThEnz. 238,8f) dienen nicht selten als Unterscheidungsgrund für einzelne Differenzierungen oder als Gliederungsgesichtspunkt. 2 8 5 Ihre Bedeutung erweist sich außerdem 282 K D § 193; die Vorlesungsnachschrift bezeichnet diese Aussage erläuternd als einen „rein protestantische[n] Saz" (ThEnz 179,37), der durch das Fehlen eines Unfehlbarkeitsanspruchs ermöglicht werde. Im Katholizismus dagegen sieht Schleiermacher die wissenschaftliche Freiheit durch die „Auctorität" der Kirche tendenziell eingeschränkt (vgl. ThEnz. 180,1-4). 283 Einen solchen Widerspruch scheint W. Pannenberg vorauszusetzen: „Wo solche Interessen maßgebende Bedeutung in der Theologie gewinnen, da wird vielmehr Theologie als Wissenschaft korrumpiert" (Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 254). Pannenberg setzt hier allerdings „kirchliches Interesse" mit dem „Ausbildungsinteresse" der Kirche gleich (ebd.); auf Schleiermachers eigenes Verständnis des Ausdrucks „religiöses Interesses" wird nicht eingegangen. Im Hintergrund dieser Identifikation steht dabei Pannenbergs Auffassung der „Kirchenleitung" in Schleiermachers Theologie-Definition: Das Verhältnis von Theologie und „Kirchenleitung" wird auf die „Aufgabe der Pfarrerausbildung" reduziert (a.a.O., 248; vgl. 250-255 passim). Diese Eingrenzung verkennt jedoch, daß die „Kirchenleitung" für Schleiermacher aus dem kommunikativen Charakter der Religion selbst entspringt und nicht auf ihre berufliche Ausbildungsfunktion beschränkt werden kann. - In seinem Kern geht dieses Mißverständnis auf den alten Vorwurf einer unsachgemäßen Indienstnahme der Theologie durch die Kirche zurück, vgl. oben S. 16, Anm. 66. 284 Dieser Auffassung entspricht auf der Ebene des explizierten Inhalts des christlichen Glaubens (in der Dogmatik) Schleiermachers Uberzeugung von der Widerspruchsfreiheit zwischen allgemeinem Wahrheitsbewußtsein und dem christlichen Glauben; vgl. Birknen Sittenlehre, 61 f. 285 So teilt sich die Tätigkeit des „Theologen im engeren Sinne" ihrerseits in eine „theologische" und eine „klerikale" Wirksamkeit: das Gegenüber von „Forschung" und
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darin, daß beide Begriffe quasi leitmotivisch in nahezu allen (Unter-) Disziplinen der „Kurzen Darstellung" wiederkehren. 286 Dabei wird zumeist die Frage erörtert, welche Auswirkungen das Fehlen eines der beiden „Motive des theologischen Studiums" (ThEnz. 239,7) hat. 287 Das Ideal der völligen Ausgewogenheit beider konstituierender Elemente in einer Person schließlich hat Schleiermacher in der „Idee eines Kirchenfürsten" 288 beschrieben. Im Unterschied sowohl zum „Theologen im engeren Sinn" als auch zum „Kleriker" ist beim „Kirchenfürsten" weder eines der beiden subjektiven Motive vorherrschend noch eine der beiden Tätigkeitsformen durch die jeweils andere beschränkt. 289 Da jedoch in der Erfahrung immer ein Übergewicht nach der einen oder anderen Seite gegeben ist 290 , bestimmt Schleiermacher diese Vorstellung als „theologische[s] Ideal" (KD § 9 Zs.), dem sich die empirischen theologischen und klerikalen Subjekte immer nur annähern können. Dabei ist der Ausdruck „Kirchenfürst", den Schleiermacher nach eigenem Verständnis der theologischen Tradition entnommen hat 291 , gelegentlich wegen einer ver„Lehre" (vgl. ThEnz. 17,21-31). - Auch die Frage einer angemessenen Darstellung von Glaubens- und Sittenlehre (Trennung oder Verbindung, vgl. K D §§ 223-231) läßt sich auf diesen Grundgegensatz abbilden: Eine getrennte Behandlung dient mehr dem kirchlichen, die kombinierte Darstellung mehr dem wissenschaftlichen Interesse (vgl. ThEnz. 220,19-26). - Die Erstauflage der „Kurzen Darstellung" schließlich konstruiert nach diesem Begriffspaar die Gegenüberstellung von „Kirchengewalt" und „Thätigkeit der Einzelnen" innerhalb des „Kirchenregiments" (KD 1 78 § 6). 286 Vgl. K D §§ 147f (Exegetische Theologie); § 193 (Kirchengeschichte); §§ 247f (Statistik); §§ 258. 262 (Praktische Theologie) und die entsprechenden Erläuterungen der Vorlesungsnachschrift. Auffällige Ausnahmen bilden hier Philosophische Theologie und Dogmatik. 287 Im Blick auf die Exegetische Theologie etwa stellt Schleiermacher fest, daß bei fehlendem „religiösem Interesse" jede „fortgesetzte Beschäftigung" mit dem Kanon „gegen denselben gerichtet sein" muß ( K D § 147): Sie läßt sich nicht aus der literarischen Qualität dieser Textsammlung erklären, die „an sprachlicher Wichtigkeit hinter andern Schriften weit zurücksteht" ( K D § 124 Zs.). Vielmehr verdankt sich eine solche Beschäftigung stets einer sekundären (positiven oder negativen) Motivation (vgl. ThEnz. 139,34-140,7). Eine Auslegung der Bibel ohne „wissenschaftlichen Geist" dagegen gehört für Schleiermacher zur Gattung der Erbauungsliteratur (vgl. § 148), bei der sich „das Interesse für den christlichen Glauben mit allgemeiner Mittheilungsseligkeit" verbindet (ThEnz. 141,17f). 288 K D § 9; vgl. ThEnz. 12,1-15. 289 Denn „religiöses Interesse und wissenschaftliche[r] Geist [sind] im höchsten Grade und im möglichsten Gleichgewicht für Theorie und Ausübung vereint [...]" ( K D
§9).
290 Vgl. K D § 13. 291 Die Vorlesungsnachschrift erläutert ihn als „Uebertragung eines kirchlichen Ausdrucks princeps ecclesiae" (ThEnz. 12,9f). C. Clemen hat jedoch festgestellt (vgl.
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muteten hierarchisch-katholisierenden Tendenz kritisiert worden. 292 Für Schleiermacher schließt der Begriff jedoch jegliche „Erinnerung an ein amtliches Verhältnis" (KD § 9 Zs.) aus 293 und soll vielmehr ein Individuum bezeichnen, ,,welche[s] sein Zeitalter geistig dominire" 294 . Daher ist dieser Titel nicht selten auf Schleiermacher selbst bezogen worden. 295 Eine solche Identifikation hat aber darin ihr Recht, daß die Parallelität von „Theologie" und „Kirchenleitung" in Schleiermachers Theologie-Konzeption in der doppelten Gestalt seiner eigenen kirchlichen Tätigkeit - als „Theologe im engeren Sinn" (etwa an der Clemen: Vorlesung, 230f), daß nicht sicher zu erkennen ist, worauf Schleiermacher sich mit dieser Äußerung bezieht, da das einzig nachweisbare Vorkommen des Terminus (vgl. C. D. du Cange: Glossarium mediae et infimae Latinitatis, Paris '1883-87, Nachdruck Graz 1954, Bd. VI, 502) lediglich eine bestimmte liturgische Funktion beschreibt; vgl. Ordo X , 25 (M. Andrieu: Les Ordines Romani du haut moyen âge, Bd. 2, Les Textes (Ordines I - X I I I ) , SSL 23, Louvain 1948, 356). Auch der von du Cange (ebd.) gegebene Hinweis auf den griechischen „¿χχλησιάρχης" bietet keine Erhellung, denn nach J. Goar bildet dieser im Euchologion ein bestimmtes liturgisches Amt bezeichnende Ausdruck eine Entsprechung zu „Ecclesiae praepositus" (und nicht: „princeps"), vgl. J. G o a r Euchologion sive Rituale Graecorum, Venedig M 730, Nachdruck Graz 1960, 199. 225f. 292 So hat bereits K. Rosenkranz den Ausdruck als „zu hierarchisch" (Rosenkranz: Encyklopädie, 356) abgelehnt; während etwa A. Faure katholisierende Befürchtungen geäußert hat (vgl. A. Faure: Uber die „Idee eines Kirchenfürsten" in Schleiermachers „Darstellung des theologischen Studiums", EvTh 3 (1936), 384-398, 390). 293 Dazu notiert schon die Vorlesungsnachschrift Jonas (1816/17): „Dabei hat aber Schi, nicht wie ihm vorgeworfen, an einen Pabst gedacht." (Ns. Jonas 5 zu K D 1 3 § 9) Statt dessen sei, wie C. Clemen aus einer Vorlesungsnachschrift desselben Semesters mitteilt, der Ausdruck „eher auf Luther und Zwingli zu beziehen" (Clemen: Vorlesung, 231). 294ThEnz. 12,1 Of. Im Einklang mit dieser Bestimmung kann Schleiermacher die Bezeichnung dort wiederaufnehmen, wo er im Zusammenhang der Historischen Theologie eine biographische Darstellungsform der Geschichte erwägt ( K D § 251): J e deutlicher sich in einem Individuum aufgrund dessen prägender Wirkung eine ganze Epoche abbildet, (und es damit „dem Begriff eines Kirchenfürsten entspricht": K D § 251 Zs.) desto eher kann diese auch als dessen Biographie dargestellt werden (vgl. ThEnz. 245,22-26). - Ein letztes Mal kommt Schleiermacher bei der Erörterung der „freie[n] Geistesmacht" als der Wirksamkeit des „akademischen Theologen und des kirchlichen Schriftstellers" ( K D § 328) innerhalb der Praktischen Theologie auf diesen Ausdruck zurück: J e mehr sich beide diesem Ideal annähern, desto allgemeiner und umfangreicher gestaltet sich ihre Wirkung und Rezeption innerhalb der Kirche (vgl. K D § 329). Auf diesen Aspekt hat E. Hirsch den Schwerpunkt seiner Interpretation des Schleiermacherschen „Kirchenfürsten" gelegt, indem er ihm mit einer gewissen Ausschließlichkeit das „Gebiet der freien Geistesmacht" (Hirsch: Geschichte Bd. V, 355) zuweist. 295 Vgl. etwa Ebbrecht: Theologie, 210 Anm. 100; J. Frerichs: Vorrede, in: PrTh X I I ; Hirsch: Geschichte Bd. V, 336; B. A. Gerrish: A Prince of the Church. Schleiermacher and the Beginnings of Modern Theology, Philadelphia 1984; M. Honecken Schleiermacher und das Kirchenrecht, T E H 148, München 1968, 5f.
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Berliner Universität) und als „Kleriker" (z.B. an der Dreifaltigkeitskirche) - geradezu eine Entsprechung findet.
3. Die Gliederung der Theologie Bekanntlich hat Schleiermacher mit seiner Gliederung der Theologie die zu seiner Zeit übliche Vierteilung, die „bekannte Eintheilung der Theologie in die exegetische historische dogmatische und praktische" 296 , nicht einfach übernommen. Vielmehr hat er nicht nur den Theologiebegriff neu bestimmt, sondern auch ihre Gliederung in Disziplinen neu entworfen und begründet. Eine Ableitung der theologischen Disziplinen hat aber für Schleiermacher anhand eines Kriteriums zu geschehen, dessen Rechtmäßigkeit an Begriff und Wesen der Theologie zu erweisen sein muß. Denn ein Vorgehen, das sich lediglich an der faktisch bestehenden Auffächerung orientierte, wäre dem Verdacht bloßer Willkür ausgesetzt. 297 Als ein solches sachlich begründetes Einteilungskriterium kann daher für Schleiermacher nur der funktionale Bezug der Theologie auf die Kirchenleitung in Betracht kommen: sein Gliederungsverfahren besteht darin, daß „aus der Beziehung der Theologie auf die Kirchenleitung ihre wesentlichen Elemente hergeleitet sind." 298 Die Einteilung der Theologie „ihrem Zweck nach" geschieht nun auf doppelte Weise: Grundlegend teilt Schleiermacher die Theologie in eine praktische Disziplin, die „Kunstregeln" aufzustellen hat und eine theoretische, die „Kenntnisse" 299 vermitteln soll (1); die letzteren 296 Einrichtung 211,36f 297Vgl. ThEnz. 31,10-16: „Es giebt nun allerdings eine andre Verfahrungsweise, daß man nämlich von dem Gegebenen ausgeht. Man sagt: Zum theologischen Studium gehört gegenwärtig dieses und dieses. [...] Schlägt man nun hiebey nicht unsre Methode ein, so kann es nur eine willkührliche Zusammensezung geben." 298 ThEnz. 31,8-10. Denn da die Theologie ausschließlich durch ihre Funktion definiert ist, gibt es kein sachgemäßes „andres Mittel, als die Theologie ihrem Zweck nach zu theilen" (ThEnz. 31,19f). - Eine Aufzählung der für einen Prediger unabdingbaren Kenntnisse hat Schleiermacher schon im zweiten „unvorgreiflichefn] Gutachten" von 1803 unternommen (vgl. SW 1/5, 141f); dabei unterscheidet er einen „philologischefn]" und einen „historische[n] Theil" des theologischen Studiums und erwähnt daneben „praktische Anweisungen" sowie den „philosophische[n] Unterricht" (vgl. a.a.O. 141,lf.l9.21.23). Auch hier bildet also der „Zweck" des Theologiestudiums das Kriterium seiner Einteilung - wenn auch in anderem Zusammenhang (vgl. a.a.O. 141,8-16) und ohne Erwähnung theologischer Disziplinen. 299 Auf diese „Duplicität" der wissenschaftlichen „Elemente" in der Formulierung von KD § 5 verweist ausdrücklich die Vorlesungsnachschrift, vgl. ThEnz. 8,10-12.
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sind dann ihrerseits zu gliedern in „die eigentlich geschichtlichen" und solche, die „Principien für das geschichtliche enthalten" 300 (2). (1) Aus der Bezogenheit der Theologie auf die Praxis der Kirchenleitung mit dem Ziel, deren Optimierung zu ermöglichen, ergibt sich unmittelbar, daß sie jedenfalls diese Praxis selber zu ihrem Gegenstand haben muß. Der Praxisbezug der Theologie erfordert somit die Disziplin der „praktischen Theologie", die jedoch ihrerseits mit der Praxis selbst nicht einfach zusammenfällt 301 : Sie hat nicht mit den praktischen Aufgaben der Kirchenleitung unmittelbar zu tun, sondern stellt „Kunstregeln" auf 302 , zu deren Wesen es gehört, daß das ihnen gemäße Handeln sich jeweils einem besonderen „Talent" (KD § 265 Zs.) verdankt. Die Praktische Theologie ist somit die „Methodologie der Kirchenleitung"303. Ihr wissenschaftlicher Status ist der einer technischen Disziplin 304 ; sie könnte daher auch als „technische Theologie" bezeichnet werden. 305 Neben dieser „Technik" bedarf die Kirchenleitung aber auch einer Kenntnis desjenigen Gegenstandes, auf den das durch technische „Kunstregeln" geleitete Handeln abzielt. Den gesamten Komplex dieser „Kenntnisse" 306 nennt Schleiermacher „theoretische" oder „scientifische Theologie" 307 . Damit stehen sich zwei gleichberechtigte „Hauptzweige" 308 der Theologie gegenüber, die voneinander abhängig und aufeinander bezogen sind: „Die praktische ist der scientifischen coordinirt. Diese ohne jene verliert ihre Bedeutung; jene ohne diese ihr Fundament." 309 (2) Aus dem spezifischen Bezug der Theologie zur Kirchenleitung ergibt sich jedoch auch in ihrem „scientifischen" Zweig die Notwendigkeit einer Zweiteilung: Einerseits setzt jede Leitung eine „Kenntnis des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande" 310 voraus. 300 PrTh 22,15f 301 Vgl. PrTh 12,21f. 302 Vgl. K D SS 5. 265. 303 ThEnz. 252,27 (Hervorhebung i.O.) 304 Vgl. K D $ 25; ThEnz. 9,34; 25,8-10; PrTh 25,9ff; Ethik 1812/13, E 366 (S 231). 305ThEnz. 25,12. Am Ausdruck „praktisch" bemängelt Schleiermacher, daß er „den Gegensaz zu theoretisch einschließt, welcher nicht existirt, da ja die praktische Theologie selbst eine theoretische ist." (a.a.O., 13f) 306 K D $ 5; PrTh 17,16.23.33. 307 PrTh 24,1; 26,7 308 Vgl. PrTh 17,31-33. 309 PrTh 786,3f (Ms. 1828) 310 K D S 26; vgl. PrTh 25,33-26,6.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
Dabei folgt aus dem Begriff der Leitung, daß der Charakter dieser Kenntnis ein historischer ist 311 , da eine verbessernde Einwirkung nur möglich ist, wo die Gegenwart als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung erkannt wird. 312 Die mit diesen Kenntnissen sich befassende Disziplin heißt daher „historische Theologie" 313 ; sie macht die Hauptmasse der Theologie wie des theologischen Studiums aus 314 und zwar sowohl bezüglich der Fülle des Stoffs als auch im Blick auf ihre organisatorische Differenzierung 315 : Sie umfaßt die Exegetische Theologie als „Kenntnis des Urchristentums" (KD § 84), die Kirchengeschichte als „Kenntnis des gesamten früheren Verlaufs" der Kirche (KD § 82) und schließlich als „Kenntnis des gegenwärtigen Momentes" (KD § 81) die beiden Unterdisziplinen Dogmatik und Statistik.316 Andererseits sind diese geschichtlichen Kenntnisse sämtlich davon abhängig317, daß sie von „leitenden Begriffe[n]" (KD § 252 Zs.) ausgehen, die sie als wahrhaft geschichtliche Kenntnisse - im Unterschied
311 Denn die Kirchenleitung selbst ist ja durch den „Besiz" eines „geschichtlichen Bewußtseyns" (ThEnz. 3,19) definiert. Daher sind alle theologischen Kenntnisse, „die auf irgend eine Weise zu den Kenntnissen des Zustandes der Kirche gehören, [...] historisch" (PrTh 18,17f). 312 Vgl. KD § 2 6 Zs. 313 W. Pannenberg erkennt in seiner Behandlung des Schleiermacherschen Theologiebegriffs an dieser Stelle ein Argumentationsdefizit, indem er die „Begründung für die Notwendigkeit der historischen Theologie von den Erfordernissen der Kirchenleitung her" für „wenig überzeugend" hält, da sich das „tatsächliche Gewicht der historischen Theologie [...] nämlich auf diesem Wege nicht rechtfertigen" lasse (Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 253). Für Pannenberg ist die historische Theologie erst dann hinreichend begründet, wenn dabei der religiöse Gehalt der neutestamentlichen Schriften selbst zur Geltung gebracht wird: „Erst dadurch, daß das Christentum eine Gestalt der Vergangenheit - Jesus von Nazareth - als den Erlöser der Welt verkündet, ergibt sich die Notwendigkeit, sich so intensiv mit dem exegetischen Studium der Dokumente des Urchristentums zu befassen" und über die „Frage nach der geschichtlichen Kontinuität des Christentums [...] die Thematik der Kirchengeschichte" zu entfalten (a.a.O. 254). Schleiermachers eigene Begründung hat dagegen den Vorzug, daß sie bei der Ableitung einer theologischen Disziplin nicht auf den Inhalt des religiösen Bewußtseins rekurrieren muß: Das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth ist zwar als Wesensmerkmal des Christentums (vgl. C G ' § 18) Bestandteil des religiösen Interesses, steht aber eben deswegen in einer anderen „Reihe Sezung" (Dial 1814/15, Tl.l § 175 Anm., DA 2 39 (DJ 103)) als die wissenschaftstheoretische Ableitung einer theologischen Disziplin. 314 Daher bildet sie den „eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums" (KD § 28). 315 Vgl. ThEnz. 27,25-31. 316 Vgl. KD § 195. Die dogmatische Theologie teilt sich dann ihrerseits in die „Dogmatik im engeren Sinn" und die „christliche Sittenlehre" (KD § 223); zum Problem einer genaueren Verhältnisbestimmung zwischen beiden vgl. Birkner: Sittenlehre, 66ff. 317 Vgl. PrTh 23,6-18.
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zu bloß empirischer Aufnahme von Einzelsachverhalten 318 - überhaupt erst konstituieren. Daher bilden diejenigen Kenntnisse, „welche die Principien enthalten" 319 , eine eigene theologische Disziplin, die ein „Wissen um das Christentum" (KD § 21) allererst ermöglicht. Sie entwickelt Kategorien für ein geschichtliches Verständnis des Christentums und hat dafür auf die philosophischen Wissenschaften Ethik und Religionsphilosophie zurückzugehen. 320 Wegen dieses wissenschaftstheoretischen Zusammenhanges nennt Schleiermacher sie „philosophische Theologie" 321 . Mit ihrer Begründungsfunktion für die Historische Theologie ist allerdings die Funktionalität der Philosophischen Theologie im ganzen noch nicht vollständig erfaßt: Wie sich zeigen wird, lassen sich insgesamt drei verschiedene Aspekte des funktionalen Bezugs der Philosophischen Theologie auf die Kirchenleitung unterscheiden 322 , von denen ihre fundierende Funktion für die geschichtlichen Kenntnisse der Historischen Theologie nur einen darstellt. Die Ableitung der Philosophischen Theologie aus dieser Begründungsfunktion bringt also einen notwendigen, noch nicht den hinreichenden Konstitutionsgrund dieser Disziplin zur Geltung. Für alle drei theologischen Disziplinen gilt jedoch gleichermaßen, daß sie aus dem Praxisbezug der Theologie abgeleitet sind: Er bildet die Begründung für die „Deduction" (ThEnz. 25,39) jeder Einzeldisziplin. Dieses Einteilungskriterium muß sich nun noch dadurch bewähren, daß mit der Dreiteilung die Bedürfnisse der Kirchenleitung sämtlich befriedigt sind und die Theologie somit vollständig aufgegliedert ist. Diese Bewährung ist aber als gegeben anzusehen. Denn es läßt sich kein Aspekt des kirchenleitenden Handelns denken, der nicht in einer der drei Disziplinen aufgehoben wäre: „Habe ich die Principien wonach ich den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regeln für die Geschäftsführung: so bin ich mit Allem ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört" (ThEnz. 26,14-17). 318 Dies wäre eine lediglich „chronikartige Kenntniß des geschichtlichen Verlaufs" (ThEnz. 246>29f); vgl. zum Begriff der „Chronik" ausführlicher unten S. 137ff. 319PrTh 22,2 Of 320 Vgl. KD § 24 Zs.; ThEnz. 24,25f. Zum Verhältnis der Philosophischen Theologie zu Ethik und Religionsphilosophie vgl. ausführlicher unten S. 80ff. 321 Vgl. ThEnz. 24,24-27. Diese Bezeichnung entspricht überdies dem Gegenstand der Disziplin, weil „alles was Princip sein soll in das Gebiet der Philosophie gehört" (PrTh 22,21-25), sowie ihrer formalen Aufgabe, „indem sie es großenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun hat" (KD § 24 Zs.). 322 Vgl. zusammenfassend unten III.6.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
Die Vollständigkeit der „Trilogie" 323 , die das theologische Studium umfaßt, ist damit erwiesen. Überblickt man abschließend Schleiermachers enzyklopädische Gliederung der theologischen Disziplinen insgesamt, so lassen sich zwei Beobachtungen machen. Erstens ist festzustellen, daß die Theologische Enzyklopädie selbst nicht unter eine dieser drei Disziplinen fällt: Die Enzyklopädie erhält keinen enzyklopädischen Ort innerhalb der Theologie. Und zweitens taucht dieses Thema in Schleiermachers „Kurzer Darstellung" gar nicht auf: Ob oder wie die Enzyklopädie der Theologie ein- oder zuzuordnen ist, wird hier nicht eigens verhandelt. 324 Diese thematische Lücke ist zunächst unproblematisch, weil Theologie und Theologische Enzyklopädie - als Theorie und Metatheorie - auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen angesiedelt sind: die eine ist Gegenstand der anderen. Zwischen beiden besteht aber darüber hinaus ein innerer Zusammenhang, der darin begründet ist, daß die Theorie der Theologie zugleich eine Einführung in deren Studium ist: Begriff und Gliederung der Theologie werden nicht auf eine von den Bedingungen des Theologiebetriebs abstrahierende Weise wissenschaftstheoretisch erörtert, sondern in der Form eines Kompendiums für das theologische Studium dargestellt. Dieser Zusammenhang wird 323 K D § 31. Über Hintergründe und Vorläufer dieser Schleiermacherschen Dreigliederung sind unterschiedliche Vermutungen angestellt worden. E. Hirsch merkt an, daß Schleiermacher seine Dreiteilung „in freier Weise der Dreigliederung nachgebildet" habe, die Fichte seiner Schrift „Der geschlossne Handelsstaat" (Tübingen 1800) zugrundegelegt hat (Hirsch: Geschichte Bd. V , 350): Die Obertitel der drei Bücher dieser Schrift lauten „Philosophie", „Zeitgeschichte" und „Politik" (vgl. J . G . Fichte: Sämmtliche Werke, hg. v. I . H . Fichte, 8 Bde., Berlin 1845-1846, Nachdruck Berlin 1971, Bd. 3, 395f). - Andererseits hat W. Jetter auf den Göttinger Magister J . A. C. Nöbling und dessen praktisch-theologische Programmschrift „Uber das Bedürfnis einer theoretisch-praktischen Anleitung zur weisen und vorsichtigen Sonderung der zum christlichen Volksunterricht gehörigen Materialien von den Gegenständen der akroamatischen Theologie, für angehende Lehrer des Christenthums", Göttingen 1796 aufmerksam gemacht: In dieser Schrift ist die Dreigliederung in einen historischen, einen philosophischen und einen praktischen Teil zwar nicht des gesamten Theologiestudiums aber doch der „theoretisch-praktischen Anleitung" selbst - bereits vorhanden (vgl. W. Jetter: Populäre oder elementare Theologie?, PTh 74 (1985), 396-406, 402). Eine Bekanntschaft Schleiermachers mit dieser Gliederung - etwa über Nöblings Lehrer und Schleiermachers Hallenser Fakultätskollegen A. H. Niemeyer - wird dabei von Jetter als immerhin möglich angenommen. 324 Eher beiläufig kann daher die Enzyklopädie einerseits als „Disziplin" ( K D § 20 Zs.; vgl. ThEnz. 1,4) bezeichnet werden und andererseits „die erste Einleitung in das theologische Studium" ( K D § 20 Zs.) oder eine „Einleitung" für „die Theologischen Ankömmlinge" heißen (Briefe Gaß, 2; 13. 11. 1804); eine systematische Verortung ist mit diesen Bezeichnungen jedoch nicht intendiert.
3. Die Gliederung der Theologie
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ja von Schleiermacher bereits im Buchtitel seiner Enzyklopädie angedeutet. Die Vorlesungsnachschrift weist aber auch explizit darauf hin, daß die „encyclopädische Darstellung zum Behuf des UniversitätsStudiums gegeben wird" (ThEnz. 19,40f). Damit nimmt Schleiermacher die traditionelle Funktion der Fach-Enzyklopädie als propädeutische Einführung auf; entsprechend gibt seine Enzyklopädie auch praktischmethodologische Hinweise zum angemessenen Beginn und Aufbau des theologischen Studiums. 325 Die Frage „Was ist Theologie?" wird von Schleiermacher also beantwortet im Rahmen der Frage „Wie studiert man Theologie?". Das Studium, als dessen „Darstellung" die Theologische Enzyklopädie entfaltet wird, kann aber als Inbegriff der Ausbildung für die Teilnahme an der Kirchenleitung gelten: Es bildet genau denjenigen Ort, an welchem theologische „Kenntnisse und Kunstregeln" erworben werden. Damit besteht also eine Entsprechung zwischen der Form der Enzyklopädie und dem Charakter ihres Gegenstandes: Die funktional definierte Theologie wird von ihrer Enzyklopädie in derselben Weise funktional behandelt und dargestellt. Und insofern die enzyklopädische Einleitung eine Anweisung zum Erwerb derjenigen Mittel und Fähigkeiten ist, die eine „zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche" (KD § 5) ermöglichen, hat die wissenschaftstheoretische Darstellung der Theologie selbst Anteil an der Erreichung des diese definierenden Zwecks: der Optimierung der Kirchenleitung. Eine solche Ubereinstimmung ist nun insofern konsequent, als sie erlaubt, das Spezifikum der „positiven" Wissenschaft, ihre funktionale Definition, auch in ihrer enzyklopädischen Darstellungsweise zu berücksichtigen. Zusätzlich wird damit die der Enzyklopädie selbst innewohnende Spannung von Propädeutik und wissenschaftstheoretischer Grundlegung 326 ausgeglichen: Für eine „positive" Wissenschaft ist es sachgemäß, ihre wissenschaftstheoretische Grundlegung in der Form eines einführenden Studienhandbuchs zu entfalten, weil so ihr funktionaler Praxisbezug schon in der Art und Weise ihrer Darstellung zur Geltung kommt. Aus dieser Entsprechung ergibt sich aber ein Problem, das in Schleiermachers eigener Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Enzyklopädie nicht hinreichend berücksichtigt wird. Denn dadurch, daß einerseits die letztere als Einführung in das Studium der ersteren 325 Vgl. ThEnz. 27,22f. Nach ThEnz. 28,19f wird dieses Problem der „Ordnung des theologischen Studiums" in KD §§ 27, 29 und 30 erörtert. 326 Vgl. dazu oben 1.1.
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II. Der enzyklopädische Ort der Philosophischen Theologie
gestaltet wird und andererseits diese Einführung unbestreitbar einen Bestandteil des theologischen Studiums bildet 327 , ergibt sich der Sachverhalt, daß die Enzyklopädie selbst faktisch den Status einer Disziplin erhält. 328 Sie muß sich also selbst enthalten: Die Metatheorie kann nicht mehr nur Reflexion der Theorie sein, sondern ist ihr als deren genuiner Bestandteil einzuordnen. Genau diese Verortung wird jedoch in Schleiermachers Enzyklopädie selbst nicht mehr vorgenommen. Damit bleibt Schleiermachers Theologiebegriff an dieser Stelle unvollständig, weil er die Enzyklopädie selbst nicht mehr zu integrieren vermag. 329 327 Vgl. ThEnz. 1,5-7. 328 Vgl. KD § 20 Zs., ThEnz. 1,4. 329 Es liegt nun nahe, den interpretatorischen Versuch zu unternehmen, diese Lücke zu schließen und Erwägungen darüber anzustellen, wo in Schleiermachers Theologiebegriff der enzyklopädische Ort der Enzyklopädie zu finden sein könnte. Bei solchen Überlegungen handelt es sich jedoch um Vermutungen, die keinerlei Anhalt an den Schleiermacherschen Texten haben und denen deswegen ein anderer (nämlich: geringerer) interpretatorischer Status als der bisher vorgelegten Rekonstruktion zukommt. Daher werden sie auch nur anmerkungsweise vorgetragen. Unter diesem Vorbehalt kann nun aber erwogen werden, ob nicht die Enzyklopädie eine besondere Affinität zu einer der drei theologischen Disziplinen aufweist und etwa ihrer Funktion nach einer dieser Disziplinen zu integrieren ist. Und hier scheint auf den ersten Blick eine spezifische Parallelität zwischen der Theologischen Enzyklopädie und der Philosophischen Theologie vorzuliegen: Denn die Enzyklopädie als Metatheorie hat die Theologie selbst zu ihrem Gegenstand (vgl. KD §§ 1 und 5), wärend der Inhalt der Philosophischen Theologie darin besteht, das Wesen des Christentums und der Kirche zur Darstellung zu bringen (vgl. KD §§ 21 und 24). Wie also die Enzyklopädie eine Theorie der Theologie entfaltet, so enthält die Philosophische Theologie die Grundlagen für ein geschichtliches Verständnis des Christentums und der christlichen Kirche. Weil aber die Theologie selbst durch ihren funktionalen Bezug zur christlichen Kirche konstituiert ist, besteht eine fundamentale Ubereinstimmung zwischen der wissenschaftstheoretischen Reflexion und Fundierung der Theologie (in der Enzyklopädie) und einer geschichtlichen Prinzipientheorie der Kirche (in der Philosophischen Theologie). Es läßt sich also vermuten, daß die Enzyklopädie als Grundlegung der Theologie ihren eigentlichen Ort innerhalb der GrundlagenDisziplin „Philosophischen Theologie" hat. Ahnliche Überlegungen treffen jedoch auch für die beiden anderen theologischen Disziplinen zu. Denn mit derselben Plausibilität lassen sich Argumente für eine Konvergenz zwischen der Enzyklopädie und der Historischen bzw. Praktischen Theologie finden: So hat die Historische Theologie die „Kenntnis des zu leitenden geschichtlichen Ganzen" (KD § 26), der Kirche in der Gesamtheit ihrer Entwicklung, zum Inhalt. Und in durchaus vergleichbarer Weise verschafft die Enzyklopädie einen Überblick über das Ganze der Theologie (vgl. KD § § 1 8 und 20), die sich jenem geschichtlichen Ganzen, der christlichen Kirche, angebildet hat. Die Praktische Theologie steht dagegen deswegen in deutlicher Analogie zur Enzyklopädie, weil diese in ihrer praktisch-methodologischen Hinsicht einer Anleitung zum theologischen Studium ihrerseits den Charakter einer Kunstlehre hat: Sie gibt Anweisungen zum Studium ihres Gegenstandes. In dieser Perspektive stimmen die Enzyklopädie und die Praktische Theologie formal
3. Die Gliederung der Theologie
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als „technische Disziplinen" überein. - Die Theologische Enzyklopädie weist also eine gleichmäßige Affinität und Aquidistanz zu allen drei Disziplinen der Theologie auf und kann nicht einer dieser drei eingegliedert werden. Die von Schleiermacher selbst hinterlassene Lücke einer fehlenden enzyklopädischen Ortsbestimmung der Enzyklopädie läßt sich somit auch nicht durch den Versuch schließen, über die Textinterpretation hinausgehende Vermutungen anzustellen: der Theologiebegriff bleibt an dieser Stelle unvollständig.
III. Das Programm der Philosophischen Theologie In den Erläuterungen der Vorlesungsnachschrift zu § 253 der „Kurzen Darstellung" findet sich folgende Analyse der zeitgenössischen theologischen Situation, die Schleiermacher in zweierlei Hinsicht charakterisiert sieht: „einmal als Maximum von Differenz, und dann als ein Maximum von Rathlosigkeit in Beziehung auf die Aufhebung dieser Differenz" (ThEnz. 247,7-9). Diese Formel bezieht sich auf den Streit zwischen Rationalismus und Supranaturalismus, den sie dadurch zu erfassen versucht, daß sie diese Diskrepanz als grundsätzliche deutet: Sie betrifft nicht ein einzelnes theologisches Spezialthema; vielmehr besteht das „Maximum" des Gegensatzes darin, daß strittig ist, was das Christentum selbst ist oder sein soll.1 Darüber hinaus enthält die Formel eine Erklärung für die Schwierigkeit einer möglichen Uberwindung dieser grundsätzlichen Differenz: Die „Rathlosigkeit" wird nämlich darin gesehen, daß über ein Verfahren zu solcher Uberwindung keine Einhelligkeit besteht. Diejenige theologische Disziplin, die diese „jezige Verwirrung" (ThEnz. 248,15f) zu beenden in der Lage wäre, ist nun nach Schleiermachers Ansicht die Philosophische Theologie: „Es muß erst der Rationalismus und der Supranaturalismus, jeder seine eigne philosophische Theologie aber rein für sich im Zusammenhang entwickeln, [...] dann wird sich aber auch gleich das Ungenügende jener Bezeichnungen zu Tage legen, weil sie nämlich nicht den Punkt zeigen, von welchem beyde ausgehen. Ubernatürliches und Vernunft sind aber keine solche sich ausschließenden Gegensäze" (ThEnz. 248,31-38).
1 „Es liegt nicht einmal ein gemeinsamer Begriff zu Grunde von dem Wesen des Christenthums" (ThEnz. 248,2 lf). Entsprechend hat Schleiermacher auch in der Dogmatikvorlesung bei der Erörterung der Frage nach dem Wesen des Christentums und ihrer Offenheit (vgl. CG1 § 5, KGA 1/7.1, 18,32-20,11) auf diesen „Streit" verwiesen, „den man Rationalismus und Supernaturalismus nennt, dieser Streit trifft gerade diesen Gegenstand -" (Ns. Heegewaldt WS 1823/24, zit. n. KGA 1/7.3, 16, Sachapparat zu Marg. 54; Hervorhebung i.O.).
III. Das Programm der Philosophischen Theologie
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Mit diesem Verweis auf die zeitgenössische theologische Debattenlage2 dokumentiert Schleiermacher die prinzipielle Bedeutung, die er der Philosophischen Theologie beimißt: Sie bildet den „Ort aller Prinzipien" (§ KD 89), da in ihr sämtliche „leitenden Begriffe [...] definitiv bestimmt" werden (KD § 252 Zs.). Umso folgenreicher ist daher sowohl ihre fehlende formale Einheit 3 als auch die daraus resultierende mangelhafte Bearbeitung der theologischen Prinzipien selbst4: Beide Mängel ziehen „großenteils" einen „verworrene[n] Zustand der theologischen Disziplinen" nach sich (KD § 29 Zs.) und wirken sich dadurch verunsichernd auch auf die Kirchenleitung aus.5 Es zeigt sich also, daß die Philosophische Theologie für Theologie und Kirchenleitung eine grundlegende Funktion zu erfüllen hat; sie kann damit zu Recht als „theologische Grunddisziplin" 6 oder „Prinzipientheorie"7 bezeichnet werden. Die fundamentale Bedeutung der Philosophischen Theologie ist dann auch der Grund dafür, daß sich für diese Disziplin eine Unterscheidung nicht treffen läßt, die Schleiermachers Enzyklopädie als Leitmotiv durchzieht: die Gegenüberstellung von professionellem Spezialwissen und theologischer Allgemeinbildung. In den §§ 14-16 der „Kurzen Darstellung" begründet Schleiermacher diese Unterscheidung als Konsequenz aus der Notwendigkeit und Relativität einer Spe2 Auch R. Stalder interpretiert Schleiermachers Philosophische Theologie auf dem Hintergrund der „zu seiner Zeit herrschende[n] Krisis der theologischen Wissenschaft" (R. Stalden Grundlinien der Theologie Schleiermachers. I. Zur Fundamentaltheologie, VIEG 53, Wiesbaden 1969,47), auf die Schleiermacher in § 40 der „Kurzen Darstellung" mit dem Ausdruck „Mißfallen an den in seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen" anspiele. Dabei kommt Stalder zu dem Schluß, „daß Schleiermacher aus der von ihm erfahrenen N o t der Kirche heraus die Disziplin seiner berühmt-berüchtigten »philosophischen Theologie« postuliert" (a.a.O., 48). Auch wenn diese Deutung hier die grundsätzliche Bedeutung des § 40 verkennt, der weniger eine „ganz allgemein gehaltene Forderung" (a.a.O., 47) als vielmehr die Begründung der Polemik als eigene philosophisch-theologische Disziplin enthält (vgl. unten III.3.a)), so bringt sie doch zutreffend Schleiermachers Auffassung von der besonderen Relevanz der Philosophischen Theologie zum Ausdruck. 3 Vgl. K D §§ 29. 68; ThEnz. 248,23-26: „Da kommen wir also zurück auf den dermaligen Zustand der philosophischen Theologie, und das ist der, daß sie noch gar nicht als eine Disciplin anerkannt ist" (Hervorhebung i.O.). Dies ist zugleich der Grund für den besonderen programmatischen Charakter der Philosophischen Theologie; vgl. oben S. lf. 4 Daher kann Schleiermacher die Situation in lapidarer Weise kommentieren: „[...] man gebraucht keine Principien, weil man keine hat" (ThEnz. 30,8). 5 Vgl. K D § 29 Zs.; ThEnz. 30,9f. 6 Birkner: Beobachtungen, 125 7 Gräb: Humanität, 73
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
zialisierung theologischer Kenntnisse und Kunstregeln: Eine Arbeitsteilung innerhalb der Theologie ist deswegen notwendig, weil kein einzelner Theologe zur absoluten Vollständigkeit theologischer Bildung gelangen kann; diesen Sachverhalt sieht Schleiermacher sowohl in der potentiellen Unendlichkeit des Gegenstandes als auch in der Individualität des subjektiven Talentes begründet. 8 Eine solche Spezialisierung muß aber ihrerseits eingeschränkt bleiben, weil sich anderenfalls der einheitliche Theologiebegriff auflösen würde. 9 Aus der Berücksichtigung dieser beiden Forderungen ergibt sich also die Notwendigkeit einer Unterscheidung von „Virtuosität und Gemeinbesiz" 10 : In der Theologie als ganzer muß unterschieden werden zwischen einer notwendigen Allgemeinbildung, die „jedem Theologen [...] unerläßlich ist" (ThEnz. 17,36f), und einem nur den jeweiligen „Virtuosen" zumutbaren Expertenwissen. 11 Diese Thematik betrifft jedoch nicht nur die Theologie insgesamt, sondern ist auch auf ihre einzelnen Disziplinen zu übertragen. 12 Für die Philosophische Theologie kann nun aber aufgrund ihres prinzipiellen Charakters diese Unterscheidung nicht geltend gemacht werden 13 : Diese Disziplin muß vielmehr „jeder Theologe [...] ganz für sich selbst produzieren", weil auf sie sich seine gesamte „theologische[n] Denkungsart" gründet (KD § 67). Denn die Begriffe, die die Philosophische Theologie enthält, können nicht als Faktum „blos traditionell" 14 , d.h. ohne eigene begründbare Überzeugung, angenommen werden. Vielmehr müssen sie von jedem theologischen Subjekt selbst konstruiert werden. Diese Unübertragbar8 Vgl. KD § 14 sowie die prinzipielle Begründung einer „ Theilung der Arbeiten" auf dem Gebiet der Wissenschaft: Ethik 1812/13, E 304f (§ 173; Hervorhebung i.O.); vgl. auch Bemerkungen zur Ethik 1832, E 647,1-3 (Zur Randbemerkung bei § 173). 9 Vgl. KD § 15. „Jeder Einzelne würde sich um nichts andres als um sein eignes Gebiet bekümmern, es fände dann kein Zusammenwirken, keine Kirchenleitung, und somit keine theologische Wissenschaft mehr statt" (ThEnz. 16,21-24). 10 ThEnz. 90,40f; ähnliche Formulierungen etwa KD §§ 92. 99. 122. 143f. 218. 335. 11 Diese Unterscheidung vollziehen KD §§ 18f, indem sie was jedem Theologen „Unerläßlich" ist, der Intention des Spezialisten gegenüberstellen, sich „eine einzelne Disziplin in ihrer Vollständigkeit an[zu]eigen". Den Umfang des „theologischen Gemeinbesitzes" beschreibt dabei die Theologische Enzyklopädie selbst (§ 18), während die Aufgabe der Virtuosität als „Reinigung und Ergänzung" (§ 19) der jeweiligen Einzeldisziplin gefaßt wird. 12 Vgl. KD § 67 (Philosophische Theologie); §§ 89. 122-124. 130f. 139. 143f (Exegetische Theologie); §§ 92.184-192 (Kirchengeschichte); §§ 99-101.218-222 (Dogmatik); §§ 99-101. 242-246 (Statistik); § 335 (Praktische Theologie). 13 Vgl. KD § 67 Zs.; ThEnz. 71,30-72,5. 14 ThEnz. 71,40, vgl. dazu ThEnz. 101,30f: „Traditionell aufnehmen kann man nur das Factum, nicht die Lehre im Zusammenhang."
III. Das Programm der Philosophischen Theologie
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keit ist darin begründet, daß in der Philosophischen Theologie nicht (geschichtliche) Sachverhalte selbst, sondern Beurteilungskriterien für geschichtliche Sachverhalte gewußt werden sollen. Daher kann hier kein Einzelwissen ausgesondert werden, das man sich von den Virtuosen „geben lassen" (KD § 89) könnte, denn die Unterscheidung von Virtuosität und Gemeinbesitz setzt ebendiese Möglichkeit der Übernahme von Gegenstandswissen voraus. Damit ist jedoch nicht gefordert, daß alle einzelnen philosophisch-theologischen Entwürfe zu inhaltlich verschiedenen Ergebnissen kommen müßten, sondern daß die (im besten Fall: übereinstimmenden) Inhalte von jedem Theologen selbst begründet und „als klare und feste Überzeugung" (KD § 67 Zs.) entwickelt werden sollen. 15 Es gibt also in der Philosophischen Theologie kein Spezialwissen, von dem die theologische Allgemeinbildung entlastet werden könnte 16 ; vielmehr wird hier „dieser Unterschied = 0 gesezt, weil die Principien nur selbständig angeeignet werden können". 17 Im folgenden soll nun Schleiermachers Verständnis dieser Fundamentaldisziplin im einzelnen entfaltet werden. Die der Interpretation dabei in erster Linie zugrundeliegende Textbasis setzt sich zusammen aus den der Philosophischen Theologie gewidmeten Paragraphen KD §§ 21-24 sowie der „Einleitung" zum „Ersten Teil" der „Kurzen Darl i Vgl. ThEnz. 72,13-19. 16 Die einzige Ausnahme von dieser Annullierung des Unterschieds zwischen Virtuosität und Gemeinbesitz besteht hinsichtlich der „Leistungen" der Philosophischen Theologie, ihrer „Anwendungen auf die Gegenwart": Weil diese schon „auf der Grenze [...] der eigentlichen Wissenschaft" liegen (ThEnz. 72,10f)> sind sie nicht mehr schlechthin zu forderndes „GemeinGut" (9f), da die Anwendung der wissenschaftlichen Prinzipien stets individuelle Züge trägt und von individuellen Fähigkeiten und Talenten abhängt; vgl. zum Begriff der „Leistungen" unten S. 119ff. 17 ThEnz. 91,2f. Auffälligerweise lehnt Schleiermacher auch für die Praktische Theologie diese Unterscheidung ab (§ 335): sie beruht in dieser technischen Disziplin „nur auf zufälligen oder fast persönlichen Beschränkungen" (§ 335 Zs.). Ein inhaltlich bestimmtes, f ü r alle verbindliches Bildungsminimum kann also deswegen nicht angegeben werden, weil es individuell und talentabhängig ist: Was jeder in der Kirchenleitung Tätige an theologischen Kunstregeln beherrschen muß, kann nicht allgemein festgelegt werden, denn es gibt keine „verschiedene[n] trennbare Gebiete", sondern nur individuell unterschiedliche „Grade erreichbarer Vollkommenheit" (§ 335 Zs.). Die Ablehnung einer Trennung von Virtuosität und Gemeinbesitz wird hier also auf andere Weise begründet als in der Philosophischen Theologie: Durfte d o n der Unterschied nicht gemacht werden, weil „nämlich hier alles grundsätzlich ist" (§ 67 Zs.), so kann er hier wegen der Individualität der Aneignung von Kunstregeln nicht formuliert werden. Wenn also für die Philosophische Theologie gilt: alle müssen Spezialisten sein, so ließe sich analog für die Praktische Theologie formulieren: alle dürfen Dilettanten sein.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
Stellung"18 samt den dazugehörigen Erläuterungen aus der Vorlesungsnachschrift D. F. Strauß (ThEnz. 20-24; 33-48). Aus der Struktur dieser Texte ergibt sich auch die Gliederung der folgenden Darstellung: Bestimmen die Paragraphen KD §§ 21-24 im Rahmen einer Ableitung der Philosophischen Theologie als eigenständige Disziplin in allgemeiner Weise deren „Inhalt" und „Benennung" (ThEnz. 23,36), so gliedert sich die Grundlegung der Philosophischen Theologie (KD §§ 32-42) in zwei Argumentationszusammenhänge, die Schleiermacher unter die Stichworte „wissenschaftliche[r] Gehalt" und „Form" stellt.19 Daher ist zunächst und allgemein die Thematik der Philosophischen Theologie darzustellen (III.l), bevor als Bestimmung des „wissenschaftlichen Gehalt[s]" ihre Aufgabe und Methode untersucht werden kann (III.2). Ihre „Form" erhält die Philosophische Theologie dagegen durch die Ableitung der beiden Subdisziplinen Apologetik und Polemik (III.3). Daran anschließend ist die Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Philosophischer Theologie zu berücksichtigen (III.4), bevor schließlich die Außenbeziehungen dieser Disziplin näher betrachtet werden können, indem das Verhältnis der drei theologischen Disziplinen zueinander zur Darstellung kommt (III.5).
1. Der „Inhalt" der Philosophischen Theologie Die Ableitung der Philosophischen Theologie hatte ergeben, daß sie ihre Begründung als eigenständige Disziplin der Funktion verdankt, die Historische Theologie begrifflich zu fundieren und mit Kategorien für ein geschichtliches Verständnis des Christentums zu versorgen. Dieses Thema der Philosophischen Theologie wird nun in den §§ 21-24 mit größtem Umfang abgesteckt und allgemein als „Wissen um das Christentum" (KD § 21) beschrieben 20 : Es intendiert eine 18 KD §S 32-42; vgl. KD 1 11-15 SS 1-19. 19 Vgl. KD §§ 37f und dazu ThEnz. 41,22-24: „§. 38 wird die Regel aufgestellt für die [...] Form der philosophischen Theologie. Bisher war von ihrem Gehalt die Rede" (Hervorhebung i.O.). 20 Die Allgemeinheit dieser Formulierung hat dazu geführt, daß die §S 21-23 gelegentlich als nicht unmittelbar zu § 24 gehörig und also nicht direkt die Philosophische Theologie betreffend verstanden und interpretiert worden sind: So hat H. Scholz in der seiner Edition der KD vorangestellten „Gliederung" (Scholz: Einleitung, XLIIIXLV) die §S 21-23 unter der allgemeinen Uberschrift „Theologie und Philosophie" zusammengefaßt und der folgenden „Gliederung der Theologie" in den SS 24-31 gegenübergestellt. Auch G. Ebbrecht hat in seiner Gliederung der „Einleitung" die
1. Der „Inhalt" der Philosophischen Theologie
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grundlegende Erfassung des Christentums und enthält daher eine Darstellung des Wesens des Christentums im Unterschied zu anderen Religionen unter Rückgang auf den Religionsbegriff selbst.21 Aus diesen Bestimmungen wird dann im folgenden die Philosophische Theologie ihrem „Inhalt" 22 nach deduziert 23 : Dieser besteht darin, das „Wesen des Christentums" und die „Form der christlichen Gemeinschaft" (KD § 24) sowie deren Verhältnis zueinander zur Darstellung zu bringen. Dabei wird die nähere Analyse der Wesensbestimmung ergeben, daß die Frage nach der „Form der christlichen Gemeinschaft", also nach dem Religionsbegriff, bereits einen Bestandteil der Wesensbestimmung bildet, nämlich deren begrifflich-spekulativen Aspekt. 24 Damit ist der Gegenstand der Philosophischen Theologie in allgemeiner und vorläufiger Form beschrieben. Diese Allgemeinheit und Vorläufigkeit der Themenbestimmung25 ist jedoch im Rahmen der „Einleitung" der Enzyklopädie eine angemessene Weise der Begründung und Ableitung einer theologischen Disziplin: Die Binnengliederung und innere Differenzierung der Disziplinen kann hier unberücksichtigt blei-
§§ 21-23 von den folgenden abgesetzt und lediglich die Scholz'sche Überschrift als „irreführend" bezeichnet (Ebbrecht: Theologie, 93). Seine eigene Benennung „philosophische Grundlagen der Theologie" übersieht jedoch, daß Schleiermachers anknüpfende Formulierung „von diesen Grundlagen aus" (§ 24) sich nicht auf die Theologie überhaupt, sondern auf die zu begründende Disziplin der Philosophischen Theologie bezieht, so daß sich hier gerade keine „Zäsur" (Ebbrecht a.a.O.), sondern ein Anschluß von § 23 nach § 24 ergibt (vgl. ThEnz. 23,36-38: „Nun wird also das §§. 22. und 23. angegebene als eine Wissenschaftliche Grundlage betrachtet"). Darüber hinaus beschreiben die §§ 21-23 inhaltlich nichts anderes als die Philosophische Theologie selbst (Wesen des Christentums, Religionsbegriff; Beziehung zu Ethik und Religionsphilosophie). Die §§ 21-24 bilden also eine thematische Einheit, die die Ableitung der Philosophischen Theologie aus dem erforderlichen „Wissen um das Christentum" beschreibt. 21 Vgl. K D § 21. 22 ThEnz. 23,36. Hier ist eine terminologische Akzentuierung wahrzunehmen, die im folgenden übernommen werden soll: Schleiermacher unterscheidet zwischen dem thematischen „Inhalt" der Philosophischen Theologie, der das „Wissen um das Christentum" als Wesensbestimmung expliziert, und den „Aufgaben" der Philosophischen Theologie ( K D § 37), die dann stets als Duplizität auftreten; vgl. unten III.2.b). 23 Vgl. ThEnz. 23,33. 24 Vgl. unten S. 86, Anm. 75. 25 Vgl. die summarische Formulierung K D 1 7 § 25: „das Wesentliche in der gesammten Erscheinung der christlichen Kirche zu verstehen, ist die Aufgabe des philosophischen Theiles der Theologie." K D 2 § 24 betont dagegen die Vorläufigkeit dieser Einteilung: „[...] und zugleich die Art, wie beides sich wieder teilt und differentiiert, [...]«.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
ben.26 Zugleich erlaubt es diese Formulierung, die „wissenschaftliche[n] Regionen" (ThEnz. 21,22) zu bestimmen, an welche diese Disziplin gewiesen ist: Ethik und Religionsphilosophie.27 Aus dieser wissenschaftssystematischen Zuordnung kann dann nämlich die „Benennung" (ThEnz. 24,24) dieser Disziplin einsichtig gemacht werden.28 Der zentrale Gesichtspunkt, unter dem in der „Einleitung" der Enzyklopädie das Thema der Philosophischen Theologie eingeführt wird, ist jedoch die Absicht, eine bloß „empirische[n] Auffassung" (KD §21) von Kirche und Christentum als ungenügend zu erweisen29: Diesem Argumentationsziel verdankt sich die Disposition der Paragraphen KD §§ 21-24. Damit ist aber bereits die Frage nach der dem Gegenstand der Philosophischen Theologie angemessenen Methode aufgeworfen.
2. Methode und Aufgabe der Philosophischen Theologie a) Das „kritische" Verfahren Den „wissenschaftlichen Gehalt" der Philosophischen Theologie hat Schleiermacher als „Kritik" (KD § 37) bestimmt. Damit ist zugleich die einschlägige wissenschaftliche Methode angegeben, mit der die Philosophische Theologie ihren Gegenstand, das „Wesen des Christentums" und die „Form der christlichen Gemeinschaft" (KD § 24), zu bearbeiten hat. Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß Schleiermacher den Ausdruck „Kritik" in mehrerlei Bedeutung verwendet.30 Es 26 KD § 20 bestimmt im Rückgang auf § 18 den Umfang der Schleiermacherschen Enzyklopädie so, daß sie erstens Legitimität (vgl. ThEnz. 18,2f), Zusammenhang und Zweckbezogenheit der einzelnen Disziplinen zu erweisen hat und zweitens diese Untersuchungen auf die Binnenstruktur jeder der abzuleitenden Disziplinen übertragen muß, so daß sie „zugleich die einzelnen Disziplinen auf dieselbe Weise behandelt, wie das Ganze" (KD § 20). Dieser zweite Themenkomplex kann jedoch naturgemäß innerhalb der allgemeinen „Einleitung" (KD §§ 21-31) noch nicht zur Sprache kommen, sondern findet seine Bearbeitung im materialen Teil der Enzyklopädie. Daher können die §§ 21-24 weder die Duplizität der Aufgabenstellung (vgl. unten III.2.b)) der Philosophischen Theologie noch etwa ihre Gliederung in Subdisziplinen (vgl. unten III.3) vorwegnehmen. 27 Vgl. dazu ausführlicher unten S. 80ff. 28 Vgl. dazu oben S. 67, Anm. 321. 29 Vgl. ThEnz. 20,17f: „§. 21 wird nun das eigentlich Wissenschaftliche charakterisirt im Gegensaz gegen die blos empirische Auffassung." Vgl. auch ThEnz. 20,23f.34-36; 21,2f.9-13. 30 Vgl. oben II.l.c).
2. Methode und Aufgabe der Philosophischen Theologie
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ist also vorab zu klären, welchem der drei Kritik-Begriffe die Philosophische Theologie zuzuordnen ist. Zunächst das „kritische Verfahren" der Begriffsbildung im zweiten Teil der Dialektik 31 kommt für die Philosophische Theologie deswegen nicht in Betracht, weil es sich mit der Begriffsbildung auf die Erkenntnisweise der Spekulation bezieht. 32 Die rein spekulative Konstruktion kann aber die geforderte geschichtliche Wesensbestimmung nicht leisten, weil der Begriff das geschichtlich Individuelle nicht erfassen kann: „Das Einzelne ist immer irrational gegen das Allgemeine und Besondere" (ThEnz. 34,24f). Diesen Sachverhalt erläutert Schleiermacher in der Enzyklopädie-Vorlesung am Beispiel der Staatslehre 33 , die zwar bestimmte Staatsformen wie Monarchie oder Demokratie aus dem Begriff des Staates konstruieren und ableiten kann, nicht aber den einzelnen Staat selbst: Er geht in diesen deduzierten Formen nicht auf, sondern bildet „nur eine Modification davon" (ThEnz. 34,39f). Denn jeder individuelle Staat ist durch geschichtliche Momente geprägt, die sich dem reinen Begriff gegenüber indifferent verhalten, aber dennoch zu seinem eigentümlichen Charakter gehören. 34 Daher hält Schleiermacher alle „sogenannten Constructionen a priori" wegen ihrer Unähnlichkeit mit „dem, was uns geschichtlich gegeben ist" 35 , auf diesem Gebiet für gescheitert. 36 Ebenso unzulänglich wäre sodann für die Thematik der Philosophischen Theologie die Methode der „historischen Kritik". Denn diese „Kunst", „aus Erzählungen und Nachrichten die Tatsachen auszumitteln" 37 , bewegt sich ja innerhalb der geschichtlich-empirischen Erkenntnis und kann daher das Wesen geschichtlicher Erscheinungen nicht identifizieren 38 : Sie bliebe eine Ansammlung empirischer Daten, die zwar die vielfältigen Formen einer geschichtlichen Erscheinung be31 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 47, DA 2 99 (DJ 276 dort § 231). 32 Vgl. Dial 1831 (Ms.), LXIX. Stunde, DJ 550 (§§ 11). LXXVI. Stunde, DJ 560 (§ 23). 33 Vgl. ThEnz. 34,35-35,6. 34 Vgl. ThEnz. 35,2f. 35 CG 1 § 6.2, KGA 1/7.1, 21,26-28; vgl. auch die ironisierende Formulierung CG 2 § 2.2, Bd. I, 12,21-24. 36 Nach H. Scholz ist diese „Absage" Schleiermachers „an die geschichtsphilosophische Deduktion des Christentums" (Scholz: Christentum, 21) gegen den „spekulativen Ideenflug seiner philosophierenden Zeitgenossen" (a.a.O., 17) gerichtet; vgl. etwa Marg. 69, KGA 1/7.3, 20, wo sich Schleiermacher explizit gegen Fichtes Herabsetzung der geschichtlichen Staaten als „Nothstaaten" verwahrt. 37 HuKF 354,36-39 38 Vgl. dazu im einzelnen oben S. 37f.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
schreiben und aufzählen kann, aber kein Kriterium besitzt, die Fülle der Einzeldaten zu bewerten, um so das „Wesentliche" vom „Zufälligen" 3 9 unterscheiden zu können. Auf diese Weise ließe sich allenfalls die „Totalität der äussern Erscheinung" (ThEnz. 34,32f) erfassen; eine solche Summe geschichtlicher Daten kann aber noch nicht als Wesensbegriff gelten. Dieser ergibt sich für eine geschichtliche Erscheinung vielmehr erst dadurch, daß „ihr Verhältnis zu andern" (ThEnz. 34,34) bestimmt werden kann. Und diese Verhältnisbestimmung setzt die Subsumtion der zu vergleichenden geschichtlichen Phänomene unter einen Allgemeinbegriff voraus: erst dann besteht die Möglichkeit, Gleichheit und Verschiedenheit zu bestimmen. Ohne diesen Vergleich kann dagegen das individuell Charakteristische nicht erfaßt werden. Die Methode der Philosophischen Theologie kann daher keine andere sein als die der „kritischen Disziplinen". Denn für die geschichtliche Wesensbestimmung müssen begriffliche Konstruktion und historische Kenntnis aufeinander bezogen werden: unabhängig voneinander können sie zu keinem Ergebnis kommen. 40 Eben diese Vermittlung von Spekulation und Empirie macht aber das Wesen der „kritischen Disziplinen" aus, denen somit die Philosophische Theologie als „geschichtskundlichefn] Kritik" ( K D § 37) zuzuordnen ist. Die für die Frage nach dem Wesen des Christentums zuständige „kritische" Disziplin ist nun die Religionsphilosophie: Diese Wissenschaft wird von Schleiermacher so bestimmt, daß sie aus dem ethischen Grundbegriff der Frömmigkeit ein Begriffsschema zu entwickeln und darunter die geschichtlichen Religionen zu subsumieren hat. 41 Damit bestimmt sie Identität und „individuelle Differenz" 4 2 der verschiedenen geschichtlichen Religionen, ihren Zusammenhang und ihre jeweilige Eigentümlichkeit. 43 Als „philosophische Disciplin" (ThEnz. 33,15), der „jede Religionsform gleich wichtig und werth ist" 4 4 , be39 C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,25-27; vgl. dazu Offermann: Einleitung, 144f. 40 Dieser auf die geschichtliche Erkenntnis bezogenen Uberzeugung entspricht in spekulativer Hinsicht das Verhältnis von Ethik und Geschichtskunde im Wissenschaftssystem: Sie sind einander ohne „stetigen Uebergang" gegenübergestellt (Ethik 1816/17, E 549 (§ 108 Zs.)); aber eben dadurch sind beide aufeinander angewiesen: Jede Wissenschaft bedarf der anderen, denn sonst sind beide gleichermaßen „unphilosophisch" (Ethik 1816/17, E 537 (§ 61 Zs.)). 41 Vgl. ThEnz. 33,14-23. Dabei ist sich Schleiermacher des „quasi privaten" Charakters dieser Definition (vgl. Birkner: Theologie und Philosophie, 34 Anm. 33) offenbar bewußt gewesen, vgl. Zweites Sendschreiben 516f, K G A 1/10, 374,6f. 42 Ethik 1812/13, E 365 (§ 231) 43 Vgl. K D § 23; C G 1 § 7.2, K G A 1/7.1, 24,3-11. 44 C G 1 § 2.2, K G A 1/7.1, 24,28f
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zieht sie sich dabei auf die gesamte Religionsgeschichte. 45 Ihr spekulatives Element, der Begriff der Frömmigkeit samt den aus ihm zu deduzierenden Differenzen, fällt hingegen in diejenige Wissenschaft, aus der die Religionsphilosophie „abgeleitet" 4 6 ist: die Ethik. Mit dieser Wissenschaft ist der Ort für den Nachweis benannt, daß der Begriff der Religion, auf den sich die zu klassifizierenden frommen Gemeinschaften sämtlich beziehen, als „nothwendiges Element in der Entwikkelung des Menschen" ( K D 1 7 § 23) expliziert werden kann. Dieser Nachweis ist deswegen unabdingbar, weil anderenfalls diese frommen Gemeinschaften als „Verirrungen" ( K D 2 § 22) anzusehen wären. Denn für die verschiedenen Formen menschlicher Gemeinschaft stellt Schleiermacher die Forderung auf, daß sie alle auf ein notwendiges Prinzip zurückführbar sein müssen: „Jede nicht nothwendige Verbindung ist eine Verirrung. Was nichts Nothwendiges ist im geistigen Leben, das ist ein Verschwindendes" (ThEnz. 22,6f). N u r diejenigen Gemeinschaften sind demnach als legitim ausgewiesen, die auf ein notwendiges Prinzip des menschlichen Geistes zurückgeführt werden können. 4 7 U n d dieser Legitimationserweis findet in der Ethik statt, deren Aufgabe gerade darin besteht, „alle Formen freier geistiger Thätigkeit im menschlichen Leben" nachzuweisen. 4 8 Denn als spekulative, aber geschichtliche Wissenschaft 4 9 stellt sie Kategorien vernünftiger Sittlichkeit auf, die sich im Geschichtsprozeß realisieren müssen. 5 0 Ohne daß hier ausführlicher Schleiermachers Verständnis dieser Grundwissenschaft betrachtet werden kann, ist für den vor45 Dagegen kann sich die Philosophische Theologie auf den Ausschnitt beschränken, der das Wesen des Christentums zum Thema hat. Zu den näheren Problemen des Verhältnisses von Philosophischer Theologie und Religionsphilosophie vgl. unten IV.l. 46 ThEnz. 29,13; vgl. auch Dial 1831 (Ms.), LIV. Stunde, DJ 533,9f sowie ThEnz. 35,21-23; 50,11-15. 47 Auch aus diesem Grund ist also ein nur auf das Empirisch-geschichtliche gerichteter Versuch der Wesensbestimmung unzulänglich. Denn ohne ethisch-spekulative Verankerung kann die Legitimität des jeweiligen geschichtlichen Ganzen nicht erwiesen werden. 48 ThEnz. 33,8f; damit hat sie einerseits die Aufgabe, bestehende geschichtliche Erscheinungen durch Rückführung auf ein notwendiges Element begrifflich zu legitimieren. Aber auch in umgekehrter Richtung hat sie nachzuweisen, daß „jedes wesentliche Element der menschlichen Natur auch Basis einer Gemeinschaft werde" ( C G 2 § 6.2, Bd. I, 42,16f). 49 Vgl. Ethik 1816/17, E 537 (§ 62). 50 Sie enthält „die Vernunftanfänge, in denen eben so die Vernunfterscheinungen, deren ganzer Verlauf die Geschichte im weitesten Umfange bildet, gegründet sind" (Ethik 1816/17, E 536 (§ 60 Zs.)).
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
liegenden Zusammenhang lediglich die Beziehung der Ethik zur Geschichte von Interesse: Inwiefern kann die Ethik als „Wissenschaft der Geschichte" 51 , genauer: „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien" 52 , bezeichnet werden? Ergibt sich bereits aus der Deduktion der beiden auf die „Vernunft" bezogenen Wissenschaften „Sittenlehre" und „Geschichtskunde", daß sie einander im Wissenschaftssystem gegenüberstehen 53 , so stellt sich ihr Verhältnis des näheren als das einer gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung dar: Sie sind „durch einander bedingt und meßbar" 54 . Dabei besteht die Abhängigkeit der Ethik von der Geschichtskunde in formaler und inhaltlicher Hinsicht 55 ; letztere dient der ersteren somit als ihre „Gewährleistung" 56 . Zwischen beiden Wissenschaften ist also eine „fortwährende Gleichmäßigkeit" 57 zu konstatieren, denn das Fortschreiten beider setzt die „lebendige[n] Wechselwirkung" 58 zwischen beiden voraus. In Schleiermachers eigenen Entwürfen zur Ethik fällt die Entfaltung der geschichtlichen Grundbegriffe bekanntlich in die Güterlehre 59 . Hier werden unter einem Viererschema, das sich aus der Kreuzung der Gegensatzpaare SymbolOrgan und individuell-identisch ergibt, „invariante Strukturen" entworfen, die dem „Aufbau der geschichtlichen Welt" 60 zugrundeliegen. Die Ethik besitzt also insofern ein „geschichtsphilosophische[s] Potential" 61 , als sie unter dem Begriff des „höchsten Gutes" diejenigen Formen menschlicher Gemeinschaft begründet, die sich im geschichtlichen Verlauf allererst zu realisieren haben. Damit wird umgekehrt 51 H u K F 77,27f (Ns.); Brouillon zur Ethik 1805/06,1. Stunde, E 80; vgl. Ethik 1812/13, E 251 (§ 50) 52 KD 2 § 35, KD 1 12 § 6; vgl. KD 2 § 29, KD 1 9 § 37. 53 Vgl. Ethik 1816/17, E 536 (§ 60). 54 Ethik 1816/17, E 538 (§ 65). Denn sonst wäre entweder der geschichtliche Gehalt „kein wissenschaftliches Ganze", also nicht begrifflich ausgewiesen, oder die Wissenschaft würde „ihren Gegenstand" verfehlen, also an der Geschichte vorbei konstruieren (§ 65 Zs.). 55 Vgl. Ethik 1816/17, E 539 (§§ 70f). 56 A.a.O., (§ 71 Zs.) 57 A.a.O., (§ 72) 58 Ethik 1816/17, E 540 (§ 74) 59 Es finden sich zwar gelegentliche Bemerkungen, die eine besondere Affinität der Pflichtenlehre zur Geschichte postulieren (vgl. etwa Ethik 1816/17, E 554f (§ 119)); sie werden jedoch in Schleiermachers eigenen Ausführungen der Pflichtenlehre nicht aufgenommen. 60 Gräb: Humanität, 56 61 Scholtz: Philosophie, 76
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für einzelne geschichtliche Phänomene deren begrifflich-ethische Legitimität nachgewiesen: Zu einem geschichtlichen Resultat stellt die Ethik „die Principien [...] auf, und nun weiß jeder daß es nicht ein zufälliges ist. In diesem Sinn ist die Ethik die Wissenschaft der Geschichtsprincipien" (ThEnz. 39,29-31). Die Erörterung der für die geschichtliche Wesensbestimmung einschlägigen Methode hat somit zugleich für eine wissenschaftssystematische Einordnung der Philosophischen Theologie folgendes Resultat ergeben: Ihre Thematik, die Bestimmung des Wesens des Christentums, weist sie als „kritische" Disziplin aus; die „wissenschaftliche[n] Regionen" (ThEnz. 21,22) einer solchen Wesensbestimmung sind Ethik und Religionsphilosophie. Nach dieser wissenschaftssystematischen Ortsbestimmung kann sich die Untersuchung nunmehr dem „kritischen" Verfahren selbst zuwenden. α) Die Struktur des „kritischen" Verfahrens In ganz allgemeiner Weise beschreibt Schleiermacher die von ihm „kritisch" genannte Operation als „Gegeneinanderhalten" von Spekulation und Empirie (ThEnz. 33,30f; 35,20); aus dieser grundlegenden Eigenschaft des Vergleichens zweier Erkenntnisarten läßt sich auch ihr Name ableiten: „In dem Ausdruck kritisch liegt das Vergleichen und Sondern, das durch die Vergleichung Bestimmen." 62 Dieser Vergleich wird näherhin als Subsumtionsvorgang bestimmt: Die in der Ethik als notwendig begründeten Prinzipien der geschichtlichen Entwicklung sind ihrer jeweiligen Struktur nach so zu differenzieren, daß die „Orter" bestimmt werden können, in die die einzelnen Phänomene, „sobald sie geschichtlich aufgefunden sind, eingestellt werden können." 63 Für diesen Subsumtionsakt gelten nun zwei Voraussetzungen: Erstens ist ein Begriffsschema erforderlich, das aus dem jeweiligen ethischen Prinzip zu entfalten ist.64 Damit ist ein „»Struk62 ThEnz. 35,24-26. Auch Τ. H. j0rgensen (Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, BHTh 53, Tübingen 1977, 204) weist bereits darauf hin, daß „Schleiermacher den Begriff »kritisch« in der ursprünglichen Wortbedeutung verwendet, in der Bedeutung von »sondernd«." Daher kann Schleiermacher auch vom „vergleichenden Verfahren" sprechen (CG 1 § 6.3, KG A 1/7.1, 21,32). 63 CG 2 § 2.2, Bd. I, 13,2f. Solche Rubrizierung empirisch aufgefundener Phänomene unter den spekulativen Begriff hat Schleiermacher bisweilen auch im Gebiet der Naturkunde bzw. Physik vorgenommen, vgl. Gedanken V, 177, KGA 1/3, 327,4-6. 64 Eine solche Ableitung begrifflicher Differenzen aus einem Gegebenen hat dabei als „sondernde Sezung" (Dial 1831 (Ms.), LXXI. Stunde, DJ 552 (§ 15)) nach den Regeln
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
turgitter«" 65 gewonnen, zu dem die verschiedenen geschichtlichen Erscheinungen in Beziehung zu setzen sind: Findet sich eine Entsprechung zwischen einzelnen Punkten des begrifflichen Koordinatensystems und bestimmten geschichtlichen Phänomenen, dann ist dies eine „Subsumtion des Geschichtlichen unter das Allgemeine" 66 . Zugleich wird dadurch ermöglicht, das Geschichtlich-individuelle in den spekulativ entfalteten Begriff „aufzulösen und aus diesem also philosophisch zu begreifen" 67 . Für diesen Subsumtionsvorgang müssen aber andererseits diejenigen geschichtlichen Erscheinungen, die in das Begriffsraster eingestellt werden sollen, identifizierbar und als einheitlich ausgewiesen sein.68 Denn ohne eine Vorstellung von dem allen geschichtlichen Einzelzuständen einer jeweiligen geschichtlichen Gesamterscheinung Gemeinsamen, welches die - dieses geschichtliche Ganze von anderen ähnlichen unterscheidende - Identität der Gesamterscheinung ausmacht, kann aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit der Geschichte überhaupt nichts Einzelnes ausgewählt und subsumiert werden. Für den Subsumtionsvorgang, der die Wesensbestimmung zum Ziel hat, wird also ein Wesensbegriff, der die geschichtlichen Einzelheiten zusammenfaßt und annäherungsweise repräsentiert, bereits vorausgesetzt. 69 Dieses Problem der Zirkularität versucht Schleiermacher dadurch zu lösen, daß er zum einen den vorausgesetzten Wesensbegriff
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zu geschehen, die Schleiermacher für den „Deductionsprozeß" der Begriffsbildung im zweiten Teil der Dialektik aufgestellt hat; vgl. Dial 1811 (Ms.), 43.-45. Stunde, DAi 51-55 (DJ 351-355); Dial 1814/15, T1.2 §§ 49-74 D A 2 99-110 (DJ 232-260 dort S§ 278-303); Dial 1818 (Ns.), D J 232-260; Dial 1822 (Ns.), 69.-74. Stunde, D O 383-408; Dial 1831 (Ms.), L X X . - L X X V I . Stunde, D J 551-560 (SS 14-23). Stalder: Grundlinien, 71 ThEnz. 24,14f; vgl. zur Bedeutung von „Subsumtion" auch ThEnz. 23,1-3; 24,3f; 68,26-29; sowie ohne explizite Nennung des Ausdrucks C G 1 S 6.3, K G A 1/7.1, 21,30-37. Ethik 1816/17, E 549f (S 109); vgl. dazu Jergensen: Offenbarungsverständnis, 208, der den Ausdruck „auflösen" ebenfalls als „Einstellung" und „Ortung" deutet. Es stellt sich nämlich die Frage, „ob die Erscheinung festgehalten werden kann in ihrem Unterschiede von andern, um sie als einen festen Gegenstand an das wissenschaftliche Element zu halten" (ThEnz. 35,27-30). Diesen Sachverhalt hat M. Junker zutreffend als „hermeneutischen Zirkel" beschrieben (M. J u n k e r Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre, Sehl A 8, Berlin/New York 1990, 111). Aufgelöst wird dieser Zirkel bei Schleiermacher jedoch nicht durch einen vermeintlichen Rekurs auf das „geschichtliche[n] Zeugnis der christlichen Kirche" (a.a.O., 112), sondern durch die Unabgeschlossenheit des vorausgesetzten Wesensbegriffs.
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als so offen und unkonturiert bestimmt, daß er allgemeine Zustimmung und Evidenz beanspruchen kann: Was hier vorausgesetzt wird, ist ein „Kern in der Mitte, von dem jeder zugeben muß, daß er das Wesentliche [...] sey" 70 . Zum anderen wird die in diesem vorläufigen Wesensbegriff liegende Voraussetzung dadurch relativiert, daß seine Präzisierung und Verifizierung in den Prozeß der Wesensbestimmung mit einbezogen wird: Er ist in wiederholter Kontrolle mit den einzelnen geschichtlichen Zuständen, die er zusammenzufassen und zu repräsentieren vorgibt, zu vergleichen, „bis man durch die von dem Festen aus unternommene kritische Operation auch allmählich ein Urtheil darüber bekommt." 71 Der Gesamtvollzug der Wesensbestimmung umfaßt also zwei Vorgänge, die aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind: Die Subsumtion eines vorläufigen Wesensbegriffs unter ein spekulatives Begriffsraster. Und die Kontrolle dieses vorläufigen Wesensbegriffs durch den Vergleich mit geschichtlichen Einzeldaten. In einem weiteren Untersuchungsschritt sollen nun beide Vorgänge einzeln analysiert werden. 72 Dabei kann hier die Struktur des „kritischen" Verfahrens am Beispiel der Wesensbestimmung des Christentums veranschaulicht werden. ß) Die beiden Vollzugsformen des „kritischen" Verfahrens Soll das Wesen des Christentums im „kritischen" Vergleich bestimmt werden 73 , so bildet dafür der Religionsbegriff die spekulative Vor-
70 ThEnz. 36,2-4 (Hervorhebung M.R.); vgl. auch Ns. Heegewaldt zur Dogmatikvorlesung WS 1823/24 (zit. n. K G A 1/7.3,20, Sachapparat zu Marg. 71), die drei Strukturelemente des „vergleichenden Verfahrens" ermittelt: „Hypothesis, Partition und Subsumtion" und dabei die Voraussetzung der „Hypothesis" genauer als „das Anerkannte" bestimmt. 71 ThEnz. 36,4-6; vgl. dazu auch Offermann: Einleitung, 151, die das Wesentliche des kritischen Verfahrens darin erblickt, „daß es, entsprechend dem Zielcharakter des Verstehensvorganges, fortgesetzt angewendet wird." 72 Die Zerteilung des Subsumtionsprozesses in aufeinander folgende Einzelschritte abstrahiert dabei von ihren wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen: Sie setzen sich gegenseitig voraus und können „nur zum Behuf der Betrachtung isolirt werden, wobei man aber wissen muß, daß man sich im Gebiet der Abstraction befindet." (Ethik 1814/15(16), E 428 (§ 15 Zs.)) 73 Der folgende Darstellungsgang ist naturgemäß auf das Programm des „kritischen" Verfahrens beschränkt und enthält nicht die materiale Wesensbestimmung selbst. Vielmehr handelt es sich um eine Rekonstruktion dessen, was Schleiermacher programmatisch entworfen, aber selber nirgends zur Gänze ausgeführt hat.
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aussetzung 74 : Die Frömmigkeit ist in der Ethik als notwendiges Geschichtsprinzip nachzuweisen.75 Aus den im Begriff der Frömmigkeit liegenden Differenzen ist sodann ein spekulatives Schema von Gegensätzen zu deduzieren, und diese Ableitung geschieht - gemäß den Richtlinien für das begriffsbildende Verfahren - durch „Sezen eines Theilungsgrundes" 76 , der damit aus der vorausgesetzten Einheit eine Vielheit hervorbringt. 77 Diesen Vorgang hat Schleiermacher auf exemplarische Weise in der Enzyklopädievorlesung zusammengefaßt skizziert 78 : Aus dem Wesen der Frömmigkeit, als der „Beziehung unsres Seyns auf das höchste Wesen" (ThEnz. 24,6) lassen sich unter dem „Theilungsgrund" (ThEnz. 22,28) von Einheit und Mannigfaltigkeit die monotheistische und die polytheistische Form der Religion ableiten. Darüber hinaus finden sich Ansätze zu einer Entfaltung des im Wesen der Frömmigkeit liegenden Begriffsgefüges im Ethik-Entwurf von 1812/13, wo die „vier verschiedenen Beziehungen des Erkennens", 74 Mit „spekulativ" ist in Schleiermachers Ethik allerdings nie eine rein-begriffliche Ableitung gemeint, sondern das „Uebergewicht" des Allgemeinen im Verhältnis zum Besonderen (Ethik 1816/17, E 530 (§ 41 Zs.)). Denn der Teilungsgründe aufsuchende Deduktionsprozeß ist seinerseits nur ein Aspekt des begriffsbildenden Verfahrens, das sich aus Induktions- und Deduktionsprozeß zusammensetzt (vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 7 DA 2 88f (DJ 201 f dort § 256)): der relativ vollständige Begriff ergibt sich erst aus dem Beieinander von »Formel" und »Schema" (vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 56 DA 2 101 (DJ 241 dort § 285)). Bereits die Entfaltung der begrifflichen Gegensätze ist also auf die empirisch-„schematische" Ergänzung angewiesen, weil der Begriff selbst nach Schleiermachers Auffassung schon durch das Beieinander von intellektueller und organischer Funktion gekennzeichnet ist: »Kein allgemeiner Begriff ist in uns lebendig ohne einen sinnlichen Bestandtheil" (Dial 1814/15, T1.2 § 31.1 DA2 90 (DJ 209 dort § 260.1)); vgl. dazu auch Tl.l §§ llOff DA 2 20ff (DJ 58ff). Die Entwicklung des »Strukturgitters" kann also nicht rein apriorisch vollzogen werden, sondern immer nur im Zusammensein von »Formel" und »Schema", von Induktionsund Deduktionsprozeß. Zur Geschichtsbezogenheit der ethischen Begriffe vgl. auch H. Mulert: Schleiermacher-Studien I. Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie, SGNP 3, Gießen 1907, 79f. 75 Damit wird zugleich die bei der Beschreibung des „Inhalts" der Philosophischen Theologie (vgl. oben III.l) geforderte Bestimmung der »Form der christlichen Gemeinschaft" eingelöst: Wenn es zur Aufgabe der Philosophischen Theologie gehört, das „Wesen einer auf die Frömmigkeit sich beziehenden Gemeinschaft" (ThEnz. 21,13f) zu bestimmen, so geschieht dies durch Rückgang auf den Religionsbegriff. Die dort bestimmte Thematik ist also im vorliegenden Zusammenhang bereits enthalten. 76 Dial 1814/15, T1.2 § 49 DA 2 99 (DJ 232 don § 278) 77 Vgl. ThEnz. 22,26-30: „Aus dem Begriff der frommen Gemeinschaft muß sich auch die Möglichkeit der Differenzen ergeben. D. h. es muß in diesem Begriff selbst ein Theilungsgrund vorhanden seyn. Die Entwicklung eines Begriffs muß auf eine Mehrheit von Merkmalen zurückgehen, die in diesem Begriff vereinigt sind." 78 Vgl. ThEnz. 24, 5-13.
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also der Gegensatz des „mathematischen und transcendentalen" einerseits, das „Physische" im Gegenüber zum „Ethischen" andererseits, als Einteilungskriterium fungieren. 79 Der nächste Schritt der Wesensbestimmung besteht dann darin, daß die geschichtlichen Religionen unter dieses Begriffsraster subsumiert werden. Auf diese Weise wird etwa dem Christentum sein spekulativer Ort so zugewiesen, daß es „unter die monotheistischen Religionen" (ThEnz. 24,14) gehört. In ausführlicherer Form hat Schleiermacher die beiden Aspekte des Subsumtionsvorgangs in seiner eigenen religionsphilosophischen Skizze innerhalb der Dogmatik-Einleitung 80 verdeutlicht: Die beiden Abschnitte des § 9 der Einleitung zur Glaubenslehre (2. Auflage) führen sein Verständnis der „kritischen" Wesensbestimmung „gleichsam im Modellfall" 81 vor. Daher kann ein Vorgriff auf Schleiermachers eigenes Vorgehen in der Einleitung zur Glaubenslehre seine programmatischen Aufstellungen zur Struktur des Subsumtionsvorgangs veranschaulichen: Wird in § 9.1 als „Teilungsgrund"82 für das Gebiet der monotheistischen Religion der Gegensatz von „teleologischer" und „ästhetischer" Frömmigkeit aus dem Religionsbegriff abgeleitet, so findet im zweiten Abschnitt die Subsumtion der geschichtlichen Monotheismen Christentum, Judentum und Islam unter diesen Gegensatz statt.83 Für diesen Akt werden aber jeweils typische Wesensmerkmale der drei zu subsumierenden Religionen bereits in Anspruch genommen 84 : das sich in der „Idee von einem Reiche Gottes" äußernde Charakteristikum der überwiegenden Selbsttätigkeit im Christentum, die „vorherrschende Form des Gottesbewußtseins" als „die des gebietenden Willens" im Judentum sowie die „Gestaltung der Frömmigkeit in 79 Ethik 1812/13, E 360 (§ 203); vgl. dazu Süskind: Christentum, 57f, Anm. 1, der allerdings die Deutung dieser Stelle seinem eigenen Interpretationsziel (vgl. unten S. 88ff, Anm. 89) unterordnet. 80 Vgl. die in der zweiten Auflage explizit als „Lehnsätze aus der Religionsphilosophie" überschriebenen §§ 7-11. Z u m näheren Verhältnis zwischen der „Einleitung" in die Glaubenslehre und Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie vgl. unten IV. 1. 81 Offermann: Einleitung, 203; vgl. zur Einzelexegese des Paragraphen insgesamt a.a.O., 203-215. 82 C G 2 § 9.1, Bd. I, 59,20 83 Als Ergebnis dieser Ortsbestimmung ergibt sich für Schleiermacher bekanntlich, daß Christentum und Judentum - in unterschiedlicher Vollkommenheit - die „teleologische" Variante der Frömmigkeit vertreten, während der Islam den „ästhetischen Typus ausdrückt" (CG 2 § 9.2, Bd. I, 64,4-7). 84 Anderenfalls könnten ja Entsprechungen zwischen dem begrifflichen Koordinatensystem und den nur diffusen geschichtlichen Phänomenen in keiner Weise festgestellt werden.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
dem Bewußtsein unabänderlicher göttlicher Schickungen" im Islam. 85 Diese vorläufigen Begriffe des jeweiligen Wesens der drei Religionen sind allerdings noch nicht an der geschichtlichen Betrachtung im einzelnen ausgewiesen. Sie sind aber so allgemein gehalten, daß sie nach Schleiermachers Ansicht Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können 86 - und bilden somit den „Kern in der Mitte, von dem jeder zugeben muß daß er das Wesentliche [...] sey" 8 7 . Auch hier zeigt sich also, daß Schleiermacher die zirkuläre Struktur des Subsumtionsaktes dadurch auflöst, daß der zunächst in Anspruch genommene Wesensbegriff noch vage und allgemein bleibt, und auf diese Weise die Zirkularität in die Wesensbestimmung selbst integriert. Durch den Vollzug der Subsumtion wird damit dem Christentum zum einen ein Ort im begrifflichen System zugewiesen; zum anderen ist seine geschichtliche Eigentümlichkeit - auf vorläufige Weise - in eine Formel gefaßt. Damit kann nun zweierlei bestimmt werden: Erstens das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen als graduelle Modifikationen des einheitlichen Religionsbegriffs. Und zweitens das individuelle Wesen des Christentums in seinen eigentümlichen Grenzen. Damit entspricht der Subsumtionsakt den das „Wesen der Kritik" 8 8 definierenden Bestimmungen der Ethik-Einleitung von 1812/13: Denn bleibt diese Untersuchung nicht auf das Christentum beschränkt, sondern wird auf die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Religionen ausgeweitet, dann läßt sich „beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowohl dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten." 89 85 C G 2 § 9.2, Bd. I, 63,3.28f.32f 86 Vgl. etwa C G 2 § 9.2, Bd. I, 62,37f: „[...] wird wohl nicht leicht jemand leugnen." 87 ThEnz. 36,2-4. Entsprechend gibt Schleiermacher zu der in C G 2 § 11 aufgestellten Wesensformel die Erläuterung, zunächst - mit einem „blasseren Eigentümlichkeitsmerkmal" (E. Witzsche: Die Theologie in Schleiermachers System der Wissenschaften, Phil. Diss. (Masch.), Köln 1953, 63) - ein vorläufiges Resultat erzielt zu haben, „und die Vervollständigung desselben von dem weiteren Verfahren zu erwarten" (CG 2 S 11.1, Bd. I, 76,19-21; vgl. § 10.3, Bd. 1,68,10-12). In dieselbe Richtung weist bereits die Anmerkung zu der methodischen Erwägung in CG 1 § 24.1: „Meine ganze Dogmatik will nichts anderes sein als eine Bewährung der in § 18 gegebnen Erklärung." (Marg. 432, KGA 1/7.3, 81) 88 Ethik 1812/13, E 252 (§ 57f) 89 Ethik 1812/13, E 252 (§ 57). Diese Formulierung der Aufgabe der „kritischen" Disziplinen hat in H. Süskinds Schleiermacher-Interpretation (vgl. Süskind: Christentum) eine andere Auslegung gefunden: Nach Süskind weist Schleiermacher in diesem Paragraphen der geschichtsphilosophischen Kritik die doppelte Aufgabe zu, das „eigentümliche Wesen" und den „besonderen Wert oder Rang" der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen festzustellen (a.a.O., 61). Der zweite Aspekt wird dabei
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genauer als „Abstufung der Erscheinungen nach ihrem Geltungswert" (a.a.O., 71), also als normierendes und wertendes Verfahren bestimmt. Mit dieser Deutung ist Schleiermachers eigene Intention jedoch nicht getroffen, denn eine hierarchisierende Rangordnung der Religionen, die in der Wahrheit des Christentums gipfelt, findet sich bei Schleiermacher nirgends, wie Süskind selbst ausführlich für die Ansätze zur Religionsphilosophie der Ethik (a.a.O., 56-59.92) wie auch die religionsphilosophische Skizze der Einleitung zur Glaubenslehre nachweist (hier wird besonders die fehlende Uberordnung der teleologischen über die ästhetischen Religionen eingeklagt: vgl. etwa a.a.O., 84.105.114.128). Seine Deutung der Aufgabe der „Kritik" verdankt sich vielmehr dem seiner Interpretation insgesamt zugrundeliegenden Bedürfnis, die „Religionen nach ihrem verschiedenen Geltungswert gegeneinander abzustufen" (a.a.O., 82). Und dieses Bedürfnis ist wiederum gegründet in der Uberzeugung von der Notwendigkeit, für eine geschichtliche Religion den Beweis ihrer Wahrheit zu führen (vgl. dazu auch Offermann: Einleitung, lOf). Denn Süskind unterscheidet für das „religiösefn] Erleben" zwischen „unmittelbarer Gewißheit" und „wissenschaftlich begründeter" oder „reflektierter Gewißheit" (a.a.O., 82) und erklärt das Angewiesensein der ersteren auf die letztere daraus, daß einerseits die „Entwicklung des wissenschaftlichen Bewußtseins" zur Auseinandersetzung mit der „Weltansicht der Wissenschaft" nötige, und andererseits sich aus dem „Nebeneinanderbestehen mehrerer konkurrierender Religionen" die Notwendigkeit eines abstufenden Religionsvergleichs ergebe, um die „Ansprüche auf ihre Berechtigung zu prüfen" (a.a.O., 82). Aufgrund dieser Voraussetzung kann Süskind dann die auf C.A. Bernoulli zurückgehende Unterscheidung von „kirchlicher" und „wissenschaftlicher" Methode als Leitlinie seiner Interpretation übernehmen (vgl. a.a.O., 34f): Ob die Wahrheit des Christentums jeweils vorausgesetzt werden kann oder bewiesen werden muß, stellt für ihn die oberste Fragehinsicht dar, den „Gesichtsiunkt, der für alles Folgende entscheidend ist" (a.a.O., 34). Dieses Interpretationsan-
Íiegen hat Süskind von E. Troeltsch übernommen (vgl. E. Troeltsch: Rezension von
E. Huben Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901, in: GGA 166 (1904), 159-163, 162), auf dessen „Anregungen" (Süskind: Christentum, V) seine Untersuchung zurückgeht. Die Übertragung dieser Betrachtungsweise auf die Schleiermachersche Fassung der Philosophischen Theologie führt ihn dann dazu, dieser Disziplin eine „charakteristische^] Doppelstellung" (a.a.O., 53) zu attestieren: Sie hat ihr „Wesen" in einer „widerspruchsvollen Zweiseitigkeit" (a.a.O., 132), weil sie einerseits als philosophische Disziplin die Wahrheit des Christentums beweisen muß, diese andererseits als Bestandteil der Theologie „immer schon soll voraussetzen dürfen" (ebd.). An dieser Stelle ist nun aber auffällig, daß Süskind einer wesentlichen Bestimmung des Schleiermacherschen Theologiebegriffs keine Beachtung schenkt: dem Begriff der „positiven" Wissenschaft. Denn Schleiermacher selbst gründet die Theologie nicht auf die Uberzeugung von der Wahrheit des Christentums, sondern auf das „religiöse Interesse", das die organisierende und selektierende Grundfunktion der Theologie bildet und mit der Wahrheitsüberzeugung durchaus nicht identisch ist. Denn die Bestimmung des Wesens des Christentums ist zwar von religiösem Interesse begleitet: Sie geschieht ja nur aus dem kirchenleitenden Interesse, „zum Behuf des besseren Einwirkens auf das Christenthum" (CG 1 § 6.3, KG A 1/7.1, 22,23f). Sie kann aber angemessen (nämlich: wissenschaftlich) nur durchgeführt werden, wenn das fromme Gefühl ruht, d. h. unter Absehung von der Wahrheitsüberzeugung, „weil es uns nicht darauf ankommt, durch unser Gefühl zu entscheiden, welches wahr ist oder falsch" (CG 1 § 6.3, KGA 1/7.1, 22,12-14; vgl. § 6.4, 23,2-4). Die Uberzeugung von der Wahrheit des Christentums soll also gerade um des religiösen Interesses willen ausgeblendet werden, so daß die Alternative „wissenschaftliche" oder „kirchliche" Methode den von Schleiermacher verfolgten
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Die geschichtliche Eigentümlichkeit des Christentums ist in diesem Subsumtionsvorgang aber nur in einem Näherungswert erfaßt: Er bedarf der Uberprüfung und Präzisierung anhand einzelner geschichtlicher Zustände. Die Wesensbestimmung muß also ergänzt werden um den Vergleich zwischen den geschichtlichen Phänomenen, die der vorläufige Wesensbegriff zu repräsentieren beansprucht, und der Wesensformel selbst. Dadurch kann zum einen kontrolliert werden, ob der „Kern in der Mitte" (ThEnz. 36,2) das geschichtlich Eigentümliche des Christentums angemessen erfaßt. Zum anderen müssen aber die einzelnen geschichtlichen Zustände ihrerseits daraufhin überprüft werden, ob sie dem zu präzisierenden Wesensbegriff voll und ganz entsprechen. Damit wird also auch das geschichtliche Einzelphänomen zum Gegenstand der „kritischen" Untersuchung. 90 Die Unschärfe und Vorläufigkeit des aus dem Subsumtionsvorgang hervorgehenden Wesensbegriffs hat somit die Notwendigkeit eines den Subsumtionsvorgang begleitenden Kontrollverfahrens zur Folge, das den geschichtlichen Einzelzustand „kritisch" mit dem Wesensbegriff abgleicht. Im Rahmen seiner Erläuterungen zum „kritischen" Verfahren der Philosophischen Theologie hat Schleiermacher nun zwar weder den Begriff „Kontrollvorgang" noch das Verfahren selbst erwähnt; in der Einleitung zur „Kirchengeschichte" als der zweiten Subdisziplin der Historischen Theologie 91 hat er diesen Vorgang aber als die geschichtliche „Konstruktion einer Tatsache" (KD § 152) beschrieben: Die eigentliche Geschichtsauffassung geht über das bloße Wahrnehmen der äußerlichen Veränderungen hinaus und besteht in der Verknüpfung des Gedanken verfehlt. Das Mißverständnis Süskinds kann also darin gesehen werden, daß Schleiermacher einen Wahrheitserweis des Christentums nicht nur an keiner Stelle führt, sondern auch gar nicht intendiert: Süskind fordert den Beweis für die Wahrheit des Christentums; Schleiermacher dagegen postuliert hier lediglich Widerspruchsfreiheit zwischen dem „spekulativen Bewußtsein" und dem „frommen Selbstbewußtsein" (vgl. CG 2 § 28.3, Bd. I, 160,5-9). Süskinds Begründung für die Notwendigkeit dieses Wahrheitsbeweises kann allerdings ihrerseits als Beleg für den von ihm nicht berücksichtigten Begriff des religiösen Interesses verstanden werden: Der Wahrheitsbeweis geschieht für ihn um der „lebendigen persönlichen Frömmigkeit" willen (a.a.O., 80) und hat die Funktion, die „unmittelbare Selbstgewißheit des religiösen Erlebnisses [...] durch wissenschaftliche Vergewisserung" abzusichern (a.a.O., 82). 90 Vgl. ThEnz. 41,19-21: Kritik ist neben der „Schäzung dieses Gebiets in Beziehung auf andre ähnliche" - also etwa des Christentums neben anderen Religionen - immer auch „Schätzung der einzelnen Momente des Verlaufs in Beziehung auf die Ideen und Aufgaben". 91 Diese Einleitung umfaßt als „elementarische Betrachtung" (ThEnz. 153,2f) die §§ 149-159 und enthält grundsätzliche Überlegungen zur Historik.
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Äußeren mit einem „Inneren" 92 . Dies ist der „eigentümliche Geist" (§ 150 Zs.) einer einzelnen geschichtlichen „Masse" (§ 150), in dem sich das Wesentliche dieser geschichtlichen Gesamterscheinung so fokussiert, daß dabei ihre Einzelzustände noch nicht näher berücksichtigt sind.93 Das „Außere" dagegen ist die synchrone Betrachtung eines Einzelzustands in der ganzen „Breite des Gegenstandes" (ThEnz. 145,2), die seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten geschichtlichen Ganzen noch nicht wahrnimmt. 94 Als geschichtliche Einzelheit wird eine Tatsache aber nur dann konstruiert, wenn „Außeres" und „Inneres" vereint werden, also der Einzelzustand als wesentlicher Repräsentant des Ganzen und das Wesen des Ganzen als sich in verschiedenen Einzelzuständen realisierend erkannt werden. 95 Zur wahrhaft geschichtlichen Anschauung entwickelt sich die Betrachtung also erst, wenn Wesensformel und Einzelzustand aufeinander bezogen werden. Auch dieser Uberprüfungsvorgang ist indessen prinzipiell zirkulär und setzt das Ergebnis des Subsumtionsaktes voraus. Denn wenn der Einzelzustand daraufhin untersucht werden soll, ob er das Christentum angemessen repräsentiert, dann wird ein Begriff vom Wesen des Christentums bereits in Anspruch genommen. Dieser kann aber erst durch die Summe der Einzelzustände selbst erhoben werden; und dabei muß vorausgesetzt werden, daß sie das Christentum adäquat darstellen. Diese Zirkularität bildet sich dann ab im Verhältnis der beiden Subdisziplinen der Philosophischen Theologie.96 Zusammenfassend läßt sich also das „kritische" Verfahren als zwei Vorgänge umgreifend beschreiben, die sich beide zwischen Spekulation und Empirie bewegen: Der Subsumtionsakt, der von einem ethischen Grundbegriff ausgeht und ihn in ein begriffliches „Beziehungsnetz" 97 zergliedert, um dieses mit empirisch aufzufassenden geschichtlichen Phänomenen zu vergleichen, die auf vorläufige Weise zu einem Ganzen 92 Vgl. ThEnz. 145,28f. 93 Also „ohne daß sich bestimmte Tatsachen sondern." (KD § 150 Zs.); vgl. ThEnz. 145,8-10. 94 Also ohne daß er „in der Identität des Impulses" betrachtet würde (KD § 150 Zs.). Eine solche rein äußerliche Art der Aufnahme geschichtlicher Daten wird von Schleiermacher auch „Chronik" genannt (KD § 153); vgl. zu diesem Begriff ausführlicher unten S. 137ff. 95 „Die geschichtliche Betrachtung ist beides, das Zusammenfassen eines Inbegriffs von Tatsachen in Ein Bild des Innern, und die Darstellung des Innern in dem Auseinandertreten der Tatsachen." (KD § 150 Zs.) 96 Vgl. dazu ausführlicher unten III.3.b). 97 Stalder: Grundlinien, 76
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verbunden sind. Und der Kontrollvorgang, der von einem einzelnen geschichtlichen Zustand ausgeht und ihn mit der durch Subsumtion aufgefundenen Wesensformel vergleicht, so daß beide aneinander gemessen werden können. Beide Vollzugsformen der Geschichtskritik sind also durch das Ineinander von Spekulation und Empirie geprägt, setzen aber an unterschiedlichen Punkten ein und verfolgen entgegengesetzte Richtungen. 98 Auf diese Weise bringen sie als „Subsumtion" und „Nachweisung" zum Ausdruck, „wie das Empirische bedingt sei durch das Speculative, weil man nie vorstellt ohne Subsumtion; und das Speculative durch das Empirische, weil es nur Wahrheit hat in der Nachweisung." 99 Dieser im einzelnen vielschichtigen Art und Weise, in welcher die Methode der Kritik gleichermaßen zwischen den Erkenntnisformen Spekulation und Empirie vermittelt 100 , entspricht dann die Stellung 98 Vgl. Jergensen: Offenbarungsverständnis, 204f, der im Anschluß an Ethik 1816/17, E 549f (§ 109) die Vollzugsgestalt der geschichtlichen Kritik als Duplizität zweier „Richtungen" bestimmt. 99 Bemerkungen zur Ethik 1832, E 632,18-21 (Zu § 60) 100 Daß Schleiermacher sich dabei in gleichem Maße auf begriffliche Konstruktion und geschichtliche Empirie bezieht, ist von verschiedenen Seiten bestritten worden. So hat D . Offermann Schleiermachers Verständnis der Religionsphilosophie dahingehend interpretiert, daß „nicht der identische Faktor des konstruierten Begriffs der wesentliche Bezugspunkt ist, sondern eben das Element der [sc. geschichtlichen] Variabilität" (Offermann: Einleitung, 145). Diese Deutung kann jedoch als Reaktion auf den gegen Schleiermacher vorgebrachten Vorwurf des „Apriorismus" verstanden werden: „Das Apriorische behält den Primat vor dem Empirischen, von einer Gleichberechtigung beider kann keine Rede sein" (G. Wehrung: Die philosophischtheologische Methode Schleiermachers. Eine Einführung in die Kurze Darstellung und in die Glaubenslehre, Göttingen 1911, 8). In ähnlicher Weise hat bereits W. Bender kritisiert, „daß Schleiermacher von dem Gemeinbegriff der Religion aus an die Erklärung der positiven Religion herangetreten ist, statt umgekehrt das Wesen der Religion aus ihren Erscheinungsformen zu erkennen." (W. Bender: Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt, Nördlingen 1876-78, Bd. I, 266f, vgl. 212f; Bd. II, 355. 369f). Schleiermachers eigener Intention am nächsten kommt dagegen eine Beurteilung, die den „kritischen" Disziplinen in ihrem Anspruch und ihrer Durchführung bei Schleiermacher selbst ein Gleichgewicht in der Bezugnahme auf Spekulation und Empirie attestiert; vgl. etwa Jergensen: Offenbarungsverständnis, 205, Anm. 11; Stalder: Grundlinien, 64. Diesem Gleichgewicht entspricht die grundsätzliche Gleichwertigkeit von Spekulation und Geschichte in Schleiermachers Systembegründung und -entfaltung. Die Beantwortung dieser Frage auf der Ebene des „kritischen Verfahrens" hat naturgemäß Konsequenzen für das Verständnis der Schleiermacherschen Wesensbestimmung selbst, denn eine Beurteilung des spätestens seit F. C. Baur geltend gemachten Topos' der SchleiermacherKritik, die Bezugnahme auf den Erlöser treffe nicht die geschichtliche Person, sondern verdanke sich begrifflicher Konstruktion (vgl. zu Baurs Kritik ausführlich Junk e r Urbild, 133ff), hat hier ihre wissenschaftssystematische Verankerung; vgl. dazu unten S. 170f.
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der „kritischen Disciplinen" im Wissenschaftssystem, die „zwischen der Geschichte und der Ethik schweben" 101 . Und zu diesem „schwebenden" Charakter des „kritischen" Verfahrens scheint zu gehören, daß Schleiermacher ihm einen im Vergleich zur Ethik geringeren Geltungsanspruch beimißt:102 Die „Kritik" partizipiert an der Individualität ihres geschichtlichen Gegenstandes.103 Daher ist die ermittelte Wesensformel prinzipiell revisionsfähig104: Sie kann sich „erst im Gebrauch vollständig bewähren" 105 ; zu ihrer Aufstellung gehören deswegen „Uebung und Takt" 106 . Zur geschichtlichen Individualität der aufgestellten Wesensformel gehört außerdem, daß sie selber eingeht in den Bestand geschichtlicher Erscheinungen des Christentums, der für eine neue Wesensformel den Gegenstandsbereich abgibt: Jede Darstellung des Wesens des Christentums geht über in eine neue Darstellung.107 Die Relativität und Vorläufigkeit jeder geschichtlichen Wesensbestimmung läßt sich schließlich auch an der terminologischen Unterscheidung zwischen „Definition" und „Formel" 1 0 8 ablesen: De101 Ethik 1813(16), E 505 (§ 93) 102 „Es liegt außer der realen Wissenschaft, es fehlt ihm an der Gemeingültigkeit und an der festen Gestaltung von dieser" (Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.)). H. Süskind (vgl. oben S. 88ff, Anm. 89) hat dieser Notiz „nur untergeordnete Bedeutung" (Süskind: Christentum, 64) zugemessen und dagegen die „Allgemeingültigkeit der geschichtsphilosophischen Kritik" (69ff) bei Schleiermacher nachzuweisen versucht. Diese Beurteilung liegt aber in der Konsequenz seiner Auffassung von der der Religionsphilosophie zugewiesenen Funktion und ihrer hohen Bedeutung: Wenn die Geschichtskritik die Aufgabe hat, die Wahrheit des Christentums zu beweisen, dann muß diesem Beweis auch uneingeschränkte Allgemeingültigkeit zukommen. 103 Vgl. Jergensen: Offenbarungsverständnis, 205; Lehnerer: Kunsttheorie, 39. 104 Denn das „Auffinden" eines geschichtlich Eigentümlichen „ist eine Aufgabe, welche in Worten und Sätzen nie vollkommen, sondern nur durch Annäherung kann gelöst werden" (CG 2 § 10.3, Bd. I, 68,3-6); vgl. auch PrTh 21,14-25. 105 KD § 44 Zs.; vgl. § 59. 106ThEnz. 51,5. Diesen Sachverhalt hat Schleiermacher auch bei seinen eigenen „kritischen" Wesensbestimmungen im Auge behalten (vgl. etwa CG 1 § 17.3, KGA 1/7.1, 60,15-18; ChS 572,13-21 (Ns. 1822/23)). Insbesondere seine Fassung des konfessionellen Gegensatzes innerhalb des Christentums (vgl. C G ' § 28 Ls.; CG 2 § 24 Ls.) hat er mit ausdrücklichem Vorbehalt versehen: CG1 § 28 Anm., KGA 1/7.1, 99,7-9; vgl. dazu unten S. 189, Anm. 225. 107 Darauf hat jüngst M. Pöttner in seinem Versuch hingeweisen, Schleiermachers Theologiebegriff unter terminologischer Zuhilfenahme der semiotischen Theorie Ch. S. Peirce's zu analysieren (Theologie als semiotische Theorie bei Schleiermacher, NZSTh 34 (1992), 182-199): „Der theologisch erhobene Begriff des Wesens des Christentums wird mittels kirchenleitender Handlungen zu einer erneuten Darstellung des Wesens des Christentums" (a.a.O., 186). Insgesamt fällt jedoch der Ertrag einer solchen Gegenüberstellung zweier „Klassiker" (vgl. a.a.O., 182) für das Verständnis der Schleiermacherschen Texte eher bescheiden aus. 108 ThEnz. 50,25-32; vgl. KD § 44.
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finitionen bewegen sich Schleiermacher zufolge auf der begrifflichspekulativen Ebene und haben immer „ein Allgemeines" (ThEnz. 50,29) zum Ergebnis. Daraus resultiert ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das Individuelle einer geschichtlichen Erscheinung dagegen „kann nicht definirt werden" (ThEnz. 50,27f), sondern erschließt sich in seiner geschichtlichen Zufälligkeit nur einer individuellen Betrachtungsweise. Denn die Zuordnung eines empirisch Aufgefaßten zum begrifflich Konstruierten kann nicht selbst wieder über die allgemeingültigen Kriterien der begrifflichen Konstruktion verfügen: Das „kritische" Verfahren ist „immer in einem höheren Grade als die Darlegung eines realen Wissens das Werk des Eigenthümlichsten in dem Menschen" 109 . Entsprechend ist auch die „Konstruktion einer geschichtlichen Tatsache [...] als eine freie geistige Tätigkeit anzusehen" (KD § 152), denn in jeder geschichtlichen Darstellung findet eine schöpferische „Combination" (ThEnz. 146,25f) verschiedener Einzelmomente statt, die der Individualität des jeweiligen Autors verpflichtet ist: „Darinn offenbart sich [...] immer etwas von der Eigenthümlichkeit der Person" (ThEnz. 146,28f). Die Ableitung des spekulativen „Strukturgitters" vollzieht sich also in allgemeingültigen Definitionen, während der Subsumtionsakt „Formeln" 110 aufstellt. So kann dieser Ausdruck zuletzt das Geschäft der Philosophischen Theologie insgesamt beschreiben, das im Rahmen einer Verhältnisbestimmung aller drei theologischen Disziplinen 111 so bestimmt wird, daß die Philosophische Theologie den Gegenstand der Theologie insgesamt zu fixieren habe: „Dieß Fixiren ist die Aufstellung der richtigen Formel" (ThEnz. 71,24f). b) Die Philosophische Theologie als „kritische" Disziplin Nach der eingehenderen Analyse von Struktur und Vollzug des „kritischen" Verfahrens ist im folgenden die Übernahme dieser Methode der 109 Ethik 1816/17, E 549 (§ 109 Zs.) 110 Terminologisch konsequent ist daher die Aufnahme des Ausdrucks in der Einleitung zur Glaubenslehre (CG 1 § 28 Anm., KGA 1/7.2, 99,9; § 28 Zs. 101,3; CG 2 § 11.1, Bd. I, 75,1 f) sowie die Apostrophierung der Ethik als - zumindest potentielles „Formelbuch der Geschichtskunde" (Ethik 1816/17, E 549 (§ 108)). Daneben findet sich die Bezeichnung jedoch auch in je unterschiedlicher Bedeutung als Grundbegriff der Pflichtenlehre innerhalb der Ethik (vgl. Ethik 1812/13, E 413ff (§§ 2.6.10.17), 417-419 (§§ 2.7.12.16); Ethik 1813(16), E 508 (§ 108)) und als Bestandteil des Deduktionsprozesses der Begriffsbildung im Technischen Teil der Dialektik (vgl. Dial 1814/15, T1.2 S§ 55íf DA 2 lOlff (DJ 240ff dort §S 284ff)). 111 Vgl. ThEnz. 71,21-29.
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Wesensbestimmung in die Philosophische Theologie zu betrachten. Denn wie sich zeigen wird, ergeben sich im Blick auf die Form und Organisation dieser methodischen Operation bestimmte Abwandlungen und Ergänzungen, die im besonderen Charakter der Philosophischen Theologie als einer theologischen Disziplin begründet sind. α) Die doppelte Aufgabe der Philosophischen Theologie Die sechs ersten Paragraphen der „Einleitung" zur Philosophischen Theologie (KD §§ 32-37), in denen der „Gehalt" (ThEnz. 41,23) dieser Disziplin bestimmt wird, gipfeln in der Zusammenfassung ihrer beiden in den §§ 32 und 35 entwickelten „HauptAufgaben": „die eine das eigenthümliche Wesen des Christenthums aufzustellen in seinem Verhältniß zu andern GlaubensWeisen; die 2te §. 35 die Methode um den Werth einzelner Momente in der Entwicklung des Christenthums zu schäzen" (ThEnz. 41,7-10). Die Wesensbestimmung des Christentums, das eigentliche Thema der Philosophischen Theologie, wird hier also einer zweiten Aufgabe gegenübergestellt, die den einzelnen geschichtlichen Zustand innerhalb der Gesamtentwicklung des Christentums zum Gegenstand hat. In welches Verhältnis sind diese beiden Aufgaben zueinander zu setzen? Betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt der oben analysierten Struktur des „kritischen" Verfahrens, so ist die zweite Aufgabe der ersten untergeordnet. Denn die Untersuchung des geschichtlichen Einzelzustands, für dessen Beurteilung Prinzipien aufzustellen die zweite Aufgabe ausmacht112, bildet bereits einen Bestandteil des Gesamtverfahrens der Wesensbestimmung, die als erste Aufgabe bezeichnet wird: Sie umfaßt ja neben dem Subsumtionsakt einen durch dessen Zirkularität veranlaßten Kontrollvorgang, der den einzelnen geschichtlichen Zustand mit der Wesensformel vergleicht, um deren geschichtlichen Gehalt zu überprüfen. Zugleich muß dabei aber auch der Einzelzustand daraufhin untersucht werden, ob er selbst das Christentum unverfälscht oder in eingeschränkter Weise darstellt. Und dies heißt nichts anderes, als seinen „Werth" gegenüber der Idee des Christentums einzuschätzen.113 Dieser Bestandteil erhält 112 Vgl. ThEnz. 40,2-4. 113 Vgl. ThEnz. 39,37-40. Den Ausdruck „Werth" benutzt Schleiermacher also im Sinne eines mathematischen Wertes, einer Größe, die die Ubereinstimmung eines geschichtlichen Zustands mit seiner Idee ausdrückt. Daher wird der „Entwicklungswert der einzelnen Momente" (KD § 65 Zs.) des Christentums dadurch bestimmt, daß untersucht wird, „wie sie sich verhalten zu dem richtig erkannten Wesen des Christenthums" (ThEnz. 69,37). Damit zeigt sich umgekehrt zugleich der Stellen-
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jedoch, weil auch die Philosophische Theologie an der Positivität, d. h. Zweckbezogenheit der Theologie partizipiert, eine über seine Funktion innerhalb der Struktur des „kritischen" Verfahrens hinausgehende Bedeutung. Als eigene Aufgabe fällt die Aufstellung von Grundsätzen für die Bewertung einzelner Zustände, die der Sache nach in den Gesamtvorgang der Wesensbestimmung integriert ist, aus ihrer wissenschaftssystematischen Verortung heraus und wird in den Dienst der Kirchenleitung gestellt: „Diese Betrachtung gehört auch nicht mehr in die ReligionsPhilosophie, sondern in die positive Theologie, weil sie ihren unmittelbaren Bezug hat auf die Kirchenleitung" (ThEnz. 39,35-37). Denn für die Kirchenleitung sind Prinzipien für die Beurteilung jedenfalls des gegenwärtigen Zustands deswegen von unmittelbarem Interesse, weil ihre Aufgabe darin besteht, auf diesen Zustand fördernd oder hemmend einzuwirken. Gerade darin erweist sich ihre über willkürliches und beliebiges Handeln hinausgehende Zweckmäßigkeit: erst so wird sie zur „zusammenstimmende[n] Leitung" (KD § 5). Beurteilungsprinzipien für geschichtliche Zustände aufzustellen bedeutet demnach, einen Aspekt der Wesensbestimmung gesondert als eigene Aufgabe zu etablieren, die sich dem Bedürfnis der Kirchenleitung nach einer Fundierung ihres Handelns verdankt. 114 Die Funktionalität der Theologie also setzt die Zustandsbeurteilung zur Wesensbestimmung, der sie innerhalb der Struktur des „kritischen" Verfahrens als eine ihrer beiden Vollzugsformen untergeordnet ist, in ein Gleichrangigkeitsverhältnis. Diese Umgestaltung des „kritischen" Verfahrens durch die Positivität auch der Philosophischen Theologie entspricht damit derjenigen Modifikation, die die „reinen" bzw. „realen" Wissenschaften durch den funktionalen Kirchenleitungs-Bezug der Theologie insgesamt erfahren: Er bildet nicht allein das Selektionskriterium für die Auswahl der benötigten „Kenntnisse und Kunstregeln" (KD § 5), sondern wirkt sich gelegentwert, den ein geschichtlicher Zustand für die Aufstellung der Wesensformel selbst hat, denn je unverfälschter vornehmlich frühe (vgl. KD § 83) Phasen des Christentums dessen Idee repräsentieren, desto größeres Gewicht kommt ihnen für die Aufstellung der Wesensformel zu. H. Süskind hat dagegen diesen Begriff im Rahmen seiner Schleiermacher-Interpretation (vgl. oben S. 88ff, Anm. 89) zugleich erweitert wie verengt, indem er ihn dem Umfang nach nicht auf einen geschichtlichen Einzelzustand, sondern auf das Christentum als ganzes bezogen, und dem Inhalt nach in emphatischem Sinne als Wertung und Werturteil gedeutet hat (vgl. etwa Süskind: Christentum, 61.71). 114 Vgl. ThEnz. 40,4f: „Hier sind wir nun schon in der unmittelbaren Beziehung auf die Kirchenleitung [...]."
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lieh auch auf die Art und Weise der Behandlung des wissenschaftlichen Gegenstandes aus. So hat etwa auch die Theologizität der Historischen Theologie bestimmte Konsequenzen für die Darstellung des geschichtlichen Stoffes: Aus dem Spektrum möglicher (aber sämtlich gleichermaßen wissenschaftlicher!) Darstellungsformen der Christentumsgeschichte muß diejenige ausgewählt werden, die das Christentum als ein besonderes geschichtliches Ganze ansieht 115 , weil sonst die Historische Theologie ihren positiven Charakter verlöre. Aus der Perspektive der reinen Geschichtswissenschaft könnte das Christentum auch als „einzelne Periode eines Zweiges der religiösen Entwicklung" (KD § 79) dargestellt, also als eine Religion unter vielen behandelt werden. Dies wäre dann aber keine theologische Behandlung des Gegenstandes: Nur „wenn sie das Christenthum ganz isolirt", ist diese „geschichtliche Behandlung eine theologische Disciplin" (ThEnz. 84,9f). Und ebenso werden in der Philosophischen Theologie die Wesensbestimmung und die Zustandskritik einander beigeordnet. Die dadurch entstehende Parallelität beider Aufgaben der Philosophischen Theologie bildet dann die Grundlage für die Ableitung der beiden Subdisziplinen.116 Darüber hinaus entspricht dieser Duplizität der Aufgabenstellung auch die Doppelfunktion, die die Philosophische Theologie für die beiden anderen theologischen Disziplinen ausübt 117 : Sie dient der „Begründung" der Historischen Theologie, indem sie einen „Maßstab" (ThEnz. 41,1 lf) für die geschichtliche Darstellung zur Verfügung stellt. Und sie bildet die „Norm" (ThEnz. 41,13) für die Praktische Theologie, dadurch daß sie Prinzipien liefert für die Aufstellung von Kunstregeln über die Behandlung des gegenwärtigen Zustands der Kirche. Die bisherige Untersuchung hat mit der Analyse der Wesensbestimmung als ganzer ausschließlich die erste Aufgabe der Philosophischen Theologie in den Blick genommen. Denn in der Struktur der „kritischen" Wesensbestimmung selbst ist ja diejenige Vollzugsform, die innerhalb der Philosophischen Theologie den Status einer eigenständigen zweiten Aufgabe erhält, bereits enthalten. Es entspricht also der Asymmetrie, mit der Schleiermacher die Parallelität beider Aufgaben begründet, wenn im folgenden allein die zweite Aufgabe näher betrachtet wird. Diese verhandelt Schleiermacher allerdings noch nicht 115 Vgl. KD §§ 79f. 116 Vgl. unten III.3.a). 117Zum Verhältnis der Philosophischen Theologie zur Historischen und Praktischen Theologie vgl. ausführlicher unten III.5.
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innerhalb der enzyklopädischen Grundlegung der Philosophischen Theologie selbst (KD §§ 21-24), sondern erst in der „Einleitung" zu dieser Disziplin (KD §§ 34f). ß) Die zweite Aufgabe der Philosophischen Theologie Das Wesen dieser zweiten Aufgabe liegt in der Aufstellung von Grundsätzen für die Beurteilung eines bestimmten geschichtlichen Zustande, die ihrerseits darin besteht, diesen Zustand mit der aufgestellten Wesensformel, der „Idee" 118 des Christentums, zu vergleichen. Dabei ist nun nicht nur der Inhalt dieses Zustands zu berücksichtigen, sondern auch dessen Genese. 119 Denn jeder geschichtliche Einzelmoment besitzt nach Schleiermacher nicht nur einen angebbaren Inhalt, der ihn von anderen unterscheidet, sondern trägt immer auch den Charakter der Entwicklung 120 : er ist aus einem anderen hervorgegangen. Zur vollständigen Erfassung eines geschichtlichen Einzelzustands in der Entwicklung des Christentums gehört daher auch die Untersuchung der Art und Weise seines Gewordenseins. Auch diese kann nämlich der Idee des Christentums entweder entsprechen oder sie als „mit der von den Grundtatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise" (KD § 60) unvereinbar verfehlen.121 Daher ist umgekehrt ein Zustand auch erst dann hinreichend als „krankhaft" identifiziert, wenn er seinem „Inhalt" und seiner „Entstehung" nach als unchristlich ausgewiesen ist.122 Die Pointe dieser Unterscheidung von Inhalt und Genese eines geschichtlichen Moments liegt aber nun darin, daß Schleiermacher hier ein Entsprechungsverhältnis postuliert: Stimmt der Inhalt eines geschichtlichen Zustandes mit dessen Idee überein, dann ist dieser auch auf eine ihr gemäße Art entstanden; und hat sich umgekehrt ein Zustand aus der Idee entwickelt, dann entspricht auch sein Inhalt
118 Vgl. K D §§ 34f; ThEnz. 37,18.31f; 39,34. 119 Vgl. K D § 34; ThEnz. 37,12-15. 120 Vgl. etwa K D § 71; hier liegt der Akzent allerdings auf der Unterscheidung verschiedener Entwicklungsgeschwindigkeiten. Zu Schleiermacher Verständnis der geschichtlichen Kontinuität vgl. Mulert: Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten, bes. 47-68. 121 Als Beispiel nennt die Vorlesungsnachschrift hier die Entstehung eines Dogmas „durch eine politische Intrike" (ThEnz. 37,16) und verweist explizit auf die „gegenwärtige Trinitäts-Lehre", bei deren Entstehung „sehr viel [···] von verdächtiger Art, Intriken, Leidenschaften p p " mit im Spiele gewesen sei (ThEnz. 38,20-23). 122 Vgl. K D § 60; ThEnz. 66,5-7.
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dieser zugrundeliegenden Idee. 123 Daraus ergibt sich zugleich ein heuristisches Prinzip „zur Auffindung jenes Verhältnisses" (KD § 34 Zs.) von geschichtlichem Zustand und „kritischer" Wesensformel: Dieses Verhältnis kann nunmehr an zwei Punkten aufgesucht werden. Zur Erläuterung dieser These greift Schleiermacher auf ein Begriffspaar zurück, das bereits in den erkenntnistheoretischen und ontologischen Bestimmungen der Dialektik eine Rolle spielt: den Gegensatz von „Kraft" und „Erscheinung" 124 : „Denn das ist es, worauf die ganze Position beruht, daß, was wir den Begriff oder das Wesen des Christenthums nennen, nicht blos eine abstracte Vorstellung ist, sondern eine der geschichtlichen Erscheinung innwohnende Kraft ist, und der Ausdruck geworden soll nur die Art anzeigen, wie etwas aus der innerlichen Kraft des Christenthums hervorgegangen ist oder nicht" (ThEnz. 37,19-24). Die Wesensformel wird somit als „Kraft" gedeutet 125 , die sich im einzelnen geschichtlichen Zustand als ihrer „Erscheinung" äußert. Dieses Verhältnis wird auf folgende Weise näher beschrieben: Jede Kraft stellt eine Einheit dar, insofern sie einem zusammenhängenden geschichtlichen Ganzen zugrundeliegt, so daß „die ganze Folge von Äußerungen einer und derselben Kraft Ein Ganzes bildet" (KD § 78). Jede einheitliche geschichtliche Formation besteht also aus der Summe der in ein und derselben Kraft gründenden Erscheinungen. Der geschichtliche Einzelzustand ist so Ausdruck der Kraft, die in ihrer Wirkung nicht auf bestimmte Aspekte dieses Zustande126 beschränkt ist, sondern jeweils den ganzen Moment einer Erscheinung ausfüllt. 127 Dies bedeutet jedoch nicht, daß jeder geschichtliche Zustand die Erscheinung nur einer einzigen Kraft darstellt. Vielmehr kann die Abbildung einer Kraft verunreinigt sein durch die Ein123 Vgl. KD § 34 Zs. und dazu ThEnz. 37,29-31: „Der Zusaz [...] behauptet, daß der Inhalt eines Zustandes, welcher der Idee entspricht, auch aus der Idee hervorgegangen sein muß, und umgekehrt [...]." 124 Dial 1814/15, Tl.l §§ 181ff DA 2 44ff (DJ 112ff); Dial 1822, XL.-XLII. Stunde, D O 236-249 (DJ 414-418); Dial 1831, XXXVI.-XL. Stunde, DJ 509-512; vgl. auch Ethik 1816/17, E 533ff (§§ 51ff). 125 Diese Parallelisierung von Wesens- und Kraft-Begriff kann sich dabei auf in der Einleitung zur Ethik getroffene Sprachregelungen berufen: „Das Zugleich von Kraft und Erscheinung als Kraft, oder auf allgemeine Weise gesezt, ist das Wesen; dasselbe als Besonderes gesezt, ist das Dasein" (Ethik 1816/17, E 533 (§ 52)). Vgl. auch a.a.O., E 538 (§ 65). 126 Wie etwa die „Bildung der Lehre" oder die „Gestaltung des gemeinsamen Lebens" (KD § 166); zu dieser Grundunterscheidung vgl. unten S. 191ff. 127 „Denn die lebendige Kraft ist in jedem Momente ganz gesetzt" (KD § 162 Zs.); sie geht also nie in einer einzigen Funktion des geschichtlichen Zustands auf.
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wirkung fremder Kräfte: Hat sich ein Zustand auf eine seiner Idee widersprechende Weise entwickelt, so verdankt er seine Entstehung nicht der seinem geschichtlichen Ganzen zugehörigen Kraft, sondern der „Einwirkung fremder Prinzipien" 128 : „Wenn in einer geschichtlichen Erscheinung etwas andres zu erkennen ist als diese Kraft, so muß sie auch aus diesem andern entsprungen seyn." 1 2 9 Und diese Möglichkeit der Einflußnahme fremder Kräfte auf den geschichtlichen Verlauf eines zusammengehörigen Ganzen ist desto größer, je weiter dessen Entwicklung vorangeschritten ist: Je breiter sich eine geschichtliche Formation entfaltet hat, umso eher bietet sie fremden Kräften Möglichkeiten der Einflußnahme. Daher kommt in den frühesten Zuständen einer geschichtlichen Entwicklung deren Kraft am klarsten zur Erscheinung. 130 Allerdings ist in diesem Fall das Volumen der Erscheinung am geringsten, die Kraft also auf der „niedrigsten Stuffe ihrer Manifestation" (ThEnz. 87,3f); doch ist eben darum „diese Manifestation die reinste" (ThEnz. 87,4). Zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen einem geschichtlichen Zustand und der seine wesentlichen Merkmale enthaltenden Formel versteht Schleiermacher ihn also als „Erscheinung" einer in dieser Formel zusammengefaßten „Kraft". Damit nimmt er für die Geschichtsdeutung ein Begriffspaar aus der Ontologie in Anspruch. Im folgenden ist also die ontologische Verwendungsweise der Ausdrücke „Kraft" und „Erscheinung" bei Schleiermacher zu skizzieren 131 , damit anschließend beurteilt werden kann, ob ihre Übernahme in die Geschichtsbetrachtung sachgemäß ist. Die Ausdrücke „Kraft" und „Erscheinung" bezeichnen denjenigen ontologischen Gegensatz, der der Differenz von Allgemeinem und 128 K D § 160. Daneben gibt es für Schleiermacher die Möglichkeit, daß die „Erscheinung" einer „Kraft" in einem geschichtlichen Zustand durch die „Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Organe" ( K D § 160) getrübt ist, wenn also etwa die „politischen Verhältnisse" oder der „wissenschaftliche[n] Zustand" ( K D § 167) der „eigentümlichen Kraft des Christenthums" (ThEnz. 153,17f) entgegenwirken, indem sie nicht mehr nur als Organe fungieren, sondern „sich zum Princip machen" wollen (ThEnz. 154,70129 ThEnz. 38,2f; vgl. auch ThEnz. 37,32-34. 130Vgl. K D § 83. Diese geschichtsmethodologische Einsicht hat zugleich die enzyklopädische Konsequenz, die „Kenntnis des Urchristentums" als eigenständigen „Teil der historischen Theologie" auszusondern (vgl. K D § 84). 131 Zur ausführlicheren Untersuchung der Begriffe vgl. Jorgensen: Offenbarungsverständnis, 16ff; Lehnerer: Kunsttheorie, 30f; Scholtz: Philosophie, 62f; H.-R. Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systematische Interpretation, BEvTh 83, München 1979, 133ff; F. Wagner. Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 107ff.
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Besonderem in der Struktur des Begriffs entspricht.132 Diese Entsprechung ist durch die Forderung der Kongruenz von Denken und Sein im Wissen begründet133, der auch die Begriffsform des Wissens genügen muß.134 Diese ist aber durch den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderen definiert135, der mithin auch im Sein vorausgesetzt werden muß.136 Daraus ergeben sich für das Begriffspaar „Kraft" und „Erscheinung" folgende Definitionen: „Jedes als der produktive Grund einer Mannigfaltigkeit Vorhandene ist als Kraft Vorhandenes, und jedes als Modifikation eines Höheren Vorhandene ist als Erscheinung Vorhandenes".137 - „Im Begriff der Kraft ist also gesezt Wiederholbar sich wirksam beweisendes Sein als selbiges in mehreren (gegebenen oder zu suchenden verschiedenen). Im Begriff Erscheinung ist gesezt Mehrere verschiedene gleiches wirksames."138 Die „Erscheinung" bringt also eine ihrem Wesen nach einheitliche „Kraft" zur Anschauung, die „Kraft" äußert sich in „Erscheinungen", für die wiederum Mannigfaltigkeit139 konstitutiv ist. Darüber hinaus enthalten die Formulierungen die Bestimmung, daß die „Kraft" diese Mehrzahl von „Erscheinungen" bewirkt: Sie ist deren „productive[r] Grund" 140 . Ist demnach die „Erscheinung" durch die „Kraft" als Grund ihrer Möglichkeit bedingt, so ist umgekehrt die „Kraft" auch von ihren „Erscheinungen" abhängig, ohne die sie keinerlei Außerungsform besitzt und nicht „ins Bewußtsein"141 gelangen kann: „Kraft" und „Erscheinung" sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Beide sind, was 132 Vgl. Dial 1814/15, Tl.l § 181 DA 2 44 (DJ 112). 133 Vgl. a.a.O., § 87 DA 2 16 (DJ 43). 134 Vgl. a.a.O., § 180 DA 2 43 (DJ 111). 135 Vgl. a.a.O., § 145 DA 2 30 (DJ 84); T1.2 § 27 DA 2 88 (DJ 201 dort § 256). 136 „Wenn es ein Wissen geben soll, so muß dem Verhältnis der Begriffe der Gegensatz von Kraft und Erscheinung im Sein entsprechen" (Dial 1822 (Ns.), 40. Stunde, D O 237,30-33; Hervorhebung i.O.); vgl. auch Dial 1822 (Ms.), XL. Stunde, D O 236,2225 (DJ 414) 137 Dial 1822 (Ns.), 41. Stunde, D O 238 138 Dial 1831 (Ms.), X X X I X . Stunde, DJ 512 139 Dieser Aspekt findet sich auch in der Ethik-Einleitung 1816/17: Auch dort bezeichnet das Begriffspaar die grundlegende ontologische Differenz des „Allgemeinen und Besonderen" (Ethik 1816/17, E 533 (§ 51 Zs.), nämlich die „größte Verschiedenheit des Umfangs im wirklichen Sein" (§ 51). Und auch dort betont Schleiermacher, daß „dieselbe Kraft als Eine eine Mehrheit von Erscheinungen hervorbringt, die verschieden sind in erster Hinsicht" (Ethik 1816/17, E 541 (§ 76 Zs.)), nämlich „durch die Verschiedenheit der Zeit und des Raums" (E 540 (§ 76)). 140 Dial 1814/15, Tl.l § 181 DA 2 44 (DJ 112) 141 Dial 1822 (Ms.), XL. Stunde, D O 236,36-39 (DJ 415)
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sie sind, nur aufgrund ihrer Bezogenheit aufeinander. 142 Die in diesem Begriffspaar bezeichnete, durch die Analogie zur Struktur des Begriffs begründete Unterscheidung eines „höheren" und „niederen" Daseins 143 ist aber eine nur relative Einteilung des Seienden: Wie jeder Allgemeinbegriff zugleich als das Besondere eines über ihm stehenden, noch allgemeineren, bezeichnend angesehen werden kann, so läßt sich jede „Kraft" auch als „Erscheinung" einer sie selbst bewirkenden, höheren „Kraft" auffassen.144 Entsprechend ist jede „Erscheinung" auch als „Kraft" verschiedener anderer „Erscheinungen" darstellbar.145 Auf dem Gebiet des sittlichen Seins gilt schließlich für das Verhältnis von „Kraft" und „Erscheinung", daß zwischen beide der Begriff der Handlung tritt. Denn dem „Handeln der Vernunft" entspricht das „Kraftsein der Vernunft in der Natur" 1 4 6 . Die Handlung ist also dasjenige Moment, das die „Kraft" in eine „Erscheinung" überführt. 147 Daher kann Schleiermacher die Identifizierung von „Kraft" und „Erscheinung" als „Freiheit" definieren. 148 Das Bewirkungsverhältnis zwischen „Kraft" und „Erscheinung" ist also in diesem Fall durch den Handlungsbegriff vermittelt: Die „Kraft" realisiert sich nicht selbst, sondern wird durch einzelne Handlungen zur „Erscheinung" gebracht. Durch diesen Bedeutungsaspekt wird dann auch plausibel, warum Schleiermacher zur Beschreibung eines Problems der Geschichtsbetrachtung auf das ontologische Begriffspaar „Kraft und Erscheinung" zurückgreifen kann. Die Deutung der Wesensformel als „Kraft", die sich in den „Erscheinungen" einzelner geschichtlicher Zustände zur Darstellung bringt, ist mit den zwischen geschichtlichem Zustand und 142 „Jedes dieser beiden für sich ist [...] nichts in der gänzlichen Trennung vom andern" (Ethik 1816/17, E 533 (§ 51 Zs.)). 143 Vgl. Dial 1814/15, T1.1 § 181 DA 2 44 (DJ 112). 144 Vgl. a.a.O., § 182 DA2 44 (DJ 112f). So kann etwa die „menschliche N a t u r " einerseits als Kraft gedeutet werden, die sich in der „einzelne[n] Aktion im einzelnen Menschen" zur Erscheinung bringt (Dial 1822 (Ms.), XLI. Stunde, D O 238,30-34 (DJ 415)). Andererseits ist sie selbst „wieder Erscheinung", nämlich die „der geistigen Lebenskraft" überhaupt ( D O 239,19f (DJ ebd.)). 145 Es ist also „jede Kraft zugleich Erscheinung [...] und [...] jede Erscheinung zugleich Kraft" (Ethik 1816/17, E 535 (§ 58 Zs.)). 146 Ethik 1816/17, E 564 (§ 5). Dieses Handeln läßt sich dann näher einteilen in die Formen der organisierenden und symbolisierenden Tätigkeit (vgl. E 562f.564f (§§ 3.6)). 147 Vgl. Ethik 1816/17, E 540 (§ 75 Zs.): „Handeln, Thätigkeit gehört zusammen mit Kraft"; vgl. dazu auch Rieger Interpretation, 245f. 148 Ethik 1816/17, E 548 (§ 104 Zs.): „Freiheit ist aber, wo Erscheinung und Kraft in Einem gesezt ist"; vgl. auch Dial 1814/15, Tl.l § 198 D A 2 55 (DJ 132).
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Wesensformel bestehenden Verhältnissen nicht nur überhaupt vereinbar, sondern betont durch die Integration des Handlungsbegriffs genau denjenigen Aspekt des Einzelzustands, den Schleiermacher in diesem Zusammenhang ins Auge faßt: die Frage nach seiner Genese. Wird nämlich ein geschichtlicher Zustand als „Erscheinung" einer „Kraft" gedeutet, so wird damit zugleich die Frage nach der Art und Weise seiner Entstehung gestellt. Und diese Entstehung geschieht nicht unabhängig von menschlich-geschichtlichem Handeln, sondern ist durch es bewirkt. Darüber hinaus entsprechen sich „Kraft" und Wesensformel als das Allgemeine und Abstrakte, das der konkreten und individuellen „Erscheinung" eines geschichtlichen Zustande gegenübertritt. Das Begriffspaar „Kraft und Erscheinung" ist also geeignet, in einer bestimmten Perspektive das Verhältnis zu beschreiben, das zwischen einem geschichtlichen Zustand und der „kritischen" Wesensformel besteht, die das ihn enthaltende geschichtliche Ganze zu erfassen sucht: unter dem Gesichtspunkt seiner Entstehungsart. Und dieser Aspekt ist für die Beurteilung eines geschichtlichen Zustands deswegen von wesentlicher Bedeutung, weil erst durch ihn der fundamentale Sachverhalt der geschichtlichen Entwicklung mit einbezogen werden kann: Ein einzelner geschichtlicher Moment ist erst dann in seiner Eigentümlichkeit vollständig erfaßt, wenn der Tatsache Rechnung getragen wird, daß er das Resultat einer bestimmten Entwicklung darstellt. Nur so wird neben dem statischen Gehalt einer geschichtlichen Einzelheit auch ihr dynamischer Charakter berücksichtigt. Auf diesen Sachverhalt zielt schließlich auch Schleiermachers Behauptung der Entsprechung von Inhalt und Genese eines geschichtlichen Zustands149, denn der Inhalt ist nichts anderes als das Ergebnis der Genese. Wenn daher seine Entstehungsart wesentlicher Bestandteil eines Zustands ist, dann läßt sich sein Verhältnis zu der ihm zugrundeliegenden Idee erst dann vollständig überprüfen, wenn dabei sowohl sein charakteristischer Inhalt als auch die Art und Weise, wie er sich aus dem Vorigen entwickelt hat, zur Geltung gebracht werden. Sowohl die Ausweitung der Geschichtsbetrachtung auf den Aspekt der Entwicklung als auch das Entsprechungsverhältnis zwischen einem geschichtlichen Inhalt und der Entwicklung, deren Ergebnis er darstellt, können also Plausibilität beanspruchen: Inhalt und Entstehungsart müssen mit der Wesensformel verglichen werden.150 Proble149 Vgl. K D § 34 Zs. 150 Vgl. K D § 33.
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matisch ist dagegen die sich daran anschließende Bestimmung Schleiermachers, daß eine Uberprüfung des Verhältnisses zwischen der Genese eines geschichtlichen Zustands und der ihm zugrundeliegenden Idee auf die Ethik zurückzugehen habe.151 Denn in diesem Zusammenhang bedeutet der Rekurs auf die Ethik eine Verkürzung jener Verhältnisbestimmung: Sie wird um den Aspekt des eigentümlich Christlichen verringert und auf die Frage nach dem spezifisch Religiösen reduziert. Diesen Befund legen folgende Beobachtungen nahe: Schleiermacher verweist in KD § 35 auf die Ethik als die „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien" und erläutert diesen Ausdruck so, daß dabei von den faktischen geschichtlich-empirischen Entwicklungen gar nicht die Rede ist.152 Vielmehr ist das in dieser Wissenschaft Entwickelte der empirisch-geschichtlichen Erscheinung gerade entgegengesetzt: Sie handelt im Unterschied zur Geschichte nicht „von den Actionen", sondern „von den feststehenden Formen" 153 . Die Ethik kann also „die Art des Werdens eines geschichtlichen Ganzen" (KD § 35) deswegen „nur auf allgemeine Weise" darstellen, weil sie - überwiegend spekulativ verfahrend - die konkrete Entwicklung geschichtlicher Größen nicht selbst begrifflich konstruieren kann. Diese Bestimmung steht ja auch in Einklang mit der Grundlegung der Ethik als „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien" (KD § 35), die nach Schleiermachers Verständnis nicht den Geschichtsverlauf selbst enthält, sondern dessen Verstehen allererst ermöglicht 154 : Sie bietet eine „Strukturtheorie", keine „Verlaufstheorie" der Geschichte 155 . Auch der für die Gesamtbeurteilung eines geschichtlichen Zustands erforderliche Vergleich zwischen der diesen Zustand beschreibenden Wesensformel und der „Art, wie er geworden ist" (KD § 34) kann daher die Ethik nur so in Anspruch nehmen, daß sie dasjenige Geschichtsprinzip entwickelt und begründet, das diesem Zustand und dem geschichtlichen Ganzen, dem er angehört, zugrundeliegt. Und der 151 Vgl. KD § 35. 152 Vgl. ThEnz. 39,7-10: „Die Geschichte muß die Tendenz haben, die wesentlichen Momente des Geistes der Erscheinung immer mehr einzubilden, und insofern die Ethik jene Momente darstellt, so ist sie die Wissenschaft von den Principien der Geschichte." 153 Dial 1814/15, Tl.l § 197 Zs. DA 2 55 (DJ 131). Daher darf sie gerade nicht „alle Zustände des Werdens und alle einzelnen Gestaltungen [...] erschöpfen, weil sie sonst das Geschichtliche mit enthielte." (Ethik 1812/13, E 274 (§ 76)) 154 Vgl. Birkner: Sittenlehre, 38. 155 Diesem Nachweis dient in Sonderheit die Untersuchung von W. Grab (vgl. etwa Gräb: Humanität, 42f. 48f. 55f).
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Vergleich hat dann zu beurteilen, ob die Genese des Zustands diesem Prinzip entspricht oder nicht. Ist nun bei einer Beurteilung einzelner Zustände in der Geschichte des Christentums dieses ethische Prinzip der Begriff der Religion156, so hat der Vergleich festzustellen, ob die Entwicklungsart eines Zustands dem Wesen der Frömmigkeit entspricht oder nicht 157 . Indem aber Schleiermacher als Kriterium dieser Beurteilung den ethischen Religionsbegriff in Anschlag bringt 158 , blendet er die Möglichkeit aus, die Genese des Zustands auch hinsichtlich ihrer Ubereinstimmung mit der in der Wesensformel eingefangenen geschichtlichen Eigentümlichkeit zu überprüfen. In der Konsequenz der Parallelisierung des „Kraft"-Begriffs mit der Wesensformel läge es dagegen, auch hier die das geschichtlich Individuelle enthaltende Wesensformel als Kriterium geltend zu machen. Daher bedeutet der Rekurs auf die Ethik an dieser Stelle eine Reduktion. Denn der Fall, daß ein Zustand aus zwar religiösen, nicht aber genuin christlichen Motiven entstanden ist, kann als Fehlentwicklung nicht anhand des in der Ethik entwickelten Religionsbegriffs kritisiert werden, sondern bedarf einer - auch empirischen - Formel für das Wesen des Christentums. 159 Die Uberprüfbarkeit der geschichtlichen Entwicklung wird dadurch auf das jeweils zugrundeliegende Geschichtsprinzip reduziert. Die Inanspruchnahme der Ethik an dieser Stelle muß somit als lediglich notwendige, nicht aber hinreichende methodische und wissenschaftssystematische Verortung gedeutet werden: Denn für eine vollständige Beantwortung der Frage, ob die Genese eines einzelnen Zustands in der Geschichte des Christentums „der von den Grundtatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise" (KD § 60) entspricht oder sie verfehlt, ist nicht nur auf das in der Ethik darge156 Vgl. oben S. 85ff. 157 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Dogma nicht aus religiösen Motiven, sondern aus machtpolitischen Erwägungen entstanden ist (vgl. ThEnz. 37,15f); vgl. oben S. 98, Anm. 121. 158 Vgl. Ns. Jonas R 20 zu KD 1 12 § 6: Die Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprinzipien „muß unterscheiden, ob die sittliche Kraft [enthalten] ist, oder nicht. [...] aber in der Erscheinung [ist] vermischt, was aus dem religiösen Princip entstanden ist und manches was nur den Schein davon trägt. Die eigentliche Aufgabe ist dies beides zu unterscheiden." (Hervorhebung M.R.) Da an dieser Stelle (KD 2 § 35; KD1 12 § 6) beide Auflagen der „Kurzen Darstellung" auf die Ethik rekurrieren, ist die Heranziehung der Ns. Jonas hier unverfänglich. 159 Vgl. Ns. Jonas R 20 zu KD 1 12 § 6: „Aber so wenig [die] Ethik uns den vollständigen Begriff des Christenthums geben kann, in wie fern es ein einzelnes ist, sondern nur die Principien, ihn zu construiren, so kann sie auch hier nur etwas Allgemeines geben [...]. Das kann aber nur gelöst werden, wenn ein wirklicher Begriff vom Christenthum da ist."
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stellte Geschichtsprinzip der Religion zurückzugehen, sondern auch die religionsphilosophische Formel für das Wesen des Christentums als Kriterium zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist die Zuweisung dieser Problematik in den Gegenstandsbereich der Ethik eine Einschränkung gegenüber der faktischen Entfaltung des polemischen Programms160. Denn dort beruft sich Schleiermacher durchgehend auf die christliche Frömmigkeit und das Wesen des Christentums, nicht aber auf die Frömmigkeit überhaupt oder den Religionsbegriff.161 Die tatsächliche Durchführung der Uberprüfung eines geschichtlichen Zustandes hinsichtlich seiner Genese innerhalb der Polemik nimmt also auch die Christlichkeit (und nicht etwa nur die Religiosität überhaupt) als Kriterium in Anspruch. Eine mögliche Erklärung für das Zustandekommen dieser Reduktion bietet die Vermutung, daß Schleiermacher die wissenschaftstheoretische Verortung der beiden in den §§ 32 und 35 entwickelten „HauptAufgaben" (ThEnz. 41,7) der Philosophischen Theologie in Ethik162 und Religionsphilosophie163 in Analogie zu derjenigen Unterscheidung vorgenommen hat, die den §§ 21-24 zugrunde liegt. Denn dort wurden das Wesen des Christentums und der Religionsbegriff als Themen der Philosophischen Theologie expliziert und als deren „wissenschaftliche Regionen" (ThEnz. 21,22) ebenfalls Ethik und Religionsphilosophie benannt.164 Diese Analogie ist aber deswegen unzulässig, weil die Duplizität der Aufgaben der Philosophischen Theologie in den §§ 21-24 noch keinerlei Berücksichtigung findet.165 Die wissenschaftssystematische Einordnung der Philosophischen Theologie ist vielmehr so vorzunehmen, daß beide Aufgaben in jeweils unterschiedlicher Weise Ethik und Religionsphilosophie zuzuordnen sind. c) Die unterschiedliche Fassung in der Erstauflage der „Kurzen Darstellung" Von zahlreichen wenig bedeutsamen Änderungen einzelner Formulierungen abgesehen, sind im Blick auf die Entfaltung der Aufgabe der Philosophischen Theologie zwei Abweichungen der Erstauflage 160 Vgl. unten III.3.a) und IV.3. 161 Vgl. etwa KD §§ 55f. 58. 60. 162 Vgl. KD § 35. 163 Vgl. ThEnz. 34,3f. 9.16.18. 164 Vgl. KD 1 6 § 23; KD 2 § 23. 165 Vgl. oben S. 77f.
2. Methode und Aufgabe der Philosophischen Theologie
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gegenüber der bisher betrachteten zweiten Auflage der „Kurzen Darstellung" wahrzunehmen, die zum einen die Struktur und Gliederung, zum anderen die Terminologie betreffen. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um formale Veränderungen, die sich nicht wesentlich auf die inhaltliche Kontinuität und Kongruenz beider Auflagen auswirken. (1) Die Aufgabe der Philosophischen Theologie hat Schleiermacher in beiden Auflagen der „Kurzen Darstellung" auf formal unterschiedliche Weise bestimmt: Der Aufgabenkomplex, der in der zweiten Auflage zweigeteilt ist, wurde in der ursprünglichen Fassung als Dreigliederung entfaltet. Eine grundlegende Veränderung in der Sache ist mit dieser formalen Umgestaltung aber nicht gegeben: Der Abschnitt KD 1 11-13 §§ 1-9 166 entwickelt die Aufgabe der Philosophischen Theologie hinsichtlich ihrer Struktur als dreimalige „Gegeneinanderhaltung" 167 . Dabei bildet den Ausgangspunkt dieser dreifachen Verhältnisbestimmung stets das „im Christenthum geschichtlich gegebene[n]" 168 , das in dreierlei Hinsicht betrachtet wird: Im ersten Fall (11 SS lf) soll es mit einem aus dem Begriff der Religion zu deduzierenden Begriffsschema 169 verglichen werden mit dem Ziel, das Wesen des Christentums bestimmen zu können; die dritte Gegenüberstellung (12f SS 8f) besteht dagegen in dem Vergleich eines geschichtlichen Einzelzustands mit der gefundenen Wesensformel, um zu überprüfen, ob er dieselbe unverfälscht darstellt. Beide Operationen entsprechen damit den bei der Analyse des „kritischen" Verfahrens als „Subsumtionsakt" und „Kontrollvorgang" 170 bezeichneten Aspekten der Wesensbestimmung. Zwischen diese beiden Teilverfahren stellt jedoch die Erstauflage der „Kurzen Darstellung" einen Gedankengang, der die Vergleichbarkeit eines geschichtlich Gegebenen
166 Diese Paragraphen bilden als Entsprechung zu KD 2 §§ 32-35 innerhalb der „Einleitung" zur Philosophischen Theologie einen ersten einheitlichen Abschnitt (vgl. den Verweis auf „1-9" in KD 1 13 § 11): Die folgenden §§ lOf bringen den neuen Gesichtspunkt der Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Philosophischer Theologie zur Geltung, bevor in KD 1 13-15 §§ 13-19 die die Ableitung der beiden Unterdisziplinen (vgl. 15 § 19) begründenden Bestimmungen entwickelt werden. 167 KD 1 12f §§ 7. 9; vgl. 11 § 2. 168 So die ausführlichste Formulierung in KD 1 12 § 5; vgl. KD 1 11 § 2 („des geschichtlich in ihm gegebenen") bzw. KD 1 12 § 7 („des Gegebenen"). 169 Nämlich dem „in der Idee der Religion und der Kirche als veränderliche Größe gesezten" (KD 1 11 S 2). 170 Vgl. oben III.2.a).
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
mit seiner Idee 171 näher zu erläutern sucht und dabei den „Inhalt" von der „Art des Werdens" eines „geschichtlich gegebenen" (KD 1 12 § 5) unterscheidet. Für die Beurteilung eines geschichtlichen Einzelzustands im Blick auf seine Entstehungsart wird dann gefordert, das geschichtlich Gegebene mit den in der Ethik aufgestellten allgemeinen Formen geschichtlichen Lebens zu vergleichen.172 Die Differenzierung von Gehalt und Genese eines geschichtlichen Zustands wird also den beiden Vollzugsformen der Wesensbestimmung in formaler Gleichrangigkeit - als „Gegeneinanderhaltung" (KD 1 12 § 7) eigener Art - an die Seite gestellt.173 Zu den auffälligen Veränderungen der zweiten Auflage, in der neun Paragraphen auf vier reduziert worden sind 174 , gehört die Zusammenziehung von KD 1 12f §§ 6-9 zu KD 2 § 35: Die Berücksichtigung des Entwicklungscharakters eines geschichtlichen Zustands wird in die krankheitsidentifizierende Betrachtung des Einzelzustands integriert. Denn KD 2 §§ 34f weist die Unterscheidung von Inhalt und Entstehungsart allein der zweiten Aufgabe der Philosophischen Theologie zu. Auf diese Weise wird die formale Eigenständigkeit dieses Aspektes der Wesensbestimmung aufgegeben: Die Beurteilung der Genese eines geschichtlichen Einzelzustands geht ein in die Gesamtbetrachtung dieses Zustands und wird damit in ihrer Bedeutung erkennbar zurückgestuft. (2) Der zweite Unterschied zwischen der ursprünglichen Fassung der „Kurzen Darstellung" und der zweiten Auflage betrifft einen Ausdruck, mit dem Schleiermacher das Verhältnis der Philosophischen Theologie zu ihrem Gegenstand beschreibt: „Der Standpunkt der philosophischen Theologie in Beziehung auf das Christenthum überhaupt 171 Dabei bezeichnet der Ausdruck „Idee" hier entweder - in Anlehnung an KD1 11 §§ lf - den spekulativen Begriff der Religion, oder - wie in KD 1 12f § 8 - das Wesen des Christentums. Im ersten Fall würde jedoch nur der Begriff der Frömmigkeit, nicht aber die Wesensformel als Kriterium der Bewertung des „geschichtlich gegebenen" (KD 1 12 § 5) in Anschlag gebracht, so daß auch hier der Rekurs auf die Ethik (vgl. KD 1 12 § 6) als Reduktion zu beurteilen wäre. 172 Vgl. KD 1 12 § 7. 173 Daß KD 1 12 §§ 5-7 als der inhaltlichen Seite der Wesensbestimmung insgesamt gegenübergestellt (vgl. KD1 12 § 7: „von dieser Seite") nicht unter einen der beiden anderen Aspekte zu subsumieren sind, betont auch die Vorlesungsnachschrift Jonas: „Von § 5 an wird noch ein anderes nothwendiges Element in Anregung gebracht." (Ns. Jonas 20; Hervorhebung M.R.) Vgl. auch a.a.O., R 20: „Wenn aber aus dem Empirischen und der Idee noch kein abgeschlossener Begriff entsteht, so muß einem dabei sehr zu Hülfe kommen die Art des Werdens." 174 KD 1 11-13 §§ 1-9 werden zu KD2 SS 32-35.
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ist nur über demselben zu nehmen." 175 Diese Formulierung soll nach Schleiermachers Intention dem Sachverhalt Ausdruck verleihen, daß die Philosophische Theologie das Wesen des Christentums nicht unmittelbar voraussetzen kann, sondern genötigt ist, es allererst auf „kritischem" Wege zu bestimmen.176 Die Wendung „Standpunkt über dem Christentum" hat jedoch schon früh das Mißverständnis einer spekulativen Deduktion der Theologie provoziert: In seiner insgesamt wohlwollend gehaltenen Besprechung der „Kurzen Darstellung" kritisiert der Rezensent F. H. C. Schwarz aufs schärfste die „Begründung der christliche Theologie durch irgend eine Philosophie" oder auch nur „durch das Philosophiren selbst" als mit dem Prinzip zumal der „protestantischen Partey" des Christentums unvereinbar.177 Schwarz begründet diese Ablehnung mit der von ihm als unstrittig vorausgesetzten Lehre von der .theologia regenitorum': „Denn höher als alle Vernunft ist der heilige Geist, welcher den Glauben gibt und wirkt, [...] und wer nun diesen Glauben hat, der [...] hat nun als Christ eine [...] über allen Zweifel erhabne und ewig beseligende Erkenntniß Gottes, durch welche allein auch eine Theologie möglich ist; denn nur der Wiedergebohrne kann Theolog seyn." 178 Unter dieser Voraussetzung wird schließlich der Gedanke, „daß man von oben herab durch eine höhere Ansicht in das Christenthum kommen könne [...] als das Werk der Erbsünde [...] verworfen und verabscheut" 179 . In ähnlicher Weise ist dieser Begriff des „Standpunkts" von F. Delbrück kritisiert worden, der das Vorhaben, zur Wesensbestimmung des Christentums 175 KD 1 12 S 4; vgl. auch KD 1 73 § 4. KD 1 70 § 7 kontrastiert zusätzlich diesen „Standpunkt" mit demjenigen der Historischen Theologie, der „innerhalb" des Christentums verortet wird. 176 Vgl. Ns. Jonas 20 zu KD 1 12 § 4: „Dieses also den Standpunct über dem Christenthum nehmen ist nichts anderes als das Zusammenfassen der Speculation und des Historischen und daraus den Begriff auffassen. Das Bilden des Begriffs ist nicht Religion und muß auf einem wissenschaftlichen Wege aufgefaßt werden." (Vgl. auch Adriaanse: Herausgeber, 119.) 177 Schwarz: Rezension von K D 1 , 524f. Diese Kritik findet sich im Kontext einer Argumentation, die in der Rückbeziehung einer Aussage der Schleiermacherschen Enzyklopädie auf das zu rezensierende Werk selbst besteht: Aus KD 1 82-84 §§ 25-32 in Verbindung mit KD 1 92 § 5 und 14 § 18 leitet der Rezensent - als Schleiermacherschen Gedanken - die Forderung ab, daß „der Schriftsteller, indem er die Wissenschaft vordringen macht, als Theolog doch seiner Kirchenpartey mit ganzer Seele angehören müsse" und stellt anschließend die Frage: „Ist dieses wirklich bey diesem Buche der Fall?" (a.a.O., 524). 178 a.a.O., 525 179 Ebd.; vgl. zur Kritik Schwarz' bereits Scholz: Einleitung, XVIIIf; Adriaanse: Herausgeber, 118.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
„nicht in das Innere desselben" einzudringen, sondern es „von einem beliebig gewählten Standpunkte aus zu beaugenscheinigen", als verfehlt und unangemessen ablehnt.180 Dieses Mißverständnis181 hat Schleiermacher in der zweiten Auflage dadurch abzuwehren versucht, daß er die Wendung „Standpunkt über dem Christentum" gänzlich vermieden hat. 182 Zusätzlich hat er die Präposition „über" mit der Erläuterung versehen, daß sie „in dem logischen Sinne des Wortes" (KD § 33) zu verstehen sei.183
180 F. Delbrück: Christentum Bd. 3, Erörterungen einiger Hauptstücke in Dr. Friedrich Schleiermachers christlicher Glaubenslehre, Bonn 1827, 59 181 Vgl. die Anspielungen auf Schwarz in C G 1 § 6.3, K G A 1/7.1, 22,1-3 und ThEnz. 36,9f. Bereits die Vorlesungsnachschrift Jonas notiert zu K D 1 12 § 4: „Dies hat man getadelt als eine Erhebung der Speculation über die Theologie, als Stolz sich über die Religion zu stellen." (Ns. Jonas 18) 182 K D 2 § 33 ersetzt „Standpunkt" durch „Ausgangspunkt", während in K D 2 § 253 (als Entsprechung zu K D 1 70 § 7) diese Thematik gänzlich getilgt ist. K D 2 § 259 schließlich vermeidet den Begriff „Standpunkt" und beschreibt statt dessen die inhaltlichen Ergebnisse der Philosophischen Theologie (den jeweiligen „Begriff von dem Wesen des Christentums und seiner besonderen Kirchengemeinschaft"). Auch in der Einleitung zur Glaubenslehre hat Schleiermacher diese Begriffsbereinigung durchgeführt und auf den Ausdruck „Standpunkt" verzichtet (vgl. C G 1 § 6 mit C G 2 § 2). Dort ändert sich jedoch nicht nur die Terminologie, sondern auch der methodische Ansatz; vgl. dazu unten I V . l . 183 Damit nimmt Schleiermacher beide Aspekte der Schwarzachen Kritik auf: den religiösen Vorwurf, die Vernunft über den Heiligen Geist zu stellen („[...] als ob es hieße, sich über Christum stellen": ThEnz. 36,10). Und die philosophische Verdächtigung, das Christentum aus dem Begriff der Religion deduzieren zu wollen („Das Christenthum wird also nicht aus dem höheren Begriff abgeleitet": ThEnz. 36,17). Als indirekte Wiederkehr dieser Kritik am „Standpunkt über" dem Christentum läßt sich ein Verständnis der Schleiermacherschen Ethik deuten, das Schleiermachers spezielle und konkrete Anschauung der christlichen Sittenlehre zum „sachlichen Interpretationsschlüssel" seiner allgemeinen, spekulativen Theorie der „beharrlichen Züge des ethischen Lebens" erhebt (E. Herms: Reich Gottes und menschliches Handeln, in: D. Lange (Hg.): Schleiermacher, 163-192,188f): Dabei wird nicht wie bei Schwarz die (vermeintliche) Begründung des Christentums aus dem allgemeinen Religionsbegriff beanstandet, sondern umgekehrt dieser allgemeine Religionsbegriff als schon unter christlichen Bedingungen stehend interpretiert: Schleiermachers Verständnis der allgemeinen ethischen Theorie (also auch sein ethischer Begriff der Frömmigkeit) sei deswegen von der besonderen Entfaltung der spezifisch christlichen Sittlichkeit abhängig, weil auch die spekulative Theorie der allgemeinen ethischen Geschichtsprinzipien unter den realen Bedingungen der Christlichkeit des Lebens ihres Autors stehe (vgl. a.a.O., 180 Anm. 27; 188,17f). Wissenschaftstheoretische Relevanz erhielte die historisch zweifellos zutreffende Beobachtung, daß auch Schleiermachers allgemein ethischer Religionsbegriff unter den kulturellen Bedingungen des Christentums entstanden ist, allerdings erst dann, wenn eine inhaltliche Einflußnahme des spezifisch Christlichen auf den allgemeinen Religionsbegriff der Ethik nachgewiesen werden könnte.
2. Methode und Aufgabe der Philosophischen Theologie
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Der Sache nach ergeben sich aus dieser terminologischen Klarstellung jedoch keinerlei Veränderungen 184 : Gemeint ist in beiden Fällen die Rückführung der Wesensbestimmung des Christentums auf den allgemeinen Religionsbegriff.185 Dagegen impliziert die Ortszuweisung „über" dem Christentum keinesfalls etwa eine Höherbewertung der (philosophischen) Theologie gegenüber der (christlichen) Frömmigkeit. 186 Vielmehr ist der Ausdruck „Standpunkt" ein methodischer Begriff, den Schleiermacher auch in anderen Zusammenhängen zur Bezeichnung der jeweiligen Untersuchungsperspektive verwendet. 187 Aus dem Rückgang auf den Allgemeinbegriff der Religion folgt dann auch, daß dieser Ausgangspunkt für die Philosophische Theologie jeder Glaubensgemeinschaft Geltung hat 188 : Weil allen geschichtlichen Religionen ein allgemeiner und abstrakter Begriff der Frömmigkeit zugrunde liegt, müssen alle Wesensbestimmungen bei diesem Begriff ihren Ausgangspunkt nehmen. 189 Wegen dieser begrifflichen Zusammengehörigkeit der verschiedenen Religionen kann daher auch das Wesen einer einzelnen nur im Vergleich mit den ihr begrifflich und geschichtlich verwandten Glaubensformen vollständig erfaßt werden. 190 Und in diesem Zusammenhang findet sich eine weitere terminologische Erwägung in der Vorlesungsnachschrift Jonas, die dem Standpunkt „über" dem Christentum eine Verortung „neben" demselben an die Seite stellt.191 Damit bringt sie zum Ausdruck, daß der Höherstu-
184 Vgl. Scholz: Einleitung, XIXf. 185Denn „es ist ein allgemeiner Sprachgebrauch, daß man den allgemeinen Begriff [...] den höheren nennt." (ThEnz. 36,11-14) 186 Vgl. dazu Ns. Jonas R 19 zu KD1 12 § 4: „Heißt das nun: indem er sich so über das Christenthum stellt, sey er mehr als ein Christ? Das Mehr und Weniger liegt hier ganz und gar nicht. Im Gegentheil müssen wir ja sagen, jede bestimmte Religion ist mehr als die allgemeine Idee, weil diese eigentlich nirgends existirt. Die bestimmten Religionen existiren aber." (Vgl. auch Adriaanse: Herausgeber, 119) 187 Vgl. dazu Birkner: Sittenlehre, 61; dort (Anm. 113) werden auch Beispiele für andere „Standpunkte" aufgeführt. 188 Vgl. KD § 33 Zs. und dazu ThEnz. 36,21-23. 189 Denn alle sind „auf denselben höheren Begriff und auf eine Teilbarkeit desselben" (KD § 33 Zs.) zurückzuführen. 190 Vgl. KD § 33 Zs. 191 „Um zu dem Begriff zu kommen, muß man sich aus dem Ganzen herausstellen. Ueber das Christenthum und außer dem Christenthum wäre hier einerlei. [...] Schleiermacher hätte also über und außer sagen müssen, denn über, in so fern dem philosophischen Theologen die allgemeine Idee höher steht und außer in so fern er durch alle verschiedenen Religionen gehen muß." (Ns. Jonas R 19, Hervorhebung i. O.; vgl. auch Adriaanse: Herausgeber, 119.)
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
figkeit des Allgemeinbegriffs („über") das Neben- und Nacheinander verschiedener Religionen („außer") entspricht. Das Verhältnis zwischen einem Standpunkt der Unmittelbarkeit „im" Christentum und der „über" es hinausgehenden Reflexion einer Wesensbestimmung hat Schleiermacher schließlich anhand des Vergleichs von „Christ" und „Staatsbürger" erläutert192: Das ursprüngliche Gefühl der unmittelbaren Zugehörigkeit zum Christentum oder zu einer Nation bedarf nach Schleiermacher als Gefühl keiner Begründung.193 Eine Reflexionsleistung, d. h. die Entwicklung eines über das unmittelbare Gefühl hinausgehenden Begriffs vom Staat ist für den Staatsbürger als solchen sekundär motiviert; sie geschieht aus „kosmopolitischem" oder „philosophischem" Interesse. Mit ihr wird der Standpunkt innerhalb des Staates verlassen.194 Eine solche begriffliche Erfassung des dem Staate Wesentlichen ist aber notwendig für alle diejenigen, die an der Leitung des Staates beteiligt sind: nur dann kann diese Leitung zweckmäßig sein.195 Diese Wesensbestimmung des eigentümlichen Staates wie der individuellen Religion muß über die bloße Antwort des Gefühls hinausgehen: Ein Religionsvergleich etwa kann aus der Perpektive der unmittelbar-christlichen Frömmigkeit nicht neutral wahrgenommen werden, weil aus diesem Blickwinkel das Christentum immer schon das Wahre und Richtige ist und gegen andere Religionen nicht angemessen abgegrenzt werden kann: In die Wesensbestimmung mischen sich Gefühle des Erfreulichen bzw. Widerwärtigen.196 Dagegen unterliegt die Wesensbestim192 Ns. Jonas 18-R 19; vgl. dazu die Paraphrase bei Adriaanse: Herausgeber, 118f. 193 „Der Staatsbürger als solcher hat den Standpunct rein im Staate, alles Fremde stößt er wie von sich ab. [...] Wenn man ihn so fragt: Warum bist du nicht wie ein Engländer, Franzose, hältst du ihre Einrichtungen für schlecht oder bloß für dich nicht passend, da hat er nicht nöthig uns eine andre Antwort zu geben, als[:] ich will nicht. Es ist bloß Gefühl bei ihm." (Ns. Jonas 18) 194 „Wir sagen, es ist einer außer einem Staatsbürger auch Philosoph. Er hat also das Interesse, nicht nur die Form seines Staates ganz und gar durch sein Gefühl aufzunehmen, sondern das Interesse zu wissen, wie sie sich zu der allgemeinen Idee des Staates verhält. Dazu muß er den Standpunct innerhalb des Staates ebenfalls verlassen. Dies thut er nicht als Staatsbürger sondern als Philosoph." (Ns. Jonas 19) 195 „Nur wer außer dem Gefühl als Staatsbürger diese Einsicht hat, ist geschickt den Staat zu leiten. [...] Solche Berichtigungen des Gefühls können immer nur aus dem Begriff kommen. Die also den Staat leiten, müssen den Begriff vom Staate haben und die den Begriff haben, müssen ihn von einem Standpunct außer dem Staate haben." (Ns. Jonas 19f) Staats- und Kirchenleitung werden hier also von Schleiermacher völlig parallel begründet. 196 Vgl. C G 1 § 6.4, K G A 1/7.1, 22,7-11. Denn es ist „für den Christen in Beziehung auf die Kirche völlig einerlei [...], ob er sagt, Das halte ich für wahr, oder oh er sagt,
3. Apologetik und Polemik
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mung gerade einem Anspruch auf Neutralität, der sich darin äußert, daß nicht nur die von der Wahrheit des Christentums Uberzeugten, sondern auch ein Außenstehender der aufgestellten Wesensformel soll zustimmen können. 197 Diese Objektivität in der Feststellung des Wesentlichen ist aber dadurch ermöglicht, daß die Wahrheitsfrage ausgeklammert wird. Und genau diese Abstraktion vom Bewußtsein der Wahrheit des Christentums erklärt Schleiermacher zur Pointe der Formulierung „Standpunkt über dem Christentum": „Also müssen wir für diese Betrachtung unsere fromme Erregbarkeit ruhen lassen, weil es uns nicht darauf ankommt, durch unser Gefühl zu entscheiden, welches wahr ist oder falsch, denn das haben wir schon längst für uns gethan: sondern uns nur scharf einzuprägen, wie das eine und das andere, das christliche und das unchristliche, aussieht und beschaffen ist. Haben wir das nun gefunden: so nehmen wir dann unsern Standpunkt im Christenthum wieder ein, und behaupten ihn mit größerer Sicherheit."198
3. Apologetik und Polemik a) Die Begründung von Apologetik und Polemik Mit der Aufstellung der beiden Aufgaben der Philosophischen Theologie wurde der „Gehalt" (KD § 37) dieser Disziplin bestimmt. Davon zu unterscheiden ist nun die Frage, in welcher „Form" (KD § 38) diese Aufgaben ausgeführt werden sollen. Auch deren Beantwortung darf jedoch nicht willkürlich vollzogen werden, sondern muß - wie die Bestimmung der Aufgabe selbst - an demjenigen Sachverhalt ausweisDas ist die wirkliche Lehre der Kirche." (ChS 4 Anm. (Ns. 1826/27); Hervorhebung i. O.) Vgl. auch Ns. Jonas 20: »Wenn wir mit dem bloßen Gefühl die Vergleichung anstellen wollen zwischen dem Christenthum und den übrigen, was werden wir für ein Resultat bekommen? Alles in den andren Religionen ist um so besser, je mehr es dem im Christenthum entspricht und das im Christenthum, was etwas Analoges mit andern Religionen hat ist jemehr es dies hat, desto unvollkommener. Das Resultat ist also Null." 197 Für seine eigene Wesensformel sieht Schleiermacher diese Forderung immerhin eingelöst, wenn er im Blick auf die „Formel" des § 18 der Glaubenslehre (erste Auflage) schreibt, daß sie „auch von jedem Unchristen dafür gehalten seyn, daß er durch dieselbe jede christliche fromme Erregung und einen sie aussagenden Glaubenssatz von jeder nichtchristlichen unterscheiden könne." (Zweites Sendschreiben 517, KGA 1/10, 374,8-10); vgl. auch CG 2 § 11.5, Bd. I, 83,9-14. 198 CG 1 § 6.3, KGA 1/7.1, 22,11-18
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III. DasProgra mm der Philosophischen Theologie
bar sein, der die Philosophische Theologie als eigenständige Disziplin überhaupt legitimiert und begründet hat: der Funktion der Theologie für die Kirchenleitung.199 Die „Form"-Bestimmung der Philosophischen Theologie, die Frage nach ihrer internen Organisation und Gliederung, kann also kein anderes Kriterium besitzen als dasjenige, welches bereits der Konstituierung ihres wesentlichen Inhaltes zugrunde lag. Dabei ist die Unterscheidung von „Gehalt" und „Form" der Philosophischen Theologie ihrerseits keine bloß formale Einteilung. Vielmehr gründet sie sich auf die Uberzeugung Schleiermachers, daß die bisher betrachtete Aufgabenstellung der Philosophischen Theologie in zweierlei Hinsicht unzulänglich ist: Erstens bringt sie trotz des Gegründetseins der zweiten Aufgabe der Philosophischen Theologie in bestimmten Bedürfnissen der Kirchenleitung deren Positivität als einer theologischen Disziplin noch nicht hinreichend zur Geltung. Und zweitens kann die bloße Aufgabenstellung die formale Einheit der Philosophischen Theologie als (doppelgestaltige) theologische Disziplin noch nicht gewährleisten. Zum einen ist also die Theologizität der Philosophischen Theologie erst dann vollständig begründet, wenn das Bestehen der beiden philosophisch-theologischen Subdisziplinen, die sich als die angemessene „Form" der Philosophischen Theologie erweisen werden, als notwendiges Erfordernis der Kirchenleitung nachgewiesen werden kann; erst damit erfüllt sich ihre „theologische Abzweckung" (ThEnz. 71,13f). Und zum andern wird zwar der „Gehalt" der Philosophischen Theologie, in der Doppelgestalt von Wesensbestimmung und Zustandskritik, durch das Angewiesensein der Historischen Theologie auf geschichtliche Grundbegriffe sowie die Positivität der Philosophischen Theologie zureichend begründet; daraus folgt aber noch nicht die Notwendigkeit, diese doppelte, „kritisch" zu lösende Aufgabe in der Gestalt zweier selbständiger Subdisziplinen zu behandeln.200 Daher lautet die „Regel" für die „Form der philosophischen Theologie": „[...] alle Bestandteile der philosophischen Theologie, welche an sich der Kritik angehören, werden theologische Elemente nur durch die Beziehung auf die Kirchenleitung" (ThEnz. 41,22-26). Erst durch eine nochmalige Rückbindung an bestimmte Obliegenheiten der Kirchenleitung wird also gleichermaßen 199 Vgl. KD § 38. 200 Zwar waren die „Elemente" der Philosophischen Theologie „auch schon in der historischen Theologie nothwendig, nur nicht in dieser Form." (ThEnz. 71,12f; (Hervorhebung M.R.)) Diese muß vielmehr zusätzlich durch den funktionalen Bezug der Theologie zur Kirchenleitung begründet werden.
3. Apologetik und Polemik
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die theologische Funktionalität der Philosophischen Theologie komplettiert wie ihre formale Eigenständigkeit als theologische Disziplin konstituiert. 201 Diesen neuerlichen Bezug zur Kirchenleitung macht Schleiermacher nun bei der Begründung der beiden philosophisch-theologischen Disziplinen in den §§ 39 und 40 der „Kurzen Darstellung" dadurch geltend, daß er sie auf zwei grundlegende Motive derjenigen frommen Subjekte gründet, aus denen sich die Kirche zusammensetzt, und aus ihnen bestimmte Handlungsziele der Kirchenleitung ableitet: Die beiden Motive, ohne welche überhaupt kein Subjekt der Kirche angehörte 202 , sind zum einen die „Uberzeugung von der Wahrheit der sich" in der jeweiligen Kirchengemeinschaft „fortpflanzenden Glaubensweise" 203 , zum anderen das „Mißfallen [...] an den" in der jeweiligen Gemeinschaft „entstandenen krankhaften Abweichungen" (KD § 40). Und die aus diesen fundamentalen Befindlichkeiten der einzelnen Kirchenmitglieder erwachsenden Handlungsziele der Kirchenleitung sind demgemäß einerseits, diese „Wahrheitsüberzeugung durch Mitteilung zur Anerkenntnis zu bringen" (KD § 39) und andererseits, die krankhaften „Abweichungen als solche zum Bewußtsein zu bringen" (KD § 40). Aus diesen beiden „Abzweckungen" 204 der Kirchen201 Vgl. die Formulierung der ersten Auflage K D 1 14 § 17: „Als theologische Disciplin nimmt die philosophische Theologie ihre Form von dem Interesse an dem Wohlbefinden und der Fortbildung der Kirche." 202 Daß „Wahrheit" und „Reinheit" die beiden Grundmotive für das „lebendige Sein des Einzelnen in einer Kirche" (KD 1 13f §§ 13.15) darstellen, wird von Schleiermacher als evident vorausgesetzt und nicht weiter begründet. So notiert die Vorlesungsnachschrift zu § 39 lapidar „Ohne dieß könnte das Christenthum sich nicht erhalten" (ThEnz. 41,39f). In ähnlicher Weise wird etwa in C G 1 § 6.4, K G A 1/7.1, 22,28-30 vorausgesetzt, „daß Jeder zu einer bestimmten Glaubensweise sich bekennende diese allein für die wahre hält, jede andere aber für falsch". 203 K D § 39; vgl. die indirekte Formulierung KD 1 14 § 13: „Ueberzeugung von ihrer geschichtlichen Gültigkeit". 204 Im einzelnen werden beide „Abzweckungen" noch nach zwei verschiedenen „Richtungen" der Kirchenleitung, der „erhaltende[n]" (§ 39) und der „intensiv zusammenhaltenden Richtung" (§ 40), klassifiziert. Damit ist auf eine Unterscheidung verwiesen, die Schleiermacher in K D § 25 getroffen hat. Dort wurde das Handeln der Kirchenleitung als „zusammenhaltend und anbildend" beschrieben und unter den Gegensatz von „extensiv" und „intensiv" gebracht, durch den das kirchenleitende Handeln nach „Umfang" und „Grad" seines Gegenstandes unterschieden wird: „Das extensive heißt, daß die Gesellschaft in ihrem Volumen erhalten wird, - das intensive heißt, daß die Christen so gute Christen bleiben, als sie gewesen sind." (ThEnz. 25,46) Diese beiden Begriffspaare sind zwar möglicherweise geeignet, das kirchenleitende Handeln in bezug auf seinen Gegenstand vollständig einzuteilen; diese Einteilung hat jedoch keine konstitutive, sondern lediglich veranschaulichende Funktion: Das Begriffspaar „zusammenhalten und anbilden", das die Tätigkeit der Kirchenleitung
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
leitung ergibt sich nun die Nötigung, die beiden Aufgaben der Philosophischen Theologie in die „Form" zweier Subdisziplinen zu fassen: (1) Was zunächst die Wahrheitsüberzeugung angeht, so gibt sie erst dadurch Anlaß zur Aufstellung einer philosophisch-theologischen Disziplin, daß sie in Erschütterung gerät: Wird durch einen Angriff von außen die Wahrheit der Religion oder des Christentums bestritten, so muß die Kirchenleitung das Bestreben haben, diesen Einfluß unwirksam zu machen, um die Uberzeugung von der Wahrheit des christlichen Glaubens wieder „zur Anerkenntnis zu bringen" (KD § 39). Zu diesem Zweck bedarf sie einer ausführlichen Darstellung des Wesens des Christentums als individueller Ausprägung der Religion im Rahmen einer wissenschaftlich-theologischen Disziplin. Die durch dieses Bedürfnis konstituierte Subdisziplin der Philosophischen Theologie heißt daher „Apologetik". 2 0 5 Die Widerlegung der Angriffe durch die Kirchenleitung besteht also darin, daß das Christentum als eine bestimmte Gestaltung der als legitim erwiesenen Frömmigkeit nachgewiesen wird. 206 Und zu diesem Behuf benötigt sie die Behandlung der einschlägigen Thematik in einer eigenständigen philosophisch-theologischen Disziplin. 207 Die Apologeallenfalls „charakterisirt" (ThEnz. 24,34), wird in der Entfaltung der Praktischen Theologie nicht wieder aufgenommen. Dagegen findet sich die Unterscheidung von „extensivem" und „intensivem" Handeln auch in der Christlichen Sittenlehre (vgl. ChS 373ff (Ns. 1822/23); ChS Beil. A 74-78 (Ms. 1809/10, §§ 204-210); ChS Beil. Β 138-144 (Ms. 1822/23, §§ 29-39), dort allerdings mit unterschiedlichen Geltungsbereichen: Während sich die Einteilung des verbreitenden Handelns der Kirche in (extensive) Mission und Erziehung (ChS 378ff (Ns. 1822/23)) einerseits und Intensivierung des christlichen Geistes andererseits (ChS 388f (Ns. 1822/23); vgl. Birkner: Sittenlehre, 122-124) zwar auf das kirchliche Handeln, nicht aber auf den Gesamtumfang des Handelns der Kirchenleitung bezieht, unterscheidet das Begriffspaar in anderer Verwendungsweise das kirchenleitende Handeln insgesamt vom nichtklerikalischen Handeln: „Klerus und Laien verhalten sich wie die im intensiven und die nur im extensiven Prozesse thätigen" (ChS Beil. A 77 (Ms. 1809/10, § 209)). 205 Vgl. ThEnz. 42,19-27: „Der Ausdruck Apologetik ist hergenommen von dem gerichtlichen Sprachgebrauch, als Vertheidigung. Dieses sezt einen Angriff voraus f...]. Es ist Thatsache, daß es immer einzelne Menschen gab, die das religiöse Element ganz vernachläßigt haben, und zwar mit einem gewissen Bewußtseyn. Diese müssen auch bestreiten, daß das religiöse Element der menschlichen Natur wesentlich sey." Vgl. auch Clemen: Vorlesung, 233,27-30. 206 Vgl. ThEnz. 42,5-8: „daß ein Jeder nun die Eigenthümlichkeit des christlichen Glaubens als eine Gestaltung des religiösen Elements sich rechtfertigen könne, und sich seine eigne Verwandtschaft zu dieser Gestaltung klarer mache, dieß giebt dann die Ueberzeugung vom Christenthum." 207Vgl. Clemen: Vorlesung, 235,17-19: „Wäre das Christentum nie angegriffen worden, so könnte auch die Apologetik keine eigene Disziplin bilden"; vgl. auch ThEnz. 43,19-22.
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tik wird also als eigene Subdisziplin der Philosophischen Theologie dadurch statuiert, daß das kirchenleitende Handlungsziel erforderlich wird, die Wahrheitsüberzeugung des Christentums bestärkend in Umlauf zu bringen 208 : Damit wird die Aufgabe, das Wesen des Christentums „kritisch" zu bestimmen, in die „Form" einer Disziplin gebracht. Diese Begründung der Apologetik weist ihr jedoch keineswegs die Aufgabe zu, einen Beweis für die Wahrheit des Christentums zu liefern. 209 Denn ein solcher Beweis beruht auf der Annahme, daß das Christentum sich „andemonstriren" ließe (ThEnz. 45,40). Die Wahrheit einer religiösen Anschauung kann sich aber nach Schleiermachers Überzeugung nur jeweils subjektiv erschließen.210 Daher sind in dieser Hinsicht „alle christlichen Sätze [...] übervernünftig" 211 , denn der propositionale Gehalt der christlich-frommen Gemütszustände läßt sich nicht aus allgemeinen Wahrheiten ableiten oder beweisen: „Sonst müßte man ja auch jeden Menschen, ohne daß ihm irgend etwas begegnet sei, zum Christen unterrichten und demonstrieren können." 212 Die wirkliche Aneignung christlicher Glaubensinhalte erfolgt aber nicht aufgrund von Argumenten und Beweisen, sondern kann „wie [...] alles Einzelne und Eigentümliche nur [...] durch die anschauenwollende Liebe aufgefaßt werden" 213 , ist also Sache der jeweils subjektiven Evidenz 214 . Diese Grundüberzeugung Schleiermachers ist ein Implikat seiner emphatischen Unterscheidung von „Frömmigkeit" und „Wissen" als Gefühl und Reflexion215: Stünden religiöse Anschauungen unter dem Anspruch argumentativ herstellbarer Intersubjektivität, wäre also die Frömmigkeit ein mit bestimmtem Inhalt versehenes Wissen, so ergäbe sich daraus die der Intuition wie der Erfahrung widersprechende Konsequenz, daß „der beste Inhaber der christli208 Die Wesensbestimmung des Christentums wird also in der Apologetik unter dem Gesichtspunkt seiner Bestreitung thematisch. Daraus ergeben sich neben der eigentlichen Wesensformel (unter dem Begriffspaar „natürlich" und „positiv": KD §§ 43f) für die Apologetik bestimmte Leitbegriffe, mit denen sie „Anspruch" (KD § 45) und Legitimität des Christentums zu erweisen hat; vgl. zur Interpretation der apologetischen „Grundsätze" (KD S. 18) insgesamt unten IV.2. 209 Vgl. ThEnz. 48,33f: „Es ist also hier nicht um Beweise zu thun die zur Annahme des Christenthums führen müssen." 210 Vgl. Birknen Sittenlehre, 63f. 211 CG 2 § 13 Zs., Bd. I, 93,5. Zur Unterscheidung der beiden Betrachtungshinsichten „übervernünftig" und „vernünftig" vgl. ausführlicher unten S. 175f. 212 A.a.O., 93,12-14 213 A.a.O., 93,18f 214 Vgl. CG 2 § 14.2, Bd. I, 96,20-97,15. 215 Vgl. CG 1 § 8.2, KGA 1/7.1, 26,31-28,15.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
chen Glaubenslehre [...] zugleich der frömmste Christ" wäre 216 . Diese „Abweisung der Demonstrierbarkeit" 217 christlicher Glaubensinhalte impliziert jedoch durchaus keine Indifferenz zwischen dem spekulativen Bewußtsein und dem frommen Selbstbewußtsein: Im Gegenteil betont Schleiermacher die Notwendigkeit, „sich der Zusammenstimmung beider positiv bewußt zu werden" 2 1 8 . Die Ubereinstimmung beider Bewußtseinsfunktionen kann jedoch ihrerseits nicht allgemeingültig beweisen werden, sondern ist der Subjektivität anheimgestellt: „Diese Aufgabe ist eine schlechthin persönliche." 219 Die Voraussetzung für dieses subjektive Evidenzerlebnis kann und soll allerdings durch den Nachweis der ethischen Legitimität der Religion sowie die genaue Bestimmung der geschichtlichen Eigentümlichkeit des Christentums, durch die Apologetik geschaffen werden. Damit beweist sie aber gegenüber den Bestreitern des Christentums gerade nicht dessen Wahrheit, sondern lediglich dies, „daß sie das Christenthum müßten bestehen lassen." 220 (2) Wird also die erste Aufgabe der Philosophischen Theologie, die Wesensbestimmung des Christentums, erst dadurch in die „Form" einer philosophisch-theologischen Subdisziplin überführt, daß die Realisierung eines bestimmten, zusätzlich motivierten Handlungszieles der Kirchenleitung verbessert werden soll, so besteht dieser Zusammenhang im Falle der Identifikation von „krankhaften Abweichungen" ( K D § 40) auf unmittelbare Weise. Denn hier sind die Begründung für die Eigenständigkeit der zweiten Aufgabe der Philosophischen Theologie einerseits und die die „Form" einer zweiten philosophischtheologischen Subdisziplin konstituierende „Abzweckung" (KD § 40) der Kirchenleitung andererseits identisch: das Bedürfnis der Kirchenleitung, den gegenwärtigen Zustand der Kirche als dem Wesen des Christentums entsprechend - oder es verfehlend - abschätzen zu können, um in der Lage zu sein, auf ihn erhaltend - oder verbessernd - einzuwirken. Aus diesem Bedürfnis wird sowohl ein Teilaspekt der Wesensbestimmung, die Zustandskritik, als eigenständige Aufgabe 216 A.a.O., 27,25-28 217 C G 2 § 14.2, Bd. I, 96,38 (Th Anm. b) 218 C G 2 § 2 8 . 3 , Bd. I, 160,12f 219 A.a.O., 160,38 (Th Anm. b). Daher hat die Apologetik für den Nachweis einer solchen „Zusammenstimmung" beider Bewußtseinfunktionen lediglich eine limitative und korrigierende Funktion, vgl. a.a.O., 160,20-25. 220ThEnz. 43,19; vgl auch die Formulierung ThEnz. 45,35, derzufolge die Apologetik in dem „Bestreben" besteht, „dem Christenthum sein gutes Recht zu sichern."
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begründet221 als auch die Disziplin der „Polemik" als zweite Subdisziplin der Philosophischen Theologie abgeleitet.222 Was also bezüglich der Apologetik zwei unterschiedliche Begründungszusammenhänge waren, die Begründung der (inhaltlichen) Aufgabe der Wesensbestimmung zum Zwecke einer Fundierung der Historischen Theologie und die (formale) Statuierung als eigene Subdisziplin zur Verbesserung einer Abwehr von gegen das Christentum gerichteten Angriffen, ist bezüglich der Polemik ein und derselbe Sachverhalt. Denn die Beurteilung eines einzelnen geschichtlichen Zustands nach dem Grad seiner Ubereinstimmung mit der Idee des Christentums und die Entlarvung von geschichtlichen Fehlentwicklungen dienen demselben fundamentalen Zweck, die Kirchenleitung mit angemessenen und ausweisbaren Handlungskriterien auszustatten: Erst durch diese Kriterien kann das aus religiösem Interesse geschehende kirchliche Handeln sich zur „eigentlichen", mit „geschichtlichem Bewußtseyn" (ThEnz. 3,14) ausgestatteten Kirchenleitung entwickeln. Bereits bei ihrer Grundlegung als die doppelgestaltige „Form" der Philosophischen Theologie stehen also die beiden philosophischtheologischen Disziplinen in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Gemeinsam ist ihnen jedoch die sie konstituierende Beziehung zu einzelnen und konkreten Handlungsanforderungen der Kirchenleitung. Daß es bestimmte Bedürfnisse der Kirchenleitung sind, die die „Form" der Philosophischen Theologie begründen, hat Schleiermacher auch dadurch deutlich gemacht, daß er beide Subdisziplinen auf die „Leistungen" (KD § 66 Zs.) zurückführt, die sie zu erbringen haben: Apologetik und Polemik werden nur „um dieser [sc. Leistungen] willen aufgestellt" (KD § 66 Zs.). Damit bringt der Begriff der „Leistungen"223 den Bezug beider Subdisziplinen zur Praxis der Kirchenleitung zum Ausdruck. Denn unter „Leistungen" versteht Schleiermacher bestimmte einzelne Maßnahmen und Handlungen der Kirchenleitung: als Beispiel für apologetische „Leistungen" nennt er etwa - in Über221 Vgl. oben S. 95f. 222 Vgl. ThEnz. 44,16-25: „Hier ist der Sprachgebrauch vom Angriff hergenommen, wie vorher von der Vertheidigung. Hier ist aber dieses rein zurückgeführt auf die § 35 angegebenen Untersuchungen, nämlich die Principien aufzustellen zur richtigen Würdigung der einzelnen Zustände des Christenthums, um herauszubringen, was Gesundheits- und was KrankheitsZustand ist. [...] Beziehen wir diese Functionen auf die Kirchenleitung, so ist es zum Behuf der innern Kirchenleitung nothwendig, zu erkennen, was weiter ausgebildet, und was ausgemerzt werden muß, und die Erkenntniß des Leztren ist Geschäft der Polemik." 223 Vgl. KD §§ 66 Zs. 68 Zs.; ThEnz. 70,39; 71,5.16.18; 72,7.8f; 73,13.19.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
nähme des traditionellen Sprachgebrauchs - die Werke der frühchristlichen Schriftsteller Justin und Athenagoras. 224 Von diesen Tätigkeiten sind die um ihretwillen aufgestellten Theorien aber „wohl zu unterscheiden" ( K D § 66 Zs.): Sie gehören in das Gebiet der Praxis und sind „immer geschichtlich bedingt und einzelne" 225 . Daher sind sie ein Gegenstand der „Technik", die in der Praktischen Theologie zu entwickeln wäre. 226 Spezifische Relevanz als disziplinbegründende Maßnahme erhalten die „Leistungen" der Philosophischen Theologie aber erst durch die „sociale Beziehung" 2 2 7 des Christentums. 228 Diesen Zusammenhang hat Schleiermacher für den Gegenstand der Apologetik folgendermaßen erläutert: Der Gehalt der Philosophischen Theologie, die Wesensbestimmung des Christentums, ist deswegen in der formalen Eigenständigkeit einer theologischen Disziplin zu entfalten, weil die mit dem Eintreten des Christentums in die geschichtliche Vielfalt der Religionen gegebene Konkurrenzsituation 229 eine verteidigende Darlegung des Wesens des Christentums erfordert. Die Ausbildung der 224 Vgl. ThEnz. 73,14. Nach der Rubrizierung der Praktischen Theologie fallen diese schriftstellerischen Tätigkeiten (vgl. K D §§ 332-334) in das Gebiet des „ungebundene[n] Elements]" der Kirchenleitung ( K D § 328). 225 ThEnz. 70,40. Für sie ergeben sich „Veranlassungen nur von Zeit zu Zeit" ( K D § 68 Zs.). Wegen dieser Individualität apologetischer und polemischer „Leistungen" kann es hier ein „Minimum" (ThEnz. 72,6) der Unterscheidung von Virtuosität und Gemeinbesitz geben (vgl. oben S. 75, Anm. 16); im Gebiet der eigentlichen Wissenschaft der Philosophischen Theologie ist dagegen „eine solche Theilung ganz unzuläßig" (ThEnz. 72,11). 226 Vgl. ThEnz. 70,40-71,2. Auch K D §§ 39 Zs. und 40 Zs. verweisen die „klerikalische [...] Ausübung" (§ 39 Zs.) der apologetischen und polemischen „Leistungen" in die Praktische Theologie. Auffälligerweise wird aber diese Bestimmung in der Entfaltung der Praktischen Theologie selbst an keiner Stelle aufgenommen: Weder findet sich im Zusammenhang der Missionsthematik ( K D §§ 296-298) eine Erwähnung der Apologetik (obwohl Schleiermacher die auf sie zurückgehende „Praxis" explizit dem „MissionsWesen" zugeordnet hat, vgl. ThEnz. 44,9-14), noch wird etwa die mögliche „Opposition in den Gemeinen" (KD § 320), gegen die die kirchliche Autorität (vgl. K D §§ 315-327) anzugehen hat, auf einen der polemischen Begriffe „Separatismus" ( K D § 57) oder „Schisma" (KD § 58) zurückgeführt. 227 ThEnz. 42,38; vgl. auch ThEnz. 49,3; 52,13; 71,10. 228 Vgl. ThEnz. 71,9-12: „Die Bezeichnung Apologetik und Polemik sind erst aus der socialen Stellung des Christenthums hervorgegangen, und eben dadurch haben auch die Elemente dieser Wissenschaften ihre Gestaltung bekommen." 229 Diese Situation besteht aber seit der Entstehung des Christentums. Der Gedanke der „socialen Beziehungen" legt also keine historisch identifizierbare Entwicklungsstufe des Christentums fest, auf der die Ausbildung der Apologetik unabdingbar geworden wäre; vielmehr ist das Christentum „von Anfang an" angegriffen worden (ThEnz. 42,36f; vgl. ThEnz. 43,21 f. 32f), und dieser historische Umstand stellt den sachlichen Grund für die Nötigung zur Apologie und zur Apologetik dar.
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Apologetik als einer eigenen Subdisziplin hat also darin ihren Grund, daß die durch die „socialen Verhältnisse" 230 erforderlich gewordenen Legitimations-„Leistungen", je differenzierter und dringlicher sie werden, zu ihrer Optimierung eine sie theoretisch fundierende theologische Disziplin benötigen. Ohne eine solche Begründung besäße die Thematik der Wesensbestimmung nicht die Dignität einer eigenen Disziplin und könnte in der Dogmatik-Einleitung behandelt werden. 231 Daher kann von den apologetischen und polemischen „Leistungen" gesagt werden, daß die beiden Disziplinen Apologetik und Polemik „in ihnen ihre Bestimmung vollenden." 232 Damit ist allerdings nicht gemeint, daß der praktische Zweck apologetischer und polemischer „Leistungen" allein ausreicht, die Philosophische Theologie insgesamt nach Inhalt und Gliederung vollständig zu begründen.233 Viel230 Der Ausdruck meint hier in erster Linie die Außenbeziehungen des Christentums zum „Gebiete der Philosophie oder andrer Religionen" (ThEnz. 52,14f). Diese konkurrierenden Ansprüche bestehen deswegen, weil „die Religion sich in einer Mehrheit von Gesellschaften verwirklicht hat" (ThEnz. 49,4f). Im Blick auf die „Leistungen" der Polemik, die Schleiermacher in diesem Zusammenhang nicht expliziert, sondern lediglich erwähnt (vgl. ThEnz. 71,9), läßt sich aber der Begriff „social" auch auf die inneren Verhältnisse des Christentums ausdehnen. Polemische „Leistungen" sind dann praktisch wirksame Korrekturen geschichtlicher Fehlentwicklungen quantitativer oder qualitativer Art (vgl. ThEnz. 62,35f zu K D § 54), die einer disziplinarischen Aufstellung von Prinzipien zur Beurteilung solcher Fehlentwicklungen bedürfen. Hierbei spielt aber - i . U . zur Begründung der Apologetik, die eine Bestreitung des Christentums „von Anfang an" voraussetzen kann (ThEnz. 42,36f) die geschichtliche Entwicklung des Christentums eine Rolle, weil Schleiermacher zufolge krankhafte Erscheinungen erst bei einem bestimmten Komplexitätsgrad einer geschichtlichen Größe zur Ausprägung kommen (vgl. K D § 83). 231 Vgl. ThEnz. 43,19-24: „Daß nun aber die Apologetik nicht blos die Einleitung zur Dogmatik bildet sondern eine eigne Disciplin, dieß hat seinen Grund lediglich in dem historischen Umstand, daß das Christenthum von Anfang an ist angegriffen worden. Sonst wäre die Apologetik nur der Anknüpfungspunkt der Dogmatik an die ReligionsPhilosophie." In diesem Zusammenhang erörtert Schleiermacher weiterhin die Frage, ob angesichts der „welthistorischefn] Geltung" des Christentums die „Untersuchungen über das Wesen des Christenthums ihren ursprünglichen Plaz" (ThEnz. 43,35-38) wieder einnehmen sollten, weil Angriffe gegen das Christentum nicht mehr im eigentlichen Sinne zu erwarten seien. Auch unter diesen Bedingungen sei es jedoch sinnvoll und geboten, die Apologetik als besondere Disziplin weiterbestehen zu lassen, denn solange „speculative [...] Gegner" entweder die Religion selbst oder die Eigentümlichkeit des Christentums in Frage stellten, gebe es statt der praktischen Bedrohung des Christentums einen „theoretische[n] Widerspruch" gegen dasselbe, der sich zwar nicht gegen die „äussere Existenz" aber doch gegen die „innern Fundamente" richte (ThEnz. 43,39-44,7). Daher betrachtet Schleiermacher die Behandlung der Apologetik in der Dogmatik-Einleitung grundsätzlich als eine Behelfslösung; vgl. ThEnz. 73,26-34. 232 ThEnz. 71,6; vgl. K D § 66 Zs. 233 Vgl. T h E n z . 70,35-37.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
mehr verdankt sich die Konstitution der Aufgabe der Philosophischen Theologie einer über die „Leistungen" hinausgehenden prinzipiellen Begründung aus der Notwendigkeit theologischer Kenntnisse für eine „zusammenstimmende Leitung" (KD § 5) der Kirche. Daß aber diese Aufgabe in der Gestalt zweier Subdisziplinen zu bearbeiten ist, dafür stellen die ihnen zugrundeliegenden praktischen „Leistungen" die notwendige und hinreichende Bedingung dar. 234 b) Das Verhältnis zwischen Apologetik und Polemik Als elementare Gemeinsamkeit von Apologetik und Polemik ist zunächst festzuhalten, daß sie beide als Bestandteile der einen Disziplin „philosophische Theologie" fungieren, die durch sie vollständig definiert ist.235 Das gemeinsame Zentrum der beiden Subdisziplinen ist daher mit der allgemeinen „Inhalts"-Angabe der Philosophischen Theologie 236 identisch: „Der gemeinsame Centraipunkt beyder Wissenschaften ist die Aufstellung vom Wesen des Christenthums" (ThEnz. 69,5f).237 Von diesem einheitlichen Mittelpunkt aus238 schlagen nun die beiden Subdisziplinen ihrem unterschiedlichen „Inhalt" gemäß eine je verschiedene „Richtung" (KD § 63 Zs.) ein: daraus ergibt sich ihr Verhältnis zueinander. Was ihre inhaltliche Differenz angeht, so sind Apologetik und Polemik, weil sie auf unterschiedliche Handlungsziele der Kirchenleitung hin konzipiert sind, mit unterschiedlicher Thematik ausgestattet. Denn „die Apologetik hat es zu thun mit der Darlegung des eigenthümlichen Wesens des Chri234 Vgl. ThEnz. 71,18-20: „daß sie nur um dieser Leistungen willen aufgestellt werden, gilt von ihrer Aufstellung in dieser bestimmten Gestalt als Apologetik und Polemik." (Hervorhebungen M.R.) 235 Vgl. KD 1 15 § 19: Die Philosophische Theologie enthält „die Principien der Apologetik und der Polemik, und ist in diesen ganz beschlossen." 236Vgl. oben III.l. 237 Vgl. ThEnz. 68,25f: „da sie beyde von einem Punkte, der Bestimmung des Wesens des Christenthums ausgehen"; vgl. auch ThEnz. 72,11-13. 238 Auf diesen Zusammenhang von Apologetik und Polemik in ihrem Verhältnis zum Zentrum der Philosophischen Theologie hat bereits der anonyme Rezensent der „Kurzen Darstellung" in der Neuen Leipziger Literatur-Zeitung 1812 aufmerksam gemacht: Er identifiziert (S. 815f) die Philosophische Theologie im Sinne Schleiermachers als „Kritik" und fährt dann fort: „Die religiöse Kritik aber wird nun zur Apologetik, indem sie die Wahrheit der Religionsidee in dem geschichtlich Gegebenen nachweiset, und zur Polemik, in wiefern sie bemüht ist, das Letztere von dem in ihm befindlichen Anomalischen und Krankhaften zu reinigen." Zur Zentralstellung der Wesensbestimmung vgl. auch Stalden Grundlinien, 75 Anm. 94: „In der Mitte steht also immer das zu bestimmende »Wesen des Christentums«."
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stenthums im Verhältniß zu andern Glaubensweisen. Die Polemik hat es zu thun mit der Abschätzung der einzelnen Momente in der Geschichte des Christenthums in Beziehung auf ihren negativen oder positiven Werth" (ThEnz. 47,30-34). Wegen dieser Verschiedenheit der Aufgabenstellung müssen Apologetik und Polemik auch unterschiedliche „Richtungen" nehmen 239 : Daß sich die Apologetik nach außen wendet, geht bereits aus ihrer Definition als eine verteidigende Darstellung des Wesens des Christentums hervor. 240 Ausführlicher muß dagegen begründet werden, daß die Polemik „durchaus nach innen" (KD § 41) gerichtet ist, weil die ihr üblicherweise zugewiesene Richtung die äußere ist.241 Schleiermacher lehnt aber sowohl eine protestantische Polemik gegen den Katholizismus 242 als auch eine christliche Polemik gegen Nichtchristen243 ab. Denn eine Bekämpfung von Gegnern des Christentums könnte nur zwei Ziele haben, die beide als für die Polemik illegitim erweisbar sind 244 : Entweder eine Bekehrung dieser Gegner, die aber auf dem Mißverständnis einer Andemonstrierbarkeit des Christentums beruhte und deswegen kein sinnvolles Ziel sein kann. 245 Oder eine Verminderung ihres schädlichen Einflusses auf die „KirchenGlieder" (ThEnz. 45,33) durch den Nachweis der Rechtmäßigkeit des Christentums; dies wäre aber bereits eine apologetische „Leistung". 246 Der einzig angemessene Gegenstandsbereich der Polemik sind also innerkirchliche Zustände. Unbeschadet der Verschiedenheiten ihrer „Richtungen" und „Gebiete" (KD 1 22 § 1) stehen Apologetik und Polemik aber in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis.247 Denn weil die Geschichte der christlichen Kirche, die der Apologetik für ihre Wesensbestimmung 239 Vgl. KD § 41; ThEnz. 45-47. 240 Vgl. ThEnz. 45,11-13; 46,21 f. 241 Vgl. ThEnz. 45,27f. 242 Zu dieser Umdeutung der klassischen kontroverstheologischen „Polemik" vgl. unten S. 131f sowie S. 218f. 243 Hier erwähnt Schleiermacher - der zeitgenössischen Debatte entsprechend - einerseits die Vertreter einer anderen Religion und andererseits die Bestreiter der positiven Religion bzw. der Frömmigkeit überhaupt (vgl. KD § 22 Zs.), also „Juden [...] Deisten und Atheisten" (KD § 41 Zs.). 244 Vgl. ThEnz. 45,28-46,4. 245 Daher könnte eine solche Missionstheorie (vgl. ThEnz. 45,38) auch in der Praktischen Theologie nur „schwerlich [...] als heilsam" anerkannt werden (KD § 41 Zs.). 246 Vgl. ThEnz. 46,29-32. 247 Vgl. KD § 63.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
vorgegeben ist, immer auch die geschichtlichen Entstellungen der Idee des Christentums enthält, läßt sich das Wesen des Christentums nur dann exakt auffinden, wenn die polemischen Beurteilungsprinzipien vorausgesetzt werden können.248 Diese basieren aber ihrerseits auf einer eindeutigen Formel für das Wesen des Christentums, so daß beide Disziplinen die Ergebnisse der je anderen voraussetzen.249 Aus diesem Verhältnis ergibt sich als Konsequenz, daß Apologetik und Polemik in ihrer Entwicklung auf einander angewiesen sind: Sie können sich nur „durcheinander und miteinander" (KD § 64) entfalten. Beide Disziplinen müssen also gleichermaßen vorangetrieben werden, weil sich keine unabhängig von der anderen entwickeln kann. Wegen des unregelmäßigen Charakters jeder Entwicklung250 kann es aber auch hier nur zu einer „unendliche[n] Approximation" (ThEnz. 69,9f) kommen.251 Stehen sich somit durch ihr wechselseitiges Bedingungsverhältnis252 Apologetik und Polemik relativ gleichberechtigt gegenüber, so be248 Vgl. ThEnz. 68,29-34. 249 Vgl. KD § 63 Zs. Dieses Zirkelverhältnis ist bereits in der Struktur des Subsumtionsakt und Kontrollvorgang umfassenden „kritischen" Verfahrens begründet; vgl. dazu oben III.2.a). 250 Vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 32 Zs. DA 2 92 (DJ 209 dort § 261), wo Schleiermacher betont, daß „alle Entwiklungen stoßweise gehen". 251 „[...] weil ein völlig gleichmäßiges Fortschreiten nie zu denken ist" (ThEnz. 69,10f). 252 Dieses Verhältnis zweier einander jeweils voraussetzenden Disziplinen oder Verfahrensweisen stellt einen charakteristischen Zug des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems dar: Es besteht sowohl zwischen den beiden Teilen der Dialektik insgesamt (vgl. Dial 1814/15, Einl. §§ 83f DA 2 15 (DJ 37)) als auch insbesondere in ihrem zweiten technischen Teil zwischen Konstruktion und Kombination des Wissensprozesses (vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 6 DA 2 77 (DJ 181f dort § 235)), zwischen Begriffs- und Urteilsbildung der Konstruktion (vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 4 DA 2 76 (DJ 178f dort § 233)) sowie zwischen heuristischem und architektonischem Verfahren (vgl. Dial 1822 (Ns.), 85. Stunde, DO 456f). Auch beispielsweise Hermeneutik und Kritik stehen in diesem Verhältnis (vgl. HuKF 71,2-15 (Ms. und Ns.); HK 2 73 (Anm. 1812). 159. Ebenso hat die Rekonstruktion der Wesensbestimmung ergeben, daß deren Bestandteile „Subsumtionsakt" und „Kontrollvorgang" in diesem Verhältnis stehen. Innerhalb der Theologie schließlich besteht es etwa zwischen Philosophischer und Historischer (vgl. unten S. 135ff) sowie zwischen der „practischen" und der „scientifischen" Theologie (vgl. oben S. 65). Die Häufigkeit dieser Verfahrensstruktur ist aber nicht das Ergebnis einer formalistischen Marotte, sondern findet eine erkenntnistheoretische Verankerung im Verfahren der Begriffsbildung, das seinerseits dieser Struktur unterworfen ist, sie aber zugleich begründet. Denn gehaltvolle Begriffe, die ein Wissen ermöglichen, können nicht anders als in der Doppelgestalt von Induktion und Deduktion gebildet werden: „So ist alles Wissen durch beide Prozesse und jeder durch den andern bedingt" (Dial 1811 (Ms.), 43. Stunde, DA) 51 (DJ 351); vgl. Dial 1814/15, T1.2 § 56 DA 2 101 (DJ 241 dort S 285)).
3. Apologetik und Polemik
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steht zwischen ihnen im Blick auf ihren Bezug zur Kirchenleitung ein Verhältnis der Asymmetrie. Denn beide Disziplinen sind zwar auf bestimmte Ziele der Kirchenleitung bezogen. Aber nicht nur das jeweilige Handlungsziel selbst ist für beide Disziplinen verschieden253; vielmehr stehen auch die zu begründende Disziplin und das begründende Ziel der Kirchenleitung in jeweils unterschiedlich enger Verbindung: Während in den Formulierungen KD § 39 die apologetischen Untersuchungen über das Wesen des Christentums lediglich die „Grundlage" für ein bestimmtes Handeln der Kirchenleitung bilden, besteht die Polemik bereits in einer „Anwendung" (KD § 40) der Darstellung des Wesens des Christentums, indem diese für die kirchenleitende Tätigkeit der kritischen Beurteilung des gegenwärtigen Zustands der Kirche fruchtbar gemacht wird. 254 Die Polemik bildet damit eine direktere Unterstützung für das Handeln der Kirchenleitung, während umgekehrt die Apologetik dem gemeinsamen „Centraipunkt" (ThEnz. 69,5) beider Disziplinen, der Wesensbestimmung, nähersteht 255 . Eine Erklärung für diese Asymmetrie zwischen Apologetik und Polemik im Verhältnis zum Thema der Philosophischen Theologie einerseits und zur Kirchenleitung andererseits ergibt sich aus der Betrachtung der unterschiedlichen Konstitutionsweise beider Disziplinen. Denn die der Polemik zugrundeliegende zweite Aufgabe der Philosophischen Theologie stellt der Sache nach kein eigenständiges Verfahren dar, sondern ist ein Bestandteil der Wesensbestimmung, der nur aufgrund der Positivität der Philosophischen Theologie eine relative Eigenständigkeit erhalten hat. 256 Und der in dieser Positivität 253 Nämlich „Wahrheitsüberzeugung zur Anerkenntnis bringen" einerseits und „krankhafte Abweichungen ins Bewußtsein bringen" andererseits (KD §§ 39 und 40). 254 Darüber hinaus scheint Schleiermacher die Relevanz des jeweiligen Handlungszieles innerhalb des kirchenleitenden Handelns verschieden zu bewerten, wie die unterschiedlichen Formulierungen („auch": § 39; „zunächst": § 40) vermuten lassen. 255 Daher finden sich Formulierungen, in denen der Ausdruck „Darstellung des Wesens des Christentums" sowohl die Thematik der Philosophischen Theologie als auch die Aufgabe ihrer spezifisch apologetischen Fassung beschreibt: „Wenn das Wesen der philosophischen Theologie darinn besteht, das Wesentliche der christlichen Religion und Gemeinschaft im Gegensaz zu andern zur Darstellung zu bringen" (ThEnz. 26,32-34); „die Apologetik hat es zu thun mit der Darlegung des eigenthümlichen Wesens des Christenthums im Verhältniß zu andern Glaubensweisen" (ThEnz. 47,30-32). Ein Unterschied besteht allenfalls darin, daß bei der Beschreibung der Aufgabe der Philosophischen Theologie neben dem Wesensbegriff noch die „Gemeinschaft" genannt wird. Damit ist zumindest angedeutet, daß die Philosophische Theologie insgesamt in der Wesensbestimmung nicht aufgeht, sondern sich auch der Gemeinschaft in deren konkreten geschichtlichen Zuständen zu widmen hat. 256 Vgl. oben S. 95f.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
zur Geltung gebrachte Bezug zur Kirchenleitung, die über Prinzipien zur Beurteilung des Zustande der Kirche verfügen muß, begründet zugleich die Polemik als eigenständige Subdisziplin, indem dadurch dem Bedürfnis Rechnung getragen wird, krankhafte Abweichungen von der Idee des Christentums als solche zu identifizieren.257 Daher steht die Polemik der Kirchenleitung grundsätzlich näher, während die Apologetik, deren Aufgabe aus dem gemeinsamen „Inhalt" (ThEnz. 23,36) der Philosophischen Theologie ohne nochmalige Berücksichtigung kirchenleitender Erfordernisse begründet wurde, eine größere Nähe zu diesem „Inhalt", der Wesensbestimmung des Christentum, aufweist. Die erwähnte Asymmetrie liegt also in der Konsequenz sowohl der ungleichartigen Konstituierung der beiden Aufgaben der Philosophischen Theologie als auch der unterschiedlichen Begründung ihrer beiden Subdisziplinen Apologetik und Polemik.
4. Allgemeine und spezielle Philosophische Theologie Die bisherige Betrachtung der Philosophischen Theologie beschränkte sich auf deren Verhältnis zum Christentum und zur christlichen Kirche überhaupt. Es ist aber „doch noch eine neue Forschung aufgegeben" (ThEnz. 40,7), weil innerhalb des Christentums eine weitere Unterscheidung zu berücksichtigen ist: der konfessionelle Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus.258 Dieses „Faktum" (ThEnz. 40,7ff) wird von Schleiermacher auf dem Hintergrund geschichtlicher Gegensatzbildungen überhaupt gedeutet. Dabei geht er davon aus, daß im Ursprung des Christentums noch keinerlei Gegensätze aufzufinden sind, weil es sich von einem einzelnen und einheitlichen Punkte aus gebildet hat.259 Sobald es aber ein Minimum an Verbreitung und Ausdifferenzierung 257 Vgl. oben S. 118f. 258 Die Berücksichtigung dieser Differenz gehört zwar bereits zur Beschreibung der philosophisch-theologischen Aufgaben (vgl. ThEnz. 40,5); sie ist aber der Übersichtlichkeit halber bisher ausgeblendet worden. Ein solches Vorgehen ist zudem dadurch gerechtfertigt, daß die durch den konfessionellen Gegensatz indizierte Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Philosophischer Theologie deren Auffächerung in Apologetik und Polemik unterzuordnen ist: „die 2 Disciplinen sind getrennt vorhanden, während der andre Unterschied nicht so hervortritt" (ThEnz. 47,28f)· 259 Vgl. ThEnz. 60,33-35: „In dem Christenthum ist die Einheit das Ursprüngliche gewesen, es ist von einem einzigen Punkte, von Christo ausgegangen, und namentlich sind die jezigen Gegensäze erweislich späteren Ursprungs."
4. Allgemeine und spezielle Philosophische Theologie
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erlangt hat, sind „der Geschichte zufolge" (ThEnz. 61,23) im Christentum Gegensätze verschiedenster Art entstanden. 260 Daß sich also überhaupt Gegensätze im Christentum bilden und gebildet haben, ist ein durchgehender geschichtlicher Zug; die Art und Weise der Gegensatzbildung ist aber selbst wiederum Wandlungen unterworfen: die Divergenzen können verschiedenartig gestaltet sein.261 Eine solche diachrone Abfolge von Gegensätzen impliziert aber die Möglichkeit des Verschwindens eines von einem anderen gefolgten Gegensatzes, wenn der folgende nicht nur eine „Unterabtheilung des ersten" (ThEnz. 61,26f), sondern eine eigene Gestaltung sein soll.262 Daher ist die Geltung eines Gegensatzes ihrerseits der geschichtlichen Entwicklung unterworfen: Keine divergente Entwicklung innerhalb des Christentums kann als grundsätzlich feststehend betrachtet werden; zumindest die Möglichkeit einer Konvergenz ist immer gegeben.263 Jeder bestehende Gegensatz kann also auch wieder abnehmen und muß als potentiell vorübergehend aufgefaßt werden. 264 Die ganze Geschichte des Christentums läßt sich somit als „an einem solchen Faden" 265 von einander ablösenden Gegensätzen verlaufend deuten. In diese Reihe der die Geschichte des Christentums bestimmenden Gegensätze ordnet Schleiermacher nun auch das Nebeneinanderbestehen von Katholizismus und Protestantismus ein.266 Der konfessionelle Gegensatz wird damit so interpretiert, daß beide Konfessionskirchen als einzelne Ausprägungsformen des Christentums erscheinen: sie sind
260 So erwähnt die Vorlesungsnachschrift etwa den „Streit" (ThEnz. 61,6) „zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche" (ThEnz. 60,40). Noch allgemeiner hat Schleiermacher diesen Gedanken in seinem „Zusaz" zur zweiten Auflage der Reden „Über die Religion" (R2 (1806) 363-372, ed. Pünjer 300-303) formuliert: „Seitdem das Christenthum besteht hat fast immer irgend ein stark hervortretender Gegensaz innerhalb desselben bestanden." (R2 (1806) 366, ed. Pünjer 301) 261 Vgl. ThEnz. 40,21-24. 262 Denn es kann nie ein „Gegensatz an die Stelle eines anderen treten, ohne daß jener vorher verschwunden wäre" (KD § 52 Zs.). 263 Vgl. R 2 (1806) 366, ed. Pünjer 301: Jeder Gegensatz hat „jedesmal, wie es sich gebührt, Anfang Mitte und Ende gehabt, [...] bis der ganze Gegensaz in einen andern, der sich während dieser Abnahme zu entwikkeln angefangen hat, endlich völlig verschwunden ist." 264 Vgl. ThEnz. 61,27fr „Daraus folgt, daß man, sowie ein Gegensaz gegeben ist, auch die Möglichkeit seines Verschwindens denken muß [...]." Vgl. auch CG 2 § 23.2, Bd. I, 135,12-15. 265 R 2 (1806) 366, ed. Pünjer 301 266 Vgl. ebd.: „so bilden jezt Protestantisches und Katholisches den herrschenden Gegensaz".
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
„individuelle Gestaltungen des Christentums" 267 , „in deren jede[r] die Idee des Christenthums auf eine eigenthümliche Weise ausgesprochen ist" 2 6 8 . Und auch innerhalb dieser eigentümlichen Gestaltungen können sich Gegensätze Geltung verschaffen: So ist nach Schleiermachers Auffassung auch der Protestantismus selbst keine vollständig einheitliche Erscheinung, sondern ist durch ein „Verhältniß des auseinanderhaltenden und des einigenden Bestrebens" 269 gekennzeichnet. Im Vergleich mit dem konfessionellen Gegensatz selbst sind die daraus resultierenden Unterschiede jedoch „eine Kleinigkeit" 270 . Die innerprotestantischen Differenzen bilden in diesem Falle also eine „Unterabtheilung" (ThEnz. 61,26f) des Gegensatzes zwischen Protestantismus und Katholizismus. Welche Auswirkungen hat nun das „Faktum" (ThEnz. 40,7) der Teilung des Christentums in zwei Kirchengemeinschaften auf die Gestaltung der Philosophischen Theologie? Sie ist von diesem geschichtlich-kontingenten Sachverhalt insofern betroffen, als beide Parteien „auf denselben Namen, christliche zu sein, Ansprüche machen" ( K D § 36). Besteht dieser Anspruch jeweils zu Recht 271 , dann stehen die beiden christlichen Konfessionen zueinander in demselben Verhältnis wie auf einer höheren Abstraktionsebene die verschiedenen positiven Religionen: Sie bilden zwei individuelle Ausprägungen 267 Clemen: Vorlesung, 236,26 268 R 2 (1806) 366, ed. Pünjer 301. Neben dieser Deutung finden sich jedoch auch Aussagen Schleiermachers, nach welchen der Katholizismus „der Siz der Mißbräuche [ist], von welchen der Protestantismus sich losgemacht hat" (ThEnz. 61,19f). Zu dieser „Doppelung der Betrachtung" des konfessionellen Gegensatzes (H.-J. Birkner: Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel, in: H.-J. Birkner/H. Liebing/K. Scholder (Hgg.): Das konfessionelle Problem in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, SGV 245/246, Tübingen 1966, 7-20, 12) vgl. unten S. 188. 269 An Ammon 86, K G A 1/10, 87,24f. Im Schlußteil seiner Streitschrift gegen den sächsischen Oberhofprediger Ammon stellt Schleiermacher in einem historischen Exkurs grundsätzliche Betrachtungen zum Verhältnis der beiden protestantischen Kirchen zueinander an (vgl. dazu H.-F. Trauisen: Schleiermacher und Claus Harms. Von den Reden „Uber die Religion" zur Nachfolge an der Dreifaltigkeitskirche, SchlA 7, Berlin/New York 1989, 170-173). Zur Bedeutung dieser Schrift für Schleiermachers Auffassung des Protestantismus vgl. auch seine Selbsteinschätzung, derzufolge „in der Ammonschen Streitschrift das Wesen des protestantischen Glaubens sehr klar ausgesprochen" sei (Briefe Meisner, 293f; 31.1.1819, an A. Dohna). 270 An Ammon 19, K G A 1/10, 34,23 271 Die Uberprüfung dieser Ansprüche ist bereits Bestandteil der Wesensbestimmung des Christentums, denn „schon zum Behuf" dieser „ersten Aufgabe" müssen sie alle „jenem kritischen Verfahren anheimfallen" ( K D § 36 Zs.), das ja tendenziell die gesamte Geschichte des Christentums berücksichtigt und also alle sich als zum Christentum gehörig verstehenden Zustände zu überprüfen hat.
4. Allgemeine und spezielle Philosophische Theologie
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des Christentums, wie dieses zusammen mit den übrigen positiven Religionen eine Darstellung des Wesens der Frömmigkeit ist.272 Daher sind also alle Untersuchungen, die in allgemeiner Form und beide Parteien betreffend das Christentum zum Gegenstand hatten, in einer „besondre[n] Anwendung" (ThEnz. 41,1) auf die Eigentümlichkeiten der beiden Kirchenparteien zu beziehen 273 , so daß es in den protestantischen Kirchen neben einer allgemein-christlichen auch eine speziellprotestantische Philosophische Theologie geben muß: Es entstehen „dieselben Aufgaben" (KD § 36) bezüglich der eigenen Kirchenpartei. Allerdings kommt der Entsprechungsformel, derzufolge sich der Protestantismus zum Christentum wie dieses zur Frömmigkeit überhaupt verhält 274 , nur eine eingeschränkte Gültigkeit zu 275 ; an entscheidender Stelle besteht ein Unterschied zwischen den (positiven) Religionen und den (christlichen) Konfessionen: Die Religion kommt immer nur in geschichtlich individuellen Gestaltungen zur Erscheinung und bedarf also der verschiedenen positiven Formen, um überhaupt geschichtlich real zu sein.276 Das Christentum ist dagegen kein abstrakter Begriff, sondern selbst bereits eine geschichtliche Erscheinung, für die bestimmte innerhalb ihrer selbst auftretende Differenzen nicht wesentlich sind. Vielmehr können diese Gegensätze sich „abschleifen" (ThEnz. 62,14) und schließlich ganz verschwinden, während die Verschiedenheit positiver Religionen bis zum „Ende der Geschichte", wenn nämlich „die Differenz zwischen Innerlichem und der Erscheinung aufhört" (ThEnz. 62,6-8), bestehen bleiben wird. Der „Gegensaz der verschiedenen Religionsgemeinschaften" (ThEnz. 61,35f) hat also eine andere Bedeutung als die „Gegensäze innerhalb der christlichen Kirche" (ThEnz. 62,9). Dieser Unterschied macht sich denn bemerkbar auch in den Näherbestimmungen der speziellen Philosophischen Theologie einer je272 Vgl. KD 1 13 § 10: „Das Christenthum, wie jede Kirche, theilt sich selbst in Partheien, die unter sich im relativen Gegensäze stehn, und sich zur christlichen Kirche selbst verhalten, wie diese und andere gegebene Kirchen zur absoluten Idee der Kirche." Vgl. auch KD 2 § 50 Zs. 273 Denn alles, was von der Leitung der christlichen Kirche im allgemeinen gesagt wurde, gilt in gleicher Weise für die Kirchenleitung jeder der beiden Parteien. So benötigt also etwa das protestantische Kirchenregiment einen speziellen Begriff vom Wesen des Protestantismus sowie Beurteilungsprinzipien für dessen krankhafte Zustände. 274 Vgl. ThEnz. 57,23f. 275 Vgl. ThEnz. 61,34-62,8. 276Denn die Identität des religiösen Elements ist prinzipiell „in der Erscheinung [...] nur gegeben als ein Manchfaltiges" (ThEnz. 62,4f).
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
den Kirchenpartei, also auch der speziell-protestantischen. Denn aufs Ganze gesehen stimmen zwar allgemeine und spezielle Philosophische Theologie in Aufgabe und „Form" überein: Die letztere teilt sich ebenfalls in Apologetik und Polemik, die sich beide eng an die allgemeinchristliche Philosophische Theologie anzuschließen haben. 277 Innerhalb einer Kirchenpartei stehen aber allgemeine und spezielle Philosophische Theologie nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr beeinflußt die Konfessionsgebundenheit auch die jeweilige Auffassung vom Wesen des Christentums: Auch die allgemein-christliche Philosophische Theologie gestaltet sich im Protestantismus auf eigentümliche Weise und also anders als im Katholizismus, weil auch sie „von der Ansicht jeder besonderen Gestaltung des Christentums affiziert" ist (KD § 51). Denn die individuelle Ausprägung des Christentums kann nicht ohne Einfluß auf das Verständnis des ihm Wesentlichen bleiben: Auch die allgemeine Apologetik hat im Protestantismus einen spezifisch protestantischen Charakter, der aber abhängt von der Beeinflussung dieser Apologetik durch die Dogmatik als der Darstellung der in der Kirchenparte? 79 geltenden Lehre. 279 Und dieser Beeinflussung setzt Schleiermacher folgende Grenzen: Zwar kann die Darstellung des Wesens des Christentums nie gänzlich ihre protestantische Prägung verleugnen 280 , aber umgekehrt darf auch der Unterschied zwischen allgemeiner und spezieller Apologetik einer Kirchenpartei nicht nivelliert werden, so daß die andere nicht mehr als christlich anerkannt werden könnte. 281 Auch die „Richtungen" der speziell-protestantischen Apologetik und Polemik werden in Analogie zu ihren allgemein-christlichen Entsprechungen bestimmt; dies geschieht aber ebenfalls mit charakteristischen Abweichungen. Denn auch hier gilt zwar grundsätzlich die Orientierung der Apologetik „nach außen" und der Polemik „nach 277 Die spezielle Apologetik muß „denselben Gang einschlagen, wie die allgemeine" (KD § 50), denn „die Aufgabe ist dieselbe" (§ 50 Zs.); die spezielle Polemik hat „denselben Weg zu verfolgen, wie die allgemeine" (KD § 61): „Die Sachverhältnisse sind dieselben" (§ 61 Zs.). 278 Vgl. K D § 195; ThEnz. 182,33f; CG 1 § 11, KGA 1/7.1, 9,18-21. 279 Vgl. KD § 51 Zs. 280 Der Einfluß der Dogmatik auf die Apologetik ist also nie ganz zu eliminieren, und die „Differenzen" zwischen der allgemeinen Apologetik des Protestantismus und derjenigen des Katholizismus können somit „niemals ganz = 0 werden" (ThEnz.
60,16). 281 Damit wären nämlich die genannten Differenzen in der allgemeinen Apologetik beider Kirchenparteien „zu groß" (ThEnz. 60,19) geworden, und es fände eine „Vermischung der speciellen Apologetik mit der allgemeinen" statt, „wenn man nicht das
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innen", dabei ist jedoch zu beachten, daß „das Äussre und Innre ein andres ist bey der speciellen als bey der allgemeinen" (ThEnz. 45,26f). So hat sich die speziell-protestantische Apologetik gegen Angriffe der katholischen Kirche zu verwahren, indem sie den Protestantismus als eigene legitime Gestaltung des Christentum erweist.282 Die besondere Polemik der protestantischen Kirche kann sich dagegen nur auf innerprotestantische Mißstände beziehen; eine polemische Kritik des Katholizismus vom protestantischen Standpunkt aus lehnt Schleiermacher als ein unangemessenes „herüberziehendes Verfahren" (ThEnz. 46,16) ab.283 Und auch im Namen einer allgemein-christlichen Polemik kann die katholische Kirche von diesem Standpunkt aus nicht kritisiert werden: Zwar hat die Reformation selbst in einer solchen Kritik bestanden, diese war jedoch nach innen gerichtet und also eine legitime Form der Polemik, „weil die Reformatoren noch in derselben Kirche mit den Katholiken stunden" (ThEnz. 47,9f). Seit der Organisation eigener protestantischer Kirchen findet aber diese Auseinandersetzung nicht als Polemik, sondern als spezielle Apologetik statt 284 Eine gemeinsame allgemein-christliche Polemik beider Kirchenparteien kann es hingegen aufgrund der unterschiedlichen Beurteilung des konfessionellen Gegensatzes durch beide Konfessionen nicht geben. 285 Denn der Protestantismus erkennt zwar die katholische Kirche als Ausprägung des Christentums an; insofern diese ihn aber „als eine Häresie behandelt" (ThEnz. 45,19), ist das Umgekehrte nicht der Fall. Daher kann der Katholizismus eine allgemein-christliche Polemik geChristenthum überhaupt, sondern nur den Protestantismus als christlich geltend machen will" (ThEnz. 60,20-22). In der methodischen Terminologie der Wesensbestimmung müßte also die allgemein-christliche Apologetik des Protestantismus bemüht sein, einen „Standpunkt über" dem Protestantismus einzunehmen, um das Wesen des Christentums zu bestimmen. Im Katholizismus hingegen findet diese Unterscheidung nach Schleiermachers Ansicht gerade nicht statt, insofern dort „die Linie des Unterschieds [...] von häretisch und unchristlich fast verschwindet" (ThEnz. 60,24f). 282 Vgl. ThEnz. 46,7-10: „Die protestantische Kirche ist entstanden aus der Katholischen durch Opposition gegen die Mißbräuche. Aber wovon man dabey ausgegangen ist, das ist nur die richtige Anschauung der christlichen Kirche, und dieß ist eben das Apologetische." Vgl. Auch ThEnz. 47,13f. 283 Die traditionelle Bestimmung der Polemik als kontroverstheologisches Instrument verwirft Schleiermacher also mit derselben Begründung, die bereits eine allgemeine Polemik gegen Nichtchristen als unzulässig erwiesen hat (vgl. oben S. 123): Sie wäre eine missionarische Technik, die allenfalls „in die praktische Theologie als ein hypothetischer Theil derselben" gehörte (ThEnz. 46,18f). 284 Vgl. ThEnz. 47,10-14. 285 Vgl. ThEnz. 45,2-4.
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gen die protestantischen Kirchen führen, die im Protestantismus keine legitime Entsprechung hat. 286 Ausschließlich nach innen, und also auf sich selbst gerichtet ist demnach nur die spezielle Polemik des Protestantismus, die damit der Idee dieser Disziplin am genauesten entspricht.287 Zur „Vollkommenheit" 288 der speziell-protestantischen Philosophischen Theologie gehört schließlich die Berücksichtigung der Möglichkeit, daß der sie konstituierende konfessionelle Gegensatz seine Bedeutung verliert. Denn wie allen geschichtlichen Gegensätzen innerhalb des Christentums nur eine relative Geltungsdauer zukommt 289 , so gilt auch von der Teilung der Kirche in Protestantismus und Katholizismus, daß er „dazu bestimmt erscheint, wieder zu verschwinden" (KD § 53). Diesem Sachverhalt trägt die spezielle Apologetik dadurch Rechnung, daß sie die bestehenden Differenzen zwischen den Konfessionen möglichst genau zu erfassen sucht, um dabei die tatsächlich relevanten und wesentlichen Aspekte des Gegensatzes von möglichen Ubereinstimmungen zwischen Protestantismus und Katholizismus unterscheiden zu können. 290 Ensprechend gilt für die Polemik, daß ihre „höchste Aufgabe" (ThEnz. 67,35) darin besteht, Neubildungen innerhalb der Kirchengemeinschaft bereits im Ansatz als krankhafte Zustände zu identifizieren oder aber als legitimen Beginn eines neuen geschichtlichen Gegensatzes zu deuten.291 Diese „divinatorische" 292 Vorwegnahme der Aufhebung des konfessionellen Gegensatzes spielt auch in der Historischen und Praktischen Theologie eine Rolle: So vollendet sich eine dogmatischen Darstellung darin, daß sie „neben dem assertorischen auch divinatorisch ist" 293 , während die 286 Vgl. ThEnz. 45,17-23. 287 Darin hat eine Deutung der Schleiermacherschen Polemik ihr Recht, die diese Disziplin insgesamt als spezifisch protestantische Selbstkritik versteht: „Es handelt sich um die vom Wesen des Protestantismus unabtrennliche kritische Selbstbesinnung" (Hirsch: Geschichte Bd. V, 351). 288 KD § 53; vgl. § 62. 289 Vgl. ThEnz. 61,27f. 290Vgl. ThEnz. 62,12-16: „Es müssen also in der speciellen Apologetik diejenigen Punkte hervorgehoben werden in welchen die Gegensäze sich am meisten abschleifen, gegenüber von denen, in welchen sie noch am schroffsten sind, womit dann angedeutet ist, wo der Gegensaz am ersten schwinden wird." 291 Vgl. KD § 62; ThEnz. 67,35-68,9. Als Beispiel verweist Schleiermacher hier auf das „Auseinandertreten der Episcopalen und Presbyterianer" in der englischen Kirche (ThEnz. 67,37-68,3). 292 Vgl. K D SS 53. 202; ThEnz. 198,34; 207,10; 210,34. 293 KD S 202. Hier ist allerdings nicht ausschließlich der konfessionelle Gegensatz gemeint, sondern allgemeiner das „divinatorische Talent" (ThEnz. 192,22), zu unter-
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„höchste Vollkommenheit der praktischen Theologie" darin liegt, den konfessionellen Gegensatz so zu berücksichtigen, wie es diesem „zu seinem Kulminationspunkte angemessen ist" 294 . Damit hat sie Anteil am „divinatorischen" Charakter der Apologetik. 295 Dieser Hinweis auf die Beziehungen zwischen Praktischer und Philosophischer Theologie deutet jedoch bereits auf das Thema des nächsten Abschnitts.
5. Das Verhältnis der drei theologischen Disziplinen zueinander Mit der Einbeziehung auch des konfessionellen Gegensatzes in die Aufgabe der Philosophischen Theologie ist die Rekonstruktion ihrer inneren Verhältnisse abgeschlossen: Aufgabe, Methode, Funktion und Gliederung dieser Disziplin sind zureichend bestimmt und zur Darstellung gekommen. Damit können nunmehr ihre Beziehungen zu den beiden anderen theologischen Disziplinen in den Blick genommen werden; denn die Betrachtung der zwischen den drei Disziplinen bestehenden Verhältnisse ist geeignet, die bisherigen Bestimmungen von „Gehalt" und „Form" der Philosophischen Theologie zusätzlich zu erhellen. Diese Verhältnisse sollen im folgenden so dargestellt werden, daß - gemäß der im ersten Punkt innerhalb der Aufzählung von KD § 18 getroffenen Unterscheidung - zuerst „eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang" der drei Disziplinen gesucht wird, um daran anschließend den „eigentümlichen Wert eine[r] jeden für den gemeinsamen Zweck" zu betrachten. Daher sind zunächst die Beziehungen zwischen den drei theologischen Disziplinen und sodann deren jeweiliges Verhältnis zu ihrem gemeinsamen Konstitutionsgrund, der Kirchenleitung, zu untersuchen. scheiden, „was bald eine große Bedeutung" gewinnt von dem, „was bald antiquirt seyn wird" (192,21f). 294 KD § 338. Der Begriff „Kulminationspunkt", der sich also nicht erst in der Vorlesungsnachschrift, sondern bereits in der „Kurzen Darstellung" selbst findet (vgl. K. Nowak: Theorie der Geschichte. Schleiermachers Abhandlung „Uber den Geschichtsunterricht" von 1793, in: Meckenstock/Ringleben (Hgg.): Schleiermacher, 419-439, 431,12f), bezeichnet dabei denjenigen Punkt der geschichtlichen Entwicklung, auf dem der Gegensatz zu seiner vollen Entfaltung gekommen ist, sich aber dessen Uberwindung bereits ankündigt (vgl. KD § 93; ThEnz. 95-97; CG 2 § 23.2, Bd. I, 135,17. 37). Damit rückt er in die Nähe des modernen Begriffs der „Epochenschwelle", vgl. dazu Nowak: Theorie der Geschichte, 431. 295 Vgl. KD § 338 Zs.
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a) Der Zusammenhang der drei theologischen Disziplinen Bereits die Ableitung der drei theologischen Disziplinen aus dem funktionalen Bezug der Theologie zur Kirchenleitung 296 zeigt ein bestimmtes Verhältnis dieser Disziplinen zueinander, nämlich das einer „gestuften Fundierung" 297 : Die Kunstregeln der Praktischen Theologie setzen die Kenntnisse der Historischen voraus, die ihrerseits auf eine Grundlegung ihrer geschichtlichen Daten durch die Philosophische Theologie angewiesen ist. Dieses sukzessive Abhängigkeitsverhältnis läßt sich aus der Perspektive der Historischen Theologie so formulieren, daß die geschichtliche Kenntnis „Bedingung der Anwendung der praktischen Theologie ist, aber selbst nur vorhanden seyn kann mittelst der philosophischen Theologie." 298 Für den Gang des theologischen Studiums stellt daher die Historische Theologie den eigentlichen „Körper" dar, zu welchem die beiden anderen Disziplinen die „Übergänge" (ThEnz. 27,32) einerseits zur Wissenschaft und andererseits zur Kirche markieren. 299 Nach dieser Verhältnisbestimmung stehen sich Philosophische und Praktische Theologie als die beiden äußeren Pole der theologischen Wissenschaft gegenüber.300 Dabei besteht die Divergenz zwischen beiden Disziplinen in zweierlei Hinsicht: Zum einen unterscheiden sie sich aufgrund ihres jeweiligen theoretischen Status als „kritisches" und „technisches" Verfahren darin voneinander, daß die eine nach allgemeinen, wissenschaftlichen Konstruktionen zu verfahren hat, während die andere das Individuelle als Gegenstand der jeweiligen Ausübung berücksichtigen muß 301 : „wie die philosophische Theologie die Einheit des Wesens im Manchfaltigen [...] erkennt, so behandelt die praktische Theologie das gegebene Manchfaltige in Beziehung auf jene Einheit des Wesens" (ThEnz. 71,26-29). Diese Formulierung kann als grundsätzliche Beschreibung von Zusammenhang und Unterschied zwischen „Kritik" und „Technik" angesehen werden. Zum anderen stehen sich
296 Vgl. oben II.3. 297 Birkner: Reformprogramm, 68 298 ThEnz. 26,3-5. Entsprechend bezeichnet KD § 27 die Historische Theologie als „Begründung der praktischen" und „Bewährung der philosophischen Theologie". 299 Vgl. KD § 28. In der Erstauflage der „Kurzen Darstellung" hat Schleiermacher diese Beziehungen in die Metapher von „Wurzel" (KD 1 7 § 26) und „Krone" (KD 1 8 § 31; vgl. PrTh 26,10-13) gefaßt; vgl. zu diesem „botanischefn] Bild" Birkner: Reformprogramm, 69f. 300 Vgl. KD § 66 Zs. 301 Vgl. KD § 66 Zs.
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Philosophische und Praktische Theologie eben deswegen als „Erstes und Letztes" (KD § 66 Zs.) gegenüber, weil die eine den Gegenstand der Theologie, das Christentum und die christliche Kirche, „an philosophische Principien anknüpft" (ThEnz. 24,30f) und also theoretisch fundiert, während die andere den Zweck der Theologie, die Praxis der Kirchenleitung, zu ihrem Gegenstand hat. 302 Damit hat die Philosophische Theologie eine „rückwärtsgehende", die Praktische Theologie indessen eine dieser „entgegengesezte Richtung" (ThEnz. 24,29-32). In dieser Stufenfolge zwischen den drei Disziplinen ist nun die Beziehung zwischen Historischer und Praktischer Theologie hinreichend erfaßt, denn nur durch eine geschichtliche Fundierung können die praktisch-theologischen Kunstregeln ihr Zweckmäßigkeitskriterium erfüllen 303 , und darin geht die Funktion der Historischen für die Praktische Theologie vollständig auf. Eine nähere Betrachtung verdienen dagegen die Beziehungen der Philosophischen Theologie zu ihren Schwesterdisziplinen. Denn über das beschriebene lineare Beziehungsgefüge hinaus ist festzustellen, daß zum einen Philosophische und Historische Theologie untereinander in wechselseitiger Abhängigkeit stehen304 und zum anderen die Philosophische Theologie für die Praktische eine direkt normierende Funktion ausübt. 305 Diese Behauptung soll im folgenden dadurch erläutert und begründet werden, daß das Verhältnis der Philosophischen Theologie zur Historischen einerseits und zur Praktischen andererseits jeweils gesondert betrachtet wird. α) Philosophische und Historische Theologie Der prinzipielle Zusammenhang zwischen Philosophischer und Historischer Theologie ist Schleiermacher zufolge nicht einfach identisch mit den faktisch bestehenden Verhältnissen zwischen beiden Disziplinen. Denn diese sind dadurch gekennzeichnet, daß die Historische Theologie Themen und Funktionen der Philosophischen Theologie
302 Vgl. ThEnz. 24,31-34; PrTh 11,7-10. 303 Vgl. etwa die explizite Rückbindung der Theorie des Kirchenregiments an die historisch-theologischen Disziplinen Dogmatik, Kirchengeschichte und Statistik in KD § 310. 304 Vgl. K D SS 65. 252. 305 Vgl. etwa K D SS 260 Zs. 336.
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übernehmen muß 306 , weil sich letztere als eigenständige Disziplin noch nicht ausgebildet hat 307 und daher immer nur lückenhaft innerhalb der Historischen Theologie bearbeitet werden kann. 308 Vielmehr muß der prinzipielle Zusammenhang, der diesen unvollkommenen Verhältnissen gleichwohl zugrundeliegt, aus den grundsätzlichen Bestimmungen der Philosophischen wie der Historischen Theologie abgeleitet werden. Und aus ihnen ergibt sich, „daß beyde gegenseitig einander voraussezen" (ThEnz. 246,20f). Denn einerseits sind die apologetischen und polemischen „Untersuchungen" (KD § 65 Zs.) auf die Historische Theologie angewiesen: Ohne deren geschichtlichen „Stoff" (KD § 65) wären die Wesensbestimmung und die Beurteilung einzelner Zustände nicht gegen spekulative Willkür 309 gefeit und besäßen keinerlei empirische Grundlage. Andererseits setzt die Historische die Ergebnisse der Philosophischen Theologie voraus. Denn erst die dort aufgestellten Grundbegriffe befähigen die Historische Theologie zu einer Beurteilung und „Abschätzung" (ThEnz. 69,33) des geschichtlichen Materials. Dieses zirkuläre Verhältnis ist also mit demjenigen identisch, das bereits die Struktur der „kritischen" Wesensbestimmung innerhalb der Philosophischen Theologie kennzeichnete. 310 Und wie dort der wechselseitigen Abhängigkeit von Wesensformel und Erschließung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit durch den Rekurs auf einen allgemein plausiblen, vorläufigen Wesensbegriff Rechnung getragen wurde 311 , so wird hier der „Cirkel" (ThEnz. 246,24) dadurch aufgelöst, daß die Philosophische Theologie nicht die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte voraussetzt, sondern ebenfalls nur eine vorläufige Art der Geschichtskenntnis: die „Chronik". 312 306 Vgl. ThEnz. 249,7f: „Ihr Nichtauseinandergetreten seyn ist der gegenwärtige unvollständige Zustand"; vgl. auch ThEnz. 69,40-70,5. 307 Vgl. KD SS 29. 68. 254 Zs. Deswegen trägt ja die Philosophische Theologie in besonderem Maße programmatische Züge; vgl. oben 1.1. 308 Vgl. KD § 29. 309 Vgl. KD § 254 Zs. 310 Vgl. oben S. 84. 311 Vgl. oben S. 88. 312 Dabei handelt es sich um einen Grundbegriff in Schleiermachers Theorie der Geschichtsauffassung und -Schreibung, der Bestandteil seiner Überlegungen zu Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft innerhalb der „Kurzen Darstellung" (SS 149-159) ist und auch in seiner Vorlesung „Einleitung in das Studium der Kirchengeschichte" (vgl. das Manuskript von 1806, KG 623-631) eine Rolle spielt (vgl. KG 3f (Ns.). 623f (Ms. 1806)). Der Ausdruck „chronikmäßigefr] Vortrag" findet sich bereits in dem frühen Manuskript „Uber den Geschichtsunterricht" von 1793 (KGA 1/1, 495,9); vgl. dazu Nowak: Theorie der Geschichte.
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Dieser Ausdruck bezeichnet die „Darstellung der räumlichen Veränderungen als solcher in ihrer Gleichzeitigkeit und Folge". 3 1 3 Eine solche äußerliche Geschichtsdarstellung 314 unterscheidet sich von der eigentlichen, „organischefn]" 315 Betrachtung der Geschichte in dreierlei Hinsicht: Erstens verfügt die lediglich chronikalisch dargestellte Geschichte über keinen inneren Zusammenhang, sie ist ein bloßes „Aggregat der einzelnen Momente" 3 1 6 , also eine „atomistische Darstellung" 3 1 7 . Aufgrund dieser Isolierung geschichtlicher Zusammenhänge können dann aber geschichtliche Ereignisse nur als Zufall und völlige Beliebigkeit gedeutet werden. 3 1 8 Daher kann zweitens das so Dargestellte nicht erklärt oder verstanden, sondern nur zur Kenntnis genommen werden: Die geschichtlichen Ursachen und Motive entziehen sich der bloßen „Chronik". 3 1 9 Drittens schließlich ist die wirkliche Geschichtsdarstellung als an das „Künstlerische" 320 grenzende Tätigkeit anzusehen, während sich eine „Chronik" auf fast nur 313 K D § 153; vgl. ThEnz. 147,17f: „[...] wenn blos wiedergegeben wird, was an einem gewissen Ort, zu einer gewissen Zeit geschehen ist." 314 Als Beispiel für eine bloß „chronikartige" Geschichtauffassung nennt Schleiermacher die „Reihe der Päbste", als bloße Liste aufgeführt (ThEnz. 147,26f), aber auch eine Einteilung der Geschichte nach einem willkürlich bestimmten „Zeitmaaß", also etwa die seit Flacius übliche, aber zu Schleiermachers Zeiten bereits selbst der historischen Kritik anheimgefallene Zenturiengliederung (vgl. Nowak: Theorie der Geschichte, 428f): Eine solche ist „rein mechanisch und verräth chronikartiges, geistloses Wesen" ( K G 30,33f (Ns.)). 315 K G 5,19 (Ns.); vgl. 624,12 (Ms. 1806). 316 K G 4,23f (Ns.) 317 K G 2,33; 30,23 (Ns.) 318Denn wird ein geschichtliches Ganzes nur als „Aggregat von [...] Einzelheiten" angesehen, so folgt daraus, daß „jeder geschichtliche Moment [...] in der Zeitreihe etwas rein Zufälliges" sei (HuKF 304,33-37 (Ns.)); vgl. auch K G 623,19-21 (Ms.
1806).
319 Vgl. K G 623,22-24 (Ms. 1806). Ein Beispiel für dieses fehlende geschichtliche Verständnis führt Schleiermacher in seiner Darlegung der Grundsätze für eine dogmengeschichtliche Darstellung (vgl. K D §§ 177-183) an: Dort wird ( K D § 180) als ein wesentliches Merkmal für die Entwicklung des Lehrbegriffs in der Geschichte des Christentums das Auseinandertreten von biblischer und philosophischer Begründung der Lehre erwiesen. Wird nun in einer Darstellung der Dogmengeschichte das wechselhafte Verhältnis zwischen diesen beiden Begründungsmotiven nicht berücksichtigt (vgl. K D § 182), dann können zwar die Fakten der Lehrentwicklungen und -differenzen aufgenommen, aber nicht deren Motive verstanden und eingesehen werden. Damit verliert diese Dogmengeschichtsdarstellung ihren „geschichtlichen Charakter" und verkümmert zu einem „chronikalische[n] Skelett. Man weiß dann nun damals ist so gelehrt worden, und damals so, ohne Zusammenhang" (ThEnz. 171,4-6). 320 ThEnz. 146,4: Vgl. zur Individualität der geschichtlichen Konstruktion und Darstellung oben S. 93f.
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„mechanische"321 und jederzeit talentfreie Weise erstellen läßt. Der chronikalische Auszug aus der Geschichte muß daher auch in allen geschichtlichen Darstellungen identisch sein.322 Bildet also die „Chronik" als rein empirischer Zugang zur Geschichte allenfalls die Vorstufe zu einer wissenschaftlichen Geschichtsbearbeitung und -darstellung, so ist sie andererseits nicht völlig unbrauchbar, sondern kann als Ausdruck der geschichtlichen Kontinuität in eine Geschichtsdarstellung mit aufgenommen werden 323 oder für sie als Quelle fungieren. 324 Die „Chronik" liegt damit als geschichtlicher „Stoff" (KD § 65) der Philosophischen Theologie voraus. Doch erst deren geschichtliche Grundbegriffe ermöglichen es, diese vorläufige und für sich genommen unvollständige Art der Geschichtskenntnis 325 in eine „eigentlich geschichtliche Anschauung" (KD § 65) zu überführen. Denn mit der Formel für das Wesen des Christentums ist ein „Maßstab" 326 gegeben, der die chronistischen Daten bewerten und einschätzen kann, um deren „Entwicklungswert" 327 zu bestimmen. Erst die geschichtlichen Grundbegriffe der Philosophischen Theologie begründen also eine „wissenschaftliche Behandlung des geschichtlichen Verlaufs" (KD § 252), die der Historischen Theologie eine ihr angemessene Fassung verleiht.328 Eine solche nicht nur sammelnde, sondern zur eigenen Urteilsfähigkeit ermächtigende „geschichtliche Anschauung" (KD § 100) ist aber - aus theologischen Gründen - unentbehrlich: Sie bildet die Voraussetzung für eine begründbar zweckmäßige Tätigkeit in der Kirchenleitung.329 Daß die Durchführung der Historischen Theologie abhängig ist von den in der Philosophischen Theologie aufzustellenden Beurteilungskriterien, wird für Schleiermacher auch daran deutlich, daß sich 321 Vgl. ThEnz. 146,1-29. 322Vgl. ThEnz. 247,14f: „was in der Geschichte Chronik ist, das [...] muß in allen Behandlungen dasselbe seyn." 323 Vgl. KD § 154; ThEnz. 147,23-35. 324 Vgl. KD § 157 Zs.; ThEnz. 150,26-28; 151,13-19; KG 3,3f (Ns.): „das so dargestellte ist sehr gut zu gebrauchen als Material, hat aber keinen andern Werth als diesen." 325 Im theologischen Studium ist sie gleichwohl nicht ohne Orientierung: Sie vollzieht sich am Leitfaden des religiösen Interesses, das „die Kenntniß der historischen Einzelheiten begleiten und beleben" wird (ThEnz. 246,37). 326 ThEnz. 41,12; 69,33 327 KD § 65 Zs.; vgl. zu diesem Ausdruck oben S. 95f, Anm. 113. 328 Vgl. KD § 254 Zs. 329 Denn wer die geschichtlichen Daten ohne eine philosophisch-theologische Beurteilung lediglich sammeln wollte, „der würde auch in der Kirchenleitung nur eine Maschine seyn" (ThEnz. 101,32f).
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auch der konfessionelle Gegensatz auf die Historische Theologie auswirkt: Sobald die Geschichtsschreibung mehr sein will als „mechanische Wiederholung" (ThEnz. 27,6), die „blos bey dem Ausserlichen stehen bleibt" (ThEnz. 27,15f), kann die Historische Theologie in Protestantismus und Katholizismus nicht dieselbe sein, sondern muß und soll sich positioneil gestalten, weil sie von der Auffassung des Wesens des Christentums und des konfessionellen Gegensatzes selbst entscheidend mit geprägt ist.330 Daher kann der Geschichtsschreiber in diesem Sinne niemals „unparteyisch seyn" (ThEnz. 27,13). Deswegen haben auch etwaige Mängel und Unzulänglichkeiten in der philosophischtheologischen Begriffsbildung direkte Auswirkungen auf die Gestaltung der Historischen Theologie: Werden die Deutebegriffe der Philosophischen Theologie nicht in der geforderten Weise „kritisch" ausgemittelt, so operiert die Historische Theologie entweder zwangsläufig mit „willkürlichen Hypothesen" oder verfällt in „geistlose Empirie" (KD §§ 255f). Sind damit Philosophische und Historische Theologie in unterschiedlicher Weise jeweils von einander abhängig331, so entspricht es diesem Verhältnis, daß sie in ihrer Entwicklung aufeinander angewiesen sind: Beide können nur „mit- und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen" (KD § 254). Neben dieser grundsätzlichen Verhältnisbestimmung zwischen Philosophischer und Historischer Theologie ist noch ein besonderer thematischer Berührungspunkt zwischen beiden Disziplinen hervorzuheben, der in der Exegetischen Theologie liegt. Denn diese Subdisziplin der Historischen Theologie beschäftigt sich als die Kenntnis des Urchristentums und also der Schriften des Neuen Testaments332 mit demjenigen Abschnitt der Geschichte des Christentums, in welchem dessen „eigentümliche[s] Wesen am reinsten zur Anschauung kommt" (KD § 83). Daher schließt sie sich unmittelbar an die Philosophische Theologie an.333 Die thematische Uberschneidung beider Disziplinen kommt dann auch darin zum Ausdruck, daß nicht wenige der in der Apologetik zu klärenden Begriffe sich auf Grundthemen der Exegetischen Theologie beziehen.334 Und sie hat schließlich 330 Vgl. ThEnz. 26,38-27,16. 331 Vgl. zur Struktur und Begründung dieser Relation oben S. 124, Anm. 252. 332 Vgl. KD SS 84. 88. 103-148. 333 Vgl. KD $ 85 Zs. 334 Vgl. KD S 45 (»Offenbarung, Wunder und Eingebung"), S 46 („Weissagung und Vorbild") sowie grundlegend S 47 („Kanon"). Zur Funktion der apologetischen Leitbegriffe insgesamt vgl. unten IV.2.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
die Konsequenz, daß auch in der Exegetischen Theologie eine Unterscheidung zwischen Allgemeinwissen und besonderer Virtuosität nicht ohne Einschränkung getroffen werden kann: Auch hier müssen - wie in der Philosophischen Theologie335 - die wesentlichen Einsichten und Uberzeugungen selbst gewonnen werden, weil „jeder seine Auslegung selbst bilden muß" (KD § 89); Spezialwissen und Allgemeinbildung können nur im Bereich der exegetischen „Hilfswissenschaften" 336 genauer unterschieden werden. ß) Philosophische und Praktische Theologie Das Verhältnis zwischen Philosophischer und Praktischer Theologie ist mit ihrer polarisierenden Gegenüberstellung 337 noch nicht vollständig beschrieben. Denn darüber hinaus fungiert die Philosophische Theologie aufgrund der relativen Eigenständigkeit ihrer zweiten Aufgabe, Kriterien für die Bewertung des gegenwärtigen Zustands der Kirche aufzustellen 338 , für die Praktische Theologie als „Norm" (ThEnz. 41,13). Diesen Zusammenhang hat Schleiermacher im Eingangsparagraphen zur Praktischen Theologie (KD § 257) folgendermaßen erläutert: Die Aufgabe der Praktischen Theologie wird bestimmt als Anleitung für das kirchliche Handeln mit der Absicht, dieses „besonnen" zu gestalten.339 Diese Tätigkeit ist aber selbst erst motiviert und hervorgerufen durch bestimmte Gefühle der Zustimmung oder Ablehnung 340 , die sich aus der Betrachtung des gegenwärtigen Zustands der Kirche ergeben. Und diese Gefühle werden durch die Philosophische Theologie „zum klaren Bewußtsein" gebracht. Denn deren (zweite) Aufgabe ist es, Prinzipien für die Beurteilung des gegenwärtigen Zustands zu formulieren, indem dieser mit der „kritisch" erhobenen Wesensformel verglichen wird. Eben damit kann aber die faktisch bestehende Hochschätzung oder Mißbilligung des jeweiligen Zustands erklärt und legitimiert werden: Bei einer Ubereinstimmung von Wesensformel und gegenwärtigem Zustand sind „Gefühle der Lust", bei etwaigen Abweichungen solche der „Unlust" zum „klaren Bewußtsein" gebracht. Eine solche Reflexionsleistung bildet aber die 335 Vgl. KD § 67. 336 KD §§ 89 Zs.; vgl. SS 122-124. 130f. 143f. 337 Vgl. KD S 66 Zs. 338 Vgl. oben S. 95ff. 339 »[...] die besonnene Tätigkeit, [...] mit klarem Bewußtsein zu ordnen und zum Ziel zu führen." (KD § 257) 340 Sie setzt also ein „kirchliches Interesse" (KD S 258) voraus.
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Voraussetzung für jede „Besonnenheit" der durch diese Gefühle provozierten Tätigkeit. Die Ergebnisse der Philosophischen Theologie „aufgefaßt [...] in der Einwirkung [...] auf einen unmittelbaren Lebensmoment " (KD § 257 Zs.) - üben also eine Normierungsfunktion aus für die Grundlegung der praktisch-theologischen Kunstregeln.341 Denn die einzelnen Maximen für das kirchenleitende Handeln verdanken sich einer Anwendung von Ergebnissen der allgemeinen und speziellen Philosophischen Theologie auf die jeweilige Gegenwart. 342 Die Praktische Theologie gründet sich somit auf die Ergebnisse ihrer beiden Schwesterdisziplinen.343 Und dabei ist die Philosophische Theologie nicht nur die begriffsklärende Hilfswissenschaft der Historischen Theologie, sondern hat durch ihre Normierungsfunktion auf eigenständige Weise an der Begründung der Praktischen Theologie Anteil: Die „Aufgaben", deren Klassifizierung und Operationalisierung der Praktischen Theologie zukommt 344 , sind gleichermaßen durch die Historische und Philosophische Theologie gestellt.345 Auch die zwischen Philosophischer und Praktischer Theologie bestehende Beziehung bringt also die spezifische Funktionalität der Philosophischen Theologie, ihren Praxisbezug, zum Ausdruck. Diese Besonderheit wird sich in der folgenden Gegenüberstellung aller drei Disziplinen noch deutlicher zeigen können. b) Die unterschiedliche Zweckbezogenheit der drei theologischen Disziplinen Für einen Vergleich der drei Disziplinen in Hinsicht auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Kirchenleitung als dem einheitlichen Grund für 341 Vgl. auch die Erläuterungen der Vorlesungsnachschrift Jonas zu KD 1 72 § 1: „Eben so ist in diesem l[ten] § das Verhältniß der practischen und philosophischen Theologie dargestellt. Die philosophische Theologie enthält nichts anderes, als die correspondirenden Begriffe, das Interesse an der Kirche vorausgesetzt, was Lust oder Unlust bringt an den Ereignissen der Kirche. Es verhält sich also die practische Theologie zur philosophischen wie die Technik der Gemüthsbewegung[en] zu der Reflexion über das diesen Bewegungen zum Grunde liegende Gefühl." (Ns. Jonas 124) 342 Vgl. KD § 259. Daher wird in der Praktischen Theologie die „Durchbildung der Philosophischen Theologie" (KD § 337 Zs.) allenthalben vorausgesetzt. 343 Vgl. KD 1 73 § 6; KD 2 § 260 Zs. 344 Vgl. KD § 264. 345 Vgl. ThEnz. 251,13-15: Die „Zweckbegriffe" der Praktischen Theologie sind „in der philosophischen Theologie in ihrer Beziehung mit der [...] historischen enthalten". Zugleich ist aber die korrekte Aufstellung der Aufgaben eine Funktion der Philosophischen Theologie; vgl. KD §§ 259. 336.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
die Theologie insgesamt wie für ihre Gliederung in einzelne Disziplinen legt es sich nahe, bei der Praktischen Theologie einzusetzen. Denn diese Disziplin steht evidentermaßen in direkter Beziehung zur Praxis der Kirchenleitung, die ihren unmittelbaren Gegenstand darstellt.346 Auch die Philosophische Theologie steht jedoch in einer direkten Beziehung zum kirchlichen Handeln: Sie stimmt gerade darin mit der Praktischen Theologie überein, daß sie beide „unmittelbar auf die Ausübung gerichtet" sind (KD § 66 Zs.). Denn auch die Philosophische Theologie ist ja, was zumindest ihre Unterteilung in zwei Subdisziplinen angeht, durch direkte Praxisbedürfnisse begründet: Apologetik und Polemik bilden deswegen die angemessene Gestalt, in der die beiden philosophisch-theologischen Aufgaben bearbeitet werden sollen, weil die praktisch zu erbringenden „Leistungen" (KD § 66 Zs.) diese „Form" (KD § 38) zweier Subdisziplinen erforderlich machen 347 : Sie werden als philosophisch-theologische Disziplinen „nur um dieser willen aufgestellt" (KD § 66 Zs.). Eben darin unterscheiden sich aber Philosophische und Praktische von der Historischen Theologie, die nicht auf die „Ausübung", sondern „rein auf die Betrachtung" (ebd.) gerichtet ist: Die Haltung der neutralen Beobachtung entspricht ihrem wissenschaftlichen Charakter, denn „die Geschichte will nur Anschauung." 348 Diese Neutralitätsforderung steht jedoch in tendenziellem Widerspruch zur Theologizität der Historischen Theologie. Denn ganz ohne Beziehung zur Praxis der Kirchenleitung darf auch die historische Disziplin der Theologie nicht stehen, weil sie sonst ihren theologischen Charakter verlöre. 349 Daher ist die Art und Weise, in der die Historische Theologie im einzelnen auf die Begründungsinstanz der Theologie bezogen ist, näher zu betrachten. Dabei muß unterschieden werden zwischen einer Betrachtung der Historischen Theologie insgesamt und der Begründung und Funktionalität ihrer Subdisziplinen. Zunächst die Historische Theologie als ganze ist in der Weise an die Kirchenleitung gebunden, daß diese Beziehung sie allererst als theologische Disziplin begründet: Sie bildet denjenigen Ausschnitt aus der Geschichtswissenschaft, dessen Kenntnis die Bedingung einer zweckmäßigen Einflußnahme auf den jeweils gegenwärtigen Zu346 Vgl. KD § 25. 347 Vgl. oben III.3.a). 348ThEnz. 70,22. Sie kann daher auch als „rein contemplativ" bezeichnet werden (ThEnz. 70,18.24). 349 Vgl. KD § 6.
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stand des Christentums darstellt.350 Auch die Ableitung der historischtheologischen Subdisziplinen soll jedoch „von dem Gesichtspunkt der Kirchenleitung" aus (ThEnz. 84,20) geschehen, indem deren Bedürfnisse zum Kriterium einer Einteilung und „Construction" (ThEnz. 84,19) der Historischen Theologie gemacht werden sollen. Diese Forderung wird für zwei der drei Subdisziplinen, die „Kenntnis des gegenwärtigen Momentes" (KD § 81) und diejenige „des gesamten früheren Verlaufs" (KD § 82), auch eingelöst 351 : Beide sind deswegen als besondere Teile der Historischen Theologie auszubilden, weil die Handlungsmaximen der Kirchenleitung eine geschichtliche Grundlegung benötigen. Dabei ist die ausführlichere Behandlung des gegenwärtigen Momentes in einer eigenen Subdisziplin zusätzlich dadurch begründet, daß diese Gegenwart das unmittelbare Handlungsfeld der Kirchenleitung darstellt.352 Aus dieser Konstitutionsweise folgt dann auch eine spezifische Funktionalität der beiden Subdisziplinen: (1) Die Kirchengeschichte muß in ihrer Darstellung der Geschichte des Christentums genuin Christliches von fremden Prinzipien als das Gesunde vom Krankhaften unterscheiden. 353 Damit steht sie in direkter Beziehung zur Kirchenleitung, weil dieser dadurch Maßstäbe für ihr eigenes Handeln an die Hand gegeben werden. 354 (2) Innerhalb 350 Vgl. K D §§ 69f. Daraus resultiert auch das ambivalente Verhältnis zwischen Geschichtskunde und Historischer Theologie, das diese beiden Eingangsparagraphen der „Einleitung" zur Historischen Theologie beschreiben: Ihrem Inhalt nach ist die Historische Theologie der »neueren Geschichtskunde [...] koordiniert" (§ 69), kraft ihrer Theologizität ist ihr die letztere jedoch „untergeordnet" (§ 70), indem sie sich deren wissenschaftliche Methoden und Gegenstände dienstbar macht: „Zu theologischen Disciplinen gestalten sich aber die wissenschaftlichen Elemente durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung" (ThEnz. 77,13-15). 351 Die Begründung der Exegetischen Theologie ist dagegen über die Philosophische Theologie vermittelt: Ihre Eigenständigkeit als historisch-theologische Subdisziplin verdankt sich dem „letzte[n] Zweck" der Theologie, der immer reineren Darstellung des Wesens des Christentums ( K D § 84). 352 Vgl K D § 81. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Kirchengeschichte dieser Gegenwartskenntnis untergeordnet ist, sondern beide „verhalten sich auf dieselbe Weise zur Kirchenleitung" ( K D § 82 Zs.). 353 Vgl. K D §§ 160. 173; ThEnz. 153,12-16. 354 Indem die Kirchengeschichte auf diese Weise Beiträge zu einer Kriteriologie für die Zweckmäßigkeit kirchlichen Handelns liefert, besteht eine „unmittelbare Abzweckung der KirchenGeschichte auf die KirchenLeitung" (ThEnz. 154,llf), die damit deren „Ansprüchen [...] an eine christliche Geschichtskunde" Genüge tut (§ 173 Zs.). Umgekehrt erweist sich durch diese Funktionalität erst der theologische Charakter der Kirchengeschichte: „Eine Darstellung, welcher dieß fehlt, ist keine theologische" (ThEnz. 176,35f). Zugleich ist dies nach Schleiermachers Meinung (vgl. ThEnz. 154,13-21) die angemessene Form, das Anliegen früherer kirchenhistorischer Darstellungsweisen wahrzunehmen, bei der die Geschichte in für die Kirche
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
der „Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums" (KD SS 195-256) ist es in erster Linie die Dogmatik 355 , die in zweierlei Hinsicht die Funktionalität der Theologie zum Ausdruck bringt: Zum einen hat die Darstellung der jeweils geltenden Lehre für die Kirchenleitung356 den „Nutzen", das „Prinzip der laufenden Periode" (KD S 198) zur Darstellung und damit zur Durchsetzung zu bringen. 357 Im vorliegenden Fall der protestantischen Kirchenpartei liegt dieser „Nutzen" darin, die im Protestantismus herrschende Pluralität der Lehrbildungen vor Augen zu führen 358 sowie die spezifisch protestantische Gestaltung eines Lehrstücks deutlich zu machen. 359 Daneben stattet die Dogmatik die kirchliche Lehre und Verkündigung mit einem Maßstab aus, der es ermöglicht, alte oder neue „Verwirrungen" (KD S 198) zu vermeiden. 360 Wie ist nun diese Rückbindung der Historischen Theologie insgesamt sowie ihrer Subdisziplinen „Kirchengeschichte" und „Dogmatik" an das „konstitutive[n] Prinzip der Theologie" (KD S 81), die Kirchenleitung, zu beurteilen? Offenbar impliziert auch diese nochmalige Relationierung keine der Philosophischen oder Praktischen Theologie günstige und ungünstige Ereignisse („res secundae und adversae": ThEnz. 154,16f) eingeteilt wurde. 355 Zur „kirchlichen Statistik" vgl. die verstreuten Bemerkungen K D §§ 235 Zs. 237 Zs. 243. 247. 356 Die Vorlesungsnachschrift (ThEnz. 188,22ff) setzt dabei auseinander, daß die Präzisierung der Lehrentwicklung in erster Linie dem Kirchenregiment dient, während eine „Norm" für die „Ausübung" ( K D § 198) mehr auf den Kirchendienst bezogen ist; zur Unterscheidung dieser beiden Aspekte der Kirchenleitung vgl. K D § 271. 357 Auffälligerweise ist damit bereits die grundlegende Bestimmung der Dogmatik durch den konfessionellen Gegensatz geprägt; vgl. ThEnz. 188,32-35; 189,9-11. 358 Vgl. ThEnz. 189,9-22; vgl. dazu auch K D § 196 Zs.: „Die gänzliche Übereinstimmung aber ist in der evangelischen Kirche deshalb nicht notwendig, weil auch zu derselben Zeit bei uns Verschiedenes nebeneinander gilt." 359 Denn in jeder dogmatischen Darstellung muß Schleiermacher zufolge deutlich werden, „ob ein Lehrstück eine eigne Gestaltung gewonnen hat durch die Reformation, oder ob es noch die scholastische Gestalt an sich hat" (ThEnz. 188,33-35). 360 Diese „Neigung zur größeren [sc. sprachlichen] Bestimmtheit" (ThEnz. 189,31) ist nach Schleiermacher das Prinzip, aus dem die Dogmatik sich überhaupt entwickelt hat (vgl. ThEnz. 189,26-36). Die Funktionalität der Dogmatik für den „volksmäßigen Ausdruck" ( K D § 198) der kirchlichen Lehre hat er aber im Vergleich mit ihrer Funktion als Ortsbestimmung innerhalb der aktuellen Periode nur „als das 2te" angesehen (ThEnz. 206,33). Die zweite Auflage der Glaubenslehre betont dagegen, weil sie die Dogmatik nicht thematisch, sondern funktional definiert (vgl. dazu unten IV.l), gerade deren Bezug zur Praxis: „Wie aber das dogmatische Verfahren sich ganz auf die Verkündigung bezieht und nur um ihretwillen besteht [...]." ( C G 2 § 19.1, Bd. 1,119,10-12; vgl. auch § 18.3, Bd. 1,117,33-118,3); vgl. dazu Birkner: Sittenlehre, 72.
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vergleichbare Bezogenheit auf die Kirchenleitung. Denn die damit der Historischen Theologie und ihren Subdisziplinen zugewiesene Funktionalität ist von allgemeinerer Art als etwa der die philosophischtheologischen Disziplinen Apologetik und Polemik begründende Rekurs auf die Praxis der Kirchenleitung: Dort wurden mit den Stichworten „Wahrheit" und „Reinheit" 361 zwei konkrete Handlungsziele der Kirchenleitung benannt, während die Historische Theologie lediglich bestimmte allgemeine Kriterien aufstellt, denen die Praxis in Leitung und Lehre zu genügen hat. Es gibt also keine historischtheologischen „Leistungen", die sich als unmittelbar aus einzelnen Bedürfnissen der Praxis resultierender Grund für die Statuierung der Historischen Theologie oder ihrer Subdisziplinen benennen ließen. Vielmehr verläuft die Beziehung zwischen den Kenntnissen der Historischen Theologie und der Praxis selbst stets über die „Kunstregeln" der Praktischen Theologie: „so muß auch die historische Theologie eine solche Beziehung auf das Practische haben, - aber diese liegt eben in der praktischen Theologie." 362 Die Historische Theologie steht also unbeschadet ihrer Theologizität in einem distanzierteren Verhältnis zur kirchenleitenden Tätigkeit als die praxisunmittelbaren Disziplinen Philosophische und Praktische Theologie. 363 Andererseits scheint sie diese Disziplinen im Blick auf ihren Inhalt an Bedeutung zu überragen: Sie bildet aufgrund der gewaltigen Masse ihres geschichtlichen Gegenstandes364 den „eigentliche[n] Körper" (KD § 28) des theologischen Studiums; ihr kommt daher „eine gewisse Universalität" zu, weil sie „auf geschichtliche Weise" die beiden anderen Disziplinen in sich schließt (ThEnz. 27,35-37). Diese Zentralstellung der Historischen Theologie erfährt jedoch eine Relativierung dadurch, daß auch Philosophische und Praktische Theologie jede auf ihre Weise das Ganze der Theologie umschließen: So enthält die Praktische Theologie die beiden anderen Disziplinen „auf technische Weise" (ThEnz. 28,13), denn sie setzt die „richtige Fassung der Aufgaben" (KD § 260) durch ihre Schwesterdisziplinen voraus. Die 361 Vgl. oben S. 115. 362ThEnz. 70,31 f. Denn die Praktische Theologie ist „als Technik [...] nicht ein Wissen um des Wissens willen, sondern um eines Gebrauchs willen" (ThEnz. 70,27f). Dies kann hingegen „von der geschichtlichen Betrachtung nicht gesagt werden." (ThEnz. 70,29) Analog könnte man stattdessen die Historische Theologie bezeichnen als ein Wissen um eines Wissens willen, das seinerseits um eines Gebrauchs willen besteht. 363 In dieser Hinsicht stehen also die „philosophische Theologie und die praktische [...] gemeinschaftlich der historischen gegenüber" (KD § 66). 364 Vgl. K D §§ 92. 184.
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
Philosophische Theologie dagegen umfaßt die beiden anderen Disziplinen „implicite, weil sie die Principien enthält" (ThEnz. 28,14f): der einen liefert sie die „Begründung", für die andere bildet sie die „Norm" (ThEnz. 41,11.13). So betrachtet, sind nicht nur in der Historischen Theologie, sondern in jeder Disziplin auch die beiden jeweils anderen in einer je spezifischen Form enthalten. 365 Dabei setzen sie sich wechselseitig voraus und nehmen sich gegenseitig in Anspruch: sie „präzisieren sich in zirkulärer Weise"366. Damit wird aber zugleich der enge Zusammenhang aller drei Disziplinen deutlich: „Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß [...] kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist" (ThEnz. 28,15-17). Aus diesem Grund kann keine Disziplin allein als „die eigentliche" bezeichnet werden, der die übrigen nur als „Hülfswissenschaften" untergeordnet wären; vielmehr besteht in Schleiermachers enzyklopädischer Konzeption eine prinzipielle „Gleichstellung" aller drei Disziplinen. 367
6. Zusammenfassung: Der Praxisbezug der Philosophischen Theologie Betrachtet man abschließend den im vorigen ausführlich entfalteten Gesamtzusammenhang der Philosophischen Theologie unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zu der diese Disziplin wie die Theologie überhaupt konstituierenden Kirchenleitung, so ergibt sich eine dreifache Bezogenheit der Philosophischen Theologie auf die kirchliche Praxis 368 : (1) Die Ableitung der Philosophischen Theologie, ihre Begründung als eigenständige und einheitliche theologische Disziplin, wird, als 365Daß die Historische in der Philosophischen Theologie „sozusagen [...] vorweggenommen" und in der Praktischen Theologie „sozusagen [...] wiederholt" werde, trifft zwar zu; daß aber daher „in der historischen Theologie das Ganze der Theologie vertreten" sei (E. Jüngel: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander, in: ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, BEvTh 61, Tübingen 1972, 34-59, 48), verrät lediglich die halbe bzw. ein Drittel der Wahrheit. 366 Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 103 367 Vgl. PrTh 12,26-30. 368 Schleiermachers Konzeption der Philosophischen Theologie zufolge steht diese Disziplin also gerade nicht „in einem sehr viel distanzierteren Verhältnis zu dem geschichtlichen Ganzen" der Kirche (Gräb: Humanität, 73), sondern ist im Unterschied zur „contemplativen" (vgl. ThEnz. 70,18) Historischen Theologie direkt auf die geschichtliche Praxis der Kirchenleitung bezogen.
6. Zusammenfassung: Der Praxisbezug der Philosophischen Theologie
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übereinstimmendes Verfahren für alle theologischen Disziplinen, am Kriterium der „Beziehung der Theologie auf die Kirchenleitung" (ThEnz. 31,8) vollzogen. Damit wird ihr zugleich ein bestimmter „Inhalt" (ThEnz. 23,36) zugewiesen: das (geschichtliche) Wesen des Christentums und die (ethische) Form der christlichen Gemeinschaft - also eine „kritische" Formel für das geschichtlich Eigentümliche des Christentums unter Rückgang auf den spekulativen Religionsbegriff - sind Thema der Philosophischen Theologie. Ihre Beziehung auf die Kirchenleitung ist dabei über die beiden anderen theologischen Disziplinen vermittelt: Die praktisch-theologischen Kunstregeln bedürfen historischer Kenntnisse, und diese wiederum benötigen „leitende[n] Begriffe" (KD § 252 Zs.), einen „Maßstab" (ThEnz. 41,12), der sie beurteilbar und einsichtig macht. In diesem Begründungszusammenhang steht damit die Philosophische Theologie zunächst auf der Seite der „Wissenschaft" und ist mit dem „christlichen Leben" der Kirchenleitung nur über ihre Schwesterdisziplinen verbunden (KD § 28). (2) Der „kritische" Vergleich der (empirischen) Religionsgeschichte mit dem (spekulativen) Begriff der Frömmigkeit in der Absicht, das Wesen des Christentums zu bestimmen, ist als Gegenstand der Philosophischen Theologie in zwei Aufgaben unterteilt. Denn ein bestimmter Bestandteil der Wesensbestimmung, die Beurteilung eines geschichtlichen Einzelzustands am Maßstab der aufgestellten Wesensformel, wird ihr als eigenständige Aufgabe an die Seite gestellt. Der Grund für diese Verselbständigung eines Aspektes der Wesensbestimmung liegt in der Funktionalisierung der Philosophischen Theologie durch die Kirchenleitung: Beurteilungsprinzipien für den gegenwärtigen Zustand aufzustellen, hat deswegen einen „unmittelbaren Bezug [...] auf die Kirchenleitung" (ThEnz. 39,36f), weil sie von einer solchen Kriteriologie für ein zweckmäßiges Handeln direkt profitieren kann. Daher ist diese Funktion der Philosophischen Theologie für die Kirchenleitung geeignet, die Aufstellung von Beurteilungsprinzipien als eigene Aufgabe zu konstituieren und ihr somit eine Relevanz zu verleihen, die über ihren sachlichen Stellenwert innerhalb der Wesensbestimmung hinausgeht. (3) Damit ist aber die Theologizität der Philosophischen Theologie immer noch nicht hinreichend zur Geltung gebracht: Auch ihre „Form"-Bestimmung geschieht nach Maßgabe ihrer „Beziehung auf die Kirchenleitung" (KD § 38). Ihr bisher bestimmter „Gehalt" in der Doppelgestalt von Wesensbestimmung und Zustandskritik (unter
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III. Das Programm der Philosophischen Theologie
Berücksichtigung des konfessionellen Gegensatzes nicht nur auf das Christentum überhaupt, sondern auch auf den Protestantismus bezogen) wird dadurch in die „Form" der beiden Subdisziplinen Apologetik und Polemik gebracht, daß ihnen zwei unabdingbare Handlungsziele der Kirchenleitung zugrundegelegt werden, die durch apologetische und polemische „Leistungen" sollen erreicht werden können: In bezug auf die Apologetik ist dieses Handlungsziel die Bewahrung der Uberzeugung von der Wahrheit des christlichen Glaubens, für das die Darstellung des Wesens des Christentums sowie des Protestantismus die „Grundlage" (KD § 39) bildet. Für die Polemik dagegen besteht dieses Handlungsziel in einer Identifikation von Krankheitszuständen, die eine spezifische „Anwendung" (KD § 40) der Wesensbestimmung des Christentums und des Protestantismus darstellt. Beide Subdisziplinen werden also durch die von ihnen zu erbringenden „Leistungen" konstituiert; damit vollendet sich zugleich die „theologische Abzweckung" (ThEnz. 71,13f) der Philosophischen Theologie. Vergleicht man nun diese drei unterschiedlichen Beziehungen der Philosophischen Theologie zur Kirchenleitung miteinander, so ist festzustellen, daß unter ihnen die Verbundenheit mit der kirchenleitenden Praxis zunimmt: Der sich aus der Ableitung der Philosophischen Theologie ergebende Bezug zur Kirchenleitung ist am wenigsten direkt, insofern die Philosophische Theologie hier nur über die beiden anderen Disziplinen mit der kirchlichen Praxis in Verbindung steht. Die Aufstellung von Beurteilungsprinzipien befindet sich dagegen schon in näherer Fühlung zur Kirchenleitung, weil sie deren Bedarf an Handlungskriterien, wenn auch auf allgemeine Weise, deckt. Die die „Form" der Philosophischen Theologie begründende Rückbindung an die Kirchenleitung schließlich geht geradewegs auf zwei konkrete Bedürfnisse kirchlichen Handelns („Wahrheit" und „Reinheit") ein und kann sie unmittelbar erfüllen. Erst alle drei Formen der Beziehung zwischen Philosophischer Theologie und Kirchenleitung machen aber die besondere Funktionalität dieser Disziplin aus. Daher ist die Theologizität der Philosophischen Theologie nicht auf die bei ihrer Deduktion allein genannte Begründungsfunktion für die Historische Theologie beschränkt. Diese ist vielmehr als lediglich notwendiger Konstitutionsgrund für die Philosophische Theologie anzusehen: vollständig und umfassend begründet ist sie als eigene Disziplin erst durch die Eigenständigkeit ihrer zweiten Aufgabe und die Ableitung ihrer Subdisziplinen Apologetik und Polemik.
6. Zusammenfassung: Der Praxisbezug der Philosophischen Theologie
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Die Philosophische Theologie ist also in Schleiermachers Konzeption keine von der kirchlichen Praxis abgetrennte Grundlagendisziplin, sondern ihre Ergebnisse wirken sich in direkter Weise auf die kirchenleitende Tätigkeit aus. Daher hat sie für die Orientierung der Kirchenleitung eine unmittelbare Bedeutung, die etwa auch in der Entscheidung grundsätzlicher Auseinandersetzungen wie der zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Kontroverse zwischen Rationalismus und Supranaturalismus zum Ausdruck kommt. Die wesentliche und zugleich allgemeinste Bestimmung der Philosophischen Theologie ist damit ihre Funktionalität.
IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie Eine Darstellung der materialen Entfaltung der Philosophischen Theologie bei Schleiermacher steht vor der grundsätzlichen Schwierigkeit, daß er sie nicht als Einzeldisziplin ausgearbeitet hat: Auch in dieser Hinsicht ist ja die Philosophische Theologie Programm geblieben. Denn in seiner enzyklopädischen Darstellung hat Schleiermacher lediglich die „Grundsätze" 1 aufgestellt, nach denen die beiden Subdisziplinen der Philosophischen Theologie zu bearbeiten wären, diese „Grundsätze" jedoch nicht selbst zur Ausführung gebracht. Für diesen Fall eines faktischen Fehlens von Apologetik und Polemik im Kreise der ausgebildeten theologischen Disziplinen sieht die Enzyklopädie jedoch selbst einen Ort vor, an dem die jeweiligen Themen vorläufig und behelfsweise zu verhandeln sind: Die apologetischen Begriffe können in der Einleitung zur Dogmatik behandelt werden; den „polemischen Elemente[n]" wird dagegen die Einleitung in die Praktische Theologie zugewiesen.2 Daher scheint es aussichtsreich zu sein, sich für eine Rekonstruktion der materialen Ausarbeitung der philosophisch-theologischen Disziplinen Apologetik und Polemik an Schleiermachers eigene Dogmatik „Der christliche Glaube" und an seine Vorlesungen über Praktische Theologie zu halten. Hinsichtlich der Polemik wird diese Erwartung jedoch gründlich enttäuscht: Mit einer Ausnahme 3 läßt die Einleitung in die Praktische Theologie die in den „Grundsätzen der Polemik" entwickelte Thematik völlig vermissen. Anders ist dagegen Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre zu beurteilen: Hier werden, wie Schleiermacher in seinem Kommentar zur Umarbeitung der Dogmatik, den beiden „Sendschreiben" „Uber seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke" 4 , erläutert, zumindest 1 Vgl. die Überschriften zu K D §§ 43-62. 2 Vgl. ThEnz. 73,21-26. 3 Vgl. unten S. 199. 4 ThStKr 2 (1829), 255-284. 481-532; zit. als „Erstes" und „Zweites Sendschreibennach K G A 1/10, 307-394.
IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
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Elemente aus der Religionsphilosophie und der Apologetik aufgenommen.5 Schleiermacher entfaltet also zumindest den apologetischen Teil der Philosophischen Theologie im Einklang mit seinen eigenen enzyklopädischen Bestimmungen „fragmentarisch" (KD § 29) innerhalb der Historischen Theologie. Bei dieser Behandlung der Apologetik hat er allerdings die Möglichkeit massiver Fehldeutungen befürchtet, weil damit „Elemente in die Einleitung zur Dogmatik kommen, die offenbar ganz der Art nach different sind von den Säzen der Dogmatik selbst" (ThEnz. 73,28-30). Die erwarteten Mißverständnisse sind denn auch nicht ausgeblieben;6 offenbar hat Schleiermacher aber eine solche mögliche Verwechslung von Philosophischer Theologie und dogmatischen Sätzen in Kauf genommen, weil er eine philosophischtheologische Grundlegung der Dogmatik für unverzichtbar gehalten hat. Die Einleitung in die Glaubenslehre wird daher für das Vorhaben, Ansätze zu einer Entfaltung der Philosophischen Theologie aufzusuchen, die wichtigste Textgrundlage darstellen.7 Zusätzlich zu diesen von Schleiermacher selbst gegebenen Hinweisen kann vermutet werden, daß sich auch in der Enzyklopädie bereits Beiträge zu einer fragmentarischen Ausführung des philosophischtheologischen Programms finden lassen. Denn zum einen besteht ein enger thematischer Zusammenhang zwischen Apologetik und Exege-
5 Vgl. Zweites Sendschreiben 516f, K G A 1/10, 374,6; 375,3. 6 Vgl. etwa Zweites Sendschreiben 513, K G A 1/10, 370,24-26. 7 Als Vorläufergestalt einer Entfaltung des Programms der Philosophischen Theologie kann Schleiermachers Frühschrift, die Reden „Uber die Religion", angesehen werden: Die behandelte Thematik (Wesen der Religion und des Christentums) fällt nach der von Schleiermacher später entwickelten Wissenschaftssystematik in die Disziplin der Philosophischen Theologie (vgl. Birkner Theologie und Philosophie, 25). Diese thematische Parallele zwischen den „Reden" und der Einleitung in die Glaubenslehre hat Schleiermacher auch selbst erwähnt: In den der dritten Auflage der „Reden" beigegebenen Erläuterungen merkt er an, daß die Einleitung in seine Glaubenslehre, „weil sie die Grundzüge dessen enthält, was nach meiner Ansicht unter Religionsphilosophie eigentlich soll verstanden werden, in mannigfaltigen Berührungen mit diesem Buche steht" (R 3 (1821), ed. Pünjer 141). Daher überrascht es nicht, daß eine Reihe der apologetischen Grundbegriffe (vgl. dazu unten IV.2.a)) bereits in den „Reden" ausführlich verhandelt werden; vgl. R 1 242ff, K G A 1/2,296 v 24ff („positive" und „natürliche" Religion); R 1 115ff, K G A 1/2,239,29ff („Wunder", „Offenbarung", „Eingebung", „Weißagung"). Seit seiner ersten Dogmatik-Vorlesung im WS 1804/05 („Haupt- und Fundamentallehren des theologischen Systems", vgl. Arndt/Virmond: Briefwechsel, 300) hat Schleiermacher dann die Thematik der Philosophischen Theologie in der Dogmatik-Einleitung verhandelt, vgl. die spätere briefliche Notiz: „die Einleitung war ganz neu, indem ich alles hierhergehörige aus der philosophischen Theologie hier beigebracht habe" (Briefe Gaß, 94; 11. 5. 1811).
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tischer Theologie.8 Und zum anderen ergeben sich möglicherweise inhaltliche Überschneidungen zwischen Polemik und Kirchlicher Statistik, da beide jedenfalls auch den gegenwärtigen Zustand der Kirche zum Gegenstand haben.9 Auch in der enzyklopädischen Darstellung dieser Disziplinen ist also die Behandlung von Themen der Philosophischen Theologie zu erwarten, so daß bereits im enzyklopädischen Programmtext der „Kurzen Darstellung" Ansätze zu einer partiellen Entfaltung der Philosophischen Theologie enthalten sein können. Die Rekonstruktion der Schleiermacherschen Fragmente zu einer materialen Ausarbeitung der Philosophischen Theologie kann also nicht von einer im voraus eng eingegrenzten Textbasis ausgehen, sondern muß hier - selektiv - verschiedene Textzusammenhänge in den Blick nehmen. Denn den Ausgangspunkt der Interpretation sollen die in der Enzyklopädie für die Philosophische Theologie aufgestellten Leitbegriffe bilden: Von den in KD §§ 43-62 entwickelten „Grundsätzen" der Apologetik und Polemik aus sind diejenigen Texte aufzusuchen, in denen die programmatischen Begriffe der Philosophischen Theologie ansatzweise entfaltet werden. Bevor jedoch die „Grundsätze" der Apologetik (IV.2) und der Polemik (IV.3) im einzelnen betrachtet werden können, ist es nötig, das Verhältnis zwischen der Einleitung in die Glaubenslehre und der theologischen Disziplin „Philosophische Theologie" genauer zu betrachten (IV. 1). Denn die Untersuchung der Frage, warum und wie die Philosophische Theologie in der Einleitung zur Glaubenslehre aufgenommen wird, stellt den notwendigen Rahmen dar für ein angemessenes Verständnis der philosophisch-theologischen Inhalte selbst: Deren jeweiliger Kontext und Erörterungsrahmen ist nicht belanglos, sondern bildet, wie sich zeigen wird, den Grund für ihren fragmentarischen Charakter.
1. Zur „Einleitung" in die Glaubenslehre Die Art und Weise der Aufnahme von Themen der Philosophischen Theologie in die Einleitung zur Glaubenslehre läßt sich am deutlichsten erhellen, wenn man wiederum von Schleiermachers eigenen wissenschaftssystematischen Bestimmungen ausgeht: Bekanntlich hat die 8 Vgl. oben S. 139f. 9 Vgl. K D §§ 41 und 95.
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zweite Auflage der Glaubenslehre die Übernahme von Elementen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen dadurch verdeutlicht, daß die §§ 3-14 in den Zwischenüberschriften als „Lehnsätze" bezeichnet werden, die aus Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik in die Dogmatikeinleitung überführt werden. Ein solcher Rekurs auf „Lehnsätze" findet sich bei Schleiermacher nicht selten 10 ; mit diesem Ausdruck greift er einen terminus technicus der zeitgenössischen Wissenschaftssprache auf: Der Begriff „Lehnsatz" ist vermutlich durch Christian Wolff 11 als Ubersetzung des griechischen „λήμμα" in die philosophische Fachsprache eingeführt worden; der griechische Ausdruck hatte in der aristotelischen Topik unter Abwandlung seiner ursprünglichen Bedeutung von „Vorteil, Gewinn" - allgemein die Voraussetzung einer Schlußfolgerung bezeichnet. 12 In der Bedeutung eines bereits bewiesenen Theorems, das in ein anderes Wissenschaftsgebiet übertragen und dort vorausgesetzt werden kann, sind „Lehnsatz" und „Lemma" dann synonym verwendet worden. 1 3 So unterscheidet Kant die Prinzipien einer Wissenschaft, die „auf Begriffe, die nur außer ihr Platz finden können gegründet" sind, als „auswärtige Principien" von solchen, die in der Wissenschaft selber verhandelt werden. Wissenschaften, die solche principia „peregrina" enthalten, „legen ihren Lehren Lehnsätze (Lemmata) zum Grunde; d. i. sie borgen irgend einen Begriff und mit ihm einen Grund der Anordnung von einer anderen Wissenschaft." 14 Auch Schleiermacher hat den Ausdruck „Lemma" gelegentlich verwendet. 15 In der Einleitung zur Glaubenslehre verdankt sich die Aufnahme des Ausdrucks „Lehnsätze" in die Zwischenüberschriften bekanntlich dem Anliegen Schleiermachers, die Differenz zwischen Einleitung und materialer Dogmatik zu unterstreichen und deutlich zu machen, „wo diejenigen Sätze, die der Constituirung des Begriffs der Dogmatik vor-
10 Vgl. etwa Ethik 1813(16), E 491-497 (§§ 23-50); ChS Beil. A 9 (Ms. 1809/10, § 28); Ästh 1819 (Ms.), ÄLe 8. 11 Vgl. Art. „Lehnsatz", in: HWP Bd. 5, 167. 12 Vgl. Art. „Lemma", in: HWP Bd. 5, 234. 13 Art. „Lemma", in: HWP Bd. 5, 234 verweist auf A.G. Baumgarten: Acroasis logica, Halle/Magdeburg 1761, Nachdruck Hildesheim/New York 1973, 51: „§ 178. Propositio in aliis veritatum seriebus, quam in quibus nunc versamur, demonstranda, est LEMMA. [Anm.:] ein Lehn-Satz." 14 I. Kant: Kritik der Urteilskraft (§ 68), Werke Bd. 5, 381,12-17 (Hervorhebung i.O.) 15 Vgl. Ethik 1812/13, E 247f (§§ 19-30), DA, 80f; Pädagogik 1826 (Ns.), PW, 13; ChS 545,17 (Ns. 1822/23).
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angehen müssen, eigentlich ihre Heimath haben."16 Damit ist jedoch nur ein Motiv und Ergebnis der Umarbeitung benannt, die die Einleitung insgesamt erfahren hat 17 ; für den vorliegenden Zusammenhang ist allerdings nicht die gesamte Einleitung und ihre Umgestaltung von Interesse, sondern lediglich die Frage, in welcher Hinsicht und aus welchem Grund die Thematik der Philosophischen Theologie nach den in der „Kurzen Darstellung" aufgestellten „Grundsätzen" in den beiden Einleitungen jeweils verhandelt wird.
16 Zweites Sendschreiben 519, K G A 1/10, 377,17-19 17 Die Umarbeitung der „Einleitung" ist im einzelnen ausführlich analysiert worden von M. Junker: Urbild, bes. 15-150. Dabei verbindet sich in ihrer Untersuchung das historische Interesse am Vergleich der beiden Fassungen der „Einleitung" und den der Umgestaltung zugrundeliegenden Motiven mit der systematischen Absicht einer generellen Bewertung der Schleiermacherschen Grundlegung der Dogmatik: Junker befürwortet zwar grundsätzlich den Einsatz der Dogmatik beim subjektiven Glaubensbewußtsein, ihre „transzendentalphilosophische[n] Vermittlung" (a.a.O., 211), sieht aber darin das Problem einer „Reduktion der Glaubenswahrheit auf das allgemeine Wesen des Menschen" (a.a.O., 5). Denn in der transzendentalphilosophischen Begründung der Frömmigkeit liege die „Gefahr begründet [...], die Christologie um ihr Eigenes zu bringen": so die „kritische Ausgangsvermutung" (a.a.O., 59) ihrer Untersuchung. Vor diesem Hintergrund trifft Junker in ihrer Interpretation des Schleiermacherschen Religionsbegriffs als eine ihrer „Anfragen an die transzendentale Explikation des Gottesbewußtseins" (a.a.O., 71) die Unterscheidung zwischen dem negativen Befund des Vorgegebenseins der endlichen Freiheit und der darüber hinausgehenden positiv-affirmativen Begründung dieses Befundes als absolute Abhängigkeit; der Uber-„Schritt" (vgl. a.a.O., 79) wird in C G 2 § 4.4 lokalisiert. Damit werde einerseits die Grenze der philosophischen Argumentation überschritten (vgl. a.a.O., 82) und andererseits durch eine „Transzendentalisierung des christlichen Schöpfungsglaubens" (a.a.O., 84) dem „geschichtlichen Selbsterweis Gottes [...] vorgegriffen" (a.a.O., 86). Diese Grenzüberschreitung der Schleiermacherschen Argumentation besteht also Junker zufolge darin, daß in der Selbstbewußtseinsanalyse der „philosophisch nur mögliche[n] absolute[n] Grund als wirklicher" gesetzt wird (a.a.O., 88). In diesem Argument kommt allerdings Schleiermachers Unterscheidung zwischen spekulativ-begrifflich Konstruiertem und geschichtlich nur Auffindbarem nicht hinreichend zur Geltung: Was von Schleiermacher als dem wirklichen, empirischen und positiv geprägten frommen Selbstbewußtsein allererst zugrundeliegend analysiert und bestimmt wird, der spekulative Begriff der Frömmigkeit, interpretiert Junker als bereits aufweisbares, zeitliches Selbstbewußtsein. Diese Unterscheidung wird zwar von ihr selbst getroffen (vgl. a.a.O., 45 Anm. 75), aber im Zusammenhang ihrer Deutung der Entwicklung von der Erst- zur Zweitauflage wieder unterlaufen. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist der Vorwurf stimmig, daß Schleiermacher „als ontologische Gewißheit im unmittelbaren Selbstbewußtsein aufzudecken suchte", was erst eigentlich „auf die historische Vorgabe des Christentums zurückzuführen" wäre (a.a.O., 85): nur dann kann der „gescnichtliche[n] Selbsterweis Gottes" (a.a.O., 86) der transzendentalen Analyse des Selbstbewußtseins gegenübergestellt werden. Die Untersuchung Junkers stellt sich damit in die Tradition der Schleiermacher-Kritik F. C. Baurs (vgl. dazu unten S. 170f), der sie selber „exemplarischen" (a.a.O., 133) Charakter beimißt.
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Grundlegend hat Schleiermacher den Ansatz und Gedankengang der Einleitung in seine Dogmatik dadurch geändert, daß er - wiederum mit der Intention, den Unterschied zwischen der Dogmatik und ihrer Einleitung deutlicher hervortreten zu lassen18 - in der zweiten Auflage nicht mit einer Definition der Dogmatik selbst einsetzt, sondern Überlegungen zu Funktion (CG 2 § 1) und Methode (CG 2 § 2) der Einleitung deren eigentlichen materialen Teil vorangestellt hat.19 Daraus ergibt sich eine Verschiebung „des ersten Aussageblocks"20 der Einleitung, so daß die wissenschaftstheoretischen Erörterungen von Inhalt und Aufgabe der Dogmatik aus ihrer „etwas mißliche[n] Doppelung"21 an zwei von einander getrennten Stellen der Einleitung22 zu einem Textkomplex zusammengeführt werden.23 Dadurch wird zwar die Stringenz und Übersichtlichkeit der Einleitung insgesamt erhöht; zugleich hat diese Umstellung aber eine gewichtige Veränderung in der Begründung für den Rekurs auf die Themen der Philosophischen Theologie zur Folge. Denn in der ersten Fassung der Einleitung wird die Frage nach dem Wesen des Christentums und der diesem zugrundeliegenden Frömmigkeit deswegen aufgeworfen, weil nur so der Gegenstand der Dogmatik, der als Lehre darzustellende Gehalt der christlich-frommen Gemütszustände24, fixiert werden kann: Weil in „der gegenwärtigen Lage des Christenthums" keine Einigkeit darüber herrscht, „was in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei oder nicht" 25 , muß dieses allen christlich-frommen Erregungen Gemeinsame allererst bestimmt werden. Die Wesensformel für das Christentum wird also deswegen gesucht und aufgestellt, weil sie das Eigentümliche der christlichen Frömmigkeit als dem Gegenstand der Dogmatik zugrundeliegende Größe beschreiben soll. In der zweiten Auflage macht Schleiermacher dagegen die Funktionalität der theologischen (Sub-)Disziplin Dogmatik zum Ausgangspunkt der Einleitung: Weil die Dogmatik als Disziplin der positiven Wissenschaft 18 Vgl. Zweites Sendschreiben 518f, K G A 1/10, 377,1-16. 19 Vgl. zur Argumentationsstruktur der zweiten Auflage der „Einleitung" die detailreiche und instruktive Analyse bei Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 209ff. 20 J u n k e r Urbild, 34 21 M. Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, B H T h 77, Tübingen 1989, 204 Anm. 124 22 Nämlich C G 1 §§ 1-4 und 23ff; vgl. dazu Marg. 417. 419 ( K G A 1/7.3, 79). 23 Vgl. C G 2 SS 15ff. 24 Vgl. C G 1 SS ! · 3 f 25 C G 1 S 5 Ls., K G A 1/7.1, 18,33-35
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Theologie in einer für sie grundlegenden Beziehung zur christlichen Kirche steht, können ihre Aufgabe und ihr Inhalt nur klargestellt werden, wenn zuvor der Begriff der Kirche und das ihm zugrundeliegende Wesen der Frömmigkeit expliziert worden ist. 26 Daher muß also vor einer Bestimmung der dogmatischen Aufgabe eine Klärung derjenigen Größe stattfinden, auf die sie als theologische Disziplin konstitutiv bezogen ist: die christliche Kirche. Damit hat sich jedoch der Grund für die Konstruktion des Religionsbegriffs und die Wesensbestimmung des Christentums gegenüber der Erstauflage geändert: Die Wesensformel für das Christentum wird deswegen gesucht und aufgestellt, weil sie das Eigentümliche der christlichen Kirche beschreiben soll, die den institutionellen und wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen der Dogmatik bildet. 27 Diese Veränderung in der Begründung dafür, daß das Wesen der christlichen Frömmigkeit bzw. Kirche bestimmt werden muß, läßt sich auch an zwei Einzelbeobachtungen ablesen. Zum einen hat sich für den Begriff der Kirche die Argumentationsweise charakteristisch verändert: Reichte es in der Erstauflage aus, die Möglichkeit einer Vergemeinschaftung der Frömmigkeit zu erweisen 28 , weil der Begriff der Kirche hier keine konstitutive, sondern eine bloß limitative Funktion erhält 29 , so muß in der zweiten Auflage die Notwendigkeit der frommen Gemeinschaft begründet werden 30 , weil sonst der Anlaß und Ausgangspunkt der Argumentation, der Begriff der christlichen Kirche, unausgewiesen bleibt. Zum anderen ist auffällig, daß der § 5 der Erstauflage in der zweiten Fassung seine Selbständigkeit eingebüßt hat 31 : Eine Reflexion auf die Strittigkeit des allen christlich-frommen 26 Vgl. CG 2 § 2. 27 Vgl. Junker Urbild, 36: „War es in der Erstauflage das Eigentümliche der christlich frommen Erregungen, das es zu bestimmen galt, so jetzt das der christlichen Kirche." 28 Vgl. C G ' § 12.2, KGA 1/7.1, 41,38f: „Dazu gehört aber nur, daß wir uns vorstellen, wie von dem Einzelnen aus die Gemeinschaft möglich ist" (Hervorhebung M.R.); vgl. auch a.a.O., 42,22f. 29 Denn „jede Gemeinschaft [...] zeigt sich auch als eine begrenzte" (CG 1 § 12 Ls., KGA 1/7.1, 40,31 f): Dieser Gedanke leitet dann zum folgenden religionsphilosophischen Abriß über (§§ 13ff), der die Begrenzungen einzelner frommer Gemeinschaften genauer bestimmt. 30 Vgl. CG 2 § 6 Ls., Bd. I, 41,18-20: „Das fromme Selbstbewußtsein wird [...] notwendig auch Gemeinschaft". Für diese Behauptung wird dann in § 6.2 durch den Verweis auf das menschliche „Gattungsbewußtsein" sowie die Erwägung, daß „alles Innere auch auf irgendeinem Punkt der Stärke oder Reife ein Außeres wird" (a.a.O., 42,25-27) Plausibilität gefordert. 31 Vgl. Ohst: Bekenntnisschriften, 199 Anm. 114. Daher gilt auch nur für die Argumentation der Erstauflage, daß die „metadogmatische[n] Bestimmung des Wesens
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Erregungen Gemeinsamen hat im Argumentationsduktus der zweiten Fassung der Einleitung keine sinnvolle Funktion mehr, weil dort nicht die christliche Frömmigkeit, sondern die christliche Kirche den Gegenstand der einleitenden Untersuchungen bildet.32 Aus diesem Grund kann die Zweitauflage auch problemlos auf den mißverständlichen Ausdruck „Standpunkt über" dem Christentum verzichten. 33 Daß aber die Wesensformel für die Dogmatik zusätzlich die Funktion hat, das Eigentümliche der christlichen Frömmigkeit als dem Gegenstand der Dogmatik zugrundeliegende Größe zu fixieren, muß in den Gedankengang der zweiten Einleitung erst nachträglich eingetragen werden 34 , während sie in der ursprünglichen Fassung um eben dieser Funktion willen aufgestellt wird. Eine Gesamtbetrachtung der beiden Einleitungen in die Glaubenslehre unter der Fragestellung, in welcher Hinsicht in diesen Texten des Christentums [...] ihre Notwendigkeit dem Umstand verdankt, daß alle echt dogmatischen Sätze zur Zeit [...] umstritten sind" (a.a.O., 217). Vom Standpunkt der Erstfassung aus läßt sich dann zwar beklagen, daß die Neukonzeption der Einleitung „der Durchsichtigkeit des Verfahrens auf seine Intention hin eher hinderlich" geworden ist (a.a.O., 199 Anm. 114). Berücksichtigt man aber den Sachverhalt, daß mit der Umstellung der Einleitung auch die mit der Wesensbestimmung des Christentums verfolgte Absicht eine andere geworden ist, so ist die Durchsichtigkeit selbst dieselbe geblieben, während die Intention sich geändert hat: Der Methodenparagraph ' § 6 wechselt durch seine Umformung in 2 § 2 Ort und Inhalt. 32 Dieser Unterschied wird auch daran deutlich, daß die erste Einleitung als das Material der Untersuchung, die die Wesensbestimmung des Christentums zum Ziel hat, „die Seelen, in welchen wir die frommen Erregungen antreffen" ( C G 1 § 7.4, K G A 1/7.1, 25,15f), identifiziert, vgl. auch a.a.O., 25,21 f. Konsequenterweise fehlt diese Passage in der zweiten Auflage: Der hier angestellten Untersuchung liegt nicht die Frömmigkeit, sondern deren Sozialgestalt, die christliche Kirche, zugrunde. Zu dieser Grundunterscheidung vgl. unten S. 191ff. 33 C G 1 § 6 Ls., K G A 1/7.1, 20,15. Parallel zu seiner Kritik am Ausdruck „Standpunkt über dem Christentum" in Schleiermachers „Kurzer Darstellung" (vgl. oben S. 109f) hat F. H. C. Schwarz auch in seiner Rezension der ersten Auflage der Glaubenslehre (Heidelberger Jahrbücher der Literatur 15 (1822), 854-864. 945-980; 16 (1823), 209-226. 321-352, auszugsweise abgedruckt in K G A 1/7.3, 539-623) die Einnahme eines Standpunktes „über dem Christenthum" ( K G A 1/7.3,564) zum Zwecke der Wesensbestimmung kritisiert: Ein solches Vorgehen stehe in Widerspruch mit Schleiermachers Programm, „alle Lehren nur aus dem christlichen Bewusstseyn" zu entnehmen, und nicht über demselben zu entwickeln (ebd.). In seiner Erwiderung innerhalb der „Sendschreiben" (Zweites Sendschreiben 515-517, K G A 1/10, 373,1374,12) stellt Schleiermacher einerseits klar, daß die Wesensbestimmung keinesfalls eine „Begründung" ( K G A 1/10, 373,12) der christlichen Glaubenslehre, im Sinne einer begrifflichen Deduktion zu sein beansprucht; andererseits weist er Schwarz eine Verwechselung der Methode der Einleitung mit dem Programm der Dogmatik nach (vgl. Zweites Sendschreiben 517, K G A 1/10, 374,10-12). 34 Vgl. C G 2 §§ 15-19, die unter der Uberschrift stehen „Vom Verhältnis der Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit".
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Themen der Philosophischen Theologie zur Sprache kommen, kann also als Zwischenergebnis festhalten: In beiden Fällen wird die Thematik der Philosophischen Theologie ausschnittweise behandelt. Und in beiden Fällen geschieht diese Behandlung jedenfalls nicht mit dem Ziel einer Darstellung der Philosophischen Theologie, sondern aus anderen, im einzelnen für beide Fassungen divergierenden Gründen. Daher ist die Frage nach einer wenigstens partiellen Ausführung des philosophisch-theologischen Programms in der Dogmatikeinleitung an beide Auflagen der Glaubenslehre zu richten, die in diesem Zusammenhang selektiv benutzt werden können: nach Maßgabe der Ausführlichkeit, in der philosophisch-theologische Themen als Philosophische Theologie Würdigung finden. Denn der Vergleich der beiden Einleitungen nach Ausgangspunkt und Gedankengang hat gezeigt, daß der zwischen ihnen bestehende Unterschied nicht die Behandlung philosophisch-theologischer Themen überhaupt betrifft, sondern den jeweiligen Grund für diese Thematisierung. Ob sich damit auch die Art und Weise der Behandlung selbst ändert, wird sich erst in der Einzeluntersuchung zeigen können. Vor einer Gesamtbeurteilung des Verhältnisses von Programm und Ausführung der Philosophischen Theologie im Rahmen der Einleitung in die Glaubenslehre ist jedoch an das Verhältnis zu erinnern, in dem die Apologetik, Ethik und Religionsphilosophie zueinander stehen. Denn die Parallelität der Lehnsatz-Gruppen suggeriert eine Gleichrangigkeit aller drei Disziplinen, die die wissenschaftssystematischen Verhältnisse nicht hinreichend deutlich macht. Auf die Grundwissenschaft Ethik ist die Apologetik so bezogen, daß sie aus ihr das begriffliche Schema des ethischen Geschichtsprinzips „Frömmigkeit" entlehnt, dieses dann aber - wie die Religionsphilosophie - allererst mit geschichtlichem Material ausfüllen muß, damit eine „kritische" Vergleichung überhaupt stattfinden kann. Die Ethik kann also nicht auch nur ausschnittweise direkt in die Apologetik übernommen werden, sondern stellt ihr nur die begrifflich-spekulativen Hilfsmittel zur Verfügung.35 Zwischen Apologetik und Religionsphilosophie besteht dagegen ein Teilmengenverhältnis: Die Apologetik bezieht sich auf denjenigen Ausschnitt aus der Religionsphilosophie, der für eine Dar35 Der Vorlesungsnachschrift zufolge ist dieser Sachverhalt in K D § 35 ausgedrückt: „Die Abzweckung des § ist nun, zu sagen, daß die Aufgabe der philosophischen Theologie, [...] - ihrer kritischen Natur nach aus der Ethik herausfalle." (ThEnz. 39,32-35)
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Stellung des Wesens des Christentums unabdingbar ist. 36 Denn sie hat nicht die gesamte Religionsgeschichte zu ihrem Thema, sondern ist auf das Christentum und den Protestantismus beschränkt. Die Religionsphilosophie selbst ist dagegen dem Ideal der Vollständigkeit verpflichtet, und dies in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll sie „alle geschichtlich gegebenen Glaubensweisen" erfassen (ThEnz. 34,4f) und also die „Gesamtheit" 37 der geschichtlichen Entwicklung des religiösen Elements berücksichtigen. Zum anderen hat sie aber auch nachzuweisen, daß damit die sich aus dem ethischen Begriff der Frömmigkeit ergebenden Differenzen vollständig in der Religionsgeschichte abgebildet werden. 38 Sie intendiert also den Nachweis der Ubereinstimmung von begrifflicher Teilbarkeit und geschichtlicher Vielfalt.39 Damit erweist sich der Unterschied zwischen Apologetik und Religionsphilosophie als Abbildung des grundsätzlich zwischen der „positiven" Wissenschaft Theologie und dem System der „reinen" Wissenschaften bestehenden Verhältnisses40: Nach Maßgabe ihrer Funktion für die Kirchenleitung erhält die Apologetik ihre Thematik, die Wesensbestimmung des Christentums, die sie aus der Religionsphilosophie entnimmt. Oder anders: Jede Wesensbestimmung des Christen-
36 Daher gehört die Aufstellung der apologetischen Begriffe „eigentlich der Religionsphilosophie an" (KD § 43 Zs.; don auf das Begriffspaar „natürlich" und „positiv" bezogen). 37 CG 2 § 2.2, Bd. I, 13,4 38 Vgl. dazu Ns. Jonas 18 zu KD 1 l l f § 3: „[...] daß die geschichtlich gegebenen Religionen ein gewisses System bilden, worin sich alles findet, was wir in der allgemeinen Idee als different möglich annahmen." (Hervorhebung M.R.) 39 Vgl. CG 2 § 2 Zs. 2, Bd. I, 14,21-24: „Unter Religionsphilosophie [wird] eine kritische Darstellung der verschiedenen gegebenen Formen frommer Gemeinschaften [verstanden], sofern sie in ihrer Gesamtheit die vollkommene Erscheinung der Frömmigkeit in der menschlichen Natur sind." (Hervorhebung i. O.) 40 Nach D. Offermann unterscheiden sich dagegen die apologetischen von den religionsphilosophischen Sätzen darin, daß in den letzteren „das Gewicht auf der Erörterung des grundsätzlich Gültigen liegt", während für den apologetischen Gedankengang „das Wesentliche der Verhandlung die Bezugnahme auf das empirisch Gegebene" darstelle (Offermann: Einleitung, 239). Diese Beschreibung des Verhältnisses der beiden „Lehnsatz"-Gruppen zueinander hat darin recht, daß bei der faktischen Ausführung der Apologetik die das Christentum betreffenden empirischgeschichtlichen Daten eine größere Rolle spielen als bei den allgemeineren Konstruktionen der religionsphilosophischen Sätze. Grundsätzlich verfahren aber beide „kritischen" Disziplinen nach derselben Methode; ihr Unterschied besteht nicht in einer stärkeren Geschichtsbezogenheit der Apologetik, sondern darin, daß diese eine funktionsspezifische Themeneingrenzung gegenüber der Religionsphilosophie vornimmt: aufgrund ihrer Positivität beschränkt sie sich auf die Bestimmung des Wesens des Christentums.
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turns, die mit und aus religiösem Interesse geschieht, verwandelt die religionsphilosophisch-ethische Untersuchung in eine apologetische. Aus dieser Rekonstruktion des wissenschaftssystematischen Zusammenhangs der Herkunftsdisziplinen, denen die „Lehnsätze" entstammen, folgt nun zweierlei für ihre Gesamtbeurteilung: Erstens gehören nicht nur die explizit als solche kenntlich gemachten apologetischen, sondern auch die übrigen „Lehnsätze" der Philosophischen Theologie und ihrer Subdisziplin „Apologetik" an.41 Und zweitens ist hinsichtlich der ethischen und religionsphilosophischen „Lehnsätze" festzustellen, daß sie auf doppelte Weise entlehnt werden: zunächst aus ihren Heimatdisziplinen in die Apologetik und sodann von dort aus in die Einleitung zur Dogmatik. Die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis der drei „Lehnsatz" Gruppen zueinander bezogen sich auf das grundsätzlich und auf der Ebene des Wissenschaftssystems zwischen Apologetik und Ethik bzw. Religionsphilosophie zu rekonstruierende Verhältnis. Darüber hinaus ist jedoch die Schwierigkeit zu berücksichtigen, daß die Apologetik ihre inhaltliche Ausarbeitung selbst bewerkstelligen muß, weil es eine ausgeführte Religionsphilosophie, auf die sie zurückgreifen könnte, noch nicht gibt.42 Daher fällt die Entfaltung der Religionsphilosophie ihrerseits in die Apologetik, jedoch unter Beschränkung auf deren unverzichtbaren Themenbestand, d.h. „nur so, daß der Ort des Christenthums gefunden werden kann." 43 Aus diesem Grund stellt die Einleitung in die Glaubenslehre ein „abgekürztes Verfahren"44 an: Sie entwickelt nur diejenigen Themen und Begriffe der Ethik und Religionsphilosophie, die ihrer eigenen Aufgabe, das Wesen des Christentums zu bestimmen, dienlich sind. Auf diesem Hintergrund kann nun das Verhältnis zwischen dem enzyklopädischen Programm der Apologetik und dessen partieller Ausführung innerhalb der „Einleitung" in die Glaubenslehre folgendermaßen beurteilt werden: Die Ausführung ist deswegen frag41 Zu demselben Ergebnis gelangt T. H. Jergensen: Offenbarungsverständnis, 212: „Schleiermacher versteht sie alle als ein Stück philosophischer Theologie." 42 Vgl. ThEnz. 34,9-14: „Diese [sc. Religionsphilosophie] aber ¡stauch als wissenschaftliche Disciplin noch nicht ausgebildet; es giebt eine Menge einzelner Versuche, nicht über einzelne Religionen blos, sondern auch einer Zusammenstellung; aber man kann noch nicht sagen, daß die Religionsphilosophie in diesem Sinne in den C o m plexus der philosophischen Wissenschaften aufgenommen wäre." Vgl. auch C G 1 § 7.1, K G A 1/7.1, 24,11-13; C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,14-20. 43 ThEnz. 50,20f; vgl. ThEnz. 34,14-19. 44 C G 1 § 7.3, K G A 1/7.1, 24,34; C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,28f.
1. Zur „Einleitung" in die Glaubenslehre
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mentarisch, weil sie einem Verkürzungsinteresse unterliegt. Denn die Dogmatik-Einleitung will nicht die Apologetik zur Darstellung bringen, sondern bedient sich ihrer (in beiden Auflagen unterschiedlich motiviert) aufgrund ihrer eigenen Intention, eine „Erklärung der Dogmatik" 45 aufzustellen. Zu diesem Zweck trifft sie aus dem (programmatischen) Gesamtbestand der Apologetik eine (faktische) Auswahl und reduziert ihn dadurch in zweierlei Hinsicht: Erstens verkürzt sich der Inhalt der Apologetik auf die für die Fundierung der Dogmatik wesentlichen Fragen. Und zweitens wird hierbei von ihrem Praxisbezug, d. h. der Funktionalität der Wesensbestimmung für die apologetischen „Leistungen" 46 , völlig abgesehen. Diese Reduktion hat für die formale Behandlungsweise der Apologetik den Effekt, daß die für sie programmatisch aufgestellten Begriffe47 allenfalls in „Zusätzen" 48 verhandelt oder ganz übergangen 49 werden; sie bilden jedoch nicht die eigentliche Leitlinie der Untersuchung. 50 Eben dies soll dagegen in der folgenden Rekonstruktion geschehen: Den Ausgangspunkt der Interpretation bilden die in der „Kurzen Darstellung" aufgestellten Grundbegriffe der Apologetik; von hier aus soll gefragt werden, welche Funktion und Bedeutung ihnen in der Einleitung zur Glaubenslehre beigemessen wird. Ein solches Vorgehen wird die Thematik dieses zentralen Textes nicht vollständig erschließen können: eine ausführliche Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsbegriff und Christentums- sowie Protestantismusverständnis ist im folgenden keineswegs intendiert. Vielmehr soll lediglich untersucht werden, in welcher Form (und an welchem Ort) Schleiermacher die in der „Kurzen Darstellung" für die Apologetik aufgestellten „leitenden Begriffe" (KD § 252 Zs.) ansatzweise selbst bearbeitet und entfaltet hat. Diese Vorgehensweise wird aber einen Beitrag 45 So die explizite Zielformulierung C G 2 Bd. I, 10,8 (Uberschrift des ersten Kapitels der Einleitung). 46 K D § 66 Zs.; vgl. zur Funktion und Bedeutung des Begriffs oben S. 119ff. 47 Vgl. K D §§ 43-48. 50. 48 So z.B. die Begriffe „Offenbarung, Wunder, Eingebung"; vgl. unten S. 172ff. 49 So z.B. die Begriffe „Hierarchie" und „Kirchengewalt"; vgl. unten S. 186. 50 Auf diese Differenz hat Schleiermacher ausdrücklich hingewiesen, vgl. C G 2 § 2 Zs. 1, Bd. I, 14,13-18: „Hiermit soll indes keinesweges behauptet werden, daß diese [sc. Lehn-]Sätze in einer selbständigen Behandlung der Wissenschaften, denen sie angehören, in derselben Gestalt vorkommen müßten, in welcher sie hier aufgestellt werden." Eine solche Ubereinstimmung wird vielmehr für „unwahrscheinlich" erklärt, weil die Lehnsätze, aus ihrem systematischen Kontext isoliert, sich in Form und Inhalt verändern müssen, um verständlich und plausibel zu sein; vgl. auch die Bemerkung zu C G 2 § 6, Bd. I, 41,33-35 (Th Anm. a).
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
auch zur Interpretation der Dogmatikeinleitung selbst liefern können. Denn der Zusammenhang zwischen der Einleitung in die Glaubenslehre und den Themen der Philosophischen Theologie ist zwar in der Schleiermacher-Forschung häufig betont worden.51 Bei diesen Hinweisen pflegt aber die Frage unerörtert zu bleiben, wie dieser thematische Zusammenhang des näheren gestaltet ist, d. h. auf welche Weise im einzelnen die in der „Kurzen Darstellung" der Philosophischen Theologie zu ihrer Ausführung gestellten Begriffe in der Einleitung zur Glaubenslehre aufgenommen werden. Ein solcher Blick aus der Perspektive der Apologetik kann sich aber auch für die DogmatikEinleitung selbst als fruchtbare Lesehinsicht erweisen: Er bildet die Voraussetzung für ein Verständnis dieses Textkomplexes, das Schleiermachers eigenen wissenschaftssystematischen Bestimmungen Rechnung trägt.
2. Grundsätze der Apologetik In der Darstellung der philosophisch-theologischen Grundbegriffe selbst ist die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Philosophische Theologie mit aufzunehmen, die sich aus der geschichtlichen Notwendigkeit ergab, auch den konfessionellen Gegensatz zu berücksichtigen.52 Daher sind Apologetik und Polemik ihrerseits jeweils zweigeteilt, als allgemein-christliche und speziellprotestantische, in den Blick zu nehmen. a) Allgemeine Apologetik Die nähere Ausführung der Aufgabe der allgemein-christlichen Apologetik insgesamt wird von Schleiermacher in zwei Untersuchungsgänge geteilt: Als „Grundaufgabe der Apologetik" (KD § 44 Zs.) bezeichnet er die Aufstellung einer Formel für das Wesen des Christentums; sie soll unter Rückgang auf das Begriffspaar „natürlich" und „positiv" geschehen.53 Dagegen kommt den übrigen Begriffen, die 51 Vgl. etwa Birkner: Theologie und Philosophie, 33f; Grab: Humanität, 162; Jergensen: Offenbarungsverständnis, 212; Offermann: Einleitung, 30f; Ohst: Bekenntnisschriften, 191; Scholtz: Philosophie 128f; Stalder. Grundlinien, 130; E. Schott: Erwägungen zu Schleiermachers Programm einer philosophischen Theologie, T h L Z 88 (1963), 321-336, 330. 333f. 52 Vgl. dazu oben III.4. 53 Vgl. K D §§ 43f.
2. Grundsätze der Apologetik
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der Apologetik zur Bearbeitung vorgelegt werden, die Funktion einer „Bewährung" (KD § 49 Zs.) zu: Diese begrifflichen Untersuchungen stellen verschiedene Einzelaspekte der Wesensbestimmung dar, die eine Verifikation der aufgestellten Wesensformel zum Ziel haben. 54 Im folgenden soll daher zunächst die apologetische Grundaufgabe betrachtet werden, bevor die flankierenden Begriffsbestimmungen zur Darstellung kommen. α) Die apologetische Grundaufgabe Die Formel für das Wesen des Christentums soll nun in der Apologetik aufgestellt werden unter Zuhilfenahme „der Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven" (KD § 43). Dabei nimmt Schleiermacher das traditionelle Begriffspaar der Aufklärungstheologie so auf 55 , daß er es in die Unterscheidung von ethischem Religionsbegriff und „kritischer" Wesensformel einzeichnet: Das „Natürliche" der Religion bezeichnet das allen frommen Gemeinschaften zugrundeliegende Gemeinsame, während das „Positive" den Sachverhalt ausdrückt, daß sich dieses Gemeinsame nur in unterschiedlichen Ausprägungen zur geschichtlichen Darstellung bringt. 56 Daher lautet die präzise Formulierung der apologetischen „Grundaufgabe" (KD § 44 Zs.), daß sie die Formel für das „eigentümliche Wesen des Christentums" (KD § 44) in Abgrenzung gegenüber anderen Religionen unter den Begriff des Positiven zu subsumieren habe. Der Versuch, die Durchführung dieser Aufgabe in der Einleitung zur Glaubenslehre nachzuzeichnen, steht vor der grundlegenden Schwierigkeit, daß Schleiermacher dort den Begriff des Positiven programmatisch ablehnt 57 : Er findet sich zwar, zusammen mit dem 54 Diese Hilfsfunktion der in KD §§ 45-48 aufgestellten Begriffe wird besonders von B. Gherardini betont: Die Apologetik mache sich die übrigen Begriffsgruppen zunutze, um die Beziehung zwischen dem „Natürlichen" und dem „Positiven" im Blick auf das Christentum deutlich werden zu lassen (vgl. B. Gherardini: L'Enciclopedia di Schleiermacher. Esposizione storico-critica e valutazione di „Kurze Darstellung des theologischen Studiums", Lat. 46 (1980), I-VIII. 1-197, 89). Daher werden sie auch „strumenti apologetici per la verifica" bezüglich der Wesensformel genannt (a.a.O., 91, dort allerdings auf die Begriffe „Weissagung" und „Vorbild" bezogen). 55 Zur dadurch entstehenden Doppeldeutigkeit des Begriffs „positiv" bei Schleiermacher vgl. oben S. 48, Anm. 217. 56 Vgl. ThEnz. 50,4-6: „Dieses Verhältniß also vermöge dessen das Religionsgesellige aus der Natur des Geistes zu begreifen ist, ist das Natürliche daran, das aber, daß es überall ein Bestimmtes ist, ist das Positive." 57 Vgl. CG 1 § 19 Anm., KGA 1/7.2, 69,1 lf: „und ich kann mir den Ausdruk [sc. positiv] deshalb nicht aneignen, weil ich den Gegensaz [sc. zum Natürlichen] nicht
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
Begriff „geoffenbart", in beiden Fassungen der Einleitung.58 Die Verwendungsweise beider Ausdrücke beurteilt Schleiermacher jedoch als „ziemlich verworren" 5 9 ; er erwähnt sie daher nur, „um sie wieder zu verlassen." 60 Vergleicht man aber beide Auflagen der „Einleitung" unter der Fragestellung, in welcher Form sie den Begriff „positiv" jeweils verhandeln, so läßt sich feststellen, daß diese Ablehnung ihrerseits abnimmt: Während sich CG 1 § 19.1 ausschließlich von der herkömmlichen Bedeutung des Begriffs abgrenzt 61 , nimmt die Erörterung in CG 2 § 10 Zs. abschließend eine affirmative Begriffsbestimmung vor, zu der sich in der ersten Auflage keine Entsprechung findet.62 Betrachtet man nun zunächst die Gründe für Schleiermachers Ablehnung dieses Begriffs, so richtet sie sich gegen eine additive Vorstellung, derzufolge das Natürliche das allen Religionen Gemeinsame darstellt, zu welchem das Positive als jeweils unterschiedlich bestimmtes Individuelles hinzutritt. 63 Seine Kritik ist daher insbesondere auch gegen die „scheinbare Behauptung" gewandt, eine Religion sei desto vollkommener, je weniger Positives sie enthalte, so daß „in der vollkommensten alles positive wegfiele." 64 Schleiermachers eigene Begriffsbestimmung geht dagegen davon aus, daß „nichts in verschiedenen frommen anerkenne." In der zweiten Auflage hat Schleiermacher entsprechend zu dem »Zusatz" des § 10 handschriftlich bezüglich der Begriffe „positiv" und „geoffenbart" notiert: „Auch diese Ausdrücke sollen nicht wesentlich vorkommen" (CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 68,37f (Th Anm. a)). 58 Vgl. C G ' § 19, C G 2 § 10 Zs. 59 CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 68,32 60 CG 1 § 19 Anm., KGA 1/7.1, 69,7f 61 Vgl. besonders die Zusammenfassung KGA 1/7.1, 70,25-37, die im einzelnen die Rede von „positiver Religion" bzw. „positiven Lehren" als leer erweist; diese Passage hat in CG 2 § 10 Zs. keine Parallele. 62 Vgl. CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 71,6-11. 63 Ein Beispiel für diese Auffassung bietet nach Schleiermachers Verständnis M. Mendelssohns Wesensbestimmung des Judentums als auf eine „göttliche Gesezgebung" gegründete Religion, die „keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten" enthalte und deswegen auch „keine symbolische[n] Bücher, keine Glaubensartikel" kenne (M. Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, Frankfurt/Leipzig 2 1791, 104. 116. 121, vgl. KGA 1/7.3, 432-434 (Hervorhebungen i. O.)). Damit liege das Positive des Judentums in seinen Geboten, im Christentum dagegen „seien es die Lehren" (CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 70,19). 64 CG 1 § 19.1, KGA 1/7.1, 72,2-5. Diese deistische Position findet sich in exemplarischer Formulierung in G. E. Lessings Nachlaßfragment „Uber die Entstehung der geoffenbarten Religion": „Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten Conventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt. - " (G. E. Lessing: Sämtliche Schriften, hg.v. K. Lachmann, 3. auf's neue durchgesehene und
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Gemeinschaften völlig dasselbe ist" 65 ; daher kann auch das durch den Begriff des Natürlichen bezeichnete Gemeinsame verschiedener Religionen nicht in einer empirisch aufweisbaren Schnittmenge gleicher frommer Erregungen bestehen, sondern muß als das allen religiösen Äußerungen zugrundeliegende Wesen der Frömmigkeit bestimmt werden, das nur auf dem Wege begrifflicher Abstraktion erfaßt werden kann. 66 Von hier aus erfährt auch Schleiermachers eigene Definition, das „Natürliche" sei „das Gemeinsame aller [...] eigentümlicher Gestaltungen" (KD § 43 Zs.), eine Korrektur: Der Begriff des Natürlichen läßt sich nicht so bestimmen, daß nach demjenigen Merkmal gefragt wird, in welchem sich alle geschichtlichen Religionen gleichen; vielmehr kann nur umgekehrt der ethische Begriff der Frömmigkeit deswegen als „natürlich" bezeichnet werden, weil er unter der Voraussetzung entfaltet wird, daß er allen geschichtlichen Religionen zugrundeliegt. 67 Der Ausdruck bezeichnet also für Schleiermacher nicht mehr ein geschichtlich aufweisbares Phänomen, sondern wird zum Abstraktionsbegriff. 68 Entsprechend bestimmt er dann auch den Begriff des Positiven nicht als Teilbereich der Ausdrucksformen einer geschichtlichen Religion, der zu dem Bestand der „natürlichen" Religion supplementär hinzuträte und dadurch das individuelle Gepräge dieser Glaubensweise definierte. Sondern der Ausdruck bezeichnet Schleiermacher zufolge den „individuelle[n] Inhalt der gesamten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft" 69 , also das jeweils Charakteristische einer bestimmten Religion, das alle ihre
vermehrte Auflage, besorgt durch F. Muncker, Stuttgart/Leipzig 1886-1924, Bd. 14, 313,27-29 (Hervorhebung i.O.)) 65 CG 1 § 17.2, KG A 1/7.1, 60,4 66 Vgl. CG 1 § 19.1, KGA 1/7.1, 70,1-3: Das „natürliche ist nur eine durch zusammenstellende Betrachtung mehrerer Gemeinschaften entstandene Abstraction, welche in dem mannigfaltigen die Einheit nachweisen will." Einen vergleichbaren Abstraktionsbegriff stellt nach Schleiermacher der Ausdruck „Naturrecht" dar (vgl. CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 69,12-14); sein Verständnis der Begriffe „natürlich" und „positiv" kann er daher auch am Verhältnis zwischen natürlichem und positivem Recht erläutern; vgl. CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 69,2-18; ThEnz. 49,29-50,1. 67 Mit dieser Intention wendet sich Marg. 307 (KGA 1/7.3, 63,1-4) gegen „den gewöhnlichen Sprachgebrauch das allen Glaubensweisen gemeinsame sei das natürliche. Dies ist aber nicht richtig; sondern nur umgekehrt kann man sagen das natürliche (d. h. in der Vernunft selbst gegebene) müsse allen gemein sein." 68 Diesen Bedeutungswandel betont auch Junker: Urbild, 105: Der Begriff des Natürlichen ist bei Schleiermacher geschichtlich „ortlos geworden" und wird ein „Abstrakt ionsp rodu kt". 69 CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 71,7-9 (Hervorhebung M.R.)
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Ausprägungen umfaßt und zugleich Ausdruck ihrer geschichtlichen Individualität ist.70 Hält man sich diese Begriffsbestimmungen Schleiermachers vor Augen, dann lassen sich - trotz seiner in der Einleitung zur Glaubenslehre geäußerten Abneigung gegenüber dem Begriffspaar - der dort aufgestellte Begriff der Frömmigkeit sowie die Formel für das Wesen des Christentums als zumindest partielle Entfaltung der „Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven" (KD § 43) verstehen: Was nun zunächst Schleiermachers Beschreibung und Begründung des ,,Wesen[s] der Frömmigkeit" 71 als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit betrifft, so ist hier der Unterschied zu berücksichtigen, der zwischen den beiden Auflagen nach Intention und Argumentationscharakter besteht. Denn es ist insgesamt festzustellen, daß die Analyse des Selbstbewußtseins in §§ 8 und 9 der Erstauflage überwiegend empirisch-deskriptiv vorgeht, während CG 2 §§ 3 und 4 durch eine transzendentale Analyse des Selbstbewußtseins einen spekulativen Religionsbegriff zu entwickeln suchen. 72 Dieser Unterschied läßt sich an drei Einzelbeobachtungen exemplarisch belegen: (1) Die Zuweisung der Frömmigkeit zum Gefühl geschieht in CG 1 § 8 in der Weise, daß zunächst die Möglichkeit einer Verortung außerhalb der Triplizität von Gefühl, Wissen und Tun ausgeschlossen wird. 73 Diesen Nachweis führt Schleiermacher jedoch nicht durch eine umfassende Analyse des fühlenden, wissenden und tätigen Subjekts, die zu dem Ergebnis käme, daß die Struktur der Subjektivität genau diese drei 70 Vgl. Marg. 302, KGA 1/7.3, 61,18f: „Positives ist in den frommen Momenten selbst die Beziehung auf die eigenthümliche Geschichte". 71 CG 1 § 9 Ls.; CG 2 § 4 Ls. 72 Diese Divergenz, die überzeugend nachgewiesen wird bei Junker Urbild, 39-71, ergibt sich folgerichtig aus der Umgestaltung der „Einleitung" (vgl. oben S. 155ff): Weil in der Erstauflage das Wesen der christlichen Frömmigkeit als Gegenstand der Dogmatik zu bestimmen ist, reicht es aus, zu beschreiben, „wodurch sich die fromme Gemüthserregung [...] von andern Gemüthszuständen unterscheidet" (CG 1 § 7.4, KGA 1/7.1, 25,25-29). In der zweiten Auflage soll dagegen das Eigentümliche der christlichen Kirche als dem institutionellen und wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen der Dogmatik bestimmmt werden; daher ist hier eine ethisch-transzendentale Begründung für die geschichtliche Legitimität der frommen Gemeinschaft zu führen, weil die Frömmigkeit hier nicht sowohl als Gegenstand der Dogmatik, sondern als „Basis aller kirchlichen Gemeinschaften" (CG 2 § 3 Ls., Bd. I, 14,27f) in den Blick genommen wird. Deswegen ist für eine Interpretation der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie als einer bewußtseinstheoretischen Begründung der Religion die Zweitauflage der „Einleitung" zugrundezulegen, vgl. Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 229f. 73 Vgl. CG 1 § 8.1, KGA 1/7.1, 26,21-30.
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Grundformen umfaßt. Vielmehr wird die Vollständigkeit der Trias am Kriterium der Gemeinschaftsbildung nur hinreichend (und nicht notwendig) bewiesen: Es gibt (bisher) keine Gemeinschaft, die sich auf ein Viertes gründet. Die zweite Fassung dieser Begründung 74 geht jedoch zurück auf die beiden Grundfunktionen des Subjekts selbst: das „Insichbleiben und Aussichheraustreten" 75 . Auf diesen fundamentalen Funktionen beruhen auch die drei Grundvollzüge Gefühl, Wissen und Tun. Indem Schleiermacher nun das „Wesen des Subjektes selbst" als die „Einheit" 76 sowohl dieser Vollzüge als auch jener Grundfunktionen bestimmt, beansprucht er, die Struktur der Subjektivität vollständig beschrieben zu haben. Ein „Viertes"77 als möglicher Sitz der Frömmigkeit ist damit nicht mehr nur faktisch, sondern notwendig ausgeschlossen. (2) In der Analyse des Selbstbewußtseins werden in CG 1 § 9.1 zwei Aspekte unterschieden: das Bewußtsein vom Ich als eines „sich immer gleichbleibenden" 78 und das Bewußtsein vom Ich als Änderungen unterworfenes. Beide Aspekte werden dabei von Schleiermacher insofern gleichwertig nebeneinander gestellt, als sie beide „Bestandtheile jedes bestimmten Selbstbewußtseins" 79 darstellen. Dagegen lassen sich die in § 4.1 der zweiten Auflage getroffenen Bestimmungen so verstehen, daß das erste dieser beiden Elemente des Selbstbewußtseins einen anderen Stellenwert erhält: Das Bewußtsein des sich gleichbleibenden Ichs avanciert vom bloßen Bestandteil des Selbstbewußtseins zu der dessen Einheit ermöglichenden Bedingung. 80 Denn nur unter der Voraussetzung des Bewußtseins seiner selbst als gleichbleibendem kann sich das Selbstbewußtsein die wechselnden Bewußtseinszustände als seine eigenen zuschreiben. 81 (3) Entsprechend ändert sich auch der Status des Begriffspaares „Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit": Beschrieben die Begriffe in CG 1 lediglich einen bestimmten Aspekt der Betrachtung des Selbstbewußtseins, der
74 Vgl. CG 2 § 3.3, Bd. I, 17,20-19,4. 75 A.a.O., 18,14f 76 A.a.O., 18,32 77 A.a.O., 18,28 78 CG 1 § 9.1, KGA 1/7.1, 31,10f 79 A.a.O., 31,13; vgl. 31,15. 22. 80 Vgl. dazu Junker. Urbild, 55f. 81 Vgl. die Rekonstruktion des Arguments bei K. Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: D. Lange (Hg.): Schleiermacher, 129-162, 140.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
seinerseits nicht weiter begründet wird82, so haben sie in der zweiten Auflage die Funktion, das „Subjekt"83 des Selbstbewußtseins zu bezeichnen und erhalten so den Status notwendiger Elemente des Selbstbewußtseins. Damit verläßt der Gedankengang die Untersuchungsebene der bloß faktischen Vollzüge des Bewußtseins: deren Möglichkeitsgrund wird zum Gegenstand der Betrachtung. Die Argumentation erhebt somit den Anspruch, nicht nur eine Beschreibung, sondern eine transzendentale Analyse des Selbstbewußtseins zu entfalten.84 Daß dieser Anspruch erst in der zweiten Fassung der Einleitung erhoben wird, ergibt sich auch aus der methodischen Bestimmung der Erstauflage, das Wesen der Frömmigkeit und des Christentums auf empirischem Wege durch die Betrachtung des Gemeinsamen verschiedener Religionen bzw. das Unterscheidende des Christlichen aufzusuchen.85 Dagegen entspricht das Vorgehen in der Zweitfassung der Einleitung dem dort explizit angegebenen wissenschaftstheoretischen Charakter der Untersuchung: sie wird als in die Ethik gehörige ausgewiesen und entfaltet den Begriff der Frömmigkeit auf spekulative Weise. Damit ist zugleich die Forderung der Philosophischen Theologie erfüllt, die Frömmigkeit als ein „für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element" (KD § 22) zu erweisen86: Indem die Zweitfassung beansprucht, eine transzendentalphilosophische Argumentation zu liefern, führt sie ipso facto den von der Philosophischen Theologie geforderten Nachweis.87 Mit diesem Anspruch leistet Schleiermacher also eine subjektivitätstheoretische Entfaltung und Begründung der Religion; damit entspricht die in der zweiten Auflage der Einleitung ausgeführte Theorie der Frömmigkeit präzise den in der Apologetik an den Begriff des „Natürlichen" gestellten Anforderungen.
82 Vgl. CG 1 § 9.2, KGA 1/7.1, 31,27-29: „Indem wir nun unsrer selbst als in unserm Sosein durch etwas bestimmt inne werden, und denken dabei an das Zusammensein von Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit [...]". 83 CG 2 § 4.1, Bd. I, 24,25 84 Vgl. Junker: Urbild, 57f. 85 Vgl. CG 1 § 7.4, KGA 1/7.1,25,21f: „Denn wir finden die fromme Erregung als einen bestimmten Zustand in der einzelnen Seele". 86 Vgl. oben S. 81. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Junker. Urbild, 57 Anm. 88. 87 Daher kann die materiale Dogmatik die „Anerkennung, daß dieses schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl [...] ein allgemeines Lebenselement" sei (CG 2 § 33 Ls., Bd. I, 174,24-28), als zugestanden voraussetzen.
2. Grundsätze der Apologetik
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In vergleichbarer Weise kann dann auch die in der Einleitung zur Glaubenslehre aufgestellte Formel für das Wesen des Christentums 88 als apologetische Bearbeitung des Begriffs „positiv" verstanden werden. Denn die Wesensformel nimmt für sich in Anspruch, den „individuelle[n] Inhalt der gesamten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft" 89 zu beschreiben. Und dies führt sie in Übereinstimmung mit den Regeln für das „kritische" Verfahren aus: Zunächst erstellt Schleiermacher von CG 1 § 14 an ein Koordinatensystem für die möglichen Differenzen religiöser Gemeinschaften, das diese nach „Entwiklungsstuffen" und „Arten" 90 unterteilt. Daraus ergibt sich die bekannte Stufenfolge von „Fetischismus", „Polytheismus" und „Monotheismus", deren letzte Ebene durch das Begriffspaar „ästhetisch" und „teleologisch" in zwei Gattungen geteilt wird. 91 Diese - horizontale und vertikale - Klassifikation kann deswegen als spekulatives Begriffsschema angesehen werden, weil sie beansprucht, nicht empirisch aufgefunden, sondern allein aus den „innersten Verhältnissen des Selbstbewußtseins" 92 abgeleitet zu sein, nämlich aus den möglichen Modifikationen der Art und Weise, in der sinnliches und höheres Selbstbewußtsein aufeinander bezogen sein können. 93 In dieses Koordinatensystem wird sodann das Christentum unter Berücksichtigung seiner geschichtlichen Individualität eingestellt; dabei unterscheidet Schleiermacher als „Kanon zur Auffindung des Eigenthümlichen" 94 die Identifizierung des die äußere Einheit verbürgenden geschichtlichen Anfangspunktes von der Bestimmung derjenigen Eigenart, die alle Äußerungen der Frömmigkeit einer bestimmten Religion dadurch wesentlich bestimmt, daß sie ihnen „ihre Farbe und ihren Ton mittheilt" 95 : Erst damit wird die „innere Einheit" 96 der jeweiligen geschichtlichen Religion festgestellt. Die We88 Vgl. CG 1 § 18 Ls.; CG 2 § 11 Ls. 89 CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 71,7-9 90 C G r § 14 Ls., KGA 1/7.1, 47,4 91 Vgl. CG 1 SS 15f; CG 2 S S 8f. Zur näheren Analyse dieses religionsphilosophischen Schemas vgl. etwa Offermann: Einleitung, 170ff; Schrofner: Theologie, 92ff; W. Schultz: Schleiermachers Deutung der Religionsgeschichte, ZThK 56 (1959), 55-82, 62ff. 92 CG 1 S 16.3, KGA 1/7.1, 57,40; dort allerdings nur auf den Gegensatz zwischen „ästhetischer" und „teleologischer" Glaubensweise bezogen. 93 Vgl. Junker: Urbild, 93f. 94 CG 1 S 17.1, KGA 1/7.1, 58,10 95 CG 1 S 17.3, KGA 1/7.1, 60,29 96 CG 1 S 17.1, KGA 1/7.1, 58,32
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
sensbestimmung des Christentums ist nun dadurch ausgezeichnet, daß in ihm äußeres und inneres Einheitsmerkmal in eins fallen: In den geschichtlichen Anfangspunkt des Religionsstifters Jesus von Nazareth wird im Christentum zugleich das innere Merkmal, das Bewußtsein der Erlösung, gesetzt. Denn alle im einzelnen unterschiedlichen geschichtlichen Ausprägungen des durch die Wirksamkeit der Person Jesu von Nazareth initiierten Christentums stimmen nach Schleiermacher darin überein, daß sie sich auf diese Person als den Erlöser beziehen.97 Dabei wird der Erlösungsbegriff von Schleiermacher so interpretiert, daß er die Aufhebung der zwischen sinnlichem und frommem Selbstbewußtsein bestehenden „Hemmung" 98 bezeichnet, die im Christentum als mitgeteilte Tätigkeit Christi verstanden wird. 99 Der Begriff der Erlösung vereint in sich somit begrifflich-spekulative und empirisch-geschichtliche Elemente: Das Problem einer Vermittlung von sinnlichem und frommem Selbstbewußtsein ergibt sich aus der Struktur des Selbstbewußtseins überhaupt, ist also Implikat des spekulativen Religionsbegriffs. Eine Deutung der Verbindung beider Elemente als mitgeteilte „Erlösung" kann dagegen nur empirisch aufgefunden werden: Daß die Aufhebung der Hemmung im Christentum ausschließlich als Tätigkeit Christi als des Erlösers gesetzt wird, läßt sich nicht begrifflich ableiten, sondern ist geschichtlich kontingent. Die aufgestellte Wesensformel beansprucht also, nach der geforderten „kritischen" Methode zu verfahren und Spekulation und Empirie gleichermaßen zu berücksichtigen. 100 Der Anspruch, daß in dieser Wesensbestimmung die geschichtliche Person Jesus von Nazareth tatsächlich erfaßt wird, ist allerdings schon früh bezweifelt und zum Gegenstand der Schleiermacher-Kritik geworden: Bereits F. C. Baur 101 hat der Schleiermacherschen Konzeption vorgeworfen, daß das Selbstbewußtsein des Erlösers als völliger Ausschluß einer Hemmung zwischen sinnlichem und frommem 97 Vgl. CG 1 § 18.3, KG A 1/7.1, 64,23-25: „Da nun die Christum von andern Religionsstiftern unterscheidende Thätigkeit durch die allgemeine Stimme der christlichen Kirche als die erlösende bezeichnet wird [...]." 98 CG 1 § 18.3, KG A 1/7.1, 64,43 99 Vgl. insgesamt CG 1 § 18.3, KGA 1/7.1, 64,23-66,25. 100 Zur Deutung der Wesensbestimmung als dem „kritischen" Verfahren entsprechendes Nebeneinander von „Konstruktion" und „Auffindung" vgl. auch Offermann: Einleitung, 298. 101 Vgl. etwa F. C. Baur: Selbstanzeige von: Primae rationalismi et supranaturalismi historiae capita potiora, Tübingen 1827, in: Tübinger Zeitschrift für Theologie 1 (1828), 220-264, auszugsweise abgedruckt in KGA 1/7.3, 256-277.
2. Grundsätze der Apologetik
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Bewußtsein aus dem Begriff der Erlösung konstruiert und der geschichtlichen Person Jesu untergeschoben bzw. aufgesetzt werde 102 : Ein historischer Nachweis der Ubereinstimmung jener geschichtlichen Person mit diesem konstruierten Bewußtsein des Erlösers aus den „schriftlichen Urkunden der evangelischen Geschichte" 103 fehle indessen bei Schleiermacher.104 Betrifft diese Kritik Baurs, jedenfalls in ihrer frühen Fassung 105 , nicht die prinzipielle Durchführbarkeit, sondern die faktische Durchführung eines solchen Nachweises, so liegt sie ganz auf der Linie von Schleiermachers eigener Argumentation, in der dieser Nachweis ausdrücklich enthalten ist; er gehört allerdings nicht in die Dogmatik, sondern fällt in den Aufgabenbereich der Apologetik 106 : „beweisen zu wollen, daß und warum gerade Jesus von Nazareth derjenige ist, in welchem die neue Entwiklungsstufe der Menschheit begründet ist, und welcher die mitzutheilende Unsündlichkeit besizt, [...] dieses [...] gehört nach meiner Ansicht in die christliche Apologetik" 107 . Aus dieser Bestimmung wird dann auch die Nähe der Apologetik zur Exegetischen Theologie 108 verständlich: Wenn die Apologetik zu zeigen hat, daß die Identifizierung der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth mit dem aus dem Begriff der Erlösung konstruierten Erlöser zu Recht besteht, so kann sie diese historische Untersuchung nur unter Rückgang auf die Dokumente des Urchristentums, den neutestamentlichen Kanon, anstellen.109 Daher beziehen sich die 102 Vgl. Baun Selbstanzeige, 242, KG A 1/7.3, 266f. 103 Baun Selbstanzeige, 242, K G A 1/7.3, 267,12f 104 M. Junkers Analyse zufolge versucht Schleiermacher daher in der zweiten Fassung der Einleitung, die „Geschichtsbezogenheit des christlichen Selbstbewußtseins" stärker herauszustellen (vgl. Junken Urbild, 123). Die dafür angeführten Belege sind jedoch nicht durchweg überzeugend; so ist etwa (vgl. a.a.O. 116f) zwischen den Formulierungen C G 1 § 18.5, KGA 1/7.1, 68,24-27 und C G 2 § 11.5, Bd. I, 82,29-33 kein signifikanter Unterschied festzustellen. 105 Zur Entwicklung der Kritk Baurs an Schleiermacher vgl. Junker: Urbild, 133-150. 106 Damit reduziert sich die Baur'sche Kritik auf den methodischen Einwand, daß die Identifizierung jenes begrifflich konstruierten Erlösers mit dieser geschichtlichen Person, nicht hinreichend historisch belegt sei. Den sachlichen Einwand, daß eine solche Identifizierung falsch bzw. unmöglich sei, formuliert Baur erst in der späteren, durch seine Hegel-Rezeption beeinflußten Fassung seiner Schleiermacher-Kritik (vgl. Junken Urbild, 141 ff), die aus der Behauptung einer prinzipiellen „»Incongruenz des Urbildlichen und Geschichtlichen«" (a.a.O., 143) resultiert. 107 C G 1 § 109.2, K G A 1/7.2, 8,9-13. 108 Vgl. oben S. 139f. 109 Mit diesem Nachweis ist allerdings immer noch nicht die Wahrheit des christlichen Glaubens bewiesen, sondern nur dessen Vereinbarkeit mit historischem Wis-
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apologetischen Leitbegriffe zu einem nicht geringen Teil auf Themen der Exegetischen Theologie. Dies soll im folgenden Abschnitt näher untersucht werden. ß) Die übrigen Leitbegriffe der Apologetik Die weiteren Begriffe, als deren Explikation die Apologetik zu entfalten ist, umfassen im einzelnen vier Themenbereiche, die insgesamt die Funktion haben, die aufgestellte Wesensformel zu bestätigen 110 . Daraus ergeben sich die folgenden vier apologetischen Unteraufgaben: 1. Nachweis der geschichtlichen Individualität des Christentums durch die Darstellung seiner Entstehung (KD § 45) 2. Nachweis des geschichtlichen Zusammenhangs des Christentums mit ihm vorausgehenden Religionen (KD § 46) 3. Bestimmung der Identität des Christentums im geschichtlichen Wandel (KD § 47) 4. Nachweis einer Koexistenzmöglichkeit der christlichen Kirche mit anderen gesellschaftlichen Institutionen: Staat und Wissenschaft (KD § 48)111 (1) Die erste Unterauf gäbe der Apologetik betrifft eine Darstellung der Entstehung des Christentums; sie soll anhand der Begriffe „Offenbarung, Wunder und Eingebung" geschehen: Durch Aufklärung darüber, was im Christentum mit diesen Begriffen bezeichnet wird, kann dessen Anspruch auf „abgesondertes geschichtliches Dasein" (KD § 45) geltend gemacht werden. Was zunächst den Offenbarungsbegriff angeht, so stellt Schleiermacher fest, daß er von allen geschichtlichen Religionen zum Beweis ihrer göttlichen Herkunft in Anspruch genommen wird. 112 Für sen: Daß diese Identifizierung vorgenommen und also jede fromme Erregung auf das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth bezogen wird, kann dadurch nicht andemonstriert werden; vgl. CG 1 § 109.2, KGA 1/7.2, 8,29f: „denn auch der Apologetik wollen wir einen eigentlichen Beweis nicht zuschieben 110 Vgl. KD § 49: „um desto mehr müssen sie den Grund zu der Uberzeugung legen, daß auch von Anfang an [...] das Wesen des Christentums richtig ist aufgefaßt worden." 111 Faßt man die ersten beiden Themen als eine Bestimmung der Genese des Christentums zusammen, die seine Diskontinuität (1.) und Kontinuität (2.) zur ihm vorausliegenden Geschichte berücksichtigt, so ergibt sich für die genannten Themen insgesamt die Abfolge: Ursprung (1.+2.), geschichtlicher Verlauf (3.) und gegenwärtiger Zustand (4.), die auch der Gliederung der Historischen Theologie zugrunde liegt (vgl. KD SS 81-84). 112 Vgl. ThEnz. 51,31-34.
2. Grundsätze der Apologetik
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die christliche Apologetik ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe: Sie muß erstens den Begriff überhaupt semantisch klären und zweitens „das Christenthum unter denselben [...] subsumiren" (ThEnz. 51,36). Unter dieser doppelten Aufgabenstellung können nun auch die Ausführungen zu diesem Begriff in der Einleitung zur Glaubenslehre gelesen werden. Der Ausdruck fällt zwar dort unter dasselbe Verdikt wie schon der Begriff des „Positiven"; hier ist jedoch ebenfalls festzustellen, daß die zweite Auflage auch dem Offenbarungsbegriff weniger distanziert gegenübersteht als die ursprüngliche Fassung der Einleitung: Findet sich dort der Vorschlag, zumindest „auf dem streng dogmatischen Gebiet sich des Ausdruks zu enthalten" 113 , so bietet CG 2 eine affirmative Definition 114 und enthält insgesamt eine eindeutigere und zustimmende Aufnahme des Ausdrucks. 115 Diese Behandlungsweise läßt sich dann unter den beiden apologetischen Aspekten der Begriffsklärung und Anwendung aufs Christentum betrachten 116 : Zu den wesentlichen Merkmalen des Offenbarungsbegriffs gehört die Unableitbarkeit der „Offenbarung" aus dem historischen Kontext sowie ihr charakterisierender Einfluß auf den in113 CG 1 S 19.3, KGA 1/7.1, 76,7 114 Vgl. CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 71,35-72,1. Auch der don (Bd. I, 68,27-32) geäußerte Vorsatz, den „Sprachgebrauch der Ausdrücke positiv und geoffenbart" vom „besonderen Anfang" und der „eigentümlichen Gestaltung" einer frommen Gemeinschaft zu „regulieren", stimmt bestens überein mit dem in KD § 45 aufgestellten Programm der Behandlung des Offenbarungsbegriffs. 115 Vgl. CG 2 § 10 Zs., Bd. I, 71,11-74,23; § 13.1, Bd. I, 87,1-90,14. Die Behandlung der Thematik hat zwar in der Erstauflage (CG 1 § 19.2, KGA 1/7.1, 72,6-77,23; § 20.1, KGA 1/7.1, 78,1-79,28) einen zahlenmäßig größeren Umfang (vgl. Scholz: Christentum, 134f Anm. 4); ihre Qualifizierung als „Zusatz" findet sich jedoch nicht erst in der zweiten Auflage (vgl. Marg. 9. 353, KGA 1/7.3, 5,3; 69,15). 116 Bereits in CG 1 § 20.1 wird „das Geoffenbarte überhaupt" (KGA 1/7.1, 78,1) einer Anwendung „auch auf die christliche Offenbarung" (KGA 1/7.1, 78,29f) gegenübergestellt, während die Erwägungen zur Neuverteilung der Thematik in Marg. 301 (KGA 1/7.3, 61,12f; zu § 19) feststellen: „Die Anwendung auf das Christenthum wird verspart zum apologetischen Abschnitt." Die Neufassung in CG 2 § 10 Zs. und § 13 läßt sich daher so einteilen, daß zunächst von Anfangspunkt und Eigentümlichkeit „jede[r] fromme[n] Gemeinschaft" (CG 2 § 10 Zs., Bd. I 68,28f) die Rede ist und der Offenbarungsbegriff generell geklärt wird (Bd. I, 71,11-74,23; vgl. Zweites Sendschreiben 517f, KGA 1/10, 376,11-14). An diese allgemein religionsphilosophische Untersuchung knüpft § 13.1 (Bd. I, 87,1-89,5) an, bevor dann die Applikation aufs Christentum erfolgt: „Soll aber dieses in demselben Sinn auf Christum angewendet werden [...]" (CG*§ 13.1, Bd. I, 89,5f). Die Behandlung der Thematik „übervernünftig" setzt dagegen in § 13.2 gleich beim spezifisch Christlichen ein (Bd. I, 90,15ff)· Vgl. auch die Zweigliederung bei Jergensen: Offenbarungsverständnis, 299ff. 308ff (religionsphilosophischer und christologischer Offenbarungsbegriff).
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dividuellen Gehalt der fromen Erregungen einer bestimmten Religion. 117 Dazu finden sich zwar Analogien auf dem Gebiet geschichtlicher Erkenntnis überhaupt, weil auch die „höheren Zustände der heroischen sowohl als dichterischen Begeisterung" 118 nicht allein als Produkt ihrer Zeitgenossenschaft verstanden werden können. 119 Offenbarungen im engeren Sinn beschränkt Schleiermacher jedoch auf das religiöse Gebiet: Sie sind nicht auf einzelne Momente eingrenzbar, sondern betreffen die „ganze Existenz" 120 des Menschen. Daher lehnt Schleiermacher eine kognitive Engführung des Offenbarungsbegriffs ab: Wird die Wirkung der Offenbarung auf den Menschen „als erkennendes Wesen" 121 eingeschränkt, so reduziert sie sich auf einen Gegenstand der „Lehre"; diese Restriktion wird jedoch Schleiermacher zufolge dem religionsgeschichtlichen Phänomen nicht gerecht. 122 Der so verstandene Offenbarungsbegriff besitzt eine starke Affinität zu dem des Positiven, insofern der durch diesen Begriff bezeichnete individuelle Inhalt einer Frömmigkeitsart selber abhängig ist
117 Vgl. C G 2 S 10 Zs., Bd. I, 71,35-72,1. 118 A.a.O., 72,29f 119 Vgl. C G 2 § 13.1, Bd. I, 87,1-88,24. 120 C G 2 § 10 Zs., Bd. I, 73,5f; vgl. dazu Jergensen: Offenbarungsverständnis, 299ff, der Schleiermachers Offenbarungsbegriff als „Existenzmitteilung" deutet. 121 C G 2 § 10 Zs., Bd. I, 72,6 122 Diese ausführliche Abweisung eines rein epistemischen Offenbarungsverständnisses findet sich nur in der zweiten Fassung der Einleitung ( C G 2 § 10 Zs., Bd. I, 72,523). Sie ist möglicherweise eine Reaktion auf die Interpretation von Schleiermachers Offenbarungsbegriff durch Chr. J. Braniß: Ueber Schleiermachers Glaubenslehre. Ein kritischer Versuch, Berlin 1824 (zit. nach K G A 1/7.3, 286-365): Braniß deutet Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Religion so, daß er einen doppelten Offenbarungsbegriff zu erkennen glaubt (vgl. Braniß: Versuch, K G A 1/7.3, 300f. 321 f. 324; vgl. dazu G . Scholtz: Braniß über Religion und Philosophie in Schleiermachers Glaubenslehre, in: G . Meckenstock/J. Ringleben (Hgg.): Schleiermacher, 13-32, 20f). Beiden Offenbarungsweisen ist aber - als „höchste[r] Zweck" - gemeinsam die „Erkenntniß Gottes" (Braniß: Versuch, K G A 1/7.3, 322). Damit ist die Offenbarung ausschließlich auf die Erkenntnisfunktion des Menschen ausgerichtet, ihr Inhalt ist eine jeweils besondere „Lehre" (Braniß: Versuch, K G A 1/7.3, 308 passim). Bereits in den Marginalien zu C G 1 § 19 hat Schleiermacher kritisch angemerkt, daß Braniß die „Offenbarung in die Lehre sezt" (Marg. 326, K G A 1/7.3,66): Nur aufgrund dieser Voraussetzung können dann auch „- sehr unglücklich - " (ebd.) Aristoteles und Christus im Blick auf ihre „Lehre" miteinander verglichen werden. Die gegenüber C G 1 neu hinzukommende Kautel ist also offenbar gegen Braniß gerichtet: „Nur die Bestimmung möchte ich nicht gern aufnehmen, daß sie [sc. die Offenbarung] eine Wirkung sei auf den Menschen als erkennendes Wesen. Denn alsdann ist die Offenbarung auch ursprünglich und wesentlich Lehre" ( C G 2 § 10 Zs., Bd. I, 72,5-7).
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von der „Urtatsache"123, der sich diese spezielle Glaubensweise allererst verdankt.124 Als eine Applikation des so umrissenen Offenbarungsbegriffs kann dann der zweite Teil des Abschnitts § 13.1 angesehen werden125: Die „Erscheinung des Erlösers in der Geschichte"126 genügt allen Forderungen des Offenbarungsbegriffs, da sie zum einen als „Anfangspunkt"127 nicht aus ihrem historischen Kontext vollständig erklärbar ist und zum anderen das durchgängige Charakteristikum aller christlich-frommen Erregungen ausmacht, weil es aufgrund der Identität von äußerem und innerem Einheitsmerkmal128 dieser Aspekt ist, der „allem christlichen seine eigenthümliche Farbe und Ton giebt"129. Diese Zuordnung des Christentums zum Offenbarungsbegriff ist jedoch keine bloße Subsumtion, sondern versteht sich als Uberbietung aller lediglich partikularen Offenbarungsansprüche: Sind diese „auf bestimmte Zeiten und Räume beschränkt"130, so gehört es zur christlichen Offenbarungsauffassung, daß Christus dazu gesetzt ist, „allmählich das ganze menschliche Geschlecht höher zu beleben"131. Denn in der christlichen Erlösungsvorstellung wird Christus, „als allein und für alle Erlöser, [...] allen andern [Menschen] gegenüberstellt"132 und von jeglicher Erlösungsbedürftigkeit frei gedacht. Dieser Universalitätsanspruch ist also keine sekundäre Eigenschaft des christlichen Offenbarungsbegriffs, sondern dem christlichfrommen Bewußtsein wesentlich.133 An diese Bestimmung des christlichen Offenbarungsbegriffs knüpft Schleiermacher nun ausführlichere Betrachtungen zum Verhältnis zwi-
123 CG 2 S 10 Zs„ Bd. I, 71,9f 124 Vgl. Marg. 302 (KGA 1/7.3,62,lf): „Offenbarung ist Entstehungsweise des positiven; Positives ist Gehalt der Offenbarung"; vgl. auch Marg. 324 (KGA 1/7.3, 65). 125 Vgl. CG 2 § 13.1, Bd. I, 89,5-90,14. 126 CG 2 § 13 Ls., Bd. I, 86,29 127 CG 2 § 13.1, Bd. I, 88,14 128 Vgl. oben S. 169f. 129 CG 1 § 18 Anm., KGA 1/7.2, 61,9 130 CG 2 § 13.1, Bd. I, 89,9f 131 A.a.O., 89,13f 132 CG 2 § 11.4, Bd. I, 81,2f 133 „Denn wer Christum nicht in dieser Allgemeinheit als göttliche Offenbarung annimmt, der kann auch das Christentum nicht als eine bleibende Erscheinung wollen" (CG 2 § 13.1, Bd. I, 89,14-16).
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
sehen Vernünftigem und Natürlichem 134 , die darin kulminieren, daß zwei Betrachtungshinsichten unterschieden werden, unter denen „im Christenthum entweder alles übervernünftig sein muß oder alles vernünftig" 135 : Ubervernünftig, d.h. die reine Spekulation übersteigend, ist der Gegenstand aller christlichen Sätze insofern, als er an der Unableitbarkeit alles Individuellen, geschichtlich Gegebenen partizipiert. Die Sätze (der Dogmatik), in denen sich diese Erfahrung ausspricht, müssen hingegen den allgemeinen vernünftigen Regeln gehorchen, wenn sie kommunikabel sein wollen. 136 Diese Thematik gehört jedoch nicht mehr in die genuin apologetische Betrachtungsweise, sondern ist Bestandteil derjenigen Fragen, die den dogmatischen Prolegomena von der Tradition zugespielt werden. 137 Die eigentlich apologetische Argumentation, der exegetische Nachweis nämlich, daß der christliche Erlösungsbegriff mit der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth vereinbar ist, fehlt dagegen in diesem Zusammenhang. 138 Die Begriffe „Wunder" und „Eingebung" werden von Schleiermacher für die dem Offenbarungsbegriff zugewiesene Funktion in den Dienst genommen: Sie sind mit diesem „schon verwandt" (ThEnz. 52,3), und haben die Aufgabe, die in ihm behauptete göttliche Abkunft des Christentums zu erläutern und „den Gegensaz, der darinn liegt, gegen die gewöhnliche natürliche Entstehung auseinanderzusezen" (ThEnz. 51,40-52,2). In der Einleitung zur Glaubenslehre werden beide Begriffe zusammen mit dem der Weissagung verhandelt. 139 Der Kontext, in dem diese Behandlung steht, ist dabei die Erörterung der Art und Weise einer Anteilhabe an der christlichen Gemeinschaft: Sie geschieht durch den „Glauben an Jesum als den 134 Vgl. CG 1 S 20; CG 2 § 13.2; Zs., Bd. I, 90,15-94,8; vgl. dazu Junker Urbild, 106109, die eine Zusammenfassung der „ausgefeilte[n] Unterscheidungen im Natur- und Vernunftkonzept" (a.a.O., 106) bietet. 135 CG 1 § 20.2, KGA 1/7.1, 80,13f 136 Vgl. CG 2 § 13 Zs., Bd. I, 93,4-30. 137Vgl. Ohst: Bekenntnisschriften, 203f. 138 Diese historische Verifikation, die für die Apologetik selbst von entscheidender Wichtigkeit ist, kann aber im Rahmen der Einleitung in die Dogmatik deswegen entfallen, weil diese Disziplin das christlich-fromme Bewußtsein jederzeit als gegeben voraussetzt: Die Dogmatik ist „überhaupt nur für die Christen" und kann „auf jeden andern Beweis für die Nothwendigkeit und Wahrheit des Christenthums als den jeder in sich selbst trägt" (CG 1 § 18.5, KGA 1/7.1,68,13f. 34f) verzichten: „Denn die christliche Glaubenslehre ist nicht für diejenigen, welche den Glauben nicht haben, um ihn ihnen annehmlich zu machen, sondern nur für diejenigen, welche ihn haben, um sich über seinen Inhalt, nicht über seine Gründe, zu verständigen" (CG 1 § 109.2, KGA 1/7.2, 8,13-16). 139CG1 § 21; CG 2 § 14 Zs.
2. Grundsätze der Apologetik
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Erlöser" 140 , der für eine zustimmende Anerkennung von „Weissagungen, Wundern und Eingebung" 141 bereits vorausgesetzt wird. Die beiden Auflagen der Glaubenslehre weichen in der formalen Behandlung der drei Ausdrücke nicht unbeträchtlich voneinander ab; insgesamt wird die Tendenz zum Verzicht auf diese Begriffe in § 14 der zweiten Auflage noch greifbarer: Dort sind sie aus dem Leitsatz entfernt worden; als dessen Intention wird nunmehr eine deutliche Ablehnung ihres vermeintlichen Beweischarakters angegeben.142 In den inhaltlichen Ausführungen stimmen beide Auflagen jedoch weitgehend überein: Den Begriffen wird jegliche Beweisfähigkeit abgesprochen; darüber hinaus wird ihnen aber ein affirmativer apologetischer Gehalt zugewiesen. Die Ablehnung eines Beweischarakters von Wundern und Eingebung ergibt sich dabei aus dem vorausgesetzten Glaubensbegriff, den Schleiermacher als unmittelbares Evidenzgeschehen versteht 143 , das sich im Christentum als Gewißheit über die Aufhebung des Zustande der Erlösungsbedürftigkeit „durch die Einwirkung Christi" 144 vollzieht. Am Zustandekommen dieser Evidenz ist aber die vermeintlich beweiskräftige Annahme von Wundern oder übernatürlicher Eingebung völlig unbeteiligt. 145 Sie geschieht vielmehr auf unmittelbare Weise im Bewußtsein der aufgehobenen Erlösungsbedürftigkeit. Daß also durch „Wunder" und „Eingebung" nichts bewiesen werden kann, geht für Schleiermacher auch schon aus der ursprünglichen Verwen140CG2 § 14 Ls., Bd. I, 94,10f 141 CG 1 § 21 Ls., KGA 1/7.1, 81,31f 142 Der aufgestellte Satz soll „alles ausschließen, was man unter der Form der Demonstration dem eigentlichen Zeugnis zu Hülfe zu geben, oder wodurch man es gar ersetzen zu wollen pflegt" (CG 2 § 14 Zs., Bd. I, 98,10-13). Die erste Auflage begründet zwar auch für alle drei Begriffe deren fehlende Beweiskraft (vgl. CG 1 § 21.2), untersucht aber für die Ausdrücke „Wunder" und „Weissagung" darüber hinaus die Frage, ob sie „auf etwas richtigem beruhen" (CG 1 § 21.3, KGA 1/7.1, 85,18). Zudem erfährt der Begriff der Eingebung eine stärkere Herabsetzung dadurch, daß die ihren „Werth" erklärende Passage CG 1 § 21.2, KGA 1/7.1, 84,6-8 in der zweiten Auflage gestrichen ist. 143Vgl. die Definition CG 1 § 21 Anm., KGA 1/7.1, 82,4f: „Glauben ist [...] die [...] Gewißheit über die eigenthümliche Gestaltung des eigenen höheren Selbstbewußtseins"; vgl. auch M. Ohst: Jesu Wunder als Thema der Dogmatik Schleiermachers, in: G. Meckenstock/J. Ringleben (Hgg.): Schleiermacher, 229-245, 241. 144 CG 2 § 14.1, Bd. I, 94,18f 145 Vgl. Marg. 406 (KGA 1/7.3, 77,5f): „Wer um der Wunder und Weissagungen willen glaubt komt dadurch nicht zu dem Antheil, der in Anm. a. verzeichnet ist", d. h. erreicht nicht den als „Gewißheit" charakterisierten Glaubensbegriff (vgl. CG 1 § 21 Anm. a, KGA 1/7.1, 82,1-5).
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dung und Bedeutung dieser Ausdrücke hervor: Die überlieferten Wunder im Neuen Testament beanspruchen selbst keine beweisende Wirksamkeit, weil sie zum einen auch von Nichtchristen berichtet werden, zum anderen nicht zwangsläufig zum Glauben führen und drittens der Glaube nach dem Zeugnis des Neuen Testaments auch ohne Wunder bewirkt werden kann. 146 Der Begriff der Eingebung dagegen hat ohnehin „im Christentum eine durchaus untergeordnete Bedeutung" 147 , weil er nicht auf Christus selbst, sondern auf die Heilige Schrift bezogen worden ist. Als Beweis kann daher der Begriff schon deswegen nicht fungieren, weil das Christentum bereits annähernd 200 Jahre bestand, bevor eine in diesem Begriff ausgedrückte eigentümliche Gültigkeit der Schrift behauptet wurde. 148 Trotz der Abweisung der Begriffe hinsichtlich ihrer Beweisfähigkeit kommt ihnen nach Schleiermacher ein positiver Gehalt zu: Denn die Wunder können als „Bestätigung" dafür genommen werden, daß mit der Erscheinung Christi „ein neuer Entwicklungspunkt" 149 im Fortschreiten der menschlichen Natur gekommen sei. Bei derartigen innovatorischen Epochenpunkten ist es nämlich Schleiermacher zufolge grundsätzlich nicht verwunderlich, daß sich die neue geistige Kraft auch in der leiblichen Natur äußert. 150 Unter dieser Voraussetzung ist es vielmehr „natürlich, von demjenigen, der die höchste göttliche Offenbarung ist, auch Wunder zu erwarten" 151 . Jedes Wunder kann 146 Vgl. die Argumentation C G 2 § 14 Zs., Bd. I, 99,8-27. 147 C G 2 § 14 Zs., Bd. I, 103,35 148 Vgl. C G 1 § 21.2, K G A 1/7.1, 84,2-6. 149 C G 2 § 14 Zs., Bd. I, 100,35f 150 Zugrunde liegt dabei also die „naturphilosophische Hypothese, an besonders entscheidungsschweren Wendepunkten der Menschheitsgeschichte steigere sich die menschliche Naturbeherrschung über das gewöhnliche Maß hinaus." (Ohst: Wunder, 238) 151 C G 2 § 14 Zs., Bd. I, 100,24f. Von dieser apologetischen Begriffsklärung aus kann dann auch die positive Aufnahme des Wunderbegriffs im dogmatischen und homiletischen Sprachgebrauch beurteilt werden: So wird zwar im Zusammenhang der Schöpfungs- und Erhaltungslehre das Wunder „aus dem religiösen Vorstellungs- und dem dogmatischen Begriffsarsenal ausgemustert" (Ohst: Wunder, 235), weil dessen Annahme durch die christlich-frommen Erregungen nicht gefordert wird (vgl. C G 1 § 61.3, K G A 1/7.1, 178,14f). Und auch innerhalb der Christologie wird die zum prophetischen Amt Christi (vgl. C G 2 § 103 Ls.) zählende Wundertätigkeit deutlich abgewertet: Weil schon im Neuen Testament die Anerkennung Christi niemals konstitutiv auf seine Wunder gegründet ist, müssen sie „für uns hinsichtlich unseres Glaubens gänzlich überflüssig sein" ( C G 2 § 103.4, Bd. II, 116,6f; vgl. Ohst: Wunder, 236-240). Andererseits kann der Wunderbegriff aber nicht völlig aufgegeben werden: Fallen die von Christus berichteten Ereignisse ausschließlich „in das uns geläufige Naturgebiet", dann ist die Glaubwürdigkeit des biblischen Zeugnisses ins-
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jedoch „immer auch nur beziehungsweise so heißen"152, weil mit einer vollständigeren Erklärung und Ansicht über das Verhältnis zwischen geistiger und leiblicher Natur stets zu rechnen ist.153 Der eigentliche Gehalt des Ausdrucks „Eingebung" besteht dagegen darin, die besondere Dignität der Schrift für die Bestimmung des eigentümlich Christlichen zu unterstreichen. Diese Art der Beweiskräftigkeit154 der Schrift wird allerdings in zweierlei Hinsicht eingeschränkt und präzisiert: Sie bezieht sich nicht auf das Neue Testament insgesamt, sondern kann „immer nur das einzelne betreffen"155 und von diesem auch niemals die Wahrheit, sondern nur die Zugehörigkeit zum genuin Christlichen beweisen.156 (2) Die zweite Unteraufgabe der Apologetik unterscheidet sich von der ersten durch ihre „anknüpfende Tendenz" (ThEnz. 52,40): Lag dort der Akzent auf der Differenz des Christentums zu anderen Religionen, so ist hier dessen „geschichtliche Stetigkeit" (KD § 46) in seiner zeitlichen Folge auf das Judentum und Heidentum nachzuweisen; die leitenden Begriffe sollen dabei „Weissagung" und „Vorbild" sein.157 gesamt gefährdet (vgl. CG 2 § 103.4, Bd. II, 116,29-33). Damit wird aber die Frage der Wunder Christi aus dem Zusammenhang des Glaubens an die Person Christi herausgenommen; sie sind vielmehr ein Problem des „Glauben[s] an die Schrift" (CG 2 § 103.4, Bd. II, 116,28f) und teilen diese Schwierigkeit mit den Themen Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht (vgl. den Verweis auf CG 2 § 99): Sie werden „nur angenommen, weil sie geschrieben stehen" (CG 2 § 99.2, Bd. II, 84,25f). - Zur Funktion und Bedeutung des Wunderbegriffs in den Predigten Schleiermachers vgl. S. Lommatzsch: Schleiermacher's Lehre vom Wunder und vom Uebernatürlichen im Zusammenhange seiner Theologie und mit besonderer Berücksichtigung der Reden über die Religion und der Predigten dargestellt, Berlin 1872, bes. 143ff. 152 CG 2 § 14 Zs., Bd. I, 100,26 153 Vgl. CG 2 § 14 Zs., Bd. I, 100,27-32. 154 Auffälligerweise kann Schleiermacher den Begriff der Eingebung auch affirmativ durch den Ausdruck „Beweisführung" erläutern: Der „Werth" der Eingebung besteht darin, „daß sie die Beweisführungen aus der Schrift begründet" (CG' § 21.2, KGA 1/7.1, 84,6f). 155 CG 1 S 21.2, KGA 1/7.1, 84,7f 156 Vgl. CG 1 § 30.2, KGA 1/7.1, 105,21f: „Beläge durch Schriftstellen beweisen an sich nur, daß der aufgestellte Saz christlich sei [...]." 157 Die „richtige Behandlung dieser Begriffe" sieht Schleiermacher gar als „die höchste Aufgabe der Apologetik" an (ThEnz. 53,39f; vgl. KD § 46 Zs.), weil sie die Grundlage bildet für das „Verfahren [...], die christliche Kirche aus Nichtchristen zu erweitern" (ThEnz. 53,40f)· Auf diese philosophisch-theologische Grundlegung der Mission nehmen aber weder KD §§ 296-98 noch die entsprechenden Ausführungen der Praktischen Theologie (PrTh 418-28: Behandlung der Convertenden und Theorie des Missionswesens) Bezug. Die programmatische Hochschätzung dieser
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Die damit bezeichnete Thematik hat Schleiermacher in der Einleitung zur Glaubenslehre zwar relativ ausführlich behandelt 158 ; allerdings liegt hier der Akzent nicht so sehr auf dem Kontinuitätsnachweis der „Stetigkeit" (KD § 46) als vielmehr darauf, die geschichtliche Aquidistanz des Christentums zu Judentum und Heidentum zu begründen. Der Begriff der Weissagung 159 wird dagegen an anderer Stelle, gemeinsam mit den apologetischen Begriffen der ersten Unteraufgabe, traktiert. 160 Auch hier ist eine doppelte Vorgehensweise festzustellen, bei der der Begriff einerseits als vermeintliches Beweismittel abgelehnt wird, andererseits aber eine positive Bedeutung erhält 161 : Als zum Glauben führende Beweise können die prophetischen Aussprüche des Alten Testaments deswegen nicht angesehen werden, weil die Identität des Geweissagten mit der Person Christi oder dem Christentum „niemals befriedigend nachgewiesen werden" 162 kann. Darüber hinaus hätte das Zugeben einer solchen Beweisbarkeit zur Folge, daß der Glaube an das Christentum auf den - im Christentum selbst „unstreitig minder kräftigen an das Judenthum" 163 gegründet würde. Weissagungen können somit den Glauben nicht hervorbringen, sondern dieser wird für ihre Anerkennung bereits vorausgesetzt 164 : Die Aufgabe der Apologetik wird also durch die faktische Nichtbeachtung in der Praktischen Theologie deutlich zurückgenommen. 158 Vgl. CG 1 § 22; CG 2 § 12. 159 Der Ausdruck „Vorbild" wird nur an einer Stelle (CG 2 § 14 Zs., Bd. I, 102,27) beiläufig erwähnt. 160 Vgl. CG 1 § 21; CG 2 § 14 Zs. Diese getrennte Behandlung ergibt sich dabei aus der Parallelisierung von „Weissagung" und „Wunder", von denen gleichermaßen nachgewiesen werden soll, daß sie den Glauben an Christum nicht begründen können, sondern ihn voraussetzen (vgl. etwa CG 1 § 21.3, KGA 1/7.1, 87,10-14). Die apologetische Unterscheidung von „isolirendefr]" und „anknüpfende[r] Tendenz" (ThEnz. 52,39f) spielt dagegen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Auch hier wird also die Thematik der Apologetik nicht als Apologetik dargestellt, sondern nur aus ihr entlehnt. 161 Dabei betrachtet CG 2 - im Unterschied zur ersten Auflage - den Weissagungsbegriff von vornherein unter der Frage einer missionarischen Anwendung gegenüber „Juden" und „Ungläubigen" (CG 2 § 14 Zs., Bd. I, 101,22. 29). Eine entsprechende Differenz ist auch bei der Behandlung der Thematik in CG' § 22 und CG 2 § 12 festzustellen: Uberwiegt in der ersten Auflage die historische Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Christentum mit Juden- und Heidentum, so setzt CG 2 einen zusätzlichen Akzent auf die Frage eines Ubertritts zum Christentum (vgl. CG 2 § 12.2, Bd. I, 84,22-24; 85,13-15). Dieser an die praktische Abzweckung der Apologetik anknüpfende Gesichtspunkt gewinnt hier also ein stärkeres Gewicht. 162 CG 1 § 21.2, KGA 1/7.1, 84,30 163 A.a.O., 84,29 164 Dies gilt Schleiermacher zufolge auch für den Glauben der Apostel, der nicht durch die „Weissagungen von Christo", sondern durch den „unmittelbarefn] Eindruck in
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Beweisbarkeit des christlichen Glaubens fällt also hier unter dasselbe Verdikt wie schon bei den Begriffen „Wunder" und „Eingebung". Die eigentliche Bedeutung der alttestamentlichen Weissagungen besteht denn nach Schleiermacher auch nicht in ihrer vorgeblichen Beweiskräftigkeit, sondern darin, daß sie ein „Hinstreben der menschlichen Natur nach dem Christentum" 165 zum Ausdruck bringen: Sie sind „charaktervolle Dokumente der Erlösungssehnsucht des Menschengeschlechts"166. Entsprechend wird bei der Erörterung des Verhältnisses von Christentum und Judentum als „Regel" für einen „christlichen Gebrauch" des Alten Testaments aufgestellt, daß es in erster Linie als „Hülle dieser Weissagung" fungieren soll.167 (3) Schleiermachers Geschichtsansicht zufolge ist jede geschichtliche Größe ein „sich Veränderndes" (KD § 47), dessen Identität innerhalb der Geschichte nicht vorauszusetzen ist, sondern allererst nachgewiesen werden muß. Es muß also gezeigt werden können, daß „es in jedem Augenblick etwas giebt, was die Einheit des Wesens [...] repräsentirt" 168 . Dieser Nachweis ist daher für das Christentum anhand der Begriffe „Kanon" und „Sakrament" zu führen: Beide stehen für eine geschichtliche Kontinuität, und zwar einerseits hinsichtlich der „Auffassungsweise des Glaubens" und andererseits im Blick auf die „Identität der Gemeinschaft" 169 . Eine apologetische Behandlung dieser Begriffe steht allerdings vor der Schwierigkeit, daß beide Ausdrücke bereits genuin christlich geprägt sind: Die Vorstellung, daß die christlichen Sakramente an die Stelle der entsprechenden jüdischen Riten (Beschneidung und Passahmahl) getreten seien170, ist für Schleiermacher aus historischen Gründen unhaltbar 171 . Ebensowenig läßt sich seiner Meinung nach der christliche Kanonbegriff uneingeschränkt auf den jüdischen übertragen, der die Gesamtheit der erhaltenen Literatur umfaßte: Es gab „gar kein hebräisches Buch, das nicht ihren durch das Zeugnis des Täufers vorbereiteten Gemütern" erweckt worden sei (CG 2 § 128.2, Bd. II, 286,5.12-14). 165 C G 2 § 14 Zs., Bd. I, 103,3f 166 Scholz: Christentum, 138 (i. O. gesperrt) 167 C G 2 § 12.3, Bd. I, 86,13-15. 168ThEnz. 54,12f. Nur so kann der „Anspruch auf ein geschichtliches Daseyn" (ThEnz. 54,30f) begründet werden. 169ThEnz. 54,25f. Zu dem dieser Unterscheidung zugrundeliegenden Gegensatz vgl. unten S. 191ff. 170 Vgl. etwa J. Gerhard: Loci theologici, hg.v. E. Preuss, Berlin 1863-70, Bd. 4, 248a S 56. 171 Vgl. ThEnz. 54,17-20; CG 2 § 143.3, Bd. II, 366f
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
im Kanon gestanden hätte" (ThEnz. 54,23f). Für die Begriffe „Kanon" und „Sakrament" kann also nicht die Unterscheidung zwischen einem allgemeinen religionsphilosophischen Sprachgebrauch und dessen spezifisch christlicher Fassung getroffen werden. Daher entziehen sie sich einer rein apologetischen Betrachtungsweise 172 ; andererseits können die dogmatischen Bestimmungen hier nicht vorweggenommen werden. 173 Diese apologetische Aufgabe läßt sich also anhand der dafür vorgesehenen Begriffe nicht rein apologetisch durchführen; daher ist es kaum verwunderlich, daß beide Ausdrücke in der Einleitung zur Glaubenslehre fehlen. Immerhin Anklänge an die apologetische Funktion der Identitätsfixierung zumindest des Kanonbegriffs finden sich jedoch auch hier. Denn innerhalb der Näherbestimmung der dogmatischen Aufgabe wird die Frage, worin sich das Gemeinsame der protestantischen Dogmatik ausspricht, unter anderem an die Heilige Schrift verwiesen 174 : Für das „Bestreben, ein gemeinsames festzustellen" 175 , werden drei Kriterien aufgestellt 176 , die alle auf mehr oder weniger indirekte Weise den Bezug zur Schrift enthalten. 177 Damit erweist sich 172 Vgl. ThEnz. 54,33-35: „Weil diese Begriffe streng genommen dem Christenthum eigenthümlich sind, so können sie nicht mehr in die Apologetik gehören". 173 Vgl. K D § 47 Zs.; ThEnz. 54,37-55,5. 174 Vgl. C G 1 § 30. Dem entsprechenden Paragraphen der zweiten Auflage wird durch die Veränderung der Leitsatz-Formulierung (vgl. C G 2 § 27 Ls., Bd. 1,148,28f: „Alle Sätze, welche auf einen Ort in einem Inbegriff evangelischer Lehre Anspruch machen [...]") sowie seine Eingliederung in das Einleitungskapitel „Von der Gestaltung der Dogmatik" ( C G 2 Bd. I, 148,17) eine veränderte Intention zugeschrieben: Ziel ist hier nicht mehr, festzustellen, worin sich das Gemeinsamkeitsbestreben einer Dogmatik ausspricht, sondern Kriterien dafür anzugeben, wann ein Satz zur evangelischen Glaubenslehre gehört, bzw. wann seine diesbezüglichen Ansprüche zu Recht bestehen. Auch in diesem Intentionswandel drückt sich also der oben (vgl. S. 155ff) beschriebene Unterschied beider Einleitungen insgesamt aus: Geht die erste Auflage aus vom Wesen der (christlichen) Frömmigkeit, so fragt die zweite nach der Reichweite der (kirchlichen) Lehre. Eine inhaltliche Veränderung gegenüber C G 1 § 30 ist damit jedoch nicht verbunden; vgl. etwa C G 2 § 27.3, Bd. I, 152,12f: „das Gemeinsame aber muß bestimmt an die Schrift anknüpfen." 175 C G 1 § 30 Ls., K G A 1/7.2, 103,15 176 Nämlich die Rückführung eines Satzes auf die Bekenntnisschriften, die Berufung auf die Heilige Schrift, d. h. die „neutestamentischen Bücher" (CG 1 § 30 Anm. b, K G A 1/7.1, 103,24f) oder die Nachweisung seiner Vereinbarkeit mit schon anderweitig bewiesenenen Sätzen; vgl. C G ' § 30 Ls., K G A 1/7.1, 103,15-18. 177 Denn einerseits liegt in der Berufung auf die Bekenntnisschriften „immer schon mittelbar die Berufung auf die Schrift" ( C G 2 § 27.1, Bd. I, 149,3) und andererseits kann ein Satz, auf den andere zu bewährende Sätze zurückgeführt werden sollen, seinerseits nur wiederum durch Schrift oder Symbol als eigentümlich christlich bzw. protestantisch erwiesen werden.
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der Kanon als durchgängige Instanz für die Dogmatik, an das Gegebene anzuknüpfen und so ihre Traditionskonformität zu dokumentieren.178 Wird aber durch die Ubereinstimmung mit dem Gegebenen immer auch die geschichtliche Kontinuität aufrechterhalten, so ist mit der Bedeutung des Kanon für die Dogmatik zugleich die apologetische Funktion dieses Begriffs angedeutet. Ansätze zu einer ausführlicheren Kanon-Theorie hat Schleiermacher innerhalb der Enzyklopädie in der Exegetischen Theologie entwickelt 179 : Diese Theorie ist Bestandteil der exegetisch-theologischen Reflexion auf ihren Gegenstand 180 und damit zugleich ein weiteres Beispiel für die enge thematische Beziehung zwischen Apologetik und Exegetischer Theologie. Denn der Kanonbegriff der „höhere[n] theologische[n] Kritik" 181 weist in zweierlei Hinsicht deutliche Parallelen zu dem apologetischen Programmbegriff auf: Zum einen hat der Kanon, definiert als Sammlung der „das Normale in sich tragenden Schriften" 182 des Urchristentums, normierenden Charakter für den Gesamtverlauf des Christentums. 183 Damit wird er als Kriterium für die Identität des Christentums in seiner geschichtlichen Entwicklung immer schon in Anspruch genommen. Und zum anderen ist - im Protestantismus - die inhaltliche Füllung dieses formal bestimmten Begriffs nicht endgültig festgelegt, sondern als bleibende Aufgabe verstanden: „Ob der wirkliche Kanon der Idee entspricht, ist bey uns Gegenstand der Untersuchung" (ThEnz. 103,33f). Der Umfang des Kanon steht also noch nicht fest 184 , sondern ist immer wieder neu zu bestimmen und präziser einzugrenzen. 185 Der die Identität des Christentums im geschichtlichen Wandel verbürgende Begriff muß also 178 Vgl. Ohst: Bekenntnisschriften, 212f. 179 Vgl. K D §§ 103-115; ThEnz. 102-112. 180 Vgl. K D § 104 Zs. 181 ThEnz. 102,13. Der Ausdruck „Kritik" verweist hier allerdings nicht auf das „kritische" Verfahren der Philosophischen Theologie, sondern auf die technische Disziplin der „historischen Kritik". 182 K D § 104; vgl. ThEnz. 103,24f: Der Kanon ist die Sammlung derjenigen Schriften, „welche die ursprünglichen Äusserungen des Christenthums in sich enthalten." 183 Denn er enthält die Schriften aus demjenigen Zeitraum, in dem „das eigentümliche Wesen am reinsten zur Anschauung kommt" (KD § 83). 184 Zur Offenheit des Kanon bezüglich der neutestamentlichen Apokryphen sowie des Zeitraums der Apostolischen Väter vgl. K D §§ 107-109; ThEnz. 107-109; vgl. zur Abgrenzung des „Kanonischen" vom „Apokryphischen" auch C G 1 § 147.2; C G 2 § 129.2. 185 Vgl. K D § 110: „Die protestantische Kirche muß Anspruch darauf machen, in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer begriffen zu sein [...]."
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erst „kritisch" aufgefunden werden - darin stimmt die exegetischtheologische Kanon-Theorie mit dem Leitbegriff der Apologetik überein. Schließlich kann darauf hingewiesen werden, daß eine Verwandtschaft mit der apologetischen Funktion der Begriffe „Kanon" und „Sakrament" auch noch bei Schleiermachers genuin dogmatischer Behandlung der Thematik besteht: Heilige Schrift, Taufe und Abendmahl werden in der Glaubenslehre sämtlich der ersten Hälfte des zweiten ekklesiologischen Hauptstücks zugewiesen, die „Die wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche" enthält 186 und dem „Wandelbare[n]" in der Kirche187 gegenübergestellt ist. Dabei ist allerdings auffällig, daß Schleiermacher den Sakramentsbegriff stark zurückstuft: „Von dem Namen Sakrament" ist nur als „Anhang" 188 zu den Lehrstücken Taufe und Abendmahl die Rede, denn er sagt nichts „dem Christentum Wesentliches aus" 189 , sondern ist lediglich der gemeinsame, aber willkürliche Name für Taufe und Abendmahl. 190 Die dogmatischen Aussagen im Lehrstück „Von der Heiligen Schrift" stehen dagegen im Einklang mit der apologetischen und exegetischen Bestimmung des Kanonbegriffs, indem ihr normativer Charakter ausdrücklich Berücksichtigung findet.191 (4) Die letzte Unteraufgabe der Apologetik besteht schließlich darin, die Möglichkeit eines einvernehmlichen Zusammenbestehens der Kirche mit anderen gesellschaftlichen Institutionen nachzuweisen. Eine solche Widerspruchsfreiheit bildet auf der Ebene der „Organisationen gemeinsamen Lebens" (KD § 48) die Entsprechung zu dem Sachverhalt, daß der Religionsbegriff - innerhalb der Ethik nur im Zusammenhang der menschlichen Geistestätigkeit überhaupt zu entwickeln ist.192 Die beiden Institutionen, die hier hauptsäch186 Vgl. CG 1 §§ 146-163; CG 2 §§ 127-147. 187 Vgl. CG 1 SS 164-172; CG 2 §S 148-156. 188 Überschrift zu CG 2 S 143, Bd. II, 363,3 lf 189 CG 2 S 143.1, Bd. II, 364,25f 190 Vgl. CG 2 § 143.2, Bd. II, 365,25-27. Daher hegt Schleiermacher den Wunsch, daß man den Ausdruck aus dem kirchlichen Sprachgebrauch „wieder möge hinwegschaffen können" (CG 2 S 143.1, Bd. II, 364,13)-und sieht diese Veränderung durch seine eigene Behandlung der Begriffe „Taufe" und „Abendmahl" immerhin eingeleitet, da „ein Wunsch nur insofern vernünftig ist, als er irgend etwas zu seiner Erfüllung beiträgt" (CG 2 S 143.1, Bd. II, 364,17f). 191 Vgl. CG 1 S 147; CG 2 S 129 sowie den expliziten Verweis auf die identitätserhaltende Funktion der Schrift CG 2 S 127.2, Bd. II, 281,10-14. 192 Vgl. ThEnz. 33,7-11.
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lieh Berücksichtigung verlangen, sind Staat und Wissenschaft: Zum Staat steht die Kirche in einem „durch mehrere Jahrhunderte hindurchgehenden Conflikt" (ThEnz. 55,32f), weil sich einerseits die mittelalterliche Kirche dem Staat überzuordnen versuchte und andererseits im Protestantismus die gegenläufige Tendenz besteht, „daß der Staat sucht, die Kirche in die politische Organisation hineinzuzwängen" (ThEnz. 55,36f). Das Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft läßt sich ebenfalls aus der Perspektive des konfessionellen Gegensatzes betrachten: Während der Katholizismus die kirchliche Autorität auch gegenüber der Wissenschaft geltend zu machen sucht 193 , findet seit der Einschränkung dieser Autorität durch den Protestantismus nicht selten das Gegenteil statt, indem von Seiten der Wissenschaft die Kirche überhaupt in Frage gestellt worden ist.194 Die sich aus diesen Verhältnisbestimmungen ergebende apologetische Aufgabe besteht in einer limitativen Klärung der Begriffe „Hierarchie" und „Kirchengewalt": Beide bezeichnen die „inneren Institutionen der Kirche" (KD § 48 Zs.), von denen zu zeigen ist, daß sie mit den äußeren, nicht-kirchlichen Institutionen zusammenbestehen können. Der Geltungsbereich der „Kirchengewalt" 195 ist so abzustecken 196 , daß diese Gewalt nicht in die Zuständigkeit von Staat und Wissenschaft eingreift: Die Apologetik soll zeigen, daß die Kirchengewalt „den Einzelnen nicht hindert, in allem Bürgerlichen sich der Autorität des Staates zu fügen, und daß der Einzelne ebensowenig gehindert sey, auf dem wissenschaftlichen Gebiete jede Forschung anzustellen" (ThEnz. 56,35-38). Der Ausdruck „Kirchengewalt" wird also von Schleiermacher in einem abgrenzenden und einschränkenden Sinn gebraucht: Er dient nicht dazu, die Machtbefugnis der Kirche, etwa unter der traditionellen Gegenüberstellung von Weihe- und Hirtengewalt, zu definieren, sondern soll ihre Verträglichkeit mit den Institutionen Staat und Wissenschaft zum Ausdruck bringen. Der Begriff der Hierarchie bezieht sich hingegen auf die formale Organisation 193 Als „Resultat" dieses Bestrebens nennt Schleiermacher den „codex librorum prohibitorum" der katholischen Kirche (ThEnz. 56,25f). 194 Vgl. ThEnz. 56,28-30. 195 Der Begriff findet sich, als Ubersetzung des kirchenrechtlichen Fachausdrucks „potestas ecclesiastica", bereits in den lutherischen Bekenntnisschriften; vgl. BSLK 122,10; 489,31 f. 196Vgl. ThEnz. 56,33-35: „KirchenGewalt ist die Organisation der Kirchenleitung ihrem Inhalte nach, und hier ist auseinanderzusezen, auf [was] sich die Gewalt der Kirche erstreckt".
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
der Kirchenleitung197: „Hierarchisch ist die Abstufung, in welcher die Einzelnen in Beziehung auf die Kirchenleitung stehen."198 Und diese Organisation muß so gestaltet sein, daß sie im Verhältnis der Kirche zu Staat und Wissenschaft keine Widersprüchlichkeiten zeitigt. Dies schließt auch das Problem der Kirchenverfassung mit ein.199 Auch diese Unteraufgabe der Apologetik hat Schleiermacher selbst nicht zur Ausführung gebracht. Das Verhältnis der Kirche zum Staat und zur Wissenschaft ist zwar auch Gegenstand der Praktischen Theologie200; davon hat Schleiermacher jedoch eine genuin apologetische Behandlung der Thematik unterschieden.201 Anders steht es dagegen mit der Kirchlichen Statistik: Hier ist im Rahmen der Betrachtung der „äußeren Verhältnisse" (KD § 238) der Kirche auch deren Beziehung zu Staat und Wissenschaft zu untersuchen.202 Und die dort getroffenen Grenzziehungen können auch zumindest als Erläuterung der apologetischen Vorgehensweise fungieren, wenngleich die Begriffe „Hierarchie" und „Kirchengewalt" hier nicht vorkommen. Das zwischen den Organisationen „Kirche" und „Wissenschaft" bestehende Verhältnis bestimmt Schleiermacher so, daß er diejenigen Extremformen dieses Verhältnisses identifiziert, in denen beide sich gegenseitig ausschließen: Von seiten der Kirche ist dies der Fall, wenn sie nur dasjenige Wissen zuläßt, das ihren eigenen Zwecken, der „Verbreitung des christlichen
197 Vgl. ThEnz. 57,4f: „Der Begriff Hierarchie hat es nun mit dem Verhältniß der verschiedenen Functionen der KirchenLeitung unter sich zu thun." 198 ThEnz. 57,6f. Auch mit diesem Begriff nimmt Schleiermacher einen kirchenrechtlichen terminus technicus auf, der die im Klerus bestehenden Uber- und Unterordnungsverhältnisse bezeichnet. Zur ursprünglichen Wortbedeutung des seit PseudoDionysios Areopagita belegbaren Ausdrucks (vgl. dazu H . Rausch: Art. „Hierarchie", in: H W P Bd. 3, 1123-1126) merkt Schleiermacher selbst an, daß „άρχή" auf die „obrigkeitliche Auctorität" (ThEnz. 57,8) verweise, und die erste Worthälfte „die Anwendung auf den religiösen Kreis" (ThEnz. 57,9f) bezeichne. 199 Vgl. K D § 238. Diesen Zusammenhang nennt auch Gherardini: L'enciclopedia, 94. Er verweist dabei besonders auf Schleiermachers eigenen „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preussischen Staate" von 1808, KS 2, 117-136. Zur Beurteilung dieses Verfassungsentwurfs vgl. Honecken Kirchenrecht, 13-16. 200 Vgl. K D SS 324-326; PrTh 664-692. 201 Vgl. K D S 48 Zs.: „Alles hierüber in die praktische Theologie gehörige bleibt hier ausgeschlossen." Diese Abgrenzung hat Schleiermacher auch dadurch unterstrichen, daß er in der Praktischen Theologie den Begriff „Kirchengewalt" (KD 1 78-84 SS 4-6 l l f . 20f. 31f) durch den der kirchlichen Autorität ersetzt hat (vgl. K D 2 SS 313. 314 Zs. 315). 202 Vgl. K D SS 240f; ThEnz. 230-236.
2. Grundsätze der Apologetik
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Bewußtseyns" (ThEnz. 232,7), dienlich ist.203 Die Kirche wird umgekehrt dann von der Wissenschaft ausgeschlossen, wenn die Differenz zwischen dem objektiven und dem religiösen Bewußtsein nach innerer Verfaßtheit und äußerem Geltungsbereich nivelliert wird 204 , d. h., „daß die religiöse Ueberzeugung soll nach den Gesezen des objectiven Erkennens beurtheilt werden" (ThEnz. 231,35f). Hat nun die Kirchliche Statistik die Aufgabe, zu zeigen, wie sich zwischen diesen konstruierten Extremformen die auffindbaren bestehenden Verhältnisse bewegen 205 , so nimmt sie hier zugleich die apologetische Funktion wahr, die Widerspruchsfreiheit zwischen Kirche und Wissenschaft zu erweisen.206 In ähnlicher Weise untersucht die Statistik das Verhältnis zwischen Kirche und Staat: Auch hier werden die wechselseitigen Ausschlußformen bestimmt 207 ; allerdings gilt hier zusätzlich die Einschränkung, daß ein völliges Gleichgewicht zwischen beiden Institutionen nicht zu erwarten ist, „weil die bürgerliche Verfassung bestimmter organisirt ist als die Gemeinschaft des Wissens" (ThEnz. 234,27f). Insgesamt besteht an dieser Stelle also ein enger Berührungspunkt zwischen Apologetik und Kirchlicher Statistik. b) Spezielle Apologetik In Ubereinstimmung mit der Grundlegung der speziellen Philosophischen Theologie 208 erfolgen die Bestimmungen der speziellprotestantische Apologetik parallel zur allgemein-christlichen: Dem Protestantismus sind zu seiner Verteidigung die gleichen Aufgaben gestellt wie dem Christentum überhaupt. 209 Diese Analogie 210 gilt jedoch nur in eingeschränkter Weise, weil zum einen die Vergleichbarkeit von Christentum und Protestantismus als individuelle Ausprägungen eines je Allgemeinen darin ihre Grenze findet, daß dieses Allgemeine jeweils unterschiedlich verfaßt ist: Das Wesen der Frömmig203 Vgl. KD § 240; als Beispiel verweist Schleiermacher auf „die Thatsache, daß die Kirche verboten hat, das Kopernikanische System zu lehren" (ThEnz. 232,1 f). 204 Vgl. KD § 240; ThEnz. 231,11-36. 205 Vgl. KD § 240 Zs.; ThEnz. 233,20-25. 206 Vgl. KD § 48; ThEnz. 55,19-21. 207Vgl. ThEnz. 234,15-19: Entweder will die Kirche „kein bürgerliches Element gelten lassen als für welches sie selbst die Norm ist." Oder der Staat will die Kirche nicht anerkennen, sondern selbst „ihre Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu bilden, in Anspruch nehmen." 208 Vgl. oben III.4. 209 Vgl. KD SS 39. 50. 210 Vgl. ThEnz. 57,27; 58,15.
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keit ist ein abstrakter Begriff, während das Christentum selbst bereits eine geschichtliche Größe darstellt.211 Zum anderen ist die Interpretation von Protestantismus und Katholizismus als Auseinandertreten zweier individueller Gestaltungen des Christentums nur der eine Aspekt von Schleiermachers Deutung des konfessionellen Gegensatzes. 212 Daneben findet sich die Auffassung, nach welcher der Katholizismus bestimmte Irrtümer und Verfehlungen repräsentiert, während der Protestantismus eine „Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen" 213 darstellt.214 Das Wesen des Protestantismus ist also für Schleiermacher erst dann vollständig erfaßt, wenn er als individuelle Ausprägung des Christentums verstanden wird, die von bestimmten Verirrungen frei zu sein beansprucht, während der Katholizismus als eigentümliche Gestaltung anzusehen ist, in der aber diese Verfehlungen Bestand haben. Der grundsätzlichen Parallelität zwischen allgemeiner und spezieller Apologetik entsprechend, ist die speziell-protestantische Apologetik wie die allgemein-christliche zu gliedern. Als „Grundaufgabe" (KD § 44 2s.) muß daher zunächst eine Formel für das Wesen des Protestantismus aufgestellt werden. Dabei kann allerdings das Begriffspaar „natürlich" und „positiv" nicht direkt übernommen, sondern muß entsprechend umgeformt werden, so daß das Verhältnis des Christlichen zum spezifisch Protestantischen zum Thema wird.215 Die Wesensformel des Protestantismus unterliegt jedoch denselben Konstruktionsbedingungen wie diejenige des Christentums: Wenn Protestantismus und Katholizismus als zwei individuelle Gestaltungen des Christentums sollen angesehen werden können, dann muß im Wesen des Christentums selbst ein Teilungsgrund gesetzt sein, auf den ihre Differenz zurückgeführt werden kann. 216 Als solchen Teilungs211 Vgl. dazu ausführlicher oben S. 129f. 212 Vgl. Birkner: Deutung und Kritik des Katholizismus, 10-15. 213 C G 2 § 2 4 , Bd. I, 137,lf 214 Diese Sichtweise bringt Schleiermacher etwa in den Augustanapredigten sowie im „Zusatz" zur zweiten Auflage der Reden (Vgl. R 2 (1806), ed. Pünjer 300-303) zur Geltung; vgl. Ohst: Bekenntnisschriften, 210. 215 Vgl. ThEnz. 57,25-29: „Ganz dasselbige wie die §. 43 aufgestellten Grundbegriffe von natürlich und positiv kann nicht vorkommen, aber doch etwas Analoges, nämlich die Stelle des natürlichen nimmt das christliche ein, und die Stelle des Positiven muß das Speciellprotestantische einnehmen." 216 Vgl. ThEnz. 57,33-37: „Wollen wir uns denken, daß Katholizismus und Protestantismus einen reinen Gegensaz bilden, [...] so müssen wir den Grund ihres Zusammenbestehens im Wesen des Christenthums finden. So muß also eine Formel für das eigenthümliche Wesen des Protestantismus aufgestellt werden."
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grand bringt Schleiermacher das Verhältnis zwischen der Frömmigkeit und ihrem Gemeinschaftsbezug in Anschlag.217 Eine weitere Parallele zur allgemeinen Apologetik besteht schließlich darin, daß auch der Formel für das Wesen des Protestantismus als vorläufiger Bearbeitungsort die Einleitung in die (protestantische) Dogmatik zugewiesen wird.218 Und eine solche Formel findet sich auch in der Einleitung zu Schleiermachers Glaubenslehre219; allerdings steht sie nicht mehr innerhalb der apologetischen „Lehnsätze", sondern wird mit dem Ziel aufgestellt, den spezifischen Gegenstand der protestantischen Dogmatik einzugrenzen220: Die Thematik des konfessionellen Gegensatzes erscheint unter der Fragestellung, wie weit sich der Umfang der „aufzustellende^] Glaubenslehre"221 erstreckt. Auch das Wesen des Protestantismus kann jedoch weder rein begrifflich konstruiert noch bloß empirisch aufgefunden werden222; vielmehr ist auch hier das „kritische" Verfahren einschlägig. Dabei ist die in der Individualität ihres geschichtlichen Gegenstands gegründete Revisionsbedürftigkeit jeder „kritischen" Wesensbestimmung223 in diesem Fall von besonderer Bedeutung. Denn der Protestantismus stellt für Schleiermacher ein schwer eingrenzbares geschichtliches Phänomen dar, weil er sich nicht von einem einzigen fixierbaren Punkt aus entwickelt hat, sondern von Anfang an vielgestaltig aufgetreten ist. 224 In der Konsequenz dieser Sichtweise liegt es denn auch, daß Schleiermacher die von ihm aufgestellte „Formel" für das Wesen des Protestantismus ausdrücklich als „vorläufig" bezeichnet225 und darüber hinaus selbst verschiedenar217 Vgl. dazu ausführlicher S. 191ff. 218 Vgl. ThEnz. 57,38f. 219 Vgl. CG 1 § 28; C G 2 § 24. 220 Vgl. die Überschrift zu C G 2 §§ 21-26 (Bd. I, 127,5): „Von der Aussonderung des dogmatischen Stoffs". 221 CG 2 § 23 Ls„ Bd. I, 134,7 222 Vgl. CG 2 § 24.3, Bd. I, 139,15-22. 223 Vgl. dazu oben S. 93f. 224 Vgl. ThEnz. 57,39-58,10. 225 Vgl. CG 1 § 28 Anm., KGA 1/7.1, 99,7-9. Dieser Vorbehalt ist allerdings nicht primär dadurch motiviert, daß der zwischen den Konfessionen bestehende »wahre Individualitätsunterschied empirisch noch nicht zum Vorschein gekommen" wäre (Ohst: Bekenntnisschriften, 209). Vielmehr ist diese Vorläufigkeit für Schleiermacher darin begründet, daß die hier gesuchte Wesensformel kein rein spekulativ-begriffliches Element enthält: Das Christentum, unter das der Protestantismus als geschichtliche Erscheinung zu subsumieren ist, stellt ja seinerseits keinen ethischen Grundbegriff dar, sondern ist ebenfalls eine geschichtliche Größe, die nur als „kritische" Formel angemessen aufgefaßt werden kann.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
tige Interpretationen des konfessionellen Gegensatzes unternommen hat.226 Die von ihm in der Einleitung zur Glaubenslehre „angewendete[n] Methode"227 zur Aufstellung dieser Wesensformel präzisiert Schleiermacher nun folgendermaßen: Die gesuchte Formel muß insofern einen Gegensatz beschreiben, als Protestantismus und Katholizismus beide christlich zu sein beanspruchen.228 Daher soll nicht das Eigentümliche beider Gestaltungen des Christentums jeweils unabhängig für sich gesucht werden; vielmehr sind unter Rückgang auf das Wesen des Christentums diejenigen Aspekte zu identifizieren, in denen sich in beiden Parteien ein Maximum an Differenzbewußtsein ausspricht 229 Anhand dieser methodischen Leitlinie kommt Schleiermacher dann bekanntlich zu der doppelgestaltigen Formel, die den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus so beschreibt, „daß ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche."230 Diese Formel wird nun dadurch dem Anspruch gerecht, auf das Wesen des Christentums zurückzugehen, daß sie den konfessionellen Gegensatz als Modifikation einer grundsätzlichen Differenz erweist: Der positive Gehalt der Frömmigkeit und ihr Gemeinschaftsbezug werden in ein je verschiedenes Verhältnis zueinander gesetzt. Denn das „Verhältnis zu Christo" steht in diesem Zusammenhang als Inbegriff für den - in der Dogmatik als Lehre darstellbaren - Inhalt der christlichen Frömmigkeit, während das „Verhältnis zur Kirche" ihre Sozialgestalt ausdrückt. Beide Faktoren sind jedoch notwendige Wesenselemente der christlichen Frömmigkeit: „Denn da die christliche Frömmigkeit in keinem Einzelnen unabhängig für sich entsteht, sondern nur aus der Gemeinschaft und in ihr: so gibt es auch ein Festhalten an Christo nur in Verbindung mit einem Festhalten an der Gemeinschaft."231
226 Zur Darstellung in der Christlichen Sittenlehre vgl. Birkner: Deutung und Kritik des Katholizismus, 14f; Birkner: Sittenlehre, 119-121; Ohst: Bekenntnisschriften, 33ff. 227 CG 2 § 24.3, Bd. I, 139,37 (Th Anm. b) 228 Vgl. CG 2 § 24.1, Bd. I, 137,26-29. 229 Vgl. CG 2 § 24.3, Bd. I, 140,2f: „[...] was für Eigenschaften der einen Gemeinschaft in dem Gemeingefühl der andern am stärksten das Bewußtsein des Gegensatzes aufregen." 230 CG 2 § 24 Ls., Bd. I, 137,5-9 231 CG 2 § 24.4, Bd. I, 141,1-5; vgl. CG 1 § 28.2, KGA 1/7.1, 100,23-30.
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Diese Unterscheidung von „Lehre" und „Gemeinschaft" 232 wird von Schleiermacher auch an anderer Stelle als Fundamentaldifferenz eingeführt: Es handelt sich um die „2 Punkte die das eigentümliche Wesen der christlichen Kirche constituiren" (ThEnz. 91,13f). Beide Aspekte sind jedoch nicht ausschließlich dem Christentum eigentümlich, sondern gelten nach Schleiermachers Religionsbegriff für jede bestimmte positive Religion. Denn zum einen tritt das fromme Selbstbewußtsein nie rein für sich in Erscheinung, sondern ist als wirklich zeiterfüllend stets mit sinnlichem Bewußtsein verbunden 233 , hat also immer einen propositionalen Gehalt, der - bei hinreichender Differenziertheit der Vorstellungen - als „Lehre" darstellbar ist. Zum anderen bildet sich die Frömmigkeit selbst - „wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur" 234 - notwendig zu einer Gemeinschaft aus.235 Unter diesem Gegensatz von „Lehre" und „Gemeinschaft" kann also auch das Christentum als geschichtliche Größe betrachtet werden; infolgedessen durchzieht er die Historische Theologie als Gliederungsprinzip: Nach dieser Unterscheidung werden innerhalb der „Kirchengeschichte" die „beiden sich am leichtesten sondernden Funktionen" (KD § 166) gegenübergestellt und als die Geschichte des „kirchlichen Lebens" (KD § 168) und die des „Lehrbegriff[s]" (KD § 177) im folgenden getrennt behandelt.236 Entsprechend zerfällt der dritte Teil der Historischen Theologie, die Kenntnis des gegenwärtigen Zustands der Kirche, „von selbst" (KD § 94) in die Subdisziplinen Dogmatik und Statistik.237 Das Urchristentum ist dagegen nach Schleiermacher derjenige „Zeitraum [...], worin Lehre und Gemeinschaft in ihrer Bezie232 Zur Terminologie vgl. etwa KD §§ 87. 90 Zs.; ThEnz. 91,18; 94,35; 152,22-25. 233 Vgl. CG 1 § 10; bes. § 10.5, KGA 1/7.1, 37,3-13. Die zweite Auflage (CG 2 § 5.4, Bd. I, 36,27-37,21) beschreibt diesen Sachverhalt terminologisch präziser Das „schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl" als solches (a.a.O., 36,31) ist das Ergebnis einer begrifflichen Abstraktion und kann für sich „gar kein wirkliches zeiterfüllendes Bewußtsein werden" (a.a.O., 37,1). Erst in Verbindung mit dem „sinnlich bestimmte^] Selbstbewußtsein" (a.a.O., 36,27) tritt es auf empirisch wahrnehmbarer Ebene in Erscheinung und wird so eine „besondere fromme Erregung" (a.a.O., 37,9). 234 CG 2 § 6 Ls., Bd. I, 41,18f 235 Der Gemeinschaftsbezug der Frömmigkeit gehört ja zum wesentlichen Themenbestand der Ethik, vgl. CG § 6.2, Bd. 1,42,16-18. Innerhalb der ethischen „Lehnsätze" wird dieser Zusammenhang allerdings nur andeutungsweise entwickelt: Das postulierte menschliche „Gattungsbewußtsein" (a.a.O., 42,22) erfordert eine solche Vergemeinschaftung, die durch das (sowohl unmittelbare als auch sprachlich vermittelte) Außerlichwerden innerseelischer Vorgänge ermöglicht wird (vgl. a.a.O., 42,27-34). 236 Vgl. KD §S 168-178. 177-183. Zur Einteilung vgl. bereits KD S 90. 237 Vgl. KD SS 93-98. 195.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
hung aufeinander erst wurden" 2 3 8 ; die Exegetische Theologie ist daher diesem Gliederungsprinzip nicht unterworfen. Der Gegensatz selbst ist für Schleiermacher jedoch in der „individuelle[n] Natur des christlichen Principe" (ThEnz. 157,15) begründet: Die Frömmigkeit hat im Christentum sowohl einen bestimmten gedanklichen Gehalt als auch die Tendenz, sich zu vergemeinschaften. 239 Von „Lehre" und „Gemeinschaft" kann daher gesagt werden, daß sich das „eigentümliche Wesen der Kirche oder einer partiellen Kirchengemeinschaft in beiden ausspricht" 240 . Schleiermachers Beschreibung des Gegensatzes zwischen Protestantismus und Katholizismus nimmt also einerseits eine Grundunterscheidung auf, die sich der „Natur des christlichen Princips" (ThEnz. 157,12f) verdankt, und ist dadurch andererseits imstande, die geschichtlichen Gegebenheiten der konfessionellen Differenzen zu erklären. Der an eine „kritische" Wesensformel zu stellende Anspruch ist damit erfüllt. Neben der primären Frage nach einer Wesensformel für den Protestantismus werden auch der speziell-protestantischen Apologetik weitere Begriffe zur Bearbeitung vorgelegt. Diese Bearbeitung liegt aber jenseits der Bedürfnisse einer Dogmatik-Einleitung; daher enthält die Einleitung zur Glaubenslehre zu diesem Teil der Apologetik keine Ausführungen. Allerdings kann die erste Gruppe der apologetischen Leitbegriffe („Offenbarung, Wunder, Eingebung") nicht in die spezielle Apologetik des Protestantismus übernommen werden, weil der in diesen Begriffen enthaltene Unableitbarkeitsanspruch dem protestantischen Selbstverständnis widerspricht: Der Protestantismus hat sich „nie als göttliche Offenbarung behauptet" 241 , sondern versteht sich - der doppelten Sichtweise des konfessionellen Gegensatzes zufolge - wesentlich als „Reinigung" von Mißständen und „Rückkehr" 238 KD § 87. Denn der Ursprung des Christentums ist eine „einfache Einheit," in der „diese Sonderung noch nicht vollzogen" ist (ThEnz. 91,19f). Eine Abgrenzung nach hinten bildet also spätestens die Entwicklungsstufe des Christentums, auf der eine Differenz der Lehre zur Ursache für eine Differenz der Gemeinschaft werden kann (vgl. KD § 87 Zs.). Da die eigentliche christliche Gemeinschaft sich Schleiermacher zufolge erst bei der gegenseitigen Anerkennung von Juden- und Heidenchristentum konstituiert hat, begrenzt diese Bestimmung das Urchristentum also auf das „Zeitalter der unmittelbaren Schüler Christi" (ebd.). 239 Vgl. ThEnz. 157,13-15: ,[...] daß sich nämlich die christliche Frömmigkeit überwiegend in Gedanken ausspricht, aber zugleich wesentlich ein Gemeinschaft bildendes ist." 240 KD § 94 Zs. (Hervorhebung M.R.) 241 ThEnz. 43,26; vgl. ThEnz. 58,10-13.
2. Grundsätze der Apologetik
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zu derjenigen ursprünglichen Gestalt des Christentums, die von den „eingeschlichenen Mißbräuchen" 242 des Katholizismus noch nicht betroffen ist.243 Fällt also die erste apologetische Unteraufgabe in der speziell-protestantischen Apologetik aus, so gibt es eben deswegen für die „anknüpfende Tendenz" (ThEnz. 52,40) der Begriffe „Weissagung" und „Vorbild" eine „ausgedehnte Analogie" (ThEnz. 58,14f): Da der Protestantismus beansprucht, in einem „Zurückgehen auf das Ursprüngliche und Achte" (ThEnz. 58,17) zu bestehen, ist für ihn der Nachweis historischer Kontinuität von großem Interesse. So kommt diesen Begriffen in der speziell-protestantischen Apologetik eine wichtige Funktion zu: Unter dem Stichwort „Weissagung" sind vorreformatorische Kritiker der katholischen Kirche zusammenzustellen 24 *; als „Vorbilder" des Protestantismus können alle „praktische[n] Versuche" der Kirchenreform (ThEnz. 58,22) angesehen werden. Nur in einem Fall werden der speziell-protestantischen Apologetik eigene Leitbegriffe zugesprochen: Die Begriffe „Konfession" und „Ritus" sollen die Identität der protestantischen Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung festhalten. Damit ersetzen sie das Begriffspaar „Kanon und Sakrament" 245 , das nichts dem Protestantismus Eigentümliches aussagt, weil dieser „keinen eignen Kanon und keine [...] eignen Sacramente" 246 hat. Die Aufgabe, „ein Stätiges im Wechsel" nachzuweisen (ThEnz. 58,29), ist aber für den Protestantismus von besonderer Relevanz, weil damit dem katholischen Vorwurf der 242 CG 2 S 24 Ls., Bd. I, 137,lf 243 Dieser Ablehnung des Offenbarungsbegriffs entspricht hinsichtlich des „Wunders" eine Notiz innerhalb der Christologie, nach der die Reformation der Beginn eines lediglich „im untergeordneten Sinne neuen Gesammtiebens" sei, das der Reformator aber „doch nicht für einen solchen Entwiklungspunkt angesehen [habe], dem die Wunderkraft billig zur Seite ginge" (CG 1 § 124.3, KGA 1/7.2, 85,1-3). 244 In diesem Zusammenhang verweist Schleiermacher auf den Ausdruck „testes veritatis" (ThEnz. 58,21), der schon in der frühen lutherischen Orthodoxie als Begründung für den Anspruch fungierte, daß die eigene Lehre bereits von Anfang an in der Kirche ausgesprochen worden sei; vgl. etwa M. Flacius: Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae, Wittenberg 1556 oder den dem Konkordienbuch angehängten „Catalogus testimoniorum" (BSLK 1101 ff). Denselben Sachverhalt erwähnt Schleiermacher auch ChS 5 Anm. (Ns. 1826/27): „die Zeugen der Wahrheit, die erst den Weg gebahnt haben". 245 Vgl. KD § 50 Zs. 246 ThEnz. 58,25. Im Rahmen der exegetischen Kanon-Theorie wird allerdings die Verteidigung der protestantischen Beschränkung des Kanons eigens in die spezielle Apologetik des Protestantismus gewiesen, „wo unser Kanon zu rechtfertigen ist gegen den Vorwurf der Unvollständigkeit" (ThEnz. 105,8f). Dagegen steht die Abweisung eines spezifisch protestantischen Sakramentsbegriffs in Ubereinstimmung mit den entsprechenden Ausführungen innerhalb der Dogmatik, vgl. oben S. 184.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
fehlenden Einheitlichkeit in der protestantischen Kirche begegnet werden kann. 247 Und für diesen Nachweis bieten sich die Begriffe „Confession" und „Ritus" als „die allgemeinen Typen der Lehre und des Cultus" (ThEnz. 58,32f) an248: Die letzte Berufungsinstanz im Protestantismus bildet zwar der Kanon, der aber selbst keine völlige Einheitlichkeit und Geschlossenheit aufweist, sondern auslegungsbedürftig ist. Gefährdet nun die Verschiedenheit der Auslegungen tendenziell die Einheit der protestantischen Kirche, so wird eine zusätzliche Einheitsinstanz benötigt, die „die HauptResultate der Untersuchung" (ThEnz. 59,16f) des Kanons festlegt und damit die Gewähr für eine „Tendenz zur Einheit" (ThEnz. 59,19) bietet. Diese Funktion nehmen nach Schleiermachers Ansicht die Bekenntnisschriften wahr; daher ist der Ausdruck „Confession" als Programmbegriff der speziellprotestantischen Apologetik bestens geeignet.249 Ebenso gilt für den Begriff „Ritus", daß er auf dem Gebiet der „Gebräuche" zwar keine völlige Vereinheitlichung begründet, aber eine „Tendenz zur Einheit ausspricht" (ThEnz. 59,29f), die ihn als apologetischen Programmbegriff empfiehlt. 250 Auch diese Begriffe hat Schleiermacher nicht als eigentlich apologetische Entfaltung der Thematik bearbeitet; die Bekenntnisschriften werden aber - wie schon die Heilige Schrift - in der Einleitung zur Glaubenslehre als Identitätskriterium des Protestantismus in Anspruch genommen: Sie bilden das oberste Kriterium für den Nachweis, daß ein dogmatischer Satz dem jeweiligen kirchlichen Gemeinbewußtsein entspricht.251 Die faktische Behandlung der apologetischen Leitbegriffe „Kanon" und „Konfession" unter der Thematik „Heilige Schrift" und „Bekenntnisschriften" in der Einleitung zur 247 Vgl. ThEnz. 58,36-39. 248 Vgl. zum folgenden ThEnz. 59,14-33. 249 M. O h s t hat darauf hingewiesen, daß sich in Schleiermachers Verständnis der Bekenntnisschriften das „Bestreben" zeigt, „die Begriffe »Konfession« bzw. »Konfessionskirche« als spezifisch protestantische zu reklamieren", weil sie „unlöslich mit der Entstehung der in der Reformation sich vollziehenden Verselbständigung des Protestantismus als dem Anfangspunkt einer neuen Individuation des Christentums verzahnt" seien (Ohst: Bekenntnisschriften, 135). Diese Inanspruchnahme des Konfessionsbegriffs entspricht also exakt seiner apologetischen Funktion, die allerdings bei Ohst unerwähnt bleiben muß, weil er eine enzyklopädische Verortung zwar der „Kirchengeschichte" (vgl. a.a.O., 52ff), nicht aber der Protestantismus-Thematik insgesamt vornimmt: Die Bedeutung der „Konfession" f ü r die speziell-protestantische Apologetik (KD § 50 Zs.) wird nicht berücksichtigt. 250 Vgl. ThEnz. 59,31-33. 251 Für diesen Nachweis nimmt der „Beweis aus den Bekenntnisschriften die erste Stelle" ein (CG 2 § 27.1, Bd. I, 149,120; vgl. Ohst: Bekenntnisschriften, 213-215.
2. Grandsätze der Apologetik
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Glaubenslehre bringt somit trotz ihrer unterschiedlichen Motivation der Feststellung von Umfang und Inhalt der Dogmatik252 eine wesentliche Intention auch der apologetischen Bedeutung beider Begriffe zur Geltung. Die letzte Aufgabe der speziellen Apologetik gestaltet sich wiederum analog zu ihrer allgemeinen Fassung253: Die Begriffe „Hierarchie" und „Kirchengewalt" sind in ihrer spezifisch protestantischen Bedeutung so zu bestimmen, daß die Unabhängigkeit der Kirche von Staat und Wissenschaft erklärt und begründet werden kann.254 Zu den Bestimmungen der speziellen Apologetik gehört schließlich eine Zusammenstellung der möglichen Vorwürfe, die zwei konkurrierende Kirchenparteien gegeneinander erheben können: Weil beide beanspruchen, auf einen ursprünglichen, ungeteilten Zustand der Kirche zurückzugehen, müssen sich beide gegen die von der jeweils anderen Seite erhobenen Anschuldigungen „der Anarchie oder der Korruption" (KD § 52) verteidigen.255 Diese Entkräftung geschieht dadurch, daß beide Konfessionsparteien je für sich die Kontinuität zum ursprünglichen, gegensatzlosen Zustand nachweisen. Aber auch in dieser formalen Ubereinstimmung besteht nach Schleiermachers Ansicht wiederum eine Differenz zwischen Protestantismus und Katholizismus, weil beide diesen Nachweis auf unterschiedliche Weise führen: Besteht im Protestantismus die „Neigung, auch apologetisch anzuknüpfen an das Ursprüngliche der Lehre, und ihre Identität mit demselben nachzuweisen," so legt „die katholische Kirche den vorzüglichen Werth darauf [...], die Identität des KirchenRegiments nachzuweisen" (ThEnz. 61,18-21).
252 Vgl. CG 1 § 30. 253 Vgl. KD SS 48. 50 Zs. 254 Vgl. ThEnz. 59,34-60,10. Dabei ist in erster Linie das Verhältnis der Kirche zum Staat zu berücksichtigen (vgl. KD S 50 Zs.), denn gegenüber der Wissenschaft sind keine Abgrenzungsprobleme zu erwarten, weil „die Protestantische Kirche mit der Anerkennung der eignen UntersuchungsFreyheit angefangen hat" (ThEnz. 59,3840). 255 Beide Vorwürfe unterscheiden sich nach dem Gegensatz zwischen dem Gehalt der Frömmigkeit und ihrem Gemeinschaftsbezug: „jenes mehr in gesellschaftlicher, dieses mehr in dogmatischer Beziehung" (ThEnz. 61,1 lf).
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
3. Grundsätze der Polemik Die enzyklopädische Behandlung der Polemik führt Schleiermacher so durch, daß er eine Systematisierung derjenigen Krankheitsformen vornimmt, die den „geschichtlichen Organismus" (KD § 54) der christlichen Kirche befallen können. Weil aber die unterschiedliche Beurteilung des konfessionellen Gegensatzes durch beide Konfessionen eine gemeinsame allgemein-christliche Polemik beider Kirchenparteien unmöglich macht 256 , ist auch die allgemein-christliche Polemik des Protestantismus immer schon spezifisch protestantisch gefärbt.257 Als Ursachen möglicher krankhafter Abweichungen von der Idee des Christentums werden grundsätzlich ein quantitativer und ein qualitativer Defekt 258 unterschieden: Einerseits kann die Intensität der „Lebenskraft" (KD § 54) in der christlichen Kirche abnehmen, andererseits kann sich „Fremdartiges" (ThEnz. 62,35) in der Gemeinschaft einnisten, das deren Reinheit gefährdet. Zur vollständigen Klassifikation der möglichen Krankheitsformen greift Schleiermacher nun auf den Grundgegensatz zwischen „Lehre" und „Gemeinschaft" zurück und stellt ihn der Unterscheidung beider Krankheitshinsichten gegenüber: Galt schon für die Wesensbestimmung der Apologetik das Kriterium, daß sie desto angemessener ist, je mehr sie den Sachverhalt berücksichtigt, daß das Christentum als „organische Gemeinschaft bestehen will" und sich zugleich „vorzüglich durch den Gedanken darstellt und mitteilt" 259 , so liegt es in der Konsequenz des Zusammenhangs von Apologetik und Polemik, daß auch die Krankheitszustände identifizierenden Grundbegriffe der letzteren durch diesen Gegensatz bestimmt sind. Daher lassen sich als Ursachen für die quantitativen Krankheitszustände eine Abnahme der christlichen Frömmigkeit („Indifferentismus") und eine Schwächung ih-
256 Vgl. ThEnz. 45,2-4. 257 Mit dieser konfessionellen Prägung der Polemik hängt möglicherweise zusammen, daß Schleiermacher die Förderung und Anregung dieser Disziplin insbesondere der ebenfalls konfessionell gebundenen Dogmatik (vgl. C G 1 § 26; C G 2 § 23) und deren professionellen Vertretern zuschreibt: „Das ist nun aber gerade der Einfluß den diejenigen welche sich ex professo mit der Dogmatik [...] beschäftigen, auf die Kirchenleitung haben müssen, daß sie die Polemik in Gang bringen gegen Alles Antichristliche und Antievangelische" (ThEnz. 213,27-30). 258 Vgl. ThEnz. 62,35f; 63,27; 64,22. 259 K D § 49; vgl. auch die Formulierung in KD 1 16 § 3 („ideale[n]" und „reale[n] Seite" des Wesens einer Religionsform).
3. Grundsätze der Polemik
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res Gemeinschaftstriebes („Separatismus") unterscheiden 260 , während die durch Verfremdung des genuin Christlichen verursachten Fehlentwicklungen in „Häresis" und „Schisma" unterteilt werden können. 261 Die Aufgabe der Polemik besteht dann jeweils darin, diese Begriffe so zu bestimmen, daß die Grenze zum Krankhaften identifiziert werden kann, damit dann einzelne geschichtliche Zustände nach diesen Kategorien beurteilt werden können. 262 Dabei ist allerdings festzuhalten, daß der Ausdruck „Gesundheit" von Schleiermacher hier als Idealbegriff verwendet wird, der keinen wirklichen historischen Zustand bezeichnen, sondern als Beurteilungsprinzip fungieren soll: Dem „normalen Gesundheitszustand der Kirche" (KD § 55 Zs.) kann sich die geschichtliche Wirklichkeit allenfalls annähern. 263 Die beiden quantitativen, durch Schwächung als Krankheitserreger hervorgerufenen Abweichungen werden von Schleiermacher dann folgendermaßen erläutert: „Indifferentismus" ist dadurch gekennzeichnet, daß in den Ausdrucksformen der Frömmigkeit deren individuelle und positive Färbung abnimmt, so daß im Bewußtsein der frommen Subjekte die christliche Religion ihre Vorzüglichkeit verliert. 264 Er besteht also im „Zurücktreten des eigenthümlich Christlichen" 265 . Dabei ist auffällig, daß Schleiermacher den Fall, daß die Frömmigkeit selbst zurücktritt, gar nicht in den Blick nimmt, denn als Indifferentismus wird „Gleichgiltigkeit in Bezug auf das eigentümliche Gepräge der christlichen Frömmigkeit" 266 bezeichnet, selbst wenn dabei „noch Frömmigkeit ohne bestimmtes Gepräge stattfinden kann" (KD § 56 Zs.), also ein Keim zur Religiosität noch vorhanden ist. Daß auch diese Religiosität selbst zurücktritt, wird von Schleiermacher nicht eigens als Möglichkeit krankhafter Zustände angenommen. Diese Beobachtung steht jedoch in Übereinstimmung mit dem Sachverhalt, daß 260 Vgl. KD SS 55-57. 261 Vgl. KD $ 58. 262 Vgl. KD SS 56. 58. 263 Vgl. ThEnz. 63,19-24: „Der Normalzustand der Kirche ist eine Fiction wie der NormalgesundheitsZustand im Menschen, da man keinen in jeder Beziehung ganz gesunden Menschen finden wird." Es handelt sich also um ein „Princip der Beurtheilung für die geschichtlichen Bewegungen, je nachdem sie Annäherungen oder Rückschritt sind". 264 Als Beispiel für diese Haltung führt Schleiermacher an: „Oft sagt man: das Positive des Christenthums ist Nebensache, die Hauptsache ist Frömmigkeit überhaupt, oder das Handeln" (ThEnz. 63,36f). 265 ThEnz. 63¿7f. 266 KD S 56 Zs.; Hervorhebung M.R.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
durch den Gegensatz, der die Differenz zwischen „Indifferentismus" und „Separatismus" ausmacht, die Sozialgestalt der Religion nicht der Frömmigkeit selbst gegenübergestellt wird, sondern deren eigentümlichem, propositional aussagbarem Gepräge. Ist auf der anderen Seite der aus der Frömmigkeit entspringende Gemeinschaftstrieb unterentwickelt, so entsteht „Separatismus". Diese Krankheitsform besteht im Unterschied zum Schisma267 - nicht in der Aufhebung der Kirchengemeinschaft durch Differenzen in der Kirchenverfassung, sondern ist nur die negative „Tendenz, den Einzelnen in Beziehung auf das religiöse Element zu isoliren" (ThEnz. 64,13f). Damit wird aber ein wesentlicher Grundzug der Frömmigkeit, ihr Vergemeinschaftungsbestreben, negiert. Auch die qualitativen Krankheitszustände, die durch das äußere Eindringen fremdartiger Elemente verursacht sind, werden gemäß der Grundunterscheidung zwischen dem mit der Frömmigkeit verbundenen positiven Gehalt und ihrer Gemeinschaftsbildung unterschieden. Denn als die „2 Regionen [...], in welchen sich die Krankheit zeigen kann" (ThEnz. 64,23f) werden „Lehre" und „Verfassung" genannt: Diese beiden Außerungsformen sind es, in denen „das eigentümliche Wesen des Christentums sich vorzüglich ausspricht" (KD § 58). Daraus ergeben sich die polemischen Grundbegriffe „Ketzerei, Häresis" und „Spaltung, Schisma" (KD § 58). Die polemische Aufgabe besteht nun darin, diese Begriffe unter Rückgang auf die Formel für das Wesen des Christentums zu klassifizieren, damit „die vorhandenen Erscheinungen mit Leichtigkeit darunter subsumiert werden können." 268 Auch hier findet sich also für die Vorgehensweise der Polemik das charakteristische Nebeneinander von Begriffsklärung und Subsumtion des Geschichtlichen. Dabei werden die Begriffe von Schleiermacher folgendermaßen präzisiert: „Häresis" ist die Verfälschung des lehrhaft darstellbaren Gehalts des Christentums durch wesensfremde Prinzipien, „welche nun jenem ihren Character aufdrücken" (ThEnz. 64,28f). Den Ausdruck „Schisma" versteht Schleiermacher dagegen so, daß er „etymologisch nur auf das Bestreben [deute], eine kleinere Gemeinschaft im Gegensaz gegen die große hervorzubringen" (ThEnz. 64,30-32). Aber „Schisma" ist dieses Bestreben erst zu nennen, wenn es zur wirklichen verfassungsmäßigen Trennung zweier Kirchengemeinschaften kommt. Beide Formen der krankhaften Beeinflussung 267 Vgl. KD S 57 Zs. 268 KD § 59 Zs.; vgl. ThEnz. 65,32-37.
3. Grundsätze der Polemik
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hängen zwar nicht notwendig zusammen, gehen aber in der geschichtlichen Entwicklung häufig ineinander über 269 : Jede Abweichung in der Lehre wird jedenfalls dann auch eine eigene Gemeinschaft bilden, wenn sie aus der ursprünglichen Gemeinschaft ausgeschlossen wird. 270 Diesen Zusammenhang erläutert Schleiermacher am Beispiel der Reformation 271 : Eine schismatische Intention lag bei den Reformatoren ursprünglich nicht vor; nach dem Ausschluß aus der Kirche aber „mußten sie eine neue Gemeinschaft stiften" (ThEnz. 65,7f). Die Protestanten können sich also gegenüber der katholischen Kirche darauf berufen, „daß man uns gezwungen hat, auszuscheiden" (ThEnz. 65,9f). Diese unterschiedliche Beurteilung ist zugleich ein Beispiel dafür, „wie von verschiedenen Gesichtspunkten aus einer als Schisma ansieht, was der Andre nicht" (ThEnz. 65,1 Of). Daraus erhellt ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer Klärung der in der Polemik gebrauchten Begriffe.272 Im Unterschied zur Apologetik hat Schleiermacher die Polemik auch an dem von ihm selbst angegebenen behelfsmäßigen Ort, der „Einleitung in die praktische Theologie" (ThEnz. 73,25), nicht zur Ausführung gebracht: In seiner eigenen Einleitung zur Praktischen Theologie 273 taucht zwar der Ausdruck „Separatismus"274 einmal auf; insgesamt ist hier jedoch keine auch nur partielle Entfaltung der Polemik zu finden. Statt dessen werden die Begriffe „Indifferentismus" und „Separatismus" innerhalb der Kirchlichen Statistik erwähnt 275 : Deren Thema, den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand der Kirche, unterteilt Schleiermacher in die „äußeren Verhältnisse" und die „innere Beschaffenheit" der Kirche, die wiederum unter den Gesichtspunkten „Gehalt" und „Form" (KD § 232) betrachtet werden kann. Be269 Denn eine „abweichende Lehre" neigt zu einer „besondere[n] Gemeinschaft" und innerhalb einer Spaltung wird sich auch meistens, „jedoch nicht notwendig" eine divergierende Lehre entwickeln (KD § 58 Zs.). 270 Vgl. ThEnz. 65,1-3. 271 Vgl. ThEnz. 65,3-22. 272 Vgl. ThEnz. 65,2 lf: „Insofern sind diese Begriffe schon so aufzustellen, daß sie nicht verdreht werden können." 273 Vgl. PrTh 3-63; 786f (Ms. 1828). 274PrTh 42,27. Diese Stelle steht jedoch nach Intention und Ausführung in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Polemik: Gemeinsam mit dem „Quietismus" (PrTh 42,29) wird der Separatismus, der die äußere Form der Gesellschaft auflösen will" (PrTh 42,27f; Hervorhebungen i. O.), innerhalb der durch das Stichwort „Seelenleitung" (PrTh 40,23) bezeichneten Passage PrTh 40-43 lediglich kurz erwähnt. 275 Vgl. KD § 234 Zs.; ThEnz. 223,1-26.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
zieht sich die letztere auf die Organisation und Verfassung einer Kirche 276 , so bemißt sich Schleiermacher zufolge der „Gehalt einer kirchlichen Gemeinschaft" nach der Intensität ihres „eigentümliche[n] Gemeingeist[es]" (KD § 234), der ihr spezifisches Wesen verkörpert und als gemeinschaftstiftend zum Ausdruck bringt. Beide Elemente, das Besondere einer kirchlichen Gemeinschaft und der Grad ihres Zusammenhaltes, bestimmen den in der Statistik darzustellenden „Gehalt". In bezug auf beide Elemente kann aber auch der „Gesundheitszustand" (KD § 234 Zs.) verfehlt werden, und darin liegt der Zusammenhang mit den polemischen Begriffen: Besteht eine Tendenz zum Indifferentismus, dann kommt das spezifische Wesen der Gemeinschaft nicht mehr hinreichend zur Geltung; bei aufkommendem Separatismus verliert der „Gemeingeist" seine verbindende Wirkung. 277 Durch diesen Verweis auf die Polemik wird aber lediglich eine thematische Schnittstelle beider Disziplinen bezeichnet; eine eigentliche materiale Entfaltung der beiden polemischen Begriffe findet auch in der Kirchlichen Statistik nicht statt. Allein der Begriff der Häresie ist von Schleiermacher einer ausführlicheren Betrachtung unterzogen worden: Die einschlägigen Paragraphen der Einleitung zur Glaubenslehre278 können jedoch nicht von vornherein als eine genuin polemische Behandlungsweise verstanden werden 279 , weil sie in keinerlei explizitem Zusammenhang mit der Polemik stehen. Vielmehr werden die Überlegungen zur Thematik des „Ketzerischen" mit dem ganz anderen Ziel einer „Aussonderung des dogmatischen Stoffs" 280 angestellt: Die „natürlichen"281, d.h. im Wesen des Christentums bereits angelegten Häresien sollen als „Grenzpunkte" 282 für die Konstruktion der Glaubenslehre aufgestellt wer276 Vgl. K D §§ 235f. 277 Vgl. ThEnz. 223,6-11 „Je mehr eine Gesellschaft dem Indifferentismus [verfällt], desto schwächer ist die Wirksamkeit des GemeinGeistes darinn [...]. J e mehr Neigung zum Separatismus, desto mehr ist das Band zwischen den einzelnen Gliedern aufgelöst, da ist also das Ubergewicht des Eigenthiimlichen über das Gemeinsame." 278 Vgl. C G 1 SS 24f; C G 2 SS 21f. 279 Vgl. etwa M. Riemen Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, F S Ö T h 58, Göttingen 1989, 261. 280 C G 2 Bd. I, 127,5 (Zwischenüberschrift der SS 21-26 innerhalb des zweiten Kapitels der Einleitung). Diese „Aussonderung" hat als dogmatikfundierende Untersuchung ihren eigentlichen Ort in der Einleitung zur Dogmatik und entstammt keiner Lehndisziplin. 281 C G 1 S 25 Ls„ K G A 1/7.1, 93,14 282 C G 2 S 22.3, Bd. I, 132,27
3. Grundsätze der Polemik
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den, innerhalb derer die Dogmatik sicher sein kann, das Gebiet des wahrhaft Christlichen nicht zu verlassen. Trotz dieser Verschiedenheit der Intention gibt es aber Parallelen zu einer den Anforderungen der Polemik entsprechenden Vorgehensweise: So wird das Häretische, das in der zweiten Fassung der Einleitung explizit als „krankhafter" 283 Zustand eingeführt wird, aus der aufgestellten Formel für das Wesen des Christentums konstruiert 284 ; damit steht die für die Polemik formulierte Aufgabenstellung in völliger Ubereinstimmung. 285 Aus dieser Konstruktion ergibt sich die „bekannte häretische Windrose Schleiermachers"286, die zum einen Manichäismus und Pelagianismus als falsche Extremformen der Auffassung vom Erlösungswerk Christi gegenüberstellt287, bei denen entweder die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen oder aber seine „Fähigkeit, Erlösung aufzunehmen" 288 verabsolutiert werden. Zum anderen kann in der Lehre von der Person Christi entweder deren „eigenthümlicher Vorzug [...] vor allen Andern" absolut gesetzt werden, so daß sich die Annahme seiner menschlichen Natur damit nicht mehr vereinbaren läßt (Doketismus); oder die „wesentliche Gleichheit zwischen Christo und uns" 289 wird derart betont, daß auch in ihm „Erlösungsbedürftigkeit mitgesetzt" 290 wird (ebionitische oder nazoräische Häresie). 291 Steht diese Schematisierung möglicher Abweichungen vom Christentum also unter dem Anspruch, aus der Wesensformel abgeleitet zu sein, so kann sie der Wesensbestimmung selbst als „Ergänzung" 292 dienen; hier spiegelt sich also das zwischen Apologetik und Polemik bestehende Verhältnis ab.293 Darüber hinaus beansprucht die begriffliche Konstruktion, daß die empirisch auffindbaren Häresien in ihr 283 CG 2 § 21.1, Bd. 1,127,15; vgl. auch die Bemerkung zum gesamten Abschnitt § 21.1, a.a.O., 127,33 (Th Anm. b). 284 Vgl. CG 2 § 22.2, Bd. I, 129,12f; Zweites Sendschreiben 501, KGA 1/10, 357,26f. 285 Vgl. ThEnz. 65,32-35: In den Begriffen „Häresis" und „Schisma" soll „in Verbindung mit dem Begriff von dem Wesen des Christenthums, eine Theilung gemacht werden [...], um das historisch Gegebene desto leichter zu subsumiren." 2861. A. Dornen Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 1. Theil, Stuttgart 21845 (= Berlin 1851), 71 Anm. 4 287 Diese Gegenüberstellung soteriologischer Grenzpunkte findet sich bereits in der Konkordienformel, vgl. BSLK 850,4-7. 288 CG 2 § 22.2, Bd. I, 131,8 289 CG 1 § 25.3, KGA 1/7.1, 94,37-40 290 CG 2 § 22.2, Bd. I, 132,12 291 Vgl. Junker Urbild, 102-104. 292 CG 2 § 22.2, Bd. I, 129,17 293 Vgl. KD § 64.
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IV. Die fragmentarische Entfaltung der Philosophischen Theologie
enthalten sind: Alle tatsächlich geschichtlich aufgetretenen Ketzereien müssen sich „in eine von diesen Formen fügen" 294 . Die Subsumtion selbst wird jedoch im Rahmen der Dogmatik-Einleitung nicht mehr durchgeführt; auch hier bleibt also die Ausarbeitung der Polemik fragmentarisch. Die speziell-protestantische Polemik schließlich hat nach Schleiermacher „denselben Weg zu verfolgen, wie die allgemeine" (KD § 61): Wie diese die Krankheitszustände in bezug auf das Christentum insgesamt klassifizieren und identifizieren soll, so hat jene das Entsprechende für den Protestantismus zu leisten. Allerdings macht sich der Unterschied zwischen der Verschiedenheit der Religionen und dem konfessionellen Gegensatz innerhalb des Christentums295 dadurch bemerkbar, daß nicht alle Leitbegriffe der allgemein-christlichen Polemik in die speziell-protestantische übernommen werden können: Die Begriffe „Häresis" und „Schisma" werden als für diesen Zweck untauglich ausgemustert.296 Was die Entwicklung der Lehre angeht, so haben nach Schleiermachers Ansicht dem Wesen beider „ParticularKirche[n]" widersprechende fremdartige Elemente geringere Etablierungschanchen, weil die beiden Konfessionskirchen gefestigter sind als das Christentum der ersten Jahrhunderte.297 Auf dem Gebiet der kirchlichen Verfassung dagegen sind Abspaltungen einzelner Kirchengemeinschaften nicht mehr als „Schisma" zu beurteilen, weil sie immer auch als „reformatorische Tendenzen" (ThEnz. 67,33) angesehen werden können. Für diesen letzten Teil der Polemik finden sich keinerlei Hinweise auf irgendwelche materialen Ausführungen der begrifflichen Bestimmungen, wie ja insgesamt der fragmentarische Charakter der Philosophischen Theologie in dieser Subdisziplin deutlich vorherrscht. 294 C G 2 S 22.1, Bd. I, 130,12f 295 Vgl. dazu oben S. 129f. 296 Vgl. K D § 61 Zs. 297Vgl. ThEnz. 67,8-10. Mit diesem Argument wird allerdings auch der Häresiebegriff der allgemeinen Polemik für unangemessen erklärt, sofern auch sie sich auf den gegenwärtigen, relativ gefestigten Zustand bezieht. - Uber die Entstehung von der Häresie immerhin noch vergleichbaren Phänomenen hat die Vorlesungsnachschrift D. F. Strauß' folgende Erwägungen Schleiermachers überliefert: Zum einen könnten „große Bekehrungen unter den Heiden" (ThEnz. 67,12f) stattfinden, die ihre eigene, schon bestimmt ausgeprägte Religionsform als Lehrentwicklung mit im Christentum einbringen. Zum anderen entstünde ein „Analogem von häretischer Lehre" (ThEnz. 67,21), wenn ein bestimmtes wissenschaftliches Prinzip auf mehr als bloß formale Weise an der Lehrbildung beteiligt wäre (vgl. ThEnz. 67,18-21).
V. Schlußbetrachtungen Die Funktionalität der Theologie hat sich als Schlüssel zum Verständnis des Schleiermacherschen Theologiebegriffs wie seines Programms der Philosophischen Theologie erwiesen: Die Pointe seiner Grundlegung der Theologie als einer positiven Wissenschaft ist darin zu sehen, daß die Theologie aus dem System der realen Wissenschaften herausfällt und erst durch ihren funktionalen Bezug zur geschichtlichen Größe „Christentum" als eigenständige Wissenschaft konstituiert wird. Konsequenterweise rekurriert Schleiermacher daher bei der Begründung und Entfaltung der Philosophischen Theologie stets auf ihre Funktionalität 1 , die das wesentliche Kriterium ihrer Bestimmung als theologische Disziplin darstellt. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die der Funktionalität der Theologie in Schleiermachers Theologie-Konzeption zukommt, soll dieses Thema zum leitenden Gesichtspunkt der folgenden abschließenden Betrachtungen erhoben werden. Dabei gilt das Interesse zunächst dem funktionalen Theologiebegriff selbst (V.l), bevor seine Auswirkungen auf die Neugestaltung der philosophisch-theologischen Subdisziplinen Apologetik und Polemik betrachtet werden sollen (V.2).
1. Die Funktionalität der Theologie Die wesentliche Eigenart der Schleiermacherschen Fassung des Theologiebegriffs kann darin gesehen werden, daß die Theologie nicht durch einen spezifischen Gegenstandsbereich, sondern durch ihre Funktion definiert wird. Diese Fassung des Theologiebegriffs hat Schleiermacher selbst folgendermaßen begründet: Schon in der Schelling-Rezension von 1804 lehnt er eine Zuordnung der Theologie zu den realen Wissenschaften ab, weil sie einerseits gar keinen eigenen 1 Vgl. oben S. 66f, 96f, 113ff.
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V.
Schlußbetrachtungen
Gegenstand für sich beanspruchen könne, sondern diesen mit jenen teile, sich andererseits aber durch die Art der Bearbeitung dieses identischen Gegenstandes von den realen Wissenschaften deutlich unterscheide.2 Daraus leitet Schleiermacher die Aufgabe ab, diese faktisch bestehende „Verschiedenheit der Behandlung"3 wissenschaftstheoretisch zu begründen. Seine eigene Grundlegung der Theologie als auf die Kirche bezogene positive Wissenschaft kann dann als Einlösung dieser Forderung angesehen werden. Dabei ergibt sich die Positivität der Theologie aus zwei Voraussetzungen, die Schleiermacher selbst als Prämissen seines Theologieverständnisses geltend gemacht hat: Ließe sich die Theologie als reine Wissenschaft aus dem Begriff des Wissens ableiten, dann „müßte entweder die Beziehung der theologischen Wissenschaft auf die christliche Kirche aufhören, oder man müßte die christliche Kirche construiren können aus der Idee des Wissens."4 Der geschichtlich bestehende und also nur empirisch konstatierbare Bezug der Theologie zur Kirche einerseits und die auf der erkenntnistheoretisch begründeten Divergenz von Spekulation und Empirie beruhende Nichtkonstruierbarkeit des Christentums als historische Tatsache andererseits sind also die beiden Gründe dafür, daß die Theologie nur als positive Wissenschaft aufgefaßt werden kann: „Die christliche Kirche ist eine Thatsache, und keiner kann eine Thatsache construiren; aber es kann auch keiner behaupten daß die theologische Wissenschaft nicht in Beziehung auf die christliche Kirche stehe."5 Der Ertrag dieser Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft6, die also ihrerseits auf Gründe zurückgeführt werden kann, 2 3 4 5 6
Vgl. Briefe IV, 584,25-31. Briefe IV, 584,35 PrTh 7,5-8 PrTh 7,9-13 Die Neufassung des Theologiebegriffs hat F. Wagner als einen durch Schleiermacher initiierten „Paradigmenwechsel" beschrieben und dabei die „Verschränkung von Positivität, Funktionalität und Positionalität der Theologie" (F. Wagner Funktionalität der Theologie und Positivität der Frömmigkeit, in: G . Meckenstock/J. Ringleben (Hgg.): Schleiermacher, 291-309, 294) bei Schleiermacher überzeugend herausgestellt. Die Funktionalität der Theologie bleibt in Wagners Deutung allerdings unterbestimmt, wenn er die Theologie durch den „Rekurs auf den allgemeinen Begriff der Frömmigkeit [...] den Umkreis ihrer positiv-funktionalen Aufgabenstellung überschreiten" (a.a.O., 299) sieht. Denn auch die Bestimmung des Religionsbegriffs innerhalb der Philosophischen Theologie ist bei Schleiermacher ausschließlich funktional begründet: Das Aufsuchen des für die frommen Gemeinschaften wesentlichen ethischen Prinzips ist für die Kirchenleitung deswegen von Interesse, weil sonst weder der Wesensbegriff spekulativ verankert noch die fromme Gemeinschaft selbst ethisch legitimiert werden kann. Durch diese Anknüpfung an philosophische
1. Die Funktionalität der Theologie
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läßt sich nun in dreifacher Weise als Begründung und Wahrung der Einheitlichkeit der Theologie beschreiben: Zum einen kann die theologiegeschichtliche Bedeutung des Schleiermacherschen Theologiebegriffs darin gesehen werden, daß hier die spezifisch neuzeitliche Gestalt der Theologie eine angemessene theoretische Begründung und Beschreibung erfährt. Denn der neuzeitliche Themen- und Problemzuwachs der Theologie führt zu einer formalen und inhaltlichen Differenzierung in unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche und Fragestellungen. Die funktionale Definition der Theologie ermöglicht es nun, deren differenzierter und heterogener Gestalt eine einheitstiftende Begründung zu geben.7 Denn die Theologie ist als positive Wissenschaft durch eine spezifische Aufgabe konstituiert, zu deren Lösung sie auf unterschiedliche Wissenschaftszweige zurückgreifen muß. Die Pluralität der theologischen Disziplinen wird damit auf einen einheitlichen, und zwar funktionalen Begriff gebracht. Darüber hinaus wird dieser Grund für die Einheit der Theologie nicht sekundär und äußerlich an sie herangetragen, sondern läßt sich aus ihrem Wesen, und d. h. aus ihrer Aufgabe begreifen: Die Funktion der Theologie für die Kirchenleitung im oben (II.2) erläuterten Sinn ist zugleich ihr Einheitsgrund wie ihr zentrales Charakteristikum. 8 Zum anderen liegt der Wert eines funktionalen Theologiebegriffs darin, daß auch im Rahmen einer enzyklopädischen Bestimmung ihrer Disziplinen die Einheitlichkeit der Theologie gewahrt werden kann. Denn eine funktionale Definition der Theologie ermöglicht es, alle theologischen Disziplinen als theologische zu erfassen und zu beschreiben: Jede hat im gleichen Maße Anteil an der die Theologie insgesamt konstituierenden Aufgabe. Dagegen steht eine thematische Definition der Theologie vor der Schwierigkeit, daß sie faktisch die Theologizität immer nur einer einzigen theologischen Disziplin begründet. 9 Prinzipien geht die Theologie also keineswegs „über ihre positiv-funktionale oder pragmatische Nötigung hinaus" (ebd.), sondern steht im Dienst der Kirchenleitung. 7 „Es macht die Eigenart und den Rang von Schleiermachers enzyklopädischem Entwurf aus, daß er auf diese Weise das zu erfassen und zu erläutern vermag, was das eigentliche Charakteristikum der Theologie in ihrer neuzeitlichen Entwicklung darstellt, nämlich ihre methodische und thematische Auffächerung, samt den damit gegebenen methodischen und thematischen Beziehungen zu außertheologischen Disziplinen." (Birkner: Reformprogramm, 67) 8 „Schleiermachers funktionale Definition läßt diese Auffächerung der Theologie und die damit gesetzten Beziehungsverhältnisse als in ihrer spezifischen Aufgabe begründet verstehen." (ebd.) 9 Als ein in dieser Hinsicht repräsentatives Beispiel kann die thematische Fassung des Theologiebegriffs bei W. Pannenberg gelten: hier läßt sich eine enzyklopädische
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V. Schlußbetrachtungen
Eine dritte und grundsätzliche Bedeutung des funktionalen Theologiebegriffs ist schließlich darin zu sehen, daß die doppelte Konstitutionsweise der Theologie, die sich aus ihrer Bestimmung als positive Wissenschaft ergibt, nicht zu ihrer Aufspaltung führt, sondern ihre Einheit uneingeschränkt zur Geltung bringt. Denn als positive Wissenschaft gründet sich die Theologie nach Schleiermachers Verständnis zugleich auf wissenschaftliche Prinzipien wie die Beteiligung an der kirchlichen Praxis. Diese doppelte Konstitutionsweise führt jedoch nicht zu einer Zweiteilung der Theologie nach Methoden oder Gegenständen, sondern wird ins theologische Subjekt verlagert: „religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" in der Person des Theologen und Klerikers bilden die beiden unverzichtbaren Motive und Voraussetzungen der Theologie. 10 Diese Verlagerung ermöglicht es, die beiden gegenläufigen Grundbestimmungen der theologischen Wissenschaft aufrechtzuerhalten, ohne daß die Einheit der Theologie gefährdet würde: An ihrer grundsätzlichen Bezogenheit auf die Kirche einerseits und der Übernahme wissenschaftlicher Standards andererseits kann so festgehalten werden, daß weder die eine auf Kosten der anderen zur Geltung gebracht noch eine Aufspaltung der Theologie insgesamt in Kauf genommen werden muß.
Unterscheidung zwischen Theologie und Dogmatik nicht mehr sinnvoll aufrechterhalten. Denn die Theologie wird bestimmt als „Wissenschaft von Gott" (Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 299; vgl. ders.: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 15). In gleicher Weise hat aber auch die Dogmatik Gott zum genuinen Gegenstand und ist im eigentlichen Sinne Gotteslehre: „Dogmatik als Darstellung der christlichen Lehre muß also systematische Theologie sein, nämlich systematische Lehre von Gott und sonst nichts" (a.a.O., 70). Entsprechend will Pannenberg den Titel seiner Dogmatik „buchstäblich" verstanden wissen: Dogmatik wird als „Entfaltung des christlichen Gottesgedankens" aufgefaßt (a.a.O., 7); sie ist „in allen ihren Teilen Gotteslehre" (a.a.O., 483). Kann aber damit kein wirklicher Unterschied mehr zwischen Theologie und Dogmatik formuliert werden, dann ist die Dogmatik die einzige wahrhaft „theologische" Disziplin; sie verwaltet die Theologizität auch der übrigen Disziplinen: „Bei der Arbeit der Dogmatik geht es um den spezifisch theologischen Charakter auch der übrigen theologischen Disziplinen. Diese sind »theologisch« genau in dem Maße, in welchem sie teilhaben an der dogmatischen Aufgabe der Theologie" (a.a.O., 18). Der enzyklopädische Anspruch, in gleicher Weise den theologischen Charakter aller theologischen Disziplinen zu gewährleisten, ist hier aufgegeben worden. Eine ähnliche Verbindung zwischen einem thematischen Theologiebegriff und der Vorrangstellung der Dogmatik bzw. systematischen Theologie als theologischer Disziplin läßt sich im Dogmatikprogramm K. Barths und E. Hirschs aufweisen, vgl. A. v. Scheliha: Emanuel Hirsch als Dogmatiker. Zum Programm der „Christlichen Rechenschaft" im „Leitfaden zur christlichen Lehre", TBT 53, Berlin/New York 1991, 447-450. 10 Vgl. oben II.2.b).
1. Die Funktionalität der Theologie
207
Zur Erläuterung und Illustration dieses Sachverhalts sollen im folgenden einige ausgewählte Positionen der Theologischen Enzyklopädie im 19. Jahrhundert herangezogen werden 11 , die als Beispiele dafür dienen sollen, daß das Verhältnis von Kirchlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Einheitlichkeit der Theologie nicht in jedem Falle in ein Gleichgewicht gebracht wird: Entweder droht die Indienstnahme der Theologie durch die Kirche zu Lasten ihrer Wissenschaftlichkeit zu gehen, oder die Zugehörigkeit der Theologie zur Wissenschaft läßt ihre Beziehung zur Kirche als bloß äußerliche erscheinen. Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, auf einen einheitlichen Theologiebegriff überhaupt zu verzichten. (1) In der konfessionellen Theologie 12 erhält der Theologiebegriff seine Bestimmungen in erster Linie aus der Bezogenheit der Theologie auf die Kirche und die Gemeinde.13 Dieser fundamentale Kirchenbezug der Theologie ist in der Enzyklopädie von G. C. A. Harleß darin begründet, daß sie als auf die Religion bezogene Wissenschaft einen „Erfahrungsgegenstand" 14 zum Inhalt hat, an dem sie selber partizipiert: Die ihr zugrundeliegende Erfahrung ist der „Glaube" 15 ; die Theologie ist daher die „wissenschaftliche Erkenntniß des Glaubens nach seinem Grund und Wesen; sie geht vom Glauben aus und führt zu ihm zurück" 1 6 . Der christliche Glaube aber existiert nicht zufällig, sondern mit einer „innern Notwendigkeit" 1 7 nur als kirch11 Eine ausführliche oder gar vollständige Darstellung der Geschichte der Theologischen Enzyklopädie kann und muß hier nicht in Betracht kommen; eine solche hätte zweierlei zu berücksichtigen: Sie wäre zum einen in weiten Teilen eine Darstellung der Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen „Kurzen Darstellung" (vgl. dazu in Ansätzen A. Eckert: Einführung in die Prinzipien und Methoden der evangelischen Theologie, Leipzig 1909, 23-51); zum anderen ergäbe sie - schon der Fülle des Materials wegen (vgl. Dierse: Enzyklopädie, 194-207) - ein umfassendes Bild der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts (vgl. auch Hummel: Enzyklopädie, 732-736). 12 Vgl. G . C. A. Harleß: Theologische Encyclopädie und Methodologie vom Standpunkte der protestantischen Kirche. Grundriß für akademische Vorlesungen, Nürnberg 1837; J . C . K , von Hofmann: Encyclopädie der Theologie, nach Vorlesungen und Manuscripten hg.v. H . J . Bestmann, Nördlingen 1879. 13 Vgl. Harleß: Encyclopädie, 25: Die „wahre christliche Theologie muß von der Basis eines christlich kirchlichen Gemeinglaubens ausgehen, denselben nach seinem Grund und Wesen zu erkennen suchen und zu ihm zurückführen." (i. O . gesperrt) 14 A.a.O., 24 15 A.a.O., 25 16 Ebd. 17 Ebd. Diese Notwendigkeit wird von Harleß nicht religionstheoretisch, sondern dogmatisch-theologisch begründet: Weil das „Ziel der Offenbarung nur den Anfang seiner Verwirklichung in der Erscheinung der Kirche findet" (ebd.).
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V. Schlußbetrachtungen
liehe Gemeinschaft, die damit als oberste Voraussetzung der Theologie fungiert.18 Wird das Eingebundensein der solcherart auf die Subjektivität des Glaubens verpflichteten Theologie in den Zusammenhang der Wissenschaft bei Harleß noch dadurch aufrechtzuerhalten versucht, daß die Theologische Enzyklopädie in den Rahmen einer allgemeinen enzyklopädischen Erkenntnis gestellt wird 19 , so ist in der Grundlegung der Theologie bei J . C . K , v. Hofmann eine deutlichere Abgrenzung der Theologie gegenüber einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff festzustellen20: Für die Eigenständigkeit und Einheitlichkeit einer Wissenschaft wird hier das Kriterium aufgestellt, „ob es ein selbstständiger Gedanke ist, der sich in der Herstellung einer Wissenschaft vollbringt" 21 . Nicht die Geschlossenheit ihres Gegenstandsbereiches verbürgt also die Identität einer Wissenschaft, sondern ihre innere Stringenz als „Durchführung eines einheitlichen und selbstständigen Gedankens" 22 . Diesem Kriterium genügt nun die Theologie insofern, als sie ihren „natürliche[n] Grund" in der „Selbsterkenntniß des Christen" 23 hat: Diese stellt den einheitlichen Gedanken dar, der der Theologie überhaupt zugrundeliegt und der Begründung der Naturwissenschaft durch die auf die Natur gerichtete Erkenntnis entspricht.24 Die Beziehung der Theologie zur Kirche ist damit folgendermaßen bestimmt: Einerseits ist die Theologie äußerlich unabhängig von der kirchlichen Autorität und unmittelbaren 18 Vgl. die Deutung der Harleß'schen Konzeption bei Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 255. 19 Vgl. Harleß: Encyclopädie, Iff: Die enzyklopädische Erkenntnis hat den „Organismus der Erkenntnis" (a.a.O., 2) insgesamt zu ihrem Gegenstand und umfaßt die Enzyklopädie der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa der Theologie, die damit als „Theil der wissenschaftlichen Gesammterkenntniß" (a.a.O., 6) in diesen Organismus integriert ist. 20 Vgl. M. Schellbach: Theologie und Philosophie bei v. Hofmann, BFChTh 38/2, Gütersloh 1935, 133ff („Die Selbständigkeit der Theologie"); E. Hübner. Schrift und Theologie. Eine Untersuchung zur Theologie Joh. Chr. K. von Hofmanns, FGLP X,8, München 1956, 70-74. 21 Hofmann: Encyclopädie, 18 22 A.a.O., 19 23 A.a.O., 20 24 Vgl. ebd. Daher lehnt Hofmann den Begriff der positiven Wissenschaft, der entweder deren Beziehung auf ein geschichtlich Gegebenes oder deren praktische Zweckbezogenheit zum Ausdruck bringe, für die Begründung der Theologie als „irrig" ab (a.a.O., 19): Beide Aspekte betreffen nicht den „wesentlichen Grund[e] einer Wissenschaft", der sie mit „innerer Nothwendigkeit" aus dem „menschlichen Erkenntnißtriebe[s]" hervorgehen läßt, sondern beschreiben bloß ein „äußerefs] Bedürfniß" (ebd.), das eine selbständige Wissenschaft noch nicht begründen kann.
1. Die Funktionalität der Theologie
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kirchlichen Bedürfnissen 25 ; andererseits besteht aber eine innere Gebundenheit des Theologen, die aus seiner eigenen Wahrheitsüberzeugung resultiert. 26 Gemäß ihrer Grundbestimmung als „wissenschaftliche Selbsterkenntniß des Christen" 2 7 erfolgt dann auch die Gliederung der Theologie 2 8 : In ihrem grundsätzlich introspektiven Verfahren ist sie eine „systematische Wissenschaft" 29 mit dem Ziel, „ein System der [...] Erkenntniß des Christenthums herzustellen" 30 . Die grundlegende Disziplin ist daher die Systematische Theologie. Die geschichtliche Stellung des Theologen als „Glied der kirchlichen Gemeinschaft" 31 macht es aber erforderlich, daß neben dieser ursprünglichen Selbsterkenntnis auch die geschichtliche Entwicklung des Christentums zum Gegenstand theologischer Erkenntnis wird. Daher richtet sich die wissenschaftliche Tätigkeit des Theologen auch „auf diese geschichtlichen Gegenstände, auf die Kirche in ihrer Entwicklung und Jeweiligkeit und auf die heilige Schrift" 3 2 , so daß daraus die Historische Theologie als zweite Disziplin abgeleitet werden kann, die sich näherhin in „Schriftwissenschaft" und „Wissenschaft der Kirche" 3 3 unterteilt. Die Historische Theologie dient also der Systematischen als Korrektiv, damit diese, ausschließlich auf das christliche Bewußtsein des Theologen gerichtet, nicht dem Subjektivismus verfällt. 34 Alle drei theologischen (Sub-)Disziplinen 35 stehen aber in deutlicher Distanz zu den ihnen thematisch jeweils entsprechenden Profanwissenschaften: So stimmen Theologie und Philosophie zwar darin überein, daß sie beide eine Form wissenschaftlicher Selbsterkenntnis sind. Aber dem Philosophen 25 Vgl. a.a.O. 21. 26 Vgl. a.a.O., 21f: „Wir setzen voraus, daß die Wahrheit der kirchlichen Wirklichkeit in ihm lebendig sey. Daraus ergiebt sich eine im Wesen des Christenthums wurzelnde Gebundenheit des Theologen, die aber eine innere ist und keine äußere." 27 A.a.O., 20 28 Vgl. Schellbach: v. Hofmann, 158ff; Hübner: Schrift und Theologie, 50ff. 29 A.a.O., 20 30 A.a.O., 23 31 Ebd. 32 Ebd. 33 A.a.O., l l f ; vgl. 23f. 26. 34 Vgl. a.a.O., 33: „Die systematische Theologie hat ihre Berechtigung vermöge dessen, daß das Christenthum eine persönliche Sache ist; aber es ist eben sowohl gemeindliche Sache und darum muß ihr die historische Theologie zur Seite treten; wo nicht, so wird das Christenthum aus seiner persönlichen Sache zu einer subjectivistischen." 35 Daneben wird als dritte Disziplin - wiederum aus dem „Verhältniß der Theologie zum kirchlichen Gemeinwesen" (a.a.O., 35) - die Praktische Theologie abgeleitet (vgl. a.a.O., 33-36. 311-318), so daß sich in Hofmanns Enzyklopädie insgesamt eine der Schleiermacherschen nachempfundene Dreiteilung ergibt.
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V.
Schlußbetrachtungen
„bleibt sein Gegenstand schließlich ein Räthsel", weil er die Wirklichkeit des Menschen, „da er nun einmal mit Sünde und Tod behaftet ist", nur „unklar und zweideutig"36 bestimmen kann. Dagegen liegt für den Theologen, der „die in Christo Jesu verwirklichte Gemeinschaft Gottes und der Menschen" voraussetzt, „die Lösung jenes Räthsels schon vor" 3 7 . Deswegen kann und muß sich die Theologie von der Philosophie abgrenzen: „Sie ist selbstständige und unabhängige Erkenntniß eines ihr allein eignenden Gegenstandes" 38 . Ebenso unterscheidet sich die Kirchengeschichte von der Profanhistorie dadurch, daß sie die Geschichte ganz „unter den Gesichtspunct des Lebens der Wiedergeburt" 39 stellt. Daher sind beide nach Gegenstand und Betrachtungsweise deutlich verschieden.40 Die Eigen- und Selbständigkeit der Theologie wird also in emphatischer Weise so zur Geltung gebracht, daß damit faktisch kein innerer Zusammenhang mehr zu den übrigen Wissenschaften besteht: Ein gemeinsamer, übergreifender Wissenschaftsbegriff kann nicht mehr aufgestellt werden. (2) Die unter dem Einfluß der spekulativen Theologie stehende Theologische Enzyklopädie41 entwickelt dagegen den Theologiebegriff aus seinem konstitutiven Bezug zur Wissenschaft überhaupt.42 Dem entspricht bei Rosenkranz eine Integration der theologischen in die philosophische Enzyklopädie innerhalb „der Philosophie des absoluten Geistes" 43 . Die Theologie wird hier verstanden als „die Wissenschaft der Religion" 44 , aber nicht nur in dem Sinne, daß sie die Religion zu ihrem Gegenstand hätte; vielmehr sind beide dem Inhalte nach identisch, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Form: In der Theologie erhebt sich die Religion zur Wissenschaft und tritt den ,,strenge[n] Beweis ihrer Wahrheit" 45 an. Ermöglicht wird diese 36 37 38 39 40
41 42 43 44 45
A.a.O., 21 Ebd. Ebd. A.a.O., 24 Vgl. ebd.: „Es ist eine ganz andere Geschichte, mit der es der Theolog als mit der es der Historiker zu thun hat." In gleicher Weise richtet sich die Schriftwissenschaft „in Wahrheit auf einen anderen Gegenstand [...] als wenn der Philologe dasselbe Schriftthum in den Bereich der seinigen aufnimmt" (a.a.O., 25). Vgl. Rosenkranz: Encyklopädie, Halle 1831. Vgl. a.a.O., X V : »Die Theologie ist daher in dem Inbegriff aller Wissenschaften nothwendig miteinbegriffen." A.a.O., X X I I ; vgl. auch Dierse: Enzyklopädie, 199. A.a.O., V I I I A.a.O., X I I (Hervorhebung i. O.)
1. Die Funktionalität der Theologie
211
Verhältnisbestimmung dadurch, daß auch die Religion als ein Wissen bestimmt wird46, das sich allerdings nicht der Form des Gedankens, sondern der Empfindung und der Vorstellungen bedient und daher nur eine unmittelbare Gewißheit erreichen kann.47 Die Theologie dagegen vollzieht sich in der Gestalt des „Gedankens, als des eigensten Wesens der Sache"48 und gewinnt gerade dadurch eine Ubereinstimmung der gedanklichen Form mit ihrem Inhalt.49 Theologie ist damit die absolute Gewißheit ermöglichende wissenschaftliche Form der Religion, die daher zu der „absoluten Wissenschaft"50 der Philosophie nicht in einem Verhältnis der Uber- oder Unterordnung stehen kann, sondern ihr „coordinivi" ist.51 Dabei geht ihre Parallelität so weit, daß sie im Begriff der Wissenschaft identisch sind52: „Die Namen, Philosophie, Theologie, werden gleichgültig"53. Implikat dieser spekulativen Grundlegung der Theologie ist dann, daß ihre Beziehung zur Kirche kein Bestandteil des Theologiebegriffs selbst ist: Sie besteht allein durch die Praktische Theologie, die - neben der „speculativefn]" und der „historische[n] Theologie"54 - als eigenständige Disziplin dadurch abgeleitet wird, daß „die Religion in ihrer Erscheinung und concreten Existenz nur als Kirche besteht"55 und deswegen auch in 46 Vgl. ebd.: „der Glaube schließt nicht das Wissen, das Wissen schließt nicht den Glauben von sich aus, weil der Glaube an sich Wissen ist." 47 Vgl. a.a.O., VIII-X. 48 A.a.O., VIII (Hervorhebung i.O.) 49 Vgl. a.a.O., IX: „In der wissenschaftlichen Darstellung muß daher die Sache und deren Form eben so identisch sein, wie diese Identität an sich da ist." (Hervorhebung
i.O.)
50 A.a.O., XII 51 A.a.O., XIV (Hervorhebung i.O.) 52 Vgl. ebd.: „Denn da die absolute Wahrheit als die absolute Gewißheit von sich selbst der Begriff der Wissenschaft ist, so muß in diesem Begriff die Philosophie mit der Theologie, die Theologie mit der Philosophie identisch sein." 53 Ebd.; Hervorhebung i. O. Allerdings wird in der zweiten Auflage unter Aufnahme des Begriffs der positiven Wissenschaft (vgl. Rosenkranz: Encyklopädie, Halle 2 1845, 1) die Theologie auf die geschichtliche Religion des Christentums bezogen. Damit entfällt zwar zunächst die in der Erstauflage emphatisch betonte Identität von Theologie und Philosophie: die Theologie ist „nur eine gemischte, keine absolute Wissenschaft" mehr (a.a.O., 2; Hervorhebung i. O.). Die daraus entstehende Divergenz von Wissenschaftlichkeit und Geschichtlichkeit, der „Gegensatz des Rationalen und Historischen" (a.a.O., 3), ist aber in der christlichen Religion und Theologie dadurch vermittelt, daß in ihr „die geschichtliche Form der Offenbarung selbst vernünftig" ist (ebd.). Der Gegensatz zwischen Geschichte und Spekulation ist also im Christentum aufgehoben: Es ist diejenige „Religion, welche allein dem Begriff der Vernunft entspricht" (ebd.). 54 Rosenkranz: Encyklopädie, Halle 1831, X X X I V 55 A.a.O., 329
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V. Schlußbetrachtungen
dieser „Particularität" 56 auf den Begriff gebracht werden muß. Nicht die Theologie insgesamt ist also auf die Kirche bezogen, sondern lediglich eine ihrer Disziplinen. Denn nur die Praktische Theologie ist kirchlich-konfessionell gebunden; sie empfängt „ihre ächte Bestimmtheit [...] erst durch die Beziehung auf eine besondere Gestaltung der Kirche" 57 . Eine spekulative Begründung der Theologie aus dem Begriff der Wissenschaft verhindert also eine hinreichende Bestimmung ihres - funktionalen oder inhaltlichen - Gebundenseins an die Kirche. (3) Lag die Gemeinsamkeit der beiden bisher skizzierten Grundlegungen der Theologie darin, daß - bei gegensätzlicher Akzentuierung - ein einheitlicher Theologiebegriff gewahrt wurde, so besteht eine dritte exemplarische Position darin, auf diesen einheitlichen Theologiebegriff zu verzichten und damit gleichermaßen den wissenschaftlichen Charakter wie den kirchlichen Bezug der Theologie aufrechtzuerhalten. Diese Intention führt bei C. A. Bernoulli zur Unterscheidung einer „wissenschaftlichen" und einer „kirchlichen" Methode innerhalb der Theologie 58 , die eine Aufspaltung des Theologiebegriffs bedeutet 59 : Das Zerfallen der Theologie in zwei heterogene Teile wird als die ihrem Grundproblem angemessene Gestalt betrachtet, während ihre vermeintliche Einheit weder als bestehend noch als erstrebenswert angesehen wird. 60 Denn beide Bestandteile der Theologie stehen sich unabhängig voneinander in völliger Eigenständigkeit gegenüber: Als Wissenschaft ist Theologie die „realistische Geschichtsschreibung der Religion", die das „Christentum und seine Vorgeschichte"61 zum Gegenstand hat. Sie wird damit ausschließlich als historische Disziplin verstanden, die sich „vollständig freigemacht [hat] von jeder kirchlichen Verpflichtung." 62 Als „kirchliches Organ" ist die Theologie dagegen in erster Linie „Nutzanwendung" 63 . Sie setzt die Geltung bestimmter 56 Ebd. 57 A.a.O., 330; Hervorhebung i.O. 58 Vgl. C. A. Bernoulli: Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode in der Theologie. Ein encyklopädischer Versuch, Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1897. 59 Vgl. a.a.O., X: Was »zur Stunde theologische Wissenschaft heißt, besteht bei genauer Prüfung aus zwei Halbheiten, die sich keineswegs ergänzen, weil sie durchaus disparater Natur sind." 60 Vgl. a.a.O., XI: „Ueberläßt man dagegen die heutige Theologie der auseinanderstrebenden Natur ihres doppelten Triebes, so wird sie sich auswachsen, auf die Wissenschaft hin, als historische Religionstheorie und, auf die Kirche hin, als pastorale Religionspraxis." 61 A.a.O., 106 62 A.a.O., 107 63 A.a.O., 219. Denn sie „forscht, nicht um zu wissen, sondern um zu wirken." (ebd.)
1. Die Funktionalität der Theologie
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dogmatischer „Grundwahrheiten" voraus und ist daher nur noch in eingeschränktem Sinne als Wissenschaft anzusehen.64 Diese kirchliche Theologie ist also von der wissenschaftlichen prinzipiell unterschieden: Sie steht mit dieser zwar in „grundsätzliche[r] Fühlung", um ihre eigenen Zwecke, die Förderung des christlichen Gemeindelebens, zu erreichen. 65 Eine Subsumtion beider „Theologien" 66 unter einen einheitlichen Begriff ist damit jedoch weder gegeben noch intendiert. Diese Tendenz einer Abkoppelung der „kirchlichen" von der „wissenschaftlichen" Theologie liegt auch der Enzyklopädie von A. Dorner zugrunde 67 : Auch hier wird der Theologiebegriff programmatisch ohne Beziehung auf die Kirche bestimmt 68 , weil diese ihre Wissenschaftlichkeit gefährde.69 Die damit rein wissenschaftlich zu begründende Theologie hat zu ihrem Gegenstand die christliche Religion70, also eine geschichtliche Größe, die - der Dornerschen Erkenntnislehre zufolge nur auf „combinirtem historisch-speculativen Wege" 71 vollständig erkannt werden kann.72 Daher teilt sich die „streng wissenschaftliche Theologie" 73 in die beiden sich wechselseitig ergänzenden Disziplinen Historische und Spekulative Theologie. 74 In dieser rein wissenschaftlichen Erkenntnis des Christentums liegt zwar immer auch eine 64 65 66 67 68
Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 220. Vgl. a.a.O., 221. Vgl. A. Dornen Grundriss der Encyklopädie der Theologie, Berlin 1901. Vgl. a.a.O., III: „Gewöhnlich will man in der Theologie die praktisch-kirchlichen und die wissenschaftlichen Rücksichten combiniren. Diese Combination halte ich für ausgeschlossen." 69 Vgl. a.a.O., 3: „Allein wenn die Theologie nur mit der Ansammlung des zur Kirchenleitung nöthigen Wissensstoffes es zu thun haben soll, dann kann man sie als Wissenschaft nicht gelten lassen." Vgl. auch a.a.O., 14f. 70 Vgl. a.a.O., 20: „Die Aufgabe der Theologie besteht also in der wissenschaftlichen Erkenntniss der christlichen Religion auf historischem und speculativem Wege [...]." 71 Dornen Grundriss, 120 72 Zur notwendigen Verbindung von geschichtlich-induktivem und spekulativ-deduktivem Erkennen in Dorners Erkenntnistheorie vgl. E. Herms: Erfahrung und Metaphysik. Eine Erinnerung an August Dorners spekulative Theologie und einige ihrer Grundprobleme, in: E. Herms/J. Ringleben (Hgg.): Vergessene Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Studien zur Theologiegeschichte, GTA 32, Göttingen 1984, 37-76. 73 A.a.O., VI 74 Dabei umfaßt die Historische Theologie „alle Formen der empirischen Erkenntnis des Christentums" und intendiert eine erschöpfende „Darstellung der christlichen Kultur", während die Spekulative Theologie als „Zentraldisziplin" die „Erfassung und [...] Bewahrheitung des »christlichen Princips«" zur Aufgabe hat (Herms: Erfahrung und Metaphysik, 45 (Hervorhebungen i.O.)).
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V. Schlußbetrachtungen
Funktion der Theologie für die Kirche 75 ; diese Zweckbezogenheit hat aber keinerlei konstituierende Bedeutung für die Theologie, die auch „abgesehen von ihrem etwaigen praktischen Nutzen, als Glied der Wissenschaft eigenen Werth" 76 hat. Zur vollständigen Gliederung der Theologie gehört schließlich auch bei Dorner als dritte Disziplin die Praktische Theologie. Sie liegt aber als bloß technische Disziplin nicht mehr innerhalb eines einheitlich wissenschaftlichen Theologiebegriffs, sondern wird - wie etwa die Politik der Jurisprudenz 77 - der streng wissenschaftlichen Theologie als Verwertungs- und Anwendungsdisziplin beigegeben. 78 Diese Tendenz einer Zweiteilung des Theologiebegriffs, die insbesondere im „theologischen Historismus" 7 9 zur Ausprägung gekommen ist 80 , wird dagegen in Schleiermachers Konzeption der Theologie dadurch vermieden, daß der Dualismus von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit nicht die Einheit der Theologie betrifft, sondern im theologischen Subjekt verortet wird: Indem „religiöses Interesse" und „wissenschaftlicher Geist" als die beiden - einander entgegengesetzten 75 Vgl. Dorner: Grundriss, 120: „Es kann also im rechtverstandenen Interesse der Kirchen nur sein, dass die wissenschaftliche Forschung möglichst unbefangen vollzogen wird." 76 Ebd. Auch E. Herms weist darauf hin, daß bei Dorner die Theologie „ausdrücklich nicht durch ein religiöses oder kirchlich-praktisches Interesse" begründet wird (Herms: Erfahrung und Metaphysik, 45). 77 Vgl. Dorner: Grundriss, 22. 78 Denn die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie ist mit ihrem historischen und spekulativen Teil „erschöpft und nur als technische Disziplin kann die praktische Theologie [...] angeschlossen werden." (A.a.O., 23) 79 Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 21 80 Auch bei E. Troeltsch findet sich trotz seiner Abgrenzung gegenüber Bernoulli (vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 2. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 222) das Bekenntnis, „der Verfasser dieser Zeilen [verfolge] das Ziel, die Theologie an eine selbständige und rein wissenschaftliche Religionsphilosophie anzugliedern" (a.a.O., 19). Auch hier kann daher die „Tendenz einer prinzipiellen Zweiteilung neuzeitlicher Theologie in allgemeine fundamentale Religionsphilosophie und spezielle praktische Theologie" festgestellt werden (G. Becken Die Funktion der Religionsphilosophie in Troeltschs Theorie des Christentums, in: H. Renz/F.W. Graf (Hgg.): Protestantismus und Neuzeit, Troeltsch-Studien Bd. 3, Gütersloh 1984, 240-256, 250): Die Dogmatik als Explikation des religiöskirchlichen Bewußtseins und deren Applikation auf das religiös-kirchliche Leben (vgl. Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 514) ist selbst „keine eigentliche Wissenschaft", sondern „ein Stück der praktischen Theologie [...], während Religionsphilosophie und Geschichte des Christentums einen rein wissenschaftlichen Charakter tragen" (a.a.O., 515). Dabei kann Troeltsch, weil er die Schleiermacher-Deutung H. Süskinds übernimmt (a.a.O., 202. 225; vgl. zu dazu oben S. 88ff, Anm. 89), die „Trennung der wissenschaftlich-historischen und der praktisch-vermittelnden Disziplinen" auf Schleiermacher zurückführen (a.a.O., 224).
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aber nicht ausschließenden - subjektiven Bedingungen der Theologie zur Geltung gebracht werden 8 1 , ist der wissenschaftliche Charakter der Theologie begründet, ohne daß ihrer konstitutiven Funktion für die Kirche widersprochen würde. Auf diese Weise läßt sich die Einheitlichkeit der Theologie deswegen uneingeschränkt festhalten, weil der Dualismus von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit kein Einteilungskriterium der Theologie darstellt, sondern ihre Ermöglichungsbedingung. Der funktionale Theologiebegriff erlaubt es also, zentrale und wesentliche Bestimmungen der Theologie aufrechtzuerhalten und als gegenläufig, aber nicht widersprüchlich zu integrieren. 82
2. Die Funktionalität der Philosophischen Theologie Dieser funktionale Theologiebegriff hat dann auch Auswirkungen auf die Schleiermachersche Konzeption der Fundamentaldisziplin „philosophische Theologie": Mit dieser Bezeichnung greift Schleiermacher auf eine schon vorhandene Begriffsbildung zurück 8 3 ; im Rahmen seines enzyklopädischen Entwurfs der Theologie handelt es sich jedoch um eine von ihm „völlig neu entworfene[n] Disziplin" 8 4 . A n der damit 81 Auffälligerweise ist auch bei Bernoulli die einzige Instanz, die eine Geschlossenheit der Theologie noch gewährleisten kann, das „Bewußtsein" des Theologen: „Auch habe ich nicht im Bewußtsein der Zerrissenheit geschrieben, sondern im Bewußtsein, wir Theologen seien im Grunde alle von einem Schlag. Das Gemeinsame, das die Kirchlichen und die Wissenschaftlichen unter uns verbindet, sehe ich in der Realität der Religion." (Bernoulli: Methode, 5) 82 Zusätzlich ist diese Fassung des Theologiebegriffs in der Lage, die traditionelle Bestimmung der Theologie als „praktische Wissenschaft" (vgl. Pannenberg: Wissenschaftstheorie, 230ff) aufzunehmen, die etwa in der altprotestantischen Orthodoxie zur Entwicklung der auf ein bestimmtes Ziel bezogenen „analytischen Methode" geführt hat (vgl. a.a.O., 234f): In beiden Fällen ist die Theologie formal durch ihre Zweckbezogenheit begründet. 83 Der Ausdruck findet sich etwa bereits bei Kant, der die „philosophische Theologie" im „Felde der Wissenschaften" der „biblischen Theologie" gegenüberstellt (I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage XV; Werke Bd. 6, 9,6f); vgl. auch die Aufnahme dieses Begriffspaars im „Streit der Fakultäten": „wenn der biblische Theolog aufhören wird sich der Vernunft zu seinem Behuf zu bedienen, so wird der philosophische auch aufhören zu Bestätigung seiner Sätze die Bibel zu gebrauchen" (Werke Bd. 7, 45,23-26). 84 Stalden Grundlinien, 61. Dieser Originalität und Neuartigkeit ist sich Schleiermacher bewußt gewesen, denn die folgende briefliche Mitteilung an J. Chr. Gaß läßt sich in Sonderheit auf sein Verständnis der Philosophischen Theologie beziehen: „Die theologische Encyklopädie ist nun endlich fertig geworden, und ich bin neugierig,
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V. Schlußbetrachtungen
gegebenen programmatischen Neuerung haben dann auch ihre beiden Subdisziplinen Anteil: „Apologetik" und „Polemik" hat Schleiermacher als theologische Disziplinen zwar bereits vorgefunden; sie erhalten jedoch innerhalb der Philosophischen Theologie eine charakteristische Neugestaltung, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß Schleiermacher beide Disziplinen zueinander in ein „Entsprechungsverhältnis" 85 setzt. Diese Neugestaltung soll abschließend auf dem Hintergrund einer jeweils kurz skizzierten Begriffsgeschichte der Fächerbezeichnungen „Apologetik" und „Polemik" betrachtet werden. 86 Der Begriff „Apologetik" begegnet in der engeren Bedeutung als Name für eine theologische Disziplin erst relativ spät. 87 Eine im allgemeineren Sinne apologetische Literatur geht zwar bis in die Anfänge der Geschichte des Christentums zurück 88 , als theologische Fächerbezeichnung erscheint der Ausdruck dagegen erst am Ende des 18. Jahrhunderts; offenbar zum ersten Mal erwähnt wird er in der „Einleitung in die Theologische Wissenschaften" von G.J. Planck: „Man hat [...] diesen Nahmen erst neuerlich, [...] für die Kenntniß und Wissenschaft derjenigen Beweise erfunden, durch welche die Göttlichkeit des Christenthums, oder das göttliche Ansehen und der göttliche Ursprung der christlichen Lehre gegen Einwürfe aller Art behauptet und gerettet werden kann." 89 Diese Disziplin bildet bei Planck bezeichnenderweise einen Teil der Exegetischen Theologie. Denn ihr kommt die Aufgabe zu, Angriffe abzuwehren, die sich gegen dasjenige Fundament richten, das nach altprotestantischer Lehre das ausschließliche Erkenntob sie eine neue Quelle von Verkezerungen werden wird. Mir sind die Sachen nun durch die vielfache Bearbeitung so familiär geworden, daß ich nichts darin finde, was Anlaß dazu geben könnte. Nur daß viele Gespenster darin seien, werden die Leute sagen, theologische Disciplinen, die es nie gegeben habe und nie geben werde" (Briefe Gaß, 87; 29.12.1810). 85 Albrecht: Theorie der Frömmigkeit, 216 86 Eine Würdigung und Beurteilung des Schleiermacherschen Programms der Philosophischen Theologie, die sie als „Fundamentaltheologie" (Birkner: Theologie und Philosophie, 27) zum gegenwärtigen Problembestand der theologischen Prinzipienlehre in Beziehung setzte, wäre dagegen das Thema einer eigenen Untersuchung. 87 Vgl. zur Begriffsgeschichte Ebeling: Fundamentaltheologie, 489ff. 88 Vgl. L. Lemme: Απ. „Apologetik, Apologie", in: RE 3 Bd. I, 679-698, 689ff. 89 Planck: Einleitung, Bd. 1, 271. Schleiermachers Beschreibung der „gewöhnliche[n] Erklärung von Apologetik" als Darlegung der „Beweißgründe für den göttlichen Ursprung des Christenthums" (ThEnz. 43,7-10) scheint auf diese Definition der Planckschen „Einleitung" anzuspielen, die er seinen ersten Hallenser Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie zugrundegelegt hat; vgl. Briefe Gaß, 2 (= Briefe Meisner, 21; 13.11.1804).
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nisprinzip der Theologie darstellt: die Heilige Schrift.90 An dieser Bestimmung der Apologetik als auf die Bibel bezogene beweisführende Disziplin ist in der Folgezeit festgehalten worden. 91 In Schleiermachers enzyklopädischem Programm erhält die Apologetik dagegen eine neue Aufgabe, nach welcher sie das Wesen des Christentums im Rückgang auf den Begriff der Religion zu bestimmen hat. Dabei ist allerdings festzuhalten, daß nach Schleiermachers eigenem Verständnis diese Neubestimmung keine andere, sondern die veränderte und angemessene Wahrnehmung derselben Aufgabe bedeutet: „Zu sagen nun, man wolle beweißen, daß das Christenthum sich zum religiösen Princip so und so verhalte, dieß hat denselben Inhalt, als zu sagen, Beweißgründe von dem göttlichen Ursprung desselben" (ThEnz. 43,12-15). Nach Schleiermachers Ansicht erfüllt also seine Fassung der Apologetik deren ursprüngliche Funktion, die allerdings nicht mehr in der Sprache des religiösen Bewußtseins, sondern auf der Ebene der theologischen Reflexion wahrgenommen wird. 92 Als Ausdruck dieser Kontinuität kann die Übernahme der Begriffe „Offenbarung, Wunder und Eingebung" 93 angesehen werden, die in der ursprünglichen Apologetik die Autorität der Bibel zu begründen hatten. 94 Der durch Schleiermacher vollzogene Wandel zeigt sich aber in der veränderten Funktion dieser Begriffe wie der Apologetik insgesamt: „Statt der Statuierung der Schriftautorität steht der kritische Aufweis des Wesens des Christentums am Anfang." 95 In der Konse90 Vgl. Ebeling: Fundamentaltheologie, 492. Der Abstand der Planckschen Argumentation zur orthodoxen Schriftlehre wird allerdings darin erkennbar, daß er das Beweispensum der Apologetik auf die Göttlichkeit nicht der biblischen Schriften, sondern der in ihnen enthaltenen Lehren bezieht (vgl. Birkner: Reformprogramm, 76f). 91 Vgl. P.J. Bruns: Entwurf einer Apologetik und Hermeneutik der Bibel, Helmstedt 1801. Bei J.F. Kleuker (Grundriß einer Encyklopädie der Theologie, 2 Bde., Hamburg 1800-1801) ist die Apologetik Bestandteil der „Fundamental-Theologie", also der Disziplin „des schriftlichen Erkenntnißgrundes" (a.a.O., Bd. 1, 5) und wird definiert als die „Wissenschaft des Beweises für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung der christlichen Religion, so wie der durch die Bibel beurkundeten göttlichen Offenbarung überhaupt" (a.a.O., Bd. 1, 196). 92 Diese „Grundunterscheidung" zwischen wissenschaftlicher Theologie und „individuell gelebter Religion bzw. Frömmigkeit" (Wagner: Funktionalität, 292) gilt f ü r Schleiermachers Theologiebegriff insgesamt; vgl. dazu ThEnz. 10,9-12: „ N u r dieß besorgt die Theologie, daß die Momente des christlichen SelbstBewußtseyns sich richtig in Gedanken ausdrücken, was aber f ü r den christlichen Glauben nicht wesentlich ist." 93 K D § 45; vgl. dazu oben S. 172ff. 94 Vgl. Ebeling: Fundamentaltheologie, 494; Birkner: Reformprogramm, 81 Anm. 15. 95 Ebeling: Fundamentaltheologie, 494.
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V.
Schlußbetrachtungen
quenz dieser Umformung liegt es dann, daß Schleiermacher die Apologetik aus der exegetischen Disziplin in die Philosophische Theologie überführt. 96 „Polemik" wurde in der altprotestantischen Orthodoxie diejenige Behandhingsweise der geoffenbarten Wahrheit der Heiligen Schrift genannt, die diese in der kontroverstheologischen Darstellung der Lehrgegensätze entwickelte.97 Bis ins 18. Jahrhundert erlebte diese Disziplin einen großen Aufschwung 98 , danach jedoch „erlahmte das polemi-
96 Schleiermachers „spezifischer Begriff von Apologetik" hat sich zwar „auf die Länge nicht durchgesetzt" (Ebeling: Fundamentaltheologie, 495); zur Wirkungsgeschichte des Schleiermacherschen Programms gehört aber die Verlagerung der (mit unterschiedlich nuancierter Aufgabenstellung betrauten) Apologetik aus der exegetischen in die systematische Theologie (oder eine entsprechende Grundlagendisziplin): So sind nach Κ. H. Sack Apologetik und Polemik „integrirende Theile der philosophisch-kritischen Theologie" (Κ. H. Sack: Christliche Apologetik. Versuch eines Handbuchs, Hamburg 2 1841, 28; vgl. auch ders.: Christliche Polemik, Hamburg 1838,1 (§ 1 Ls.)); bei K. R. Hagenbach bildet die Apologetik eine „Abzweigung [...] von der Dogmatik" oder Systematischen Theologie (Encyklopädie, 399 (§ 81). Eine Phase des Ubergangs markiert die Bestimmung der Apologetik in der Enzyklopädie C. F. Stäudlins: Hier wird die Apologetik zwar schon der Systematischen Theologie zugeordnet, hat aber noch die Aufgabe, „darzuthun, daß die Lehre Jesu in demselbigen Sinne wahr und göttlich sey, in welchem er selbst sie dafür ausgab" (C. F. Stäudlin: Lehrbuch der Encyklopädie, Methodologie und Geschichte der theologischen Wissenschaften, Hannover 1821, 172). Bei A. Pelt nimmt dann jedoch die Apologetik die Aufgabe einer „allgemeine[n] theologische[n] Principienlehre" wahr die „Wissenschaft von den letzten Grundlagen des Christenthums als Lehre und Leben" (A. Pelt: Theologische Encyclopädie als System, Hamburg/Gotha 1843, 402). R . Rothe schließlich gliedert die Apologetik seiner Grunddisziplin „speculative Theologie" ein: Sie ist „selbst nichts anders [...], als der Ansatz einer speculativen Theologie" (R. Rothe: Theologische Encyclopädie, aus seinem Nachlasse hg. v. H. Ruppelius, Wittenberg 1880, 33). 97 Vgl. etwa die Bestimmung bei J. F. König (Theologia positiva acroamatica, R o stock 1664): „Et haec quoad modum tractandi est vel exegetica, [...] vel didáctica [...] vel polemica, quae controversias theologicas tractat [...]." (zit. nach C . H. Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Teil I, Gütersloh 1964, 28) sowie die Titel der dogmatischen Lehrbücher J . A. Quenstedts (Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1685) und D. Hollaz' (Examen theologicum-acroamaticum universam theologiam thetico-polemicam complectens, Stargard 1707). Bei J . F. Buddeus (Isagoge, Bd. 2, 854) findet sich folgende charakteristische Definition, die die Polemik als die gegnerische Irrtümer bekämpfende Darstellungsform der aus der Schrift geschöpften Lehre bestimmt: „Per theologiam polemicam earn intelligimus theologiae partem, quae veritatem doctrinae, ex scriptura sacra haustae, in rebus praecipue ad salutem consequendam necessariis, contra insultus dissentientium rite defendere, & errores refutare docet, ut puritas istius doctrinae conseruetur, & ita aeternae hominum saluti consulatur". 98 Vgl. z . B . J . G . Walch: Einleitung in die polemische Gottesgelahrtheit, Jena 1752; F. S. Bock: Lehrbuch für die neueste Polemik, Halle 1782 sowie die übrigen bei P. Tschackert: Art. „Polemik", in: R E 3 Bd. X V , 508-513, 511 genannten Schriften.
2. Die Funktionalität der Philosophischen Theologie
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sehe Interesse" 99 : In G. J. Plancks „Einleitung" etwa zählt die Polemik nicht mehr zu den theologischen Wissenschaften. 100 Schleiermacher dagegen nimmt diese Disziplin so auf, daß sie zum ersten Mal eine enzyklopädisch gefestigte Begründung erhält 101 : Sie wird Bestandteil der Philosophischen Theologie und fungiert damit als negativer Aspekt einer Wesensbestimmung des Christentums. 102 Diese Neubegründung führt auch zu einer prinzipiellen Umkehrung ihrer „Richtung": Sie zielt nicht mehr nach außen, sondern bezieht sich auf innere Mißstände der jeweiligen Kirche und Kirchenpartei. 103 Zusammenfassend kann daher von Schleiermachers Aufnahme und Begründung der Disziplinen Apologetik und Polemik gesagt werden, daß sich in ihnen die veränderte Situation der Theologie abzeichnet, die durch eine historische Betrachtung des Christentums gekennzeichnet ist: Unter diesen Bedingungen können weder die apologetischen Bemühungen um die Autorität der Bibel als zureichende Begründung der Eigenständigkeit und geschichtlichen Bedeutung des Christentums gelten noch die polemische Kritik als angemessene Wahrnehmung des konfessionellen Problems erscheinen. Insofern läßt sich Schleiermachers Eingliederung von Apologetik und Polemik in die Philosophi-
99 Tschackert: Art. „Polemik", 511,42. Ein Bewußtsein des Abstands zur orthodoxen Hochschätzung der Polemik artikuliert sich bereits bei J. L. v. Mosheim: „Zu den Zeiten unserer Väter stand die Polemic in einem übertriebenen Ansehen. Mit der Zeit hat man eingesehen, daß ein Diener des Evangelii durch das gar zu starke Treiben der Polemic von wichtigern Dingen abgehalten würde." (J. L. v. Mosheim: Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen, in akademischen Vorlesungen vorgetragen, Helmstedt 2 1763, hg.v. D. Fleischer, Waltrop 1990, 168) 100 Vgl. Birkner: Reformprogramm, 77. Dagegen ist sie bei J. A. Nösselt noch - neben „Dogmatik" und „Moral" - als Teil der systematischen Theologie aufgeführt (Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Bd. 2, 478ff). 101 Vgl. Tschackert: Art. „Polemik", 511,57-59: Erst durch Schleiermacher ist die Polemik „von ihrer bisherigen Gestalt befreit und zu einer innerlich begründeten und stofflich abgegrenzten Zweigwissenschaft der Theologie erhoben" worden. Davor erschien die „polemische Litteratur" hingegen lediglich als „dogmatische Gelegenheitsschriftstellerei" (a.a.O., 510,38-40). Auch E. Farley hat darauf hingewiesen, daß die orthodoxe Polemik nicht als eigentlich zur Theologie gehörig, sondern als Anwendungsdisziplin angesehen wurde: „Theologia polemica is an applied theology, [...] rather than theology itself" (E. Farley: Theologia. The Fragmentation and Unity of Theological Education, Philadelphia 1983, 53). 102 Vgl. K D 1 19 § 1: „Die Principien der Polemik gehören zur philosophischen Theologie als ihre negative Seite". 103 Vgl. K D § 41. Diese Umwendung der polemischen Stoßrichtung wird in besonderem Maße betont von B. Gherardini: „l'innovazione schleiermacheriana che orienta la polemica all'interno di una communità, [...] ha del sensazionale" (Gherardini: L'enciclopedia, 96).
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V. Schlußbetrachtungen
sehe Theologie als Ausdruck der neuzeitlichen Umformung der durch diese Disziplinen bezeichneten Thematik verstehen. Dagegen hat sich Schleiermacher mit der Forderung, die Thematik der Philosophischen Theologie in einer gesonderten Disziplin zu behandeln, nicht durchgesetzt: Sie ist seitdem fast durchgängig in die Prolegomena zur Dogmatik integriert worden. Diese Forderung ist aber zum einen auf dem Hintergrund der von Schleiermacher vorausgesetzten Wissenschaftssystematik konsequent. Denn die Philosophische Theologie ist als „kritische" Disziplin organisatorisch von der „geschichtskundlichen" Wissenschaft der Historischen Theologie zu trennen: Die „sittliche Kritik der Geschichte sollte [...] immer außerhalb der Geschichtskunde sowol als außerhalb der Sittenlehre gehalten werden, weil sie als beigemischtes Element leicht beide verderben kann".104 Weil Philosophische und Historische Theologie in dem komplexen Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit105 stehen, ist es zur Wahrung dieses Zusammenhangs geboten, sie äußerlich gegeneinander abzusetzen. Diese Forderung trägt aber zum anderen auch der sachlichen Relevanz der Philosophischen Theologie selbst Rechnung: Sie ist die sämtliche „Prinzipien" (KD § 67) enthaltende Grundlagendisziplin, die sich aber deswegen nicht von der kirchlichen Praxis entfernt, sondern gerade in deren Nähe rückt: Wie einzelne Entscheidungen innerhalb des kirchlichen Handelns getroffen werden, ist immer auch von der jeweils zugrundeliegenden kategorialen Auffassung vom Wesen des Christentums abhängig. Die Philosophische Theologie bildet also einerseits als Prinzipientheorie mit höchstem Abstraktionsgrad die religionsphilosophische „Begründung" (ThEnz. 41,11) aller geschichtlicher Erkenntnisse innerhalb der Theologie. Andererseits ist sie eine die Praxis unmittelbar regulierende, „Norm" (ThEnz. 41,13) setzende Disziplin mit direkten Auswirkungen auf das kirchenleitende Handeln. Diese Doppelbestimmtheit besteht aber nicht nur faktisch, sondern ist von Schleiermacher durch die (dreifache) Betonung des Praxisbezugs der Philosophischen Theologie106 auch in das theoretische Programm dieser Disziplin mit aufgenommen worden.
104 Ethik 1816/17, E 549 (S 109 Zs.) 105 Vgl. oben S. 135ff. 106 Vgl. oben III.6.
Literaturverzeichnis Werke Schleiermachers werden nach den jeweils in Klammern angegebenen Kürzeln zitiert, die auch über das Verzeichnis der Sigla (vgl. oben S. IX ff) aufgeschlüsselt werden können. Dabei werden Vorlesungsmanuskripte und -nachschriften nach Möglichkeit mit der Angabe ihres (wahrscheinlichen) Entstehungsjahrs zitiert, damit ihre zeitliche Einordnung unmittelbar deutlich wird. Die Sekundärliteratur wird bei ihrer jeweils ersten Erwähnung im Text mit vollständiger bibliographischer Angabe, danach als Kurztitel zitiert. Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke sind abgekürzt nach: TRE. Abkürzungsverzeichnis, zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin/New York 1976.
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Namenregister Adriaanse, H. J. 13f, 109, l l l f Albrecht, Chr. 19f, 28, 146, 155, 166, 216 Alstedt, J. H. 7 Ammon, Chr. F. IX, 128 Andrieu, M. 63 Aristoteles 174 Arndt, A. IXf, 2, 10, 12, 34, 151 Ast, F. 34f Athenagoras 120 Barth, K. 15, 206 Barth, U. XI Bauer, J. XI Baum, M. 36 Baumgarten, A. G. 153 Baur, F. Chr. 92, 154, 170f Becker, G. 214 Bender, W. 92 Bernoulli, C. A. 89, 212, 215 Bestmann, H. J. 207 Birkner, H.-J. lf, 6, 10-13, 19f, 29, 34, 38, 43, 46, 48, 54, 61, 66, 73, 80, 104, 111, 116f, 128, 134, 144, 151, 162, 188, 190, 205, 216f, 219 Birnbaum, W. 15 Bock, F. S. 218 Bonneil, E. X Braniß, Chr. J. 174 Braun, O. Xf, 43 Bruns, P. J. 217 Buddeus, J. F. 8, 218 Clemen, C. 12, 62f, 116, 128 Cramer, Κ. 167 D'Alembert, J. 8
Delbrück, F. 109f Diderot, D. 8 Dierse, U. 7-9, 17, 45, 207, 210 Dilthey, W. IX, 14, 25, Pseudo-Dionysios Areopagita 186 Doerne, M. 54 Dohna, A. 11, 128 Dorner, A. 213f Dorner, I. A. 201 Du Cange, Ch. D. 63 Dunkmann, K. 53 Ebbrecht, G. lf, 49, 54, 63, 76f Ebeling, G. 7, 10, 56, 216-218 Eckert, A. 207 Eckert, M. 3 Farley, E. 219 Faure, Α. 63 Fichte, I. Η. 68 Fichte, J. G. 25, 68, 79 Flacius, M. 137, 193 Fleischer, D. 219 Frank, M. X, 37 Frerichs, J. XI, 63 Gaß, J. Chr. IX, lOf, 60, 68, 151, 215f Gaß, W. IX Gerdes, Η. X Gerhard, J. 181 Gerrish, Β. A. 63 Gherardini, B. 163, 186, 219 Goar, J. 63 Gräb, W. 19, 22, 30, 34, 49, 51, 55, 73, 82, 104, 146, 162 Graf, F. W. 214 Gründer, K. 29
234 Hagenbach, Κ. R. 5, 9, 218 Harleß, G. Chr. A. 207f Harms, C. 128 Heegewaldt, L. A. 72, 85 Hegel, G. W. F. 12, 128, 171 Heinrici, C. F. G. 7 Herms, E. 42f, 110, 213f Hirsch, E. X, 3, 63, 68, 132, 206 Hofmann, J. Chr. K. v. 207-209 Hollaz, D. 218 Holzhey, H. 35f Honecker, M. 63,186 Huber, E. 89 Hübner, E. 208f Hultberg, H. 11 Hummel, G. 7f, 17, 207 Jetter, W. 68 Johansen, K. F. 11 Jonas, F. 13 Jonas, L. IX-XI, 13f, 53, 59, 63, 105, 108-113, 141, 159 Jorgensen, Th. H. 11, 83f, 92f, 100, 160, 162, 173f Jüngel, E. 56, 146 Junker, M. 12, 84, 92, 154-156, 165-169, 171, 176, 201 Justin 120 Kant, I. 26, 46f, 153, 215 Kantzenbach, F. W. 13 Kern, W. 13 Kimmerle, Η. X Kleuker, J. F. 217 König, J. F. 218 Köpke, R. X Krug, W. T. 45, 48 Lachmann, K. 164 Lange, D. 12, 34,110, 167 Lehnerer, Th. IX, 19f, 26-28, 38, 40, 93, 100 Lemme, L. 216 Lessing, G. E. 164 Liebing, H. 128 Lommatzsch, S. 179 Lücke, F. XI, 150
Namenregister
Luther, M. 63, 193 Meckenstock, G. 13, 30, 133, 174, 177, 204 Meisner, Η. IX, 9-11, 128, 216 Mendelssohn, M. 164 Mosheim, J. L. v. 219 Mulert, H. 86, 98 Muncker, F. 165 Mursinna, S. 8 Niemeyer, Α. H. 68 Nöbling, J. A. Chr. 68 Nösselt, J. A. 8, 219 Nowak, K. 12, 133, 136f Odebrecht, R. IXf Offermann, D. 5, 80, 85, 87, 89, 92, 159, 162, 169f Ohst, M. 155f, 162, 176-178, 183, 188-190, 194 Pannenberg, W. 47, 61, 66, 205f, 208, 214f Peirce, Ch. S. 93 Peiter, H. IX Pelt, A. F. L. 218 Planck, G. J. 9, 216f, 219 Pöttner, M. 93 Preuss, E. 181 Pünjer, G. Chr. Β. XI, 127f, 151, 188
Quenstedt, J. A. 218 Ratschow, C.-H. 218 Rausch, H. 186 Redeker, M. IX Reimer, G. lOf Renz, H. 214 Reuter, H.-R. 100 Rieger, R. 27, 35, 37, 102 Riemer, M. 200 Ringleben, J. 13, 30, 133, 174, 177, 204, 213 Rosenkranz, Κ. 9, 63, 21 Of Rössler, Β. 35
235
Namenregister
Rössler, D. 56 Rothe, R. 218 Ruppelius, H. 218 Sachs, W. XI, 3, 12 Sack, Κ. H. 218 Scheliha, A. v. 206 Schellbach, M. 208f Schelling, F. W. J. 45f, 203 Schelling, Κ. F. Α. 45 Schlegel, F. 9 Schmidt, J. E. Chr. 9,14f Schmidt-Biggemann, W. 29 Schmöe, F. 11 Scholder, K. 128 Scholtz, G. 3, 21, 24f, 29f, 37, 42, 100, 162, 174 Scholz, Η. X, 1, 3, 10, 14, 16, 18, 20, 76f, 79, 82, 109, 111, 173, 181 Schott, E. 162 Schrofner, E. 60, 169 Schultz, W. 169 Schulze, J. 9, 11 Schulze, Th. XI Schwarz, F. H. Chr. 14f, 60, 109f, 157 Schwerin, E. v. 13 Selge, K.-V. X, 54
Stalder, R. 73, 84, 91f, 122, 162, 215 Stäudlin, C. F. 218 Steck, W. 53, 55, 60 Strauß, D. F. XI, 3, 5, 12, 14, 16, 76, 202 Süskind, H. 6, 31f, 87-90, 93, 96, 214 Thönes, C. XI Trauisen, H.-F. 13f, 128 Troeltsch, E. 89, 214 Tschackert, P. 218f Twesten, Α. X Virmond, W. X, 2, 10, 12, 34, 151 Wachler, L. 17 Wagner, F. 100, 204, 217 Walch, J. G. 218 Wallmann, J. 56 Wehrung, G. 92 Weniger, E. XI Werbeck, W. 56 Witzsche, E. 88 Wolf, F. A. 2, 34f Wolff, Chr. 153 Zwingli, U. 63