Sachsen und Böhmen: Perspektiven ihrer historischen Verflechtung [1 ed.] 9783428539635, 9783428139637

Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf eine dreitägige Konferenz, die unter dem Titel »Sächsisch-tschechische Beziehun

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Sachsen und Böhmen: Perspektiven ihrer historischen Verflechtung [1 ed.]
 9783428539635, 9783428139637

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CHEMNITZER EUROPASTUDIEN

Band 16

Sachsen und Böhmen Perspektiven ihrer historischen Verflechtung Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll Miloš Řezník Martin Munke

Duncker & Humblot · Berlin

Sachsen und Böhmen

Chemnitzer Europastudien

Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek Band 16

Sachsen und Böhmen Perspektiven ihrer historischen Verflechtung

Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll Miloš Řezník Martin Munke

Duncker & Humblot · Berlin

Die Drucklegung dieser Publikation wurde gefördert aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaftsinitiative Ziel 3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-13963-7 (Print) ISBN 978-3-428-53963-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83963-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Zur Erinnerung an Prof. Dr. Peter Jurczek (1949–2010), den Begründer und Promotor der Sächsisch-Tschechischen Hochschulinitiative und ihrer Vorgängereinrichtungen

Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine dreitägige Konferenz, die unter dem Titel „Sächsisch-tschechische Beziehungen im Wandel der Zeit – eine Bestandsaufnahme / Česko-Saské vztahy v proměnách doby – jejich inventura“ im Februar 2012 in Plauen veranstaltet wurde. Sie war die letzte jener fachlichen Tagungen des Ziel3 / Cíl3-Projektes „Sächsisch-Tschechische Hochschulinitiative (STHI)“ an der Technischen Universität Chemnitz, das in den Jahren 2009 bis 2012 die Kooperation zwischen Sachsen und Tschechien im Bereich der Forschung, der wissenschaftlichen Kommunikation, des Wissenstransfers und der universitären Bildung unterstützen und weiterentwickeln sollte. Inhaltlich wurde die Konferenz gemeinsam von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Prof.  Dr. Frank-Lothar Kroll) und von der Professur für Europäische Re­ gionalgeschichte (Prof. Dr. Miloš Řezník) ausgerichtet. Die hier vorgelegten Beiträge wollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, im Gesamtblick einen Teil der signifikanten Perspektiven und aktuellen Zugänge zur Erforschung der sächsischen-böhmischen Geschichte in den unterschiedlichen Phasen ihrer Rezeption vermitteln. Die Herausgeber danken zunächst und vor allem Frau Ilona Scherm und ihren Mitarbeitern von der STHI, die sich um Organisation und Durchführung der Tagung große Verdienste erworben haben. Ein besonderer Dank geht dabei an Martina Matern und Robert Slováček für ihre wie immer hervorragenden Leistungen in der Simultanübersetzung der Tagungsbeiträge sowie an Klaus Uhlich für die Bedienung der dafür nötigen Technik. Die Übersetzung der Beiträge für den Tagungsband leistete mit großer Sorgfalt Silke Gester. Hilfestellungen bei den redaktionellen Arbeiten bot Marian Bertz. Sowohl die diesem Band zugrunde liegende Tagung als auch die aus ihr hervorgegangene Publikation wurden durch eine Kofinanzierung im Rahmen der STHI realisiert. Chemnitz, im Mai 2013

Frank-Lothar Kroll Miloš Řezník Martin Munke

Inhaltsverzeichnis I. Einführende Bemerkungen Die Forschungslandschaft der sächsisch-böhmischen Geschichte (1989–2013) Von Miloš Řezník (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Sachsen und Böhmen im Mittelalter und in der Frühneuzeit Adlige Herrschaftspraxis in Sachsen und Böhmen in der Frühneuzeit Von Martina Schattkowsky (Dresden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kulturtransfer im böhmisch-sächsischen Grenzgebiet im Spätmittelalter und in  der Frühneuzeit. Aktuelle Forschungen zur „Sächsischen Renaissance“ in Böhmen Von Michaela Hrubá, Táňa Nejezchlebová und Michaela Ottová (Ústí nad Labem) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Sachsen und Böhmen im „langen“ 19. Jahrhundert Mobiler Alltag. Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19.  Jahrhundert Von Lutz Vogel (Dresden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Eine „merkwürdige Reisebeschreibung“ als Quelle der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte? Joachim Heinrich Campe in Sachsen und Böhmen Von Martin Munke (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Kulturelle Kontakte zwischen dem Prager Ständetheater und dem Dresdner Hof­theater um die Mitte des 19. Jahrhunderts Von Markéta Bartoš Tautrmanová (Teplice) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 IV. Sächsisch-böhmische Beziehungen im 20. Jahrhundert Die Sudetendeutsche Kunstausstellung Dresden 1938. Zur Wahrnehmung deutsch-böhmischer Kunst in Sachsen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Von Anna Habánová (Liberec) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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Inhaltsverzeichnis

Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum Von Rudolf Boch (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V. Die Lausitz zwischen Sachsen und Böhmen Die Oberlausitz – Zur Entwicklung einer historischen Landschaft im Mittelalter Von George Indruszewski (Roskilde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Tschechisch-sorbische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert Von Petr Kaleta (Prag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 VI. Praxisberichte Wege und Formen bilateraler Zusammenarbeit zwischen tschechischen und sächsischen Archiven Von Marie Ryantová (České Budějovice) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Historisch-didaktische Arbeit im tschechisch-sächsischen Grenzgebiet. Ein Blick auf ausgewählte Aktivitäten des Vereins „Antikomplex“ Von Ondřej Matějka (Prag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

I. Einführende Bemerkungen

Die Forschungslandschaft der sächsisch-böhmischen Geschichte (1989–2013) Von Miloš Řezník (Chemnitz) I. Die diesem Band zugrunde liegende Konferenz vom Februar 2012 in Plauen war die letzte in einer Reihe von fachlichen Tagungen, die in den Jahren 2009 bis 2013 von der „Sächsisch-Tschechischen Hochschulinitiative“ (STHI) an der Technischen Universität Chemnitz organisiert und durchgeführt worden war. Gefördert im Rahmen des Förderprogramms Ziel3 / Cíl3 der Europäi­ schen Union (EU), konnte die STHI an frühere Formen der grenzüberschreitenden Projektarbeit anknüpfen: das „Sächsisch-Tschechische Hochschulzen­ trum“ (STHZ, 2003–2006) und das „Sächsisch-Tschechische Hochschulkolleg“ (STHK, 2006–2008).1 Die Plauener Tagung war dabei die fünfte historiographische Veranstaltung im Rahmen dieser sächsisch-tschechischen Koopera­ tionsprogramme: 2004 diskutierten in Plauen Historiker und Juristen über „Vertreibung und Minderheitenschutz“,2 2005 beschäftigte sich eine Konferenz im sächsischen Schwarzenberg mit dem Thema „Grenzraum und Transfer“ im sächsisch-böhmischen Kontext,3 2007 folgte im nordböhmischen Hejnice (Haindorf) ein Seminar zu Erinnerungsorten in Sachsen und Böhmen, an dem Studierende aus Chemnitz, Liberec (Reichenberg), Prag und Olomouc (Olmütz) teilnahmen. Einige Monate später widmete sich eine Tagung im erzgebirgischen Boží Dar (Gottesgab) dem „napoleonischen“ Mitteleuropa.4 1  Vgl. als Bilanz der Projektarbeit Ilona Scherm / Katja Belgardt / Martin Munke (Hrsg.): Hochschulkooperation im sächsisch-tschechischen Grenzraum. Die SächsischTschechische Hochschulinitiative (STHI) – eine Bilanz / Vysokoškolská spolupráce v česko-saském pohraničí. Česko-saská vysokoškolská iniciativa (ČSVI) – bilance. Unter Mitarbeit von Dita Hommerová, Blanka Pohajdová und Milan Jeřábek. Chemnitz 2012. 2  Vgl. Frank-Lothar Kroll / Matthias Niedobitek (Hrsg.): Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005. 3  Vgl. Miloš Řezník (Hrsg.): Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Berlin 2007. 4  Vgl. Oliver Benjamin Hemmerle / Ulrike Brummert (Hrsg.): Zäsuren und Kontinuitäten im Schatten Napoleons. Eine Annäherung an die Gebiete des heutigen Sachsen und Tschechien zwischen 1805 / 06 und 1813. Hamburg 2010.

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Da die Plauener Tagung am Ende eines insgesamt neun Jahre kontinuierlich, wenn auch in unterschiedlichen Formen und mit verschiedenen Schwerpunkten entwickelten Programms stand, das sich freilich auf diverse Fächer richtete, so bot es sich an, eine Art Bestandsaufnahme und einen Querschnitt durch die Forschungen über die sächsisch-böhmischen Kontakte, Beziehungen und Verflechtungen in der Vergangenheit vorzunehmen. Dabei ging es allerdings um alles andere als um den Versuch, einen repräsentativen, ausschöpfenden Forschungsstand zur Geschichte dieser Beziehungen zu vermitteln, obwohl die Veranstalter ursprünglich auch diese Form in Betracht gezogen hatten, in der jeweils von der sächsischen und der tschechischen Seite parallele Forschungsberichte zu einzelnen historischen Epochen oder breiteren Themenbereichen präsentiert worden wären. Bald aber haben sie sich für eine andere, weniger „flächendeckende“ und stärker themenfokussierte Alternative entschieden. Schließlich ging es darum, stärker als den Forschungsstand den aktuellen Forschungsbetrieb zu diskutieren und sich auf gegenwärtig stark frequentierte Themen zu konzentrieren, auf jene Probleme, die Gegenstand der in der jüngeren Vergangenheit realisierten und aktuell durchgeführten Projekte waren. In der Regel sind das Themen, durch die eine enge Anknüpfung an aktuelle Trends der nationalen und internationalen Geschichtswissenschaft stattfindet und zunehmend Kooperation oder zumindest Kommunikation und Kontakt zwischen den Historikern beider Länder angestoßen bzw. ausgebaut werden. Anstelle einer forschungsgeschichtlichen Bestandsaufnahme wurde also eine forschungsaktuelle Momentaufnahme gewählt, wobei jedoch eine Schwerpunktsetzung auf einigen thematischen Dominanten der gegenwärtigen Forschung lag. Sie ermöglichte es, bei der Tagung einerseits vergleichende und methodische Diskussionen zu führen, und sorgte für eine gewisse Kohärenz des Programms, obwohl sie andererseits durch diese notwendige Auswahl von vornherein einen Verzicht auf einen vollständigen Überblick über die Forschungslandschaft in Kauf nehmen musste. II. Für eine derartige Orientierung der Tagung und des vorliegenden Bandes sprachen insbesondere Trends und Akzentverschiebungen, die in der Historiographie der sächsisch-böhmischen (bzw. sächsisch-böhmisch kontextualisierten) Geschichte und in der Geschichtskultur der letzten beiden Jahrzehnte mit zunehmender Intensität und Resonanz zu beobachten sind. Sie sollen in den folgenden fünf Punkten zumindest genannt und skizzenhaft charakterisiert werden – eine kritische Analyse würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen.



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1.  Seit den 1990er Jahren hat sich die Forschungsarbeit zu sächsischböhmischen Themen deutlich intensiviert, und zusammen mit ihr auch die Zusammenarbeit zwischen Historikern und Institutionen in beiden Ländern. Immer neue Bereiche der sächsisch-böhmischen Geschichte werden in den Blick genommen. Dabei geschieht es immer häufiger, dass sich die Forschung auf Regionen orientiert, die sich über die Landesgrenze hinaus erstrecken und aus der teleologischen Perspektive der Moderne als „grenzüberschreitend“ erscheinen. Bereits in den 1990er Jahren wurden erste Versuche unternommen, eine solche sächsisch-böhmische historische Perspektive konsequenter zu reflektieren. Parallel dazu verstärkte sich zumindest im regionalen Kontext das Interesse der tschechischen Historiker für sächsische Geschichte bzw. für sächsische Kontexte der böhmischen Geschichte und vice versa. Als in der Sektion für Regionalgeschichte des Siebten Tschechischen Historikertages in Hradec Králové (Königgrätz) 1999 den Potentialen einer sächsisch-böhmischen Geschichte besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde,5 konnte man dabei an diese ersten Schritte der 1990er Jahre anknüpfen. Mehrere Tagungen und Konferenzen, beginnend mit einem Symposium in Ústí nad Labem (Aussig) im November 1992,6 hatten sich das Ziel gestellt, Forschungen zu sächsisch-böhmischen Themen zu befördern. Seitdem war eine wachsende Intensität solcher Treffen und Kommunikationsformen zu verzeichnen. Sie widmeten sich immer häufiger den chronologisch und thematisch speziellen Problembereichen der sächsisch-böhmischen historischen (nicht nur beziehungsgeschichtlichen) Perspektive. Ein Symposium in Jáchymov (St. Joachimsthal) im Jahr 2000 gab beispielsweise neue Impulse zur Betrachtung des frühneuzeitlichen Erzgebirges als einer sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich zusammenhängenden Region.7 In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Symposien, Tagungen und Seminare noch einmal deutlich an. Ihre institutionelle Basis bilden vor allem Forschungseinrichtungen und Universitäten in der sächsisch-nordböhmischen Region, teilweise aber auch verschiedene Gremien und Förderinstitutionen. 5  Vgl. Kristina Kaiserová: Současné možnosti regionální historiografie při zkou­ mání česko-saských dějin [Gegenwärtige Möglichkeiten der regionalen Historiographie bei der Erforschung der böhmisch-sächsischen Geschichte]. In: Jiří Pešek (Hrsg.): VII. sjezd českých historiků [7. Tschechischer Historikertag]. Praha 2000, S. 64–66. 6  Vgl. Kristina Kaiserová (Hrsg.): Čechy a Sasko v  proměnách dějin [Sachsen und Böhmen im Wandel der Geschichte]. Ústí nad Labem 1993. 7  Vgl. Friedrich Naumann (Hrsg.): Sächsisch-böhmische Beziehungen im 16. Jahrhundert. 6.  Agricola-Gespräch. Wissenschaftliche Konferenz / Sasko-české vztahy v 16.  století. 6.  Agricolovské rozhovory. Vědecká konference. Chemnitz 2001.

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Nicht zuletzt scheinen die euroregionalen Kooperationen (insbesondere in der Dreieck-Region Neisse-Nisa-Nysa)8 sowie EU-Förderprogramme zur strukturellen Entwicklung der Grenzräume auch im Bereich der Geschichtsforschung und Geschichtskultur einige Möglichkeiten eröffnet zu haben. In diesem organisatorisch-institutionellen und regionalen Rahmen, aber teilweise auch unabhängig von ihm, entwickelten sich konkrete Forschungsprojekte. Einen spezifischen Platz in den sächsisch-tschechischen historiographischen Kontakten hat seit langem die Zusammenarbeit der Archive und Archivverbände.9 Dabei kann nicht übersehen werden, dass die meisten Ergebnisse, die in Form von umfassenden analytischen Monographien vorgelegt wurden, Qualifikationsarbeiten des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses waren, am häufigsten Dissertationen an den Universitäten in Prag, Dresden und Chemnitz, aber auch an anderen Hochschulen.10 2.  Die bereits erwähnte Tagung in Ústí nad Labem gab zudem dazu Anlass, die sächsisch-böhmische beziehungsgeschichtliche Perspektive als eine historiographische Alternative zur deutsch-tschechischen nationalgeschichtlichen Kontextualisierung zu betonen.11 Hier könnte ergänzt werden, dass sich diese Alternativfunktion nicht nur auf Beziehungsgeschichte und nicht nur auf Historiographie bezieht. Noch weitaus stärker müsste sie im Zusammenhang mit dem öffentlich wirksamen populären, medialen und politischen Geschichtsdiskurs akzentuiert werden. Als Folge der Nationalisierung der europäischen Gesellschaften in der Moderne setzte sich die Dominanz des nationalen Geschichtsdiskurses durch, die noch in der Gegenwart (nach) wirkt, wobei nicht selten die nationalen Kategorien in die vormodernen Epochen zurückprojiziert werden. Auch die national akzentuierten oder national artikulierten Konflikte der Moderne trugen dazu bei, die Beziehungs8  Vgl. Miloslava Melanová / Rudolf Anděl: Historické bádání v Euroregionu Nisa [Geschichtsforschungen in der Euroregion Neiße]. In: Pešek (Hrsg.): VII. sjezd českých historiků [7. Tschechischer Historikertag] (wie Anm. 5), S. 79–82. 9  Vgl. etwa: Grenzüberschreitende böhmisch-sächsische Beziehungen. Widerspiegelung im Archivwesen und in der Landesgeschichte. 10. Sächsischer Archivtag. Waldheim 2002; Marie Ryantová (Hrsg.): Bohemia – Saxonia. Vybrané otázky dějin českých zemí a Saska a jejich prameny v  archivech obou zemí / Ausgewählte Probleme der Geschichte Böhmens und Sachsens und ihre Quellen in den Archiven beider Länder. Praha 2012, bes. S. 135–172; Archivnictví v  Čechách, Durynsku a Sasku. Příspěvky z  odborné konference, Cheb 21.–23. května 2012 / Archivwesen in Böhmen, Thüringen und Sachsen. Fachtagungsvorträge, Eger 21.–23.  Mai 2012. Plzeň 2013; vgl. auch den Beitrag von ders. in diesem Band, S. 201–204. 10  Siehe dazu den fünften Unterpunkt dieses Kapitels. 11  Vgl. zu diesem Ansatz Miloš Řezník: Konzeptionelle Überlegungen zur Europäischen Regionalgeschichte. In: Peter Jurczek / Matthias Niedobitek (Hrsg.): Europäische Forschungsperspektiven. Elemente einer Europawissenschaft. Berlin 2008, S. 89–106.



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geschichte vordergründig als nationalgeschichtliche Beziehung zu betrachten. Der Diskurs der „historischen Traumata“ hat in den 1990er Jahren die deutsch-tschechischen öffentlichen, politischen und medialen Diskussionen über die Geschichte an manchen Stellen verschärft; zugleich war damit aber stets die Forderung nach Verständigung, Versöhnung und Geschichtsbewältigung verknüpft, wobei die Geschichtswissenschaft von dem damit verbundenen Umfeld bei weitem nicht unberührt blieb. Beide Tendenzen führten allerdings dazu, dass Beziehungsgeschichte und „gemeinsame Geschichte“ (was immer das auch bedeuten sollte) in nationalen Kategorien rezipiert wurden – als deutsch-tschechisch, dazu noch verbunden mit den Narrativen der Traumata und der Konfliktbeladenheit, die mit der Idealisierung und Mythisierung eines vorkonfliktualen „Zusammenlebens“ letzten Endes nur unterstützt wurden.12 Die Dominanz der nationalgeschichtlichen Perspektive hat dabei die regionalen und überregionalen Kontexte teilweise sogar verwischt: Mittelalterlicher Landesausbau, Handelskontakte zwischen Prag und Nürnberg, deutsch-tschechoslowakische zwischenstaat­liche Beziehungen, böhmische Emigration im 17. Jahrhundert und die Beziehungen zwischen der tschechischen und der deutschen Nationalgesellschaft im Böhmen des 19. und 20. Jahrhunderts erschienen insbesondere im Rahmen der öffentlichgeschichtskulturellen Bezugnahme als Komponenten ein und desselben Kontinuums einer deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte. Eine regionale Sicht, die Territorien, Länder, einzelne Regionen und Orte perspektivisch, methodisch und empirisch berücksichtigt, bietet hier Auswege und Alternativen in mehrfacher Hinsicht: Sie erscheint für eine Analyse mancher gesellschaftlicher und kultureller Prozesse selbst in der Moderne weitgehend passförmiger und für die Geschichte der Vormoderne im Unterschied zur nationalgeschichtlichen Umrahmung besonders relevant. Sie ermöglicht erst die Interpretation verschiedener Sachverhalte und Konfigurationen (Gesellschaft im Grenzraum, „grenzüberschreitende“ Räume, politikgeschichtliche Aspekte bis zur Moderne, Lebenswelten historischer Akteure), und sie ist auch ein geeigneter Rahmen, um die leitmotivischen Narrative des „Konfliktes“ und der „Tragik“ zu alterieren, ohne sich allzu schnell in die idealisierende Suche nach den Vorbildern des nationalen „Zusammen­ lebens“, des „Austausches“ und der „Zusammenarbeit“ zu begeben. Bei dieser Kritik geht es im Übrigen nicht darum, die Relevanz und Legitimität nationalhistorischer, darunter auch national-beziehungsgeschicht­ licher Kategorien generell in Frage zu stellen. Gerade im Kontext der Moderne haben sie, soweit sie eine dosierte Anwendung finden, ohne Zweifel 12  Vgl. etwa Podiven [= Petr Pithart / Petr Příhoda / Milan Otáhal]: Češi v dějinách nové doby. Pokus o zrcadlo [Tschechen in der Geschichte der neuen Epoche. Versuch eines Spiegels]. Praha 1991.

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ihre Berechtigung. Auch ist nicht zu übersehen, dass die sich teilweise neu entwickelnde Geschichtskultur nach 1989 trotz ihrer nationalhistorischen Betrachtungsfolie und trotz der Akzentuierung des Themenkonnexes „Konflikt – Zusammenleben – Verständigung“ zugleich zahlreiche Impulse und Rahmenbedingungen für eine sächsisch-böhmische Perspektive geliefert hat. 3. Damit hängt auch die regionale und grenzüberschreitende Dimension der Geschichtskultur zusammen. Sie erlebte in den letzten zwanzig Jahren einen rasanten Aufschwung, was sich in zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, in der Musealisierung, in den Bildungsaktivitäten und in der Popularisierung deutlich widerspiegelt. Zwar war der populäre und öffentliche Diskurs seit den 1990er Jahren durch die gesellschaftliche und politische Brisanz der „traumatischen Themen“, durch deutsch-tschechische Vergangenheitsdebatten ebenso wie durch die Suche nach „Verständigung und Versöhnung“ gekennzeichnet, so dass die sächsisch-böhmische Relation zunächst durch den national-historischen Kontext „deutsch-tschechisch“ überlagert wurde. Trotzdem lässt sich ungefähr seit der Jahrtausendwende im Bereich der populären und öffentlichen Geschichtskultur eine zunehmende Tendenz zu ihrer parallel erfolgenden Regionalisierung beobachten. In Sachsen sowie in West- und Nordwestböhmen geschah dies nicht zuletzt mit Bezug auf sächsisch-böhmische „grenzüberschreitende“ und beziehungsgeschichtliche Themen. Bei der (manchmal sichtbar pragmatischen) Einbeziehung grenzüberschreitender Perspektiven spielten sicherlich auch die EUFörderprogramme eine unterstützende Rolle, von denen ein Teil der regionalen Akteure Gebrauch machte. Nicht bedeutungslos mögen die steigende touristische Attraktivität der Regionen, der zögerlich ansetzende touristische Verkehr über die Grenze hinweg (jenseits der intensiven Einkaufstouristik) und die damit verknüpften Bemühungen um weitere touristische (damit auch strukturelle) Entwicklung gewesen sein. Bekanntlich lag das Erzgebirge, das mehr als die Hälfte des böhmisch-sächsischen Grenzverlaufs bildet, auf der tschechischen Seite bis zu den 1990er Jahren praktisch außerhalb des touristischen Interesses; danach setzte ein sichtbarer Wandel ein, so dass man von einer neuen Entwicklung auch des böhmischen Erzgebirges als touristischer Region sprechen kann. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene grenzüberschreitende Projekte realisiert,13 es entstanden touristi13  Vgl. als besonders eindrückliches und aktuelles Beispiel die Bemühungen um den Welterbetitel der UNESCO für die „Montane Kulturlandschaft Erzgebirge / Krušnohoří“. Vgl. Helmuth Albrecht: Montanregion Erzgebirge – ein Projekt für das UNESCO-Welterbe. In: Recycling in Geschichte und Gegenwart. Freiberg 2003, S. 155–170; ders. / Jane Ehrentraut: The World Heritage Project „Mining Landscape Ore Mountains“. In: Helmuth Albrecht / Alexander Kierdorf / Norbert Tempel (Hrsg.): Industrial Heritage – Ecology and Economy. XIV. International TICCIH Congress 2009 in Freiberg, Germany. Selected Papers. Chemnitz 2011, S. 42–49. In der wis-



Die Forschungslandschaft der sächsisch-böhmischen Geschichte

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sche Routen und Lehrpfade, welche die „gemeinsame Geschichte“ oder spezifische Züge der historischen Entwicklung der Regionen thematisieren  – etwa das Thema der in Folge der Vertreibung und des nordwestböhmischen Tagebaus „verschwundenen Orte“. In diesen Kontext gehören auch einmalige oder regelmäßige Kulturveranstaltungen, wie z. B. das tschechischsächsisch-bayerische Musikfestival „Mitte Europa“, das seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre in den deutsch-tschechischen Euroregionen stattfindet, ferner die alljährlichen, nach der Schließung des Tschechischen Zentrums in Dresden (2009) leider etwas bescheidener ausfallenden Tschechischen Kulturtage in der sächsischen Hauptstadt und viele andere Veranstaltungen. Obwohl historische Themen hier in der Regel eher randständig sind, werden gerade bei diesen Gelegenheiten zahlreiche (selbst)legitimatorische, auf unterschiedlichem Niveau reflektierte Bezüge zur „gemeinsamen Geschichte“ hergestellt. Eine spezifische, dabei aber öffentlich, medial und politisch relativ breit wahrgenommene Tätigkeit im sächsisch-böhmischen Gebiet entwickelte der Prager Verein „Antikomplex“, der 1998 aus der Initiative einer Gruppe damaliger Studenten entstand.14 Das ursprünglich einseitige Interesse an der Aufarbeitung der „traumatischen Themen“ erfuhr während der folgenden Jahre eine beträchtliche Erweiterung um die geschichtskulturelle Beschäftigung mit den Umwandlungen der Siedlungs- und Sozialstrukturen und der Landschaft im Grenzraum. Die Tätigkeit orientiert sich dabei teilweise auf wissenschaftliche Forschung, vor allem aber auf Popularisierung und Visualisierung historischer Umwandlungen sowie auf didaktisch-pädagogische Arbeit direkt in der Region. Die Kooperation mit den Schulen auf der tschechischen Seite wurde allmählich auch nach Sachsen und Ostthüringen ausgeweitet. In diesem Rahmen versucht der Verein auf die Krise der „großen“ historischen Narrative und der historischen Bildung in der spätmodernen Gesellschaft zu reagieren und die Schüler, doch auch andere Adressaten, zur selbstständigen Reflexion des „historischen Erbes“ ihrer nächsten lokalen und regionalen Umgebung anzuregen.15 Die Ausstellungen und populären Publikationen zur historischen Umwandlung der Landschaft sowie zu „verschwundenen Orten“ sind sowohl in Tschechien als auch in Deutschland auf breites Interesse gestoßen, umso mehr, als dass sie über die Thematisierung der zerstörten und verlassenen Landschaft zur senschaftlichen Forschung wird die Rolle des Erzgebirges (und des Bergbaus) immer wieder thematisiert; vgl. etwa Elke Mehnert (Hrsg.): …  ’s kommt alles vom Bergwerk her. Materialien zum 7.  Deutsch-Tschechischen Begegnungsseminar Gute Nachbarn – Schlechte Nachbarn? Frankfurt am Main u. a. 2005. 14  Online unter: http: /  / www.antikomplex.cz [17.05.2013]. 15  Vgl. dazu den Aufsatz von Ondřej Matějka in diesem Band, S. 205–220.

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ästhetischen Entdeckung ihrer zumeist sehr melancholischen Anziehungskraft gelangten.16 Auf sächsisch-böhmische historische Themen orientierte sich zudem zunehmend, wieder insbesondere seit dem letzten Jahrzehnt, eine Reihe von Museumsprojekten und Ausstellungen. Teilweise betrifft dies die Museumsstelle „Collegium Bohemicum“ in Ústí nad Labem, deren geplante Dauerausstellung einen ersten umfassenden Versuch darstellt, die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung der böhmischen Länder jenseits der primären Perspektive der deutsch-tschechischen Beziehungen musealisch zu präsentieren.17 Noch viel eindeutiger ist jedoch der Bezug auf sächsisch-böhmische Geschichte im „Museum sächsisch-böhmisches Erzgebirge“ in Marienberg, dessen gegenwärtige Gestaltung 2007 eröffnet wurde.18 Diese Dauerausstellung im Marienberger Bergmagazin widmet sich der Formierung und Entwicklung des Erzgebirges als einer grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Touristikregion. Starke Bezüge nach Böhmen besitzen unter den sächsischen Museen darüber hinaus das Musikinstrumentenmuseum in Markneukirchen,19 das die böhmische Emigration des 17. und 18. Jahrhunderts sowie weitere Kontakte im Rahmen der durch die Musikinstrumentenherstellung geprägten Region zwischen Böhmen und dem Vogtland thematisiert, sowie die touristisch gut vermarktete „Manufaktur der Träume“20 in Annaberg-Buchholz, die seit 2008 in einer populären Form wiederum die erzgebirgische Spielzeug- und Krippenproduktion zum Gegenstand hat. Zu den Dauerausstellungen treten zudem zahlreiche thematisch einschlägige Sonderausstellen. Als signifikante, für die wichtigsten Themenkontexte symptomatische Beispiele seien zumindest einige erwähnt. So ging die repräsentative Ausstellung „Welt – Macht – Geist“ über die Lausitz in der Zeit der habsburgischen Herrschaft 2002 in Zittau auf die Beziehungen des Landes zu Böhmen und zur Böhmischen Krone ein.21 Der 550. Jahrestag 16  Vgl. Antikomplex o. s. et al.: Zmizelé Sudety – Das verschwundene Sudetenland. Praha 2006; Petr Mikšíček: Krušný ráj [Herzgebirge]. Nová Ves v Horách 2009; ders.: Tváře Krušnohoří.  Podoby, příběhy a proměny regionu mezi Chebem a Ústím nad Labem [Gesichter des Erzgebirges. Bilder, Menschen, Wandlungen. Ein Porträt der Region zwischen Eger und Aussig]. Sokolov 2009; ders.: Znovuobjevené Krušnohoří [Das wiederentdeckte Erzgebirge]. 5. Aufl. Boží Dar 2009. 17  Online unter: http: /  / www.collegiumbohemicum.cz [17.05.2013]. 18  Online unter: http: /  / www.marienberg.de / tourismus-l-kultur / sehenswuerdigkei ten / museum [17.05.2013]. 19  Online unter: http: /  / www.museum-markneukirchen.de [17.05.2013]. 20  Online unter: http: /  / www.manufaktur-der-traeume.de [17.05.2013]. 21  Vgl. Joachim Bahlcke / Volker Dudeck (Hrsg.): Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635. Zittau 2002.



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der Unterzeichnung des Egerer Vertrages von 1459, der grundsätzlich den gegenwärtigen Verlauf der sächsisch-böhmischen Grenze festlegte, gab 2009 Anlass zur Vorbereitung des Ausstellungsprojektes „Grenzräume“, dessen Hauptpartner die Schlossverwaltungen und Museen in Weesenstein und Děčín (Tetschen) waren. Die Wanderausstellung „Grenze“ und weitere Projektaktivitäten nahmen Bezug auf einige Aspekte der Beziehungsgeschichte und des Transfers:22 „So soll 550 Jahre nach dem Abschluss des Egerer Vertrages mehr das Verbindende als das Trennende zwischen den beiden Ländern bekannt und auf diese besondere Grenzregion aufmerksam gemacht werden“, lautete das Fazit des Projektes,23 ganz in der rhetorischen Manier der Propagierung grenzüberschreitender Kooperation der letzten zwei Jahrzehnte. Eine andere kleine Wanderausstellung, die 2008 in Chemnitz, Hradec Krá­lové und Dresden gezeigt wurde, thematisierte die wenig bekannten sächsischen Gefallenendenkmäler aus dem österreichisch-preußischen Krieg von 1866 in Ostböhmen, an welchem die sächsischen Truppen bekanntlich als Verbündeter Österreichs teilgenommen hatten.24 Im Chemnitzer Schlossbergmuseum fand 2012 / 13 eine Sonderausstellung unter dem Titel „Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert“ statt. In ihrem Rahmen sowie im Rahmen der vorbereitenden wissenschaftlichen Tagung und der begleitenden Publikationen wurden die Beziehungen nach Böhmen und der Kulturtransfer reichlich berücksichtigt, unter anderem im Kontext der Reformation sowie der Hussitenkriege.25 Die Aufzählung von Museumsausstellungen (von denen wir nur einen Teil auf der sächsischen Seite berücksichtigt haben) und anderen öffent­ lichen Veranstaltungen, die sächsisch-böhmische historische Themen aufnehmen, würde sich fortsetzen lassen und als Fallbeispiel für die Entwick22  Online unter: http: /  / www.hranice1459.cz; http: /  / www.schloss-weesenstein.de /  pub / b / frame.asp?m=59 [08.06.2012]. Siehe dazu auch unten, Anm. 32. 23  Online unter: http: /  / www.schloss-weesenstein.de / pub / b / frame.asp?m=59 [08.06. 2012]. 24  Vgl. Miloš Řezník (Hrsg.): Sächsischer Erinnerungsort Königgrätz. Sächsische Denkmäler vom Krieg 1866 in Nordostböhmen / Hradecká bojiště – saské místo paměti. Chemnitz 2006 sowie knapp ders.: Königgrätz als sächsischer Erinnerungsort. Denkmäler des Krieges von 1866 in Ostböhmen. In: Sachsen und Preußen. Geschichte eines Dualismus. Dresdner Hefte, Nr. 111. Dresden 2012, S. 34–41. 25  Vgl. Uwe Fiedler / Hendrik Thoß / Enno Bünz (Hrsg.): Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert. Chemnitz 2012 (bes. die Beiträge von Uwe Fiedler, Marek Wejwoda, Armin Kohnle und Friedrich Staemmler). Siehe dazu auch Martin Munke: Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 52 (2012), S. 153–155.

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lung der Geschichtskultur auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene im Kontext der Leitideen „Verständigung“, „Geschichtsbewältigung“, „strukturelle Entwicklung“ und „grenzüberschreitende Kooperation“ eine kritische Analyse verdienen. Aber bereits anhand dieser stichwortartig erwähnten Fälle lässt sich zumindest die Fülle an unterschiedlichen Themen und Formen andeuten, die in den letzten Jahren hervorgetreten ist. Sie zeigen da­ rüber hinaus die Breite von Realisierungskontexten, die von der Politik über museale Praxis, Bildung, Kultur bis hin zur engen Verbindung mit der universitären Forschung reichen. Nicht zuletzt vermitteln diese Beispiele auch die Breite der Akteure der sächsisch-böhmisch kontextualisierten, öffentlich-populären Geschichtskultur, die von der Regional- und Lokalpolitik über euroregionale Strukturen und Förderinstitutionen, Forschungsinstitutionen, Kultur- und Bildungseinrichtungen bis hin zu Vereinen und weiteren Trägern der regionalen und lokalen Zivilgesellschaft reichen. 4.  Bei den wissenschaftlichen Zugängen lässt sich zunehmend ein Trend beobachten, der die sächsisch-böhmische Thematik vor allem als Frage der empirisch-heuristischen Methodik begreift, so wie auch die sächsische Landesgeschichte in mehreren Kontexten als Probebeispiel und Analysefeld benutzt wird: Im Kontext der Frühneuzeit und des 19. Jahrhunderts kann –  um die bekanntesten Beispiele zu nennen – etwa an die Themen des Kulturtransfers, des landesgeschichtlichen Vergleichs oder der nationalen bzw. nationalstaatlichen Integration erinnert werden, in denen Sachsen bei wichtigen Projekten und Publikationen als repräsentativer Forschungsgegenstand und als Argumentationsbeispiel, als pars pro toto benutzt wurde.26 In diesem Kontext ging es nicht primär darum, zur Erforschung der sächsischen Landesgeschichte beizutragen, sondern allgemeinhistorische Themen wurden am gewählten sächsischen Beispiel und Material analysiert. So machte die sächsisch-böhmische Landesgrenze im letzten Jahrzehnt eine bemerkenswerte Karriere, denn sie wurde im Rahmen der neuen Welle der internationalen Debatten über den funktionalen und diskursiven Wandel der Grenze und des Lebens an der Grenze als heuristisch-methodisches Beispiel unter die Lupe genommen – bei der Untersuchung der Handlungsstrategien der „kleinen“ Akteure an der Grenze im Kontext der böhmischen Rekatholisierung, bei der Wahrnehmung und Kategorisierung der Grenze an der Schwelle der Moderne oder bei ihrer funktionalen Umwandlung im Zeitalter 26  Vgl. etwa Wolfgang Schmale: Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte. Bochum 1998; Michel Espagne / Matthias Middell (Hrsg.): Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. 2. Aufl. Leipzig 1998; James Rettalack (Hrsg.): Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur, Gesellschaft 1830–1918. Bielefeld 2000.



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des Nationalismus.27 So ist die Grenze aus der Sicht der internationalen historischen Debatten wohl das prominenteste sächsisch-böhmische Forschungsthema der letzten Jahre geworden. 5.  Betrachtet man darüber hinaus jedoch die zentralen Tendenzen und Themenfelder der sächsisch-böhmischen Geschichte in der Forschung, so stellt sich schnell heraus, dass eine rigide Unterscheidung zwischen einer „allgemeinen Geschichte im Forschungsfeld Sachsen / Böhmen“ einerseits und der sächsischen Landesgeschichte bzw. sächsisch-böhmischen Regional- oder Beziehungsgeschichte andererseits den aktuellen organisatorischen, thematischen und methodischen Forschungskonfigurationen bei weitem nicht entspricht. Forschungen, die von den regionalen Zentren im sächsischböhmischen Raum ausgehen, stehen zum überwiegenden Teil in direktem Anschluss an wichtige Konzeptzusammenhänge und Diskussionen. Im Folgenden werden daher einige Dominanten, Schwerpunkte und Tendenzen der Forschung ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz kommentiert.28 Eine generelle Änderung der letzten Jahrzehnte besteht zweifelsfrei in der weitgehenden (freilich keineswegs vollständigen) Abkehr von der früher konstitutiven Vermittlungs- bzw. Folienrolle der Region als Konkretisierung übergeordneter Bezugsebenen. Im sächsisch-böhmischen historischen Kontext können dabei signifikante Schwerpunktsetzungen und Schwerpunktverschiebungen beobachtet werden. Relativ in den Hintergrund getreten sind „klassische“ beziehungsgeschichtliche Perspektiven, die früher zu den wenigen Bereichen der sächsisch-böhmischen Geschichte gehörten, auf die sich gelegentlich die Aufmerksamkeit der Historiker richtete. Trotzdem wurde nach früheren tschechischen Forschungen29 nochmals und ausführlicher die sächsische Politik während des böhmischen Ständeaufstandes ana27  Vgl. Wulf Wäntig: Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert. Konstanz 2007; Martina Power: Hory a moře mezi námi. Vnímání hranic a prostoru v německé a britské cestopisné literatuře o Čechách a Irsku 1750–1850 [Berge und See zwischen uns. Die Wahrnehmung der Grenze in der deutschen und britischen Reiseliteratur über Böhmen und Irland 1750–1850]. Praha 2013 [im Druck]; Caitlin E. Murdock: Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands 1870–1946. Ann Arbor, MI 2010. Siehe auch die Beiträge von Uwe Tresp, Wulf Wäntig und Petr Hlaváček in Řezník (Hrsg.): Grenzraum und Transfer (wie Anm. 3). 28  Einen analytischen und kritischen Forschungsbericht kann diese Passage nicht ersetzen. Es werden hier mehrere, aber nicht alle relevanten Themenkreise gewählt, während andere Komplexe, z. B. die Namenskunde, die Siedlungsgeschichte, oder aber die Geschichte des 20. Jahrhunderts generell außer Acht gelassen wurden; die Literaturhinweise können und sollen keine umfassende Bibliographie liefern. 29  Vgl. Ivo Barteček: Saská politika a české stavovské povstání, květen 1618– srpen 1619 [Die sächsische Politik und der böhmische Ständeaufstand, Mai 1618 bis August 1619]. In: Sborník historický [Historisches Jahrbuch] 30 (1984), S. 5–47.

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lysiert.30 Dies zeigt aber auch, dass selbst bei geänderten Perspektiven, bei denen die Fragen der Handlungsstrategien oder des Transfers, des gesamt(ost)mitteleuropäischen Machtkontextes viel stärker berücksichtigt werden, die Beziehungsgeschichte an sich ihre Forschungsattraktivität und Relevanz bei weitem nicht verloren hat. Im sächsisch-böhmischen Kontext haben sich entsprechende Beiträge in den letzten zwei Jahrzehnten auffällig stark auf das 15. Jahrhundert konzentriert,31 mit Schwerpunktsetzung auf dem bereits erwähnten Egerer Vertrag von 1459.32 Einen erneuten Aufschwung erfuhr seit den 1990er Jahren die Problematik der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lausitz, ihre „staatsrechtliche“ Beziehung zu Böhmen ebenso wie ihre Rolle in der politischen und konfessionellen Geschichte der böhmischen Länder.33 Die historische 30  Vgl. Frank Müller: Kursachsen und der Böhmische Ständeaufstand 1618–1622. Münster 1997. 31  Vgl. Uwe Tresp: Markgraf Wilhelm I. von Meißen und Böhmen. Die „Belagerung“ von Prag (1401). In: Wilhelm der Einäugige, Markgraf von Meißen (1346– 1407). Tagungsband. Dresden 2009, S. 43–53; ders.: Die Spur führt nach Böhmen. Der Prinzenraub im Kontext der sächsisch-böhmischen Beziehungen um die Mitte des 15. Jahrhunderts. In: Joachim Emig et  al. (Hrsg.): Der Altenburger Prinzenraub. Strukturen und Mentalitäten eines spätmittelalterlichen Konflikts. 2., korrigierte und erg. Aufl. Beucha 2008, S. 195–217; Lenka Bobková: Dynastische Verbindungen zwischen Böhmen und Sachsen im Mittelalter. In: Böhmen und Sachsen. Momente einer Nachbarschaft. Dresdner Hefte, Nr. 48. Dresden 1996, S. 3–10; dies.: Českomíšeňská hranice na přelomu 14. a 15. stol. aneb Donínská válka [Die böhmischmeißnische Grenze um 1400 oder Der Dohnaer Krieg]. In: Marie Koldinská / Alice Velková (Hrsg.): Historik zapomenutých dějin. Sborník příspěvků věnovaných prof. dr. Eduardu Maurovi [Ein Historiker der vergessenen Geschichte. Festschrift für Eduard Maur]. Praha 2002, S. 258–270. 32  André Thieme / Uwe Tresp / Birgit Finger (Hrsg.): Eger 1459. Fürstentreffen zwischen Sachsen, Böhmen und ihren Nachbarn. Dynastische Politik, fürstliche Repräsentation und kulturelle Verflechtung. Dößel / Dresden 2011; Uwe Tresp: Erbeinung und Dynastie. Die Egerer Verträge von 1459 und als Grundlage der sächsisch-böhmischen Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 144 (2008), S. 55–85; Jörg Rogge: Herzog Albrecht von Sachsen und Böhmen. Der Tag von Eger (1459) und der Zug nach Prag (1471). In: André Thieme (Hrsg.): Herzog Albrecht der Beherzte (1443–1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa. Köln / Weimar / Wien 2001, S. 27–51. 33  Als Beispiele: Joachim Bahlcke: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der Böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der Habsburgerherrschaft (1526–1619). München 1994; Gunther Oettel / Volker Dudeck (Hrsg.): 650 Jahre Oberlausitzer Sechsstädtebund 1346–1996. Bad Muskau 1997; Lenka Bobková et  al.: Česká koruna na rozcestí. K dějinám Horní a Dolní Lužice a Dolního Slezska na přelomu středověku a raného novověku (1437–1526) [Die Böhmische Krone am Scheideweg. Zur Geschichte der Nieder- und Oberlausitz und Niederschlesiens am Übergang vom Mittelalter zur Frühneuzeit (1437–1526)]. Praha 2010; dies. et al. (Hrsg.): Korunní země v dějinách českého státu [Kronländer in der Geschichte des



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Sorabistik in Tschechien und die Forschungen zu den tschechisch-sorbischen Kontaktthemen erfuhren dagegen seit den 1990er Jahren einen deutlichen Rückgang;34 erst in den letzten Jahren wurde ihnen das Interesse einer neuen Forschergeneration zuteil.35 Dazu treten neue tschechische Beiträge zur Revitalisierung ethnisch-regionaler Kulturen, die stark mit dem sorbischen Beispiel arbeiten und teilweise historische Perspektiven berücksichtigen.36 Von den traditionellen Themen erfuhr die Geschichte der böhmischen religiösen Emigration des 17. und 18. Jahrhunderts nach Sachsen und in die Lausitz neue, umfassende Zuwendung.37 Hier erfolgte nach 2000 eine rasante Belebung des Forschungsinteresses, wobei gerade der konfessionelle Charakter dieser Migration sowie die damit verbundenen „Exulantenmythen“ sowohl makrohistorisch als auch mikrohistorisch befragt werden.38 böhmischen Staates]. 4. Bde. Praha 2002–2009. Diese „böhmische Sicht“ nimmt auch eine neue tschechischsprachige Übersicht zur lausitzischen Geschichte ein: Lenka Bobková / Luděk Březina / Jan Zdichynec: Horní a Dolní Lužice [Ober- und Niederlausitz]. Praha 2008. Vgl. auch die neueste deutschsprachige Übersicht zur Geschichte des Landes von Joachim Bahlcke (Hrsg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2001. 34  Als Beispiel für die kurzzeitige Belebung des Interesses nach 1989 vgl. Zdeněk Boháč: České země a Lužice [Die Böhmischen Länder und die Lausitz]. Tišnov 1993. 35  Vgl. Marcel Černý / Petr Kaleta (Hrsg.): Stoletý most mezi Prahou a Budyšínem. Společnost přátel Lužice 1907–2007 [Ein Jahrhundert Brücke zwischen Prag und Bautzen. Die Gesellschaft der Freunde der Sorben 1907–2007]. Praha 2008. Siehe auch den Beitrag von Petr Kaleta im vorliegenden Band, S. 181–198, mit weiterer Literatur. 36  Vgl. Leoš Šatava: Jazyk a identita etnických menšin. Možnosti zachování a revitalizace [Sprache und Identität ethnischer Minderheiten. Möglichkeiten der Erhaltung und Revitalisierung]. 2. Aufl. Praha 2009. 37  Vgl. Edita Štěříková: Exulantská útočiště v  Lužici a Sasku [Exulantenfluchtpunkte in der Lausitz und in Sachsen]. Praha 2004; Lenka Bobková: Exulanti z  Prahy a severozápadních Čech v  Pirně v  letech 1621–1639 [Exulanten aus Prag und Nordwestböhmen in Pirna 1621–1639]. Praha 1999. 2001 erschien nach mehr als 140 Jahren die tschechische Übersetzung des Werkes von Christian Adolph Pescheck: Die böhmischen Exulanten in Sachsen. Leipzig 1857 (Čeští exulanti v  Sasku. Varnsdorf 2001). 38  Die bedeutendsten monographischen Beiträge des letzten Jahrzehnts stellen drei Dissertationen aus München, Chemnitz und Dresden dar: Alexander Schunka: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Hamburg 2006, Wäntig: Grenzerfahrungen (wie Anm. 27), sowie Frank Metasch: Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 2011. Vgl. zum Forschungsstand Milan Svoboda: Frühneuzeitliche Exulantenforschung in der böhmischen Historiographie. In: Lars-Arne Dannenberg (Hrsg.): Böhmen, Oberlausitz, Tschechi-

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Aber gerade die Migration stellt im letzten Jahrzehnt einen Bereich dar, in dem neue Forschungsperspektiven eröffnet werden. Einerseits geschieht dies mit Bezug auf die „konfessionelle“ Emigration des 17. Jahrhunderts bzw. auf die Herrnhuter Brüdergemeine.39 Andererseits orientiert sich die Forschung nun viel stärker als früher auf die moderne, insbesondere auf die sozial bedingte Migration, wobei neben dem politischen Kontext insbesondere die Handlungsstrategien, Lebenswelten und Fragen der sozialen Inund Exklusion im Mittelpunkt stehen. Einerseits begann sich die tschechische Wissenschaft mit der bisher weniger bekannten Migration aus Sachsen nach Böhmen zu beschäftigen,40 andererseits werden in neuen Projekten auf der sächsischen Seite kleinräumige transregionale Migrationen untersucht.41 So gehört die Migration (neben der Grenze) zu den besonders intensiv unen. Aspekte einer Nachbarschaft. Görlitz / Zittau 2006, S. 193–202, und insb. Martina Lisá: Der Homo migrans der Frühen Neuzeit. Die böhmischen Exulanten und die neuere deutsche Migrations- und Exilforschung. In: Acta Comeniana 25 (2011), S. 221–240 (hier auch weitere Literaturhinweise und Kontextualisierung durch das aktuelle Forschungsparadigma der frühneuzeitlichen Migrationsforschung, vor allem mit Bezug auf Ostmitteleuropa). 39  Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. 2. Aufl. Göttingen 2009; Irina Modrow: Dienstgemeine des Herrn. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit. Hildesheim u. a. 1994; Markéta Křížová: Herrnhut-Ochranov a tradice staré jednoty bratrské [Herrnhut und die Tradition der alten Brüderunität]. In: Husitský Tábor [Das hussitische Tabor] 13 (2002), S. 169–183; Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich? Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1760–1857. Göttingen 2009. 40  Jan Němec: Průmyslové osidlování severočeské oblasti v 1. polovině 19. století se zvláštním zřetelem k imigraci ze Saska [Die industrielle Besiedlung des nordböhmischen Raums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Immigration aus Sachsen]. In: Ryantová (Hrsg.): Bohemia – Saxonia (wie Anm. 9), S. 135–172. Vgl. auch Marie Vojtíšková: Migrace saského textilního dělnictva do severních Čech. Sonda v textilním středisku Česká Lípa pro odvětví kartounek [Migration der sächsischen Textilarbeiter nach Nordböhmen. Sonde ins Textilherstellungszentrum Böhmisch Leipa am Beispiel der Branche der Kattundruckereien]. In: II. setkání historiků textilního a oděvního průmyslu [2.  Treffen der Historiker der Textil- und Kleidungsindustrie]. Ústí nad Orlicí 1989, S. 159–179. 41  Vgl. einige Beiträge in: Katrin Lehnert / Lutz Vogel (Hrsg.): Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Dresden 2011 sowie in Winfried Müller / Swen Steinberg (Hrsg.): Menschen unterwegs. Die via regia und ihre Akteure. Essayband zur 3. Sächsischen Landesausstellung. Dresden 2011. Vgl. weiterhin Lutz Vogel: „rechtschaffen, fleißig und ehrlich im Dienste  …“. Kleinräumige Migration und Aufnahmepraxis in der sächsischen Oberlausitz des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 90 (2011) [erschienen 2012], S. 215–242. In diesem Kontext ist auch die Arbeit von Murdock: Changing Places (wie Anm. 27) zu verorten. Siehe zum Ganzen jetzt auch Miloš Řezník / Katja Rosenbaum / Martin Munke (Hrsg.): Grenzraum und Migration im historischen Wandel. Westböhmen und Mitteldeutschland im europäischen Kontext. Leipzig / Berlin 2013.



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tersuchten Fragenkomplexen der Moderne, insbesondere des 19. Jahrhunderts, mit Einzelbeiträgen zu wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und künstlerischen Kontakten.42 Während sich in den 1990er Jahren die Forschung den „grenzüberschreitenden“ wirtschafts- und sozialhistorischen Regionen – insbesondere der frühneuzeitlichen erzgebirgischen Montanregion43 – in verschiedenen Kontexten zuwandte, eröffneten sich an den Schnittstellen zwischen Migration, Transfer, Kunst- und Wirtschaftsgeschichte zwei ergiebige, miteinander verbundene Felder: einerseits kultur- und kunsthistorische Forschungen zu den Verbindungen zwischen Sachsen und Nordostböhmen, insbesondere was die Kunst der Spätgotik und Renaissance anbetrifft;44 andererseits Forschungen zu jenen aus dem meißnischen bzw. sächsischen Raum stammenden Adelsfamilien, die ihren Besitz nach Böhmen ausweiteten (Dohna, Bühnau, Schleinitz, Schönburg u. a.).45 Diese Familien können als die eigentlichen 42  Vgl. Holger Starke: Aspekte wirtschaftlicher Verbindungen zwischen Sachsen und Böhmen. In: Böhmen und Sachsen (wie Anm. 31), S. 40–49; Miloš Řezník: Böhmisch-sächsische Beziehungen im 19. Jahrhundert. In: Dresden. Der Blick von außen. Dresdner Hefte, Nr. 88. Dresden 2006, S. 36–52; Jana Englová: Die Zusammenarbeit sächsischer, tschechischer und deutschböhmischer Demokraten im Frühjahr 1849. In: Rudolf Jaworski / Robert Luft (Hrsg.): 1848 / 49. Revolutionen in Ostmitteleuropa. München 1996, S. 303–312 sowie die Beiträge von Lutz Vogel und von Martin Munke in diesem Band, S. 69–88, 89–107. Darin auch weitere Forschungsthemen und Literaturhinweise. 43  Bspw. Jiří Majer: Ore Mining and the Town of St.  Joachimsthal / Jachymov at the Times of Georgius Agricola. In: Geo Journal 32 (1994), S. 91– 99; ders.: Georgius Agricola und der böhmische Bergbau seiner Zeit. In: Friedrich Naumann (Hrsg.): Georgius Agricola. 500 Jahre. Basel u. a. 1994, S. 35–49; Klaus Freymann: Lazarus Ercker und der Bericht über das „Kuttenberger Schmelzwerk“. In: Ebd., S. 275–283. 44  Michaela Neudertová [= Michaela Hrubá] / Petr Hrubý (Hrsg.): Gotické sochařství a malířství v severozápadních Čechách [Gotische Skulptur und Malerei in Nordwestböhmen]. Ústí nad Labem 1999; dies. (Hrsg.): Renesanční sochařství a malířství v severozápadních Čechách [Skulptur und Malerei der Renaissance in Nordwestböhmen]. Ústí nad Labem 2001; Jaromír Homolka / Michaela Hrubá / Petr Hrubý / Michaela Ottová (Hrsg.): Gotické umění v severních Čechách a jeho historické souvislosti I [Gotische Kunst in Nordböhmen und ihr historischer Kontext I]. Ústí nad Labem 2002; dies.: Gotické umění v severních Čechách a jeho historické souvislosti II [Gotische Kunst in Nordböhmen und ihr historischer Kontext II]. Ústí nad Labem 2003; zuletzt Michaela Hrubá / Jan Royt: Nördböhmische Gotik. Neue Erkenntnisse zur künstlerisch-historischen Entwicklung. In: Řezník (Hrsg.): Grenzraum und Transfer (wie Anm. 3), S. 165–174; Matthias Donath: Bauen ohne Grenzen. Architekturtransfer zwischen Sachsen und Böhmen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Thieme / Tresp / Finger (Hrsg.): Eger 1459 (wie Anm. 32), S. 390–403. Vgl. auch den Beitrag von Martina Hrubá, Táňa Nejezchlebová und Michaela Ottová in diesem Band, S. 53–66. 45  Martina Schattkowsky (Hrsg.): Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Leipzig 2008; Andrea Diet-

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Akteure des Kulturtransfers und damit möglicherweise als Träger kultureller Regionsbildung in der Frühneuzeit betrachtet, doch auch mit Blick auf die miteinander verknüpften sächsischen und böhmischen Handlungslogiken ihres politischen Wirkens analysiert werden. 6.  Bei den Themen „Migration“, „Grenze“ oder „Adel“ zeigt sich die Abkehr von der klassischen Beziehungsgeschichte und Bilateralität sehr deutlich. Bilaterale Relationen, die sich auf politische Beziehungen, Konflikte, Handel, kulturelle Kontakte hin orientieren, reichen nicht aus, um die Fülle und Komplexität sächsisch-böhmischer Verflechtungen zu erfassen. Dies würde ebenfalls für eine eng verstandene Transferperspektive gelten, in welcher der Transfer als eine Übertragung zwischen zwei Milieus im Sinne einer „Verbreitung“, „Übernahme“ oder „Nachahmung“ verstanden würde. So zeigt sich bei dem Agieren der Vertreter von adligen Familien aus dem wettinisch-sächsischen Raum in Böhmen (und teilweise, wie bei den Dohnas, nicht nur dort), dass der Aufbau ihres dominialen Besitzes teilweise nur mit Bezug auf Situationen, Konfliktlagen und Handlungslogiken im wettinischen Herrschaftsraum erklärt werden kann – und umgekehrt. Dabei sind verschiedene Motivationen seitens der adligen Akteure, der wettinischen und der böhmischen Herrscher sowie die jeweils konkreten historischen und situativen Konstellationen zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ist es dann beziehungsgeschichtlich nur sehr begrenzt möglich, etwa den Kulturtransfer und die kulturelle oder ökonomische Regionsbildung zu erklären oder die Herausbildung „grenzüberschreitender“ Räume mit ihrer relativ markanten Kommunikations- und Mobilitätsverdichtung zu interpretieren. Dies gilt auch für die Fragen der Wahrnehmungen, der Diskurse, der Erinnerung, und selbst der Stereotype, die alle eng an Identität und Alterität gebunden sind. Sie sind zwar relational, aber nur zum geringen Teil beziehungshistorisch erfassbar. Hier nun tritt an die Stelle der Beziehungsgeschichte die Untersuchung vieldimensionaler, polyvalenter sächsisch-böhmischer Verflechtungen. Eine Verflechtungsperspektive ermöglicht es, neben der Geschichte der Beziehungen das Zusammenfließen und Ineinandergreifen der böhmischen und der sächsischen sowie vieler weiterer Entitäten zum Ausgangspunkt der „sächrich / Birgit Finger / Lutz Hennig: Adel ohne Grenzen. Die Herren von Bünau in Sachsen und Böhmen. Dößel 2006. Ein Tagungsband zur der im Juni 2012 in Waldenburg organisierten Konferenz zur Familie von Schönburg ist in Vorbereitung. Bei der Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) Dresden und dem Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden für November 2013 eine Tagung über „Adlige Nachbarn. Adel im sächsisch-böhmischen Grenzraum in Spätmittelalter und Frühneuzeit aus beziehungsgeschichtlicher Perspektive“ vorbereitet. Vgl. auch den Beitrag von Martina Schattkowsky in diesem Band, S. 35–52.



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sisch-böhmischen“ Geschichte zu machen.46 Entsprechend gilt es etwa bei dem Transferthema nicht „nur“ nach Akteuren, Trägern, Rezipienten, nach Zeiten, Richtungen und „transferierten Gütern“ zu fragen, sondern sich auf die „Übersetzung“ im Zielfeld zu konzentrieren, also darauf, welche Funktionalitäten, Kontexte, Bedeutungen und Logiken die „Transfergüter“ erhalten.47 Dass bei einer solchen Verflechtungsperspektive die transnationalen bzw. transregionalen Ansätze ebenso gut zur Geltung kommen können wie die im sächsisch-böhmischen Kontext eher zurückhaltend angewandte historische Komparatistik,48 liegt bei alledem wohl auf der Hand.

46  Die Vorstellung, die Verflechtung könnte in ihrer Komplexität und Totalität erfasst werden, ist freilich zu idealistisch. Vgl. aus der mittlerweile umfangreichen Konzept- und Diskussionsliteratur zu der (notwendigerweise unscharf zu definierenden) Verflechtungsgeschichte sowie der inzwischen bereits klassischen sogenannten histoire croissée einführend Michael Werner / Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636; dies. (Hrsg.): De la comparaison à l’histoire croisée. Paris 2004; dies.: Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity. In: History and Theory 45 (2006), S. 30–50. Für den ostmitteleuropäischen Raum siehe bes. Philipp Ther: Deutsche Geschichte als transnationale Geschichte. Überlegungen zu einer Histoire Croisée Deutschlands und Ostmitteleuropas. In: Comparativ 13 (2003), S. 155–180; ders.: Beyond the Nation. The relational Basis of a Comparative History of Germany and Europe. In: Central European History 36 (2003), S. 45–73. 47  Vgl. – neben Schmale: Historische Komparatistik und Kulturtransfer (wie Anm. 27) – jetzt auch ders.: Erkenntnisinteressen der Kulturtransferforschung. In: ders. (Hrsg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt am Main / New York, NY 2006, S. 23–41; ders.: Kulturtransfer und der Hypertext der Geschichte. In: Helga Mitterbauer (Hrsg.): Ent-„grenzte“ Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005, S. 215–226. 48  Ein Paradebeispiel aus der jüngeren Vergangenheit bildet vor allem die Arbeit von Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien / München 2006, in der die jeweils etwas anders positionierten Opernhäuser in Dresden, Prag und Lemberg im 19. Jahrhundert Gegenstand des Vergleichs sind, dabei aber auch ihre gegenseitigen Beziehungen, Transferleistungen, Fragen der Wahrnehmung etc. berücksichtigt werden. Vgl. auch die tschechische Übersetzung: ders.: Národní divadlo v  kontextu evropských operních dějin. Od založení do první světové války. Z  němčiny přel. Jana Vymazalová. Praha 2008. Es ließen sich noch einige weitere Beispiele nennen. Eine Abschlussarbeit über das lokale Pressewesen des 19. Jahrhunderts in Chemnitz und Liberec (Reichenberg), die am Seminar für Vergleichende Geschichte an der Karlsuniversität Prag eingereicht wurde, blieb leider unveröffentlicht. Vgl. Michaela Onderušová: Národní, státní a regionální identita. Historická sonda na příkladu Saské Kamenice a Liberce. Dipl. práce. [Nationale, staatliche und regionale Identität. Eine historische Sonde am Beispiel von Chemnitz und Liberec. Diplomarbeit]. Praha 2002.

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III. Der hier vorgelegte Band nun präsentiert die Ergebnisse der Plauener Tagung von 2012 und diskutiert einige aktuelle Themenfelder der sächsischböhmischen Geschichte unter zwei leitenden Gesichtspunkten: Auf der einen Seite wurden Felder betrachtet, die zu den Dominanten der aktuellen historischen Forschungen im sächsisch-böhmischen Kontext gehören. Auf der anderen Seite stehen solche Themen im Mittelpunkt, die scheinbar (noch) etwas abseits liegen, gleichwohl aber neue Sichtweisen zu eröffnen vermögen. Es handelt sich damit nicht um eine repräsentative Übersicht oder Bilanz zu Forschungen und Themen der sächsisch-böhmischen Geschichte. Der Band weist entsprechend vier thematische Schwerpunkte auf. Zunächst werden die frühneuzeitlichen Verflechtungen und Aspekte des Kulturtransfers angesprochen. Martina Schattkowsky (Dresden) orientiert sich auf adlige Herrschaftspraxis zwischen Böhmen und Sachsen, wobei sie Vertreter der in beiden Ländern tätigen Familie von Bünau unter die Lupe nimmt und nach deren Handlungslogiken als Gutsbesitzer und Obrigkeiten in beiden Ländern fragt.49 Michaela Hrubá, Táňa Nejezchlebová und Michaela Ottová (Ústí nad Labem) vermitteln dagegen die Forschungen zur „Sächsischen Renaissance“ in Nordwestböhmen, so dass die Rolle des Adels als Akteur und Träger des transregionalen Kulturtransfers zur Diskussion gestellt werden kann. Eine zweite Gruppe von Beiträgen präsentiert aktuelle Untersuchungen zum 19. Jahrhundert. Lutz Vogel (Dresden) beschäftigt sich analytisch mit der Arbeitsmigration von Böhmen nach Sachsen, wobei Fragen der relativ kleinräumigen, regionalen Mobilität und der entsprechenden Inklusionsund Exklusionsprozesse aus empirischer und konzeptueller Sicht kommentiert werden. Der Beitrag von Martin Munke (Chemnitz) steht für eine in letzter Zeit zunehmende Strömung in der Beschäftigung mit kulturhistorischer Interpretation „deutscher“ Reiseberichte über Böhmen und Österreich, wobei hier die sonst in diesem Quellenkontext eher zurückhaltend vertretene beziehungsgeschichtliche Perspektive angewandt wird. Markéta Tautrmanová (Teplice) versucht, teilweise an Forschungen im Rahmen ihrer Dissertation anknüpfend,50 mit Blick auf die Theater in Prag und Dres49  Bei der Plauener Tagung knüpfte chronologisch Silke Marburg an, die sich mit einem Vergleich der sächsischen und böhmischen Adelslandschaft beschäftigte. Für die nicht im Tagungsband ausgearbeiteten Referate vgl. knapp Constantin Eckner / Martin Munke: Sächsisch-tschechische Beziehungen im Wandel der Zeit – eine Bestandsaufnahme. 16.02.2012–18.02.2012, Plauen. In: H-Soz-u-Kult, 15.03.2012. Online unter: http: /  / hsozkult.geschichte.hu-berlin.de / tagungsberichte / id=4146 [15.05.2013]. 50  Markéta Bartos Tautrmanová: Eine Arena deutsch-tschechischer Kultur. Das Prager Ständetheater 1846–1862. Berlin / Münster 2012.



Die Forschungslandschaft der sächsisch-böhmischen Geschichte31

den die Kontexte des Vergleichs, der Beziehungsgeschichte und des Transfers zu kombinieren. Die sächsisch-böhmischen Verflechtungen im 20. Jahrhundert sind anhand von zwei Themenkomplexen zumindest kursorisch vertreten, wobei jedoch beide Beiträge signifikante Forschungsfelder der letzten Jahre aufzeigen: Anna Habánová (Liberec) geht auf das Ausstellungsprojekt der „Sudetendeutschen Kunst“ und seine Station in Dresden im Jahr 1938 ein. Rudolf Boch (Chemnitz) kommentiert die Forschungsergebnisse des von ihm koordinierten Projektes zum Uranabbau im sächsisch-böhmischen Erzgebirge nach dem Zweiten Weltkrieg,51 wobei er breit angelegte internationale Vergleiche einschließt und sich damit einer globalhistorischen Perspektive nähert. Eine weitere Gruppe von Beiträgen orientierte sich auf die Sonderposition der Lausitz im Kontext der regionalen und transregionalen Verflechtungen. George Indruszewski (Roskilde) offeriert diverse, transdisziplinäre methodische und konzeptuelle Herangehensweisen an das Thema der mittelalterlichen „historischen Landschaft“. Petr Kaleta (Prag) kommentiert ausführlich und in Übersichtsform die Fülle der sorbisch-tschechischen Kontakte und Verflechtungen in der Moderne.52 Zwei kleinere Beiträge am Ende dieses Bandes bieten Berichte über konkrete Tätigkeitsformen im Kontext der sächsisch-tschechischen Kontakte in der Historiographie und der „Geschichtspraxis“. Marie Ryantová (České Budějovice) informiert eingehend über die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen tschechischen und sächsischen Archivarverbänden. Ondřej Matějka (Prag) berichtet über die bereits erwähnten Aktivitäten des Vereins „Antikomplex“ im tschechisch-sächsischen Grenzraum, die dem Bereich der „angewandten Geschichte“53 zugerechnet werden können, und skizziert dabei den zentralen didaktischen Ansatz. Dieses zunächst etwas impressionistisch anmutende Landschaftsbild der Forschungen zur sächsisch-böhmischen Geschichte vermittelt im Gesamt51  Rudolf Boch / Rainer Karlsch (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. 2  Bde. Berlin 2011. 52  Diese Perspektive ergänzte bei der Tagung in Plauen Ewelina Wanat (Chemnitz) um eine Darstellung der tschechischen und polnischen Strategien mit Bezug auf die Lausitz in der politischen Situation nach beiden Weltkriegen. 53  Robert Traba: Angewandte Geschichte, Gedächtnis und Landschaft als Träger historischer Forschung und Bildung. In: Elżbieta Traba / Janusz Pilecki / Magdalena Kardach (Hrsg.): Groß Purden 1900–2006. Das Portrait eines Dorfes. Olsztyn 2008, S. 7–20.  Juliane Tomann et al.: Diskussion Angewandte Geschichte: Ein neuer Ansatz?, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.02.2011. Online unter: http: /  /  docupedia.de / zg / Diskussion_Angewandte_Geschichte?oldid=84597 [18.05.2013].

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blick durchaus einen Teil der signifikanten Fragestellungen und aktuellen Zugänge. Es ist sicherlich eine Momentaufnahme; ihr Ziel ist es, zu einer intensiveren, sowohl konzeptuellen und methodischen als auch empirischen Auseinandersetzung mit historischen Perspektiven einzuladen, die aus moderner Sicht als „grenzüberschreitend“ (übrigens nicht nur im geographischen Sinne) erscheinen, die aber bei genauerem Blick nicht immer konstitutiv mit „Grenze“ und „Grenzüberschreitung“ verbunden sind. Das große Thema der Geschichtsräume erhält hier eine spezifisch sächsisch-böhmische, immer mit dem jeweiligen Problem- und Fachkontext kombinierte Dimension.

II. Sachsen und Böhmen im Mittelalter und in der Frühneuzeit

Adlige Herrschaftspraxis in Sachsen und Böhmen in der Frühneuzeit Von Martina Schattkowsky (Dresden) I. Einleitung Anhand von Fallstudien zu einer Adelsfamilie aus dem sächsisch-böhmischen Grenzraum geraten nachfolgend Praktiken adliger Grundbesitzer in den Blick, die in ländlichen Sozialgebilden unterschiedlich strukturierter Herrschaftsräume agierten.1 Es geht dabei um das weit verzweigte Adelsgeschlecht von Bünau.2 Am Beispiel eines Rittergutsbesitzers aus dieser Familie sollen Fragen adliger Herrschaftsausübung an der Grenze zwischen Sachsen und Böhmen thematisiert werden.3 Aus agrargeschichtlicher Perspektive gewinnt diese Problematik vor allem dadurch an Brisanz, dass es sich bei den Bünaus um eine grenzüberschreitende Adelsfamilie handelte, die, aus Sachsen stammend, Herrschaft auf ihren in der Reformationszeit erworbenen Rittergütern in Böhmen ausübte, dann jedoch nach 1627 im Zuge des Rekatholisierungsmandats Kaiser Ferdinands II. ihren böhmischen Besitz verlassen musste und sich schließlich erneut in Kursachsen niederließ. Damit agierten die Bünau’schen Grundherren in Gebieten mit unterschiedlichen Agrarverfassungen, die im Grenzraum von Böhmen und Sachsen aufeinandertrafen. Die Rede ist von den beiden Agrarverfassungstypen Gutsherrschaft und Grundherrschaft. Während man Kursachsen spätestens seit Friedrich Lütge zum Gebiet der 1  Der Beitrag basiert auf bereits an anderer Stelle veröffentlichten Ergebnissen, vgl. Anm. 3. Seine erneute Publikation in leicht überarbeiteter Form im vorliegenden Band erfolgt auf Anregung der Herausgeber. 2  Vgl. Martina Schattkowsky (Hrsg.): Die Familie von Bünau. Adelsherrschaft in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Leipzig 2008. 3  Vgl. dazu auch die dem vorliegenden Beitrag zu Grunde liegenden Untersuchungen: dies.: Grenzüberschreitungen. Fallstudien zu Herrschaftserfahrungen der Familie von Bünau im 17. Jahrhundert. In: Ebd., S. 275–294; weiterhin dies.: Herrschaftspraktiken des frühneuzeitlichen Adels in Kursachsen. Überlegungen zur Grundherrschaft-Gutsherrschaft-Debatte. In: Ernst Münch / Mario Niemann / Wolfgang E. Wagner (Hrsg.): Land – Stadt – Universität. Historische Lebensräume von Ständen, Schichten und Personen. Hamburg 2010, S. 155–172.

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mitteldeutschen Grundherrschaft zählt,4 wurde Böhmen traditionell dem Typus der in ostelbischen sowie ost- und südosteuropäischen Gebieten vorherrschenden Gutsherrschaft zugerechnet.5 Das Begriffspaar „Gutsherrschaft – Grundherrschaft“ bestimmt seit mehr als einhundert Jahren die Diskussion der Agrargeschichtsforschung:6 auf der einen Seite steht – stark verkürzt natürlich – die Gutsherrschaft mit konzentrierten Herrschaftsrechten, mit umfangreichen herrschaftlichen Eigenwirtschaften und oft willkürlichen Herrschaftsformen des Adels, verbunden mit bäuerlicher Schollenbindung und Leibeigenschaft, mit ungemessenen Fronen und Bauernlegen; auf der anderen Seite rangiert die Grundherrschaft mit der Dominanz von Bauernland, mit intakter handlungsfähiger Gemeinde und hohem bäuerlichen Widerstandspotenzial, mit günstigen Besitzrechten und persönlicher Freiheit der Bauern sowie mit vorherrschenden Naturalund Geldzinsen. Die sächsisch-böhmische Grenze tritt aus dem Blickwinkel der traditionellen Agrargeschichtsforschung vor allem als Trennlinie zwischen diesen beiden Agrarverfassungstypen hervor. Völlig zu Recht hat sich mittlerweile die Forschung zumeist von einer starren Grenzziehung zwischen „Gutsherrschaft“ und „Grundherrschaft“ verabschiedet und verweist auf die Gemengelage verschiedener Agrarverfassungen auf beiden Seiten.7 Dennoch leistet dieses Begriffspaar noch immer seine Dienste, allerdings nicht mehr 4  Vgl. Friedrich Lütge: Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung. 2., stark erw. Aufl. Stuttgart 1957. 5  Vgl. etwa Hartmut Harnisch: Probleme einer Periodisierung und regionalen Typisierung der Gutsherrschaft im mitteleuropäischen Raum. In: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 10 (1986), S. 251–274; sowie zu dieser Debatte aus neuerer Sicht Markus Cerman: Untertanen, Herrschaft und Staat in der Frühen Neuzeit. Ansatzpunkte einer Diskussion. In: ders. / Robert Luft (Hrsg.): Untertanen, Herrschaft und Staat in der Frühen Neuzeit. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit. München 2005, S. 1–27. 6  Zusammenfassend dazu Heinrich Kaak: Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum. Berlin / New York, NY 1991; Werner Rösener: Einführung in die Agrargeschichte. Darmstadt 1997, besonders S. 106 ff.; ders.: Art. „Agrarverfassung“. In: Albrecht Cordes / Heiner Lück / Dieter Werkmüller (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarb. und erw. Aufl. 1. Lieferung. Berlin 2004, Sp. 85–105. 7  Vgl. Kaak: Gutsherrschaft (wie Anm. 6), S. 369; Jan Peters: Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive. In: ders. (Hrsg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeit­ licher Agrargesellschaften. München 1995, S. 3–21; ders.: Gutsherrschaft. Ein Jahrzehnt Potsdamer Forschungserfahrungen. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53 (2005), H.  1, S. 77–85; Ernst Münch: Art. „Gutsherrschaft“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4: Friede – Gutsherrschaft. Stuttgart / Weimar 2006, Sp. 1198–1204.



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im Sinne des alten Agrardualismus, sondern eher als idealtypisches Hilfskonstrukt und als Arbeitsbegriff. Denn bei aller Kritik an der Begrifflichkeit lassen sich strukturelle Unterschiede zwischen den Agrarlandschaften nicht übersehen.8 Bezogen auf Kursachsen und Böhmen haben selbst Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts die unterschiedlichen Rechtsverhältnisse und die Abgabengefälle diesseits und jenseits der Grenze durchaus wahrgenommen: So beschwerten sich etwa 1652 die Rittergutsbauern der Herrschaft Neuschönfels bei Zwickau beim Kurfürsten über ihren Grundherrn, dieser wolle sie „gleich denen Böhmen und Wenden zu Leibeigenen und Sklaven machen“.9 Waren dies lediglich die üblichen taktischen Argumentationen gegenüber der Obrigkeit? Oder widerspiegelte sich darin die Wahrnehmung von handfesten rechtlichen und wirtschaft­lichen Ungleichheiten? Die Beantwortung dieser Frage am Beispiel von Böhmen und Sachsen zwingt zu genauem Hinsehen. So wie einerseits Böhmen gleichermaßen grundherrschaftliche Inseln aufwies,10 gilt andererseits Kursachsen – ohne die Oberlausitz – als Übergangsgebiet zwischen gutsherrlichem Osten und grundherrlichem Westen.11 Das heißt: Auch in Sachsen existierten zahlreiche Rittergüter mit herrschaftlichen Eigenwirtschaften, auch dort gab es deutliche Tendenzen zum Ausbau dieser Güter auf Kosten von Bauernland und zur Intensivierung adliger Zwangsmittel.12 Dennoch dominierten im Kursächsischen selbst im 17. und 18. Jahrhundert persönliche Freiheit der 8  Vgl. dazu Martina Schattkowsky: Staatliche Obrigkeit und lokale Adelsherrschaft in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu einem sächsisch-böhmischen Vergleich. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 144 (2008) [erschienen 2010], S. 21–36. 9  Zitiert nach Rudolf Roland Müller: Die Rechtsbeziehungen zwischen den Rittergutsherren und den Bauern der Herrschaft Neuschönfels in Sachsen vom Jahre 1548 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1937, S. 133. 10  Zur notwendigen Differenzierung vgl. Jaroslav Čechura: Die Gutswirtschaft des Adels in Böhmen in der Epoche vor der Schlacht am Weißen Berg. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 36 (1995), S. 1–18; ders.: Adelige Grundherren als Unternehmer. Zur Struktur südböhmischer Dominien vor 1620. München 2000, bes. S. 11 ff. 11  Vgl. Friedrich Lütge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 188. 12  Vgl. Karlheinz Blaschke: Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 82 (1965), S. 223–287. Wiederabgedruckt in: ders.: Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sachsens. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Uwe Schirmer und André Thieme. Leipzig 2002, S. 127–185, bes. S. 153 ff.; Gerhard Heitz: Agrarstruktur, bäuerlicher Widerstand, Klassenkampf im 17. und 18. Jahrhundert. In: Winfried Schulze (Hrsg.): Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Stuttgart 1983, S. 149–165, hier: S. 154 ff.

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Bauern, freie Vererblichkeit ihrer Güter sowie auf den Besitz und nicht auf die Person bezogene Grundlasten. Noch immer wurden dort die Frondienste gewöhnlich in Tagen pro Jahr und nicht in Tagen pro Woche gezählt – mit erheblichen Auswirkungen auf die bäuerliche Betriebsstruktur.13 Ohne die Frage nach der unterschiedlichen Prägekraft von Agrarstrukturen hier erschöpfend behandeln zu können, sollen einige Beobachtungen dazu am Beispiel eines Herrn von Bünau aus der Mitte des 17. Jahrhunderts eingebracht werden – eines von Bünau wohlgemerkt, der auf beiden Seiten der Grenze als Rittergutsbesitzer in Aktion trat. II. Die Familie von Bünau in Sachsen und Böhmen Das Bünau’sche Adelsgeschlecht gehörte zweifellos schon früh zu jener Machtelite, die sich durch eine Kombination aus Besitz, Ämtertätigkeit und Selbstverständnis aus der meißnisch-sächsischen Adelsgesellschaft heraushob.14 Politisches Engagement zunächst für die Bischöfe von Naumburg und später für die Wettiner sowie eine erfolgreiche Heirats- und Erwerbspolitik verhalfen den Bünaus zu einem schnellen sozialen Aufstieg.15 Das in 15 Haupt- und 28 Nebenlinien verzweigte Geschlecht breitete sich im 15. und 16. Jahrhundert schnell aus und sicherte sich Besitzungen nicht nur in Thüringen und Sachsen, sondern auch in der Oberlausitz und in Böhmen. Ein Schwerpunkt war dabei das Osterzgebirge. Auf diese Weise konnte die Familie im sächsisch-böhmischen Grenzraum umfangreiche Herrschaftskomplexe errichten. Ein Erfolgsrezept der Bünaus war zweifellos die konsequente Disziplinierung des Familienverbandes. Bereits früh organisierten sie Geschlechtertage, auf denen sie Familienordnungen mit streng kontrollierten Vorschriften erließen,16 die teilweise bis heute nachwirken: Nach einer im Jahr 1517 13  Vgl. Friedrich Lütge: Die Belastung der Bauern in Mitteldeutschland mit Frondiensten und Abgaben im 16.–18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 140 (1934), H.  1, S. 166–314, hier: S. 188 ff. 14  Vgl. Martina Schattkowsky: Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen. Einführung. In: dies. (Hrsg.): Die Familie von Bünau (wie Anm. 2), S. 13–30, hier: S. 20 f. 15  Vgl. Joachim Schneider: Die Bünaus in der wettinischen Adelslandschaft des Spätmittelalters. Gesamtbelehnung und Wappenführung als Elemente sozialer Strategien zwischen Kernfamilie und Gesamtgeschlecht. In: Ebd., S. 167–190. 16  Der Bünau’sche „Erbeinungsvertrag“ von 1517 stand am Beginn einer ganzen Reihe von Geschlechtsordnungen des 16. Jahrhunderts. Vgl. Josef Matzerath: „dem gantzen Geschlechte zum besten“. Die Familienverträge des sächsischen Adels vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Katrin Keller / Josef Matzerath (Hrsg.): Geschichte des sächsischen Adels. Köln / Weimar / Wien 1997, S. 291–319, hier: S. 298.



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getroffenen Festlegung durften für die männlichen Nachkommen keine anderen Namen als Heinrich, Rudolph (Rudolf) und Günther vergeben werden, was genealogische Untersuchungen stets vor enorme Herausforderungen stellt. Der Hauptakteur dieses Beitrags stammt aus Böhmen: Günther von Bünau, der 1604 auf Schloss Tetschen (Děčín), dem Stammsitz des böhmischen Familienzweigs geboren wurde. Günther, seit 1626 auch Geschlechtsältester der Bünaus, war Urenkel des katholisch gesinnten Rudolfs II. (1465–1543), dem einst die im albertinischen Sachsen gelegene Grundherrschaft Weesenstein gehörte. Von dort aus erwarb Rudolf 1534 die böhmische Herrschaft Tetschen, um sich dort angesichts zunehmender Verbreitung des Luthertums in Sachsen niederzulassen.17 Auch andere Bünau’sche Familienmitglieder griffen nach Böhmen aus. Noch vor Rudolf II. hatte bereits dessen älterer Bruder Heinrich († 1528) die Burg Blankenstein (Blansko) und Eulau (Jílové) in seinen Besitz bringen können. Zum ansehnlichen Blankensteiner Besitzkomplex gehörten damals Schloss Blankenstein mit drei Vorwerken und 15 Dörfern. Nachdem Heinrich ebenso wie sein Bruder und Nachfolger Günther († 1534) früh verstorben war, gelangte Blankenstein nach mehreren Besitzerwechseln innerhalb der Familie schließlich an die Tetschener Bünau-Linie. Günther von Bünau (um 1522–1576), der Großvater unseres Protagonisten, führte in den 1550er Jahren in seinem Gebiet den lutherischen Glauben ein und gilt geradezu als „Reformator Tetschens“.18 In seinem Wirken für die lutherische Reformation nutzte der Herr auf Tetschen, der seit 1540 zugleich im Besitz des sächsischen Guts Lauenstein war, auch die Vorteile grenzüberschreitender Beziehungen: So brachte er nicht allein protestantische Pfarrer aus Sachsen nach Böhmen, sondern richtete in seinen Dörfern Schulen ein und bemühte sich ebenfalls um Lehrer aus dem Sächsischen, und zwar aus dem Umfeld der sächsischen Fürstenschulen Schulpforte, Meißen und Grimma.19 Außerdem gibt es zahlreiche Hinweise auf seine erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit. Er bemühte sich um eine effiziente Verwaltung seiner Rittergutswirtschaft und war insbesondere an einer Verbesserung der Obstkultur interessiert. Günthers Sohn, Heinrich d. Ä. (1555–1614), folgte in seinem Engagement auf religiösem wie wirtschaftlichem Gebiet voll dem Vorbild seines 17  Über die Geschichte der Familie von Bünau in Böhmen vgl. noch immer Johann Hrdy: Die Bünauer in Böhmen. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 42 (1904), S. 346–377. 18  Vgl. Rudolf Wolkan: Studien zur Reformationsgeschichte Nordböhmens. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 4 (1883), S. 145–167, hier: S. 152–158. 19  Vgl. ebd., S. 155 f.

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Vaters. Was seinen Umgang mit den Untertanen anbelangte, war er der Überlieferung nach allerdings eher hart und unnachgiebig, was vielfach zu Auseinandersetzungen führte.20 Seit 1622 war Heinrichs Sohn Günther Erb- und Lehnherr von Blankenstein – allerdings nur für kurze Zeit: Nach dem bereits genannten Religionsedikt Kaiser Ferdinands II. von 1627 blieben lediglich sechs Monate Bedenkzeit – später noch um weitere sechs Monate verlängert –, um entweder zum Katholizismus überzutreten oder zu emigrieren. Da ein Konfessionswechsel ausschied, mussten sich die Bünaus nach einem Käufer für ihre Besitzungen Tetschen, Blankenstein, Eulau, Schönstein (Sonštejn) und Bünauburg (Bynov) umsehen.21 Am 2. August 1628 trat Günther von Bü­nau sein Gut und Schloss Blankenstein mit den Vorwerken und 15 Dörfern, einschließlich Elbezoll, Mühlen und Wäldern für 66.000 rheinische Gulden an den Freiherrn Christoph Simon von Thun ab.22 Von der Kaufsumme erhielt Günther allerdings zunächst nur 30.000 Gulden, der Rest sollte zu bestimmten Terminen bis zum Jahr 1632 gezahlt werden. Um 1628 jedenfalls verließen die Familien des böhmischen Bünau-Zweigs ihre Heimat und siedelten sich in Sachsen an. III. Neubeginn in Sachsen Von Blankenstein aus begab sich Günther zunächst zu seinem Vetter nach Lauenstein im Osterzgebirge.23 So offenbarten sich gerade in Krisenzeiten einmal mehr die Vorzüge der weit reichenden Bünau’schen Netzwerke auf beiden Seiten der sächsisch-böhmischen Grenze. Noch sind unsere Kenntnisse über die verwandtschaftlichen Beziehungsgeflechte und die grenzübergreifende Kommunikation des Adels im Grenzraum äußerst bruchstückhaft. Fest steht, dass die in Böhmen ansässigen Bünaus ihre Verbindungen nach Sachsen auf vielfältige Weise aufrechterhalten hatten. Dies zeigt sich nicht allein in Eheschließungen, die bevorzugt mit sächsischen Adelsgeschlechtern erfolgten, allen voran mit den Familien von Schönberg, Salhausen und Wolkan: Studien zur Reformationsgeschichte (wie Anm. 18), S. 162 f. Johann Sigmund von Thun schloss im Namen seines Vetters, des ­Freiherrn Christoph Simon von Thun, einen erst 1634 voll rechtsgültigen Kaufvertrag ab. Die Thun’sche Herrschaft Tetschen zählte noch im 19. Jahrhundert zu den ertragreichsten in Böhmen. Vgl. Milan Myška: Der Adel der böhmischen Länder. Seine wirtschaftliche Basis und ihre Entwicklung. In: Armgard von Reden-Dohna /  Ralph Melville (Hrsg.): Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters. 1780–1860. Stuttgart 1988, S. 169–189, hier: S. 176. 22  Vgl. Hrdy: Die Bünauer in Böhmen (wie Anm. 17), S. 356. 23  Vgl. Heinrich XV. von Bünau: Die Exulanten des Geschlechtes von Bünau. In: Mitteilungen des Roland 23 (1938), S. 49 f., hier: S. 50. 20  Vgl.

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Schleinitz.24 Auch politische Kontakte nach Sachsen und Beziehungen zum Dresdner Hof lassen sich nach dem Erwerb des Inkolats und der damit verbundenen Aufnahme in den Ritter- und Herrenstand des Königreichs Böhmen nachweisen.25 Von Lauenstein aus versuchte Günther von Bünau in der Folgezeit, seine Angelegenheiten in Böhmen zu regeln, zumal ihm die Familie von Thun noch immer fast die Hälfte der Kaufgelder für Gut Blankenstein schuldig geblieben war. Als nach der für die Protestanten siegreichen Schlacht von Breitenfeld im September 1631 und mit dem Kriegszug des sächsischen Heeres viele Emigranten nach Böhmen zurückkehrten, versuchte auch Günther von Bünau – mit höchst eigenwilligen Mitteln – seine einstigen Güter wieder „in Besitz“ zu nehmen: Er beauftragte einen seiner Vetter, Blankenstein zu besetzen, ließ es plündern und das Vieh nach Lauenstein treiben.26 Für diese Eigenmächtigkeit wurde Günther bei der so genannten Friedländer Konfiskation 1634 mit dem völligen Verlust seines Vermögens bestraft.27 Wie viele der böhmischen Exulanten musste sich Günther von Bünau in Sachsen zunächst auf eher bescheidene Lebensumstände einstellen. So hielt er sich 1633 in Dresden auf und wohnte dort am Altmarkt bei einem gewissen Salomo Voigt.28 Fällige Zahlungen beglich er aus seinem Sold, denn er stand mittlerweile in militärischen Diensten bei den Schweden und nahm 1634 an der Eroberung Zittaus teil.29 Nach dem Prager Frieden von 1635 wechselte Günther dann zum kurfürstlichen Heer – ein Wechsel, der sich auszahlen sollte, denn der Kaiser begnadigte ihn 1636 auf Fürsprache des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1585–1656).30 Fünf Jahre später 24  Vgl. generell zu den Heiratsverbindungen des im Grenzraum ansässigen Adels auch Václav Bůžek: Der Adel im böhmisch-sächsischen Grenzraum zu Beginn der Frühen Neuzeit. In: Schattkowsky (Hrsg.): Die Familie von Bünau (wie Anm. 2), S. 73–94. 25  Der bereits erwähnte Günther von Bünau auf Tetschen und Lauenstein (um 1522–1576) gab beispielsweise seine Kinder zur Erziehung an den Dresdner Hof. Vgl. Hrdy: Die Bünauer in Böhmen (wie Anm. 17), S. 367. 26  Vgl. Franz Focke: Aus dem ältesten Geschichts-Gebiete Deutsch-Böhmens. Eine geschichtliche Durchforschung des Elbe- und Eulau-Thales sammt Umgebung (an der sächsischen Gränze) von frühester Zeit bis in die Gegenwart. 2 Bde. Wermsdorf 1879, S. 217. 27  Vgl. Hrdy: Die Bünauer in Böhmen (wie Anm. 17), S. 357. 28  Vgl. Rudolf Molwitz: Günther von Bünau. Zur Geschichte der Pillnitzer Bünaus, in: Christus-Bote. Die Heimatkirche. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Hosterwitz 1938 / 39, hier: Dezember 1939, S. 144. 29  Vgl. ebd. 30  Vgl. Richard Schmertosch von Riesenthal: Die böhmischen Exulanten unter der kursächsischen Regierung in Dresden. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 22 (1901), S. 291–343, bes. S. 320.

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erhielt Günther sogar sein böhmisches Gut Blankenstein zurück, doch war er lediglich an einem finanziellen Erlös interessiert.31 Inzwischen hatten sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse ganz erheblich verbessert, mehr noch: Günther von Bünau war in Sachsen durch Heirat der Schritt zu einer überaus standesgemäßen Adelsexistenz gelungen. Wiederum mögen sich hierbei verwandtschaftliche Beziehungen als hilfreich erwiesen haben, wohnte doch damals ganz in der Nähe von Günthers Domizil am Dresdner Altmarkt die Witwe des Joachim von Loß (1576–1633) auf Pillnitz, ebenfalls eine geborene von Bünau, zusammen mit ihren Töchtern.32 Es ist nicht auszuschließen, dass Günther seine künftige Gattin Sophie Sibylle von Loß (1620–1640) dort kennen gelernt hat. Damit war der Grundstein gelegt, um wirtschaftlich und gesellschaftlich in Sachsen Fuß zu fassen. Sophie Sibylle von Loß stand nach dem Tod ihres Vaters unter der Vormundschaft ihres Onkels Nikolaus (Nickel) von Loß auf Reinhardsgrimma, der auch die Heiratsplanung übernahm.33 Er kündigte „wegen derizigen betrübten sorglichen vnd noch gefehrlichen Zeiten“ ein Hochzeitsfest „ohne sonderlich geprenge, vnd uberflüßiges ceremonien“ an und lud auch die kurfürstliche Familie ein bzw. bat um die Entsendung von Vertretern, zumal er davon ausging, dass der Kurfürst derzeit „mit vielen ganz wichtigen Regiment geschefften vnd Kriegs expeditionen beladen“ wäre.34 Zur Hochzeit von Günther und Sophie Sibylle, die 1636 im Haus der Familie von Loß in Dresden stattfand,35 schickte Kurfürst Johann Georg I. seinen Oberhofjägermeister und seine Schwester Sophie von Pommern.36 Vornehmes Konnubium war in diesem Fall der Schlüssel für einen bemerkenswerten gesellschaftlichen (Neu-)Aufstieg. Durch seine Eheschließung 31  Auf Günther von Bünaus verbesserte wirtschaftliche Situation verweist z. B. auch die Tatsache, dass er 1639 auf ein Haus in Leipzig 2.000 Reichstaler leihen konnte. Vgl. Molwitz: Günter von Bünau (wie Anm. 28), hier: Dezember 1939, S. 144. 32  Vgl. Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStA Dresden), 12579 Familiennachlass von Bünau, Familienregister, Nr. 1, No. 953, fol.  7. 33  Vgl. Ferdinand Ludwig Zacharias: Sammlung historisch-topographisch u. genealogischer Nachrichten über das Königl. Sächs. Cammerguth und Lust Schloß Pillnitz. [o. O.] 1826, S. 27; zur Vormundschaft vgl. SächsHStA Dresden, 10062 Amt Pirna, Nr. 2491. 34  Vgl. SächsHStA Dresden, 12881 Genealogica von Bünau, Bd. 1, Haus Tetschen 17. Jahrhundert, fol.  319. 35  Vgl. SächsHStA Dresden, 12579 Familiennachlass von Bünau, Familienregister, Nr. 1, No. 696, 2160. Hier fälschlicherweise das Heiratsjahr 1633. 36  Vgl. SächsHStA Dresden, 12881 Genealogica von Bünau, Bd. 1, Haus Tetschen 17. Jahrhundert, fol.  320.



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mit Sophie Sibylle verband sich Günther mit der damals hoch angesehenen Familie von Loß, die im 16. und 17. Jahrhundert durch Besitz und hohe politische Ämter zur Elite des sächsischen Adels zählte.37 Zudem war Günthers Ehefrau Sophie Sibylle Erbin eines bedeutenden Ritterguts. Bereits 1624 hatte Joachim von Loß, der keine männlichen Erben hinterließ, eine kurfürstliche Begnadigungsverschreibung erlangt, die ihm weitgehende Verfügungsrechte über das Pillnitzer Gut zubilligte.38 Als Joachim am 15.  Oktober 1633 starb, wurde sein Besitz laut Erbteilung von 1636 unter den drei Loß’schen Töchtern aufgeteilt: Sophie Sibylle erhielt das Rittergut und Dorf Pillnitz sowie weitere sechs Dörfer mit allem Zubehör im Wert von insgesamt 92.102 Gulden, 16 Groschen und 3 Pfennigen.39 Das Pillnitzer Gut gehörte seit 1569 zum Loß’schen Familienbesitz und war seither beträchtlich erweitert worden.40 So auch unter Joachim von Loß, der nach dem Tod seines Vaters Christoph (1548–1609) und nach einem Erbvergleich mit seinen Brüdern als Herr auf Pillnitz nachrückte.41 Doch erhöhte sich unter Loß’scher Herrschaft nicht allein der materielle Wert und Umfang des Pillnitzer Besitzes, sondern infolge einer regen Bautätigkeit auch das repräsentative Potenzial. Unter Joachims Vater, der ebenso wie sein Sohn als Geheimer Rat und Reichspfennigmeister hohe Ämter in Sachsen und im Reich bekleidete, entstand die Pillnitzer Schlosskirche, die 1596 geweiht wurde.42 Auch das Schloss selbst baute man in dieser Zeit um, etwa im Bereich der Hauptfront oder durch das Anfügen eines rückwärtigen Treppenturmes.43 Laut Anschlag aus dem Jahr 1578, wo die Schlossgebäude samt Scheunen und Ställen mit 1.000 Gulden taxiert wurden, muss es sich 37  Vgl. Martina Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich. Die Lebenswelt des kursächsischen Landadligen Christoph von Loß auf Schleinitz (1574– 1620), Leipzig 2007, S. 151–178. 38  Vgl.  August von Minckwitz: Geschichte von Pillnitz vom Jahre 1403 an. Dresden 1893, S. 9. 39  Vgl. ebd., S. 10; Hans-Günther Hartmann: Pillnitz. Schloss, Park und Dorf. Weimar 1981, S. 37. 40  Vgl. generell zur Geschichte des Pillnitzer Gutes Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 3–14; Alfred Meiche: Vom Fischerdorf zum Königsschloss. Ein Gang durch die Geschichte von Pillnitz. In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz 16 (1927), H.  1 / 2, S. 1–25, bes. S. 1–11; Hartmann: Pillnitz (wie Anm. 39), S. 26–33; Dieter Fischer: Die private Schlosskirche des Christoph von Loß im 16. und 17. Jahrhundert. In: Interessengemeinschaft Weinbergkirche Pillnitz e. V. (Hrsg.): Die Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“ in DresdenPillnitz. Dresden 1996, S. 9–16. 41  Vgl. Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 9 f.; Hartmann: Pillnitz (wie Anm. 39), S. 36 f. 42  Vgl. ebd., S. 30 f.; Fischer: Die private Schlosskirche (wie Anm. 40), S. 11. 43  Vgl. Hartmann: Pillnitz (wie Anm. 39), S. 30.

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damals jedoch noch um relativ bescheidene Bauten gehandelt haben: „Die Gebäude seind ziemlich, doch zu einer Bewohnung notturftig angerichtet, wie im Augenschein vorhanden“. Im kurfürstlichen Gegenanschlag heißt es sogar, die „Gebäude sind gar zu geringe und über 500 Gülden nicht würdig“.44 Dieses Bild hat sich allerdings unter dem Nachfolger Joachim von Loß maßgeblich verändert. Es erfolgten umfangreiche Um- und Ausbauten der Schlossgebäude, u. a. ließ Joachim um 1616 die noch offene Südostseite durch einen vierten Flügel schließen.45 Nach Quellenangaben war das „Wohnhaus“ „aus dem Grunde von Neuem steinern erbaut“ und umfasste 20 „große ansehnliche und kleine Gemach an Sälen, Stuben und Kammern, so nicht allein herrlich und wohl ausgebaut und gemalt, sondern auch der meiste Theil derselben mit eisernen Oefen und anderer Notturft versehen, auch sonsten allenthalben also bequemt und zugerichtet, daß man bei einer großen Zusammenkunfft sich darinnen wohl behelfen und viel Leute unterbringen kann“.46 Zum Gut gehörten darüber hinaus zwei Lusthäuser; von einem dieser Gebäude zeugt heute lediglich noch die Löwenkopfbastei am Pillnitzer Ufer. Mit Pillnitz gelangte folglich ein überaus repräsentativer Adelssitz an die Familie von Bünau. Nachdem Sophie Sibylle ihrem Ehemann Günther von Bünau ihr Erbgut bereits nach der Heirat übertragen hatte, wiederholte sie diese Schenkung kurz vor ihrem frühen Tod 1640 und vermachte ihm testamentarisch das Gut Pillnitz.47 Erben gingen aus dieser Ehe nicht hervor; die einzige Tochter Anna Sophia starb schon im Alter von sieben Wochen.48 Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau vermählte sich Günther mit Chris­ tiane Elisabeth von Löser, mit der er einen Sohn und fünf Töchter zeugte.49 Doch auch Christiane Elisabeth verstarb bereits 24-jährig und der Herr auf Pillnitz ging 1651 die Ehe mit der 17-jährigen Sara Magdalena von Schön44  Zitiert nach Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 15, Anm. 15. – Im Vergleich betrug der Taxwert für das Schleinitzer „Wohnhaus“ im Jahr 1575 immerhin 10.000 Gulden. Vgl. Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich (wie Anm. 37), S. 83. 45  Vgl. Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 15 f.; Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. H.  26: Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt (Land). Dresden 1904, S. 169 ff.; Hartmann: Pillnitz (wie Anm. 39), S. 30 f. 46  Zitiert nach Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 16, Anm. 2. 47  Vgl. Zacharias: Sammlung (wie Anm. 33), S. 29. 48  Vgl. SächsHStA Dresden, 12579 Familiennachlass von Bünau, Familienregister, Nr. 1, No. 874. – Das Grabmal Anna Sophias befindet sich heute in der Pill­nitzer Weinbergkirche und ist ein Werk von hoher künstlerischer Qualität. 49  Vgl. SächsHStA Dresden, 12579 Familiennachlass von Bünau, Familienregister, Nr. 1, No. 696, 2160.



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berg aus dem Haus Purschenstein ein.50 Da die Mutter von Sara Magdalena in zweiter Ehe Günthers Bruder Rudolf d. J. (1605–1654) geheiratet hatte, war Günther nun mit der Stieftochter seines Bruders vermählt.51 Aus Günthers dritter Ehe ging ein Sohn hervor. Sarah Magdalena überlebte ihren Mann noch um zehn Jahre und wohnte als Witwe in Pillnitz. Gerade anhand der Wahl der Bünau’schen Ehepartner, die alle aus bedeutenden sächsischen Adelsfamilien stammten, lässt sich ersehen, wie sehr auch hier die standesgemäße Heirat strategisch als Mittel zur Wahrung und Steigerung des sozialen Prestiges eingesetzt wurde. Für Günther von Bünau, den Exulanten aus Böhmen, bedeutete dies vor allem den erfolgreichen Neueinstieg in die sächsische Adelsgesellschaft. IV. Günther von Bünau als Grundherr auf Pillnitz Die endgültige Belehnung Günther von Bünaus mit der Herrschaft Pillnitz erfolgte am 17.  April 1643. Er erhielt den Rittersitz Pillnitz und die dazugehörigen acht Dörfer, einschließlich die Ober- und Niedergerichtsbarkeit sowie das Recht auf Fischerei in der Elbe und die Ausübung des „Waidwerks“.52 Zugleich wurde er damit Patronatsherr der Kirche von Hosterwitz und Hausherr der Pillnitzer Schlosskirche.53 Verschiedene Quellen gewähren Einblicke in die Organisation der Rittergutswirtschaft.54 So stand dem neuen Erb- und Gerichtsherrn umfangreiches Personal für die Bewirtschaftung und Verwaltung des Schloss- und Gutsbetriebs zur Verfügung. An der Spitze der etwa 25 Bediensteten agierte der „Bünauische Schößer und Hofmeister“, der die Gutsverwaltung leitete und als Notar und Schreiber fungierte. Hinzu kamen u. a. Lakaien, ein Leibjunge, Kutscher, Hofkoch, Hofschneider mit Dresdner Dienstwohnung, eine Zofe und Dienerinnen für die Gemahlin, Kinderfrau und Erzieher, Hofmusiker und ein Bote. Im Wirtschaftsbetrieb arbeiteten neben dem Vogt der Schirrmeister, eine „Käsemutter“, ein Schafknecht und eine Viehmagd, der Schmied, „Hoffischer“, Jäger, Gärtner sowie mehrere Arbeiter auf dem Bauhof. Der zuletzt genannte verweist auf eine rege Bautätigkeit im Schlossgelände. Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen 1724 und 1735 geben Auskunft über wichtige Bau50  Vgl. SächsHStA Dresden, 12579 Familiennachlass von Bünau, Familienregister, Nr. 1, No. 696, 2160. 51  Vgl. Molwitz: Günther von Bünau (wie Anm. 28), hier: Mai 1939, S. 59. 52  Vgl. Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 11. 53  Vgl. SächsHStA Dresden, 12579 Familiennachlass von Bünau, Nr. 182, fol. 27. 54  Vgl. zum Folgenden Molwitz: Günther von Bünau (wie Anm. 28), hier: April 1939, S. 47; Mai 1939, S. 50.

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und Instandsetzungsarbeiten unter Günther von Bünau: „Er mag große Lust gehabt haben, unter der Erde zu bauen, wie den die großen Keller im alten Schloss Zu Pillnitz, it. das Bünauische Begräbniß in der alten Kirche daselbst und die Einfaßung eines Brunnens im Pillnitzer grunde von ihm herrühren.“55 Besonders die hier angesprochene Ausstattung der alten Loß’schen Schlosskirche, die unter Günther aufwändig als Andachts- und Begräbnisstätte der Familien Loß und Bünau ausgebaut wurde, symbolisiert adlige Repräsenta­ tion und Frömmigkeit mit besonderem Nachdruck. Auf Günther von Bünau und seine zweite Ehefrau Christiane Elisabeth geht die Stiftung des prachtvollen frühbarocken Altars in der Schlosskirche zurück, die der Dresdner Bildhauer Johann Georg Kretzschmar (1612–1653) schuf. Der Altar von 1648 enthält im Sockel das Wappen beider Stifter, die auf diese Weise zudem ihre Dankbarkeit über das Ende des Dreißigjährigen Krieges zum Ausdruck brachten.56 Nachdem die alte Schlosskirche in der Nähe der Löwenkopfbastei 1723 unter kurfürstlichem Besitz neuen Schlossbauten hatte weichen müssen, wurden der Altar, der Taufstein und die Epitaphien in die neu erbaute protestantische Schlosskirche im königlichen Weinberg gebracht.57 In seiner eindrucksvollen Bautätigkeit unterstrich der Pillnitzer Patronatsherr sowohl sein kirchliches Engagement als auch wirtschaftlichen Wohlstand. Nach bisheriger Überlieferung zeichnet sich im Fall Günther von Bünaus das Bild eines paternalistischen und – vermutlich mit geprägt durch seine Exulantenerfahrungen – streng lutherischen Erbherrn, der sich in schwierigen Kriegszeiten mit großem Engagement den Aufgaben vor Ort widmete und sich intensiv um die Exulanten seines Herrschaftsbereichs kümmerte. Als beispielsweise die Hosterwitzer Pfarrstelle neu zu besetzen war, verwandte sich Günther für den aus dem böhmischen Olbersdorf (Město Al­ brechtice) stammenden Pfarrer Gottfried Rüdinger, der zugleich Schlossprediger zu Pillnitz wurde.58 Zu diesem Pfarrer entwickelte Günther von ­Bünau ein besonderes Vertrauensverhältnis. So übernahmen er und seine Ehefrauen mehrfach Patenschaften für die Pfarrerskinder – einer der Söhne wurde später Pillnitzer Schößer –, so wie umgekehrt Gottfried Rüdinger Taufpate von Günthers jüngstem Sohn war.59 Darüber hinaus pflegte Günther besondere Kontakte zu anderen adligen Exulantenfamilien, was sich in Paten55  Zitiert

nach ebd. die detaillierte Beschreibung des Altars bei Zacharias: Sammlung (wie Anm. 33), S. 203–209; sowie Walter Hentschel: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Weimar 1966, S. 79, 157 f. 57  Vgl. Dieter Fischer: Der Pöppelmann-Bau und seine historischen Einbauten. In: Interessengemeinschaft Weinbergkirche (Hrsg.): Die Weinbergkirche „Zum Heiligen Geist“ (wie Anm. 40), S. 29–40. 58  Vgl. Molwitz: Günther von Bünau (wie Anm. 28), hier: Februar 1939, S. 23–26. 59  Vgl. ebd., April 1939, S. 38. 56  Vgl.



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schaften sowie in Heiratsverbindungen niederschlug. Nachweisbar ist zudem die Anlage ausgewählter Grabstellen für Exulanten in Hosterwitz und in der Pillnitzer Schlosskirche.60 Besondere Herausforderungen für den neuen Grundherrn brachten schließlich die Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs, die ebenso das Pillnitzer Gebiet erfassten.61 Die Verwüstungen betrafen zwar vor allem linkselbische Dörfer, doch war auch die Gegend um Hosterwitz zeitweise bedroht. Als 1639 schwedische Truppen durch die Sächsische Schweiz zogen, musste die Hosterwitzer Gemeinde zwischen Ende April und Ende Mai nach Dresden fliehen und nahm aus der Kirche die Kostbarkeiten und das Orgelpositiv mit.62 Die Kriegsfolgen waren lange in Hosterwitz spürbar, denn noch 1680 wurden beispielsweise Käufer für die wüsten Güter gesucht.63 Nicht selten waren wirtschaftliches Engagement und verstärkte Bautätigkeit von (neuen) Rittergutsbesitzern – noch dazu in ökonomisch angespannten Zeiten – mit einem intensivierten Herrschaftszugriff auf bäuerliche Leistungen verbunden. Im Fall des Günther von Bünau bestätigt sich dies anhand der Quellen jedoch nicht. Es gibt vielmehr Anhaltspunkte dafür, dass sich seine Herrschaftspraxis sehr wohl von der seines Vorgängers auf dem Pillnitzer Gut unterschied. So war sein Schwiegervater Joachim von Loß vor allem mit extensiven Forderungen gegenüber seinen Untertanen hervorgetreten. Besonders augenfällig wurde dies bei Neuregelungen bäuerlicher Dienste und Abgaben, so zum Beispiel im Dorf Hosterwitz, das Joachim von Loß 1622 vom damaligen Besitzer Rudolf von Bünau auf Weesenstein (1547–1623) käuflich erworben hatte.64 Als 1625 unter Loß ein neues Erbregister erstellt wurde, hatten sich die Verpflichtungen der Hosterwitzer Untertanen im Vergleich zu dem vom Loß’schen Vorgänger erstellten Verzeichnis von 1576 um ein Vielfaches erhöht: Die Geldleistungen betrugen nun das Fünffache der alten Lasten, hinzu kamen neue und höhere Dienste sowie zusätzliche Naturalabgaben.65 60  Vgl. ebd., S. 47; sowie Sieghart Pietzsch: Chronik von Hosterwitz 1406–2006. Dresden 2006, S. 38 f. 61  Vgl. Molwitz: Günther von Bünau (wie Anm. 28), hier: April 1939, S. 47; Pietzsch: Chronik von Hosterwitz (wie Anm. 60), S. 31 f. 62  Vgl. Molwitz: Günther von Bünau (wie Anm. 28), hier: April 1939, S. 47. 63  Vgl. Werner Schmidt: Dresdner Heide, Pillnitz, Radeberger Land. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme im Gebiet von Radeberg und DresdenPillnitz. Berlin 1976, S. 173. 64  Vgl. Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 9. 65  Vgl. dazu SächsHStA Dresden, 10024 Geheimer Rat, Loc. 9874 / 4 (darin die Abschrift der Vereinbarung mit den Hosterwitzer Bauern von 1576), 10079 Landesregierung, Loc. 30791 (darin die Hosterwitz betreffenden Festlegungen von 1625) sowie Pietzsch: Chronik von Hosterwitz (wie Anm. 60), S. 23–30.

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Zugleich erwarb sich Joachim von Loß einen überaus zweifelhaften Ruf durch seine ungewöhnlich harten Herrschaftsmethoden zum Ausbau seiner Eigenwirtschaft.66 Auf unrühmliche Weise setzte er sich nicht nur durch hohe wirtschaftliche Belastungen seiner Untertanen in Szene, sondern machte auch durch die Anwendung gewaltgeprägter Herrschaftspraktiken von sich reden: Einschüchterungsversuche durch Gefängnishaft, die selbst die Familie und Knechte, ja sogar schwangere oder stillende Ehefrauen nicht verschonten, bis hin zu Mitteln körperlicher Züchtigung – dies alles gehörte zum Repertoire des Joachim von Loß. Als selbst dies nicht mehr zum Erfolg führte, ließ er schließlich sogar per Schiff „bewaffnete Bürger und Defensioner“ aus der nahe gelegenen Stadt Pirna kommen, um die Untertanen durch Androhung von Gewalt zur Anerkennung seiner Autorität zu bringen.67 Dies traf auf die vehemente Gegenwehr der prozesserfahrenen Pillnitzer, die sich mit Mitteln des Rechts zur Wehr setzten und unablässig Klageschriften bei den Landesgerichten einreichten.68 Durch das Versagen des obrigkeitlichen Schutzes und die Anwendung von Gewalt seitens des Erbund Gerichtsherrn sahen die Untertanen das Gleichgewicht des herrschaftlich-bäuerlichen Verhältnisses gestört. Sie fühlten sich nun berechtigt, den Beistand bei der Landesobrigkeit zu suchen und beriefen sich dabei ausdrücklich auf die sächsischen Landesgesetze und die landesherrliche Zusicherung, wonach sich „ein jeder unserer gehorsamen Unterthanen, bey Uns unterthänig und gäntzlich versehen, daß wir gnädiglich geneigt, ihn bey seiner Gerechtigkeit zu schützen“.69 Im Aufeinanderprallen von herrschaftlicher Gewalt und bäuerlichem Selbstbewusstsein eskalierte der Konflikt. Eine Reihe zugunsten der Untertanen ausfallende Urteile der Landesgerichte tat ein Übriges: Einerseits gaben sie dem Widerstandswillen der Bauern enormen Auftrieb, was andererseits den exzentrischen Rittergutsbesitzer zu einer noch härteren Gangart bewegte. Die Landesgerichte indes – obschon überwiegend besetzt mit adligen Standesgenossen, denen noch dazu der Geheime Rat Joachim von Loß aus gemeinsamer Funktionsträgerschaft persönlich bekannt war – bezogen in den meisten Klagepunkten eindeutig Stellung zugunsten der Untertanen 66  Vgl. Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich (wie Anm. 37), S. 353–371. 67  Vgl. zu diesen Vorgängen Pietzsch: Chronik von Hosterwitz (wie Anm. 60), S. 29. 68  Vgl. dazu ausführlich bei Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich (wie Anm. 37), S. 353–371. 69  Johann Christian Lünig (Hrsg.): Codex Augusteus oder Neuvermehrtes Corpus iuris Saxonici. Bd. 1. Leipzig 1724, Sp. 67.



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und zögerten selbst nicht, dem allzu rücksichtslos vorgehenden Grundherrn Geldstrafen aufzuerlegen. In der Begründung für diese Sanktionen führten die Leipziger Oberhofrichter noch einmal die ganze Palette der Loß’schen Gewalttätigkeiten auf: Gefängnisstrafen für die Bauern und deren Familien samt ihrer Knechte, nächtliche Übergriffe auf Bauernhöfe und der Einsatz von Prügelstrafen.70 Konnten dem unbeherrschten Grundherrn auf diesem Weg wenigstens gewisse Grenzen gesetzt werden, sodass er die Gefangenen schließlich auf Druck der Gerichte frei lassen musste, war eine übermäßige wirtschaftliche Belastung seiner Bauern zeitweise indes nicht zu verhindern. Erst unter dem Loß’schen Nachfolger Günther von Bünau bahnte sich hier eine Lösung an. Hintergrund dafür war ein höchst ungewöhnlicher Akt adliger Herrschaftsausübung. Kurz nachdem Günther das Pillnitzer Gut übernommen hatte, wandte er sich mit folgendem Anliegen an den sächsischen Kurfürsten: Er bat um Zustimmung dafür, die Abgaben- und Dienstbelastungen seiner Pillnitzer Untertanen spürbar zu verringern, wären diese doch nach Günthers Ansicht „mit so hohen Gefällen, Zinsen, gesetzten und gesammten Diensten beschwert, welche den Meisten zugleich und nebenst den churfürstlichen Steuer-Contributionen und anderen extraordinären Anlagen abzustatten, endlich unmöglich fallen wolle, daß er auf ihr inständiges Bitten und Flehen ihnen ein Merkliches und nach Befinden den vierten oder dritten Theil, und selbst die Hälfte ihrer ihm jährlich zu entrichtenden schuldigen Dienste und Gefälle“ erlassen wollte.71 Daraufhin unterrichteten sich vier vom Kurfürsten abgeordnete Kommissare vor Ort bei den Untertanen über die ihnen abverlangten Leistungen. Schließlich wurde 1649 ein Erb­ register verfasst, das die Dienst- und Abgabenverhältnisse der Pillnitzer Untertanen neu ordnete und die vom Bünau-Vorgänger Joachim von Loß eingeführten Belastungen erheblich abmilderte.72 Bäuerliche Klagen über zu hohe Dienst- und Abgabenbelastungen fanden folglich bei Günther von Bünau durchaus Gehör. Ein Blick in das von ihm auf den Weg gebrachte neue Pillnitzer Erbregister von 1649 zeigt eine Abgaben- und Frondienststruktur, wie sie auch auf anderen kursächsischen Rittergütern durchaus üblich war.73 Das gilt zum Beispiel für die stets besonders sensibel wahrgenommenen Dienstbelastungen: Die zum Pillnitzer 70  Vgl.

SächsHStA Dresden, Genealogica von Loß, Vol. 1., Brief vom 24.10.1611. nach Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 85. 72  Vgl. den Auszug aus dem Pillnitzer Erbregister von 1649 ebd., S. 121–127. – Das Original des Erbregisters befindet sich in SächsHStA Dresden, 10036 Finanz­ archiv, Loc. 37903, fol.  3–28. 73  Zum Problem der Frondienstbelastungen kursächsischer Bauern vgl. zuletzt Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich (wie Anm. 37), S. 87 f., 305–310. 71  Zitiert

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Gut gehörenden 37 Pferdner, sieben Dreschgärtner, 38 Gärtner, 25 Häusler und zwei Müller hatten neben Geld- und Getreidezinsen u. a. 740 Tage Pferdedienste und 1.336 Tage Handdienste pro Jahr zu leisten.74 Umgelegt auf den einzelnen Fronpflichtigen blieben die Dienste damit lediglich auf einige Tage im Jahr beschränkt. So entfielen etwa auf den Einhüfner Peter Maukisch in Oberpoyritz jährlich 16 Tage Spanndienste, drei Tage ackern oder eggen, zwei Sicheltage und neun Fuhren nach Dresden.75 Anders als unter gutsherrschaftlichen Bedingungen, wo die wöchentliche Dienstpflicht im Extremfall sechs Tage betrug, bestätigt sich auch in diesem Fall, dass die Frondienste im Untersuchungsgebiet in Tagen pro Jahr und nicht pro Woche gezählt wurden. Das Bünau’sche Erbregister hatte somit die „alte Ordnung“ wieder hergestellt. V. Resümee Blickt man zurück auf die eingangs beschriebenen sozialen Gebilde „Gutsherrschaft“ und „Grundherrschaft“, so widersprach das hier skizzierte Herrschaftshandeln Günther von Bünaus eigentlich dem gängigen Bild eines ursprünglich aus dem gutsherrlich geprägten Böhmen stammenden Rittergutsbesitzers – also aus einem Gebiet, wo nach landläufigen Vorstellungen herrschaftliche Übermächtigung und deutlich spürbare Mehrbelastungen der Untertanen besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg auf der Tagesordnung standen. Gemäß einer solchen Forschungslogik hätte es nahe gelegen, dass Günther von Bünau den ihm auf Pillnitz bereits zugefallenen „Segen“ höherer Abgaben und Dienste, wie sie sein Vorgänger durchgesetzt hatte, wohl zu schätzen wusste. Der neue Herr auf Pillnitz folgte indes – wie zu sehen war – seiner eigenen Logik. Inwieweit bei Günther von Bünau eigene Flucht- und Verlusterfahrungen eine Rolle spielten oder etwa die Furcht vor Auseinandersetzungen mit den widerstandserfahrenen Pillnitzer Untertanen, wäre noch durch weitere Quellenarbeit zu prüfen. Auch ökonomische Erwägungen, angesichts von Kriegsschäden im Herrschaftsbereich und infolge von Arbeitskräftemangel auf dem Land, mögen eine Rolle gespielt haben. Am Ende stand jedenfalls ein neu gefasstes Pillnitzer Erbbuch, das einen für kursächsische Verhältnisse offenbar als unrechtmäßig empfundenen Herrschaftszugriff korrigierte. Einmal mehr hat dieser Exkurs über Herrschaftspraktiken sächsisch-böhmischer Grundherren gezeigt, wie unfruchtbar eine allzu starre Grenzziehung zwischen guts- und grundherrlichen Verhältnissen ist. Wie das Bei74  Vgl. 75  Vgl.

Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 122 f. ebd., S. 122.



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spiel des sächsischen Erbherrn Joachim von Loß belegt, lassen sich Willkür und Gewalt als unrühmliche Auswüchse der Herrschaftspraxis adliger Rittergutsbesitzer eben nicht auf Gutsherrschaftsgebiete begrenzen. Auch im grundherrschaftlichen Kursachsen waren trotz landesherrlicher Bauernschutzgesetzgebung und bäuerlichen Widerstandes gewaltgeprägte Herrschaftsmethoden ebensowenig auszuschließen wie eine Erhöhung bäuer­ licher Belastungen. Dennoch bleiben strukturelle Unterschiede der hier betrachteten Territorien bestehen, die letztlich auch für die adligen Herrschaftspraktiken prägend waren. Dies betrifft vor allem die Voraussetzungen, Formen und Erfolgsaussichten des bäuerlichen Widerstands, die örtliche Rechts- und Verwaltungspraxis sowie die landesfürstliche Gesetzgebung.76 Um exzessivem Herrschaftsgebaren und Auswüchsen gutsherrschaftlicher Verhältnisse entgegenzuwirken, waren in Sachsen insbesondere die juristischen und institutionellen Rahmenbedingungen vergleichsweise günstig. Dazu zählten nicht nur die hier schon im 16. Jahrhundert einsetzenden legislativen Aktivitäten, die seitens der Landesherrschaft zur Einschränkung adliger Zugriffsrechte auf bäuerliche Wirtschaften ergriffen wurden, sondern auch der damals bereits erreichte Entwicklungsstand des frühmodernen Territorialstaates mit seinen spezialisierten landesherrlichen Behörden auf der Zentral-, Regional- und Lokalebene. Über eine flächendeckende Ämterorganisation reichte der Einfluss der Zentrale bis in die einzelnen Dörfer. Und selbst der nicht dem Amt, sondern direkt der Kanzlei in Dresden unterstellte sogenannte schriftsässige Adel war in der Praxis keineswegs der landesherrlichen Amtsgewalt entzogen. Der gesellschaftlichen und rechtlichen Akzeptanz von Gewalt seitens kursächsischer Rittergutsbesitzer waren jedenfalls deutliche Grenzen gesetzt. Auch der gewaltbereite Joachim von Loß auf Pillnitz sollte dies zu spüren bekommen, etwa wenn wieder einmal Urteile oder Mandate seitens der Landesgerichte eintrafen. Eine noch deutlichere Sprache für die Kennzeichnung eines als extrem empfundenen Herrschaftshandelns fanden in unserem Fall die Zeitgenossen der Pillnitzer Umgebung: Nach einer dort verbreiteten Sage erschien „der böse Loß“ zuweilen um Mitternacht als schwarzer Hund auf dem Gutshof, um heulend und bellend begangenes Unrecht zu büßen77 – ein Bild, das auch über Jahrhunderte hinweg nicht verblasst ist.

76  Vgl. dazu Schattkowsky: Staatliche Obrigkeit und lokale Adelsherrschaft (wie Anm. 8), S. 34 f. 77  Vgl. Minckwitz: Geschichte von Pillnitz (wie Anm. 38), S. 10; Fischer: Die private Schlosskirche (wie Anm. 40), S. 13.

Kulturtransfer im böhmisch-sächsischen Grenzgebiet im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit Aktuelle Forschungen zur „Sächsischen Renaissance“ in Böhmen Von Michaela Hrubá, Táňa Nejezchlebová und Michaela Ottová (Ústí  nad  Labem) I. Einleitung Dieser Beitrag dient der Vorstellung einer Forschungsarbeit, die derzeit am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophischen Fakultät der JanEvangelista-Purkyně-Universität (UJEP) Ústí  nad  Labem (Aussig) durchgeführt und aktuell von mehreren Forschungsprojekten, die das böhmischsächsische Grenzgebiet zum Gegenstand haben, begleitet wird. Es handelt sich vor allem um zwei Projekte, die vom Kultusministerium der Tschechischen Republik gefördert werden – das erste trägt den Titel Gesellschaft­ liche, kulturelle und ideelle Transfers in der Geschichte der Grenzregionen Nordwest- und Westböhmens und ihre Rolle für Entwicklung und Nachhaltigkeit und umfasst eine größere zeitliche Bandbreite. Ein wichtiger Bestandteil ist jedoch die Erforschung des Zeitraums um die Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit.1 Das zweite Projekt unter dem Titel Künstlerischer Austausch in der Region Erzgebirge zwischen der Gotik und der Renaissance2, dessen Ergebnis in eine gemeinsame Ausstellung mit der Nationalgalerie Prag einmünden soll, zielt direkt auf die künstlerische Produktion und ihre historischen Verknüpfungen. Neben diesen Projekten widmet sich auch ein neu angenommenes Vorhaben, das von der Grantová agentura der Tschechischen Republik (GAČR) gefördert wird, dem wohl wichtigsten Phänomen der historischen Entwicklung an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit im Erzgebirge – dem Bergbau und seinem 1  Hauptprojektleiter: Tomáš Velímský, Lehrstuhl für Geschichte der Philosophischen Fakultät der UJEP Ústí  nad  Labem. Das Projekt wird in den Jahren 2011 bis 2015 gefördert. 2  Projektleiter: Petr Macek, Philosophische Fakultät der Karlsuniversität Prag. Projektbeteiligte sind die Nationalgalerie Prag und der Lehrstuhl für Geschichte der Philosophischen Fakultät der UJEP Ústí nad Labem. Das Projekt wird in den Jahren 2011 bis 2013 gefördert.

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Einfluss auf die kulturelle Entwicklung in der Region. Sein Titel lautet Ars Montana: Kunst- und Kulturtransfer im offenen Raum des böhmisch-sächsischen Erzgebirges an der Schwelle der Frühen Neuzeit (1459–1620).3 Das Thema der sakralen Architektur der „Sächsischen Renaissance“ wird bearbeitet mit dem Ziel, das kulturelle Erbe ausgewählte Kirchen detailliert zu dokumentieren.4 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es zunächst, die grundlegenden Ausgangspunkte der vorerwähnten Forschungen darzustellen, deren Klammer der in der böhmischen Kunstgeschichte schon seit langem verwendete Begriff „Sächsische Renaissance“ ist. Seine Definition ist ebenso wie das Verhältnis zum Konzept der böhmischen Kunst in der Zeit der Reforma­ tion mit einer Reihe bislang unbeantworteter Fragen verbunden. Im zweiten Teil des Beitrags werden einige Ergebnisse der Dokumentation eines der bekanntesten Denkmäler der „Sächsischen Renaissance“ vorgestellt: der Florianskirche im Stadteil Krásné Březno (Schönpriesen) in Ústí nad Labem, die unlängst zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt wurde. Trotzdem war sie lange Zeit dem Verfall preisgegeben. Zu ihrer jetzigen Sanierung trugen nicht zuletzt die detaillierte Erforschung und Bewertung ihrer Bedeutung für die Baugeschichte und die Entwicklung der Bildhauerei in der Renaissance bei. II. Ausgangspunkte und Konzept der Erforschung der „Sächsischen Renaissance“ Der Beginn des kulturhistorischen und kunsthistorischen Interesses am Erzgebirge im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit lässt sich mit den Werken von Walter Hentschel (1899–1970)5 und Josef Opitz (1890–1963)6 3  GAČR 409 / 12 / 0546. Projektleiter: Jan Royt, Philosophische Fakultät der Karluniversität Prag, Projektbeteiligte: Michaela Hrubá, Philosophische Fakultät der UJEP Ústí  nad  Labem. Das Projekt wird in den Jahren 2011 bis 2013 gefördert. 4  Leiterin des Projekts mit dem Namen Sakrale Architektur der Sächsischen Renaissance in Nordwest- und Nordböhmen ist Michaela Hrubá. Das Projekt wird in den Jahren 2011 bis 2013 gefördert. 5  Walter Hentschel: Denkmale sächsischer Kunst. Die Verluste des Zweiten Weltkrieges. Berlin [Ost] 1973; ders.: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin [Ost] 1966; ders.: Bibliographie zur sächsischen Kunstgeschichte. Berlin [Ost] 1960; ders.: Peter Breuer. Eine spätgotische Bildschnitzerwerkstatt. Dresden 1951; ders.: Meißner Bildhauer zwischen Spätgotik und Barock. Meißen 1934; ders.: Cranach und seine Schule im Erzgebirge. In: Glückauf! Zeitschrift der Erzgebirgsvereins (48) 1928, S. 43–48. 6  Josef Opitz: Alte Kunst der Bezirke Kaaden-Pressnitz. Eine kurze Übersicht, geordnet nach Orten. Sonderabdruck aus der Heimatsbeilage der Kaadener Zeitung. Kaaden 1924; ders.: Gotische Plastik des 14. und 15.  Jahrhunderts in Böhmen,



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verbinden. In der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts gehen die Beiträge zur Erforschung des künstlerischen Betriebs im Erzgebirge auf der böhmischen Seite vor allem auf die großen synthetischen Projekte Geschichte der tschechischen bildenden Kunst, Spätgotische Kunst in Böhmen, Gotik in Böhmen und Renaissance in Böhmen sowie Kunst der Renaissance und des Manierismus in Böhmen7 zurück. Diese Synthesen müssen jedoch einer grundlegenden Revision unterzogen werden, ähnlich wie beispielsweise das Buch von Eva Šamánková, das sich der Renaissancearchitektur widmet.8 Im Zusammenhang mit diesen Synthesen und in Anknüpfung daran kam es auch zur Vorlage mehrerer Detailstudien. Weder die synthetischen Arbeiten noch spezielle Beiträge, die auf der sächsischen Seite des Erzgebirges entstanden sind, reflektierten den breiteren Zusammenhang der künstlerischen Entwicklung in Böhmen,9 obwohl auch einige deutsche Autoren die Problematik in Teilstudien berührten, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts und später dann erneut ab den 1990er Jahren.10 Zu den wichtigsten Beiträgen zum Thema „Werkstattpraxis und Malerei in Sachsen“, die auch nach Böhmen importierte Kunstwerke enthält, gehört die Arbeit von Ingo Sandner.11 Von den jüngeren Autoren I.  Bezirk Kaaden. Kaaden 1924; ders.: Gotische Malerei und Plastik Nordwestböhmens. Katalog der Ausstellung in Brüx-Komotau. Brüx / Komotau 1928; ders.: Die Galerie des Stiftes Osseg. Beschreibender Teil (Gemälde). Komotau 1930; ders.: Nordwestböhmen in der Kunst 1530–1680. Katalog der Ausstellung in Komotau. Komotau 1932. 7  Jaromír Homolka et  al.: Pozdně gotické umění v Čechách (1471–1525) [Spätgotische Kunst in Böhmen (1471–1525)]. Praha 1984; Karl M. Swoboda (Hrsg.): Gotik in Böhmen. Geschichte, Gesellschaftsgeschichte, Architektur, Plastik und Malerei. München 1969; Jiřina Hořejší / Jarmila Krčálová: Die Kunst der Renaissance und des Manierismus in Böhmen. Prag 1979; Ferdinand Seibt (Hrsg.): Renaissance in Böhmen. Geschichte, Wissenschaft, Architektur, Plastik, Malerei, Kunsthandwerk. München 1985; Dějiny českého výtvarného umění [Geschichte der tschechischen bildenden Kunst]. Díl I / 2 [Bd. I / 2], Praha 1984; Díl II / 1 [Bd. II / 1], Praha 1989. 8  Eva Šamánková: Architektura české renesance [Architektur der böhmischen Renaissance]. Praha 1961. 9  Beispielsweise Eduard Flechig: Sächsische Malerei und Bildnerei vom 14. Jahrhundert bis zur Reformation. 3 Bde. Leipzig 1908–12. 10  Wilhelm Junius: Sächsisch-böhmische Grenzkunst. In: Uhls’ Heimatbücher des Erzgebirges und Egertales (1924), S. 10–12; ders.: Meister des thüringisch-sächsischen Cranach-Kreises. In: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde N.  F. 31 (1935), S. 64–112. 11  Ingo Sandner (Hrsg.): Unsichtbare Meisterzeichnungen auf dem Malgrund. Cranach und seine Zeitgenossen. Regensburg 1998; ders.: Spätgotische Tafelmalerei in Sachsen. Dresden / Basel 1993; ders.: Hans Hesse. Ein Maler der Spätgotik in Sachsen. Dresden 1983. Gerade zur spätgotischen Kunst liegen eine Reihe von neueren Untersuchungen vor. Vgl. etwa die Beiträge von Friedrich Staemmler und

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widmete sich beispielsweise der Berliner Historiker Uwe Tresp detailliert dem Geschlecht der Lobkowitz, wobei er neue grundlegende Erkenntnisse bietet, die aus deutschen Archiven stammen.12 Seine Studie zeigte anschaulich die Notwendigkeit, die Ergebnisse der Forschung auf der tschechischen und auf der deutschen Seite miteinander zu verbinden. In den letzten Jahren kam es insbesondere durch das Interesse des Lehrstuhls für Geschichte der Philosophischen Fakultät der UJEP Ústí  nad  Labem zu einer Wiederaufnahme des Studiums der Kulturgeschichte Nordböhmens. Diesbezügliche Projekte richteten sich vorrangig auf die Revision älterer Arbeiten, die detaillierte Erhellung einzelner künstlerischer Bereiche und das grundlegende Quellenstudium zum Beziehungsgeflecht „Stadt – Adel – Kirche“.13 Die entsprechenden Projekte liefern bis heute sehr wertvolle, wenngleich aus verschiedenen Gründen begrenzte Forschungsergebnisse. Der aktuelle Erkenntnisstand ist nicht nur von der Lückenhaftigkeit des erhaltenen historischen und künstlerischen Materials geprägt, sondern auch von der langfristigen methodischen Ausrichtung der Forschung auf die Untersuchung der Abhängigkeit der böhmischen Seite des Erzgebirges von Sachsen, dem künstlerisch bedeutenderen Gebiet. Der Charakter der Ergebnisse der angeführten Projekte kündigte außerdem eine territorial wesentlich breitere und zeitlich differenziertere Sichtweise an. Das erforschte Gebiet erwies sich als zu breit für ein konsequentes interdisziplinäres Vorgehen und als nicht gut geeignet für die Konzipierung der Identität der Region bzw. für die Festlegung ihres spezifischen Charakters gegenüber anderen Regionen. Die durchgeführten Analysen zeigten, dass zur Erreichung einer allgemeineren Gültigkeit der Schlussfolgerungen und zu einer zufriedenstellenderen Beantwortung der Fragen hinsichtlich der Spezifik der Region das Thema unbedingt neu definiert werden muss. Deshalb versucht jene Forschergruppe, die sich bereits seit dem Ende der 1990er Jahre mit dieser Markus Hörsch in: Uwe Fiedler / Hendrik Thoß / Enno Bünz (Hrsg.): Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert. Chemnitz 2012, S. 241–254, 255–270. 12  Uwe Tresp: Erbeinung und Fehde zwischen Sachsen und Böhmen. Die Fehde des Jan von Lobkowitz auf Hassenstein gegen die Albertiner (1493–96). In: Julia Eulenstein / Christine Reinle / Michael Rothmann (Hrsg.): Zwischen adliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung. Fehdeführung im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich. Affalterbach 2013, S. 179–202. 13  Gotika v  severních Čechách [Gotik in Nordböhmen] (Museum der Stadt Ústí nas Labem, Pädagogische Fakultät der UJEP Ústí nad Labem, Philosophische Fakultät der Karlsuniversität Praha) GAČR 2000 bis 2003; Desková malba v  severních Čechách [Tafelmalerei in Nordböhmen] (Philosophische Fakultät der Karlsuniversität Prag), Grantagentur der Karls-Universität Prag (GAUK) 2007.



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Problematik beschäftigt, das Erzgebirge anders, in differenzierterem chronologischen Rahmen und ohne Grenzteilung zu erfassen. Das letzte Projekt, das sich am Rande mit dem künstlerischen Gebiet Erzgebirge befasste, war die Ausstellung Kunst der böhmischen Reforma­ tion.14 Hier ging es um eine Darstellung der christlichen Kunst, deren zentraler Interpretationsschlüssel in der konfessionellen Zugehörigkeit der Auftraggeber der Kunstwerke lag. Die Ausstellung widmete den Denkmälern der utraquistischen, vor allem der mittelböhmischen Königsstädte große Aufmerksamkeit; demgegenüber befanden sich die bildhauerischen Werke, die mit der lutherischen Reformation in Zusammenhang standen, nur am Rande des Interesses. In ähnlichen Proportionen bewegten sich die Themen der Referate auf der Konferenz zu dieser Ausstellung, denn die meisten Beiträge widmeten sich der künstlerischen Konfessionalisierung der sub utraque Species und nur ein kleiner Teil den Lutheranern und den lutherischen Auftraggebern.15 Dieses Projekt wurde nach Ende der Ausstellung in Form eines Buches zusammengefasst, das die im Zuge der vorhergehenden Erforschung gewonnen Erkenntnisse über die grundlegende Differenzierung der Werke auf der Grundlage der Konfessionszugehörigkeit präsentierte.16 Die Herausgabe dieses Buches „Kunst der böhmischen Reformation“ brachte eine Formulierung der Interpretationsmodelle, die überprüft, revidiert und am Beispiel des künstlerischen Gebietes Erzgebirge weiterentwickelt werden können. Die Bezugnahme auf die Konfession im Kontext der künstlerischen Aktivitäten ist dabei ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Aspekt. Die aktuelle Erforschung des heute tschechischen und deutschen Gebietes befindet sich im Stadium weitgehend vorangeschrittener Quellenauswertung, vor allem auf tschechischer Seite. Auf dieser notwendigen Grundlage können neue Sichtweisen auf die kulturellen Spezifika der Region entwickelt werden. Die konfessionelle Zugehörigkeit ist dabei nur ein Aspekt der reich strukturierten und vielschichtigen künstlerischen Produktion entlang des Erzgebirgskamms. Das Erzgebirge in seiner geographischen Definition wird von der bisherigen Forschung meist nicht kompakt – mit Blick auf die Landesgrenzen, die Grenzen der Bezirke oder die imaginäre Grenze der Konfession und der Sprache – erfasst. Gerade die Präsenz der Grenze bzw. der Grenzen war bislang immer der Schlüssel für die Bewertung der kulturellen Beziehungen 14  Ausstellung

der Verwaltung der Prager Burg, Prag 2009 / 10. etwa die Beiträge von Jan Royt über die Ikonographie der Taufbecken oder Petr Hlaváček über die kulturhistorische Situation in Jáchymov (Joachimsthal). 16  Kateřina Horníčková / Michal Šroněk (Hrsg.): Umění české reformace (1380– 1620) [Die Kunst der böhmischen Reformation (1380–1620)]. Praha 2010. 15  So

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im Rahmen des Erzgebirges. Die Unterschiede, die in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung und im wirtschaftlichen Potential gesehen wurden, führten dazu, dass der sächsische Teil des Erzgebirges als dominanter Raum betrachtet wurde, von dem die kulturelle Tätigkeit des „böhmischen“ Erzgebirges abhing. An der Schwelle zur Frühen Neuzeit waren die spezifischen Bedingungen für einen intensiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch in diesem Gebiet schon geschaffen worden. An ihrem Anfang standen umfangreiche Verpfändungen an die sächsischen Kurfürsten in diesem Landstrich – Most (Brüx), Duchcov (Dux), Ústí nad Labem –, die eine wesentliche Verflechtung dieses Gebietes mit der sächsischen Seite des Erzgebirges nach sich zogen. Nach der Aufhebung der Verpfändungen im Jahre 1459 wurden diese Kontakte nicht eingestellt, vielmehr setzte eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit Blick auf die Entwicklung des Bergbaus ein: Es entstanden neue Bergstädte, die mit dem Humanpotential, das aus Sachsen kam, wesentlich verbunden sind. Das Interesse am Bergbau beruhte auf dem Vorteil des Technologie- und Kapitaltransfers der Bergbauunternehmer. Ein weiterer wichtiger Faktor der Verstärkung von Verbindungen lag darin, dass sich sächsische Adelige auf der böhmischen Seite der Landesgrenze Güter kauften, die ­ursprünglich meist Lehngüter waren. Zum wichtigsten Aspekt wurde dann die  Verbreitung des lutherischen Glaubens im gesamten erzgebirgischen Grenzgebiet, vor allem unter den deutschsprachigen Bewohnern.17 Der Region Erzgebirge bzw. dem gesamten Grenzgebiet Nordwestböhmen als einem spezifischen Raum, der einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und 17  Vgl. Petr Jančárek: Města českého Krušnohoří v  předbělohorské době [Die Städte des böhmischen Erzgebirges in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg]. Ústí  nad  Labem 1970; ders.: Příspěvek ke studiu demografického vývoje českého Krušnohoří v  předbělohorské době [Beitrag zur Untersuchung der demographischen Entwicklung des böhmischen Erzgebirges in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg]. In: Folia Historica Bohemica 11 (1987), S. 235–247; ders.: Vznik měst a městeček v české části Krušnohoří v  předbělohorské době [Die Entstehung von Städten und Gemeinden im böhmischen Teil des Erzgebirges in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg]. In: Studie z dějin hornictví [Studien zur Geschichte des Bergbaus] (1968), S. 12–42; Gustav Hofmann: K populačnímu vývoji Jáchymova v 16.  století [Zur Bevölkerungsentwicklung von Jáchymov im 16.  Jahrhundert]. In: Ebd. 19 (1987), S. 72–89; Lubomír Nemeškal: Jáchymov v  hospodářských dějinách 16.  století [Jáchymov in der Wirtschaftsgeschichte des 16.  Jahrhunderts]. In: Folia Historica Bohemica 11 (1987), S. 213–232; Jiří Majer: K  hospodářskému a sociálnímu vývoji Jáchymova v 16. století [Zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Jáchymov im 16.  Jahrhundert]. In: Studie z  dějin hornictví 26 (1995), S. 42 f. Die neuere deutsche Literatur ist zusammengefasst bei Helmut Bräuer: Armut in Bergstädten des sächsischen Erzgebirges während der Frühen Neuzeit. In: Karl Heinrich Kaufhold / Wilfried Reininghaus (Hrsg.): Stadt und Bergbau. Köln / Weimar / Wien 2004, S. 199–238.



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kulturellen Transfer zwischen Böhmen und Sachsen ermöglichte, wurde in der jüngsten Zeit in einer weitgesteckten chronologischen Bandbreite Aufmerksamkeit auf beiden Seiten der Landesgrenze gewidmet.18 Ein möglicher Weg für die weitere Forschung könnte in der Untersuchung der kulturellen Besonderheiten des geographisch definierten Gebietes Erzgebirge und seines nächsten Umlandes bestehen, das im definierten Zeitraum an der Schwelle zur Frühen Neuzeit einen kompakten wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen Raum darstellt. Dieser Blick hebt sich bewusst von den bisherigen Arbeiten ab, denn diese untersuchten das Erzgebirge lediglich als zweigeteilte Grenzregion bzw. den Einfluss der sächsischen Seite auf das böhmische Grenzgebiet. Die neue Herangehensweise hingegen beruht auf der Erfassung dieses Gebietes als eigenständiges Ganzes, in dessen Einzugsfeld auch die gesellschaftliche und künstlerische Entwicklung wichtiger Zentren auf der böhmischen Seite des Erzgebirges – insbesondere der starken königlichen Städte und der sich herausbildenden Adelsdominien – eine grundlegende Rolle spielte. Aus zeitlicher Sicht geht das Thema über die imaginäre Grenze zwischen der Gotik und der Renaissance hinaus. Die „Übergangsphase“ zwischen diesen beiden großen Epochen ist für die tschechische Kunstgeschichte weiterhin eine recht „dunkle“ Periode, in deren Rahmen die künstlerischen Werke nur mit Hilfe von äußerst relativen Kriterien klassifiziert werden können. Das zweite Drittel des 16. Jahrhunderts wird bislang als Ausklang und Abschwächung des spätgotischen Kanons gewertet, dem der „tödliche“ Schlag der Renaissanceauffassung folgte. Gerade die interdisziplinäre historische und kunsthistorische Forschung, die auf die spezifischen Qualitäten der Einheit des Gebietes in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Perspektive ausgerichtet ist, könnte aus einem anderen Blickwinkel Licht in die bislang wenig untersuchte Problematik des Anfangs des 16. Jahrhunderts bringen und neue, angemessenere Bewertungen vorschlagen. Damit hängt dann auch der Bedarf nach einer Neudefinierung des Begriffs „Sächsische Renaissance“ zusammen, der in der Fachliteratur seit der Publikation Architektur der Böhmischen Renaissance von Eva Šamánková zu Beginn der 1960er Jahre häufig verwendet wird. Aus heutiger Sicht fragwürdig erscheint daran die bislang überwiegende bipolare Konzeption, bei welcher der böhmische Teil des Erzgebirges in einseitiger künstlerischer Abhängigkeit von der sächsischen Seite aufgefasst wird. Die aktuelle Forschung bemüht sich deshalb, die Region mit ihrer künstlerischen Produktion und ihren sozialen Verknüpfungen neu und historisch plausibler 18  Vgl. etwa Miloš Řezník (Hrsg.): Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Berlin 2007.

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zu erfassen, damit die Identität des Erzgebirges und die gegenwärtige grenzübergreifende Zusammenarbeit auf zuverlässigen Grundlagen erforscht werden können. Für die mitteleuropäische Kunstgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts stellt sich als dringliches Problem die Unzulänglichkeit der chronologischen Kriterien für die künstlerische Produktion des Zeitraums dar, in dem sich die spätgotische Tradition mit Impulsen der italienischen Renaissance und des Manierismus vermischt. Die angedeuteten Forschungsziele orientieren auf einen Datenrahmen, der die Veränderungen in den Stilmodi der Autoren oder Werkstätten berücksichtigt, die sich in einigen Fällen durch das gesamte 16. Jahrhundert hindurch beobachten lassen. Verallgemeinernde Schlüsse im Hinblick auf den Übergang von der Gotik zur Renaissance können dann nicht nur für das untersuchte Gebiet, sondern auch für einen breiteren Kontext Mitteleuropas gezogen werden. Die neuen Interpretationsmodelle zielen auf eine integrale Perspektive, die alle relevanten Aspekte der erforschten Kultur berücksichtigt. Vor allem die Analyse der Quellen und des künstlerischen Materials wird eine unverzichtbare Interpretationsgrundlage darstellen, welche die Methoden der Kultur- und Kunstgeschichte kombiniert. Dazu gehört auch eine Analyse der geographischen Konzeptionen als eine der wichtigen Aufgaben der aktuellen Historiographie und der Theorie der Kunstgeschichte.19 Als Alternative zur isolationistischen Vorstellung einer immanenten Entwicklung im Rahmen von Nationalitätengruppen erscheint das Konzept der grenzübergreifenden Regionen, die als kompakte künstlerische Räume mit einer entwickelten internen Kommunikation definiert werden. Die Identität dieser Regionen ist jedoch zeitlich eingeschränkt, und ihre Grenzen werden durch eine ganze Reihe von Kriterien definiert. Die statische und einseitige Beziehung auf ein künstlerisches Zentrum, das über die Provinzen dominiert, kann dabei durch die Idee des „Kulturtransfers“ ersetzt werden – eines vielseitigen künstlerischen Austauschs zwischen lokalen Zentren, die ohne Rücksicht auf Staatsoder Sprachgrenzen die Spezifika einer Region bilden. „Kulturtransfer“ wird heute allerdings meist nicht als autonomer künstlerischer Prozess aufgefasst, sondern als von wirtschaftlichen, religiösen, sozialen und anderen Faktoren strukturierter Prozess. Das Erzgebirge gehört zweifellos zu den Regionen, auf die sich das angedeutete Konzept anwenden lässt.

19  Kürzlich verdeutlicht von Ján Bakoš: Paths and strategies in the historiography of art in Central Europe. In: Ars 43 (2010), S. 85–118.



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III. Teilergebnisse der bisherigen Forschung: Dokumentation der Florianskirche in Krásné Březno Im Folgenden sollen die Ergebnisse eines Teilprojekts vorgestellt werden, das im Rahmen der Dokumentation von Sakraldenkmälern der „Sächsischen Renaissance“ in Nordwest- und Nordböhmen durchgeführt wurde. Das Thema hängt historisch mit dem Phänomen jener sächsischen Adelsgeschlechter zusammen, die sich auf der böhmischen Seite der Landesgrenze niedergelassen hatten. Der Prozess ihrer Ankunft im böhmischen Königreich setzt bereits im Mittelalter ein, findet jedoch an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Die Problematik der sächsischen Adelsgeschlechter lutherischen Glaubens auf dem Gebiet Nordwestböhmens ist von der tschechischen Historiographie bisher hauptsächlich im Blick auf die Vermögenstransaktionen dieser Adelsfamilien, ihre Beziehungen zum böhmischen Adel oder zum Herrscher und vor allem auf konfessionelle Probleme thematisiert worden.20 Am Rande des Interesses blieb hingegen die Erforschung des breiten und beachtenswerten Ensembles von Baudenkmälern, die mit diesen Familien zusammenhängen, und die bis heute ein bestimmendes Element der untergegangenen Gestalt der historischen frühneuzeitlichen Landschaft des heutigen tschechisch-sächsischen Grenzgebietes bilden. Wie schon angedeutet, kann die detaillierte Erforschung der künstlerischen Artefakte einschließlich der Architekturstile zur Erhellung der „Sächsische Renaissance“ im Grenzgebiet beitragen. Die Dokumentation dieser Denkmäler bietet viele Möglichkeiten der Analyse einzelner Objekte: von der Untersuchung der Bauelemente, der Konstruktionen und der Dispositionen bis hin zum symbolischen Gehalt des Wesens der Gebäude und ihrer Teile. Mit der Architektur der „Sächsischen Renaissance“ befasste sich bislang vornehmlich die ältere deutsche Regionalliteratur. Eine Bewertung des Phänomens erfolgte auch durch Eva Šamánková. Zu erwähnen ist weiterhin eine Reihe von Studien von Milada Raková-Štiková, die in ein Buch über Kellergewölbe einflossen.21 Teilweise widmen sich auch Teile des 20  Zur Problematik z. B. Martin Košťál: Počátky luterské reformace na lužickém pomezí [Die Anfänge der lutherischen Reformation an der Grenze der Lausitz]. In: Z  minulosti Děčínska [Zur Vergangenheit des Děčíner Landes] 2 (1974), S. 26–41; Lenka Bobková: Cizí šlechta usazená v  severních Čechách do poloviny 17. století [Der ausländische Adel in Nordböhmen in der Mitte des 17.  Jahrhunderts]. In: dies. et  al.: Život na šlechtickém sídle v  16.–18. století [Leben auf Adelssitzen vom 16.  bis zum 18.  Jahrhundert]. Ústí  nad  Labem 1992, S. 99–113; František Šuman et  al.: Rytíři z  Bünau v  Čechách a Sasku [Die Ritter von Bünau in Böhmen und Sachsen]. Děčín 2006. 21  Milada Radová / Oldřich Radovi: Kniha o sklípkových klenbách [Das Buch über Kellergewölbe]. Praha 1998.

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bereits erwähnten Katalogs Die Kunst der böhmischen Reformation der Problematik der Architektur der „Sächsischen Renaissance“. Das Projekt des Lehrstuhls für Geschichte der UJEP Ústí nad Labem dient einer detaillierten Dokumentation der erhaltenen Kirchen, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert auf den Herrschaften des sächsischen Adels in Nordwestböhmen errichtet wurden. Es trägt Materialien und Teilunterlagen zur Erklärung der ideellen und baulichen Prinzipien dieser Architektur, ihrer Inspirationsquellen und des Kontextes der Entwicklung zwischen dem Mittelalter und der Renaissance zusammen. Untersucht wird eine Gruppe von acht Kirchen: Krásné  Březno, Most, Svádov (Schwaden), Valtířov (Waltirsche), Jedlka (Höflitz), Benešov nad Ploučnicí (Bensen), Česká Kamenice (Böhmisch Kamnitz) und Krupka (Graupen). Zur Anwendung kommen verschiedene Dokumentationsmethoden, die neben der klassischen Quellenerschließung auch Methoden umfassen, die zur Erkenntnis des Baus als materielle Quelle dienen – Bauvermessung und Geodäsie ebenso wie die professionell erstellte digitale Dokumentation. Die Anwendung sowohl traditioneller als auch moderner digitaler Methoden bei der Dokumentation historischer Gebäude eröffnet eine neue Perspektive der Forschung. Ein Beispiel für die Erstellung einer komplexen Dokumentation ist die Florianskirche in Krásné  Březno (Abb. 1). Diese Kirche ist eine typische Vertreterin aus der Gruppe der Sakralbauten im Stil der „Sächsischen Renaissance“ im ausgehenden 16. Jahrhundert. Den ersten Schritt, der zu einer umfassenden Erforschung der Entstehung und Entwicklung der Kirche führte, stellte die bauhistorische Untersuchung dar.22 Durch die Verbindung von Archivrecherchen und Feldforschungen gelang es, nicht nur die Gestalt der Kirche in den einzelnen Zeitabschnitten nachzubilden, sondern auch die Umstände ihrer Entstehung und den Ablauf des Baus der Kirche am Ende des 16. Jahrhunderts zu umreißen. Auftraggeber des Bauwerks war der Inhaber der damaligen Herrschaft Bresnitz (Březnice) Rudolf von  Bünau. Es handelte sich um einen Vertreter eines Nebenzweiges des Rittergeschlechts Bünau, das ursprünglich aus Pirna und Dresden stammte und ab 1526 auf böhmischem Gebiet siedelte, als der damals noch katholische Vertreter des Geschlechts das Inkolat erhielt und sich auf der Herrschaft Tetschen (Děčín) einkaufte.23 Im Laufe der Zeit 22  Jan Leibl / Táňa Nejezchlebová / Kamil Podroužek: SHP Kostel sv. Floriána v Ústí nad Labem – Krásném Březně, NPÚ ÚOP v Ústí nad Labem, Archiv nálezových zpráv a SHP, i.č. 1591 [Die St. Florianskirche in Ústí  nad  Labem – Krásné Březno, Nationales Institut für Denkmalpflege, Regionale Abteilung Ústí nad Labem]. 23  Zur Familie von Bünau vgl. ausführlich Martina Schattkowsky (Hrsg.): Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Leipzig 2008 sowie den Beitrag von ders. in diesem Band, S. 35–51.



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Abb. 1: Die Florianskirche in Krásné Březno.24

spaltete sich eine Reihe kleinerer Herrschaften vom Tetschener Zweig ab, einer davon war der von Bresnitz. Rudolf von  Bünau begann mit dem Bau der Kirche unweit seines Schlosses im Jahr 1597. Er wollte auf seiner Herrschaft ein lutherisches Gotteshaus errichten und somit den noch ungefestigten protestantischen Glauben in der Nähe von Ústí nad  Labem stärken. Der Bau wurde jedoch gerade aus diesem Grund auf Betreiben des katholischen Klerus von Seiten Rudolfs II. gestoppt und erst nach einer Intervention durch den Kurfürsten Moritz von Sachsen wieder erlaubt, jedoch unter der Bedingung, dass die Kirche später nur als Schlosskapelle für die Adeligen und die Dienerschaft des Schlosses fungieren sollte. Unter diesen Bedingun24

24  Alle Abbildungen sind im Rahmen des Forschungsprojektes entstanden. Die Modelle wurden vor Ort angefertigt und anschließend digital bearbeitet von Zdeněk Marek, der auch der Autor dieser Modelle ist.

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gen erhielt die Kirche 1604 ihr Gewölbe, 1606 wurde der Einbau der Innenausstattung fertiggestellt. Der gesamte Charakter der Kirche ragt aus den bisherigen Bauwerken der unmittelbaren Umgebung der Herrschaft heraus. Ihre baulichen Details zeugen von der Arbeit fremdländischer Handwerker, die sowohl mit der Bau­ tradition des sächsischen Milieus als auch mit den Arbeiten Arnolds von  Westfalen vom Ende des 15. Jahrhunderts vertraut waren.25 Neben den baulichen Details wird der Anteil der sächsischen Handwerker an der Errichtung der Kirche auch in den schriftlichen Quellen belegt, in denen Hans Boge, ein Steinmetz aus Pirna, als Baumeister angegeben ist. Über eine lange Zeit wurde dieser Steinmetz als Urheber des gesamten Bauwerkes betrachtet. Erst die erwähnte bauhistorische Erforschung widerlegte seine Autorschaft endgültig und beschränkte sie auf einen Anteil am Kirchengewölbe und am Einbau der Empore. Aber auch mit dieser Klärung taten sich neue Fragen auf, die vor allem die Quelle von Boges Stil zum Inhalt hatten, denn sowohl für die böhmische als auch für die sächsische Seite handelt es sich hier um einen bisher völlig unbekannten Steinmetz. Nach Beantwortung dieser Frage empfahl sich freilich eine detailliertere Dokumentation der Kirche durch präzisere Methoden. Zu diesem Zweck entstand mit Hilfe einer geodätischen Messung ein Drahtmodell der Kirche (Abb. 2), das vor allem die Erforschung der Dispositions- und Proportionsverhältnisse zwischen den einzelnen Gebäudeteilen möglich macht, aber auch als Rahmen für den Einsatz und die Lokalisierung weiterer Ergebnisse dient, beispielsweise für Fotopläne der einzelnen Seiten. Ein wirklich einmaliges Ergebnis der gesamten Dokumentation sind jedoch die Raummodelle des Interieurs der Kirche mit einem farblichen Raster, das mit Hilfe der Methode des Raumscannens entstand (Abb. 3). Diese Methode ermöglicht die nichtinvasive Anfertigung eines hochpräzisen Modells des Interieurs und des Exterieurs der Kirche. Dieses Modell gibt den Forschern Einblick in die einzelnen Konstruktionen und ihre gegenseitige Verknüpfung, und zwar aus solchen Blickwinkeln und mit solchen Ansichten, die anders nicht möglich wären. Dadurch gelang die Bestätigung des Verhältnisses zwischen den Fensteröffnungen der Kirche und dem Gewölbe, ebenso wie die vermutete Einfügung der Emporen im Inneren der Kirche erst nach der Fertigstellung des Gewölbes. So wurde die unterschiedliche 25  Zu Arnold vgl. Stefan Bürger: Eine neue Idee zur Herkunft des Landeswerkmeisters Arnold von Westfalen. In: Hendrik Bärnighausen (Red.): Schlossbau der Spätgotik in Mitteldeutschland. Tagungsband. Dresden 2007, S. 43–52; Ernst-Heinz Lemper: Arnold von Westfalen. Berufs- und Lebensbild eines deutschen Werkmeisters der Spätgotik. In: Hans-Joachim Mrusek (Hrsg.): Die Albrechtsburg zu Meißen. Leipzig 1972, S. 41–55.



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Abb. 2: Digitales Modell der Florianskirche.

Abb. 3: Modell des Innenraums der Florianskirche.

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Autorschaft der Außengemäuer der Kirche und der Innenkonstruktion nachgewiesen, wodurch die Behauptung, Boge sei der Autor des gesamten Bauwerks, widerlegt wurde. In einem weiteren Schritt ermöglichte das Raummodell die detaillierte Bestimmung der Profile der Gewölberippen und der Formen der Gewölbekappen. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass sich Boge von den Arbeiten Arnolds von Westfalen, etwa der Albrechtsburg in Meißen, und denen seiner Nachfolger inspirieren ließ – eine Theorie, die es in Zukunft weiter zu überprüfen gilt.

III. Sachsen und Böhmen im „langen“ 19. Jahrhundert

Mobiler Alltag Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert Von Lutz Vogel (Dresden) I. Einleitung Werden Beziehungen zweier benachbarter Staaten untersucht, so müssen dabei neben deren politischen und wirtschaftlichen Verbindungen stets auch die Migrationsbewegungen zwischen beiden Territorien betrachtet werden. Die Historische Migrationsforschung hat gezeigt, dass derartigen Wanderungen sehr oft politische oder wirtschaftliche Motive zugrunde lagen. Der sächsisch-böhmische Grenzraum war in der Frühen Neuzeit darüber hinaus auch im bedeutenden Maß von Konfessionsmigrationen geprägt. Eine eingehende Analyse von Wanderungsbewegungen und Wanderungsstrukturen im sächsisch-böhmischen Grenzraum während des 19.  Jahrhunderts zeigt aber auch andere Beweggründe, beispielsweise solche persönlicher oder familiärer Art, die nicht zuletzt aus der engen und vielgestaltigen Vernetzung der beiden Territorien resultierten. Gleich ob Wirtschaftskontakte oder familiäre Bindungen: Die Tatsache, dass die sächsisch-böhmische Grenzregion im 19. Jahrhundert von den Zeitgenossen eher als Options- und Handlungsraum denn als etwas Trennendes wahrgenommen wurde, ist von der Forschung schon aufgezeigt worden.1 Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, einerseits einen Überblick über bisherige Forschungen zur Migration von Böhmen nach Sachsen zu geben. Andererseits werden konkrete Wanderungsstrukturen anhand eines überlieferten „Querschnitts“ von österreichischen Staatsangehörigen, die in den 1850er Jahren in Sachsen lebten, analysiert. Dadurch soll die Vielfalt der unterschiedlichen Wanderungsformen aufgezeigt werden, die sich im untersuchten Zeitraum nebeneinander beobachten lassen. Dabei ergibt sich – so viel sei vorweggenommen – ein facettenreiches Bild von Menschen, die „unterwegs waren“: Wanderhändler, welche die ländliche Bevölkerung mit Produkten versorgten, die für diese sonst schwer zu erlangen waren; Saisonarbeitskräfte 1  Vgl. Caitlin E. Murdock: Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands, 1870–1946. Ann Arbor, MI 2010.

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in der Landwirtschaft, aber auch in Fabriken, sowie Tagelöhner und Dienstboten, die zum Teil jahrzehntelang in Sachsen lebten, ohne aber ihre österreichische Staatsangehörigkeit abzulegen.2 II. Forschungsüberblick Vom allgemein feststellbaren Aufschwung der Historischen Migrationsforschung in den letzten zwei Jahrzehnten profitierte auch der Blick auf Sachsen, wenngleich für die verschiedenen historischen Epochen eine jeweils unterschiedliche Intensität des Interesses zu konstatieren ist. So sind die Einwanderungen nach Sachsen in der Frühen Neuzeit – und hier insbesondere die Zuwanderung der „böhmischen Exulanten“ – im vergangenen Jahrzehnt sehr intensiv erforscht worden. Die Dissertationen von Frank Metasch, Alexander Schunka und Wulf Wäntig lieferten wichtige Beiträge, um ältere Mythen zu dekonstruieren und bestehende Forschungslücken zu schließen.3 Frank Metasch nahm sich in seiner 2011 publizierten Studie über „Exulanten in Dresden“ der Aufgabe an, „erstmals ein systematisches und komplexes Bild von der während des 17. und 18.  Jahrhunderts in Dresden erfolgten habsburgischen Exulantenimmigration zu zeichnen“.4 Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stehen dabei der Zuzug böhmischer Exulanten und die besonderen Bedingungen ihrer Aufnahme in der Residenzstadt Dresden.5 2  Vgl. Katrin Lehnert: Multilocal Locals. Grenzfälle mobiler Praxen und ihre nationale Vereindeutigung im 19.  Jahrhundert. In: Reinhard Johler / Max Matter /  Sabine Zinn-Thomas (Hrsg.): Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. Münster u. a. 2011, S. 91–97, die auf diese Vielfalt unter dem Aspekt „multilokaler Mobiltät“ anhand des Beispiels der sächsisch-böhmischen Grenze im 19.  Jahrhundert eingeht. 3  Vgl. Frank Metasch: Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 2011; Alexander Schunka: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Hamburg / Münster 2006; Wulf Wäntig: Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17.  Jahrhundert. Konstanz 2007. 4  Metasch: Exulanten in Dresden (wie Anm. 3), S. 22. 5  Vgl. darüber hinaus auch: Frank Metasch: Erinnerungskultur und Identitätsstiftung. Die „Gemeinde böhmischer Exulanten in Dresden“ im 19.  Jahrhundert. In: Lenka Bobková / Jana Konviná (Hrsg.): Korunní země v dějinách českého státu II. Společné a rozdílné. Česká koruna v životě a vědomí obyvatel ve 14.–16. století. Sborník příspěvků přednesených na kolokviu pořádaném ve dnech 12. a 13. května 2004 v Clam-Gallasově paláci v Praze [Das Kronland in der Geschichte des böhmischen Staates II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die böhmische Krone im Leben und im Bewusstsein der Bevölkerung des 14.–16 Jahrhunderts. Tagungsband des Symposiums am 12. und 13.  Mai 2004 im Clam-Gallas-Palais in Prag]. Praha 2005, S. 475–496; ders.: Die religiöse Integration der böhmischen Exulanten in Dresden während des 17. und 18.  Jahrhunderts. In: Joachim Bahlcke / Rainer Bendel



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Einen ebenso mikrohistorischen Zugang wählte Wulf Wäntig für seine 2006 veröffentlichte Studie über die Einwanderung böhmischer Exulanten in Sachsen und in die Oberlausitz im 17.  Jahrhundert. Am Beispiel des sogenannten Böhmischen Niederlandes analysiert er die Rekatholisierung Böhmens als Voraussetzung für die Immigration der evangelischen böhmischen Untertanen in die Oberlausitz und den Verlauf der Flucht beziehungsweise die bewusste Nutzung der Grenze als Druckmittel gegen die Obrigkeit.6 Allgemeiner betrachtet Alexander Schunka die Einwanderungsbewegung nach Kursachsen und in die Oberlausitz. In seiner ebenfalls 2006 publizierten Dissertation untersucht er in erster Linie die Integration der zugewanderten Personen in Sachsen: „Vor dem Hintergrund der sozialen Bedingungen an den Aufnahmeorten werden die Möglichkeiten und Mechanismen aufgezeigt, wie und wann es aufgrund von unterstützenden oder retardierenden Faktoren zu einer Integration kommen konnte, aber auch, warum die Historiografie unter Berücksichtigung des zeitgenössischen Diskurses zu einer so strikten Einordnung und Abgrenzung der Zuwanderergruppe ‚böhmische Exulanten‘ neigte.“7 (Hrsg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Köln / Weimar / Wien 2008, S. 69–94. 6  Vgl. Wäntig: Grenzerfahrungen (wie Anm. 3) sowie ders.: „Exulanten“ aus dem böhmischen Niederland in den angrenzenden Gebieten Kursachsens und der Oberlausitz. In: Michaela Hrubá (Hrsg.): Víra nebo vlast? Exil v českých dějinách raného novověku. Sborník z konference konané v Muzeu města Ústí nad Labem ve dnech 5.–6. listopadu 1998 [Glaube oder Vaterland? Exil in der böhmischen Geschichte der Frühneuzeit. Tagungsband der Konferenz im Museum der Stadt Ústí nad Labem am 5. / 6.  November 1998] Ústí nad Labem 2001, S. 107–116; ders.: Zwischen Böhmen und Sachsen, zwischen Religion und Alltagswahrnehmung. Die Mikrogeschichte frühneuzeitlicher Konfessionsmigration als Geschichte von Grenz­ erfahrungen und Grenzüberschreitungen. In: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 14 (2004), H. 4, S. 17–27; ders.: Kursächsische Exulantenaufnahme im 17.  Jahrhundert. Zwischen zentraler Dresdner Politik und lebensweltlicher Bindung lokaler Machtträger an der sächsisch-böhmischen Grenze. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 74 / 75 (2003 / 2004), S. 133–174; ders.: Alltag, Religion und Raumwahrnehmung. Der böhmisch-sächsische Grenzraum in den Migrationen des 17. Jahrhunderts. In: Miloš Řezník (Hrsg.): Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Berlin 2007, S. 69–81; ders.: Der Weg ins Exil – der Weg in den Mythos. Böhmische Emigranten als „Exulanten“ in der oberlausitzischen Geschichte und Historiographie. In: Joachim Bahlcke (Hrsg.): Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse. Stuttgart 2007, S. 191–217. 7  Schunka: Gäste, die bleiben (wie Anm. 3), S. 14; vgl. auch ders.: Autoritäts­ erwartung in Zeiten der Unordnung. Zuwandererbittschriften in Kursachsen im

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Zum gleichen Themenkomplex liegen seit dem politischen Umbruch von 1989 / 90 auch zahlreiche tschechischsprachige Arbeiten vor. Wie Milan Svoboda in seinem Forschungsbericht aus dem Jahr 2006 zeigte, sind hierzu eine Vielzahl an Einzelpublikationen, Sammelbänden, Editionen und Aufsätzen veröffentlicht worden.8 Neue systematische Erkenntnisse brachten insbesondere die Quellenedition von Lenka Bobková zur Exulanteneinwanderung in Pirna sowie die akribischen Arbeiten von Edita Štěříková zu den Ansiedlungsorten der böhmischen Einwanderer in Sachsen.9 Forschungen zum Wanderungsgeschehen in Sachsen im 19.  Jahrhundert liegen demgegenüber bislang nur vereinzelt vor. Aus der jüngeren Vergangenheit sind hier die mehr oder weniger umfangreichen Arbeiten von Caitlin E. Murdock, Solvejg Höppner, Manfred Jahn, Erhard Hartstock und Dietrich Mauerhoff zu nennen. Caitlin E. Murdock widmet sich in ihrer 2010 publizierten Studie dem sächsisch-böhmischen Grenzraum im 19. und 20. Jahrhundert.10 Ihr Anliegen ist es, „eine transnationale Geschichte der Geburt, des Lebens und des Todes eines modernen Grenzraumes“11 zu schreiben. Sie thematisiert – mit Schwerpunkt auf der Zeit nach der deutschen Reichsgründung 1871 – insbesondere den Alltag der Bewohner in der Grenzregion, zeigt deren gegenseitige Wahrnehmung sowie die gezielte Nutzung der sehr durchlässigen Grenze. Ihr besonderes Anliegen ist es, die durch eine zunehmende nationale Perspektive der Grenzwahrnehmung, durch die deutsche Reichsgründung sowie später durch die Gründung der Tschechoslowakischen Republik eintretenden Veränderungen an der sächsisch-böhmischen bzw. deutsch-tschechischen Grenze im Lebensalltag der Grenzbewohner nachzuzeichnen. 17.  Jahrhundert. In: Wulf Oesterreicher / Gerhard Regn / Winfried Schulze (Hrsg.): Autorität der Form – Autorisierung – institutionelle Autorität. Münster 2003, S. 323– 337; ders.: Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 547–565; ders.: „Ein Gravamen von der höchsten Importantz.“ Zuwanderung in  den Oberlausitzer Klosterherrschaften im 17. und 18.  Jahrhundert. In: Bahlcke (Hrsg.): Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa (wie Anm. 6), S. 218– 239. 8  Vgl. Milan Svoboda: Frühneuzeitliche Exulantenforschung in der böhmischen Historiographie 1990–2005. In: Lars-Arne Dannenberg / Matthias Herrmann / Arnold Klaffenböck (Hrsg.): Böhmen – Oberlausitz – Tschechien. Aspekte einer Nachbarschaft. Görlitz / Zittau 2006, S. 193–201. 9  Vgl. Lenka Bobková: Exulanti z Prahy a severozápadních Čech v Pirně v letech 1621–1639 [Exulanten aus Prag und Nordwestböhmen in Pirna, 1621–1639]. Praha 1999; Edita Štěříková: Exulantská útočiště v Lužici a Sasku [Zuflucht von Exulanten in der Lausitz und in Sachsen]. Praha 2004. 10  Vgl. Murdock: Changing Places (wie Anm. 1). 11  Ebd., S. 5; Übers. durch die Hrsg.



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Solvejg Höppner untersucht im Rahmen eines Dissertationsprojekts die jüdische Einwanderung nach Sachsen im Zeitraum von 1830 bis 1930.12 Ziel ihrer Studie ist es herauszuarbeiten, inwieweit sich „die jüdische Einwanderung in sächsisches Migrationsgeschehen insgesamt einordnet beziehungsweise welche Besonderheiten sich abzeichnen.“13 Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehen die „sozioökonomischen Bedingungen für die jüdische Einwanderung, wobei Aspekte der religiösen, kulturellen und beziehungsgeschichtlichen Besonderheiten einbezogen werden“14 sollen. Aus volkskundlicher Sicht beschäftigt sich Manfred Jahn mit der böhmischen Arbeitsmigration nach Sachsen im Kontext der Industrialisierung um die Wende vom 19. zum 20.  Jahrhundert.15 Ausgehend von der „außerordentlich erfolgreich verlaufende[n] Industrialisierung in Sachsen“16 und dem damit verbundenen Arbeitskräftemangel sei es in der Phase der Hochindustrialisierung zu einer verstärkten Einwanderung nach Sachsen gekommen. Als hauptsächliche Herkunftsgebiete der Zuwanderer benennt Jahn die benachbarten preußischen Provinzen sowie die thüringischen Länder und betont in diesem Zusammenhang insbesondere die große Bedeutung Böhmens: „Es ist anzunehmen, daß die natürliche Grenznähe und die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Böhmen die Zuwanderung von deutschböhmischen und tschechischen Arbeitskräften beförderte.“17 Da die einheimischen Arbeitskräfte körperlich schwere Arbeit abgelehnt hätten, seien die Zuwanderer vor allem im Baugewerbe beschäftigt worden.18 12  Vgl. Solvejg Höppner: Migration nach und in Sachsen (1830–1930). In: Werner Bramke / Ulrich Heß (Hrsg.): Sachsen und Mitteldeutschland. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen im 20.  Jahrhundert. Weimar / Köln / Wien 1995, S. 279–301; dies.: „Ostjude ist jeder, der nach mir kommt …“ Jüdische Einwanderer in Sachsen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Werner Bramke / Ulrich Heß (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20.  Jahrhundert. Leipzig 1998, S. 343–369; dies.: Juden in Sachsen während der Revolution 1848 / 49. In: Karin Jeschke / Gunda Ulbricht (Hrsg.): Dresden, Mai 1849. Tagungsband. Dresden 2000, S. 134–143; dies.: Jewish Immigration to Saxony 1834–1933. An Overview. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), S. 135–152. 13  Höppner: Migration nach und in Sachsen (wie Anm. 12), S. 279. 14  Ebd., S. 279 f. 15  Vgl. Manfred Jahn: Zuwanderung von Arbeitskräften nach Sachsen an der Wende zum 20.  Jahrhundert. In: Volkskunde in Sachsen 2 (1996), S. 97–104. 16  Ebd., S. 97. 17  Ebd., S. 98. 18  Anhand der in der Nähe von Bautzen gelegenen „Adolfshütte“ Crosta untersucht Jahn die als unzumutbar zu charakterisierenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Einwanderer, die zumeist isoliert von der ansässigen Bevölkerung in Arbeiterkasernen untergebracht waren; ebd., S. 101.

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Andere, eher lokal- bzw. regionalhistorische Arbeiten gehen nur am Rande auf die böhmische Einwanderung in Sachsen ein. Zu nennen sind die Untersuchungen von Erhard Hartstock über Juden in der Oberlausitz und Dietrich Mauerhoffs Forschungen zur Geschichte der Glasfabrik in Scheckthal bei Bautzen.19 Nimmt man die vor einem Jahrhundert publizierte empirische Studie von Erich Berger über das „nationale und konfessionelle Gefüge“ des Königreichs Sachsens einmal aus, so fehlt bislang eine grundlegende Arbeit zum Thema der böhmischen Einwanderung in Sachsen im 19.  Jahrhundert.20 Ungeachtet dieser zahlreichen „weißen Flecken“ ist inzwischen auch für den Zeitraum des 19.  Jahrhunderts eine Intensivierung der Migrationsforschung unter spezifisch sächsischer Perspektive feststellbar. Insbesondere am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden wurde in den vergangenen Jahren verstärkt an migrationshistorischen Fragestellungen gearbeitet. Aus ethnologischer Perspektive skizzierte Sönke Friedreich im Jahr 2006 „Konturen eines globalen Forschungsfeldes in regionaler Perspektive.“21 2009 publizierte er einen Aufsatz über die Auswanderung der sächsischen Altlutheraner im 19.  Jahrhundert nach Nordamerika.22 Im Rahmen eines interdisziplinären Projektes zum Ländlichen Alltag auf dem Weg in die Moderne widmete sich darüber hinaus Ira Spieker der Mobilität der Landbevölkerung.23 Auch der hier vorgelegte Text entspringt einem am ISGV angesiedelten interdisziplinären Projekt mit dem Titel Migration und Toleranz. Einwanderung im Dreiländereck Sachsen-Böhmen-Schlesien im 19. Jahrhundert. Im Rahmen dieser 19  Vgl. Erhard Hartstock: Geduldet, angesehen und verfolgt. Aus der Geschichte der Juden in der Oberlausitz. In: ders. u. a.: Juden in der Oberlausitz. 2. Aufl. Bautzen 2008, S. 6–103, bes. S. 37–54; Dietrich Mauerhoff: Die Glasmacher von Scheckthal. In: Zwischen großer Röder und kleiner Spree. Geschichte – Natur – Landschaft 5 (2008), S. 8–24. 20  Vgl. Erich Berger: Das nationale und konfessionelle Gefüge der Bevölkerung im Königreiche Sachsen. Halle an der Saale 1912. 21  Vgl. Sönke Friedreich: Volkskundliche Migrationsforschung in Sachsen. Konturen eines globalen Forschungsfeldes in regionaler Perspektive. In: Volkskunde in Sachsen 18 (2006), S. 35–52. 22  Vgl. ders.: „Schicksale und Abenteuer“. Die Auswanderung der sächsischen Altlutheraner in die USA 1838 / 39. In: Ebd. 21 (2009), S. 97–114; ders.: Fremd bleiben. Perspektiven auf Nahmobilität und Pendelmigration zwischen Böhmen und Dresden im 18. und 19.  Jahrhundert. In: Jahrbuch für Europäische Ethnologie 4 (2009), S. 149–164. 23  Vgl. Ira Spieker: Bilder in Bewegung? Mobilität und Stereotype in sächsischen Grenzregionen im 19. Jahrhundert. Zur Nationalisierung und Ethnifizierung von Fremdheit. In: Johler / Matter / Zinn-Thomas (Hrsg.): Mobilitäten (wie Anm. 2), S. 488–497.



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert75

Forschungen konnten bereits erste Ergebnisse veröffentlicht werden,24 zwei Monografien sowohl über die Einwanderung nach Sachsen als auch über die Wahrnehmung und Instrumentalisierung der sächsisch-böhmischen Landesgrenze sind derzeit im Entstehen.25 III. Böhmische Zuwanderung in Sachsen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Im Folgenden soll die böhmische Einwanderung in Sachsen in der Mitte des 19.  Jahrhundert skizziert werden. Im Fokus steht dabei die temporäre Migration, das heißt diejenige Wanderungsform, die – zumindest zum Zeitpunkt ihrer Registrierung – (noch) nicht in eine dauerhafte Anwesenheit gemündet hatte.26 Denn eine Ansiedlung auf Dauer, beispielsweise begründet durch die Etablierung eines selbstständig geführten Gewerbebetriebes oder mittels Grunderwerb, setzte im 19.  Jahrhundert die Erlangung der sächsischen Staatsangehörigkeit voraus.27 Als Hauptquelle für die Erfassung der temporären Migration aus Böhmen wurde eine Sammlung von Namenslisten einer österreichischen Bevölkerungszählung aus dem Jahr 1857 herangezogen.28 In diesen Listen 24  Vgl. Katrin Lehnert / Lutz Vogel (Hrsg.): Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19.  Jahrhundert. Dresden 2011; Lutz Vogel: Aufnehmen oder Abweisen? Die Einwanderung von Böhmen und Preußen in die sächsische Oberlausitz im frühen 19.  Jahrhundert. In: Ebd., S. 43–67; Katrin Lehnert: Räume und ihre Grenzen. Eine transregionale Perspektive auf den mobilen Alltag des 19.  Jahrhunderts. In: Ebd., S. 117–132; dies.: Multilocal Locals (wie Anm. 2); Katrin Lehnert / Lutz Vogel: Das Ziel liegt am Wegesrand. Arbeitsmobilität in der Oberlausitz des 19.  Jahrhunderts. In: Winfried Müller / Swen Steinberg (Hrsg.): Menschen unterwegs. Die via regia und ihre Akteure. Dresden 2011, S. 212–219. 25  Vgl. Lutz Vogel: Aufnehmen oder Abweisen? Kleinräumige Migration und Einbürgerungspraxis in der sächsischen Oberlausitz 1815 bis 1871 [MS]. Dresden 2011; Katrin Lehnert: Weder sesshaft noch migrantisch. Alltagsmobilität ländlicher Unterschichten und die Genese eines modernen Grenzregimes im 19.  Jahrhundert [MS]. München 2013. 26  Zum grundlegenden Problem der Kategorisierung von Migrationen vgl. den instruktiven Aufsatz von Jan Lucassen: Temporal Migration from a Historical Perspective. In: Thomas Geisen (Hrsg.): Arbeitsmigration. WanderarbeiterInnen auf dem Weltmarkt für Arbeitskraft. Frankfurt am Main / London 2005, S. 37–49 sowie Leslie Page Moch: Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650. Bloomington, IN 1992, S. 76–83. 27  Vgl. Vogel: Aufnehmen oder Abweisen? (wie Anm. 24), S. 45–50. 28  Erfasst werden sollten dabei diejenigen österreichischen Staatsangehörigen, die seit mehr als einem Jahr in Sachsen lebten, ohne sich dort dauerhaft niedergelassen zu haben. Die Listen sind überliefert in: Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaats­

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sind umfangreiche Daten wie der Name, das Alter oder Angaben zur ausgeübten Tätigkeit zu jedem registrierten österreichischen Staatsangehörigen erfasst worden.29 Die folgenden statistischen Auswertungen beziehen sich dabei hauptsächlich auf das Gebiet der damaligen Kreisdirektion Bautzen. 1. Umfang der böhmischen Einwanderung Einwandererverzeichnisse sind eine häufig genutzte Quelle der Historischen Migrationsforschung. Sie liefern detaillierte Informationen über Herkunft, Erwerbstätigkeit, Alter, Religionszugehörigkeit oder den Familienstand der Einwanderer. Derartige Verzeichnisse sind jedoch methodisch kritisch zu betrachten: So spielt der Zeitpunkt ihrer Anlegung eine entscheidende Rolle für die Erfassung spezieller Migrantengruppen, beispielsweise bei Saisonarbeitern.30 Zudem schwankt bisweilen die Qualität der Aufzeichnungen, die zumeist von einer staatlichen Behörde angewiesen, aber von Verwaltungsträgern in Gemeinden oder Ortsobrigkeiten vorgenommen wurden. Die jahreszeitliche Fluktuation von Arbeitskräften in einem Gebiet oder die vorher bereits durchlaufenen Migrationsstationen der einzelnen Personen werden daarchiv Dresden (SächsHStA Dresden), 10736 Ministerium des Innern (MdI), Nr. 275 a, b, c. Zum Entstehungshintergrund der am 31.  Oktober 1857 durchgeführten Zählung siehe SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 2–7. 29  Die Volkszählung, die unter der Leitung des sächsischen Ministeriums des Innern von den jeweiligen Ortsobrigkeiten vorgenommen wurde, erfolgte anhand einer von der österreichischen Regierung erstellten Vorlage, in der der vollständige Name, das Geburtsdatum, die Konfession, die berufliche Tätigkeit, der Familienstand, der Herkunftsort sowie die Art der Legitimationspapiere vermerkt werden mussten. Aufgrund der lokal unterschiedlich gehandhabten Auslegung dieser Anordnung ist eine uneinheitliche Ausführung zu konstatieren. So gaben einzelne Ortsrichter beispielsweise grundsätzlich nur das Geburtsjahr an, während in anderen Orten vermerkt wurde, dass das genaue Geburtsdatum nicht zu ermitteln gewesen sei und somit „nur“ das Jahr eingetragen werden konnte. Siehe beispielsweise die Eintragungen des Annaberger Stadtrats, welcher nur das Geburtsjahr der Einwanderer verzeichnete im Gegensatz zur Praxis des Ortsrichters von Wittigsthal bei Johanngeorgenstadt, welcher bei der Viehmagd Franziska Hahn bemerkte, dass die genaue Angabe ihres Geburtsdatums nicht möglich gewesen wäre. Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 38–40 (Annaberg), 67 f. (Wittigsthal). 30  Vgl. beispielsweise die Bemerkung des Gerichtsamts Geringswalde über die Anwesenheit des aus Lobendau (Lobendava) stammenden Schleifers Josef Strobach. Dieser hatte sich zwischen dem 3. Februar und 19. September 1857 in Gerings­walde aufgehalten, wurde aber dennoch in der zum Stichtag 31.  Oktober 1857 erhobenen Bevölkerungsliste erfasst. Da die Aufzeichnung derartiger Listen lokal unterschiedlich gehandhabt wurde, ist davon auszugehen, dass eine sehr große Anzahl böhmischer Einwanderer, die als Saisonarbeitskräfte nach Sachsen kamen, nicht erfasst wurden. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 52–54.



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert77

her nicht umfassend abgebildet.31 Die Ergebnisse solcher Volkszählungen liefern folglich nur einen „spotlightmäßigen“32 Blick auf das Wanderungsgeschehen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Hinzu kommt das Problem der kategorialen Einordnung der Migranten durch die mit der Zählung beauftragten Behörden, das zu Verzerrungen führen kann.33 Die Quantifizierung der böhmischen Einwanderung ist somit recht schwierig, auch weil erst ab den 1850er Jahren regelmäßige Erhebungen der ausländischen Wohnbevölkerung in Sachsen durchgeführt wurden. Zudem bergen die Daten auch einige Ungenauigkeiten, denn bei der Erfassung österreichischer Staatsangehöriger wurden beispielsweise auch Frauen registriert, die ihren Geburtsort gegebenenfalls nie verlassen, durch die Heirat mit einem Österreicher aber dessen Staatsangehörigkeit übernommen hatten.34 Trotz dieser Einflussfaktoren lässt sich eine Tendenz ganz deutlich 31  Eine – wenn auch sehr eingeschränkte – Möglichkeit der Sichtbarmachung von individuellen Migrationsrouten bietet sich in den Fällen an, in denen gesamte Familien wanderten. Am Beispiel der während der Wanderschaft geborenen Kinder – bzw. vielmehr deren Geburtsorten – kann zumindest grob nachgezeichnet werden, an welchen Orten sich die Einwanderer vor dem Zeitpunkt ihrer Erfassung aufhielten. Die 37-jährige Franziska Emilie Naak lebte so beispielsweise 1857 gemeinsam mit ihrem Mann, dem herrschaftlichen Jäger und Gärtner Franz Joseph Naak, und ihren drei Kindern auf dem Rittergut Obersteinbach bei Döbeln. Franziska Emilie Naak wurde in Hainichen geboren, war aber durch die Heirat mit ihrem aus Deutsch Zlatnik (Slatinice, heute aufgelassen) stammenden Ehemann automatisch österreichische Staatsangehörige geworden. Ihre Kinder wurden in den sächsischen Orten Pappendorf, Stockhausen und Hainichen geboren. Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 20–22. 32  Sylvia Hahn: Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20.  Jahrhunderts. Göttingen 2008, S. 19. 33  Zu Problemen mit der Datenerfassung beziehungsweise der damaligen Definition von saisonaler Migration vgl. Josef Ehmer / Hermann Zeitlhofer: Ländliche Migration in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53 (2005), H. 1, S. 40–58, hier: S. 44, 52. In den Bevölkerungslisten aus dem Jahr 1857 wurden so zum Teil auch ehemalige österreichische Staatsangehörige erfasst, die bereits Jahre zuvor die sächsische Staatsangehörigkeit erworben hatten. Vgl. beispielsweise den Fall des Schneiders Anton Alber aus Morgentau (Rousínov), der am 13.  Juli 1849 eingebürgert worden war, aber bei der Zählung der österreichischen Untertanen in seinem Wohnort Wehrsdorf 1857 mit erfasst wurde. Vgl. Sächsisches Staatsarchiv – Staatsfilialarchiv Bautzen (StFilA Bautzen), 50012 Kreisdirektion / Kreishauptmannschaft Bautzen (KD / KH Bautzen), Nr. 514, fol. 171–174, Nr. 515, fol. 45 f.; SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 206, 364. 34  So wurde beispielsweise in der Stadt Löbau die 41-Jährige Handarbeiterin Hahner verzeichnet, welche zu diesem Zeitpunkt bereits verwitwet gewesen ist. Zu ihrem Eintrag wurde vermerkt: „Ist die Wittwe von Josef Hahner, Korbflechter aus Rumburg, legitimirt durch Paß d. d. Prag, 28.02.1857, übrigens aber geborene Sachsin.“ SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 146 f.

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Lutz Vogel Tabelle 1 Anzahl der in Sachsen lebenden österreichischen Staatsangehörigen, 1857–190035 Jahr

Anzahl in Sachsen lebender österreichischer Staatsangehöriger

1857

  3.358

1867

  15.211

1880

 30.600

1890

 66.470

1900

113.474

ablesen: die enorme Zunahme in Sachsen lebender österreichischer Staatsangehöriger ab Ende der 1850er Jahre. Wurden 1857 insgesamt 3.358 österreichische Staatsangehörige gezählt, so vermehrte sich deren Zahl bis ins Jahr 1867 auf das Fünffache (Tabelle 1). Diese Zunahme gewann im Zuge der Hochindustrialisierung nochmals an Intensität: 1880 wurden bereits über 30.000 österreichische Staatsangehörige registriert und im Jahr 1900 lebten über 113.000 Österreicher in Sachsen. 35

Nach den Preußen bildeten die Österreicher damit die zweitgrößte Ausländergruppe in Sachsen,36 denn die Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes betrachteten sich gegenseitig als Ausland. Eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit wurde erst 1934 im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ eingeführt.37 35  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 2; Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus 14 (1868), S. 202 f.; Berger: Gefüge der Bevölkerung (wie Anm. 20), Tabelle I, unpag. 36  In der im Jahr 1867 durchgeführten Zollvereinszählung wurden insgesamt 94.728 ausländische Personen ermittelt, die sich zu diesem Zeitpunkt in Sachsen aufhielten. Über drei Viertel (75,8 Prozent) aller Ausländer stammten aus Mitgliedsstaaten des Norddeutschen Bundes, allein 55.393 (58,8 Prozent) besaßen die preußische Staatsangehörigkeit. Die zweitgrößte Gruppe stellten – allerdings mit großem Abstand – die österreichischen Staatsangehörigen mit einem Anteil von 16,1 Prozent. Vgl. Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus 14 (1868), S. 198 f. 37  Vgl. „Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit“ vom 5. Februar 1934. In: Reichsgesetzblatt 1934, Teil 1. Berlin 1934, S. 85. In Paragraf 1 heißt es dort: „(1) Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Ländern fällt fort. (2) Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit).“



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert

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Die rechtliche Grundlage für die hier untersuchte temporäre Wanderungsbewegung bildete das sächsische Heimatgesetz aus dem Jahr 1834, in dem vorgeschrieben wurde, dass jede in Sachsen lebende Person – gleich ob In- oder Ausländer – einem sogenannten Heimatbezirk zugewiesen werden musste, um damit zu regeln, welche Behörde im Verarmungsfall für die Versorgung des Einzelnen aufzukommen hatte.38 Migrationen wurden somit von Seiten des Staates in erster Linie unter dem Aspekt eventuell entstehender Sozialkosten betrachtet, eine behördliche Unterscheidung zwischen „erwünschter“ und „unerwünschter“ Mobilität ist deutlich zu erkennen.39 In der Praxis bedeutete dies, dass Ausländer, die sich in Sachsen aufhalten wollten, Legitimationsurkunden vorweisen mussten.40 Sogenannte Heimatscheine, Reisepässe oder – bei Handwerkern – Wanderbücher wurden hierfür benötigt. Durch diese Papiere wurde geregelt, dass die jeweilige Heimatgemeinde für die Versorgung des Einzelnen im Verarmungs- oder Krankheitsfall aufzukommen hatte. Dass es eine regelmäßige oder gar restriktive Kontrolle der Legitimationspapiere der böhmischen Einwanderer gegeben hat, kann aber nicht festgestellt werden. In der 1857 angefertigten Bevölkerungsliste sind beispielsweise abgelaufene Reisepässe (die in der Regel auf ein bis zwei Jahre ausgestellt worden waren) oder Heimatscheine (die in der 38  Vgl. „Heimaths-Gesetz“ vom 26.  November 1834. In: Sammlung der Gesetze und Verordnungen für das Königreich Sachsen 1834. Dresden 1834, S. 449–456; sowie die dazugehörige Ausführungsverordnung. In: Ebd., S. 456–460. Zur Bewertung des sächsischen Heimatgesetztes siehe grundlegend Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich. Düsseldorf 2006, S. 200–244 sowie Gerhard Schmidt: Die Staatsreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Eine Parallele zu den Steinschen Reformen in Preußen. Weimar 1966, S. 159 f. 39  Vgl. Astrid Küntzel: Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814. Köln / Weimar / Wien 2008, S. 5; Helga Schnabel-Schüle: Wer gehört dazu? Zugehörigkeitsrechte und die Inklusion von Fremden in politische Räume. In: Andreas Gestrich / Lutz Raphael (Hrsg.): Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2004, S. 51–61, hier: S. 55. In diesem Sinn galt die Migration von Handwerksgesellen – ausgenommen die Zeit zwischen 1848 / 49 und Mitte der 1850er Jahre, in der wandernde Handwerker per se als für die staatliche Ordnung bedrohlich wahrgenommen wurden  – als grundsätzlich erwünscht, wogegen Wanderhändler und vor allem Bettler von den Behörden mit großem Misstrauen beobachtet wurden. 40  Vgl. Murdock: Changing Places (wie Anm. 1), S. 17 f. Zur Entwicklung der Heimatgesetzgebung in Österreich vgl. grundlegend Harald Wendelin: Schub und Heimatrecht. In: Waltraud Heindl / Edith Saurer (Hrsg.): Grenze und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht, und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750–1867). Wien / Köln / Weimar 2000, S. 173–343, bes. S. 195– 230; Martin P. Schennach: Der „Österreicher“ als Rechtskonstrukt? Zur Formierung einer österreichischen Staatsbürgerschaft in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 33 (2011), H. 3 / 4, S. 152–174.

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Regel eine Gültigkeit von drei Jahren hatten) verzeichnet, bei einigen wurde auch schlichtweg vermerkt, dass eine entsprechende Legitimation nicht aufzufinden gewesen war.41 2. Herkunft der Einwanderer Eine Auswertung der regionalen Herkunft jener österreichischen Staatsangehörigen, die 1857 in Sachsen lebten, ergab, dass die große Mehrheit der Einwanderer aus dem Territorium des Königreichs Böhmen kam, dabei viele von ihnen aus dem direkten Grenzgebiet. Die zurückgelegten Wegstrecken waren oftmals vergleichsweise gering, das heißt, es kann eine ausgeprägte Wanderung aus ländlichen Gebieten Böhmens in ländliche Regionen Sachsens konstatiert werden. Die in Ostsachsen und in der Oberlausitz eingewanderten österreichischen Staatsangehörigen stammten zumeist aus den direkt an Sachsen grenzenden böhmischen Kreisen Leitmeritz (Litoměřice) und Bunzlau (Mladá Boleslav), die in Südwestsachsen – beispielsweise nach Plauen – eingewanderten Personen kamen demgegenüber zumeist aus den Kreisen Saaz (Žatec) und Eger (Cheb).42 Einwanderer aus größeren oder weiter entfernten Städten Böhmens bzw. der Habsburgermonarchie waren demgegenüber fast ausschließlich in den drei sächsischen Großstädten Chemnitz, Dresden und Leipzig sowie – aufgrund der überregionalen Bedeutung der dortigen Bildungsstätten – in Tharandt und Freiberg zu verzeichnen.43 Die sich in den sächsischen Großstädten entwickelnde Industrie, dort ansässige Spezialhandwerke, Lehreinrichtungen von internationaler Bedeutung wie auch Wissenschaft, Kunst und Kultur waren anziehende Faktoren für überregionale Migrationen jener Zeit. 41  Vgl. exemplarisch die drei in Netzschkau anwesenden österreichischen Staatsangehörigen, zu denen vermerkt wurde: „Eine Legitimation ist nicht aufzufinden.“ Zu dem aus Weipert (Vejprty) stammenden Strumpfwirker Johann Christian Schreier vermerkte der Ortsrichter von Gornsdorf, dass er in diesem Ort bereits seinen Beruf erlernt habe und keine Reiseurkunde vorlegen könne. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 25 f., 59 f. 42  Zugrunde gelegt wurde hierbei die im Jahr 1855 eingeführte Verwaltungsgliederung Böhmens. Vgl. Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich 1854. Wien 1854, S. 1019–1074 sowie Helmut Slapnicka: Die neue Verwaltungsgliederung der Tschechoslowakei und ihre Vorläufer. In: Der Donauraum 5 (1960), H. 3, S. 139–158. 43  In Freiberg sind beispielsweise „Bergacademisten“ aus Wien und Nieder Feistritz (Österreich) verzeichnet, in Tharandt hielten sich elf österreichische Studenten an der dortigen Forstakademie auf, die aus den österreichischen Kernlanden, Mähren sowie Ungarn stammten. In Leipzig und Dresden sind darüber hinaus auch Handelsschüler, Lehrlinge sowie Studenten erfasst worden, die aus weiter entfernt gelegenen Orten der Habsburgermonarchie stammten. Vgl. Sächs­HStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 454 f., 523–530.



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert81 Tabelle 2 Regionale Verteilung der Einwanderung österreichischer Staatsangehöriger in Sachsen, 1857 / 186744 Kreisdirektionsbezirk

In Sachsen lebende österreichische Staatsangehörige 1857

1867

Anzahl

Anteil in Prozent

Anzahl

Anteil in Prozent

Bautzen

1.217

36,3

 4.414

29,0

Chemnitz / Zwickau

1.249

37,2

 5.087

33,5

Dresden

  629

18,7

 4.381

28,8

Leipzig

  263

 7,8

  1.329

 8,7

Summe

3.358

15.211

In Chemnitz lebten 1857 beispielsweise ein Glasergeselle aus Bozen, ein Zeichner sowie eine Lehrerin aus Wien oder der zu diesem Zeitpunkt 46-jährige Andreas Grubhofer aus Innsbruck, dessen Beruf mit „ElefantenFührer“ angegeben wurde.45 44

Die ausgeprägte Kleinräumigkeit der böhmischen Einwanderung in Sachsen ist aber auch an der Ansiedlung selbst zu erkennen. Wie Tabelle  2 zu entnehmen ist, wurden – im Jahr 1857 wie auch zehn Jahre später – die mit Abstand meisten österreichischen Staatsangehörigen in den an Böhmen grenzenden Kreisdirektionsbezirken Zwickau und Bautzen verzeichnet, wogegen im grenzfernen Kreisdirektionsbezirk Leipzig nur sieben bis acht Prozent aller in Sachsen lebenden Österreicher registriert wurden.46 44  Eigene Darstellung nach: SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, b; Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus 14 (1868), S. 202 f. 45  Josef Ringgera, 23 Jahre alt, Glasergeselle, katholisch, ledig, aus Bozen in Südtirol; Otto Wertheim, 23 Jahre alt, Zeichner, ledig, aus Wien; Colestine Köhner, 51  Jahre alt, Lehrerin, evangelisch, verwitwet, aus Wien, nebst drei Kindern im Alter von zwölf bis 20 Jahren; Andreas Grubhofer, 46 Jahre alt, Elefanten-Führer,  katholisch, verheiratet, aus Innsbruck, nebst seiner Ehefrau Sophie (ebenfalls 46 Jahre alt) und seiner Tochter Amalie (30 Jahre alt). SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 342–369. 46  Die These der Kleinräumigkeit kann umgekehrt für dieses Gebiet anhand der Analyse des Zuzugs anderer Ausländer, die aus dort angrenzenden Regionen stammten, bestätigt werden. Aus der Zählung des Jahres 1867 geht so beispielsweise hervor, dass sich 56,2 Prozent der insgesamt 55.393 preußischen Staatsangehörigen, die zu dieser Zeit in Sachsen lebten, im Kreisdirektionsbezirk Leipzig aufhielten. Ähn-

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Die Einwanderung in die ländlichen Gebiete Sachsens dominierte im Jahr 1857 sehr stark. Wenngleich angenommen werden muss, dass sich das Stadt-Land-Verhältnis insbesondere im Zuge der Hochindustrialisierung erheblich zugunsten der Städte veränderte, ist Ende der 1850er Jahre eine große, allerdings regional unterschiedliche Bedeutung der Einwanderung in den ländlichen Raum messbar. Nur im Kreisdirektionsbezirk Leipzig überwog die Ansiedlung in der Großstadt,47 in allen anderen Verwaltungsbezirken Sachsens hatte die Einwanderung in die Städte fast nur marginalen Charakter.48 Auch auf lokaler Ebene ist die Dominanz kleinräumiger Zuwanderung insbesondere aus dem deutschsprachigen Teil Böhmens nachweisbar. Am Beispiel Plauens wird dies deutlich: Von den insgesamt 25 österreichischen Staatsangehörigen, die 1857 in der Stadt lebten, stammten 23 aus Orten, die sich im damaligen Kreis Eger befanden. Aus den direkt an Sachsen grenzenden Unterverwaltungseinheiten, den Bezirken Asch (Aš) und Eger, stammten allein 14 Einwanderer. Lediglich eine Dienstmagd aus Görkau (Jirkov), Kreis Saaz, sowie ein Handlungscommis aus Wien stammten nicht aus der böhmischen Grenzregion.49 Die Analyse der zurückgelegten Wege von Menschen aus demselben Herkunftsort nach Sachsen untermauert dies nochmals eindrücklich. Insgelich große Anteile ließen sich außerdem für Braunschweig (56,3 Prozent), SachsenCoburg-Gotha (52,4 Prozent) und Anhalt (68,2 Prozent) ermitteln. Dagegen zogen die mit Abstand meisten Einwanderer aus den Reußischen Fürstentümern (71 Prozent), aus Bayern (57 Prozent) und aus Sachsen-Altenburg (51,4 Prozent) in den Kreisdirektionsbezirk Chemnitz-Zwickau. Vgl. Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus 14 (1868), S. 202 f. 47  Im Kreisdirektionsbezirk Leipzig lebten über 60 Prozent der dort wohnhaften österreichischen Staatsangehörigen in der Stadt Leipzig. Eigene Berechnung nach: SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 8–129. 48  In der sächsischen Oberlausitz lebten insgesamt nur zehn Prozent der österreichischen Einwanderer in den „Oberlausitzer Vierstädten“ Bautzen, Löbau, Kamenz und Zittau. Im Kreisdirektionsbezirk Dresden hielten sich nur 13,8 Prozent der Österreicher in der Stadt Dresden auf (zum Vergleich: in der an der sächsisch-böhmischen Landesgrenze gelegenen Stadt Sebnitz hielten sich 16,7 Prozent aller Österreicher in diesem Verwaltungsbezirk auf; rechnet man das Umland – den Gerichtsamtsbezirk Sebnitz – noch dazu, erhöht sich dieser Anteil auf 24,2 Prozent). Im Kreisdirektionsbezirk Chemnitz-Zwickau lebte ein Viertel der österreichischen Staatsangehörigen in den beiden größten Städten des Bezirks. Eigene Berechnungen nach: SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 130–437 (Kreisdirektionsbezirk Bautzen); ebd., Nr. 275 b (Kreisdirektionsbezirke Dresden und Chemnitz-Zwickau). 49  Eigene Berechnungen nach: SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 235–240. Die Zuordnung zu den damaligen Verwaltungseinheiten erfolgte anhand der 1855 eingeführten Kreis- und Bezirksgliederung Böhmens. Vgl. ReichsGesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich 1854 (wie Anm. 42), S. 1019–1074.



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert83

samt 23 aus Weipert (Vejprty) stammende Einwanderer wurden im Rahmen der Bevölkerungszählung erfasst. Allein 13 von ihnen lebten im unmittelbar angrenzenden sächsischen Territorium, nämlich in Bärenstein mit Kühberg, Stahlberg sowie Hammerunterwiesenthal – allesamt Orte, die direkt an den Flurgrenzen von Weipert gelegen und somit nur wenige Kilometer entfernt waren. Die übrigen zehn Einwanderer lebten in Orten zwischen Annaberg und Chemnitz, mithin in einem Umkreis von nicht mehr als 40 Kilometern.50 3. Wanderungsstrukturen und Sozialtopografie Anhand der Analyse der Herkunftsorte werden aber auch ausgeprägte Kettenwanderungsstrukturen erkennbar: Menschen ähnlichen, das heißt insbesondere jungen Alters verließen oft gemeinsam ihren (böhmischen) Heimatort und zogen in denselben Ort oder zumindest in dieselbe Gegend in Sachsen. Neben Aspekten der höheren Sicherheit auf dem Weg zum Arbeitsort sind hier insbesondere die kommunikativen Beziehungen zwischen denjenigen, die zuerst gegangen waren, und denjenigen, die zunächst geblieben waren, ausschlaggebend gewesen. Denn Informationen über Arbeitsmöglichkeiten oder Arbeitsbedingungen fanden auf diese Weise Verbreitung, wobei die geringe Entfernung zwischen Herkunfts- und Arbeitsort hierfür sicher förderlich gewesen ist.51 Die Beobachtung von Kettenwanderungen lässt sich in recht vielen sächsischen Gemeinden machen, so beispielsweise in Steinigtwolmsdorf in der Oberlausitz, wohin zwölf Blumenarbeiterinnen gezogen waren, von denen allein sieben aus dem nur vier Kilometer entfernten Hilgersdorf (Severní) stammten.52 Im westsächsischen Oberwürschnitz sind fünf Bergarbeiter verzeichnet, die allesamt aus dem Ort Schmiedeberg (Kovářská) stammten.53 Neben Wanderungen aus identischen Herkunftsorten sind auch gemeinsame Wanderungen von Familienmitgliedern nachweisbar.54 So gab es 50  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 39 f., 50 f., 137–139, 292–295. 51  Vgl. Moch: Moving Europeans (wie Anm. 26), S. 81. 52  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 357 f. Zumindest dem Namen nach befanden sich darunter auch drei Schwestern: Marie, Theresia und Anna Günther (im Alter zwischen 13 und 15 Jahren) stammten aus Hilgersdorf und gaben als Legitimation einen sogenannten Gubernialpass an, der am selben Tag ausgestellt worden war. 53  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 60 f. 54  Auf dem Rittergut Gärtitz bei Döbeln arbeiteten beispielsweise die aus Markersdorf (Markvartice u Děčína) stammenden Geschwister Joseph (22 Jahre alt, gelernter Bäcker, tätig als „Brauerei-Aufsichtsführer“) und Juliane Richter (16 Jahre

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bei den letztgenannten Bergarbeitern vermutlich zwei Brüder sowie einen Vater, der mit seinem Sohn nach Oberwürschnitz gezogen war.55 Der letztgenannte Aspekt verweist auch auf die Familienverhältnisse der Einwanderer. Das in der älteren Historischen Migrationsforschung oftmals gezeichnete Bild des jungen, ledigen Mannes, der die Migrationsprozesse dominierte,56 kann durch die Analyse der österreichischen Einwanderer in Sachsen nur teilweise bestätigt werden. Zwar waren etwa 80 Prozent aller Einwanderer ledigen Standes, die Geschlechterverteilung hingegen war ausgewogen: Im Kreisdirektionsbezirk Bautzen waren 49,5 Prozent aller Zugewanderten weiblich. Dabei ist zu erwähnen, dass sich diese Zahl keineswegs überwiegend aus Ehefrauen ergeben hat, die ihren Männern folgten, denn mindestens 85 Prozent aller Migrantinnen gingen zum Zeitpunkt der Erstellung der Liste einer Beschäftigung nach. Bei den als „Ehefrau“ verzeichneten ist darüber hinaus überdies zu vermuten, dass diese zumindest teilweise eigenständige Beschäftigungen ausübten. Das durchschnittlich relativ junge Lebensalter der böhmischen Einwanderer lässt sich dagegen bestätigen. Das Durchschnittsalter aller Migranten betrug 26 Jahre, die Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen war mit 39,4 Prozent die größte. Durch die – zumindest im ländlichen Raum – häufiger festzustellende Wanderung gesamter Familien ist zudem der Anteil der Kinder und Jugendlichen weitaus höher als jener der über 50-Jährigen. In Bezug auf die familiäre Situation verheirateter Migranten ist überdies neben der Wanderung mit der gesamten Familie auch die Einzelwanderung von Ehemännern zu konstatieren, deren Familien in Böhmen verblieben waren.57 Betrachtet man die Tätigkeitsfelder der böhmischen Migranten, so fällt die Dominanz zweier Bereiche deutlich ins Auge: zum einen das Textilgewerbe, zum anderen die Landwirtschaft. Bei den männlichen Einwanderern dominierte das Textilgewerbe, in dem fast jeder zweite arbeitete. Knapp ein Drittel aller Arbeitsmigranten gaben an, als Weber tätig zu sein, jeder zehnte wurde als Dienstknecht verzeichnet und etwa sieben Prozent als Bäcker. Bei den weiblichen Einwanderern war die Verteilung ähnlich: Dienstmagd, alt, tätig als „Wirthschafterin“). Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 20–22. 55  Eine solche Konstellation ist wiederum aufgrund der Namensgebung denkbar: Die Bergarbeiter Ignaz Loos (39 Jahre alt) sowie Anton Loos (19 Jahre alt) stammten ebenso aus Schmiedeberg wie Anton und Franz Schmiedl (23 und 24 Jahre alt). Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 60 f. 56  Vgl. Moch: Moving Europeans (wie Anm. 26), S. 76. 57  Zu dem 48-jährigen Bäckergesellen Christoph Maaz aus Hilgersdorf, der sich zum Zeitpunkt der Zählung in Dobschütz bei Bautzen aufhielt, vermerkte die dortige Ortsobrigkeit, dass dessen Frau und Kinder in seinem Herkunftsort lebten. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 181 f.



Böhmische Einwanderer in Sachsen im 19. Jahrhundert85

Weberin sowie Dienstbotin waren die drei am häufigsten genannten Tätigkeiten.58 Doch diese Momentaufnahme der Beschäftigungsverhältnisse der Einwanderer muss durch eine strukturelle Analyse der Migrationsbedingungen ergänzt werden. Die hierfür zugrunde gelegte Bevölkerungszählung wurde am 31.  Oktober 1857 durchgeführt, sodass angenommen werden muss, dass der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten saisonbedingt weitaus höher gelegen hat. Dies geht auch aus einer Mitteilung des Stollberger Stadtrates hervor, der – begleitend zur Übersendung der Zähllisten für diese Bevölkerungszählung – gegenüber dem sächsischen Innenministerium bemerkte: „Es kommen zwar alljährlich viele Böhmen in hiesige Stadt und Gegend, sie kehren aber regelmäßig mit Eintritt des Winters in ihre Heimath zurück und kommen im Frühling wieder.“59 Die Saisonwanderung stellte aber nur einen Teil des Wanderungsgeschehens insgesamt dar. Neben dringend benötigten landwirtschaftlichen Arbeitskräften kamen zum Beispiel auch Bauhandwerker saisonal nach Sachsen. Zu dem 40-jährigen Ziegeldeckermeister Joseph Löbel aus Saara (Žďár u Velkého Chvojna) wurde 1857 beispielsweise vermerkt, dass er sich seit 1843 alljährlich vom Frühjahr bis zum Herbst in Pulsnitz aufgehalten habe, während seine Familie in dieser Zeit in Böhmen lebte. Ebenso sind Handwerker verzeichnet, die zum Zwecke ihrer Ausbildung auf der „Walz“, also auf der Wanderschaft, waren und zum Zeitpunkt der Erstellung der Liste in Sachsen weilten. Zu dem 30-jährigen Schneidergesellen Johann Radunky, der aus dem Bezirk Jitschin (Jičín) stammte und in Dornhennersdorf in der Oberlausitz erfasst wurde, ist zu erfahren, dass er wenige Wochen zuvor auf Besuch in den Ort kam, Arbeit fand und sich dort nun länger aufhalten wollte.60 Wanderhändler, die insbesondere die ländliche Bevölkerung mit solchen Waren versorgten, die für diese ansonsten nur schwer zu erlangen 58  Diese Verteilung hat sich – so ist zumindest anzunehmen – im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung mehr in Richtung der Fabrikarbeit verlagert. Aus einem Bericht der Handels- und Gewerbekammer Zittau aus dem Jahr 1863 wird die große Bedeutung ausländischer Arbeitskräfte für die Industrie der Grenzstadt ersichtlich: „Die Zittauer Orleans-Fabriken beschäftigen zwischen vierzehn und fünfzehn Hundert Arbeiter und Arbeiterinnen (letztere in der Mehrzahl, da für Maschinenstühle fast nur Mädchen verwendet werden). Unter diesen befinden sich viele aus Preußen und besonders aus Böhmen (von denen die Meisten Sommer und Winter Abends eine Meile weit nach Hause gehen und früh wieder hereinkommen), ja es soll den Ausländerinnen in neuester Zeit sogar der Vorzug um deswillen gegeben werden, weil aus ihren Zeugnissen zu ersehen ist, ob sie in ihren früheren Stellungen bescheiden, fleißig und ehrlich […] sich benommen haben […].“ Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer zu Zittau 1862 und 1863. Dresden 1863, S. 49. 59  SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 77. 60  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 326.

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waren, oder andere „mobile“ Arbeiter wie Viehschneider, verdienten ebenfalls in Sachsen ihr Geld, ohne sich hier ansässig zu machen.61 Auch Tagespendler aus Böhmen gehörten zum Gesamtbild der ausländischen Arbeitskräfte, die in Sachsen ihren Lebensunterhalt verdienten. Daneben lebten etliche österreichische Staatsangehörige über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Sachsen – und galten somit formell als „Migranten“ –, ohne ihre Heimatzugehörigkeit in Böhmen abzugeben: Der 52-Jährige Schleifer Johann Hille lebte so bereits seit seinem 15. Lebensjahr in Waldenburg; der in Wernsdorf bei Pockau im Erzgebirge lebende 61-jährige Handarbeiter Carl Seifert gab an, dass er Böhmen bereits 1815 verlassen hatte.62 IV. Zusammenfassung Es ergibt sich also ein vielschichtiges Bild der böhmischen Einwanderung in Sachsen im 19.  Jahrhundert. Verschiedene Personengruppen mit unterschiedlich langer Migrationserfahrung – manche hatten ihr mobiles Leben zum Zeitpunkt der Erhebung der Liste gerade erst begonnen, andere hatten dagegen ihren Heimatort bereits im Kindesalter verlassen – und mit verschiedenartigsten Zielen wanderten von Böhmen nach Sachsen: Handwerker, um ihre Fertigkeiten zu verbessern, Händler, weil sie in Sachsen ihre bevorzugten Absatzmärkte sahen, Gesindeleute und Tagelöhner, weil sie hier ihr Auskommen finden wollten – oder auch österreichische Staats­ bedienstete (etwa Grenz- oder Zollbeamte) lebten 1857 in Sachsen.63 Wohin ihre weiteren Lebenswege führten, kann im Einzelfall nicht nachvollzogen  werden. Punktuelle Erhebungen zur Oberlausitz eröffnen aber die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten: von der Niederlassung in Sachsen und der damit verbundenen Erlangung der sächsischen Staatsangehörigkeit,64 61  Im erzgebirgischen Pobershau wurde beispielsweise zu vier aus Mähren stammenden Viehschneidern bemerkt: „Dieselben treiben ihr Gewerbe in der Regel auswärtig, man hat jedoch die Aufzeichnung derselben […] für nöthig erachtet, weil sie in Pobershau ansässig sind.“ SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 129 f. 62  Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 b, fol. 78 f., 111 f. 63  Insbesondere in Grenzstädten wie Brambach, Elster, Zittau oder Großschönau lebten österreichische Zollbeamte. Vgl. SächsHStA Dresden, 10736 MdI, Nr. 275 a, fol. 210 f., Nr. 275 b, fol. 200 f. 64  Vgl. hierzu exemplarisch den Lebensweg des Dienstknechts Johann Ambrosius Schlucke, der 1814 seinen an der sächsisch-böhmischen Landesgrenze gelegenen Geburtsort Ketten (Chotyně) verließ und in den folgenden zehn Jahren an insgesamt fünf verschiedenen Orten in der Oberlausitz lebte (Olbersdorf, 1814–16; Türchau (Turoszów), 1817–1819; Wittgendorf, 1819 / 20; Eibau, 1820 / 21; Ebersbach, 1821–1823), ehe er sich 1824 in Oppach niederließ und die sächsische Staatsangehörigkeit erlangte. Vgl. StFilA Bautzen, 50009 Oberamt / Oberamtsregierung Budissin, Nr. 4036, fol. 110.



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dem jahrelangen Arbeiten jenseits der Grenze und einer anschließenden  Rückkehr bis hin zum „Tod in der Fremde“.65 Dies alles soll eines zeigen: Transregionale Mobilität über die sächsisch-böhmische Landesgrenze hinweg war ein alltägliches und massenhaftes Phänomen des 19. Jahrhunderts.

65  Grundlegend zu den möglichen Lebenswegen temporärer Migranten siehe ­Lucassen: Temporal Migration (wie Anm. 26), S. 48.

Eine „merkwürdige Reisebeschreibung“ als Quelle der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte? Joachim Heinrich Campe in Sachsen und Böhmen* Von Martin Munke (Chemnitz) I. Einführung Die Jahre um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren für Sachsen und Böhmen eine sehr bewegte Zeit.1 Das Kampfgeschehen der Napoleonischen Kriege machte vor beiden Ländern nicht Halt und gipfelte auf ihrem Territorium in der „Dreikaiserschlacht“ beim mährischen Austerlitz (Slavkov u Brna) im Dezember 1805 sowie der „Völkerschlacht“ bei Leipzig im Oktober 1813. Während Böhmen vergleichsweise wenig Schaden durch Truppenbewegungen und Besatzungsphasen nahm,2 wurde Sachsen nach der verheerenden Niederlage, die es in der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 an der Seite Preußens erlitten hatte, von französischen Truppen besetzt und musste sich an den folgenden napoleonischen Feldzügen beteiligen.3 Erst in der „Völkerschlacht“ wechselten einzelne sächsische Truppenteile wieder auf die Seite der antinapoleonischen Koalition und damit zum traditionellen Verbündeten Österreich, der sein Heer unter der Führung des böhmischen Aristokraten Karl Philipp zu Schwarzenberg (1771–1820) ins Feld geführt hatte. Die traditionellen Kontakte zwischen *  Die im Rahmen der Plauener Tagung vorgetragenen Überlegungen befassten sich allgemeiner mit dem Thema „Sächsisch-böhmische Beziehungen im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte“ und erstreckten sich über einen längeren Zeitraum vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser Zeitraum und das untersuchte Material wurden für die Druckfassung, die nur ein Fallbeispiel skizzieren soll, erheblich eingeschränkt. 1  Vgl. zur Einführung für Sachsen im größeren zeitlichen Zusammenhang Reiner Groß: Geschichte Sachsens. 5., erw. u. akt. Aufl. Dresden / Leipzig 2012, S. 159–198; zur napoleonischen Zeit direkt Guntram Martin / Jochen Vötsch / Peter Wiegand (Hrsg.): Geschichte Sachsens im Zeitalter Napoleons. Vom Kurfürstentum zum Königreich 1791–1815. Beucha / Dresden 2008. Für Böhmen vgl. – bis in die Jahrhundertmitte ausgreifend – Jörg K. Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. 3., akt. u. erg. Aufl. München 1997, S. 305–337. 2  Hoensch: Geschichte Böhmens (wie Anm. 1), S. 310. 3  Groß: Geschichte Sachsens (wie Anm. 1), S. 181–186.

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Sachsen und Böhmen – politisch eingebettet in die gemeinsame Zugehörigkeit zum Alten Reich bis 1806, und später, nach 1815, zum Deutschen Bund  – waren so auch in den folgenden Jahrzehnten von einem umfangreichen Wandel geprägt.4 Diese hier nur kurz skizzierten Ereignisse und die daraus resultierenden Beziehungen lassen sich anhand unterschiedlicher Quellengattungen näher untersuchen und beschreiben. Eine besonders plastische Möglichkeit hierfür bilden Reiseberichte, in denen „Geschichte […] zur Sprache“ kommt und „Vergangenheit […] lebendig“ wird.5 Reiseberichte haben im Zuge des cultural turn in den Geisteswissenschaften in den vergangenen 30 Jahren einiges Interesse in den verschiedensten Disziplinen hervorgerufen. Wie kaum eine andere Quellengattung erscheinen sie geeignet, durch interdisziplinäre Zugriffe analysiert und kontextualisiert zu werden – sie fordern die Interdisziplinarität geradezu heraus.6 Auch für die sächsisch-böhmischen bzw. deutsch-böhmischen Beziehungen haben Reiseberichte als Quelle einige Untersuchungen erfahren, zumeist bei der Analyse der „Bilder vom Anderen“7 oder in landschaftsgeschichtlichen Darstellungen.8 Auch für Spezialfragen, etwa der Wirtschaftsgeschichte9 oder der Wahrnehmung der 4  Vgl. dazu als Überblick Miloš Řezník: Böhmisch-sächsische Beziehungen im 19. Jahrhundert. In: Dresden – der Blick von außen. Dresdner Hefte, Nr. 88. Dresden 2006, S. 36–52. 5  Michael Maurer: Reiseberichte – ein Königsweg in die Geschichte? In: ders. (Hrsg.): O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18.  Jahrhunderts, Leipzig / Weimar 1992, S. 7–39, hier: S. 7. 6  Vgl. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 1–4. Die voluminöse, über 700 Seiten starke Studie liefert zugleich eine grundlegende Verknüpfung von Reiseforschung im engeren Sinne, also der Erforschung der „realen Reise“ und ihrer Umstände, und der weiteren kulturgeschichtlichen Perspektive. Siehe dazu im Zusammenhang auch Michael Maurer: Reisen interdisziplinär – Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive. In: ders. (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 287–411, bes. S. 296–299. 7  Vgl. etwa für den auch hier in den Blick genommenen Zeitraum Uwe Hentschel: Böhmen im Spiegel der deutschen Reiseliteratur zwischen 1770 und 1848. In: Bernd Leistner (Hrsg.): Literaturlandschaft Böhmen. Begegnung von Tschechen und Deutschen. Köln 1997, S. 35–55. Veröffentlicht auch als: Deutsche in Böhmen unterwegs (1770–1848). Eine kultur- und literaturgeschichtliche Studie. In: Svět literatury [Welt der Literatur] 13 (1997), S. 79–96. 8  Uwe Hentschel: Das Erzgebirge im Spiegel der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 12 (2005), S. 77–97. Vgl. als Anthologie auch ders.: Chemnitz und das sächsisch-böhmische Erzgebirge in alten Reisebeschreibungen. Hrsg. vom Schlossbergmuseum Chemnitz. Chemnitz 2006. 9  Vgl. etwa Gustav Otruba: Böhmens sozioökonomische Zustände im Biedermeier auf Grund der Reiseberichte von Charles Sealsfield und Peter Evan Turnbull.



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sächsisch-böhmischen Grenze,10 sind Reiseberichte mit einigem Erfolg als Quellen herangezogen worden. Der hier vorzunehmende Versuch einer Befragung des Quellenmaterials unter beziehungsgeschichtlicher und historisch-vergleichender Perspektive ist demgegenüber eher selten unternommen worden. Ihm liegt der Befund zu Grunde, dass viele Autoren Sachsen und Böhmen direkt nacheinander bereisten.11 Teilweise stellten beide Länder das eigentliche Ziel der Reise dar – etwa bei dem Schriftsteller und Pädagogen der Spätaufklärung Joachim Heinrich Campe (1746–1818)12, dessen Reise im Sommer des Jahres 1805 in die hier betrachtete Region im Folgenden näher vorgestellt werden soll. In anderen Fällen bildeten sächsische und böhmische Städte nur „Durchgangsstationen“ auf größeren Reisen, wie etwa bei Johann Gottfried Seume (1763–1810)13 oder Wilhelm Christian Müller (1752–1831)14. Jeweils ergibt sich jedoch die Annahme, dass die direkt aufeinander folgende Wahrnehmung beider Regionen – hier: beider Länder, die gleichwohl als Ein Beitrag zum angelsächsisch-österreichischen Kulturaustausch. In: Bohemia. Zeitschrift für Kultur und Geschicte der böhmischen Länder 30 (1989), S. 18–40. 10  Vgl. etwa Martina Krocová: Kontinuität und Wandel. Die Wahrnehmung der sächsisch-böhmischen Grenze, 1780–1850. In: Christophe Duhamelle / Andreas ­Kossert / Bernhard Struck (Hrsg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20.  Jahrhundert. Frankfurt am Main / New York, NY 2007, S. 181–202. 11  Für eine Bibliografie vgl. Hentschel: Böhmen im Spiegel der deutschen Reiseliteratur (wie Anm. 3), S. 53 ff. Ergänzungen finden sich in Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 199 f. 12  Für biografische und bibliografische Angaben siehe unten, S. 93–96. 13  Vgl. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. 2.  verb. Aufl. Braunschweig / Leipzig 1805. Zitate erfolgen nach der von Jörg Drews herausgegebenen Ausgabe Frankfurt am Main / Leipzig 2001. Der sächsische Schriftsteller Seume – der im böhmischen Kurort Teplitz (Teplice) verstarb und begraben liegt – ist als Reiseschriftsteller bis heute von einiger Prominenz. Mit Blick auf seine Erlebnisse in Russland (und Polen) vgl. jetzt Natalie Rinberg: Ein Sachse im Russischen Reich. Das Russlandbild Johann Gottfried Seumes. In: Frank-Lothar Kroll / Martin Munke (Hrsg.): Die Reise nach Russland. Wahrnehmungen und Erfahrungsberichte aus fünf Jahrhunderten. Berlin 2013, S. 79–99. Als Einführungen zu Leben und Werk vgl. Inge Stephan: Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung. Stuttgart 1973; Eberhard Zänker: Johann Gottfried Seume. Eine Biographie. Leipzig 2005; im Kontext der Reiseerfahrungen jetzt Bruno Preisendörfer: Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben. Berlin 2012. 14  Der Bremer Musikschriftsteller und Pädagoge unternahm nach seiner Pensionierung ausgedehnte Reisen. Vgl. Wilhelm Christian Müller: Briefe an deutsche Freunde von einer Reise durch Italien über Sachsen, Böhmen und Österreich. 2 Bde. Altona 1824. Zu Müller siehe einführend Friedrich Wellmann: Der bremische Domkantor Dr. Wilhelm Christian Müller. Ein Beitrag zur Musik- und Kulturgeschichte Bremens. In: Bremisches Jahrbuch 25 (1914), S. 1–137.

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gemeinsame „Geschichtsregion“15 angesehen werden können – zu Aussagen über Ähnlichkeiten und Unterschieden, über Kontaktmöglichkeiten und Trennlinien anregte. Diese Aussagen werden idealerweise bestimmten Kategorien und Referenzrahmen – etwa: Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Infrastruktur, städtisches Leben, religiöse Verhältnisse – zugeordnet, um eine systematische Gegenüberstellung zu ermöglichen.16 Unter Umständen kann dabei auch nach Transfer-17 und Verflechtungsprozessen18 gefragt werden, die sich zwischen beiden Ländern ergeben haben. Nach einer kurzen

15  Zur Problematik des Regionsbegriffs als Analysekategorie vgl. im Zusammenhang Miloš Řezník: Zur Einführung. Die Erfindung der Regionen? In: ders. (Hrsg.): Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Berlin 2007, S. 13–31, hier: S. 17–20. Zu Begriff und Konzept der „Geschichtsregion“ vgl. Stefan Troebst: „Geschichtsregion“. Historisch-mesoregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: Europäische Geschichte Online, 03.12.2010. Online unter: http: /  / www.ieg-ego.eu / troebsts-2010-de. URN: urn:nbn:de: 0159-20100921364 (26.02.2013). Ähnlich auch ders.: Vom spatial turn zum regional turn? Geschichtsregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: Matthias Middell (Hrsg.): Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60.  Geburtstag. Leipzig 2007, S. 143–159. 16  Vgl. etwa Hannes Siegrist: Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur und Raum. In: Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main / New York, NY 2003, S. 305–340, hier: S. 314–317. 17  Zu den analytischen Schwierigkeiten dabei vgl. Řezník: Zur Einführung (wie Anm. 15), S. 23 f. Zur Erweiterung des Konzepts des „Kulturtransfers“, wie es im sächsischen Rahmen mit Konzentration auf Frankreich durch Michel Espagne angewendet worden ist – vgl. einführend ders.: Transferanalyse statt Vergleich. Interkulturalität in der sächsischen Regionalgeschichte. In: Kaelble / Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer (wie Anm. 16), S. 419–438 sowie ausführlich ders. / Matthias Middell (Hrsg.): Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19.  Jahrhundert. 2., erw. und überarb. Aufl. Leipzig 1998 –, zum „interkulturellen Transfer“ als „Transfer zwischen Kulturen“ vgl. Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze des 18. bis 20.  Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649– 685, hier: S. 678 ff. Um eine Integration von „Vergleich“ und „Transfer“ bemüht ist Christiane Eisenberg: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparistik. In: Kaelble / Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer (wie Anm. 16), S. 399–417. 18  Dazu grundlegend Michael Werner / Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636; für den ostmitteleuropäischen Raum siehe bes. Philipp Ther: Deutsche Geschichte als transnationale Geschichte. Überlegungen zu einer Histoire Croisée Deutschlands und Ostmitteleuropas. In: Comparativ 13 (2003), S. 155–180. Vgl. auch den Beitrag von Miloš Řezník in diesem Band, bes. S. 28 f.



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Skizze über Leben und Werk Campes sollen diese Aspekte am Fallbeispiel näher untersucht und abschließend knapp resümiert werden. II. Ein Pädagoge auf Reisen19 Der Name Joachim Heinrich Campes20 ist im Hinblick auf das Thema „Reiseberichte“ in erster Linie nicht mit den deutschen Ländern, sondern mit Frankreich – genauer: dem revolutionären Frankreich – verbunden.21 Campe besuchte mehrfach Paris und schrieb seine Erlebnisse dort nieder: 1789 / 90 erschienen seine Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, zunächst im Braunschweigischen Journal und dann als Buchausgabe. Ins Genre des Reiseberichts gehört die Reise von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789, die ebenfalls 1790 als achter Band der Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend veröffentlicht wurde. Ein zweiter Besuch in der französischen Hauptstadt sollte 1802 erfolgen. Gerade in den 1790er Jahren hatte sich Campe als einer der „vehementesten Befürworter der Ereignisse von 1789“22 offenbart. Sein radikales Eintreten für die politischen Ziele der Aufklärung prägte seine schriftstellerische Tätigkeit entscheidend und wurde in der deutschsprachigen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.23 19  So auch der Titel des Beitrags von Ludwig Fertig: Ein Pädagoge auf Reisen. Joachim Heinrich Campe 1785 in Braunschweig, Darmstadt, Karlsruhe und Laubach. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 69 (2011), S. 151– 172. 20  Zur Biografie vgl. jetzt Hans-Jürgen Perrey: Joachim Heinrich Campe (1746– 1818). Menschenfreund – Aufklärer – Publizist. Bremen 2010. Zur Einführung vgl. knapp Gottfried Hausmann: Campe, Joachim Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 110 f. sowie auch für das Folgende Hanno Schmitt: Visionäre Lebensklugheit. Zur Biographie Joachim Heinrich Campes. In: Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit (1746–1818). Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 29.  Juni bis 13.  Oktober 1996. Wiesbaden 1996, S. 12–32. 21  Vgl. zum Ganzen Jörn Garber: Joachim Heinrich Campes Reisen in die „Hauptstadt der Menschheit“ (1789 / 1802). In: Visionäre Lebensklugheit (wie Anm. 20), S. 225–246; Hanno Schmitt: Joachim Heinrich Campes Reise ins revolutionäre Paris (1879). In: Die deutsche Schule (1989), H. 1, S. 91–102. 22  Bernhard Struck: Nicht West – nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850. Göttingen 2006, S. 349. 23  Vgl. Alain Ruiz: Deutsche Reisebeschreibungen über Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution (1789–1799). Ein Überblick. In: Antoni Mączak / Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Literaturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten einer historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982, S. 229–251, hier: S. 230–241; Hans-Wolf Jäger: Kritik und Kontrafaktur. Die Gegner der Aufklärungs- und Revolutionsreise. In: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hrsg.):

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Weiterhin schimmern in Campes Berichten immer wieder Reminiszenzen an seine frühere berufliche Tätigkeit als Leiter einer Erziehungsanstalt bei Hamburg durch.24 Als Gründer der Braunschweigischen Schulbuchhandlung war er seit 1787 zudem als Verleger tätig und gab u. a. das kurzlebige, für die norddeutsche Spätaufklärung gleichwohl wichtige Braunschweigische Journal mit heraus. Pädagogischen Verlagen kam im Zeitalter der Aufklärung eine besondere Bedeutung zu: „Vielleicht sind sie die ersten im späteren Sinne schon fachlich spezialisierten Verlage – vielleicht sind sie die am bewusstesten der Aufklärung dienenden Verlage der Zeit“25. Und wiederum eine prominente Stellung in diesem Umfeld – sowohl was das Verlagsprofil der Schulbuchhandlung als auch was deren Erfolg angeht – lässt sich Campe zubilligen. 1746 in der Nähe von Holzminden geboren, studierte er an der damaligen Universität Helmstedt und später in Halle Theologie, pflegte Kontakte mit Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)26 und anderen und arbeitete sowohl als Prediger wie auch als Hauslehrer und Erzieher – etwa der Gebrüder Alexander (1769– 1859) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Wilhelm sollte ihn 1789 auch auf der ersten Paris-Reise begleiten. Campes pädagogische Vorstellungen bezogen sich u. a. auf eine Reorganisation des Schulwesens, und in diesem Kontext kam es ihm besonders auf eine Sammlung von geeigneten Schulbüchern an. Zu eben diesem Zweck wurde von ihm 1787 die SchulReise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 79–93; im Zusammenhang auch Wolfgang Albrecht: Vom reformerischen zum revolutionärdemokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns. In: ders.: Das Angenehme und das Nützliche. Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland. Tübingen 1997, S. 185–232, bes. S. 195 ff. 24  Campe findet denn bis heute auch hauptsächlich in der Erziehungswissenschaft sowie darüber hinaus in der Sprachwissenschaft wissenschaftliches Interesse. Vgl. etwa in der Reihenfolge des Erscheinens Ludwig Fertig: Campes politische Erziehung. Eine Einführung in die Pädagogik der Aufklärung. Darmstadt 1977; Jürgen Schiewe: Sprachpurismus und Emanzipation. Joachim Heinrich Campes Verdeutschungsprogramm als Voraussetzung für Gesellschaftsveränderungen. Hildesheim / Zürich / New York, NY 1988; Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18.  Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992; Sibylle Orgeldinger: Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe. Berlin / New York, NY 1999; Silke Köstler-Holste: Natürliches Sprechen im belehrenden Schreiben. J.  H. Campes „Robinson der Jüngere“ (1779 / 80). Tübingen 2004, um nur einige zu nennen. 25  Herbert G. Göpfert: Bemerkungen über Buchhändler und Buchhandel zur Zeit der Aufklärung in Deutschland. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 69–83, hier: S. 74. 26  Vgl. dazu Franklin Kopitzsch: Joachim Heinrich Campe und Gotthold Ephraim Lessing. Zur Geschichte einer Freundschaft. In: Günter Schulz (Hrsg.): Lessing und der Kreis seiner Freunde. Heidelberg 1985, S. 193–234.



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buchhandlung begründet, im Gefolge wurde Braunschweig-Wolfenbüttel zum „wichtigsten publizistischen Zentrum der spätphilanthropischen Erziehungs­bewe­gung“27. Hier erschienen nun auch seine eigenen schriftstellerischen Arbeiten; zu den bekannten Titeln zählen die Bearbeitung des Robinson Crusoe von Daniel Defoe (bereits 1779 / 80)28 oder die Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens (1785–1792). Der Pädagoge Campe bediente sich auch als Verleger pädagogischer Methoden, das jeweilige Zielpublikum genau im Blick. Man kann in ihm daher wohl „den Prototyp eines Aufklärungsverlegers sehen“29. Typisch dafür sind die Adressatensituationen seiner Reisebeschreibungen, in denen sich der Autor an einen jugendlichen Verwandten richtet. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Campes Zeitgenossin Sophie von La Roche (1730–1807), an deren Beispiel sich die Tendenz zur „pädagogischen Reise“ in der späten Phase des Aufklärungszeitalters ebenfalls herausarbeiten lässt.30 Von ihr liegen etwa das Tagebuch einer Reise durch die Schweiz, das Journal einer Reise durch Frankreich (beide 1787) und das Tagebuch einer Reise durch Holland und England (1788) vor.31 Neben der genannten Sammlung Campes erschienen unter seiner Herausgeberschaft noch zwei weitere Reihen mit Reisebeschreibungen – die Erste und die Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Ju27  Hanno

Schmitt: Visionäre Lebensklugheit (wie Anm. 20), S. 25. direkt Angelika Reinhard: Die Karriere des Robinson Crusoe vom literarischen zum pädagogischen Helden. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung des Robinson Defoes und der Robinson-Adaptionen von Campe und Forster. Frankfurt am Main u. a. 1994, S. 111–182. 29  Franklin Kopitzsch: Joachim Heinrich Campe in Hamburg und Trittau. Schriftsteller, Erzieher und Aufklärer. In: Visionäre Lebensklugheit (wie Anm. 20), S. 67– 76, hier: S. 75. 30  Vgl. Michael Maurer: Die pädagogische Reise. Auch eine Tendenz der Reiseliteratur der Spätaufklärung. In: Hans Wolf Jäger (Hrsg.): Europäisches Reisen im Zeitalter der Spätaufklärung. Heidelberg 1992, S. 54–70 sowie im Zusammenhang auch Wolfgang Albrecht: Gefühl, Einbildungskraft, Gemeinsinn. Aspekte weiblicher Literatur und Aufklärung aus der Sicht Sophie von La Roches. In: ders.: Das Angenehme und das Nützliche (wie Anm. 23), S. 73–111. 31  Vgl. direkt dazu Erdmut Jost: Wege zur weiblichen Glückseligkeit. Sophie von La Roches Reisejournale 1784 bis 1786. Mit einem Essay von Monika Nenon und einer Forschungsbibliographie zur Reiseliteratur Sophie von La Roches von Tobias Fuchs. Thalhofen 2007. Als Einführungen zu Leben und Werk vgl. Bernd Heidenreich: Sophie von La Roche – eine Werkbiographie. Frankfurt am Main u. a. 1986; Armin Strohmeyr: Sophie von La Roche. Eine Biografie. Leipzig 2006; Barbara Becker-Cantarino / Gudrun Loster-Schneider (Hrsg.): „Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften“. Sophie von La Roche (1730–1807) im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Tübingen 2010. 28  Dazu

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gend  –, die stellenweise auf eigenen Erfahrungen beruhten, oft aber auch Bearbeitungen von Berichten aus anderer Autoren Feder darstellten. In die erste Kategorie gehört die Darstellung seines Sachsen- und Böhmenaufenthalts im Jahr 1805, dessen zugehöriger Bericht ein Jahr später als siebenter Teil der Neuen Sammlung veröffentlicht wurde.32 Den Ausgangspunkt für den Besuch bildete eine Erkrankung, die ihn bereits auf einer vorherigen Reise durch Frankreich und England stark behindert hatte.33 Dass sich Campe trotz anhaltender Erschwernisse erneut auf den Weg machte, war eng mit den Ratschlägen seines Arztes verbunden, der ihm einen Besuch der böhmischen Kurbäder empfahl – ein Reiseanlass, den der Braunschweiger ­Pädagoge jährlich mit mehreren Hundert anderen Deutschen teilte.34 III. Campe in Sachsen und Böhmen 1. Von Braunschweig nach Karlsbad, Prag und Dresden Entgegen der Haltung des „gewöhnlichen“ Kurgastes, der „vor allem Heilung und Ablenkung in angenehmer Gesellschaft“35 suchte, brachte Campe als vielgereister Aufklärungsliterat einiges Interesse für die besuchten Landstriche und deren Bewohner mit. Bereits 1790 hatte er sich mit dem Gedanken getragen, die dann später bereisten Gegenden persönlich in Augenschein zu nehmen. Damals waren es Krankheiten im Familien- und Bedienstetenkreis gewesen, die ihn an der Ausführung des Planes gehindert hatten, wie er in einem Brief an den mit Goethe befreundeten Theologen 32  Joachim Heinrich Campe: Reise von Braunschweig nach Karlsbad und durch Böhmen in Briefen von Eduard und Karl. Braunschweig 1806. 33  Vgl. dazu jetzt Martin Munke: Deutsche Verleger des Aufklärungszeitalters in und über England – Archenholz, Campe, Reich. In: Frank-Lothar Kroll / Martin Munke (Hrsg.): Deutsche Englandreisende / German Travellers in England (1550–1900). Berlin 2014 (im Erscheinen). Die Erfahrungen dieser Reise sind wiedergegeben als vierter, fünfter Band und sechster der Neuen Sammlung in Joachim Heinrich Campe: Reise durch England und Frankreich in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland vom Herausgeber. Braunschweig 1803; ders.: Fortsetzung und Beschluss der Reise durch England und Frankreich in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland vom Herausgeber. Braunschweig 1803; ders.: Rückreise von Paris nach Braunschweig. Ein Nachtrag zu der Reise durch England und Frankreich. Braunschweig 1804. 34  Vgl. Hentschel: Deutsche in Böhmen unterwegs (wie Anm. 7), S. 79 f. 35  Ebd., S. 80. Solche Zuschreibungen verkennen gleichwohl ein wenig den Charakter der Kurbäder als Treffpunkt des europäischen Adels und das damit verbundene politische Element eines Aufenthaltes dort. Vgl. dazu Bernd Leistner: Goethe in den nordwestböhmischen Bädern. In: ders. (Hrsg.): Literaturlandschaft Böhmen (wie Anm. 7), S. 21–34, hier: S. 24 f.



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und Pädagogen Karl Gottlieb Horstig (1763–1835) ausführte.36 Die Reise 15 Jahre später sollte auch nicht sein letzter Besuch der Region bleiben. 1810 folgte ein weiterer Kuraufenthalt in Böhmen, bei dem Campe u. a. eben mit Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)37 zusammentraf, worüber er in seiner Korrespondenz mit dem Hamburger Arzt und Naturforscher Johann Albert Heinrich Reimarus (1729–1814) berichtet.38 Im Jahr 1805 nun brach die Reisegruppe um Campe – er wurde von seinen Enkeln Eduard (1797–1869) und Karl Vieweg (1799–1855)39 begleitet – am 20.  Juni in Braunschweig auf. Die Erlebnisse und Beobachtungen unterwegs werden in Briefform geschildert, wobei die Enkel als hauptsächliche Schreiber angegeben werden. Die Korrespondenzpartner sind im Familien- und Bekanntenkreis zu finden: Schwestern, Eltern, die Großmutter, ein Freund Konrad. Die typische Adressatensituation wird so teilweise umgekehrt, indem die Kinder zumindest literarisch die Rolle der Lehrenden übernehmen und sich damit – auch über den Reihentitel der Reisebeschreibungen „für die Jugend“ – an Altersgenossen richten. Campe kennzeichnet 36  Campe an Horstig, 2. Mai 1790. In: Hanno Schmitt (Hrsg.): Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Bd. 2: Briefe von 1789–1814. Wiesbaden 2007, S. 143. Zu Horstig vgl. Richard Graewe: Carl Gottlieb Horstig 1763–1835. Das Lebensbild eines vielseitigen Genies aus Goethes Freundeskreis. Ein Beitrag zur Goetheforschung. Hildesheim 1974. 37  Der deutsche „Dichterfürst“ war ein häufiger Gast in den böhmischen Kur­ bädern und besuchte sie – nach einem ersten Aufenthalt 1785 – seit 1806 mehrfach in rascher Folge. Vgl. dazu Leistner: Goethe in den nordwestböhmischen Bädern (wie Anm. 35), S. 25–31. 38  Campe an Reimarus, 12.  Juni 1810. In: Schmitt (Hrsg.): Briefe von und an Joachim Heinrich Campe (wie Anm. 36), S. 662 f. Wie Campe war auch Reimarus mit Lessing befreundet und verfügte über ein weitgespanntes Kontaktnetz innerhalb der Gelehrtennetzwerke der Aufklärung. Vgl. dazu Gerhard Alexander: Johann Albrecht Hinrich Reimarus und Elise Reimarus in ihren Beziehungen zu Lessing. In: Schulz (Hrsg.): Lessing und der Kreis seiner Freunde (wie Anm. 26), S. 129–150; Brigitte Tolkemitt: Knotenpunkte im Beziehungsnetz der Gebildeten. Die gemischte Geselligkeit in den offenen Häusern der Hamburger Familien Reimarus und Sieveking. In: Ulrike Weckel (Hrsg.): Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18.  Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 167–202. 39  Beide gingen aus der Verbindung von Campes einziger Tochter Charlotte (1774–1834) mit dem Verleger Johann Friedrich Vieweg (1761–1835) hervor, der später auch die Braunschweiger Buchhandlung übernahm. Eduard folgte ihm als Inhaber der Verlagsbuchhandlung Friedrich Vieweg und Sohn. Vgl. zu Johann Friedrich Vieweg im Zusammenhang von Spätaufklärung und Reisetätigkeit Christof Wingertszahn: „zu einer vorläufigen Ankündigung ist es immer genug“. Unbekannte Mitteilungen von Karl Philipp Moritz an seinen Verleger Johann Friedrich Vieweg. In: Ursula Goldenbaum / Alexander Kosenina (Hrsg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 1, Hannover 1999, S. 220–230. Bei Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 192, wird Eduard fälschlich als Sohn Campes bezeichnet.

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den impliziten erzieherischen Impetus denn auch mit einem expliziten Verweis auf den Robinson-Stoff40 (229 f.)41. Dieser besondere Charakter des Berichts spiegelt sich in der Reiseschilderung wider: Hier finden sich historische Exkurse und Anekdoten – etwa zum Altenburger Prinzenraub des Jahres 145542 (62–72) –, natürlich Landschaftsschilderungen und Aufzählungen von Sehenswürdigkeiten, die Behandlung sprachlicher Auffälligkeiten (etwa 182–185), aber auch Bezugnahmen auf aktuelle politische Fragestellungen wie die Gegnerschaft zwischen William Pitt dem Jüngeren (1759–1806) und Napoleon Bonaparte (1769–1821)43 (221). Ausgehend von Braunschweig werden die folgenden Orte berührt und näher beschrieben: Blankenburg im Harz, Naumburg, Altenburg, Zwickau, Plauen, Adorf, Karlsbad (Karlovy Vary), Schönhof (Krásný Dvůr), Saaz (Žatec), Prag, Leitmeritz (Litoměřice), Tetschen (Děčín), Pirna und Dresden. Ein Schwerpunkt der Schilderung liegt auf Karlsbad, wo der längste Aufenthalt genommen wurde, und dem fast 70 Seiten gewidmet sind (149–217). 40  Zur entsprechenden pädagogischen Programmatik vgl. Reinhard: Die Karriere des Robinson Crusoe (wie Anm. 22), S. 113–135. 41  Der Nachweis von Zitaten und Bezugnahmen aus Campe: Reise von Braunschweig nach Karlsbad (wie Anm.  33) erfolgt über die Seitenzahlen direkt im Text. Die Orthographie bleibt unverändert. 42  Zu Real-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Prinzenraubes existiert eine reichhaltige Literatur. Vgl. zuletzt Uwe Schirmer: Kunz von Kauffungen und der Prinzenraub zu Altenburg (1455). Strukturen eines spätmittelalterlichen Konfliktes. In: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), S. 369–405; Joachim Emig u. a. (Hrsg.): Der Altenburger Prinzenraub 1455. Strukturen und Mentalitäten eines spätmittelalterlichen Konflikts. 2., korrigierte und erg. Aufl. Beucha 2008; André Thieme: Der Altenburger Prinzenraub. In: Matthias Donath / André Thieme (Hrsg.). Sächsische Mythen. Menschen – Orte – Ereignisse. Dresden / Leipzig 2011, S. 44–55; Hendrik Thoß: Der Prinzenraub von 1455. Aspekte einer Rezeptionsgeschichte vom 16. bis ins 21.  Jahrhundert. In: Uwe Fiedler / Hendrik Thoß / Enno Bünz (Hrsg): Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15.  Jahrhundert. Chemnitz 2012, S. 110–121. 43  Dazu zuletzt im Zusammenhang Frank-Lothar Kroll: Reformstreben, Macht­ politik und Staatsführung im Krieg bei William Pitt dem Jüngeren. In: Brendan Simms / Karina Urbach (Hrsg.): Die Rückkehr der „Großen Männer“. Staatsmänner im Krieg – ein deutsch-britischer Vergleich 1740–1945 / Bringing personality back in. Leadership in war – a British-German comparison 1740–1945. Berlin / New York, NY 2010, S. 49–70. – Eine explizite Thematisierung der Auswirkungen der Befreiungskriege findet man jedoch nicht. Anders ist dies etwa bei Johann Gottfried Seume, der von einer Begegnung mit Kriegsveteranen in einem Wirtshaus berichtet: „Einige Östreichische [!] Soldaten, Stalleute [!] und ehemalige Stückknechte, die alle in der französischen Gefangenschaft gewesen waren, und einige Sachsen vom dem Kontingent machten eine erbauliche Gruppe, und unterhielten die Nachbarn lang und breit von ihren ausgestandenen Leiden.“ Seume: Spaziergang nach Syrakus (wie Anm. 13), S. 28.



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Auch Prag erfährt eine ausführliche Würdigung (242–287). Unterwegs ist die Reisegruppe zu Fuß und mit dem hauptsächlichen Transportmittel der Zeit, der Postkutsche44, aber auch per Boot auf der Elbe. Halt gemacht wird in Pensionen und Poststationen sowie im Kurhotel in Karlsbad. In Anlehnung an die oben formulierten Kategorien45 sollen nun einige beziehungsgeschichtliche Aspekte des Reiseberichts näher betrachtet werden. Politische und wirtschaftliche Fragen werden dabei etwas ausführlicher zur Sprache gebracht, das städtische und das religiöse Leben werden nur kurz gestreift. 2. Beziehungsgeschichtliche Aspekte in Campes Reisebeschreibung Politische Verhältnisse thematisierte Campe etwa beim Überschreiten der Grenze zwischen Sachsen und Böhmen, die zugleich eine Binnengrenze innerhalb des Heiligen Römischen Reiches im letzten Jahr seiner staatsrechtlichen Existenz darstellte. Die Zusammengehörigkeit der „deutschen Nation“ wurde hier, zu Beginn des Jahrhunderts, als selbstverständlich betrachtet. Deutlich wird dies etwa am Vergleich von Haupt- und Residenzstädten: „Prag gehört zu den größten und prächtigsten Städten in Deutschland. Man nennt es unmittelbar nach Berlin und Wien.“ (246).46 Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts spitzten sich die Nationalitätenfragen zu und wurden zum Grundproblem der Politik.47 44  Eine kulturgeschichtliche Zusammenschau bietet der Katalogband: Vom Reisen in der Kutschenzeit. Ausstellung der Eutiner Landesbibliothek, 24. November 1989– 31.  August 1990. 2., verb. Aufl. Heide in Holstein 1990. Vgl. im Zusammenhang von Aufklärung, Reisetätigkeit sowie Entwicklung und Zustand des Postwesens auch Klaus Beyrer: Des Reisebeschreibers „Kutsche“. Aufklärerisches Bewusstsein im Postreiseverkehr des 18. Jahrhunderts. In: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hrsg.): Reise im 18.  Jahrhundert. Neue Untersuchungen. Heidelberg 1986, S. 50–90. Eine Anthologie der Bezugnahmen auf diesen Aspekt des Reisens bietet Helmut Popp (Hrsg.): In der Kutsche durch Europa. Von der Lust und Last des Reisens im 18. und 19.  Jahrhundert. Nördlingen 1989. 45  Siehe S. 92 dieses Beitrags. 46  Ähnlich formuliert es noch fast vierzig Jahre später der Schriftsteller und Publizist August Lewald (1792–1871): „Prag, die Hauptstadt Böhmens, eine der merkwürdigsten, ältesten, größten, und schönsten Städte nicht nur Deutschlands, sondern Europas […]“; August Lewald: Malerisches Reisehandbuch durch Deutschland und die angränzenden Gegenden. Practisch und unterhaltend. Nach eigener Anschauung und nach den besten und bewährtesten Quellen. Mit Abbildungen, Städteplanen und Karten. Erster Theil. Stuttgart 1842, S. 481. Zu Lewald vgl. einführend Rolf Selbmann: Lewald, August. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 408 f. 47  Vgl. jetzt einführend – wenn auch mit stärker westeuropäischem Schwerpunkt – Siegfried Weichlein: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. 2., bibliograph. aktualis. Auflage. Darmstadt 2012. Als Synthese auf der Basis ostmitteleuro-

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Gleichwohl sind der Sondercharakter des Reiches und dessen nachlassende Bindungskräfte Campe wohl bewusst: „Deutschland ist doch ein sonderbares Land, oder vielmehr eine sonderbare Sammlung von Ländern; in diesem Betrachte das einzige in seiner Art. Alle diese Länder, die man mit [e]inem Namen Deutschland nennt, haben fast nichts mehr miteinander gemein, als dass sie beinahe noch einerlei Sprache reden, und beinahe noch einerlei Herren, den Deutschen Kaiser nämlich, für ihr gemeinschaftliches Oberhaupt erkennen. Ich sagte: beinahe noch; denn selbst mit diesen letzten beiden Vereinigungspunkten, die für uns noch übrig sind, steht es nur noch so!“ (36 f.) Gerade die Napoleonischen Kriege waren es, die zu einem tiefgreifenden Wandel etwa des Begriffs „Vaterland“ führten, der das Verhältnis zum Staat emotionalisierte. Besonders für die habsburgischen Länder war dies von einiger Bedeutung, da sich die Frage stellte, welches Land denn nun dieses Vaterland sei: die Gesamtmonarchie, oder die Teilstaaten wie Böhmen?48 Diskutiert wurden solche Fragen u. a. in den Kaffeehäusern der Kurorte, in denen sich alte und neue Eliten trafen.49 Campe, ganz bürgerlicher Vertreter der Aufklärung, stellt dabei in Karlsbad einige Überlegungen zum Neben- und Miteinander von Adel und Bürgertum an: „Des ersten [Kaffeehauses] hat der hohe Adel, des andern der Bürgerstand sich bemächtiget, denn leider! ist man auch hier, wie in manch anderem Bade, noch unverständig genug, eine ziemlich scharfe Grenzlinie zwischen beiden Ständen an einem Orte zu ziehen, wo die bürgerlichen Verhältnisse gar nicht in Betracht päischer Forschungstraditionen siehe Miroslav Hroch: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Aus dem Tschech. von Eližka und Ralph Melville. Göttingen 2005. Für die Nationalitätenproblematik im deutschtschechischen Umfeld grundlegend ist Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. Aus dem Tschech. von Peter Heumos. 2. Aufl. München 1999. 48  Vgl. zu dieser Frage für die Habsburgermonarchie allgemein Waltraud Heindl: Funktionswandel und Symbolwert der Grenzen. Grenzen und die staatlich-soziale Entwicklung im Habsburgerreich von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts. In: Peter Haslinger (Hrsg.): Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa. Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 31–43; mit konkretem Bezug auf Böhmen Anna M. Drabek: Patriotismus und nationale Identität in Böhmen und Mähren. In: Otto Dann / Miroslav Hroch / Johannes Koll (Hrsg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003, S. 151–170. 49  Auf das Sächsische und das Böhmische Kaffeehaus in Karlsbad verweist fast zeitgleich auch Jul[ius] Wilh[elm] Fischer: Reisen durch Oestereich, Ungarn, Steyer­mark, Venedig, Böhmen und Mähren in den Jahren 1801 und 1802. 3 Theile. Wien 1803, hier: Theil 3, S. 148 f. Die Lebensdaten des Autors sind unbekannt, nach verschiedenen Angaben ist er wohl identisch mit dem Pharmazeuten Justus Wilhelm Christian Fischer (1775–1804).



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kommen sollten. Doch muss ich zur Ehre vieler Adeligen hinzufügen, dass man die Gesellschaft in und vor dem Böhmischen Kaffeehause gewöhnlich sehr vermischet findet […]“ (187) – im Gegensatz gerade zum Sächsischen, in dem der Adel noch weitgehend unter sich blieb. Für Campe standen vor diesen Beobachtungen jedoch die praktischen Fragen des Grenzübertritts im Mittelpunkt. In der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts wurden zunehmend Reisepässe eingeführt und diese an den Grenzen kontrolliert, womit die wachsende Bedeutung der staatlichen Außengrenzen unterstrichen wurde.50 Bezüglich der Visabesorgung hatte er sich im Vorfeld der Reise brieflich an den französischen Gesandten in Hamburg, Karl Friedrich Reinhard (1761–1837), gewandt; auch Geld musste getauscht werden.51 Im Gegensatz zu vielen andern deutschen Böhmenreisenden, die auf dem Weg von Dresden nach Prag den Grenzübergang von Peterswald (Petrovice) bzw. Nollendorf (Nakléřov) nutzten,52 erfolgte die Einreise von Campe und seinen Begleitern auf dem Weg nach Karlsbad über Schönbach bei Zwota53. Das Bewusstsein, nun ein anderes Land zu betreten, ist stark mit dem Kontakt zu den österreichischen Grenzbeamten verbunden. Campes Einschätzung von deren Verhalten ist Teil eines Wandlungsprozesses von Stereotypen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, wie sie u. a. über Reiseberichte tradiert wurden.54 Hatten die Zollbeamten lange als sehr streng gegolten, wurden sie um die Jahrhundertwende eher als mild charakterisiert, so auch von Campe: „[…] die hiesigen Mauthleute sind viel bescheidener, höflicher und billiger, als sie in andern Ländern zu sein pflegen.“ (144) Dies wird später, etwa um die Mitte der ersten Jahrhunderthälfte, dann wiederum überspitzt als NachläsKrocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 187. Campe an Reinhard, 10.  Mai 1805. In: Schmitt (Hrsg.): Briefe von und an Joachim Heinrich Campe (wie Anm. 36), S. 595. Zu Reinhard vgl. ausführlich Jean Deliniére: Karl Friedrich Reinhard. Ein deutscher Aufklärer im Dienste Frankreichs (1761–1837). Stuttgart 1989. Johann Gottfried Seume etwa hatte die für seine Reise nötigen Papiere bei der österreichischen Gesandtschaft in Dresden beantragt. Vgl. Seume: Spaziergang nach Syrakus (wie Anm. 13), S. 23. Auch der zwanzig Jahre später reisende, in Altenburg und Eisenach tätige Jurist Wilhelm Ferdinand Bischoff (1792–um 1850) ließ sich dort seinen Pass beglaubigen und wechselte seine sächsischen Gulden in österreichische Papiergulden. Vgl. Wilhelm Ferdinand Bischoff: Reise durch die Königreiche Sachsen und Böhmen in den Jahren 1822 und 1823. Leipzig 1825, S. 110 f. 52  Vgl. etwa Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 188 f. Der Ort des Grenzübertritts entspricht dem heutigen Verlauf der Autobahn A  17 / D  8 zwischen den beiden Hauptstädten. 53  Seit dem 1. Januar 2013 ein Ortsteil der aus Klingenthal, Mühlleithen und eben Zwota neu gegründeten Stadt Klingenthal. 54  Vgl. dazu Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 189 f. 50  Vgl. 51  Vgl.

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sigkeit und Bestechlichkeit dargestellt55 und allgemein auf den habsburgischen Staatsapparat übertragen. Die Grenze hatte auch einige Auswirkungen auf wirtschaftliche Fragen, wurden seit 1775 an den Außengrenzen der Habsburgermonarchie doch Zölle auf bestimmte Waren erhoben.56 Campe thematisiert dies an mehreren Stellen explizit. Einerseits ist es die Grenzkontrolle bei der Einreise nach Böhmen, bei er die mitgeführten Gebrauchsgüter untersucht werden: „Hier werden nämlich die Reisenden angehalten, um auszusagen, ob sie etwas bei sich haben, was entweder verbotene Waare ist, oder wovon dem Kaiser, bevor man sie einführen darf, erst Steuer, d. i. eine Abgabe, entrichtet werden muss.“ (142 f.) Auf der Reise von Prag in Richtung Dresden erwähnt Campe dann umgekehrte Handelshemmnisse im Zusammenhang mit den Steinbrüchen des Elbsandsteingebirges: „Indess nämlich die Sächsischen Schiffer stromaufwärts über ihre Grenze hinaus bis nach Leitmeritz, vielleicht noch weiter fahren dürfen, ist die Böhmische Schiffahrt durch die Landesgrenze beschränkt. Will man von hier aus weiter ins Sächsische hinabfahren, so muss man bei dem ersten Sächsischen Elborte anhalten, um erst die Erlaubnis dazu zu erkaufen. Ein eigenes Vorrecht! Sonst pflegen kleinere Staaten durch benachbarte größere im Handel und Gewerbe beschränkt zu werden; hier ist es umgekehrt.“ (322 f.) Davon profitieren besonders die Bewohner des sächsischen Pirna, denn „[…] aller Elbhandel zwischen Sachsen und Böhmen muss durch die Hände der hiesigen Kaufleute gehen.“ (325)57 Bei solchen und ähnlichen Betrachtungen 55  So etwa bei dem bayerischen Staatsbeamten und späterem Dresdner Privatgelehrten Adolf von Schaden (1791–1840): „Einem solchen Aufreißen [meines Gepäcks], wo möglich, zuvor zu kommen, drückte ich demjenigen der Beamten, der mir am bedeutsamsten erschien, zwei Silberzwanziger in die Hand, den ich war avertirt, man dürfte dies kühn wagen, ohne sich der geringsten Unannehmlichkeiten auszusetzen. So war es denn auch; der Herr Einbruchsoffiziant behandelte die Sache, wie eine, die von selber sich versteht, steckte das Geld schweigend, aber keineswegs schüchtern, in die Tasche und mein sämmtliches Gepäcke wurde nun ungemein nachsichtig visitiert.“ Adolf von Schaden: Kritischer Bocksprung von Dresden nach Prag. Ein neues Capriccio als Gegenstück des Katersprunges. Schneeberg 1822, S. 103. Zu Schaden vgl. einführend Franz Brümmer: Schaden, Johann Repomuk Adolf von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1890), S. 495 f. Der etwa zeitgleich reisende Wilhelm Christian Müller verzichtet auf eine solche „Behandlung“ der Grenzbeamten und sieht sich einer intensiven Kontrolle ausgesetzt – „alles musste aufgerissen werden. […] Wahrscheinlich wäre nichts untersucht worden, wenn ich sie gleich bestochen hätte.“ Müller: Briefe an deutsche Freunde (wie Anm. 14), S. 37. 56  Vgl. Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 186 f. 57  Auch umgekehrte Verhältnisse sind überliefert, etwa wenn Wilhelm Ferdinand Bischoff seine Aufenthalt am Grenzübergang Sebastiansberg (Hora Svatého Šebestiána, heute zu Reitzenhain) schildert: „Wir haben die armen Fuhrleute, die aus



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finden auch wichtige Exportwaren wie Karlsbader Messer ihre Erwähnung (209). In Bezug auf die Infrastruktur transportiert Campe das übliche Stereotyp der schlechten böhmischen Straßen,58 spricht von „Vernachlässigung“ (160) und sieht nahezu jeden Weg so, „wie er nicht sein sollte“ (149).59 Anders ist die Einschätzung beim Postwesen, wo es nicht nur Campe mit Blick auf Böhmen sicher zu sein scheint, „dass man in ganz Deutschland kein so wohleingerichtetes Postwesen, als hier und im Östreichischen überhaupt, findet.“ (232) Auf der anderen Seite des Erzgebirgskammes schien es hingegen „gegen die Gewohnheit Sächsischer Postämter [zu sein], uns ein wenig schnell zu befördern“ (231).60 Mit diesem Urteil passt sich Campe der Meinung der Zeit an, die ein starkes Qualitätsgefälle zwischen Norddeutschland als einer Region mit schlechtem und dem Süden als einer solchen mit guten Postwesen sah – mit der sächsisch-böhmischen Grenze als Scheidelinie.61 Die Kritik an den entsprechenden Zuständen der Post gerade in den nord- und mitteldeutschen Teil- und Kleinstaaten wurde im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bisweilen auch der politischen Zersplitterung Deutschlands zugeschrieben.62 Sachsen kommen, und oft mehrere Tage hier verweilen müssen, ehe man ihre Fracht untersuchen kann, recht sehr, und um so aufrichtiger bedauert, als die hiesigen Wirthe bei solchen Gelegenheiten ihre Kunstfertigkeit im Schreiben mit doppelter Kreide recht überzeugend bethätigen sollen.“ Bischoff: Reise durch die Königreiche Sachsen und Böhmen (wie Anm. 51), S. 243. 58  Vgl. Hentschel: Deutsche in Böhmen unterwegs (wie Anm. 7), S. 80 f. 59  So auch der Komponist und Musikkritiker Johann Friedrich Reichardt (1752– 1814) in seiner Beschreibung des Wegs nach dem Grenzübergang Peterswalde: „[D] er Weg war gerade hier am abscheulichsten, und muß [!] in jeder Jahreszeit schlecht sein.“ Johann Friedrich Reichardt: Vertraute Briefe. Geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Österreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809. 2 Bde. Amsterdam 1810, hier: Bd. 1, S. 111. Zu Reichhardt vgl. einführend Walter Salmen: Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmeister und Verwaltungsbeamter der Goethezeit. 2., erw. und erg. Aufl. Hildesheim 2002 (erstmals 1963); Günter Hartung: Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) als Schriftsteller und Publizist. Halle an der Saale, Univ., Diss. 1964. 60  Eine ähnliche Einschätzung findet sich beispielsweise bei Wilhelm Ferdinand Bischoff: „Die böhmischen Postillons fahren sehr gut, man bezahlt weniger Postgeld als in Sachsen, und noch weit weniger Wegegelder.“ Bischoff: Reise durch die Königreiche Sachsen und Böhmen (wie Anm. 51), S. 130. 61  Vgl. Beyrer: Des Reisebeschreibers „Kutsche“ (wie Anm. 44), S. 76 f. Mentalitätsgeschichtlich interessant erscheint die dem in etwa entsprechende, bis heute anhaltende Trennung Deutschlands in einen „reichen“ Südteil mit Bayern und ­Baden-Württemberg – nun freilich gelegentlich unter Einschluss Sachsens (und ­Hessens) – und einen „ärmeren“ Nordteil. 62  Ebd., S. 80 f.

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In der Gegenüberstellung der großen Städte finden natürlich Dresden und Prag besondere Aufmerksamkeit.63 Allein schon die jeweilige Lage an einem Fluss – der Elbe hier, der Moldau (Vltava) dort – regt zu Vergleichen an. Typisch ist etwa das Gegenüberstellen der Karls- und der Elbbrücke.64 Für Campe scheint hier das „Prager Modell“, das Fußgänger auf die jeweilig rechte Seite der Brücke begrenzt, vorbildhaft für die sächsische Hauptstadt zu sein: „In Dresden […] soll die nämliche Anordnung getroffen worden sein. Warum nicht überall?“ (252) In der optischen Wirkung jedoch erscheint ihm die Karlsbrücke aufgrund der engen Häuserbebauung benachteiligt: „Die Elbbrücke in Dresden, soll daher, weil sie diesen Fehler nicht hat, sondern völlig frei über den mächtigen Strom aufgespannt dasteht und mit Einem Blicke übersehen werden kann, viel größer und erhabener erscheinen, als diese, ungeachtet jene etwas kürzer ist“ (258) – ein Befund, den er beim späteren Besuch in Dresden bestätigt sieht. Religiöse Aspekte schließlich zeigen sich in der Trennung des als protestantisch wahrgenommenen Sachsen vom katholischen Böhmen.65 Campe etwa thematisiert die am Wegesrand stehenden Kruzifixe: „Gleich bei dem ersten Schritte über die Grenze zwischen dem freigläubigen Sachsen und dem gemeingläubigen Böhmen zählten wir deren nicht weniger als vierzehn, die man beinahe mit Einem Blicke übersehen kann. Der Eindruck, den [diese hervorrufen], ist von trauriger Art, und verbreitet einen düsteren und schwermüthigen Nachtschein über die lachendsten Nathurgemälde“ 63  Zur Stadtgeschichte vgl. die entsprechenden Beiträge in Reiner Groß / Uwe John (Hrsg.): Geschichte der Stadt Dresden. Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung. Stuttgart 2006, S. 325–529; Knapp Tobias Weger: Kleine Geschichte Prags. Regensburg 2011, S. 81–83; Josef Janáček: Das alte Prag. Aus dem Tschechischen von Wolf B. Oerter. 2. Aufl. Leipzig 1983, S. 215–228. 64  So auch bei Julius Wilhelm Fischer, der ein Gespräch mit einem Sachsen in Prag wiedergibt: „Einer der letzteren bewies mir sehr unumstößlich, dass Dresden, was ich ohnedem wusste, zwar nicht so groß als Prag, aber dafür auch viel schöner sey, und dass besonders die hiesige Brücke mit der zu Dresden keinen Vergleich aushalte.“ Fischer: Reisen durch Oestereich (wie Anm. 49), Theil 3, S. 69. Ähnliches findet sich später bei Wilhelm Ferdinand Bischof: „Die Moldaubrücke verdient unsere ganz besondere Aufmerksamkeit. Sie ist zwar weniger elegant, als die Elbbrücke in Dresden, gewährt uns aber an sich ein weit höheres Interesse.“ Bischoff: Reise durch die Königreiche Sachsen und Böhmen (wie Anm. 51), S. 170. Darüber hinaus werden auch die Bibliotheks- und die Kunstlandschaft beider Städte in Beziehung gesetzt. Vgl. ebd., S. 193 ff. 65  Vgl. Krocová: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 10), S. 192 f., die zurecht darauf hinweist, das viele der überlieferten deutschsprachigen Reiseberichte von Autoren aus protestantisch geprägten Ländern stammen und die von ihnen vorgenommene Abgrenzung auch eine wertende war. Siehe auch Hentschel: Deutsche in Böhmen unterwegs (wie Anm. 7), S. 82 f.



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(144).66 Ganz im Sinne des Aufklärungsparadigmas wird die sächsischprotestantische gegenüber der böhmisch-katholischen Konfession als überlegen dargestellt. Die Tatsache, dass es sich bei Böhmen eigentlich um ein „Mutterland“ der Reformation handelte,67 das erst nach der Niederlage der böhmischen Stände gegen die Katholische Liga in der „Schlacht am Weißen Berg“ (Bílá hora) (1620)68 wieder rekatholisiert wurde,69 bleibt dabei unerwähnt. IV. Schlussbetrachtung Die vorstehenden Überlegungen haben nur einige wenige Beispiele präsentiert, um zu verdeutlichen, wie die historischen Beziehungen zweier Länder ihren Niederschlag in den Berichten durchziehender Reisender finden. Einige Aspekte sind dabei nicht zur Sprache gekommen: der Blick auf die jüdische Bevölkerung etwa, oder sprachliche Fragen wie die zu Beginn 66  Eine eindeutig negative Einschätzung des katholischen Bekenntnisses findet sich etwa bei einem „Berufskollegen“ Campes, dem Pädagogen und Schulmeister Christian Weiss (1774–1853). Dieser meint in Bezug auf die religiösen Verhältnisse: „In Böhmen selbst findet man mehr eigentliche Armuth, und ich glaube nicht zu irrren, wenn ich die Ursache davon zum Theil in einer gewissen Schlaffheit such, welche durch den Katholicismus des gemeinen Mannes veranlasst wird. […]. Suchte man doch auch den gemeinen Mann durch eine bessere Einrichtung seiner Religion vernünftiger und glücklicher zu machen!“ M. Christian Weiss: Wanderungen in Sachsen, Schlesien, Glatz und Böhmen. Erster Theil mit einem Titelkupfer. Leipzig 1796, neue Ausgabe 1807, S. 19 f. 67  Zu Jan Hus (um 1369–1415) und der Reformation in Böhmen vgl. – jeweils mit weiterführender Literatur – Thomas Krzenck: Johannes Hus. Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer. Gleichen / Zürich 2011; František Šmahel: Die Hussitische Revolution. Aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas Krzenck. 3  Bde. Hannover 2002; Ferdinand Seibt u. a. (Hrsg.): Jan Hus zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. Vorträge des internationalen Symposions in Bayreuth vom 22. bis 26.  September 1993. München 1997. Zur Rezeption in Sachsen siehe jetzt thesenartig Armin Kohnle: Martin Luther, Johannes Hus und die hussitische Tradition in Sachsen. In: Fiedler / Thoß / Bünz (Hrsg): Des Himmels Fundgrube (wie Anm. 42), S. 175–187. 68  Zur Schlacht und ihren Auswirkungen vgl. einführend Olivier Chaline: Die Schlacht am Weißen Berg (8. November 1620). In: Klaus Bußmann / Heinz Schilling (Hrsg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textbd.  1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft. Münster 1998, S. 95–101; umfassend zuletzt František Kavka: Bílá hora a české dějiny [Der Weiße Berg und die tschechische Geschichte]. Praha 2003. Für den europäischen Kontext im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges siehe instruktiv Christoph Kampmann: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart 2008, S. 35–49. 69  Zum Rekatholisierungsprozess vgl. knapp Dieter J. Weiß: Katholische Reform und Gegenreformation. Eine Einführung. Darmstadt 2005, S. 114–118; ausführlicher Winfried Eberhard: Entwicklungsphasen und Probleme der Gegenreformation, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde 84 (1989), S. 235–257.

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des 19. Jahrhunderts noch eher soziokulturelle Unterscheidung zwischen Deutschböhmen und „Stockböhmen“, also tschechischsprachigen Böhmen.70 Zahlreiche Beobachtungen finden sich bei mehr als einem Autor, wobei es hier immer zu berücksichtigen gilt, wie sich einzelne Reisetexte gegenseitig beeinflusst haben. Wie es hinsichtlich der Frage der Wahrnehmung des Grenzübertritts bereits angedeutet wurde, lassen sich auch in anderen Bereichen bestimmte Darstellungstraditionen nachweisen, die teilweise über lange Zeiträume hinweg aufrechterhalten wurden.71 Insofern können die hier untersuchten Texte zwar durchaus zur Illustra­ tion einer Beziehungsgeschichte herangezogen werden. Der Blick auf entsprechende Aspekte erscheint jedoch häufig durch verschiedene Prädispositionen vorgeprägt und damit verzerrt. Neben dem Rückgriff auf bestimmte, gleichsam kodifizierte Vorgängertexte lassen sich dazu auch die politische und die konfessionelle Disposition des jeweiligen Autors zählen. Entsprechend dieser Prägungen werden einzelne Aspekte stärker gewichtet, andere gar nicht angesprochen. Zu häufig werden also jenseits der zunehmenden „touristischen Schilderung“ nur Schlaglichter auf Einzelaspekte der Beziehungen geworfen.72 Eine komparatistische Studie, die sich im Rahmen der aktuellen Forschungsdiskussionen auf die Untersuchung von Beziehungen und Verflechtungen konzentriert,73 könnte jedoch mit größerem Nutzen auf die zahlreichen überlieferten Reisebeschreibungen zurückgreifen, als es von der Forschung bisher versucht worden ist – zumal die wenigen, eingangs genannten Beispiele bereits gezeigt haben, dass dieser Ansatz zumindest für Teilfragen mit einigem Erfolg angewandt werden kann, und wenn man ein größeres Quellenkorpus einbezieht, als es hier der Fall gewesen ist. Dabei hätte es Hentschel: Deutsche in Böhmen unterwegs (wie Anm. 7), S. 83 f. etwa nennt in seiner Beschreibung von Prag den Bericht von Friedrich Ernst Arnold: Beobachtungen in und über Prag, von einem reisenden Ausländer. 2 Bde. Prag 1787 als Quelle, die in seine Schilderung mit eingeflossen ist. Ähnliche Bezugnahmen finden sich in fast jedem Bericht. Auch Campes Darstellung selbst wurde so zur Grundlage späterer Deutungen, etwa wenn sich Adolf von Schaden zustimmend zu den Ausführungen über die Prager Frauenwelt äußert. Vgl. Schaden: Kritischer Bocksprung (wie Anm. 54), S. 154. 72  Vgl. dazu – und zu den anderen in diesem Abschnitt angesprochenen Problemen – die Beiträge in Rudolf Jaworski / Peter Oliver Loew / Christian Pletzing (Hrsg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa im 19.  und 20.  Jahrhundert. Darmstadt 2011. 73  Vgl. dazu Hartmut Kaelble: Historischer Vergleich. Version 1.0. In: DocupediaZeitgeschichte, 14.08.2012. Online unter: http: /  / docupedia.de / zg / Historischer_ Vergleich?oldid=84623 [10.06.2013]; Thomas Welskopp: Vergleichende Geschichte, In: Europäische Geschichte Online. 03.12.2010. Online unter: http: /  / www.ieg-ego. eu / welskoppt-2010-de [10.06.2013]. 70  Vgl.

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sich vielleicht eher angeboten, den Bericht eines „Einheimischen“ heranzuziehen, der mit den lokalen Verhältnissen zumindest in einem der beiden Länder näher vertraut gewesen wäre und damit konkretere Vergleiche und Gegenüberstellungen hätte vornehmen können.74 Weiterhin läge es nahe, anstatt des hier betrachteten einen Raumes zwei europäische Regionen zu beleuchten, bestimmte Wahrnehmungsfragen aufeinander zu beziehen und so zu weiter reichenden Aussagen zu gelangen.75 Sinnvolle Anwendungs­ potentiale lassen sich also viele denken – es gilt, sie vielleicht häufiger, als es bisher geschehen ist und hier in begrenztem Rahmen geschehen konnte, zu nutzen.

74  Hier würde es dann freilich den der Komparatistik häufig gemachten Vorwurf einer Einseitigkeit des Standpunktes zu bedenken gelten. Vgl. auch im Hinblick auf die aktuellen Debatten um eine transnationale Geschichtsschreibung – neben Kaelble: Historischer Vergleich (wie Anm. 72) und Welskopp: Vergleichende Geschichte (wie Anm. 72), die darauf ebenfalls Bezug nehmen – Philipp Gassert: Transnationale Geschichte. Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. Online unter: http: /  / docupedia.de / zg / Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert?old id=85577 [10.06.2013]; Klaus Kiran Patel: Transnationale Geschichte. In: Europäische Geschichte Online, 03.12.2010. Online unter: http: /  / www.ieg-ego.eu / patelk2010-de [10.06.2013]. 75  Vgl. dazu jetzt, wiederum zur Wahrnehmung von Grenzen, Martina Power [=Martina Krocová]: Hory a moře mezi námi. Vnímání hranic a prostoru v německé a britské cestopisné literatuře o Čechách a Irsku 1750–1850 [Berge und See zwischen uns. Die Wahrnehmung der Grenze in der deutschen und britischen Reiseliteratur über Böhmen und Irland 1750–1850]. Praha 2013 [im Druck].

Kulturelle Kontakte zwischen dem Prager Ständetheater und dem Dresdener Hoftheater um die Mitte des 19. Jahrhunderts Von Markéta Bartoš Tautrmanová (Teplice) I. Organisationsformen und Trägerschichten Wenn man die Theaterorganisation zum Ende des 18. Jahrhunderts und im gesamten 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum Europas betrachtet, so zeigen sich zwei grundlegende Systeme des Betriebs von Theatern: Hoftheater und Stadttheater.1 Die charakteristischen Unterschiede zwischen Hof- und Privattheater bzw. Stadttheater lagen in der Organisationsform und im Repertoire: An der Spitze des Hoftheaters stand in der Regel ein Intendant, das Stadt- oder Privattheater dagegen leitete ein Theaterdirektor. Der Intendant war Inhaber eines Hofamts, welches mit der militärischen Herkunft des Wortes verbunden und zumeist Adeligen vorbehalten war. Der Intendant im Hoftheater unterstand direkt dem Monarchen oder dem Hausministerium. Spezifisch für das Hoftheater war auch der Theaterbetrieb, der mit Ausnahme der Sommerpause das ganze Jahr über lief.2 Das Stadttheater dagegen wurde seit Anfang des Jahrhunderts zumeist an einen Theaterdirektor verpachtet, der mit dessen Betrieb seine persönlichen Einnahmen erwirtschaften und vom Gewinn leben musste. Er wurde von der Stadt beauftragt und bestimmte über den Pachtvertrag, das Repertoire und das Engagement des Ensembles. Für das Theater waren auf Seiten der Städte in der Regel Theaterkomitees zuständig, welche sich aus Mitgliedern der Stadtverwaltung zusammensetzten. Das Dresdner Theater kann man als typisches Beispiel des Hoftheaters bezeichnen: Das Theatergebäude stand in der unmittelbaren Nähe des Kö1  Diese Unterteilung geht zurück auf Michael Walter: „Die Oper ist ein Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1997. Vgl. zu den folgenden Ausführungen jetzt ausführlich Markéta Bartoš Tautrmanová: Eine Arena deutsch-tschechischer Kultur. Das Prager Ständetheater 1846–1862. Berlin /  Münster 2012. 2  Im 18. Jahrhundert wurden die Hoftheater häufig auch an einen Impressario verpachtet, wie z. B. an Pasquale Bondini († 1789) in Dresden, oder unter Joseph II. (1741–1790) auch das Wiener Hoftheater.

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nigspalastes. Das Herrscherhaus traf in der Regel die Entscheidung darüber, wer das Theater besuchen durfte und wer nicht. Das Hoftheater war im Prinzip eine private Bühne und seine primäre Funktion war die Repräsen­ tation, das Repertoire diente zu Unterhaltungszwecken. Das Dresdner Hoftheater gewann vor allem nach der Übernahme der polnischen Krone durch die Wettiner an Bedeutung. Das Ständetheater in Prag dagegen gehörte in seiner Organisationsform weder zum Hoftheater- noch zum Stadttheatertypus. Es wurde ursprünglich von Franz Anton Graf von Nostitz-Rieneck (1725–1794) erbaut, der den Bau des Theatergebäudes aus eigenen Mitteln finanzierte.3 Man kann sicherlich fragen, warum. Einen Teil seiner Motivation erörterte er in einer öffentlichen Proklamation im Jahre 1782: In Prag gäbe es kein prächtiges Theatergebäude, das man bewundern könne, wie in anderen Städten Europas. Er baue das Theater aus „reiner Vaterlandsliebe“ und wolle nach dem Beispiel des Wiener Hoftheaters ein ähnlich repräsentativ wirkendes Theatergebäude in Prag schaffen.4 Nostitz sprach dabei von einem Nationaltheater in der „Muttersprache“, womit die deutsche Sprache gemeint war. Wenn das Theater prosperieren sollte, würde er sich jedoch gegen keine andere Sprache stellen, wenn diese vom Adel und vom Publikum gewünscht würde (daher die Widmung Patriae et musis). Der Name des Theaters, das Gräfliche Nostitzsche Nationaltheater, bezeichnete kein Streben zur Gründung eines Nationaltheaters im heutigen Sinne − in der Sprache der damaligen Zeit bedeutete das Wort national so viel wie öffentlich. Der Name signalisierte also die Verbindung eines privaten Adelstheaters mit einer öffentlichen Bühne, was auch die Anzahl der Sitzplätze belegte. Ein weiterer Grund für den Bau lag in Nostitz’ Liebe für das Theater, für Musik und Kunst: Er wollte die dramatische Kunst breiteren Schichten der Bevölkerung näherbringen und die Nachfrage der Adeligen nach italienischen Opern befriedigen. Er wollte offensichtlich die Kultur in Prag unabhängig vom Wiener Zentralismus führen und sie breiteren Gesellschaftsschichten zugänglich machen. Das Nostitz’sche Nationaltheater wurde am 21. April 1783 eröffnet. Gespielt wurde in der Sommersaison an drei, in der Wintersaison an fünf Abenden pro Woche, wobei drei Tage der deutschen Tragödie oder Komödie gehörten und zwei Tage der Oper gewidmet waren. Nostitz’ Vision wurde 3  Er rechnete anfangs mit Ausgaben in Höhe von 25.000 Gulden, doch erreichten die Baukosten letztlich 83.000 Gulden. 4  Zit. nach Pavel Bělina: České země a habsburský absolutismus ve druhé polovině 18. a na počátku 19. století [Die böhmischen Länder und der habsburgische Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts]. Praha 1993, S. 30.



Prager Ständetheater und Dresdener Hoftheater111

auch nach seinem Tod im Theater fortgesetzt, als sein Sohn, Friedrich ­Maria Graf von Nostitz-Rieneck (1762–1819), das Theater im April  1798 an die Stände verkaufte.5 Das Theater wurde umbenannt und trug nun die Bezeichnung Landständisches (Ständisches) Theater der Königlichen Altstadt Prag. Auch die Stände wollten ein repräsentatives Theater mit einem auf hohem Niveau stehenden Repertoire, in dem sich italienische Opern und französische Schauspiele mit einheimischen deutschen Werken abwechseln sollten. Sie wollten ihre Elitenkultur der breiten Öffentlichkeit vermitteln und befanden eine öffentliche Bühne zu diesem Zweck für äußerst geeignet. Das Repertoire war für die Stände unterhaltend − für die breiteren Schichten sollte es erzieherisch wirken. Das Theater sollte auch weiterhin den Beweis führen, dass in Prag eine hohe Theaterkultur gepflegt wurde, die von Wien unabhängig existieren konnte. Aufgrund des Verpachtungsmodells und der Existenz einer Theaterkommission als Aufsichtsorgan könnte das Ständetheater somit zum Stadttheatertypus gezählt werden, die im Jahre 1846 eingeführte Intendanz dagegen weist eher Elemente eines Hoftheaterbetriebes auf. Im Hinblick auf den Theaterbetrieb kann man die Prager Hauptbühne somit als Mischtypus bezeichnen. Von der Trägerschicht her könnte das Theater als Adelstheater gelten, da die Stände bzw. die Gruppe aristokratischer Erblogeninhaber, die weder zum Hof noch zur Stadtverwaltung gehörten, die Theaterleitung bestimmten.6 Diese Adeligen übten in kultureller und ökonomischer Hinsicht die Macht über das Theater aus und bestimmten dessen innere Struktur. Auch anhand der Theaterpraxis ist nachweisbar, welche Richtung im Repertoire die Stände prägten oder prägen wollten. Das Prager Ständetheater und das Dresdner Hoftheater unterschieden sich zwar im Charakter der Bühne, wiesen jedoch ähnliche Merkmale in der Aufsicht über die Bühne und im Repertoire auf. Die Ähnlichkeiten wurden durch die Nähe der beiden Theater verursacht. Die Künstler traten auf beiden Bühnen auf, daher können Transferprozesse angenommen werden.

5  Zu den Bedingungen des Theaterverkaufs siehe: Státní oblastní archiv v Plzni, depozitář Nepomuk / Staatsregionalarchiv in Pilsen, Depot Nepomuk. Familienarchiv Nostitz-Rieneck 1364–1945, Kart. 175, Inventar-Nr. 1305 AX 13. 6  Die Logenkäufer bezahlten eine Kaufsumme von je 10.000 Gulden und wurden so zu Miteigentümern des Theaters. Die ersten zwei Logenkäufer waren Christian Graf von Clam-Gallas und Johann Franz Graf von Sweert-Sporck. Weitere Logen wurden durch Franz Joseph Graf von Wrtby, Rudolph Graf von Morzin, Philipp Graf von Kinsky und Philippine Gräfin von Schlick geborene Nostitz erworben. Eine Loge kaufte auch Friedrich Maria Graf von Nostitz-Rieneck und behielt sich so das Recht vor, die Theaterführung mitzubestimmen.

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II. Carl Maria von Weber in Prag und in Dresden Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte auf beiden Bühnen die italienische Oper vor. In Prag setzte sich die deutsch gesungene Oper erst unter der Direktion von Johann Karl Liebich (1773–1816), die von 1806 bis zu dessen Tod andauerte, durch. Liebich wurde von der Pflicht, italienische Opern aufzuführen, losgesprochen. So fand schon im Jahre 1807 die Premiere der ersten in deutscher Sprache gespielten Oper statt: Luigi Cherubinis (1760–1842) Fanisca. Im Jahre 1813 engagierte Liebich Carl Maria von Weber (1786–1826) als Kapellmeister. Weber wirkte vier Jahre in Prag. Er engagierte neue Sänger und Sängerinnen, reorganisierte das Orchester und benutzte erstmals einen Taktstock, anstatt das Orchester vom Klavier aus zu dirigieren. Nach dem Frühjahrsfeldzug des Jahres 1813 kamen viele berühmte Persönlichkeiten nach Prag, und auch der sächsische Hof ließ sich hier für kurze Zeit nieder. So wurde die Metropole Böhmens zum Zentrum von kulturellen Ereignissen wie Konzerten und Bällen sowie zum Treffpunkt von Politikern und Diplomaten.7 Webers Ensemble war komplett und ließ mehrere neue Opern einstudieren – neun Stücke in fünf Monaten. 1814 feierte beispielsweise Ludwig van Beet­hovens (1770–1827) Oper Fidelio ihre hiesige Premiere.8 Weber fühlte sich jedoch einsam in Prag. Er vermisste soziale Kontakte, Salons, wo man diskutieren konnte. Er fühlte sich „lebendig begraben“, war mit Arbeit überlastet und hatte daher keine Zeit, selbst zu komponieren. Weiterhin litt er unter einer Tuberkulose-Infektion. Aus diesen Gründen kündigte er zu Ostern 1816 die Stelle als Kapellmeister. Vor seinem Abgang brachte er noch Louis Spohrs (1784–1859) Faust zur Aufführung, eigentlich eine Uraufführung dieser Oper, die ursprünglich für das Theater an der Wien in der habsburgischen Hauptstadt komponiert worden war.9 Prag bedeutete einen wichtigen Markstein in Webers Leben. Er disziplinierte sich menschlich und künstlerisch.10 Er verließ jedoch die böhmische Metropole und ging nach Dresden, wo er 1817 die Stelle als Königlicher Kapellmeister der Deutschen Oper am Dresdner Hoftheater antrat – wenn auch zunächst nur unter der Bezeichnung „Musikdirektor“. Seine Berufung nach Dresden verdankte Weber dem Direktor der musikalischen Kapelle 7  Zdeněk Němec: Weberova pražská léta. Z kroniky pražské opery [Webers Prager Jahre. Aus der Chronik der Prager Oper]. Praha 1944, S. 53. 8  Vgl. ebd., S. 83. 9  Vgl. ebd., S. 157. 10  Vgl. ebd., S. 165.



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und der beiden Theater, Heinrich Carl Graf Vitzthum von Eckstädt (1770– 1837), der diese gegen starke Widerstände des sächsischen Königs Friedrich August I. (1750–1827) und des Ministers Detlev Graf von Einsiedel (1773– 1861) hatte durchsetzen können.11 Vitzthum setzte sich auch für die Einführung der deutschen Oper ein, deren Blütezeit in Dresden mit Weber begann. Dieser meinte, dass die französische Oper die Grundlage für die Entwicklung der deutschen Oper bilde. Mit seinem Spielplan knüpfte er an die in Prag verfolgte Konzeption an und ließ französische Opern in deutscher Übersetzung aufführen. Damit gelang es ihm, den leeren Zuschauerraum zu füllen. Am 30.  Januar 1817 eröffnete Weber mit einer Aufführung von Étienne-Nicolas Méhuls (1763–1817) Joseph (unter dem Titel Jakob und seine Söhne) das neue deutsche Departement des Dresdner Hoftheaters und setzte den Spielplan mit Werken von Cherubini, François-Adrien Boieldieu (1775–1834) und André-Ernest-Modeste Grétry (1741–1813) fort, also mit allen bedeutenden zeitgenössischen Komponisten der französischen Oper.12 In Dresden führte Weber seine in Prag begonnenen Opernreformen weiter. Er pflegte nach wie vor Kontakte mit Prager Künstlern und bewog viele exzellente Sänger aus Prag zu einem Engagement in Dresden. Der Bariton Franz Hauser (1794–1870) beispielsweise verließ die böhmische Hauptstadt 1821, um in Dresden zu arbeiten. In Prag wurden Webers Opern weiterhin aufgeführt. So kam etwa sein Freischütz in Prag früher zur Aufführung als in Dresden, nämlich bereits 1821.13 Seine Tätigkeit in Dresden war nicht nur auf das Theater beschränkt. Er wirkte auch als Hoflehrer für das Königshaus.14 Seine bekanntesten Opern komponierte Weber in der sächsischen Hauptstadt: Den Freischütz zwischen 1817 und 1820,15 1823 / 24 Euryanthe und Oberon. Obwohl Der Freischütz in deutscher Sprache geschrieben wurde, kann noch nicht von einer „deutschen Nationaloper“ gesprochen werden. Gleichwohl begann mit Weber eine lange Tradition von in deutscher Sprache gespielten Opern und deutschen Originalopern sowohl in Prag als auch in Dresden.

11  Vgl. Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914. Wien / München 2006, S. 100. 12  Vgl. ebd., S. 122. 13  Am 6.  Mai 1824 wurde Der Freischütz zum ersten Mal in tschechischer Sprache aufgeführt. 14  Vgl. Philipp Ther: Národní divadlo v kontextu evropských operních dějin. Od založení do první světové války [Das Nationaltheater im Kontext der europäischen Operngeschichte. Von der Gründung zum Ersten Weltkrieg]. Praha 2008, S. 40. 15  Die Uraufführung fand unter Webers Leitung am 18.  Juni 1821 im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt statt.

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III. Richard Wagner und die Revolution von 1848 / 49 An die Tradition der deutsch gesungenen Opern knüpfte Richard Wagner (1813–1883) in den 1840er Jahren an. Dresden wurde sogar zum Zentrum der deutschen Oper. Außer Wagner kamen auch andere bedeutende Künstler wie Karl Gutzkow (1811–1878) oder Eduard Devrient (1801–1877) in die sächsische Hauptstadt. Das Hoftheater wies so ein aufsteigendes künstlerisches Niveau auf. Wagner wirkte als Dirigent, Gutzkow als Dramaturg, Devrient nicht nur als exzellenter Schauspieler, sondern auch als Bühnenreformator. Diese Akteure waren aber nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch aktiv, was häufig zu Konflikten mit dem Herrscherhaus bzw. dem Intendanten führte.16 Der Intendant – seit 1824 bekleidete Wolf Adolph August von Lüttichau (1785–1863) dieses Amt – war in der Regel kein Fachmann, sondern gewann diese Stelle dank seiner Kontakte zum Hof. Er war dem Herrscher untergeordnet – anders als am Ständetheater, wo der Intendant den Ständen unterstand. Permanente Konflikte zwischen dem Intendanten und den Intellektuellen führten dazu, dass letztere in den Jahren 1848 und 1849 an der Spitze des Revolutionsgeschehens standen. Nach der Unterdrückung der Revolution blieb das Theatergebäude für wenige Wochen geschlossen und die führenden Persönlichkeiten wurden bestraft – gegen Wagner wurde ein Steckbrief erlassen, Gutzkow wurde entlassen. Wagner hatte die Stelle als Kapellmeister 1843 erhalten, nachdem sein Rienzi im Jahr zuvor in Dresden als erster großer Erfolg des Komponisten uraufgeführt worden war. Während seiner dortigen Schaffensperiode erlebte das Dresdner Hoftheater seine zweite Blütezeit. Wagner erhöhte den Anteil der deutschen Werke im Repertoire; italienische Opern, die noch in der Originalsprache gesungen wurden, ließ er nun auf Deutsch aufführen. Durch die Sprache und die Werke „nationalisierte“ er den Spielplan.17 Seine eigenen Werke erlebten indes, abgesehen von Rienzi, keine großen Erfolge: Der Fliegende Holländer (1843) verschwand nach vier Wiederholungen, auch Tannhäuser (1845) erfuhr erst bei der Wiederaufführung 1852 eine bessere Annahme. Lohengrin, der dank der im Vordergrund stehenden Liebesgeschichte eine Chance auf Erfolg hatte, kam wegen des Ausbruchs der Revolution 1848 nicht zur Aufführung.18 Wagner musste aufgrund seiner Teilnahme am Dresdner Maiaufstand 1849 aus Sachsen fliehen.19 Seine Flucht bedeutete auch ein Ende der BlüTher: Národní divadlo (wie Anm. 14), S. 49. ebd., S. 57. 18  Vgl. Ther: In der Mitte der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 129. 19  Vgl. dazu die Beiträge in: Der Dresdner Maiaufstand von 1849. Dresdner Hefte Nr. 43, Dresden 1995, zur Rolle Wagners besonders Silvia Reif: Wagner geht! Aufbruch und Krise 1848 / 49. In: Ebd., S. 56–66. 16  Vgl. 17  Vgl.



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tezeit der deutschen Oper in Dresden. Zu Beginn der 1850er Jahre wurde das Repertoire, ähnlich wie in Prag, entpolitisiert, alle politisch verdächtigen Werke wurden vom Spielplan zurückgezogen. In Dresden feierten Werke wie Giacomo Meyerbeers (1791–1864) Der Prophet (1850) Erfolge, das Repertoire blieb bis Mitte der 1860er Jahre weitgehend apolitisch.20 Ähnlich wie in Prag zeigt sich eine Beschränkung auf wenige Premieren. Der Grund dafür war auch eine Schaffenskrise. Komponisten wie Albert Lortzing (1801–1851) und Otto Nicolai (1810–1849) verstarben, Heinrich Marschner (1795–1861) hatte seinen künstlerischen Höhepunkt überschritten, Friedrich von Flotow (1812–1883) orientierte sich auf komische Opern und Wagner war im Exil. Seine Gesuche um Begnadigung wurden abgelehnt, seine künstlerische Bedeutung konnte man jedoch nicht ignorieren. Seine Opern – wie vor allem der Lohengrin – feierten nun große Erfolge, und dank der Presse wurde die Dresdner Öffentlichkeit davon detailliert informiert. Daher kam es 1859 auch in der sächsische Hauptstadt zur Aufführung des Lohengrin. Obwohl die Oper sehr gute Reaktionen erhielt, verschwand sie kurz nach der Premiere aus dem Spielplan.21 Überhaupt waren die 1850er Jahre für das Theater in Dresden, aber auch in Prag, eine ungünstige Zeit. In beiden Städten sollte es die Aufmerksamkeit des Publikums vom politischen Geschehen ablenken. Das Dresdner Hoftheater war ein Ort der Selbstinszenierung der Monarchie, wo die Herrscher ihre privaten Feiern wie Hochzeiten oder Geburtstage begingen. Die Monarchen bewiesen damit ihr Anpassungsvermögen an die Ära des „bürgerlichen Jahrhunderts“. Eine günstigere Situation entstand dann auch dank der Belebung der deutschen Nationalbewegung. Die Wettiner widmeten sich bewusst der deutschen Kultur und dem Anliegen deutschen Einheit. 1862 wurde Wagner von König Johann (1801–1873) begnadigt und durfte Dresden wieder besuchen. In den folgenden Jahren wurden seine Opern immer häufiger am Dresdner Hoftheater aufgeführt. 1869 war das Hoftheater die zweite Bühne, auf der, nach der Münchener Premiere, Die Meistersänger von Nürnberg aufgeführt wurden.22 Wagner hinterließ ein dauerhaftes Erbe in Dresden – er nationalisierte die Oper auf der Ebene der gesungenen Sprache und des Repertoires und begründete damit die Tradition der deutschen Oper. Die intensiven Kontakte zwischen Prager und Dresdner Theater, die während Webers Ära begonnen hatten, wurden durch Wagner fortgesetzt. Als Beispiel kann man die Freundschaft zwischen ihm und dem Prager Ther: Národní divadlo (wie Anm. 14), S. 50. ebd., S. 63. 22  Vgl. ders.: In der Mitte der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 136. 20  Vgl. 21  Vgl.

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Komponisten Johann Friedrich Kittl (1806–1868) erwähnen. Beide kooperierten bei Kittls Oper Bianca und Giuseppe, oder: Die Franzosen vor Nizza, die im Februar 1848 im Ständetheater uraufgeführt wurde. Schon im Sommer 1847 reiste Wagner nach Prag, um sich mit Kittl zu treffen. Er verfasste das Libretto und schenkte es seinem Freund. In der musikalischen Bearbeitung der Oper bemühte sich Wagner ständig, Kittl zu beeinflussen – vor allem hinsichtlich des Schlussaktes: „ […] Aufrichtig lieber Freund, ich wäre gern bei einigen Proben zugegen gewesen. Vor allem peinigt mich etwas Aenderung des Schlusses. Weißt Du, was der Schluß einer Oper ist? Alles! Ich hatte auf das heftig Ergreifende, Sturmschnelle des Schlusses gerechnet: die schrecklichste Katastrophe beim Gange aus der Kirche darf mit nichts mehr versüßt werden, – das einzige furchtbar Erhebende ist das Daherschreiten eines großen Weltgeschickes, hier personifizirt in der französischen Revolutions-Armee, welches in fürchterlicher Glorie über die zertrümmerten alten Verhältnisse [der Familien] dahinzieht. Diese Beziehung darf nach meiner Ansicht in nichts geschwächt werden, wenn der Schluß, wie ich mir es dachte, der erhebendste Moment des Ganzen sein soll; wird er so festgehalten, wie ich mir ihn dachte, so liegt die große Versöhnung im Erscheinen der Franzosen darin, daß wir hier mit offenen Augen ersichtlich eine neue Weltordnung eintreten sehen, deren Geburtswehen jene Schmerzen waren, die bis dahin die Bewegung des Dramas bildeten […]. Verbietet die Zensur den Marseiller Marsch, so mußt Du dazu einen ganz ähnlichen extemporiren. – Ich bitte Dich dringend, beachte, was ich Dir wohlmeinend hier sage!“23 Kittl aber ging auf diese Vorschläge nicht ein und schrieb ein ausgedehntes Chorfinale. Die Premiere von Bianca und Giuseppe fand drei Tage vor dem Ausbruch der Revolution in Paris 1848 statt, gleichsam am Vorabend der Prager Revolution. Mit ihrem nach dem Motiv des französischen Revolutionsliedes Ça ira (Es wird gehen) komponierten Marsch wurde sie zur Ouvertüre des Revolutionsjahres. In der Oper klingen bereits gewisse Ideen der Revolution an. Der ursprünglich freisinnige Text musste jedoch aufgrund der Zensur, die im Ständetheater vom Intendanten ausgeübt wurde, verändert werden. Dabei wurden mehrere Passagen gestrichen. Wagners Einfluss auf das Repertoire des Ständetheaters zeigte sich auch einige Jahre später, als seine Opern auf der Prager Hauptbühne zur Aufführung gebracht wurden. 1854 bekam das Publikum Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg zu sehen. Die Idee, in Prag endlich eine Wagner-Oper aufzuführen, war nicht neu − schon 1846 war der damalige 23  Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Bd. 2: Briefe der Jahre 1842 bis 1849. 2. Aufl. Leipzig 1980, S. 585.



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Direktor Johann Hoffmann (1803–1865) mit dem Kapellmeister František Škroup (1801–1862) nach Dresden gereist, um dort den Tannhäuser zu hören. Die Dresdner Inszenierung inspirierte diejenige im Ständetheater. Dass der Tannhäuser dann allerdings doch nicht auf der Prager Bühne aufgeführt werden konnte, war sowohl durch politische Hindernisse als auch durch die neuen Theatergesetze und schließlich durch das unvollständige Ensemble des Ständetheaters begründet. Škroup aber gab den Plan, das Stück in Prag zu präsentieren, nicht auf und brachte diese Idee unter neuer Direktion wieder vor. Der Tannhäuser wurde bei seiner Prager Aufführung jedoch quasi „tranchiert“ − möglicherweise aus Besorgnis, wie das Publikum reagieren würde, wenn neben den üblichen komischen Opern plötzlich eine Wagner-Oper auftauchte. Als erstes gab man die Tannhäuser-Ouvertüre im Rahmen eines Benefizabends, dann brachte Škroup die grandiose Nummer des zweiten Aktes, die den Sängerkrieg einleitete, als Benefizkonzert. Dieses „Tranchieren“ steigerte erwartungsgemäß die Neugier des Publikums dermaßen, dass die Premiere ausverkauft werden konnte. Tannhäuser, der neun Jahre nach der Dresdner Premiere nun endlich auch auf der Prager Ständischen Bühne aufgeführt wurde, wurde ein großer Erfolg. Die Oper verdankte ihren überwältigenden Sieg vor allem der Leistung von Kapellmeister Škroup, wofür ihm Wagner in einem Brief dankte. Der 1856 aufgeführte Lohengrin weckte in Prag ebenso große Neugier wie zuvor der Tannhäuser. Die Premiere fand fast sechs Jahre nach der Uraufführung der Oper am 28. August 1850 in Weimar statt. Die Begeisterung war erneut groß. Der Erfolg des Lohengrin beim Prager Publikum und die ausgezeichnete Aufführung bescherten dem Stück auch in den Folgejahren weitere Wiederholungen. Es war vor allem das Verdienst von Kapellmeister Škroup, dass Wagners Opern auf der Bühne des Ständetheaters zur Aufführung kamen. Wagner war sich dieser Tatsache bewusst. In einem Brief wandte er sich erneut an den Kapellmeister, um ihm seine Zufriedenheit zu versichern und ausdrücklich Dank zu sagen.24 Im gleichen Jahr folgte die nächste Premiere − Der Fliegende Holländer, erst dreizehn Jahre nach der Dresdner Uraufführung am 2. Januar 1843. Das Premierendatum war absichtlich gewählt worden, weil die Theaterdirektion eine „Wagner-Woche“ veranstaltete, innerhalb welcher man den Fliegenden Holländer, Tannhäuser und Lohengrin sah. Die vierte Wagner-Premiere auf der Bühne des Prager Ständetheaters folgte erst 1859 − Rienzi, der letzte der Tribunen, die hier erst siebzehn Jahre nach der Dresdner Uraufführung in Szene gesetzt wurde, und deren Wirkung auf die Masse der Zuschauer 24  Vgl. Brief an František Škroup vom 27.  März 1856 aus Zürich. In: Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Bd. 7: März 1855 bis März 1856. Leipzig 1988, S. 364.

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nun völlig anders war. Rienzis pompöse Reden konnten elf Jahre nach der Revolution keine Massen mehr mobilisieren, stattdessen wurde die Handlung als monoton empfunden.25 Es ist bekannt, dass es den Plan gab, noch Tristan und Isolde und Das Rheingold aufzuführen. Ihre Uraufführung erlebten diese Opern jedoch nicht im Prager Ständetheater, sondern 1865 und 1869 in München. Wagner war sich der Gefahr bewusst, dass seine Werke unter den Umständen, die im Ständetheater herrschten, leiden würden. Trotz der Nichtaufführung von Tristan und Rheingold wurde Prag mit seinen Premieren der genannten Opern zu einer der wichtigsten und bedeutendsten Bühnen der HabsburgerMonarchie und des gesamten deutschsprachigen Raumes. In tschechischer Sprache wurden Wagners Opern erst am Ende des 19.  und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgeführt. Der tschechische Tannhäuser kam zum ersten Mal 1888 in Pilsen auf die Bühne, die von Václav Juda Novotný (1849–1922) übersetzte Fassung des Lohengrin lief 1885 im Tschechischen Nationaltheater in Prag, der Fliegende Holländer 1907 ebenfalls im Prager Nationaltheater und Rienzi 1914 in Pilsen (Plseň).26 IV. Fazit: Kontakte und Kulturtransfer Auf der Grundlage der genannten Beispiele des Dresdner Hof- und Prager Ständetheaters kann man von einem Kulturtransfer zwischen den beiden Bühnen sprechen. Dresden war die Residenzstadt des Sächsischen Hofes, die um Mitte des 19. Jahrhunderts bereits über 100.000 Einwohner hatte. Prag dagegen, als Hauptstadt Böhmens und eine der größten Städte der Habsburger-Monarchie in den 1840er bis 1860er Jahren, war eine Stadt mit einer deutschsprachigen Elite, doch mit einer tschechischsprachigen Bevölkerungsmehrheit. Die Elite bezeugte vor 1848 mit der deutschen Sprache und Kultur ihre Zugehörigkeit zu Herrscher und Land. Im Zentrum des kulturellen Geschehens standen Akteure des Transfers, d. h. Persönlichkeiten, die Kraft ihrer Funktion oder Position in der Gesellschaft den Prozess des Transfers beeinflussen konnten, mittels dessen die Merkmale von einer Kultur in die andere und umgekehrt transportiert wurden. Am markantesten war dieser Transferprozess unter jenen gesellschaftlichen Gruppen, die im kulturellen Bereich tätig waren, d. h. unter Literaten, Theaterkünstlern, Musikern und Schauspielern sowie unter Intellektuellen. Auf der Ebene der Schauspieler oder Sänger war Kulturtransfer auf deren 25  Vgl. 26  Vgl.

Bohemia, 32. Jg., Nr. 252, 25.  Oktober 1859. Jan Trojan: Dějiny opery [Geschichte der Oper]. Praha 2001, S. 188–199.



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Wirken und Leistungen während der Darstellungen begrenzt − anders war dies bei Musikern und Komponisten, deren Aktivitäten auf breitere Schichten der Gesellschaft, auch außerhalb des Theaters, ausstrahlten. Eine besondere Stellung im Prozess des Kulturtransfers hatten die Kapellmeister des Theaters: Sie prägten einen sehr breiten kulturellen Bereich von der Darstellung und Einstudierung eines Stückes über die Musikbegleitung bis zum Auftritt der Sänger. Dank ihres breiten Wirkungsradius’ konnten sie ihren eigenen kulturellen Geschmack, ihre Ideen und Vorstellungen in die Theateraufführungen einbringen, der breiten Öffentlichkeit präsentieren und in das allgemeine Bewusstsein transportieren. Die Übertragungsprozesse können anhand des Repertoires bzw. an konkreten Bühnenwerken, hier also im Blick auf Opern, gut beobachtet werden. Für die beiden genannten Bühnen bieten Carl Maria von Weber und Richard Wagner ein herausragendes Beispiel solcher Akteure, die wesentlich zu einem kulturellen Transfer zwischen den zwei Bühnen beitrugen.

IV. Sächsisch-böhmische Beziehungen im 20. Jahrhundert

Die Sudetendeutsche Kunstausstellung Dresden 1938 Zur Wahrnehmung deutsch-böhmischer Kunst in Sachsen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Von Anna Habánová (Liberec) Die vorliegende Studie bearbeitet ein Teilthema eines langfristigen Forschungsprojekts zur Problematik der deutsch-böhmischen (sudetendeutschen) bildenden Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Gemeint sind deutschsprechende Maler, Graphiker und Bildhauer aus Böhmen, Mähren und Schlesien, die auf dem genannten Gebiet gelebt haben oder regelmäßig ihre Werke aus anderen Orten zu verschiedenen Ausstellungen geschickt und damit einen aktiven Einfluss auf die Entwicklung der Kunst ausgeübt haben.2 Das Ziel der Studie ist es, ein Bild der Wahrnehmung der deutsch-böhmischen bildenden Kunst in Dresden bzw. in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen. In der Literatur wurde die Sudetendeutsche Kunstausstellung 1937 / 38 bisher nicht ausführlicher thematisiert. Den Ausgangspunkt zu dieser Bearbeitung bildet der Ausstellungkatalog Sudetendeutsche Kunstausstellung 1938 Dresden.3 Die vorliegende Studie, so wie die ganze Forschung zu dem Thema, basiert vor allem auf der formalen Analyse der erhaltenen oder reproduzierten Werke und einer kritischen Betrachtung der Tagespresse.4 1  Die Studie entstand als ein Teil des von der Grantová agentura der Tschechischen Republik (GAČR) unterstützten Projektes Nr. 409 / 12 / 0756, „Ušlechtilá soutěž obou národů“ – Dějiny uměleckého spolku Metznerbund v  Čechách 1920–1945 [Edler Wettstreit der beiden Völker – Geschichte der Künstlervereinigung Metznerbund in Böhmen 1920–1945]. 2  Auf die Definition und die Wandlung des zuerst apolitischen Begriffes „sudetendeutsch“ als Sammelbegriff für die deutschsprachigen Bewohner Böhmens, Mährens und Schlesiens wird hier nicht näher eingegangen. Vgl. dazu Roland J. Hoffmann: Zur Rezeption des Begriffs der Sudeti montes im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. In: Jahrbuch für sudetendeutsche Museen und Archive (1993 / 1994), S. 73–184. 3  Sudetendeutsche Kunstausstellung. Katalog zur Ausstellung. Dresden 1938. 4  Herangezogen wurden dabei die Reichenberger Zeitung und Die Zeit. Im Stadtarchiv Dresden befindet sich eine Kartei mit Zeitungsverweisen, dieser wurden die Artikel in Freiheitskampf, den Dresdner Nachrichten und der Dresdner Illustrierten entnommen.

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Verschiedene Ausstellungsakten der Stadt Dresden fielen der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Im Rahmen der Reichenberger Sudetendeutschen Kunstausstellung 1937 ist die erste Nummer einer neuen Kunstzeitschrift erschienen:5 Kunst und Handwerk beschränkte sich „grundsätzlich nur auf sudetendeutsche Leistungen“6, wollte jedoch auch zu Vergleichsbeispielen in der tschechischen Kunst greifen und hatte unter anderem das Ziel, „eine Plattform für den edlen Wettstreit der beiden Völker“7 zu bieten. Dabei sollte „das Beste des Vorhandenen“8 thematisiert werden. Die ersten zwei Nummern wurden der Sudetendeutschen Schau gewidmet, die Texte reichhaltig mit Reproduktionen ergänzt. In Dresden wurde die Sudetendeutsche Kunstausstellung vom 27.  April bis 18. Mai 1938 im Lichthof des Rathauses gezeigt. Veranstaltet wurde sie von der Stadt Dresden und der Sudetendeutschen Kulturgesellschaft in Berlin. Es handelte sich um eine Reprise der gleichnamigen Ausstellung, die vorher bereits in Berlin, Stuttgart und Köln stattgefunden hatte. Präsenta­ tionsorte waren Karlsbad (Karlovy Vary) und im Herbst 1937 auch Reichenberg (Liberec) gewesen. Vermutlich machte die Exposition auch in München und Hamburg Station, diese Annahme konnte bisher aber nicht verifiziert werden. Zum Abschluss wurde die Ausstellung im Juni 1938 in Breslau (Wrocław) gezeigt. Die Karlsbader Premiere wurde parallel zur ersten Großen Kunstausstellung und zur Ausstellung „Entartete Kunst“ in München eröffnet. Ob diese Sudetendeutsche Schau mit Absicht oder zufällig in der gleichen Zeit gezeigt wurde, können wir nicht befriedigend beantworten. In den erhaltenen schriftlichen Quellen findet man keine Information darüber, deshalb bleiben alle Möglichkeiten offen und erst weitere Forschung wird eine Antwort bringen können. Bei der Organisation kann man annehmen, dass die jeweiligen Kreisgruppen des Metznerbundes – einer 1920 in Erinnerung an den in Wscherau (Všeruby) geborenen Bildhauer Franz Metzner (1870–1919) gegründeten Vereinigung deutscher Künstler in Böhmen, die bis 1945 bestand – beauftragt wurden, Werke zu sammeln und zur Schau zu schicken.9 So verlief die Auswahl schon anlässlich der Übersichtsausstellungen zur 5  Kunst und Handwerk. Sudetendeutsche Monatsschrift für Malerei, Bildhauerei, Graphik, Architektur, Stadtbaukunst, Gartenkunst, Volkskunst, Kunsthandwerk, Gebrauchsgraphik. Reichenberg 1938. 6  Ebd., S. 2. 7  Ebd. 8  Ebd., S. 1. 9  Vgl. im Zusammenhang Anna Habánová: „Edler Wettstreit der beiden Völker“. Die Anfänge der Tätigkeit der Reichenberger Kreisgruppe des Metznerbundes. Die Oktobergruppe und Erwin Müller. In: Umění [Kunst] 59 (2011), H. 5, S. 415–426.



Die Sudetendeutsche Kunstausstellung Dresden 1938

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deutsch-böhmischen Kunst in den Jahren 1921 und 1928.10 In Deutschland fanden sudetendeutsche Kunstausstellungen zudem Anfang der 1930er Jahre in Wien, Nürnberg und Stuttgart statt.11 Die erste Erwähnung der Dresdner Ausstellung stammt bereits von Anfang April 1938.12 Am 17. April veröffentlichte der Freiheitskampf einen ganzseitigen Bericht mit sechs Reproduktionen. Hier wird die Sudetendeutsche Ausstellung in Berlin erwähnt, welche „berechtigtes Aufsehen erregte“.13 Weiter wird ergänzt, dass es „nicht Aufgabe dieser Schau ist, für einzelne Künstler oder für einzelne Werke zu werben. Sie soll vielmehr als Gesamtheit für die Heimat der völkischen Künstler jenseits der Reichsgrenze zeugen, sie soll zeigen, dass eine gleiche schöpferische Bewegung aus den Tiefen des gesamten deutschen Volkes aufsteigt, dass überall, wo Deutsche leben, ein einmütiges Bekenntnis zu deutschem Kulturwillen abgelegt wird“.14 Dieser Aufsatz ist erstaunlicherweise der einzige, der relativ frei von politischem Pathos bleibt, obwohl er im offiziellen sächsischen NSDAP-Organ erschien. Die anderen, die nach der Eröffnung publiziert worden sind, geben nur noch die Eröffnungsrede Karl Hermann Franks (1898–1946) wieder.15 Es wird ein besonderer Wert auf die Zugehörigkeit der Sudetendeutschen zu den Reichdeutschen gelegt. Dass es sich nur um eine propagandistische Nutzung des Stoffes handelt, muss nicht begründet werden. Eine leicht veränderte Sicht äußerte der Schriftsteller Heinrich Micko (1899–1969) im Vorwort zum Katalog, wenn er schreibt, dass es eine Sudetendeutsche Kunst nicht gibt, „wohl aber gibt es eine deutsche Kunst in den Sudetenländern“.16 Der Grundgedanke der politischen Propaganda blieb jedoch gleich. Über das Zustandekommen der Schau existieren keine näheren Informationen. Als den Hauptinitiator der Ausstellung in Karlsbad und Reichenberg 10  Zur Organisation der Ausstellung 1921 vgl. Archiv der Nationalgalerie, Bestand Karl Krattner, sign A 2771. 11  Zu Nürnberg siehe Otto Kletzl / Fritz Traugott Schulz: Katalog der Sudetendeutschen Kunstausstellung. Nürnberg 1931. 12  Dresdner Anzeiger. Jg. 208. Nr. 90 vom 1. April 1938, S. 2. 13  Walter Preußler: Sudetendeutsche Kunst. Dresden in Erwartung einer bedeutsamen Ausstellung. In: Der Freiheitskampf. Nr. 106. Ostern 1938 (17.  April 1938), S. 9. 14  Ebd. 15  Henleins Stellvertreter sprach in Dresden. Abg. Frank eröffnete die Sudetendeutsche Kunstausstellung im Rathaus. In: Der Freiheitskampf. Nr. 116 vom 28. April 1938, S. 1 f. Walter Preußler: Zeugnis ungebrochener Schöpferkraft. Feierliche Eröffnung der Sudetendeutschen Kunstausstellung. In: Dresdner Nachrichten. Nr. 116 vom 28.  April 1938, S. 5. Zu Frank vgl. jetzt ausführlich René Küpper: Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen National­ sozialisten. München 2010. 16  Sudetendeutsche Kunstausstellung (wie Anm. 3).

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kann man den Bildhauer Johannes Watzal (1887–1945) bezeichnen, den Leiter des 1894 in Prag gegründeten Bundes der Deutschen in Böhmen. Weiterhin hatte sich der Metznerbund an der Vorbereitung beteiligt.17 Nach den Angaben im Nachlass des Malers Richard Fleissner (1903–1989) wurde die Schau juriert.18 Diese Jury bestand „nicht aus ausübenden Künstlern, sondern nur aus einer Reihe von im Ausstellungswesen und in Kunstdingen bewanderten Fachleuten“.19 Diese Tatsache wurde indes „angegriffen, denn sie [= die Ausstellung] umfasste nur einen Teil der schaffenden Kunstkräfte, gab also nicht den angekündigten Querschnitt durch das sudetendeutsche Kunstschaffen, sondern gab nur das Wirken einer kleinen ausgewählten Gruppe wieder“.20 Es handelte sich um eine Verkaufsausstellung, die „im August 1938 abgebrochen wurde, da durch die Verkäufe und zu wenig Nachschub kein repräsentatives Bild mehr präsentiert werden konnte“.21 Warum die Nachlieferung neuer Werke nicht funktionierte, könnte zwei miteinander zusammenhängende Gründe haben: Erstens wurde die Schau politisch zu stark instrumentalisiert, zweitens gab es gerade deswegen kein Interesse mehr, sich an ihr zu beteiligen. Der Historiker Jörg Osterloh verweist in seiner Dissertation auf die Ausstellung in Karlsbad: „Ungefähr zeitgleich mit den Ausstellungen ‚deutscher‘ und ‚entarteter‘ Kunst in München veranstaltete der Bund der Deutschen im Juli 1937 in Karlsbad eine ‚Sudetendeutsche Kunstausstellung‘, die nur von ‚rassereinen‘ Künstlern beschickt werden durfte.“22 Unter Bezug auf eine Exposition mit Bildern von Ernst Neuschul (1895–1968) zitiert er im Anschluss die kritische Schrift von Josef Fischer, welcher schreibt: „Eine Ausstellung der ‚Entarteten‘ zu eröffnen, dazu fehlte es leider an politischer Macht, doch leistete die ‚Zeit‘ ihr Möglichstes, um durch schlechte Reproduktionen und pöbelhafte Kommentare ihre Leser zum Hasse gegen alles Moderne zu erziehen […].“23 17  Sudetendeutsche Kunstausstellung in Reichenberg. In: Reichenberger Zeitung. Jg. 78. Nr. 215 vom 12.  September 1937, S. 6. 18  Deutsches Kunstarchiv. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Nachlass Richard Fleissner. 19  Xaver Schaffer: Die Kunstausstellung des Jeschken-Isergaues in Gablonz a. N. In: Kunst und Handwerk (wie Anm. 5), S. 156–163, hier: S. 157. 20  Ebd. 21  Ute Haug: Der Kölnische Kunstverein im Nationalsozialismus. Struktur und Entwicklung einer Kunstinstitution in der kulturpolitischen Landschaft des dritten Reiches. Aachen. Techn. Hochsch. Diss. 1998, [Hauptband] S. 205. 22  Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945. München 2006, S. 96. 23  Josef Fischer: Ihr Kampf. Die wahren Ziele der Sudetendeutschen Partei. Karlsbad 1937, S. 21. Zit. nach Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung (wie Anm. 22), S. 96.



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Als die „Entarteten“ könnte man im Zeitkontext die Mitglieder der Prager Sezession bezeichnen.24 Diese Kunstvereinigung stellte erstmals 1929 aus und sammelte sich um den Maler Maxim Kopf (1892–1958) sowie die ehemaligen Vereinigungen Die Pilger und Junge Kunst. Mit Erfolg wurden regelmäßig Expositionen in Prag durchgeführt.25 Es handelte sich um eine Vereinigung der progressivsten und, nach dem heutigen Stand der Forschung, qualitativ besten Vertreter der deutsch-böhmischen bildenden Künstler. Die Prager Sezession wählte ihre Mitglieder nach einer strengen Jurybegutachtung. Die Bezeichnung „entartet“ hing jedoch nicht nur mit der gezeigten Qualität und Modernität zusammen, sondern auch mit der Tatsache, dass mehrere Mitglieder der Gruppe jüdischen Glaubens waren. Von diesem Verein ging auch die Idee aus, 1931 in Nürnberg auszustellen, und diese Ausstellung diente der Presse sieben Jahre später als ein Vergleichsbeispiel. Der Vergleich der Teilnehmer und der ausgestellten Werke beider Ausstellungen (Nürnberg 1931 und Dresden 1938) zeugt von einer Abneigung gegenüber der modernen Kunst und von der Beschränkung auf qualitativ durchschnittliche Produktionen. Die Nürnberger Schau wird als Ausdruck großstädtischer Kulturpolitik gewertet, die Ausstellung der Jahre 1937 / 38 hingegen als ein Anfang „volksbewusster“ Kulturpolitik.26 Hiermit wird ein wesentlicher Unterschied der beiden Expositionen deutlich. In Nürnberg hatte man versucht, einen repräsentativen umfassenden Überblick über das Schaffen deutsch-böhmischer Künstler zu zeigen. An der Sudetendeutschen Kunstausstellung von Karlsbad bis Breslau nahmen hingegen hauptsächlich die „durchschnittlichen“, weniger progressiven und damit dem propagandistischen Geschmack eher entsprechenden Künstler teil. In Dresden wurden nach Aussage des Katalogs 259 Werke von 103 Künstlern gezeigt.27 Nur wenige davon sind erhalten geblieben.28 Zu ihnen gehört 24  Sudetendeutsche Kunstausstellung. Besprechung und Übersicht. In: Die Zeit vom 4. August 1937, S. 5. 25  Zur Prager Sezession und Kopf vgl. Ivo Habán: Prager Secession. In: Tomáš Valeš (Hrsg.): Work in Progress. Brno 2011, S. 81–88; ders.: Maxim Kopf. 1892– 1958 (kat. výst.) [Ausstellungskatalog]. Cheb / Liberec 2002. 26  Sudetendeutsche Kunstausstellung (wie Anm. 24). 27  Eduard Ameseder, Erhard Alstler, Liesel Bareuther, Harry Bartl, Franz Barwig, Franz Barwig d. J., Heinrich Baudisch, Rudolf Bendel, Otto Bertl, Leo Blahak, Rudolf Böttger, Anton Bruder, Franz Dietl, Hermann Dietze, Roman Dressler, Josef Eberhard Karger, Viktor Eichler, Ida Erdös-Meisinger, Gottfried Erben, Richard Felgenhauer, Richard Fleissner, Hugo Flögel, Waldemar Fritsch, Paul Gebauer, H. Gemeinhard, Max Geyer, Elisabeth Gayer-Plavec, Josef Glöckner, Lilly Gödl-Brandhuber, Erwin Görlach, Franz Gruss, Will Gutwillinger, Fred Hartig, Emanuel und Josef Hegenbarth, Franz Hartl, Franz Heide-Plaudler, Rudolf Heinzmann, Otmar Hilitzer, Hugo Hodiener, Oswald Hofmann, Karl Kolaczek, Thaddäus

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der Schreihals von Johannes Watzal. Über Watzals Leben ist kaum etwas bekannt, was symptomatisch für eine ganze Reihe deutsch-böhmischer bildender Künstler ist. Er wurde 1887 in Eger (Cheb) geboren. Nach der Beendigung der keramischen Staatsfachschule in Teplitz-Schönau (TepliceŠanov) arbeitete er unter anderem für die Firma Goldscheider, die ihn nach Wien schickte, um auf der Kunstgewerbeschule zu studieren. Bis zum Ersten Weltkrieg arbeitete Watzal bei Franz Metzner in Berlin und bei Georg Wrba (1872–1939) in Dresden. 1919 wurde er zum Professor und 1944 zum Direktor an der Teplitzer Staatsfachschule ernannt. Die Plastik Schreihals wurde 1938 für das Museum in Brüx (Most) angekauft. Eine weitere Plastik Watzals – Das Jungmädel – befindet sich in den Sammlungen der Stadt Dresden und wurde von der Schau 1938 erworben. 28

Von den 1938 in Dresden ausgestellten Plastiken befindet sich ein Werk Hermann Zettlitzers (1901–ca. 1956) heute in der Sammlung der Regionalgalerie Liberec. Der Gefesselte, welchen man als den „gefesselten Sudetendeutschen“ interpretierte, wurde 1938 von der Stadt Köln für Adolf Hitler angekauft. Mit dem Thema des Gefesselten hatte sich Zettlitzer jedoch bereits im Lauf der 1920er Jahre auseinandergesetzt.29 Es existieren mehrere Fassungen der Plastik, davon zwei in Marmor und eine in Bronze. Im ersten Überblickstext zu Zettlitzers Schaffen wird jedoch nichts über einen „sudetendeutschen Kampf“ berichtet. Es handelt sich eher um die Arbeit mit der Materialmasse und um das Suchen nach einer idealen Ausdrucksform: „Gehalt und Form sind in einer höheren Einheit getilgt.“30 Beeinflusst durch den böhmischen Barock, ging Zettlitzer in seinem Schaffen vor allem vom Werk seines Lehrers an der Wiener Akademie der bildenden Künste Josef Müllner (1879–1968) und des Pragers Kolig, Karl Krattner, Heinrich Kreuse, Hans Kühnel, Rudolf Krauss, Oskar Kreibich, Johann Wilhelm Krick, Willy Lang, Hans Liska, Hans Lorenz, Maximilian Ludwig, Theodor Mallener, Rudolf Mather, Franz Metzner, Otto Mlčoch-Kraigher, Raimund Mosler, Karl May, J. A. Mayerl, Erwin Müller, Otto Neudert, Hans Nitsche, Ferdinand Opitz, Rudolf Otto, Josef Palme, Willy Paupie, Harald Pickert, Viktor Planckh, Erich Pörner, Rudolf Prade, Karl Prokop, Karl Ramisch, F. Reichel, Artur Ressel, Friedrich Ritschel, Alfred Rössler, Ernst Seiboth, Lothar Sperl, Franz Schaden, Wilhelm Srb-Schlossbauer, Will Schestak, Franz Schiffner, Hermann Seidel, Ernst Schilder, Walter Schinzel, Rudolf Schlindenbuch, H. Schmitt, Toni Schönecker, Martha Schöpflin, Julius Schustalla-Haan, Ferdinand Staeger, Ernst Steidel, Fritz Stonner, Carl Thiemann, Hans Trötscher, Oswald Voh, Karl Wagner, Johannes Watzal, Adolf Zdrasila, Hermann Zettlitzer, Max Zeschitz, Frank Zelle. 28  Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Werke, die noch heute in öffentlichen Sammlungen zugänglich sind. 29  Vgl. Heinrich Micko: Hermann Zettlitzer. Ein Umriss. Wien / Leipzig 1929, unpag. 30  Vgl. ebd.



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Jan Štursa (1880–1925) aus. In der Zeit seines Berliner Aufenthaltes bezog er das ehemalige Atelier Franz Metzners, und auch dessen Werk beeinflusste ihn. Wenn bei den Werken Zettlitzers ein propagandistischer Hintergrund noch ausgeschlossen werden konnte, ist dies bei dem ausgestellten Entwurf für ein Fresko in der ehemaligen Klosterkirche der heiligen Klarisse in Eger von Franz Gruss (1891–1979) nicht mehr möglich. Ursprünglich handelte es sich bei dem geplanten Projekt um eine groß konzipierte Gedenkhalle für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen aus dem Egerland. Gruss arbeitete seit 1926 an diesem Auftrag, aus finanziellen Gründen führte er ihn zuerst als Zeichnung vor Ort aus. Im Herbst 1936 stellte er eine neue Version vor, welche unter dem Druck der Öffentlichkeit um einiges großzügiger ausfiel. Es handelte sich um eine Apotheose, in der tote Soldaten wie schwebende Figuren in den Himmel aufstiegen. Obwohl Gruss dabei seine eigenen Weltkriegserfahrungen verarbeitete, wurde sein Werk am Vorabend des Zweiten Weltkriegs für propagandistische Zwecke missbraucht – den Großteil der Ausführungskosten hatte Konrad Henlein übernommen.31 Stilistisch überwogen bei den in Dresden gezeigten Werken Zeichnung und Grafik, motivisch Landschaftsdarstellungen. Xaver Schaffer sah den Grund dafür in der wirtschaftlichen Lage, da die schlechte öffentliche Auftragslage zu einer Abneigung gegenüber aufwändigen Figurenbildern und Porträts führte.32 Die wirtschaftliche Lage mag ein Grund gewesen sein – ein anderer könnte jedoch auch die Abneigung gegenüber politisch nutz­ baren Themen gewesen sein, welche die Bildung einer NS-affinen Kunst begünstigte.33 Die erhaltenen Reproduktionen mögen jedoch von einer anderen Zusammensetzung der Schau zeugen, denn es wurden nur wenige der „harmlosen“ Landschaftsdarstellungen abgebildet. Eher handelte es sich –  zu Gunsten der Propaganda – um Werke, die dem Mutterkult und dem Kult des menschlichen Körpers huldigten. Die Sudetendeutsche Kunstausstellung 1938 war nicht der einzige Versuch der deutsch-böhmischen Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 31  Zbyněk Černý: Chebská pamětní síň aneb kamenná píseň o Nibelunzích [Die Gedenkhalle in Cheb oder ein steinernes Lied von Nibelungen]. In: Sborník Muzea Karlovarského kraje [Jahrbuch des Museums des Karlsbader Kreises] XVI (2008), S. 191–219. 32  Alfred Wenzel: Gemälde auf der Sudetendeutschen Kunstausstellung 1937. In: Kunst und Handwerk (wie Anm. 5), S. 3–10, hier: S. 7. 33  Ursula Peters: „Gesundes Volksempfinden“. Kunstpropaganda im Dritten Reich. In: dies. u. a.: Moderne Zeiten. Die Sammlung zum 20. Jahrhundert. Nürnberg 2000, S. 177–188.

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ihre Werke in Dresden vorzustellen. Bereits 1912 waren über 25 sudetendeutsche Künstler in einer Dresdner Kunstausstellung vertreten.34 Dabei handelte es sich um die Große Kunstausstellung, die im Städtischen Ausstellungspalast gezeigt wurde. Bei dieser gab es jedoch keine selbständige Abteilung der Deutsch-Böhmen; stattdessen musste man sich „ihre Werke etwas mühsam zusammensuchen, denn einzelne hervorragende Künstler unter den DeutschBöhmen haben ihre Heimat verlassen und anderwärts eine angesehen Stellung errungen: so Franz Metzner, Emannuel Hegenbarth, Emil Orlik, Richard Müller“.35 Auch die Mitglieder des Deutsch-Böhmischen Künstlerbundes und des Vereines deutscher bildender Künstler Böhmens hatten bei dieser Gelegenheit in der sächsischen Hauptstadt ausgestellt.36 Es handelte sich um eine qualitativ ausgewogene Auswahl, die einen guten Überblick über ihr Schaffen gab. Bei einer Bewertung der Sudetendeutschen Kunstausstellung kann man von mehreren Blickwinkeln ausgehen. In erster Linie steht die Ausstellung für einen Akt kultureller Propaganda. Dies veranschaulicht nicht zuletzt die Eröffnungsrede Konrad Henleins in Berlin sowie eine ganze Reihe in der Ausstellung gezeigter propagandistischer Werke, etwa Plastiken der politischen Führungskräfte der Sudetendeutschen oder monumentale Figurenmalerei unter Herausstellung der für das deutsche Volk vorgeblich typischen Charakteristiken. Aus dieser Sicht könnte man pauschalisieren und behaupten, dass alle beteiligten Vertreter Anhänger des nationalsozialistischen Regimes waren. Aus heutiger Perspektive jedoch wirkt die gewaltsame Einordnung von bereits verstorbenen Künstlern wie Franz Metzner oder Emanuel Hegenbarth (1868–1923) in das propagandistische Gesamtkonzept unlogisch. Eine solche Ansicht hatte allerdings bis 1989 fast durchgängig Bestand. Noch heute ist es schwierig, entsprechende Klischees und Vorurteile zu korrigieren. Eines aber steht fest – die Propaganda hat den Blick auf die Realitäten der deutsch-böhmischen Bildenden Kunst verstellt. Für die deutschsprachigen Künstler aus Böhmen, Mähren und Schlesien war es nach der 34  Preußler:

Sudetendeutsche Kunst (wie Anm. 13). Schumann: Deutsch-böhmische Künstler auf der großen Kunstausstellung in Dresden 1912. In: Deutsche Arbeit XII (1912), H. 1, Oktober 1912, S. 11–16, hier: S. 12. 36  Es handelte sich dabei um Karl Wilfert, Ferdinand Opitz, Otto Lang, Karl Krattner, August Brömse, Wenzel Franz Jäger, Georg Kars, Georg Jilovsky, Lilli Gödl-Brandhuber, Willy Nowak, Georg Koppe, Max Kurzweil, Rudolf Kalvach, Michael Powolny, Adalbert Martinka, Ernst Paul, Fritz Gärtner, Alfred Borsdorfer, Walter Klemm, Fritz Lederer, Walter Dittrich, Ferdinand Michl, Max Pollak, Fritz Pontini, Rudolf Bitzan. Schumann: Deutsch-böhmische Künstler (wie Anm. 35) zählte auch Gustav Klimt zu dieser Reihe deutsch-böhmischer Künstler. 35  Paul



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Entstehung der Tschechoslowakei praktisch unmöglich, sich außerhalb von deren Grenzen durchzusetzen – im Deutschen Reich bestand kaum Interesse an ihnen. Als Mitglieder eines anderen Staates gerieten sie erst 1938 in das Blickfeld der „reichsdeutschen“ Kunstkritik. Mehrere von ihnen – vor allem die progressiveren – hatten in Dresden, München oder Berlin studiert, waren in der Schau von 1937 / 38 aber kaum oder nur beschränkt vertreten. Nur den Wenigsten ist es gelungen, sich in Deutschland durchzusetzen.

Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum Von Rudolf Boch (Chemnitz) „Wismut“ – hinter diesem harmlos klingenden Namen verbarg sich der weltweit größte Bergbaubetrieb zur Förderung von Uranerzen und Produktion von chemischem Urankonzentrat.1 Auch wenn die USA, Kanada und die Sowjetunion zwischen 1945 und 1990 jeweils noch etwas mehr Uran förderten als die DDR, gab es doch selbst in diesen großen Ländern keinen einzelnen Uranbergbaubetrieb, der die Dimensionen der „Wismut“ hinsichtlich der Menge des geförderten Urans und der Mitarbeiterzahl erreichte. Gegründet wurde die „Zweigstelle der Staatlichen sowjetischen Aktiengesellschaft der Buntmetallindustrie, Wismut“ im Mai 1947 auf Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates der UdSSR. Ihren Hauptsitz hatte die Gesellschaft in Moskau. Die „Zweigstelle“, das heißt die Generaldirektion, residierte anfangs in Aue und ab 1949 in Chemnitz (1953–1990 Karl-MarxStadt). Die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft fand ausschließlich in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Deutschland bzw. der späteren DDR statt. Um den wirklichen Geschäftszweck nicht offenzulegen und unter Verweis auf den Abbau von Wismuterzen in den Minen des Altbergbaus von Johanngeorgenstadt und Schneeberg, kam es zu der ungewöhnlichen Namensgebung. Ähnliches geschah in den anderen Ostblockländern und der Tschechoslowakischen Republik, auch dort durfte das Wort „Uran“ nicht in den Firmenbezeichnungen, Frachtpapieren usw. auftauchen. Freilich ließ sich nicht geheim halten, was der eigentliche Bestimmungszweck der Wismut AG war. Die Bergleute wussten nur zu gut, was für ein Erz sie tagtäglich förderten, und auch die Einwohner in den betroffenen Regionen waren im Bilde. Die Abschottung des Unternehmens von der Außenwelt funktionierte 1  Vgl. zu den folgenden Überlegungen auch Rainer Karlsch / Rudolf Boch: Die Geschichte des Uranbergbaus der Wismut. Forschungsstand und neue Erkenntnisse. In: dies. (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Bd. 1: Studien. Berlin 2011, S. 9–32, bes. S. 9–15.

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dennoch so gut, dass nur spärliche Informationen über das Innenleben des Betriebes nach außen drangen, was naturgemäß umso mehr Raum für Gerüchte und Mutmaßungen gab. Daran änderte sich auch nichts, als die DDR ab 1954 zur Hälfte Miteigentümer der nunmehr in eine Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) umgewandelten „Wismut“ wurde. Die SDAG war ebenso ein „Staat im Staate“ wie ihre Vorläuferin. Insbesondere die Verleugnung bzw. Verharmlosung der vom Uranbergbau ausgehenden Gefahren für die Beschäftigten, die Anwohner der umliegenden Gemeinden und die Umwelt wurde im negativen Sinne zu ihrem „Markenzeichen“. Erst nach der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 konnte der Schleier der Geheimhaltung gelüftet werden. Es kam zu emotionalen und heftigen Auseinandersetzungen um die Vergangenheit des Betriebes, die persönlichen Verantwortlichkeiten für das ökologische und wirtschaftliche Desaster und über den künftigen Umgang mit den Altlasten. Noch im Sommer 1990 beschloss die erste und letzte frei gewählte Volkskammer der DDR die Aufkündigung des Wismut-Abkommens mit der Sowjetunion. Der in zunehmenden Turbulenzen befindlichen sowjetischen Regierung war dies recht, da das deutsch-sowjetische Gemeinschaftsunternehmen seinen strategischen Wert inzwischen verloren und sich zu einem höchst kostspieligen Zuschussbetrieb entwickelt hatte. In gewisser Weise widerspiegelte damit auch die Entwicklung der SDAG Wismut das Dilemma der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, deren Wirtschaften nicht zuletzt von der jahrzehntelangen Hochrüstung mehr und mehr ausgezehrt waren und die ihren Bevölkerungen die postulierte Alternative zum westlichen Gesellschaftsmodell nicht zu bieten vermochten. Am 16. Mai 1991 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland, da es die DDR schon nicht mehr gab, und die Sowjetunion ein Abkommen über die Beendigung der Tätigkeit der SDAG Wismut. Auch die Sowjetunion sollte nur noch wenige Monate existieren. Nur gut ein Jahr später schlossen die USA mehrere Verträge über Uranimporte aus Russland und fünf GUSStaaten, das heißt ehemaligen Sowjetrepubliken, die inzwischen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Das einstmals so begehrte strategische Erz war zum gewöhnlichen Handelsgut geworden. Der Kalte Krieg gehörte der Vergangenheit an. Erst jetzt konnten Historiker beginnen, sich auf breiter Quellengrundlage mit der Geschichte der Wismut auseinanderzusetzen. Bei Null mussten sie nicht anfangen. Schon Ende der 1940er Jahre, als der Kalte Krieg einen ersten gefährlichen Höhepunkt erreicht hatte und die Furcht vor einem Nuklearkrieg grassierte, stand der Uranbergbau im Erzgebirge im Fokus zahlreicher Publikationen.2 Angesichts 2  Vgl. Werner Knop: Prowling Russia’s forbidden Zone. A secret journey into Sowjet Germany. New York, NY 1949, S. 133–141; Parteivorstand der SPD (Hrsg.):



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der Tatsache, dass die Leitung des sowjetischen Atomprojekts ganz in den Händen des Innenministeriums (MWD) lag, war die Vermutung naheliegend, dass es beim Aufbau der Wismut AG zur Übertragung des sowjetischen Systems von Zwangsarbeiterlagern, bekannt geworden unter dem Kürzel Gulag, gekommen sei. In fast allen Publikationen, die darüber im Westen erschienen, wurde das Zwangsregime im Uranbergbau betont. Es war von „Sklaven­ arbeit“ die Rede und Unfällen mit Hunderten Toten. Dabei ging es weniger um den Wahrheitsgehalt einzelner Flüchtlingsberichte als um die Brandmarkung des Besatzungsregimes und des kommunistischen Systems. Im Gegensatz zu vielen Presseartikeln ist die Studie eines geflüchteten sowjetischen Offiziers noch heute lesenswert. In seinem unter dem Namen Nikolai Grishin in den USA publizierten Insiderbericht wurde der herausragende Stellenwert der Wismut AG für das sowjetische Atomprojekt hervorgehoben und auf die beginnende Stabilisierung der Verhältnisse im Uranbergbau des Erzgebirges verwiesen.3 Seit Mitte der 1950er Jahre – inzwischen verfügten die USA und die Sowjetunion über die Wasserstoffbombe – ließ im Westen das Interesse an der Wismut deutlich nach. Einen sowjetischen Uranengpass gab es nicht mehr, und der Nachrichtenfluss aus den Bergbaubetrieben begann nachzulassen. Die Forschung zur Wismut kam nahezu zum Stillstand. Dies erklärt auch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, warum die These von den „Uransklaven“ noch in neueren Arbeiten perpetuiert wurde.4 Eine kritische Auseinandersetzung mit den vom Uranbergbau verursachten Umweltschäden stieß in der späten DDR mit großem Mut der Umweltaktivist Michael Beleites Mitte der 1980er Jahre an. Seine Studie „Pechblende“, die 1988 mit Hilfe des Kirchlichen Forschungsheims Wittenberg im Selbstdruck gefertigt und in Umlauf gebracht wurde, brandmarkte die von der SED-Führung zu verantwortenden Umweltsünden in der „Uranprovinz“. Erst nach der Friedlichen Revolution konnten die Bücher von Beleites legal erscheinen.5 Uranbergbau in der Sowjetzone. Hannover o. J. [1950]; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Der Uranbergbau in der sowjetischen Besatzungszone. Bonn o. J. [1951]. 3  Vgl. Nikolai Grishin: The Saxony Uranium Mining Operation („Vismut“). In: Robert Slusser (Hrsg.): Soviet Economic Policy in Postwar Germany. A Collection of Papers by Former Officials. New York, NY 1953, S. 127–153. 4  Vgl. Joachim Breuer: Die sozialrechtliche Folgen der Wismut. Eine staatliche Verantwortung, in: Die Berufsgenossenschaft, Januar 1993, S. 13–30; Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945–1949, Berlin 1997, S. 239. 5  Michael Beleites: Pechblende. Der Uranbergbau der DDR und seine Folgen. Wittenberg 1988; ders.: Altlast Wismut. Ausnahmezustand, Umweltkatastrophe und das Sanierungsproblem im deutschen Uranbergbau. Frankfurt am Main 1992.

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Für die Geschichte des ostdeutschen Uranbergbaus begannen sich zunehmend auch Historiker zu interessieren. Im Mittelpunkt ihrer Forschungen standen vor allem zeit-, wirtschafts- und sozialhistorische Fragestellungen. Dazu erschien 1996 der von Rainer Karlsch und Harm Schröter herausgegebene Studienband „Strahlende Vergangenheit“.6 Aus welchen Gründen es zur Bildung der Wismut AG kam, ist inzwischen gut erforscht. Eine vergleichende Analyse der Entwicklung des Uranbergbaus in der SBZ / DDR und der ČSR legten Rainer Karlsch und Zbyněk Zeman im Jahr 2002 vor.7 Während auf der tschechischen Seite des Erzgebirges bis 1960 ein System von Zwangsarbeitslagern bestand, gab es diese in Sachsen nicht.8 In dieser Hinsicht stellte die Wismut AG eine Ausnahme unter den Uranbergbaubetrieben des Ostblocks dar.9 Auch in den USA lebte das Interesse an der Geschichte der SDAG Wismut in den 1990er Jahren auf. Nunmehr ging es in erster Linie um die Diskussion von Konzepten zur Sanierung der Altlasten. Dies war naheliegend, denn in den USA und in Kanada stand man vor vergleichbaren Problemen. Dort waren Teile des Uranbergbaus bereits in den 1980er Jahren stillgelegt worden und mussten aufwendig und größtenteils auf Staatskosten saniert werden. Neben den mit der Sanierung betrauten Fachleuten und Behörden befassten sich auch amerikanische Historiker und Publizisten mit dem Uranbergbau in Ostdeutschland.10 Dies geschah aus vergleichender Perspektive, da der Uranboom im Mittleren Westen der USA der 1950er 6  Rainer Karlsch / Harm Schröter (Hrsg.): „Strahlende Vergangenheit“. Studien zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut. St. Katharinen 1996; Rainer Karlsch: „Ein Staat im Staate“. Der Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49–50 / 1993, 3.12.1993, S. 14–23; ders.: Der Aufbau der Uranindustrien in der SBZ / DDR und CSR als Folge der sowjetischen Uranlücke. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), H. 1, S. 5–24; ders.: Der Uranwettlauf 1939 bis 1949. In: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 50 (1998), H. 2 / 3, S. 1–23. 7  Vgl. Rainer Karlsch / Zbyněk A. Zeman: Urangeheimnisse. Das Erzgebirge im Brennpunkt der Weltpolitik 1933–1960. 4., durchges. Aufl. Berlin 2010 (erstmals 2002). Eine englische Ausgabe dieses Buches erschien im Jahr 2008. 8  Vgl. Otfrid Pustejovsky: Stalins Bombe und die „Hölle von Joachimsthal“. Uranbergbau und Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945. Berlin / Münster 2009; siehe neuerdings auch den Roman von Josef Haslinger: Jáchymov. Frankfurt am Main 2011. 9  Vgl. Rainer Karlsch / Vladimir Zacharow: Ein GULag im Erzgebirge? Besatzer und Besiegte beim Aufbau der Wismut AG. In: Deutschland Archiv 32 (1999), H. 1, S. 15–34. 10  Vgl. Traci Heitschmidt: The Quest for Uranium. The Soviet Uranium Mining Industry in Eastern Germany 1945–1967. Univ. Diss. University of California. Santa Barbara, CA 2003; Tom Zoellner: Uranium. War, Energy, and the Rock that shaped the World. New York, NY 2009, bes. S. 130–179.



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Jahre eine Reihe von Parallelen zu den „wilden Jahren“ bei der Wismut AG aufwies.11 Eine neue Qualität im Niveau der historischen Forschungen zum Uranbergbau wurde mit den Studien zur Sozialgeschichte der Bergleute von Ralf Engeln und Juliane Schütterle erreicht.12 Beide heben in ihren Dissertationsschriften die soziale Sonderstellung der Uranbergleute hervor. Schließlich hat Rainer Karlsch den bis dahin erreichten Forschungsstand zusammengefasst und erstmals eine populäre Gesamtdarstellung der Geschichte der SDAG Wismut anlässlich der 2007 in Ronneburg und Gera auf früherem Abbaugebiet stattfindenden Bundesgartenschau vorgelegt.13 Neben der einseitigen Konzentration auf die frühen Jahre stellte die unzureichende Berücksichtigung russischer Quellen das größte Manko der bisherigen Forschungen dar. Auch erwies es sich jetzt als wünschenswert, die dominierende Innenperspektive aufzubrechen und die Geschichte des Uranbergbaus in der DDR aus vergleichender Sicht zu analysieren. Ein Ziel des im Jahr 2008 an der Technischen Universität Chemnitz begonnenen Forschungsprojektes war es daher, genau an diesen Punkten anzusetzen und in Kooperation mit russischen Historikern bislang unzugängliche bzw. noch nicht genutzte Quellenbestände in russischen Archiven zu erschließen und auszuwerten. Dabei stellte sich auch heraus, dass entgegen manch ungeprüften Behauptungen ein unbeschränkter Zugang zu den für das Thema relevanten Beständen im Archiv der Staatlichen Korporation Rosatom, des Staatlichen Militärarchivs (RGWA), des Staatlichen Archivs der sozialen und politischen Geschichte (RGASPI) und des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation (GARF), um nur die wichtigsten zu nennen, möglich war. Lediglich im Staatlichen Archiv für ökonomische Geschichte (RGAE) und im Dienstarchiv des Außenministeriums blieb die Nutzung leider eingeschränkt. Der im Herbst 2011 von Rainer Karlsch und mir veröffentliche Studienband widmet sich insbesondere den Themenfeldern, die zuvor noch nicht oder erst in Ansätzen untersucht werden konnten.14 Dies betrifft insbeson11  Vgl. Ralf Engeln: Uransklaven oder Sonnensucher? Die sowjetische Wismut AG in der SBZ / DDR 1946–1953. Essen 2001. 12  Vgl. Juliane Schütterle: Kumpel, Kader und Genossen. Arbeiten und Leben im Uranbergbau der DDR. Die Wismut AG. Paderborn u. a. 2010. 13  Vgl. Rainer Karlsch: Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Ge­ schichte. 3., durchges. Aufl. Berlin 2008. 14  Karlsch / Boch: Uranbergbau im Kalten Krieg (wie Anm. 1). Ergänzt werden diese Studien durch einen Dokumentenband mit zentralen (übersetzten) russischen und deutschen Archivfunden. Vgl. dies. (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Bd. 2: Dokumente. Berlin 2011; siehe zum Ganzen auch dies.: Die Geschichte des Uranbergbaus der Wismut (wie Anm. 1), S. 15–32.

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dere die Einbindung der Wismut AG in den sowjetischen Atomkomplex, den Stellenwert des Unternehmens im Kalten Krieg, das im Uranbergbau herrschende rigide Sicherheitsregime und seine Folgen, den Herrschaftsanspruch der SED im Betrieb, den Umgang mit den Strahlenrisiken, die Ausgestaltung des betrieblichen Sozialleistungssystems und die Versuche zur Identitätsstiftung durch Kultur und Sport. Weder die USA noch die Sowjetunion verfügten 1945 über einen leistungsfähigen Uranerzbergbau. Zwar gab es in beiden Ländern bereits erkundete Vorkommen, doch waren diese von minderer Qualität und hätten allein nicht ausgereicht, um die im Auf- bzw. Ausbau befindlichen Atomkomplexe zu versorgen. Beide Supermächte waren in den ersten Jahren des nuklearen Wettlaufs zwingend auf Uranimporte angewiesen. Zugleich forcierten sie den Ausbau der einheimischen Uranförderung. Die USA hatten sich gemeinsam mit Großbritannien noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs den Zugriff auf den allergrößten Teil der damals weltweit bekannten Uranreserven gesichert und deckten bis Mitte der 1950er Jahre mehr als 85 Prozent ihres Uranbedarfs durch Importe aus Belgisch-Kongo, Südafrika und Kanada. Die Sowjetunion reagierte auf den Uranengpass mit einer Suche auf „breiter Front“ nicht nur im eigenen Land, sondern in ihrem gesamten Machtbereich. Vor Kriegsende besaßen weder die Geologen von der Bergakademie Freiberg und erst recht nicht sowjetische Regierungsstellen gesicherte Kenntnisse über die Uranvorkommen in Westsachsen. Die einzige bedeutende Uranlagerstätte in Mitteleuropa war die von Jáchymov (Joachimsthal) in Böhmen. Die Stadt hatte vor allem dank der Radiumproduktion und des Kurbades weltweite Bekanntheit erlangt. Insofern verwundert es nicht, dass sich die sowjetischen Geologen bei ihrer Uransuche in Mitteleuropa zuerst auf Jáchymov konzentrierten. Aufgrund von Gutachten Freiberger Geologen, die im Herbst 1945 angefertigt wurden, und eigener Recherchen vor Ort wurde ihnen alsbald klar, dass es sich beiderseits der deutsch-tschechischen Grenze um ähnliche geologische Formationen handelte.15 Wir wissen heute, nach Abschluss des Forschungsprojekts, sehr viel genauer über die Anfangsjahre des ostdeutschen Uranbergbaus, dessen Einbindung in die Strukturen des sowjetischen Atomprojektes, die Herrschaftsmechanismen, die Probleme des Strahlenschutzes und auch über die Spannungen zwischen der DDR und der Sowjetunion – vor allem bezüglich der Kosten der Uranproduktion – Bescheid als noch vor drei Jahren. Auch können wir einige zählebige Legenden demontieren, wie etwa die Behaup15  Zur Frühgeschichte des Uranbergbaus in Jáchymov seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. jetzt Irena Seidlerová / Jan Seidler: Jáchymover Uranerz und Radioaktivitätsforschung um die Wende des 19. / 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Rudolf Holze. Übers. von Manuela Jung. Chemnitz 2010.



Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex

139

tungen, die Einteilung der Besatzungszonen 1944 / 45 sei auf Grund bereits vorhandender sowjetischer Kenntnisse über die Uranvorkommen im Erzgebirge erfolgt oder die Wismut-Belegschaft habe sich hauptsächlich aus Umsiedlern oder Zugereisten rekrutiert. Eine Bilanz der wichtigsten Untersuchungsfelder kommt zu folgenden Ergebnissen: 1.  Die russischen Archivmaterialien lassen den Schluss zu, dass das Uran aus dem Erzgebirge entscheidend dazu beitrug, dass die erste sowjetische Atombombe bereits am 29. August 1949 gezündet werden konnte. Auch das folgende ehrgeizige Rüstungsprojekt der Sowjetunion, bei den Nuklearwaffen möglichst rasch mit den USA gleich zu ziehen, hatte bis Mitte der 1950er Jahre nur durch das Uran aus dem Erzgebirge eine Chance auf Realisierung. Bereits 1952 produzierte der Ostblock mehr Uran als der Rest der Welt. Maßgeblich dafür verantwortlich war der Ausbau der Uranförderung in der DDR (Tab. 1 bis 3)16. 1952 überholte die Wismut AG die Uranerzförderung von Belgisch-Kongo und rückte an die erste Stelle aller Uranproduzenten in der Welt. Diese Spitzenposition behauptete das Unternehmen bis 1957. Da die Uranförderung im gesamten Ostblock ausgeweitet wurde, begann der relative Anteil der Wismut am Uranaufkommen des Ostblocks langsam aber kontinuierlich zu sinken, von 59 Prozent 1950 auf 36 Prozent 1960, 34 Prozent 1970 und 21 Prozent 1980. Die Wismut ermöglichte mithin in den frühen Jahren des Kalten Kriegs den Aufstieg der UdSSR zur nuklearen Supermacht. 2.  Deutsche und russische Dokumente belegen, dass die sowjetischen Verantwortlichen in der Generaldirektion der Wismut AG und der SMAD von Anfang an um die spezifische gesundheitliche Gefährdung durch StrahTabelle 1 Stellung der Wismut im System der ausländischen Uranförderungsbetriebe der PGU, 2. Quartal 1948 Betrieb

Uranförderung 1948 in t

Plan 1949 in t

Personal

Wismut AG, SBZ

320

750

64.000

Jáchymov, Tschechoslowakei

100

150

  7.200

Thrakien, Bulgarien

 18

  25

 1.760

Kusnezki Bergwerk, Polen

 15

 30

  2.213

16  Tabellen aus Wladimir W. Sacharow: Uran für das strategische Gleichgewicht. Die SAG / SDAG Wismut im sowjetischen Atomkomplex. In: Boch / Karlsch (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 37–98, hier S. 56, 65, 76.

140

Rudolf Boch

Tabelle 2 Die Uranlieferungen in die UdSSR aus Osteuropa während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und die Lieferungen der SAG / SDAG Wismut Uranproduktion

1946

1947

1948

1949

1950

321,2

767,8

1.224,1

a) Metall in Warenerzen (in t) SBZ / DDR

15,7

Tschechoslowakei

18,0

49,1

103,2

147,3

  281,4

Bulgarien

26,6

 7,6

  13,2

  20,1

   54,1



  2,3

   9,3

 43,3

   63,6

  5,0

  10,2

   16,8

Polen

150

b) Metall in chemischem Konzentrat (in t) Bulgarien





Tabelle 3 Produktionsangaben

SDAG Wismut

ČSSR

Ungarische VR

VR Bulgarien

Gesamteinschätzung der Uranvorräte in t (Stand 1.1.1968)

192.000

175.000

25.000

10.500

Umfang der Lieferungen in die UdSSR vom Anfang der Arbeiten bis 1996 in t

 84.666  75.353

  37.957

  3.922

 4.071

Lieferungen in die UdSSR im Jahre 1967 in t

7.100

   2.810

   570

   310

Ausgaben der UdSSR für Uraneinkauf vom Anfang der Arbeiten in Mio. Rubel

1.768

1.248,3

119,5

217,4

Ausgaben der UdSSR für geologische Erkundung in Mio. Rubel

109,4

 187,0

  7,5

  15,2

Ausgaben der UdSSR für Investbau in Mio. Rubel

289,2









Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex141

lung im Uranbergbau wussten. Zur Wiederinkraftsetzung der Zwickauer „Bergpolizeiverordnung für Radiumbergwerke“ von 1944, in der weltweit erstmals ein Grenzwert für die Radonbelastungen der Grubenluft festgesetzt war, kam es dennoch nicht. Es ging den Verantwortlichen hauptsächlich um die rasche Ausdehnung der Produktion. Die Wismut-Direktion blieb bei ihrer Linie: Über die Strahlengefahr wurde nicht gesprochen, stattdessen sollten die gesundheitlichen Risiken für die sowjetischen und deutschen Mitarbeiter durch Gehaltszuschläge kompensiert werden. Ab Mitte der 1950er Jahre erfolgten erste Messungen und ernsthafte Bemühungen zur Verbesserung des Strahlenschutzes. Aber erhebliche Probleme mit dem Strahlenschutz blieben bestehen. Erst ab Mitte der 1970er Jahre kam es nur noch vereinzelt zu Grenzwertüberschreitungen. 3.  Der Schutz der Umwelt wurde ebenfalls erst ab Ende der 1950er Jahre ernst genommen. Der erste Umweltbericht der SDAG Wismut von 1959 dokumentiert z. T. großflächige radioaktive Verschmutzung. Die Situation besserte sich in den 1960er / 1970er Jahren. In den 1980er Jahren traten jedoch neue Probleme durch den Abbau arsenhaltiger Uranerze und ein auch unter Tage praktiziertes Laugungsverfahren bei der Uranerzgewinnung auf. Ein kontinuierliches Problem stellten die nicht abgedeckten Abraumhalden und Schlammteiche dar. 4.  Der Vergleich mit der Bundesrepublik erwies sich trotz des dort weitaus geringeren Umfangs des Uranbergbaus als hilfreich. Auch dort gab es bis in die 1970er Jahre hinein gravierende Defizite in der StrahlenschutzPraxis, vor allem wegen mangelnder staatlicher Überwachung der Bergbaubetriebe. Ein besserer Strahlenschutz wäre in beiden deutschen Staaten möglich gewesen. Er hätte freilich Geld gekostet, wäre technisch aber zumeist relativ einfach umzusetzen gewesen. 5.  Auch für den Uranbergbau großer westlicher Uranproduzenten (USA, Kanada, Südafrika) waren der leichtfertige Umgang mit menschlicher Gesundheit sowie immense ökologische Schadensverursachung typisch. Erst in den späten 1960er Jahre besserten sich die Verhältnisse geringfügig. Der westliche Uranbergbau nutzte koloniale Abhängigkeitsverhältnisse (Kongo in den 1940er / 1950er Jahren) und trug bisweilen Züge der „inneren Kolonisation“ (in den USA auf Navajo-Gebiet mit indigenen Arbeitskräften). Im Unterschied zum Ostblock konnte in den USA freilich in den 1970er Jahren eine kritische Öffentlichkeit entstehen, die den Staat zum Handeln zwang (erste Sanierungsmaßnahmen ökologischer Schäden, Entschädigungszahlungen an ehemalige Bergleute). 6.  Erstmals konnte eine Soziographie der Wismut-Belegschaft für zumindest einen Standort, nämlich Ronneburg in Thüringen, erstellt werden (prozentualer Anteil von Umsiedlern, Frauen und Ungelernten, an Qualifizie-

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Rudolf Boch

rungsmaßnahmen Teilnehmende, SED-Mitglieder usw.). Verschiedene Teilprojekte verdeutlichen zudem die Effekte der Sozial-, Kultur- und Sport­ politik der Wismut hinsichtlich Identitätsstiftung, Privilegierung und Aufstiegschancen. Sie tragen dazu bei, die „rätselhafte Stabilität der DDR“17 am Beispiel eines besonders leistungsfähigen und politisch gewichtigen Großbetriebes mit motivierter Stammbelegschaft zu erklären.

17  So der deutsche Titel der Studie von Andrew I. Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Sylvia Taschka. Berlin 2010. Originalausgabe: Conflict and stability in the German Democratic Republic. Cambridge u. a. 2007.

V. Die Lausitz zwischen Sachsen und Böhmen

Die Oberlausitz – Zur Entwicklung einer historischen Landschaft im Mittelalter Von George Indruszewski (Roskilde) I. Einführung Die Oberlausitz – heute Grenzregion zwischen Deutschland, Tschechien und Polen – kann als ein interessantes Fallbeispiel für die kulturelle und natürliche Formung eines Landes durch die Tätigkeit seiner multiethnischen Gesellschaft während eines Zeitraums von 1000 Jahren betrachtet werden.1 Die hier vorzunehmende Rekonstruktion des frühmittelalterlichen Landschaftsbildes dieser Region konzentriert sich auf die Herausarbeitung der vielfältigen Beziehungen zwischen Bautzen (Budyšin) als Zentrum und den peripheren Siedlungen während des Früh- und Hochmittelalters (Abb. 1). Sie untersucht damit die Siedlungen um Bautzen und diejenigen im oberen Spreetal, aber auch diejenigen der Gesamtregion einschließlich Nordböhmens und Niederschlesiens. Die zeitliche Variation der Siedlungsmuster bildet im Prozess der Landschaftsrekonstruktion insofern ein wichtiges Element, als dass hier verschiedene Quellengruppen – archäologischer, historischer und linguistischer Art – miteinander verglichen und mittels einer auf Geoinformationssystemen basierenden Untersuchungsplattform (GIS) aufbereitet werden.2

1  Vgl. zum Ganzen auch George Indruszewski: Die früh- und hochmittelalter­ liche Landschaft der Oberlausitz und der benachbarten Gebiete. In: Jasper von Richthofen (Hrsg.): Besunzane, Milzener, Sorben. Die slawische Oberlausitz zwischen Polen, Deutschen und Tschechen = Bieżuńczanie, Milczanie, Sorbowie. Siowianskie Luzyce Görne pomiedzy Polakami, Niemcami i Czechami. Görlitz / Zittau 2004, S. 72–86. 2  Vgl. zu den technischen Grundlagen George Indruszewski: GIS-analysis in the reconstruction of an early medieval landscape. The Upper Lusatian case study. In: Enter the past. The E-way into the Four Dimensions of Cultural Heritage. Computer Applications and Quantitive Methods in Archaeology. Oxford 2004, S. 267–271.

3  Sofern

nicht anders angegeben, wurden alle Abbildungen durch den Verfasser erstellt.

Abb. 1: Die Oberlausitz – digitale Erfassung des heutigen Reliefs.3

146 George Indruszewski



Die Oberlausitz147

1. Methodische Überlegungen Das Wort „Landschaft“ ist aus den Elementen mittelhochdeutsch / althochdeutsch „lant“ und mittelhochdeutsch „-schaft“ / althochdeutsch „-scaf(t)“ mit der ursprünglichen Bedeutung „Beschaffenheit von etwas“ zusammengesetzt. Es bedeutet, dass das Land aus Sicht des Menschen auf bestimmte Weise beschaffen ist bzw. geschaffen wurde.4 Dies kann auch als menschliche Bestrebung zur Neugestaltung des Landes verstanden werden. Innerhalb dieser Formel können drei in Wechselbeziehung zueinander stehende Elemente ausgemacht werden: erstens die physisch-geographische Umwelt, zweitens der Mensch als Handelnder und drittens das Ergebnis – eben die Landschaft – oder der andauernde Prozess der Landschaftsgestaltung. Aus archäologischer und geschichtswissenschaftlicher Sicht hat die Rekonstruktion historischer Landschaften indes auch eine vierte Dimension – diejenige der Zeit. In dieser Perspektive ist die Landschaftsrekonstruktion vergleichbar mit der Landschaftsökologie; der Unterschied zwischen beiden besteht im Blickwinkel, welcher im ersten Fall auf den Menschen und im anderen auf das Ökosystem gerichtet ist. Die Balance zwischen Menschen und Ökosystem wird durch verschiedene Grade der Hemerobie (eng. hemerobioticity) zum Ausdruck gebracht – ein Terminus, der das räumliche und chronologische Ausmaß des menschlichen Einflusses auf die Landschaft angibt. Dieser Grad der menschlich induzierten Wandlung der natürlichen Umgebung ist der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungsmuster und der Entwicklungsdynamik innerhalb jeder Kultur und jeder sozialen oder ethnischen Gruppe, da jede Gruppe auf der Basis ihrer natürlichen Umwelt gemäß ihren eigenen ethischen und praktischen Normen handelt, welche wiederum ihre Gruppenidentität definieren. Nach dem britischen Geographen Robert Muir hat jede Gesellschaft „Landschaft“ in ihrer eigenen Vorstellung geschaffen.5 Die Beziehung zwischen jeder dieser Gesellschaften zu ihrer jeweiligen Umwelt ist das, was sie genuin ausmacht, weil jede Gesellschaft einen spezifischen Grad von Hemerobie aufweist. Um diesen Grad für das hier gewählte Fallbeispiel wissenschaftlich fundiert analysieren 4  Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. Berlin / New York, NY 1999, S. 501, 710. Dieses Wortspiel wurde als Untertitel einer Serie mit dem Titel „Man, Culture, Landscape“ genutzt, die vom ORF in Österreich produziert wurde. Das bidirektionale Konstrukt „mensch schafft land“ und „land schafft mensch“ beschreibt die Beziehung zwischen diesen beiden Konzepten auf angemessene Weise. Für Details des Projektes und der Serie vgl. den Internetauftritt, online unter: http: /  / www.klf.at / clocrom / start [15.05.2012]. 5  „[…] society after society has created landscape in its own image“ (Robert Muir: The New Reading the Landscape. Fieldwork in Landscape History. Exeter 2000, S. 13).

148

George Indruszewski

zu können, wird die Landschaft der Oberlausitz im Folgenden nach drei Grundelementen klassifiziert:6 1. Die Matrix repräsentiert das Spektrum der natürlichen und anthro­ pogenen Elemente, welche für die Landschaft über einen längeren Zeitraum hinweg charakteristisch waren. Innerhalb dieses Zeitraums definieren und kontrollieren diese Elemente die Dynamik der Landschaft. Darüber hinaus bilden sie einen gewissen stabilen Aspekt innerhalb der zyklischen Prozesse, die sich zwischen einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft und der Umwelt vollziehen. 2.  Patches stellen Elemente dar, welche für die Landschaft in einem gegebenen Zeitraum nicht mehr charakteristisch sind. Es handelt sich dabei um Ausnahmen bzw. Anomalien, welche die in der Matrix herrschenden Regeln verstärken. Diese Patches können Überbleibsel vergangener Landschaften oder von Menschen unbeeinflusste Areale sein. 3.  Korridore sind diejenigen Elemente, in denen sich Kommunikation ereignete. Auch sie können natürlichen Ursprungs sein – wie beispielsweise Flüsse –, aber auch menschlichen Charakters – wie im Fall von künstlich angelegten Straßen. Diese drei Elemente bilden die grundlegenden Prämissen, unter denen die „virtuellen“, von Menschen gemachten Landschaften in den folgenden Überlegungen am Beispiel der Oberlausitz vorgestellt werden sollen. Zuvor ist noch darzulegen, auf welchem Datenbestand die Untersuchung beruht. 2. Archäologische Grundlagen Die komplexe Geschichte der archäologischen Forschungen in der Oberlausitz ist stark davon bestimmt, dass Artefakte und andere, die mittelalter­ liche Archäologie der Oberlausitz betreffende Dokumente über verschiedene Länder verstreut sind. Die Anfänge der wissenschaftlichen Untersuchungen zur Frühgeschichte dieser Region reichen bis an das Ende des 18. Jahrhunderts zurück, in die Zeit noch vor der Aufteilung der Oberlausitz zwischen Sachsen und Preußen. Die 1779 gegründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften erwarb 1789 mehrere archäologische Objekte, die in Königswartha (zwischen Bautzen und Hoyerswerda) gefunden worden waren.7 6  Die drei grundlegenden Elementtypen wurden von Robert T. T. Forman / Marc Godron: Landscape Ecology. London / New York, NY 1986 herausgearbeitet. Hier dienen sie als Ansatzpunkt zur Ausarbeitung einer spezifischen Klassifikation. 7  Vgl. Jasper von Richthofen: Kriegsverlust und Beutekunst – Der schwierige Umgang mit kriegsverlagerten Kulturgütern am Beispiel des Kulturhistorischen Museums Görlitz. In: Regina Smolnik (Hrsg.): Umbruch 1945? Die prähistorische Ar-



Die Oberlausitz

149

Abb. 2: Historische Wallanlage auf dem Rotstein.8

Im 19. Jahrhundert konzentrierten sich die Forschungsaktivitäten dann auf Befestigungen wie Döbschütz (Dobšicy) und Lichtenberg (Swětła, Grabungen 1830 und 1833) in der preußischen Oberlausitz und Veensberg bei ­Blumberg (Bratków) (1837) in der sächsischen Oberlausitz. Zum Ende des 19. Jahrhunderts unternahm Rudolf Virchow (1821–1902) Ausgrabungen in den Befestigungen von Rotstein (Abb. 2) und Schöps nahe Reichenbach, Landeskrone (Sedło) nahe Görlitz, Stromberg nahe Särka (Žarki) und Bratków bei Ostritz (Wostrowc). Damit begründete er die Tradition der „Wallanlagenforschung“ in der Oberlausitz.9 8

chäologie in ihrem politischen und wissenschaftlichen Kontext. Dresden 2012, S. 71–81. 8  Nach Hermann Schmidt: Der Doppelwall auf dem Rotstein bei Sohland. In: Jahreshefte der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz 2 (1906), S. 131–143. 9  Vgl. Susanne Grunwald: „to ransack the wall would give trouble and would waste time“. Hillfort Archaeology in Saxony in the 19th century. In: Ola Wolfhechel Jensen (Hrsg.): Histories of Archaeological Practices. Reflections on Methods, Strategies and Social Organisation in Past Fieldwork. Stockholm 2012, S. 175–190. Zu

150

George Indruszewski

Ludwig Feyerabend (1855–1927), der Gründer der Gesellschaft für An­ thropologie und Urgeschichte der Oberlausitz, setzte Virchows Untersuchungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Dobschütz, Melaune und auf der Landeskrone fort. Gleichzeitg fanden Forschungen an der frühmittelalter­ lichen Festung von Bratków, der mittelalterlichen Burg Karlsfried im ­Lückendorfer Pass, den offenen Siedlungen von Penzig (Pjeńsk), Stolzenberg und Hochkirch (Bukecy) und der Kultstätte von Totenstein nahe Königshain statt. Weiterhin wurde sowohl in Sachsen als auch in Preußen ein rechtlicher Rahmen für die Sicherung und Inobhutnahme von archäologischen Funden abgesteckt. Der Schutz und die Verwaltung des kulturellen Erbes im preußischen Teil der Oberlausitz verblieben bei der Prähistorischen Sektion des Kaiser-Friedrich-Museums, das ab 1928 dem Prähistorischen Institut Schlesiens in Breslau (Wrocław) angegliedert war.10 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete eine weitere Teilung der Oberlausitz, dieses Mal zwischen Deutschland und Polen – mit dem Ergebnis, dass die archäologischen Forschungen durch die jeweiligen Behörden dieser Staaten weitergeführt wurden. Auf deutscher Seite ist besonders auf die bedeutenden Arbeiten von G. Rennebach, H. Mitschke und L. Oberhofer zu verweisen, die in jüngster Vergangenheit von G. Oettel und J. von Richthofen weitergeführt wurden.11 Anders als im deutschen Landesteil kam in der polnischen Oberlausitz die archäologische Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst völlig zum Erliegen. Erst ab 1959 wurden beim Wojewodschaftskonservator der archäologischen Denkmäler (Wojewódski Konserwator Zabytków Archeologicznych, WKZA) in Wrocław in den Kreisen (powiaty) Zgorzelec (Görlitz) und Lubań (Lauban) wieder entsprechende Untersuchungen durchgeführt. Als wichtigste Protagonisten sind hier A. Kudła, S. Siedlak, G. Domański, M. Kaletyn, T. Kaletyn, J. Lodowski und H. Sledż-Kamińska zu nennen. Hinzuzurechnen wären hierzu noch jene Ausgrabungen, die Marcela Stará an der Befestigung von Loučná (Wiesenthal) durchführte.

Virchow siehe im Zusammenhang einführend Christian Andree: Rudolf Virchow als Prähistoriker. Köln 1976. 10  Vgl. im Zusammenhang Susanne Grunwald: Potentiale der Burgwallforschung. Sächsische Archäologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Judith Schachtmann / Michael Strobel / Thomas Widera (Hrsg.): Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien. Göttingen 2009, S. 149–168 und Michael Strobel: Anmerkungen zur Institutionalisierung der archäologischen Denkmalpflege in Sachsen zwischen 1918 und 1945. In: Ebd., S. 169–192. 11  Vgl. etwa zuletzt Richthofen (Hrsg.): Besunzane, Milzener, Sorben (wie Anm. 1).



Die Oberlausitz151

II. Das Untersuchungsgebiet – Grenzen und natürliche Landschaft Trotz ihrer Randlage ist die Oberlausitz landschaftlich eine der attraktivsten Regionen des Freistaats Sachsen. Ohne die beeindruckende Erhabenheit des Elbtals in der Sächsischen Schweiz oder die endlosen Weiten der polnischen Ebenen zu besitzen, ist die Oberlausitz eine Region kontrastierender Landschaften, welche sich dennoch harmonisch zusammenfügen. Das Kern­ areal der Oberlausitz wird von einem offenen Gelände, dem Lausitzer Gefilde gebildet, das sich von den Pulsnitzer Höhen im Westen bis zu den langgestreckten schlesischen Tälern und Erhebungen im Osten ausbreitet. Letztere bilden das charakteristische Hügelland, das sich in Ost-West-Ausrichtung vor der majestätischen und monolithischen Silhouette des Iser- und des Riesengebirges erstreckt (Abb. 3). Im Norden wird die Region von der Lausitzer Seenplatte begrenzt, einer flachen Landschaft, die von zahlreichen Nebenflüssen sowie kleinen natürlichen und künstlichen Seen und Tagebaulöchern zerschnitten wird, während die Grenze zum Süden vom Lausitzer Bergland und vom benachbarten Zittauer Gebirge markiert wird, den Lužické hory. Drei Hauptflüsse – die Schwarze Elster (Čorny Halštrow), die Spree (Sprjewja, Spréva) und die Neiße (Nysa, Nisa) – durchkreuzen zusammen mit ihren Nebenflüssen das gesamte Untersuchungsgebiet. Die beiden zuletzt genannten bilden zusammen mit ihren Nebenflüssen den Großteil des hydrographischen Netzes der Region, obwohl sie zu zwei unterschiedlichen hydrographischen Systemen gehören: die Spree mündet über die Havel in Nordwestrichtung in die Elbe, die Neiße im Norden, bei Ratzdorf, in die Oder. Ein vierter Fluss, der Queis (Kwisa), verfolgt ebenfalls einen nörd­ lichen Kurs, gehört aber zum hydrographischen System der Oder. Die Kartierung der Wasserscheide – errechnet auf der Grundlage aktiver und nicht-aktiver Entwässerungskarten auf der Basis eines Digitalen Geländemodells (DGM, engl. Digital Elevation Model, DEM)12 für das gesamte Untersuchungsgebiet (Abb. 4) – zeigt eine klare Abgrenzung auf einer von Norden nach Südsüdwesten ausgerichteten Achse von Niesky (Niska) nach Georgswalde (Jiříkov; Abb. 5). Dieses Resultat ist wichtig in Bezug auf die natürliche Beschreibung der mittelalterlichen Siedlungsareale. Hier ist auch zu erkennen, wie die Königshainer Berge einen integralen Bestandteil der Wasserscheide bilden. Diese erstreckt sich mehr oder weniger in SüdwestNordost Richtung von Walddorf, nahe der heutigen tschechisch-deutschen Grenze, durch Strahwalde (Strawald), Obersohland und Reichenbach (Rych12  Vgl. als Einführung Zhilin Li / Qing Zhu / Chris Gold: Digital Terrain Modeling. Principles and Methodology. Boca Raton, FL 2005.

Abb. 3: Höhengeländemodell der Oberlausitz.

152 George Indruszewski



Die Oberlausitz153

Abb. 4: Digitales Geländemodell der Oberlausitz.

Abb. 5: Digitales Wasserbeckenmodell mit der Wasserscheide zwischen dem Neißetal und dem Lausitzer Gefilde (schwarze Linie).

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George Indruszewski

bach) zu den Königshainer Bergen und biegt hinter Ullersdorf nach Osten ab, bevor sie schließlich Niesky erreicht. Die Hochlandflächen und das Netzwerk der Flüsse kreuzen einander als entgegengesetzte Achsen, wobei jeder Kreuzungspunkt eine Art Landschafts„knoten“ bildet. Diese „Knoten“ können als natürliche, vom jeweiligen Fluss durchschnittene „Tore“ angesehen werden. Dort, wo der Untergrund aus In­ trusivgestein besteht, mutet das Flussbett trotz der niedrigen Höhe des Lausitzer Gefildes wie ein Korridor an, was charakteristisch für Gebirgspässe ist. Wie oben angeführt, besteht die Matrix aus stabilen natürlichen und anthropogenen Elementen, welche die Landschaft der Oberlausitz charakterisieren. Die natürlichen Elemente dieser Region sind der Erdboden und sein Untergrund, der Wald und die Flüsse. Seit Beginn des Frühmittelalters wurden diesen natürlichen verschiedene anthropogene Elemente hinzugefügt, wofür urbane Agglomerationen das augenscheinlichste Beispiel sind. Der heutige Landschaftseindruck ist ein amalgamiertes Bild aus natürlichen und menschengemachten Elementen, deren Kombination die spezifische Landschaft dieser Region formt. Ohne menschliche Einwirkung etwa sind die natürlichen Grenzen in ihrer Funktion als Grenzen nicht existent. Erst das menschliche Handeln bestimmt im Lauf der Geschichte, welches der natürlichen Merkmale zu einer Grenze wird und zur Abgrenzung etwa territorialer Interessensphären, politischer oder kirchlicher Administrativbezirke oder ökonomischer Einzugsgebiete dient. Diese konzeptionellen Erklärungen sind nur dann nützlich, wenn man sie auf einen konkreten Fall anwendet. In diesem Fall handelt es sich um die Oberlausitz, Hornja Lužica im Obersorbischen, Górne Łużyce im Polnischen und Horní Lužice im Tschechischen. Schon der Name ist ein aussagekräftiges Beispiel für die Abgrenzung und die Konstituierung einer Region. Der Name „Oberlausitz“ ist eine spätmittelalterliche Bezeichnung aus dem 15. Jahrhundert. Er wurde erstmals 1409 in der Matrikel der Universität Leipzig erwähnt. Offiziell wurde er 1474 von der königlichen Kanzlei des ungarischen Königs Matthias Corvinus (1443–1490) genutzt.13 Der Name wurde von der eigentlichen Lausitz, der heutigen Niederlausitz im Bundesland Brandenburg, entlehnt14 und verweist somit auf die spätmittelalterliche ethnische und politi13  Joachim Bahlcke: Die Oberlausitz. Historischer Raum, Landesbewusstsein und Geschichtsschreibung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2002, S. 9–54. 14  Er wurde im 8. / 9. Jahrhundert im so genannten Bayerischen Geographen genannt und in verschiedenen Quellen mit Bezug auf die Expeditionskampagne Heinrichs I. 932 erwähnt. Details siehe bei Christian Lübke: Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder. Teil 2: Regesten 900–983. Berlin 1985, S. 55. Zum



Die Oberlausitz155

sche Realität, dass eine nicht assimilierte, slawisch-sprechende Bevölkerung in diesen beiden Provinzen ansässig war. Im Hoch- und Spätmittelalter war die Region als terra hexapolitana oder „Land der Sechsstädte“ bekannt, was darauf zurückgeht, dass sie ökonomisch und sozial von der 1346 begründeten Union der königlichen Städte Kamenz (Kamjenc), Bautzen, Löbau (Lubij), Görlitz, Lauban und dem böhmischen Zittau (Žitava) dominiert wurde.15 Im Frühmittelalter wurde die Region nach ihren Bewohnern benannt – Land (terra) Milsca für die eigentliche Oberlausitz und Land Běžunčane im oberen Neißetal. Der Name „Milsca“ wurde nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem römisch-deutschen König und Kaiser Heinrich II. (973 / 978–1024) und dem polnischen Herzog und späteren König Bolesław Chrobry (965 / 967–1025) durch Land Budissin ersetzt. Während des Hochmittelalters formten diese regionalen Einheiten das Gebiet, das historisch als Lusatia Superior bekannt ist. Im Licht des gegenwärtigen archäologischen Wissens scheint das Kernareal der terra Budissin mit dem heute als Lausitzer Gefilde bekannten Gebiet identisch zu sein, während das Zentrum des Landes Běžunčane im oberen Neißetal in einem Streifen zwischen Zittau und Görlitz / Zgorzelec zu suchen ist.16 Auch von der Kirche, die sich in dieser Region seit dem 11. Jahrhundert etablierte, wurden Grenzen gesteckt. Über das gesamte Mittelalter hinweg konkurrierten drei Bistümer um Einfluss im Untersuchungsgebiet: das Bistum Meißen, das Bistum Prag und – in geringerem Ausmaß – das Bistum Breslau. Genauere Aussagen bezüglich der Beziehungen des Landes Milsca zu den Nachbardiözesen lassen sich aufgrund einer äußerst schmalen Quellenbasis nur bedingt treffen. Kaiserlichen Urkunden von 970 / 971 und 1085 nach zu urteilen, hatten sowohl Prag als auch Meißen das Land Milsca zwar nicht in ihre Diözesangrenzen eingeschlossen, betrachteten die Region aber als unter ihrem Einfluss stehend und damit als „beanspruchbar“. Der wichtigste historische Nachweis für das Bemühen der beiden Bistümer sowie der böhmischen Krone war die Ausfertigung der „Grenzurkunde“ von 1241. Dieses Dokument ist von Bedeutung, weil es zum ersten Mal die Grenz­ linien zwischen den böhmischen Besitzungen und denjenigen des Bistums Meißen in der terra Budisin und im Zagozd verzeichnet (Abb. 6). Diesen Entwicklungen ist ein möglicher Versuch hinzuzufügen, das Land Milsca Bayerischen Geographen vgl. mit weiterführender Literatur Descriptio civitatum ad septentrionalem plagam Danubii. Online unter: http: /  / www.geschichtsquellen.de /  repOpus_01969.html [28.06.2013]. 15  Vgl. Bahlcke: Die Oberlausitz (wie Anm. 13), S. 12. Siehe detailliert Gunter Oettel / Volker Dudeck (Hrsg.): 650 Jahre Oberlausitzer Sechsstädtebund. 1346–1996. Bad Muskau 1997. 16  Vgl. zum Ganzen Gunter Oettel (Hrsg.): Die Besiedlung der Neißeregion. Urgeschichte, Mittelalter, Neuzeit. Zittau 1995.

156

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Abb. 6: Digitalisierte Protokolle der „Grenzurkunde“ von 1241.

dem Bistum Breslau einzugliedern. Dies schien so lange durchführbar, wie die polnische Oberherrschaft von den Einwohnern und den Nachbarmächten anerkannt wurde. Milsca stellte für den größten Teil des 10. Jahrhunderts eine Art „Niemandsland“ dar, eine Pufferzone zwischen den konfliktgeladenen Bestrebungen seiner Nachbarn. Die militärische Kampagnen des 10. und 11. Jahrhunderts brachten neben der christlichen Religion auch neue Grenzen, die es zu verteidigen galt. Die kriegerischen Unternehmungen des sächsischen Herzogs und ostfränkischen Königs Heinrichs I. (um 876–936) und später Heinrichs II., verbunden mit den militärischen Aktionen Bolesław Chrobrys sowie der Přemysliden-Herzöge Oldřich / Udalrich († 1034) und Soběslav (nach 1068– 1140) führten zu einer unumkehrbaren Transformation der Sub-Regionen Milsca und Besunčane. III. Untersuchungsergebnisse 1. Siedlungslandschaften: terra Budissin und terra Besunčane Im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojekts17 wurden erhebliche Anstrengungen auf die Sammlung und Klassifizierung von aus verschiede17  Die Ergebnisse beruhen auf dem Habilitationsprojekt des Verfassers an der Technischen Universität Chemnitz.



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nen Quellen stammenden Daten verwendet: Feldforschungen, archivierte archäologische Beweisstücke in Sachsen und Niederschlesien, historische Dokumente, Ortsnamenforschungen, kartographische Informationen. Nach der Bearbeitung der Daten innerhalb des Geographischen Informationssystems (GIS) war klar, dass ihre Struktur und ihre Qualität für eine chronologische Auswertung kaum geeignet waren. Es zeigte sich, dass beispielsweise die Ausdehnung der frühesten Besiedlung in der Oberlausitz am besten aus der linguistischen Analyse der Ortsnamen hervorgeht, und erst danach aus archäologischen Belegen. Unter diesen Umständen hatte in Bezug auf die frühesten Besiedlungsphasen der Region die Auswertung der Ortsnamen Vorrang vor den anderen Quellengattungen.18 Slawische Ortsnamen konzentrierten sich in einem Areal entlang des Oberlausitzer Gefildes, des Oberen Neißetals und des Oberen Elbtals. Diese Konzentrationen sind auch in den frühesten schriftlichen Quellen belegt. Ergänzend dazu scheint sich das archäologische Material im Hinblick auf mittelalterliche Siedlungsspuren und den ältesten Kern der existierenden Dörfer in den gleichen Arealen zu ballen; ausgenommen hiervon ist jedoch das Obere Elbtal. Eine weitere interessante Wechselbeziehung besteht zwischen der Struktur der Siedlungen und der ethnischen Zugehörigkeit ihrer Bewohner. Sie ist sehr leicht zu veranschaulichen, indem die Siedlungsdaten mit einer Kartierung der räumlichen Verteilung der verschiedenen Ortsformen der Oberlausitz unterlegt werden.19 Dabei zeigt sich eine Konvergenz zwischen slawischen Ortsnamen (Kreuze) und den sogenannten Bauern- oder Rundweilern (Punkte) (Abb. 7).20 Dies bestätigt Karlheinz Blaschkes Feststellungen über die ethnische Zuordnung dieser Strukturen.21 Eine Distanzkartierung slawischer Ortsnamen zeigt, dass sich die Siedlungen im Lausitzer Gefilde in einer Entfernung von jeweils zwei bis vier Kilometern befinden (Abb. 8). Die Anordnung dieser Siedlungen kann mittels einer Dichtekartierung besser bewertet werden, welche deutlich zeigt, dass sich die Siedlungen des Lausitzer Gefildes in drei Clustern häufen: ein 18  Zur Besiedlungsgeschichte der Region vgl. zuletzt zusammenfassend Jasper von Richthofen: Die slawische Besiedlung. In: Thomas Napp / Gunter Oettel (Hrsg.): Zwischen Neiße, Schoeps und Spree. Der Landkreis Görlitz. Görlitz 2011, S. 148– 153. 19  Karlheinz Blaschke: Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. Karte B II 2: Ortsformen. Leipzig / Dresden 1998. 20  Kleine Dörfer bestehend aus wenigen Haushalten, die um einen zentralen Punkt oder zufällig verstreut sind. 21  Vgl. Blaschke: Ortsformen (wie Anm. 19), S. 10 ff.; ders.: Zur Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte der Oberlausitz. In: ders.: Beiträge zur Geschichte der Oberlausitz. Gesammelte Aufsätze. Görlitz / Zittau 2000, S. 21–49.

22  Nach

Blaschke: Ortsformen (wie Anm. 19).

Abb. 7: Die räumliche Überlappung geolokalisierter frühmittelalterlicher slawischer Dörfer und der Ausbreitung sogenannter Rundweiler.22

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Abb. 8: Entfernungskartierung der slawischen Dörfer (roter Kern) des Mittelalters.

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westlicher als eine Anhäufung um Coblenz (Koblicy), Dahren (Darin) und Paßditz (Pozdecy), ein zentraler, welcher ein ringförmiges Band um Bautzen darstellt, und schließlich ein östlicher, der linear an einer Ost-WestAchse angeordnet ist (Abb. 9). Das gleiche Bild ergibt sich bei der Dichtekartierung sowohl ausschließlich der einen patronymischen Namen tragenden Siedlungen als auch aller Orte ohne Berücksichtigung ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Weniger dichte Anhäufungen sind im Oberen Neißetal zwischen Jauernick (Jawornik), Tylice (Thielitz), Ręczyn (Reutnitz) und Tauchritz (Tuchoricy), weiterhin zwischen Kamenz und Wittichenau (Kulow), um Litschen (Złyčin) sowie im Oberen Elbtal, zwischen Krippen und Dorf Wehlen, zu finden. Diese Cluster könnten mit der territorialen Einheit des opole, pogost bzw. der żupa zusammenhängen.23 Eine Kartierung der Nachbarschaften, bei der die einzelnen Waben durch die ethnische Zugehörigkeit definiert werden, zeigt den Grad der Nähe zwischen den slawischen Ortsnamen und ebenso die Richtung des Eindringens deutscher Ortsnamen, welches bei beiden slawischen Clustern von Südwesten her erfolgte (Abb. 10). 2. Korridore der Kommunikation Kommunikationswege konnten in der Region sowohl zu Land als auch zu Wasser eingerichtet werden. Im Frühmittelalter spielte Wasser die Hauptrolle bei der Aufrechterhaltung von Fernverbindungen, und sogar in Höhengebieten war es indirekt, durch die abtragende Bildung von Gebirgspässen, bei der Schaffung von Verkehrsverbindungen behilflich. Im Lauf der Zeit, als die Landwege sicherer wurden – insbesondere durch die zunehmenden menschlichen Eingriffe in die Landschaft – verloren die Wasserwege, wenn auch nicht überall, an Bedeutung. In der Oberlausitz gewann der Transport über Land am Ende des Mittelalters die Oberhand, und der Wasserverkehr auf der Neiße verlor sein Gewicht, bis er schließlich komplett verschwand. Bei archäologischen Untersuchungen wurden in der Oberlausitz zehn Einbäume gefunden, viele davon am Ufer der Neiße. Bedauernswerterweise wurde keines der Fahrzeuge datiert, aber einige von ihnen könnten während des frühen Mittelalters angefertigt worden sein. Mehrere Generationen von Karten belegen die Veränderungen im Straßennetzwerk der Region. Eine 1752 entstandene Karte von Sachsen zeigt klar zwei Hauptstraßen (Abb. 11): Die Hauptstraße, „Heer Strasse“ genannt, folgte mehr oder weniger der Route der frühmittelalterlichen Via Regia, die, 23  Vgl. Zbigniew Kobyliński: Settlement Structures in Central Europe at the Beginning of the Middle Ages. In: Przemyslaw Urbańczyk (Hrsg.): Origins of Central Europe. Warsaw 1997, S. 97–115.

Abb. 9: Dichteanalyse der slawischen Dörfer (roter Kern) des Mittelalters.

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Abb. 10: Näherungsanalyse der slawischen (roter Kern) und deutschen Dörfer (grüner Kern) des Mittelalters.

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Auszug aus: Hohe Heerstraße durch das Chur. Fürst. Sachsen, wie selbige aus Polen u. Schlesien in die Lande Thüringen, Sachsen, Meissen u. so ferner gehen soll ... E ntw orfen von J.C .K . R eichenb. V arisco 1728 H om ann, 1752. Reproduktion 1994, gug-Verlag Leipzig

Abb. 11: Die Fernhandelsstraßen in Sachsen auf der Karte aus dem Jahr 1752.

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Abb. 12: Fernverkehrskorridore in das Lausitzer Gefilde und in das Neißetal.

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von Leipzig kommend, Oschatz, Hayn, Kamenz, Bautzen, Görlitz, Lauban und Naumburg am Queis (Nowogrodziec) durchquerte und weiter nach Breslau verlief. Vor dem Erreichen von Reichenbach passierte sie den Schöps. Eine zweite Straße führte durch das Elbtal über Bischofswerda und Göda (Hodžij) nach Bautzen. Die Kommunikationskorridore lagen im Mittelalter scheinbar auf einer Ost-West-Achse. Ihre Schnittpunkte mit den Flusstälern bildeten so genannte „Flaschenhälse“, was aus militärischer und ökonomischer Sicht sehr wichtig war. Die Analyse des minimalen Aufwands (least cost path, LCP)24 zeigt, dass die bezüglich der Zugänglichkeit des Geländes kosteneffizientesten Wege nördlich des weiter oben für die mittelalterliche Periode dargestellten Kommunikationskorridors verliefen (Abb. 12). Diese Verbindungen dienten ausschließlich dem Fernverkehr. Dies bedeutet, dass alle Ausgangsund Zielpunkte an den Grenzen der untersuchten Region liegen. Weiterhin ist festzustellen, dass sich die Mehrheit dieser Pfade an den Rändern der von den slawischen Patronymen gekennzeichneten Siedlungskerne befindet, wie auch an den Rändern des von Befestigungen kontrollierten Gebietes. Es gibt jedoch Ausnahmen; die bemerkenswertesten sind der Weg, welcher dem Neißetal folgt, und derjenige, welcher von Kamenz im Westen nach Lauban im Osten verläuft. Letzterer ist derjenige, welcher der Via Regia am nächsten kommt, und er bestätigt augenscheinlich die Lage des leichtesten Reisewegs in der Oberlausitz auf der Ost-West-Achse. Die für den Austausch in der Region mit dem geringsten Aufwand zu passierenden Wege sind diejenigen, die die Flachlandzone am nördlichen Rand des Lausitzer Gefildes durchqueren. Diese computeranimierten Routen erfordern unter Berücksichtigung der lokalen Topographie, der Zahl der Flussüberquerungen und der Höhenunterschiede den geringsten Aufwand, um in der Region unterwegs zu sein. Daher ist die Annahme sinnvoll, dass es sich hierbei um die ältesten Reisewege durch die Region handelt. 3. Befestigungen: Sichtbare Machtlandschaft Während einer Feldforschung 2001 / 02 wurden von insgesamt 80 nachweisbaren Befestigungen in der Region 68 mittels eines GPS-Empfängers kartiert; mehrere von diesen wurden während der Grabungssaison 2007 archäologischen Untersuchungen unterzogen. Mit wenigen Ausnahmen gehört die Mehrheit dieser Befestigungen zur Kategorie der Erdwallanlagen mit einem oder zwei befestigten Bereichen und zumeist einem Eingang auf der 24  Zum Konzept vgl. jetzt Irmela Herzog: The Potential and Limits of Optimal Path Analysis. In: Andrew Bevan / Mark Lake (Hrsg.): Computational Approaches to Archaeological Spaces. Walnut Creek, CA 2013, S. 179–211.

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östlichen Seite der Anlage. Die Form der Wälle reicht von einem gebogenen Segment über sichelförmige, halbrunde und hufeisenförmige Strukturen bis hin zum Vollkreis, abhängig vom Vorhandensein oder Fehlen natürlicher Verteidigungsmöglichkeiten wie steilen Abhängen, Flussschlingen oder Sumpfgebieten (Abb. 13 bis 15). Obwohl archäologische Untersuchungen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, in vielen Fällen als unsystematisch bezeichnet werden müssen, können die dabei getätigten archäologischen Funde – insbesondere Keramik – einer Datierung der Befestigungen der Oberlausitz dienen.25 Aus der entsprechenden Karte (Abb. 16) ist deutlich abzulesen, dass Befestigungen während des 8. Jahrhunderts an mehreren Orten zwischen Kamenz und der Spree, nördlich des Areals zwischen Bautzen und Löbau, und östlich des Neißetals zwischen Görlitz und Lauban aufgetreten sein dürften. Die im 9. Jahrhundert errichteten Anlagen veränderten die anfangs zufällige Verteilung hin zu zwei großen Clustern: einem im Lausitzer Gefilde und einem im Neißetal. Die im 11. und 12. Jahrhundert entstandenen Befestigungen verdichteten das existierende Verbreitungsmuster. In beiden Clustern ist eine Tendenz zu beobachten, in Richtung Südwest zu befestigen. Die Lage dieser jüngeren Wallanlagen im Lausitzer Cluster zwischen Bischofswerda und Göda korrespondiert mit der Achse, die später eine der Hauptrouten für Handel und Kommunikation werden sollte. Wenn die auf spätere, mittelalterliche Befestigungsanlagen bezogenen Daten auf die existierenden Wallanlagen projiziert werden, zeigt sich deutlich ein Wandel nicht nur der Befestigungsart, sondern auch der Ausrichtung (Abb. 17). In der Zeit der böhmischen Oberherrschaft wurden Burgen demnach nicht gebaut, um die südwestliche Ecke der Oberlausitz zu verteidigen, sondern um die östliche und nördliche Flanke Böhmens zu verstärken. Eine Quadratanalyse der Verteilung der Befestigungen zeigt eine lineare Agglomeration für das Lausitzer Gefilde mit der Tendenz zur Clusterbildung im Quadrat um Bautzen mit elf bis sechzehn Anlagen (Abb. 18), während auf beiden Seiten des Neißetals eine Streuung zu sehen ist. Sichtlinienberechnungen wurden durchgeführt, um die Beziehungen der Befestigungen untereinander zu beurteilen (Abb. 19). Wie zu sehen ist, war es auf fast allen Anlagen des Lausitzer Clusters unmöglich, einen visuellen Kontakt zu den anderen Befestigungen aufzunehmen. Das Gegenteil ist im Neißetal zu beobachten, wo Beobachter auf den Befestigungen der Landeskrone Sichtkontakt mit den meisten umliegenden Burgen hätten aufnehmen können. 25  Zur Analyse der Wallanlagen auf der Grundlage von Textquellen vgl. Gerhard Billig: Zur Rekonstruktion der ältesten slawischen Burgbezirke im obersächsischmeißnischen Raum auf der Grundlage des Bayerischen Geographen. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 66 (1995), S. 27–67.



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Abb. 13: Burgwall von Dahren.

Abb. 14: Burgwall von Klein Seitschen.

Abb. 15: Burgwall Große Schanze bei Schöps.

Abb. 16: Befestigungen in der Region (gelb für die Zeit vor dem 10. Jahrhundert, rot für die Zeit nach dem 10. Jahrhundert).

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Abb. 17: Befestigungen nach Typ (rot gekreuzte Vierecke bezeichnen ­Lokalisierungen von Wasserburgen, also rechteckigen, von einem künstlich angelegten Wassergraben umgebenen Burganlagen).

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Abb. 18: Räumliche Quadratanalyse der Verteilung der Befestigungen.

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Abb. 19: Sichtlinien zwischen Befestigungen (rot: nicht sichtbar, grün: sichtbar).

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Im Vergleich zur Verbreitung der patronymischen Siedlungen bzw. Ortsnamen bietet sich für das Lausitzer Gefilde das Bild eines Clusters der frühesten slawischen Siedlungen, das von Befestigungen umgeben ist, während für das Neißetal radial gestreute Burgen mit sich zur Landeskrone hin konzentrierenden Siedlungen abwechseln. Diese Analysen können im Detail mittels eines Digitalen Geländemodells für die gesamte Region noch weiter ausgebaut werden (Abb. 20). Im 3D-Modell ist leicht ersichtlich, welche Befestigungen sichtbeherrschend waren und mit welchen nur von bestimmten Orten aus visueller Kontakt aufgenommen werden konnte. Die GIS-Ergebnisse bilden eine Basis, auf welcher das militärisch-administrative System der Burgwarde analysiert werden kann. Die Geschichte der frühmittelalterlichen Befestigungen kann in ein historisch „dunkles Zeitalter“ und in einen Abschnitt, der quellenmäßig besser belegt ist, untergliedert werden. Die Unsicherheiten beziehen sich auf das 10. Jahrhundert, in dem nicht ein einziges Oberlausitzer burgwardium in den historischen Dokumenten genannt wird. Stattdessen ist die Region aus späteren Quellen bekannt, wie zum Beispiel der Chronik Thietmars von Merseburg (975– 1018). Die Schenkung der tria castella von 1007 ist das einzige Dokument, das auf die Existenz eines solchen Systems in der Oberlausitz zu einem so frühen Zeitpunkt hinweist. Eine erneute Analyse des Textes zeigt, dass die Quelle in dem Sinne übersetzt werden sollte, als dass drei Befestigungen dicht beieinander in Sichtweite gelegen haben. Dies bedeutet, dass sie sich in einem klar bestimmten Areal innerhalb von Milsca häuften. Die mit dem Oberlausitzer Digitalen Höhenmodell durchgeführte Sichtlinienanalyse spricht dafür, dass Göda, Dahren und Seitschen (Žičeń) die Orte sind, zu denen die meisten der in der Urkunde genannten Kriterien passen (Abb. 21). Das Dokument selbst scheint eher ein politischer Versuch gewesen zu sein, die Kirche in die Expansionspolitik Heinrichs II. gegen den feudalen Expan­ sionsdrang Bolesław Chrobrys einzubinden, als dass es ein sicherer Indikator für die Existenz eines Burgwardsystems in der Region sein kann. 4. Glaubensvorstellungen: Die letztgültige Landschaft der Region Zu Beginn des Frühmittelalters war die Oberlausitz ein Land, das von heidnischen Slawen besiedelt war. Deren Spuren sind noch heute in Form von archäologischen Artefakten zu sehen – Brandgräberfeldern wie denen von Bloaschütz (Błohašecy) und Białogórze (Lichtenberg), Ortsnamen mit kultischem Nachhall wie Pohanské kameny (Heidnischer Stein), Totenstein, Czorneboh (Čornobóh) und Bieleboh (Běłobóh) oder heidnischen Bräuchen, die bis zum 19. Jahrhundert Einfluss auf die regionale Tradition hatten (Abb. 22).

Abb. 20: 3-D digitale Darstellung der Oberlausitz (rot: Befestigungen).

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Abb. 21: Sichtlinien zwischen den Befestigungen von Göda, Dahren und Seitschen.

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Abb. 22: Kultplätze und Gräberfelder in der Oberlausitz.

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Historische und archäologische Zeugnisse verweisen darauf, dass missionarische Aktivitäten im Land Milsca wohl erst im 11. Jahrhundert erfolgten. Im Unterschied zu anderen slawischen Regionen (Pommern, Rügen, das obodritische Gebiet, der frühe Piastenstaat, Böhmen, Mähren) gibt es keinerlei Anhaltspunkte für frühere Missionsbestrebungen in der Oberlausitz. Wie Walter Schlesinger herausstellte, wurden für den Aufbau der kirchlichen In­ frastruktur in der Region drei Brückenköpfe genutzt: Bautzen, Göda und Kittlitz (Ketlicy).26 Noch heute weisen von den insgesamt 922 Orten der historischen Region der Oberlausitz nur 218 eine eigene Kirche auf, während 702 Orte ohne Gotteshaus sind (Abb. 23). Bedeutsam ist deren räumliche Verteilung im Vergleich mit der Dichotomie slawischer und deutscher Ortsnamen: Während die Mehrheit der einen deutschen Namen tragenden Orte eine Kirche aufweist, gilt für die einen slawischen Namen tragenden Orte das Gegenteil. Für unsere Forschung sind die historischen Überlieferungen leider nicht hilfreich. Das Bistumsregister von 1346 beispielsweise, das als einzigartige Quelle der mittelalterlichen Landverteilung und Verwaltung gilt, scheint eine spätere kirchliche Infrastruktur der Oberlausitz abzubilden. Der Aufbau dieser Infrastruktur zeigt mit der Einbeziehung der Orden von Beginn an eine Besonderheit, obwohl er in der Region erst ein Jahrhundert später begann als westlich der Elbe.27 1234 gründete entsprechend der klösterlichen Überlieferung Kunigunde (Kunhuta, 1200–1248), Gemahlin König Wenzels I. Přemysl (um 1205–1253) das Zisterzienserinnenkloster Vallis Sanctae Mariae (Sankt Marienthal) südlich von Ostritz.28 1248 erfolgte die Gründung des Zisterzienserinnenklosters Stella Sanctae Mariae (Sankt Ma­ rienstern) in Panschwitz-Kuckau in der westlichen Oberlausitz durch die Herren von Vesta.29 Beide Klöster überdauerten die Reformation und andere schwierige Zeiten und sind heute zwei der wenigen durchgängig besetzten Klöster nicht nur in der Region, sondern in ganz Mitteleuropa. Jenseits der großen Politik führte die Gründung dieser Klöster zu einem Aufschwung im sozialen Charakter der Oberlausitz. Wie der Zensus der Abtei Marienstern zeigte, war zwischen 1374 und 1382 die Mehrzahl ihrer Untertanen slawi26  Walter Schlesinger: Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter. 2 Bde. Köln 1962. 27  Vgl. Hans Walter: Die Markgrafschaft Meißen (929–1156). In: Karl Czok (Hrsg.): Geschichte Sachsens. Weimar 1989, S. 84–104. 28  Neuere Forschungen deuten auf eine frühere Gründung unter dem Einfluss der Herren von Dohna hin. Vgl. Lars-Arne Dannenberg: Das Kloster St. Marienthal und die Burggrafen von Dohna. In: Neues Lausitzisches Magazin 11 (2008), S. 89–104. 29  Zwischen 1268 und 1279 hatte Bernhard III. von Vesta verschiedene Positionen im Dom von Meißen inne. Dies erklärt die starke Bindung an diese Diözese. Für Details siehe Gertraud E. Schrage: Die Oberlausitz bis zum Jahr 1346. In: Bahlcke (Hrsg.): Geschichte der Oberlausitz (wie Anm. 7), S. 55–98.

Abb. 23: Slawische (rot) und deutsche (grün) Ortsnamen mit (gelbe Kreuze) und ohne Dorfkirche.

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scher bzw. sorbischer Herkunft. Sie waren geringeren Pflichten und Abgaben unterworfen als die Untertanen weltlicher Herrschaften, und darüber hinaus konnten sie ihren kulturellen Hintergrund bewahren. Dies machte das Territorium der beiden Klöster zu Kerngebieten der Kultivierung und Bewahrung der sorbischen kulturellen und sprachlichen Identität während des gesamten Mittelalters und erklärt die große Zahl der Sorben, welche Priester wurden und in dieser Eigenschaft zur Erhaltung einer ausgeprägten, die obersorbische Sprache einschließenden Identität beitrugen.30 IV. Schlussbemerkungen Die Ergebnisse der GIS-basierten Raumanalyse, untermauert durch andere Datenquellen, lassen das folgende Landschaftsszenarium der Oberlausitz entstehen: Von insgesamt 465 slawischen Ortsnamen sind 152 Patronyme, die als die frühesten Siedlungen im Untersuchungsgebiet gelten können.31 Die räumliche Verbreitung dieser 152 Siedlungen korrespondiert mit derjenigen der vor dem 10. Jahrhundert errichteten Befestigungen. Es ist deutlich erkennbar, dass letztere den Grenzen des Siedlungsgebietes folgen und damit der Theorie von Befestigungen als Zentralorten für umliegende Siedlungen zu widersprechen scheinen. Die 3-km-Pufferzone um die Hügelburgen zeigt, dass die Burgen unter Bezug auf das Gewässernetz miteinander vernetzt sind. Die wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel. Von großer Bedeutung ist dabei folgende „Entscheidungskette“: 1.  Die Burgenbauer prüfen die Landschaft auf natürliche Verteidigungsmöglichkeiten hin. Die steilen Flussufer sind in dieser Beziehung überaus relevant. 2.  Die Befestigung ist errichtet und verleiht dem Wasserlauf eine strategische Bedeutung als biologische Ressource, zur Kommunikation und schließlich zur Verteidigung. 3.  Der Lauf des Wassers verbindet Menschen und ist für die Vernetzung von Siedlungen günstig. 4.  Zahlreiche dörfliche Siedlungen (Familiennester oder Siedlungszellen), die um eine der verschiedenen Befestigungen versammelt sind und am Wasserlauf des jeweiligen Tals liegen (pole-laukas-campus), bilden die Landschaft Milsca. 30  Genauer Dietrich Scholze: Bautzen als politisches und kulturelles Zentrum der Sorben. In: Manfred Thiemann (Hrsg.). Von Budissin nach Bautzen. Beiträge zur Geschichte der Stadt Bautzen. Bautzen 2002, S. 30–45. 31  Vgl. Ernst Eichler / Hans Walther: Ortsnamenbuch der Oberlausitz. Studien zur Toponymie der Kreise Bautzen, Bischofswerda, Görlitz, Hoyerswerda, Kamenz, Löbau, Niesky, Senftenberg, Weisswasser und Zittau. Berlin [Ost] 1978.



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5.  Eine ausgedehnte, talübergreifende Gemeinschaft – bestehend aus Gruppen von Befestigungen – entsteht im Gau Milsca (opole-pogost-żupa), während sich in Besunčane (Zagost) das radiale Muster weiter ausprägte, ohne dass jedoch die Landeskrone zu dieser Zeit schon der Zentralort gewesen wäre. Beide Gemeinschaften hatten ihre Befestigungen am Rand des Siedlungsareals angeordnet. Diese Befestigungen, errichtet im 8. und 9. Jahrhundert, bestimmten also die Grenzen des Siedlungsareals. Ein Zentralort ist für diese Zeitperiode nicht erkennbar. Burgen dienen in dieser frühen Phase als Orte sozialen Prestiges und des Austausches mit Auswärtigen, weniger der Verteidigung. Es ist dies die Zeit größerer territorialer Zusammenschlüsse der opoles zu einer hierarchisch höheren Stammeseinheit. 6.  Befestigungen auf Bergkuppen wurden später gebaut, anscheinend als Auswirkung der Kriege des 10. und 11. Jahrhunderts. Beispiele finden wir in Milsca und Zagost: Elstra (Halštrow), Schmölln (Smělna), Naundorf (Glinsk), Hochstein (Žiwiny), Binnewitz (Bónjecy) (als Ausnahme) und Rothstein, vielleicht auch Löbauerberg (Lubijska Hora) und Schönau a. d. Eigen (Sunow). Die Errichtung anderer, nach Südwesten ausgerichteter Festungen ist nicht dem Versuch geschuldet, einfallende Heere zu stoppen. Sie soll vielmehr die Siedlungswellen aufhalten, die mit der Landvergabe an den Bischof von Meißen einsetzten.32 Erst im 12. Jahrhundert erlangte das Bistum eigene Besitzungen im Südwesten der Lausitz (um Stolpe und Bischofswerda) und möglicherweise auch im Zagost. 7. Während der Kriege im 10. und 11. Jahrhundert geraten Bautzen und die Landeskrone33 in das zentrale strategische Interesse beider Kriegsparteien in ihrem Versuch, die bisherige Landschaft zu kontrollieren. Diese beiden bedeutenden Plätze ermöglichen die Kontrolle beider Gemeinschaften, der Milzener und der Besunčaner. Jetzt erst entstand eine Struktur von Zentrum und Peripherie; damit beginnt der zweite Schritt der mittelalterlichen Landschaftsgestaltung in der Oberlausitz. Von nun an wird Bautzen zum Zentrum, während die Landeskrone, konfrontiert mit dem neu gegründeten urbanen Zentrum Görlitz, in den Hintergrund tritt. Irreversiblen Transforma­ tionen unterlag die Region dann während des Hoch- und Spätmittelalters, als die böhmische Krone für die meiste Zeit die Oberherrschaft und Kon­ trolle über sie behauptete.

32  Codex

diplomaticus Lusatiae superioris I, 25. Details über die Landeskrone und ihre Rolle im deutsch-polnischen Konflikt vgl. Jasper von Richthofen: Die Landeskrone bei Görlitz. Eine bedeutende slawische Befestigung in der östlichen Oberlausitz. In: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege 45 (2003), S. 263–300. 33  Für

Tschechisch-sorbische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert Von Petr Kaleta (Prag) I. Einleitung Die in Sachsen und Brandenburg ansässigen Sorben sind bis heute eine relativ konsolidierte Ethnie geblieben, die ihre eigene westslawische Sprache (bzw. zwei Schriftsprachen: Obersorbisch und Niedersorbisch) benutzt und eine eigenständige Kultur bewahren konnte. Die fast dreihundertjährige Zugehörigkeit des historischen Gebietes der Ober- und Niederlausitz zu den Ländern der böhmischen Krone und die Verwandtschaft des Sorbischen mit der tschechischen Sprache beeinflussten die Entwicklung der gegenseitigen sorbisch-tschechischen Kontakte in den nachfolgenden Zeiten. In diesem Beitrag möchten wir auf wichtige Erscheinungen hinweisen, die in den sorbisch-tschechischen Beziehungen aufgetreten und in diesem Bereich noch heute festzustellen sind. Dazu gehören vor allem das Wendische Seminar in Prag, das Interesse der tschechischen Forscher und Publizisten für die Sorben, die tschechische universitäre Sorabistik, die Gesellschaft der Freunde der Sorben und die Rolle der Tschechen in der sogenannten „Lausitzer (sorbischen) Frage“. II. Das Religionsproblem und das Wendische Seminar in Prag Die Religion und das religiöse Empfinden bilden bis heute einen wichtigen Bestandteil der Identität der in der Nieder- und Oberlausitz lebenden Sorben. Man kann sagen, dass es im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts zur vollständigen Christianisierung der von den westslawischen Sorben bewohnten Gebiete gekommen war. Lange Zeit hatten sie aber nicht einmal in der inoffiziellen Hauptstadt Bautzen (obersorb. Budyšin, niedersorb. Budyšyn) ihr eigenes Gotteshaus. Zunächst teilten sich die sorbische und die deutsche Bevölkerung den Dom St.  Petri, bis wahrscheinlich ab 1240 die Liebfrauenkirche (Cyrkej našeje lubeje knjenje) existierte. Etwas später, ab 1280, stand hier die Kirche St.  Nikolai, die bald zum wichtigsten Zentrum der sorbischen Gläubigen wurde. In den von Sorben bewohnten Gebie-

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ten der Oberlausitz spielten zwei im Verlauf des 13. Jahrhunderts gegründete Zisterzienserinnen-Klöster eine wichtige Rolle: St. Marienthal (Marijiny doł) und St.  Marienstern (Marijina hwězda). Das 16. Jahrhundert brachte tiefgreifende Veränderungen im Religionsund Kirchenbereich. In diesem Zeitalter begann die Reformation in Sachsen und in weiteren deutschen Gebieten Fuß zu fassen. Am Anfang war sie in der Lausitz – auch wegen der Verbindung zu den böhmischen Ländern – nicht so stark ausgeprägt wie in Sachsen, denn die Träger der protestantischen Gedanken waren hauptsächlich vereinzelte Intellektuelle. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde Sorbisch in einem viel größeren Gebiet als in der Lausitz gesprochen, u. a. auch in den Dörfern in der Umgebung von Wittenberg. Martin Luther (1483–1546) wusste zwar von ihnen, aber für die Predigt auf dem sorbischen Lande empfahl er den Geistlichen einfaches Deutsch, weil er Sorbisch für eine minderwertige Sprache hielt. Die Zahl der sorbischen katholischen Pfarrgemeinden und Gläubigen sank in beiden Teilen der Lausitz ständig. Das Jahr 1578, in dem die Oberlausitzer Dörfer Gaußig (Huska) und Kotitz (Kotecy) zum evangelischen Glauben übertraten, kann als Jahr der Vollendung der Reformation angesehen werden. Danach bildeten die katholischen sorbischen Ortschaften in der Lausitz eine deutliche Minderheit, und das katholische Element blieb vornehmlich in den Dörfern zwischen Bautzen, Kamenz (Kamjenc) und Wittichenau (Kulow) erhalten. Die Reformation führte im 16. Jahrhundert auch bei den Sorben zur Trennung von Katholiken und Protestanten. Infolgedessen gibt es heutzutage hier die Oberlausitzer Sorben katholischen Bekenntnisses, die Oberlausitzer Sorben protestantischen Bekenntnisses und die Niederlausitzer Sorben überwiegend protestantischen Bekenntnisses.1 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten nur etwa 13.500 sorbische Katholiken in der Oberlausitz, also ungefähr ein Dreizehntel aller Sorben.2 Diese Tatsache beeinflusste erheblich die Entwicklung des Nationallebens der Sorben in den nachfolgenden Zeiten. Die Unterschiede zwischen den obersorbischen Katholiken und Protestanten wirkten sich im Dialekt, in der Literatur und beispielsweise auch in der Kleidung aus. Die sorbischen Anwärter für das Amt des protestantischen Geistlichen wurden ausschließlich im deutschen Sprachraum ausgebildet; oft heirateten sie deutsche Frauen, 1  Für Details zur Geschichte der katholischen Sorben siehe Neander [Jakub Nowak-Horjanski]: Wobrazy z  cyrkwinskich stawiznow katolskich Serbow [Bilder aus der Kirchengeschichte der katholischen Sorben]. Budyšin 1920; Tomasz Kowalczyk: Die katholische Kirche und die Sorben. 1919–1990. Bautzen 1999. 2  Vgl. Adolf Černý: U lužických katolíků [Bei den Lausitzer Katholiken]. In: Světozor [Weltbetrachtung] 31, Nr. 9, 8.1.1897, S. 99; Nr. 10, 15.1.1897, S. 116 ff.; Nr. 11, 22.1.1897, S. 123, 126; Nr. 12, 29.1.1897, S. 139 f., 142; Nr. 13, 5.2.1897, S. 154 f.; Nr. 14, 12.2.1897, S. 162 f.



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gemischte Ehen nahmen auch unter einfachen Gläubigen zu. Die Zugehörigkeit der evangelischen Lausitzer Gemeinden zu drei Kirchen – in der ehemaligen sächsischen Oberlausitz war es die Evangelisch-Lutherische Kirche, in der ehemaligen preußischen Oberlausitz die Schlesische Landeskirche (nach dem Verlust Schlesiens das Görlitzer evangelische Gebiet) und in der Niederlausitz die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz – führte weiterhin zur Spaltung der sorbischen Protestanten, und die Anzahl von in ihrer Muttersprache gehaltenen Predigten sank. Bereits im 19. Jahrhundert gab es in der Niederlausitz und in der preußischen Oberlausitz einen deutlichen Mangel an evangelischen Geistlichen. Einen negativen Einfluss auf das evangelische Leben der Sorben übte vor allem der Zusammenschluss der lutherischen Protestanten und der reformierten Kirche zur Evangelischen Kirche der Union in Preußen im Jahr 1817 aus. Infolgedessen verließ ein Teil der sorbischen Gläubigen die Kirche und gründete die Altlutherische Kirche mit Sitz in Weigersdorf (Wukrančicy) in der preußischen Oberlausitz und in Döbbrick (Depsk) in der Niederlausitz.3 Unterschiedlich entwickelte sich die Situation der sorbischen Katholiken in der Oberlausitz. Auch dort sank ihre Zahl, und die sorbischen Theologen studierten insbesondere in Böhmen, Schlesien, im Rheinland oder in Rom. Viele von ihnen kehrten nicht mehr in die Lausitz zurück und blieben an ihrem Studienort. Zu einer Änderung hätte es erst dann kommen können, wenn die sorbischen katholischen Studenten in einem Zentrum und in relativ großer Anzahl ausgebildet worden wären. Das von der Lausitz nicht allzu weit entfernte Prag, wo bereits manche von ihnen studiert hatten und einige auch ihren Priesterberuf ausübten, erfüllte diese Bedingungen. Dessen waren sich die Brüder Měrćin Norbert Šimon (Martin Norbert Schimon, 1637–1707) und Jurij Józef Šimon (Georg Josef Schimon, 1646–1729), die als Geistliche in Prag tätig waren, bewusst. Sie unterstützten junge Sorben während ihres Studiums. Zu diesem Zweck kauften sie ein Haus, das als Wendisches Seminar St. Petri bekannt wurde. Für zwölf Jungen aus der Oberlausitz, die sich für das Theologiestudium interessierten, gründeten sie auch eine Stiftung. Später erwarben sie ein Grundstück und 1728 wurde hier, auf der Kleinseite in Prag, das neue Gebäude des Wendischen Seminars fertiggestellt (Abb. 1). Junge Anwärter für das Theologiestudium wohnten hier und vervollkommneten sich in Sorbisch, um nach dem Abschluss ihres Theologiestudiums als Geistliche im katholischen Teil der Oberlausitz wirken zu können. Die Bedeutung Prags in der Ausbildung der sorbischen katholischen Geistlichkeit stieg somit dank des Wendischen Seminars auf der Kleinseite 3  Vgl. Zdeněk Boháč: České země a Lužice [Die Böhmischen Länder und die Lausitz]. Tišnov / Budyšín 1993, S. 132.

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Abb. 1: Das Gebäude des ehemaligen Wendischen Seminars in Prag auf der Kleinseite (Foto: Petr Kaleta, 9.  März 2012).

erheblich. Im Seminar wurden Gymnasiasten, die das Kleinseitner Jesuitengymnasium (später das deutsche Kleinseitner Gymnasium) besuchten, sowie die Theologiestudenten der Prager Universität untergebracht. Dank der Brüder Šimon gewann die katholische sorbische Lausitz auf der Kleinseite eine Bildungsstätte, mit deren Hilfe sich das Nationalbewusstsein der Sorben entwickeln konnte. Insbesondere im 19. Jahrhundert wurde das Wendische Seminar in Prag zu einem der wichtigsten Zentren der „nationalen Wiedergeburt“ der Sorben; die böhmische Metropole spielte neben Bautzen die Rolle einer „zweiten Hauptstadt“ der Sorben. Als Berater (dohladowar) waren hier bei der Ausbildung der Sorben führende Vertreter der tschechischen Bewegung und der Prager Slawistik tätig: Josef Dobrovský (1753– 1829), Václav Hanka (1791–1861), Karel Jaromír Erben (1811–1870) und Martin Hattala (1821–1903). Der sorbische Jugendverein Serbowka wurde hier gegründet und im Seminar wuchsen viele bedeutende Persönlichkeiten der „nationalen Wiedergeburt“ der Sorben heran, z. B. Jan Pětr Jordan ­(Johann Peter Jordan, 1818–1891), Michał Hórnik (Michael Hornig, 1833– 1894), Jurij Łusčanski (Georg Wuschanski, 1839–1905) oder Jakub BartĆišinski (Jacob Barth, 1856–1909). Ab 1815 wurden auch deutsche Interessenten für das Theologiestudium aus der Lausitz ins Wendische Seminar aufgenommen. Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete das Bistum Meißen mit Unbehagen den Einfluss der sich entwickelnden tschechischen Wissenschaft, der Kultur und des politi-



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schen Denkens auf die Sorben, und es begann, die Einstellung der Tätigkeit des Seminars voranzutreiben. Deutsche Seminaristen waren den sorbischen Seminaristen damals bereits zahlenmäßig überlegen. Im Jahr 1922 wurden insgesamt nur fünf Studenten (drei Deutsche und zwei Sorben) aufgenommen. Im gleichen Jahr beschloss der Bischof von Meißen Christian Schreiber (1872–1933) die Auflösung des Seminars. Danach setzten die Theologen ihr Studium in Deutschland fort, das Gebäude des Wendischen Seminars wurde ein Amtsgebäude des Landes Böhmen.4 III. Wissenschaftliches Interesse, Publizistik und die ersten Lyrikübersetzungen Am Anfang des tschechischen wissenschaftlichen Interesses für die Sorben stand Josef Dobrovský, der als einer der Begründer der Slawistik angesehen werden kann. Dobrovský kannte einige Sorben seit seiner Studienzeit in Prag, wo er z. B. den späteren Bischof Franc Jurij Lok (Franz Georg Lock, 1751–1831), den Kanonikus Mikławš Jakub Fulk (Nikolaus Jakob Vulk, 1754–1829) und den Bautzener Kaplan Jakub Žur (Jakob Sauer, 1754–1799) kennengelernt hatte. Mit einigen Denkmälern des sorbischen Schrifttums machte er sich beim Studium der Bibel im Jahr 1778 vertraut. Mit einer eingehenden Erforschung des Sorbischen begann er allerdings erst Anfang der 1790er Jahre, als er das Werk Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur (1792) vorbereitete, in dem das Nie­dersorbische und das Obersorbische als gemischte „Mundarten“ (Sprachen) des Polnischen und Tschechischen – nicht etwa als selbständige „Mund­arten“ – betrachtet werden. Dobrovský unterhielt sehr wichtige fachliche Kontakte zu  Karl Gottlob von Anton (1751–1818), mit dem er in einem Briefwechsel Erkenntnisse über das Sorbische austauschte. In der Zeit eines relativ systematischen Interesses für Sorbisch machte er sich auch mit der niedersorbischen Übersetzung des Alten Testaments von Jan Bjedrich Fryco (Johann Friedrich Frietze, 1747–1819) vertraut. Dobrovskýs Interesse für die Sprache der Sorben führte ihn wahrscheinlich bald ins Wendische Seminar. Er kam dorthin, um sorbische Seminaristen zu unterrichten, und von ihnen erhielt er auch viele Forschungsimpulse. Bereits im Einführungsjahrgang seiner Fachzeitschrift Slovanka im Jahr 1814 veröffentlichte er Nathanael Gottfried Leskes (Nathanael Bohuměr Leskas, 1751–1786) Studie Reise durch Sachsen (Leipzig 1785)5 4  Für Details zur Geschichte des Wendischen Seminars siehe Zdeněk Boháč: Serbski seminar w Praze [Das Wendische Seminar in Prag]. In: ders.: České země a Lužice (wie Anm. 3), S. 41–48; Antonín Morávek / Vladimír Zmeškal: Lužický dům v  Praze 1728–1948 [Das Wendische Haus in Prag 1728–1948]. Praha 1948. 5  Vgl. Slovanka 1 (1814), S. 98–103.

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über die Sorben im Raum Muskau (Mužakow). Schon damals hielt Dobrovský beide sorbischen Dialekte für selbständige „Mundarten“ (Sprachen). Im Jahr 1825 brach er zu einem Forschungsaufenthalt in die Lausitz auf. Er hielt sich beispielsweise in Bautzen beim Dekan Lok auf, doch er begab sich auch in die Niederlausitz. Im Raum Pförten (Brody) leitete er archäologische Untersuchungen, bei denen es ihm gelang, zehn Aschenkrüge aufzuspüren. Ein Jahr später erhielt das Nationalmuseum neun Keramikgefäße der Lausitzer Kultur aus der Jüngeren Steinzeit; es ist sehr wahrscheinlich, dass Dobrovský die Museumssammlungen um seine Funde bereicherte.6 Nach seiner Rückkehr nach Böhmen begann er, an einer obersorbischen Grammatik zu arbeiten, die den in Prag lebenden sorbischen Seminaristen als Studienhilfsmittel dienen sollte. 1828 war sie zum großen Teil fertig, aber im fortgeschrittenen Stadium seiner Erkrankung zerstörte Dobrovský sein Werk eigenhändig.7 Seine Grammatik des Tschechischen war jedoch Vorbild für die Herausgabe der ersten modernen obersorbischen Grammatik von Handrij Zejler (Andreas Seiler, 1804–1872), die unter dem Titel Kurzgefasste Grammatik der SorbenWendischen Sprache nach dem Budissiner Dialekte (Budissin 1830) erschien. Auf Dobrovskýs Arbeit stützt sich außerdem Jan Pětr Jordans Werk Grammatik der wendisch-serbischen Sprache in der Oberlausitz. Im Systeme Dobrowskýs abgefasst (Prag 1841).8 Auch für weitere Generationen tschechischer Slawisten waren die Sorben Gegenstand der Forschung. Pavel Josef Šafařík (1795–1861)9 fügte in seine Publikation Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten (Ofen 1826) bereits ein Kapitel über die sorbische Sprache und Literatur ein. In seiner Studie fasste er jedoch nur die bis dahin bekannten Erkenntnisse zusammen, die vor allem von Dobrovský publiziert worden waren. Er betrachtete Ober- und Niedersorbisch als selbständige slawische „Mundarten“ (Sprachen). Aufgrund einer systematischen Erforschung charakterisierte er das Sorbische in Slovanský národopis (Slawische Ethnographie, Prag 1842) als „westliche Sprache“, welche sich weiter in die obersorbische und die niedersorbische „Sprache“ teile, und diese sich dann noch in etliche Untersprachen differenziere.

6  Für Details siehe Jitka Hralová / Karel Sklenář: Nálezy keramiky lužické kultury z Lužice v Národním muzeu [Keramikfunde der Lausitzer Kultur aus der Lausitz im Nationalmuseum]. Praha 1985, S. 1–13. 7  Vincenc Brandl: Život Josefa Dobrovského [Das Leben von Josef Dobrovský]. 2. Aufl. Praha 2003, S. 215. 8  Zu Dobrovskýs Interesse für Sorabistik siehe Josef Páta: Josef Dobrovský a Lužice [Josef Dobrovský und die Lausitz]. Praha 1929. 9  Vgl. Jan Petr: Šafaříkův přínos k  rozvoji sorabistiky [Šafaříks Beitrag zur Entwicklung der Sorabistik]. In: Slavica Pragensia 3 (1961), S. 31–40.



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Zu Dobrovskýs Schülern und den tschechischen „Erweckern“ mit Interesse für die Sorben gehörte František Ladislav Čelakovský (1799–1852).10 Gleich der erste Band seiner Slawischen Nationallieder enthielt als Beispiel den Text Serbsko spěwaňo (Wendisches Lied).11 Acht Jahre später publizierte er ausgewählte niedersorbische Nationallieder unter dem Titel Prostonárodní písně Slovanů v  Lužici (Volkstümliche Lieder der Slawen in der Lausitz).12 Diese Studie gilt als die älteste gedruckte Sammlung niedersorbischer Volkslieder in den slawischen Lebenskreisen. Čelakovský widmete sich auch der sorbischen Sprache. Er bereitete ein sorbisches etymologisches Wörterbuch vor und erwog die Herausgabe einer sorbischen Grammatik. Beide Projekte blieben jedoch unvollendet. Einen nicht geringen Einfluss auf Čelakovskýs Interesse für sorabistische Themen hatte sein Aufenthalt in Breslau (Wrocław) in den Jahren 1842 bis 1849; hier gehörte der Sorbe Jan Awgust Warko (Johann August Warko, 1821–1862), später evangelischer Geistlicher, zu seinen Zuhörern. Dank eines anderen bedeutenden tschechischen Gelehrten, der damals in Breslau wirkte – Jan Evangelista Purkyně (1787–1869)13 –, lernte er Jan Arnošt Smoler (Johann Ernst Schmaler, 1816–1884) kennen, der später eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der „nationalen Wiedergeburt“ der Sorben werden sollte. Auch nach ihrer Abreise aus Breslau unterrichteten sie sich gegenseitig über ihre patriotische Tätigkeit. Čelakovský beeinflusste unter anderem die Fertigstellung von Smolers Konzeption der analogen obersorbischen Rechtschreibung, und Smoler übersetzte zusammen mit Warko wiederum Čelakovskýs Ohlas písní ruských (Widerhall russischer Lieder), der als Wothłós pěsni ruskich im Jahr 1846 in Prag erschien. Im Jahr 1847 waren Čelakovský und Purkyně Mitbegründer des sorbischen Kultur- und Wissenschaftsvereins Maćica Serbska (Sorbische Mutter).14 Čelakovský widmete sich auch weiterhin der sorbischen Problematik. Seine umfangreiche Arbeit über die slawischen Sprichwörter Mudrosloví národu slovanského ve příslovích (Weisheit des slawischen Volkes in Sprichwörtern, Prag 10  Vgl. Jan Petr: Čelakovský a Lužičtí Srbové [Čelakovský und die Lausitzer Sorben]. In: Práce z  dějin slavistiky [Arbeiten zur Geschichte der Slawistik] 11 (1988), S. 207–244. 11  František Ladislav Čelakovský: Slovanské národní písně, Bd. 1 [Slavische Volkslieder]. Praha 1822, S. 194–200. 12  Vgl. ČČM 4 (1830), H. 4, S. 379–406. 13  Zu Purkyněs Kontakten zu Sorben siehe Josef Šaur: Jan Evangelista Purkyně a Lužičtí Srbové. Příspěvek k česko-lužickosrbským vztahům [Jan Evangelista Purkyně und die Lausitzer Sorben. Ein Beitrag zu den sorbisch-tschechischen Beziehungen]. In: Lětopis [Chronik] 54 (2007), H.  2, S. 39–55. 14  Vgl. Zdeněk Urban: Český podíl na vzniku a činnosti Matice lužickosrbské [Die tschechische Beteiligung an der Gründung und den Aktivitäten von Maćica Serbska]. In: Lětopis 44 (1997), H.  2, S. 22–30.

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1851) enthält ungefähr einhundertfünfzig sorbische Sprichwörter und etwa vierzig sorbische Redewendungen. Regelmäßig bezog er das Sorbische in seine sprachwissenschaftlichen Vorlesungen ein, und diese wurden auch in seine postum erschienene Arbeit Čtení o srovnávací mluvnici slovanské (Lesung über die vergleichende slawische Grammatik, Prag 1853) aufgenommen. In den darauffolgenden Dezennien setzte sich das Interesse der tschechischen Gelehrten für die Sorben noch intensiver fort.15 Ein anderer Schüler Dobrovskýs, Václav Hanka, übte einen erheblichen Einfluss auf die Erziehung der sorbischen Studenten im Wendischen Seminar aus.16 Ab 1829 war er offizieller Berater der sorbischen Seminaristen, er leitete praktische Übungen in der sorbischen Sprache und machte mit den Grundlagen slawischer Sprachen und Literaturen vertraut. Zur Zeit seines Wirkens am Seminar erfuhr der sorbische „nationale Geist“ einen großen Aufschwung unter den Studenten. Im Jahr 1846 wurde der sorbische Jugendverein Serbowka (Die Sorbische) gegründet. Zu den begabtesten Schülern gehörte Jan Pětr Jordan, ein Sprachwissenschaftler, der unter Hankas Leitung die bereits angeführte Grammatik des Sorbischen in der ReformRechtschreibung im lateinischen Alphabet verfasste. Ein weiterer, nicht weniger bedeutender Schüler Václav Hankas war später Michał Hórnik, ab den 1880er Jahren ein wichtiger Anführer der sorbischen Nationalbewegung. Hanka erwarb sich auch als Bibliothekar des Nationalmuseums in  Prag, in dem er die sorbische Abteilung gewissenhaft vervollständigte, große Verdienste. Diese Abteilung verfügte über eine relativ gute Sorabika-Sammlung. Nach Hankas Tod trat Karel Jaromír Erben die Stelle des Beraters am Wendischen Seminar an.17 Im Unterricht bevorzugte Erben insbesondere die historische Problematik und speziell die slawische Mythologie, der er sich damals widmete. Auch dank der sorbischen Studenten gewann er den sorbischen Stoff für seine Anthologie slawischer Märchen Sto prostonárodních pohádek a pověstí slovanských v  nářečích původních. Čítanka slovanská s  vysvětlením slov (Hundert volkstümliche slawische Märchen und Sagen in ursprünglichen Mundarten. Ein slawisches Lesebuch mit Worterklärungen, 15  Für Details siehe Petr Kaleta: Češi o Lužických Srbech. Český vědecký, publicistický a umělecký zájem o Lužické Srby a sorabistické dílo Adolfa Černého [Tschechen über die Lausitzer Sorben. Das tschechische wissenschaftliche, journalistische und künstlerische Interesse an den Lausitzer Sorben und die sorabistische Arbeit von Adolf Černý]. Praha 2006. 16  Für Details siehe Miloslava Lorencová: Václav Hanka a Lužičtí Srbové [Václav Hanka und die Lausitzer Sorben]. In: Lětopis. Reihe A (1955), H. 3, S. 155–205. 17  Für Details siehe Jiří Mudra: K. J. Erbenowe skutkowanje za Serbow. Přinošk k  čěsko-serbskim kulturnym poćaham [Der Einfluss K. J. Erbens auf die Sorben. Ein Beitrag zu den tschechisch-sorbischen Kulturbeziehungen]. In: Lětopis. Reihe A 15 (1968), H.  2, S. 182–200.



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Prag 1865). Der letzte Lehrer der Sorben im Seminar war der Slowake Martin Hattala.18 Während seines Wirkens kam es zu einem großen Aufschwung des Vereins Serbowka. Seine Arbeiten zur Syntax wurden unter anderem Vorbild für die Syntax der wendischen Sprache in der Oberlausitz von Georg Liebsch (Juríj Libš, Bautzen 1884), die Hattalas Konzept der Anordnung des Materials erkennen lässt. Am Anfang des systematischen publizistischen Interesses für die sorbische Problematik stand der Übersetzer, Schriftsteller und tschechische Na­ tionalaktivist František Doucha (1810–1884).19 Er war zugleich der erste Übersetzer sorbischer Gedichte ins Tschechische. Den Anstoß für sein Interesse an dieser Thematik gab ein Treffen mit Jan Pětr Jordan im Jahr 1839 im nordböhmischen Ort Bad  Liebwerda (Lázně  Libverda). Von 1840 bis zu seinem Tod schrieb Doucha über das kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Leben der Sorben in der Zeit ihrer nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Er publizierte seine Aufsätze, Berichte und Übersetzungen in führenden wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Zeitungen und Zeitschriften: Časopis Českého museum (Zeitschrift des Tschechischen Museums), Česká včela (Tschechische Biene), Dennice (Tagesstern), Poutník (Pilger), Pražské noviny (Prager Zeitung), Světozor (Weltbetrachtung) und Zlatá Praha (Goldenes Prag). Die meisten Beiträge aus seiner Feder hatten informativen Charakter und trugen somit auch zur Popularisierung der sorbischen Frage in den tschechischen Leserkreisen bei. Wichtig sind darüberhinaus seine Übersetzungen obersorbischer und niedersorbischer Gedichte und Lieder ins Tschechische, von denen einige in Pavel Josef Šafaříks Slovanský národopis (Slawische Volkskunde) zu finden sind. Neben Jordan war Doucha z. B. auch mit Jan Arnošt Smoler bekannt und besuchte ebenfalls das Wendische Seminar. IV. Die Entstehung der tschechischen universitären Sorabistik Im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem sich die slawistischen Disziplinen formierten, begann man auch die Sorabistik als selbständige Disziplin wahrzunehmen, und zwar sowohl im engeren (Sprache und Literatur der Sorben) als auch im breiteren Sinn (als Wissenschaft, die sich zudem mit der Geschichte, Ethnologie und anderen Disziplinen befasst). Die Anfänge der Sorabistik kann man bereits im 18. Jahrhundert finden, zur Zeit des Aufschwungs 18  Für Details siehe Jiří Mudra: Praska Serbowka w dobje dohladowarstwa Měrćina Hattale (1872–1903) [Die Prager Serbowka in der Zeit der Berater-Tätigkeit von Martin Hattala]. In: Lětopis. Reihe A  21 (1974), H.  1, S. 58–93. 19  Vgl. Petr Kaleta: František Doucha a Lužičtí Srbové [František Doucha und die Lausitzer Sorben]. In: Lětopis 50 (2003), H.  2, S. 53–66.

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einiger deutscher Vereine, die sich auf das Studium der Sprache der Sorben konzentrierten (Wendisches Predigercollegium in Leipzig und Wittenberg oder die Oberlausitzer Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz). František Ladislav Čelakovský war wahrscheinlich der erste Tscheche, der die sorabistischen Disziplinen (neben der Sprachwissenschaft auch die Folklore, Parömiologie und Geschichte) in seine Vorträge in Breslau und Prag aufnahm. An Jan Ladislav Mašeks (1828–1886) Schule für slawische Sprachen in Prag unterrichtete der damalige Vorsitzende der Jugendvereinigung Serbowka Jakub Šewčik (Jakob Schewtschik, 1867–1935)20 im Schuljahr 1889 / 90 Sorbisch in zwanzig Lektionen. An der Prager Karl-Ferdinands-Universität war der Sprachwissenschaftler Jiří Polívka (1858–1933) für den Sorbisch-Unterricht zuständig. Ab dem Schuljahr 1895 / 96 fügte er diese Sprache in seine Vorlesung über die vergleichende Phonetik slawischer Sprachen ein. Polívka verfolgte zugleich die Entwicklung der Sora­ bistik in Deutschland und war mit den bedeutendsten sorbischen Forschern – einschließlich Arnošt Muka (Ernst Mucke, 1854–1932) – bekannt. Zu seinen wichtigsten Verdiensten gehörte jedoch die Errichtung des Lektorats für sorbische Sprache an der Karl-Ferdinands-Universität. Kandidat für diese Stelle war Adolf Černý (1864–1952, Abb. 2), damals bereits ein beschlagener Sorabist, der viele Übersetzungen, wissenschaft­ liche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen in Zeitschriften sowie Buchpub­likationen vorzuweisen hatte. Seine Forschungen beeinflussten zugleich die „nationale Wiedergeburt“ der Sorben. An dieser Stelle seien vor allem seine wissenschaftliche Monografie über die sorbische Mythologie Mythiske bytosće łužiskich Serbow (Das mythische Wesen der Sorben, Bautzen 1898), die erste ausführliche Studie über die Geschichte der sorbischen Dichtkunst Stawizny basnistwa łužiskich Serbow (Geschichte der Poesie der Sorben, Bautzen 1910) sowie die populärwissenschaftliche Publikation Lužice a Lužičtí Srbové (Die Lausitz und die Lausitzer Sorben, Prag 1912) genannt. Černý veröffentlichte unter anderem auch seine eigenen Aufsätze und Übersetzungen in den sorbischen Zeitschriften Łužica (Lausitz) und Časopis Maćicy Serbskeje (Hefte der Maćica Serbska) und in verschiedenen tschechischen Zeitungen und Zeitschriften.21 Im Wintersemester 1901 / 02 trat Černý die Stelle eines Lektors für Sorbisch und Polnisch an der Prager Universität an. Während seines langjähri20  Vgl. Jiří Mudra: Prěni kurs serbšćiny za Čechow w Praze [Der erste tschechische Sorbischkurs in Prag]. In: Lětopis. Reihe A 24 (1977), H.  1, S. 93–102. 21  Für Details zur sorabistischen Arbeit Adolf Černýs siehe Kaleta: Češi o Lužických Srbech (wie Anm. 15), S. 125–221; Zdeněk Valenta: Korespondence Adolfa Černého s  Arnoštem Mukou z  let 1885–1891 [Der Briefwechsel von Adolf Černý mit Arnošt Muka in den Jahren 1885–1891]. Bd. 1. Ústí nad Labem 2011.



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Abb. 2: Adolf Černý, Anfang der 1880er Jahre (Foto: Staatliches Bezirksarchiv Hradec Králové).

gen Wirkens in dieser Funktion (1901 bis 1922) unterrichtete er überwiegend obersorbische Konversation und Grammatik, in der Regel zwei Stunden wöchentlich.22 Es ist bemerkenswert, dass Černý ab dem Wintersemester 1911 / 12 auch als Lektor für Serbokroatisch tätig war. Dies zeugt von seinen weitreichenden Kenntnissen der slawischen Sprachen. Nachdem Černý in den Staatsdienst getreten war, übernahm der Sorbe Mikławš Krječmar (Nikolaus Kretschmer, 1891–1967) die Stelle des Lektors in Prag. Černýs Schüler Josef Páta (1886–1942) wurde 1922 Dozent für sorbische Sprache und Literatur, 1933 schließlich außerordentlicher Professor für dieses Fach. Gerade Páta trug erheblich zur Entwicklung der tschechischen Sorabistik in der Zwischenkriegszeit bei, auch seine Verdienste um die Popularisierung der sorbischen Problematik in der Tschechoslowakei waren nicht unbe­ deutend. Es seien hier stellvertretend folgende Veröffentlichungen genannt: Z čěskeho listowanja J. E. Smolerja (Aus der tschechischen Korrespondenz 22  Für Details zu Černýs Tätigkeit in der Funktion als Lektor für Sorbisch siehe Jan Petr: Adolf Černý als Lektor für Sorbisch an der Universität Prag. In: Lětopis. Reihe B (1976), H.  2, S. 163.

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von J. A. Smoler),23 Zawod do studija serbskeho pismowstwa (Einführung in das Studium des sorbischen Schrifttums, Bautzen 1929) oder Lužické stati (Lausitzer Beiträge, Prag 1937). Die Karlsuniversität wurde somit die erste universitäre Bildungsstätte, in der ein Lehrstuhl für Sorabistik eingerichtet wurde. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb dieser das Zentrum dieses Faches. V. Die Gesellschaft der Freunde der Sorben Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in Prag jene Institution gegründet, die in den darauffolgenden Dezennien einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der tschechisch-sorbischen Kontakte ausüben sollte. Der sorbische Student Jan Bryl (Johann Brühl, 1879–1931) und eine Gruppe von Studenten des von Černý geleiteten Lektorats für sorbische Sprache gründeten 1907 zu Ehren ihres Lehrers im Prager Hlávka-Studentenheim (Hlávkova kolej) den Studentenverein Łužiskoserbske towarstwo „Adolf Černý“ w Prazy (Sorbischer Verein „Adolf Černý“ in Prag). Der Verein hatte sieben Gründungsmitglieder: die Sorben Jan Bryl, Jurij Hantuš (Georg Hantusch) und Cyril Wjenka (Cyril Wenke) und die Tschechen František Páta, Josef Páta, Cyril Stefan und Vilém Štekl. Die grundsätzliche Absicht der Gründer war es, die sorbische Sprache zu üben und die sorbische Wissenschaft und Kultur näher kennenzulernen. Die Aktivitäten des Vereins wurden allerdings durch den Ersten Weltkrieg für kurze Zeit unterbrochen. Die Erneuerung des Vereins im Jahr 1918 brachte einen neuen Aufschwung. Schnell wuchs die Mitgliederbasis, und es entstanden neue Zweigstellen. 1919 wurde der Verein in Tschechisch-Sorbischer Verein „Adolf Černý“ umbenannt, und im Jahr 1931 hieß er Tschechoslowakisch-Sorbischer Verein „Adolf Černý“. Ein Jahr später kam es zu einer erneuten Namensänderung, und zwar in Gesellschaft der Freunde der Sorben. Diese Bezeichnung sollte in der folgenden Periode das Hauptsymbol der tschechisch-sorbischen Kontakte werden. In den 1930er Jahren erlebte die Organisation einen außergewöhnlichen Aufschwung und hatte schließlich mehr als 3.000 Mitglieder.24 Zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Vereins gehörten in der Zwischenkriegszeit der Vorsitzende Jan Hejret (1868–1947), der Geschäftsführer Vladimír Zmeškal (1902–1966) und der bereits erwähnte Josef Páta. 23  In: Časopis Maćicy Serbskeje (1918), S. 49–100; ebd. (1919), S. 3–112; ebd. (1922), S. 71–80. 24  Petr Ledvina: Přehled dějin Společnosti přátel Lužice v  letech 1907–1939 [Überblick über die Geschichte der Gesellschaft der Freunde der Sorben in den Jahren 1907–1939]. In: Marcel Černý / Petr Kaleta (Hrsg.): Stoletý most mezi Prahou a Budyšínem. Společnost přátel Lužice [Eine hundertjährige Brücke zwischen Prag und Bautzen. Die Gesellschaft der Freunde der Sorben]. Praha 2008, S. 44 f.



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Die Kontakte zwischen Tschechen und Sorben wurden durch den Zweiten Weltkrieg erneut unterbrochen, die Tätigkeit der Gesellschaft der Freunde der Sorben wurde sogar eingestellt. Zu ihrer Erneuerung kam es am 8. Juni 1945 im Großen Saal des Prager Bürgerlichen Vereinshauses. Ihr Vorstand mit Zmeškal an der Spitze unterstützte den Anschluss der Lausitz an die Tschechoslowakei, diese Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg. Die Periode 1945 / 46 kann als Höhepunkt des Interesses der tschechoslowakischen Einwohner für die Sorben angesehen werden. Dies belegt auch das Wachstum der Mitgliederbasis der Gesellschaft bis auf 8.450 im Jahr 1946.25 Das Jahr 1948 brachte eine grundsätzliche Änderung in der Entwicklung der Tschechoslowakei, wobei die Tätigkeit der tschechoslowakischen Vereine allmählich eingestellt wurde. Die Repräsentanten der Gesellschaft der Freunde der Sorben suchten nach Möglichkeiten, wie sie ihre Auflösung verhindern konnten. Darum wandelte sich der Verein im Jahr 1955 in die Abteilung für das Studium der sorbischen Kultur bei der Gesellschaft der Freunde des Nationalmuseums um, in deren Rahmen die Vereinsarbeit fortgesetzt werden konnte – ab 1976 dann als Abteilung für Studium der sorbischen Kultur. Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Interesses für die Sorben in der Tschechoslowakei waren das Jahr 1989 und die politischen Änderungen, zu denen es gegen Ende jenes Jahres kam. Die Abteilung für das Stu­ dium der sorbischen Kultur bei der Gesellschaft des Nationalmuseums mit Zdeněk Boháč (1933–2001) an der Spitze benannte sich im Jahr 1990 in Vereinigung der Freunde der Lausitz um. Zu dieser Zeit nahm jedoch auch das Interesse der jungen Generation, insbesondere der Gymnasiasten, zu, die im Jahr 1990 den Verein der tschechisch-sorbischen Jugend gründeten,26 der sich Mitte der 1990er Jahre aufgrund der Erweiterung seiner Mitgliederbasis in den Tschechisch-Sorbischen Verein umwandelte. Beide Organisationen wirkten dann mehr als zehn Jahre selbständig. Erst 2002 wurde der Tschechisch-Sorbische Verein in die erneuerte Gesellschaft der Freunde der Sorben eingegliedert. Im Jahr 2003, als die Mitglieder der Vereinigung der Freunde der Lausitz der Gesellschaft beitraten, kam es zum Zusammenschluss beider Organisation unter der traditionellen Bezeichnung: Nach mehr als fünfzig Jahren trug sie wieder den Namen Gesellschaft der Freunde der Sorben. Erster Vorsitzender wurde der Ethnologe Leoš Šatava (* 1954).27 25  Petr Ledvina: Společnost přátel Lužice v  Praze v  letech 1907–1948 [Die Gesellschaft der Freunde der Sorben in Prag in den Jahren 1907–1948]. Diplomová práce [Di­plomarbeit], Opava 2005, S. 132. 26  Registriert am 1. März 1991. 27  Für Details siehe Petr Kaleta: Společnost přátel Lužice a pražská sorabistika v letech 1990–2010 [Die Gesellschaft der Freunde der Sorben und die Prager Sorabistik in den Jahren 1990–2010]. In: Ivo Pospíšil / Josef Šaur et  al.: Sorabistika.

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Heute hat die Gesellschaft ihren Sitz erneut im Gebäude des Wendischen Seminars auf der Kleinseite, das sie von 1946 bis 2002 genutzt hatte. Anfang 2012 zählte ihre Mitgliederbasis 141 Personen, nicht nur aus der Tschechischen Republik, sondern auch aus Deutschland, Polen und der Slowakei. VI. Die Lausitz als politisches Problem Vor dem Ersten Weltkrieg war die nationale Identität der Sorben besonders stark ausgeprägt. Ab 1847 war die wissenschaftliche Gesellschaft Maćica Serbska tätig, es existierten verschiedene Periodika, wissenschaft­ liche und populärwissenschaftliche Zeitschriften, wissenschaftliche Veröffentlichungen und eine relativ konkurrenzfähige Belletristik. 1897 wurde der Grundstein für das Wendische Haus (Serbski dom) gelegt. 1904, als das neue Haus feierlich eröffnet wurde, war auch das Völkerkundliche und Historische Museum, dessen Grundlage die sorbische Abteilung der ehemaligen Dresdner Ausstellung bildete, in seinen Räumen zu finden.28 Die führenden Persönlichkeiten des sorbischen Wissenschafts- und Vereinslebens waren der Sprachwissenschaftler und Ethnologe Arnošt Muka, der literarische Matador der sorbischen Lausitz, sowie der Dichter und ehemalige Zögling des Wendischen Seminars Jakub Bart-Ćišinski.29 1912 wurde dann die Domowina – Zwjazk Łužiskich Serbow (Bund Lausitzer Sorben), die Dachorganisation der Sorben, gegründet. Der Erste Weltkrieg stoppte jedoch jegliche Aktivitäten der Sorben, auch die Kontakte nach Böhmen wurden erheblich eingeschränkt. Mit dem nahenden Ende des Krieges war abzusehen, dass es insbesondere in Mittelund Osteuropa infolge der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns zu großen Veränderungen kommen würde. Auch unter manchen Sorben machte sich eine hoffnungsvolle Stimmung breit, insbesondere mit der Aussicht auf die Verselbständigung der Lausitz und deren Abtrennung von Deutschland. Die Anzahl der Sorben in der Lausitz war jedoch sehr gering. Laut näheren statistischen Angaben zur sorbischen Bevölkerung, die Arnošt Muka dreißig Jahre vor dem Krieg in den Jahren 1880 bis 1884 vorgelegt hatte, wurden damals 166.000 Sorben gezählt, aber ihre Anzahl war bis zum Metodologie, zkušenosti a budoucí směřování [Sorabistik. Methoden, Erfahrungen und zukünftige Ausrichtung]. Brno 2011, S. 29–38. 28  Vgl. Jan Bryl-Serbin: Serbski dom w Budyšinje. Stawizny jeho nastaća a wuwića [Das Wendische Haus in Bautzen. Geschichte seiner Entstehung und Entwicklung]. Budyšin 1924. 29  Zu Bart-Ćišinski vgl. jetzt Dietrich Scholze / Franc Šěn (Hrsg.): Jakub BartĆišinski (1856–1909). Erneuerer der sorbischen Literatur. Sammelband der Internationalen Konferenz zum 100.  Todestag des Dichters, Bautzen und PanschwitzKuckau, 15.–17.10.2009. Bautzen 2011.



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Ende des Ersten Weltkrieges sicher gesunken. Diese Bevölkerungsgruppe war zum größten Teil immer noch ländlich geprägt, und nur ein Bruchteil der Sorben war politisch so aktiv, dass es möglich gewesen wäre, das na­ tionale Programm systematisch zu formulieren und dabei die Mehrheit der sorbischen Bevölkerung für eine Loslösung von Deutschland zu gewinnen. In der Vorkriegszeit hatte die Volksgruppe nur einen einzigen Reichstagsabgeordneten gestellt, und zwar Korla Awgust Mosak-Kłosopólski (Karl August Mosig von Aehrenfeld, 1820–1898), der 1867 in den Reichstag des Norddeutschen Bundes und 1871 in den neuen gesamtdeutschen Reichstag gewählt wurde. Trotzdem überwog unter der sorbischen Intelligenz die Hoffnung, dass sich die Lausitz mit ihrer sorbischen Bevölkerung von Deutschland trennen könnte. Im November 1918 wiesen Arnošt Bart (Ernst Barth, 1870–1956) und Michał Kokla (Michael Kockel, 1840–1922) im Sächsischen Landtag auf die Forderungen von 1848 hin, und in Bautzen wurde der Sorbische Nationalausschuss (Serbski narodny wuběrk) gegründet. Bald darauf wurde eine Proklamation gebilligt, die zur Vereinigung der slawischen Bevölkerung beider Lausitzen und zur Lösung ihrer nationalen Freiheiten durch eine Friedenskonferenz aufrief. Die Sorben sollten entweder in einem selbständigen Staat oder in einem autonomen Staatsgebilde vereint werden. Eine weitere Variante war der Anschluss an die neu entstandene Tschechoslowakische Republik. Die zentrale Figur der Popularisierung der sorbischen Frage war der tschechische Sorabist Adolf Černý. Er war der profundeste Kenner dieses Problems außerhalb der Lausitz und hielt es für selbstverständlich, dass die tschechoslowakische politische Repräsentation die Rechte der Sorben in Paris durchsetzen würde. Auch weitere Tschechen, wie z. B. Jan Kapras (1880–1947)30 oder Josef Páta31, artikulierten ihre separatistischen Standpunkte bezüglich eines solchen Anschlusses, und diese Möglichkeit wurde schließlich auch von Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) in Nová  Evropa (Das Neue Europa, Prag 1920) erwähnt. Anfang 1919 fuhren Arnošt Bart und Jan Bryl ohne Einladung zur Friedenskonferenz nach Paris, wo sich die offizielle tschechoslowakische Delegation mit dem Experten für die sorbische Problematik Adolf Černý und dem Statistiker Antonín Boháč (1882–1950) ihres Anliegens annahm. Die Repräsentanten der Mächte der Entente kannten die Problematik der Lausitz 30  Jan Kapras: Prawne stawizny Hornjeje a Delnjeje Łužicy za čas čěskeho knježerstwa [Die Rechtsgeschichte der Ober- und Niederlausitz in der Zeit der böhmischen Herrschaft]. Budyšin 1916; ders.: Lužice jako menšina [Die Lausitz als Minderheit]. Praha 1927; ders.: Lužice a český stát [Die Lausitz und der böhmische Staat]. Praha 1935. 31  Josef Páta: Lužice a mírový kongres [Die Lausitz und der Friedenskongress]. Praha 1920.

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nur oberflächlich, doch sie wussten, dass die Mehrheit der Bevölkerung germanisiert worden war und dass die Sorben vor allem in den zentralen Teilen beider Lausitzen lebten. Von Anfang an war es also sehr unwahrscheinlich, dass dieses Gebiet an die Tschechoslowakei angeschlossen werden würde, weil dadurch das Gleichgewicht im mitteleuropäischen Raum gestört worden wäre. Adolf Černý erarbeitete zwar weitere Memoranda zugunsten der Sorben in der Lausitz, aber auch sein Enthusiasmus konnte an der Lage wenig ändern. Der Tschechisch-Sorbische Verein „Adolf Černý“ sprach den Sorben auch in der Tschechoslowakei seine Unterstützung aus. Am 5.  Februar 1919 legte Edvard Beneš (1884–1948) das Memorandum über die Sorben vor, in dem er die Großmächte aufforderte, den vermeintlichen Untergang der slawischen Lausitz zu verhindern. Dieses Memorandum fand kaum Interesse bei den in Paris anwesenden Delegationen.32 Die sorbischen Repräsentanten versuchten noch im März 1919 die Forderung nach einer unabhängigen sorbischen Republik zu formulieren, später wurden diese Forderungen dann auf die bloße Autonomie innerhalb Deutschlands reduziert. Die Verhandlungen blieben indes erfolglos, und im Versailler Friedensvertrag wurden die Sorben gar nicht erwähnt. Im Gegenteil: Einige führende Repräsentanten der sorbischen Nationalbewegung – z. B. Arnošt Muka, Božidar Dobrucký (1893–1957) und nach seiner Rückkehr aus Paris auch Arnošt Bart – wurden verhaftet. Der Zweite Weltkrieg bot dann erneut Raum für die Debatte über die sorbische Problematik. Nach Kriegsende suchten die Sorben Rückhalt in ihren Bemühungen um die Erneuerung des Nationallebens bei den Tschechen. Der Vorsitzende des Sorbischen Nationalrates (Serbska ludowa rada), Jan Cyž (1898–1985), übermittelte im Mai 1945 eine Erklärung an den Staatspräsidenten Beneš, in der die „Befreiung“ der Sorben und der „Anschluss“ an die Tschechoslowakische Republik gefordert wurden. Kurz darauf nahm das Sorbische Na­tionalkomitee (später Sorbisches nationales Landeskomitee) in Prag seine Arbeit auf und verfolgte Ziel. Zugleich wurde am 10. Mai in Crostwitz (Chrósćicy) die gesamtnationale Organisation Domowina neu gegründet. Im September 1945 wurden in Bautzen der Sorbische Nationalrat und das Slawische Komitee errichtet. Und Anfang des Jahres 1946 wurde das Sorbische nationale Landeskomitee in Bautzen gegründet. 32  Ausführlich widmete sich zuletzt Chodějovský der Problematik der staatsrechtlichen Ordnung der Lausitz nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Jan Chodějovský: Lužice v plánech na vybudování nového Československa. Velké naděje a rychlé vystřízlivění českých slavistů [Die Lausitz in den Plänen, eine neue Tschechoslowakei bauen. Große Hoffnungen und schnelle Enttäuschungen der tschechischen Slawisten]. Diplomová práce [Diplomarbeit], Univerzita Karlova, Praha 2011.



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Die damaligen staatsrechtlichen und kulturellen Forderungen der sorbischen Organisationen wurden in verschiedenen Memoranden zwischen 1945 und 1947 formuliert.33 Sie verlangten die Selbständigkeit der Lausitz unter dem Mandat der Tschechoslowakei, Polens oder der vier Großmächte, die politische Neutralität des Landes und seine Unterstellung unter einen oder mehrere slawische Staaten, schließlich auch die Eingliederung beider Lausitzen in die Tschechoslowakei als deren autonome Bestandteile. Die Großmächte gingen jedoch auf keine der Forderungen ein. Das Hauptziel der sorbischen Nationalbewegung nach 1945, die Loslösung von Deutschland, wurde nicht erreicht. Eine wesentliche Rolle spielte damals das mangelnde Interesse der Sowjetunion, denn die Sowjets bevorzugten das Verbleiben der Lausitz in Deutschland. Polen und die Tschechoslowakei zogen die Regelung der eigenen Grenzen und die Vertreibung der Deutschen vor.34 Die wichtigste Änderung war für die Sorben die Annahme des Gesetzes zur Wahrnehmung der Rechte der Sorbischen Bevölkerung durch den Sächsischen Landtag am 23. März 1948, das die nationalen Grundrechte der sorbischen Minderheit garantierte. Nicht einmal das einundvierzigjährige Verbleiben der Lausitz innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik und die Zugehörigkeit zum Sowjet-Block erschütterten wesentlich das religiöse Empfinden der Sorben, allerdings sank ihre numerische Anzahl zunehmend.35 Nach der Auflösung der Gesellschaft der Freunde der Lausitz zeigte die tschechische Öffentlichkeit einiges Interesse für die sorbische Problematik, besonders vermittels der Gemeinde für Studium der sorbischen Kultur (später: Abteilung) im Rahmen der Gesellschaft der Freunde des Nationalmuseums. Seit 2003 ist die Gesellschaft der Freunde der Lausitz erneut die wichtigste Interessengemeinschaft für sorbische Kultur im öffentlichen Leben in Tschechien. Die 33  Vgl. z. B. Vladimír Zmeškal: Lužičtí Srbové [Die Lausitzer Sorben]. Praha 1962, S. 32. 34  Für Details zur staatsrechtlichen Ordnung der Lausitz nach dem Zweiten Weltkrieg siehe: Кирилл В. Шевченко: Лужицкий вопрос и Чехословакия 1945–1948 [Die Sorbische Frage und die Tschechoslowakei 1945–1948], Москва 2004; Leszek Kuberski / Piotr Pałys: Od inkorporacji do autonomii kulturalnej. Kontakty polskoserbołużyckie w latach 1945–1950 [Von der Inkorporation zur kulturellen Autonomie. Polnisch-sorbische Kontakte in den Jahren 1945–1950]. Opole 2005. 35  Für die „national bewusstesten“ wurden immer die katholischen Sorben gehalten, Měrćin Wałda (vom Sorbischen Institut in Bautzen) zählte im Jahr 2009 nur noch 7.750 in 72 sorbischen Gemeinden. Vgl. Rafael Ledźbor: Trjebamy porjadne připóznaće serbskeje rěče a kultury. Interview z  dr. Měrćinom Wałdu wo demografiskim a narodnym wuwiću w katolskich Serbach [Wirkliche Anerkennung der sorbischen Sprache und Kultur ist nötig. Interview mit Dr. Martin Walde zur demografischen und nationalen Entwicklung der katholischen Sorben]. In: Katolski posoł (Katholischer Bote) 60, 17.  Januar 2010, S. 19 ff.

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universitäre Sorabistik wurde in der Tschechoslowakei vor allem durch den Sprachwissenschaftler Jan Petr (1931–1989) vertreten, dessen strikt marxistische Einstellung seine wissenschaftliche Arbeit jedoch in vielerlei Hinsicht entwertete. Später widmeten sich an der Prager Karlsuniversität Zdeněk Urban (1925–1998), Leoš Šatava, Markus Giger, Helena Ulbrechtová und Petr Kaleta den sorabistischen Forschungen.

VI. Praxisberichte

Wege und Formen bilateraler Zusammenarbeit zwischen tschechischen und sächsischen Archiven Von Marie Ryantová (České Budějovice) Obwohl die ehemalige Tschechoslowakei bzw. die Tschechische Sozialistische Republik und die Deutsche Demokratische Republik, zu der auch Sachsen zählte, nicht durch den „Eisernen Vorhang“ voneinander getrennt waren, entwickelten sich die gemeinsamen Kontakte auf dem Gebiet des Archivwesens zwischen beiden Ländern nicht besonders gut. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit insbesondere zwischen den staatlichen Archiven, in geringerem Maße auch zwischen anderen Archiven, blieb vor allem dadurch eingeschränkt, dass das Archivwesen in beiden Ländern in das Ressort des jeweiligen Innenministeriums fiel (und weiterhin fällt). Nach 1989 veränderte sich in dieser Hinsicht zunächst nicht besonders viel, obwohl es beiderseits der Grenzen zur Gründung von Berufverbänden – des Landesverbands Sächsischer Archivare im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) und der Tschechischen Archivgesellschaft (Česká archivní společnost, ČAS) – gekommen war. Erst allmählich konnte man verschiedene Konferenzen, Workshops und andere Veranstaltungen verzeichnen, an denen im Laufe der Zeit vor allem Vertreter der Archiverwaltung des Innenministeriums der Tschechischen Republik oder des Nationalarchivs teilnahmen. Auch kann man mittlerweile auf gemeinsame Forschungsleistungen insbesondere im Sächsischen Staatsarchiv Dresden oder im Bergarchiv Freiberg zurückblicken. In diesem Beitrag geht es vor allem um die Zusammenarbeit auf der Ebene der Archivgesellschaften. Zu einem bedeutenden Vorstoß kam es hier erst im Oktober 2001, als der Zehnte Sächsische Archivtag in Aue gleichzeitig zum Ersten SächsischTschechischen Archivarstreffen wurde, und zwar unter dem Thema „Grenzüberschreitende böhmisch-sächsische Beziehungen und ihre Widerspiegelung im Archivwesen und in der Landesgeschichte“ („Česko-saské vztahy překračující hranice a jejich odraz v  archivnictví a dějinách“). Von den tschechischen Kollegen trat hier Květoslava Kocourková vom Staatlichen Kreisarchiv in Teplice (Teplitz) an das Rednerpult und stellte den deutschen Kolleginnen und Kollegen die Struktur des Archivwesens in der Tschechischen Republik nach der dort erfolgten Verwaltungsreform vor. Jindřich

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Schwippel erläuterte die „Quellen zur Geschichte der deutschen Wissenschaft in den Prager Archiven“ und Vladimír Kaiser vom Stadtarchiv Ústí nad Labem (Aussig) informierte über dessen Sammlung von Tonaufzeichnungen, wobei er den Teilnehmern gleichzeitig einige Originalaufnahmen zu Gehör brachte.1 Vier Jahre später, im Juni 2005, folgte anlässlich des Dreizehnten Sächsischen Archivtages in Stollberg das zweite Treffen, das sich dem Thema „Erschließung – eine Kernaufgabe im Wandel“ („Zpřístupňování – klíčová úloha v  proměnách“) widmete. Zum Gelingen des Treffens trug nicht nur der damalige Vorsitzende der Tschechischen Archivgesellschaft Daniel Doležal mit seinem Grußwort bei, sondern auch zwei Kollegen aus tschechischen Archiven mit ihren Referaten: Eduard Mikušek vom Staatlichen Gebietsarchiv (SOA) Litoměřice (Leitmeritz) sprach zum Thema „Böhmisch-sächsische Beziehungen in der Revolution 1848 / 49 und ihre Refle­ xion in den Archivquellen“, Jindřich Schwippel vom Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik trug „Betrachtungen zur inneren Organisation zusammengefasster Bestände“ vor.2 Bestandteil der gesamten Veranstaltung war ein abwechslungsreiches Begleitprogramm, das neben einem Besuch des Bergbaumuseums Oelsnitz auch die Besichtigung des Gefängnisses auf Schloss Hoheneck beinhaltete, in dem bis in die letzten Tage vor der Wiedervereinigung fast ausschließlich Regimegegnerinnen der „Volksdemokratie“ inhaftiert waren.3 Im Mai 2008 fand das Dritte Sächsisch-Tschechische Archivarstreffen statt, während in Pirna gleichzeitig bereits der Sechzehnte Sächsische Archivtag abgehalten wurde; dieses Mal zum Thema „Ordnung für die Zukunft  – Folgen von Funktional- und Gebietsreformen für die Überlieferung der Archivbestände“ („Pořádání pro budoucnost – důsledky funkčních a oblastních reforem pro dochování archivního materiálu“). Auch hier konnte dank der Großzügigkeit der sächsischen Kollegen eine Delegation tschechischer Archivarinnen und Archivare, vor allem aus nordböhmischen Archi1  Vgl. Steffi Rathe: Grenzüberschreitende böhmisch-sächsische Beziehungen – Widerspiegelung im Archivwesen und in der Landesgeschichte. 10.  Sächsischer Archivtag – 1.  Sächsisch-Böhmisches Archivarstreffen. In: Sächsisches Archivblatt (2002), H.  1, S. 17 f. 2  Vgl. Pavel Pilz: Erschließung – Eine Kernaufgabe im Wandel. In: ČAS v  roce 2005. Ročenka České archivní společnosti [Die ČAS im Jahr 2005. Jahrbuch der Tschechischen Archivgesellschaft], Praha 2006, S. 30 f.; Yvonne Gerlach: 13. Sächsischer Archivtag / 2.  Sächsisch-Böhmisches Archivarstreffen 2005 in Stollberg. Erschließung – Eine Kernaufgabe im Wandel. In: Der Archivar 59 (2006), H. 1, S. 81 f. 3  Zur Geschichte des Frauengefängnisses Hoheneck in der DDR vgl. Ulrich Schacht (Hrsg.): Hohenecker Protokolle. Aussagen zur Geschichte der politischen Verfolgung von Frauen in der DDR. 3., erw. Nachaufl. Leipzig 2009.



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ven, an der Veranstaltung teilnehmen. An der Spitze der Delegation standen der inzwischen leider verstorbene Direktor der Sektion Archivverwaltung des Innenministeriums der Tschechischen Republik Vácslav Babička, der Direktor des Staatlichen Gebietsarchivs Marek Poloncarz und die neue Vorsitzende der Tschechischen Archivgesellschaft Marie Ryantová. Neben den sächsischen Kollegen mit ihren Referaten trat auch Martin Myšička vom Staatlichen Kreisarchiv in Most (Brüx) auf, der den deutschen Kollegen die Entwicklung und die Situation des Archivwesens in der Tschechischen Republik in Abhängigkeit von den Verwaltungsreformen näher brachte. Trotz vieler aller Besonderheiten liegt das Archivwesen im Rahmen der einzelnen Länder nicht so weit auseinander, es existieren zahlreiche ähnliche Aufgaben und Probleme.4 Höhepunkt des Begleitprogramms war dann der Besuch des Pirnaer Schlosses Sonnenstein. Darin war seit 1811 ein Sanatorium für Geisteskranke untergebracht. In den Jahren 1940 / 41 erlangte es durch die Umsetzung des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms traurige Berühmtheit, als hier fast 14.000 Menschen umgebracht wurden.5 Während es sich auf der sächsischen Seite bereits um die dritte Veranstaltung dieser Art in Folge handelte, war die tschechische Seite die Organisation eines ähnlichen Treffens bislang schuldig geblieben. Noch in den Herbstmonaten des Jahres 2009 wurde daher beschlossen, dass das nächste Treffen in Děčín (Tetschen) stattfinden würde. In Zusammenarbeit mit dem Direktor des dortigen Staatlichen Kreisarchivs Jan Němec und dem Leiter der Děčíner Arbeitsstelle des Staatlichen Gebietsarchivs Litoměřice Otto Chmelík wurde ein geeigneter Termin gefunden und der Sitzungssaal im Schloss gebucht. Im März 2010 wurden Fördermittel aus dem DeutschTschechischen Zukunftsfonds zugesagt. Das Thema des dann folgenden Tschechisch-Sächsischen Treffens im Juni 2010 lautete „Quellen zur tschechischen und sächsischen Geschichte in den Archiven beider Länder“ („Prameny k českým a saským dějinám v archivech obou zemí“). In den entsprechenden Referaten wurden Informationen über eine Reihe interessanter 4  Vgl. Martin Myšička: 16.  saský archivní sjezd v  Pirně [Der 16.  Sächsische Archivtag in Pirna]. In: ČAS v roce 2008. Ročenka České archivní společnosti [Die ČAS im Jahr 2008. Jahrbuch der Tschechischen Archivgesellschaft]. Praha 2009, S. 37–39; Landesverband Sachsen im Verband deutscher Archivarinnen und Archi­ vare e. V. (Hrsg.): Ordnung für die Zukunft – Folgen von Funktional- und Gebietsreformen für die archivische Überlieferungsbildung 16.  Sächsischer Archivtag. 3.  Sächsisch-Bohmisches Archivarstreffen 23.–25.  Mai 2008 in Pirna. Tagungsbeiträge. Chemnitz 2009. 5  Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein in der NS-Zeit vgl. grundlegend Thomas Schilter: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940 / 41. Leipzig 1999; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Dresden 2004.

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Dokumente vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vermittelt. An der Sitzung in den Räumen des Děčíner Schlosses nahmen auch die beiden Direktoren – Václav Babička und Marek Poloncarz – teil. Bei vielfältigen gemeinsamen Unternehmungen wie den Exkursionen in die Děčíner Filiale des Gebietsarchivs Litoměřice im Stadtteil Podmokly (Bodenbach) und ins Staatliche Kreisarchiv konnten Kontakte geknüpft und vertieft werden.6 Momentan arbeiten beide Berufsverbände am Ausbau dieser Kontakte. Dies findet seinen Ausdruck nicht mehr nur in der Teilnahme von Vertretern an den Archivtagen oder Konferenzen im jeweiligen Nachbarland – 2009 in Brno (Brünn) und in Freiberg7, 2011 in Františkovy Lázně (Franzensbad) und in Görlitz8 –, sondern auch in anderen Aktivitäten. So wurde 2012 ein Sammelband über „Ausgewählte Probleme der Geschichte Böhmens und Sachsens und ihre Quellen in den Archiven beider Länder“ veröffentlicht, der mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds gleichzeitig in tschechischer und in deutscher Sprache erschien und überarbeitete Ver­ sionen der Beiträge des Děčíner Treffens beinhaltet.9 Offen sind selbstverständlich auch weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit – neben ähnlichen Treffen auf beiden Seiten kann man z. B. über eine Kooperation bei der Vorbereitung historischer Ausstellungen, der Edition von Quellen oder der Digitalisierung nachdenken. Es bleibt zu wünschen, dass sich die Zusammenarbeit und die Beziehungen zwischen den Archivarinnen und Archivaren der Tschechischen Republik und des Freistaats Sachsen auch weiterhin erfolgreich und beiderseits nutzbringend entwickeln.

6  Vgl. Jan Němec / Marie Ryantová: Česko-saské setkání archivářů v  Děčíně 4.–6.6.2010 [Tschechisch-Sächsisches Archivarstreffen in Děčín vom 4. bis 6.6.2010]. In: ČAS v  roce 2010. Ročenka České archivní společnosti [Die ČAS im Jahr 2010. Jahrbuch der Tschechischen Archivgesellschaft]. Praha 2011, S. 58–62; Grit Richter-Laugwitz: Erstes Tschechisch-Sächsisches Archivarstreffen vom 4. bis 6. Ju­ ni 2010 in Děčín. In: Der Archivar 63 (2010), H.  3, S. 331 f. 7  Vgl. Martin Myšička: 17. saský archivní sjezd ve Freibergu [Der 17. Sächsische Archivtag in Freiberg]. In: ČAS v  roce 2009. Ročenka České archivní společnosti [Die ČAS im Jahr 2009. Jahrbuch der Tschechischen Archivgesellschaft]. Praha 2010, S. 49 f. 8  Vgl. Marie Ryantová: Saský archivní sněm ve Zhořelci [Der Sächsische Archivtag in Görlitz]. In: ČAS v roce 2012. Ročenka České archivní společnosti [Die ČAS im Jahr 2012. Jahrbuch der Tschechischen Archivgesellschaft]. Praha 2013, S. 52–54. 9  Marie Ryantová (Hrsg.): Bohemia – Saxonia. Vybrané otázky dějin českých zemí a Saska a jejich prameny v  archivech obou zemí / Ausgewählte Probleme der Geschichte Böhmens und Sachsens und ihre Quellen in den Archiven beider Länder, Praha 2012.

Historisch-didaktische Arbeit im tschechisch-sächsischen Grenzgebiet Ein Blick auf ausgewählte Aktivitäten des Vereins „Antikomplex“ Von Ondřej Matějka (Prag) I. Einführung Für Bildungsprojekte im tschechisch-sächsischen Raum haben wir zwei grundlegende Ausgangspunkte, ganz gleich, ob wir sie auf der tschechischen Seite, der sächsischen Seite oder grenzübergreifend realisieren: 1.  Beiderseits der Grenze handelt es sich um strukturschwache Regionen. Die jungen Menschen haben in der Regel keine Beziehung zu ihnen und wollen in der Zukunft die Gegend verlassen. 2.  Ein Weg, wie die jungen Menschen für ihre Heimat zu begeistern sind, führt über das Kennenlernen der Regionalgeschichte, welche die jungen Menschen zu einer stärkeren Identifizierung mit ihrer eigenen Heimat führen kann. Das Problem besteht jedoch darin, die regionale Geschichte so zu präsentieren, dass sie die jungen Menschen wirklich anspricht, dass sie also etwas mehr ist als eine nichtssagende Sammlung von Heimatkundefakten. Auch wenn Sachsen heute auf den ersten Blick einen wohlhabenderen Eindruck macht als die Regionen auf der tschechischen Seite, sehen wir, wenn wir unter die Oberfläche schauen, auch im sächsischen Grenzgebiet mancherlei Problempotenzial. Die Regionen haben den Ruf, Landstriche zu sein, die man verlässt, und wo nur wenige junge Menschen in der Zukunft bleiben wollen. In einer Gemeinde zu leben, die ganze 50 Prozent ihrer Einwohner verloren hat, wie beispielsweise Johanngeorgenstadt, ist wenig motivierend. Die jungen Menschen sind Zeugen eines im Grunde nicht aufzuhaltenden Prozesses der schrittweisen „Schrumpfung“ der Infrastruktur der Gemeinden, des Abrisses von Häusern und leerstehender Gebäude. Am eigenen Leib können sie die sinkende Entwicklungskurve miterleben. In Nordböhmen lässt sich beobachten, dass vor allem qualifizierte Arbeitskräfte abwandern, aber ein massiver Rückgang der Einwohnerzahlen wie in den neuen Bundesländern ist nicht eingetreten. Die Gründe dafür, dass sich die jungen Menschen in Nordböhmen nicht mit ihrer Heimat iden-

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tifizieren, sind unterschiedlicher gelagert. Teilweise liegen die Ursachen in der allgemein geringeren Identifizierung der Bewohner Nordböhmens mit ihrer Heimat, was in hohem Maße auf die historische Entwicklung zurückzuführen ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es hier zu einem fast vollständigen Austausch der Bevölkerung.1 Die tiefe Diskontinuität in der Entwicklung der Gesellschaft in diesem Landstrich tritt heute noch in vielen Teilaspekten zutage, die insbesondere beim Vergleich des gesellschaftlichen Lebens mit Regionen, die kontinuierlich besiedelt waren, deutlich werden. Ein weiteres Problem liegt wahrscheinlich darin, dass die Regionen den Ruf genießen, arm zu sein und im gesamtstaatlichen Maßstab eher als unschön und von der Industrie zerstört angesehen werden. Der Lokalpatriotismus ist in diesen Teilen Tschechiens zwar spürbar, eher jedoch als „Inseln der ­positiven Abweichung“, die im Vergleich mit der Umgebung hervortreten, denn als natürliche, in der gesamten Gesellschaft verbreitete Erscheinung.2 Beide Regionen sind von einer diskontinuierlichen Entwicklung geprägt, die sich auch auf das Verhältnis der jungen Menschen zu ihrer Heimat auswirkt. Während der wichtigste Bruch in der Entwicklung der Besiedlung Nordböhmens in den Jahren von 1945 bis 1947 stattfand, stellt diesen für Sachsen der Zeitraum nach 1989 dar. Zur Illustration der Ausgangsthesen, die das auf diese Weise betroffene Milieu in jener Gestalt zeigen, wie es die jungen Menschen in Sachsen und in Nordböhmen erleben können, dienen einige fotografische Momentaufnahmen. Der Rückgang der Einwohnerzahlen spiegelte sich im Verlassen der Häuser, die aufgrund der Nichtnutzung schrittweise abgerissen wurden (Abb. 1). Ein ähnliches Bild war in der jüngeren Vergangenheit wohl in jedem größeren ostdeutschen Ort zu beobachten. Typisch ist die Diskontinuität in der Besiedelung der entsprechenden Landstriche. Die überwiegend deutsche Bevölkerung wurde durch Tschechen ersetzt. Verlassene Dörfer liegen selbstverständlich nicht in dicht besiedelten Gebieten und sind so mitunter nicht einfach sichtbar oder zugänglich (Abb. 2). Im Hinblick auf die große Zahl der Gemeinden oder Ortsteile (man spricht von bis zu 2.000) handelt es sich jedoch um eine überall zu machende Erfahrung. 1  Vgl. dazu Antikomplex o. s. (Hrsg.): Zmizelé Sudety / Das verschwundene Sudetenland. 4. Aufl. Domažlice 2006. 2  Die angeführten Tatsachen unterstreichen auch die Strukturschwäche der Re­ gion. Die letzte Volkszählung 2011 ergab, dass die Bezirke Karlovy Vary und Ústí nad Labem den geringsten Anteil an Einwohnern mit abgeschlossener Hochschulbildung, aber den höchsten Anteil an Einwohnern ohne Bildungsabschluss haben. Vgl. http: /  / www.czso.cz / sldb2011 / redakce.nsf / i / predbezne_vysledky_scitani_lidu_domu_ a_bytu_2011 [30.03.2012].



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Abb. 1: Plattenbausiedlung in Klingenthal kurz vor dem Abriss. Foto: Ondřej Matějka.

Abb. 2: Verlassenes Dorf Mílov / Halbmeile im Erzgebirge direkt an der Grenze zwischen Böhmen und Sachsen. Foto: Petr Mikšíček.

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Abb. 3: Geschlossenes Kulturhaus in Johanngeorgenstadt, Ortsteil Neustadt, in den 1950er Jahren aufgrund des intensiven Abbaus von Uran erbaut. Foto: Ondřej Matějka.

Abb. 4: Blick von Schloss Jezeří / Eisenberg auf einen Tagebau der ČSA [der Tschechoslowakischen Armee]. Foto: Petr Mikšíček.



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Johanngeorgenstadt verlor nach 1989 aufgrund der Einstellung des Uranabbaus im Rahmen der Wismut AG die Hälfte seiner Bevölkerung. Von etwa 10.000 Einwohnern sank die Zahl auf weniger als 5.000 (Abb. 3). Der Kontrast zwischen zerstörten Kulturdenkmälern und intensiver industrieller Nutzung mit unschönen Auswirkungen auf die Landschaft ist ein typisches Bild für Nordwestböhmen (Abb. 4). Dieses Bild wird als starkes Erbe der kommunistischen Diktatur aufgefaßt; nach 1989 gelang es nur sehr langsam, es zu verändern. Der Bergbau wurde nicht eingestellt, sondern entwickelte sich immer weiter. II. Wie soll man Geschichte unterrichten? Ein Geschichtsunterricht, der den Erwartungen entspräche und bei dem es gelänge, eine Beziehung der jungen Generation zu ihrer Region zu entwickeln, kann nicht im herkömmlichen Schulstil erfolgen.3 Der Geschichtsunterricht an den Schulen ist zumeist nicht in der Lage, auf die Veränderung zu reagieren, dass die Kinder heute mit wesentlich weniger ausgeprägten historischen Narrativen jeder Art in die Schule gehen, als das früher der Fall war. Die Begegnung mit Geschichte außerhalb der Schule erfolgt viel seltener als noch in der jüngsten Vergangenheit. Geschichte nimmt zwar einen wichtigen Platz in den Medien ein, hat jedoch gleichzeitig den politischen und öffentlichen Raum fast vollständig aufgegeben. Die Teilnahme an den wenigen Gedenkveranstaltungen, die heute noch stattfinden, gehört sicher nicht zum üblichen Lebensstil moderner Familien. Kurz gesagt, die Zeit, in welcher der Staat ein Masternarrativ besaß, das von der politischen Elite und den Medien getragen wurde, in unterschiedlichster Weise sichtbar war und ins Gedächtnis gerufen wurde, beispielsweise in Form von verschiedenen Denkmälern oder feierlichen Akten im öffentlichen Raum, ist definitiv vorbei. Ungeachtet dessen, dass vorherrschende Narrative bestehen, existiert gegenwärtig eine Zeit der Pluralität der Geschichtsauslegung. Die auf diese Weise fragmentierten Narrative sind offensichtlich nicht in der Lage, komplex und verständlich die Schüler so anzusprechen, dass diese bereit wären, historische Informationen aufzunehmen, die eine in den Köpfen der Schüler bereits angelegte Geschichtserzählung vertiefen würden. Der Lehrer steht also vor einer Aufgabe, vor der er früher nicht stand, er muss bei den Schülern überhaupt erst einmal ein Verständnis für Geschichte und ihre Geschichten als solche schaffen. Für den Geschichtsunterricht in 3  Vgl. u. a. Bernd Schönemann: Regionalgeschichtlich akzentuiertes historisches Lernen. Eine Bestandsaufnahme in systematischer Absicht. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 144 (2008), S. 1–11.

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der Schule bedeutet dies eine gewaltige Veränderung, auf die der Lehrende meist nicht vorbereitet ist, da er nicht mehr auf altbewährte Listen historischer Informationen zurückgreifen kann, die auswendig gelernt werden müssten. Die Schüler müssen eine eigene authentische Erfahrung mit der Geschichte machen, die sie selbst reflektieren können. Erst dann kann mit der Entwicklung des historischen Bewusstseins begonnen werden, so wie es die früheren Generationen gewohnt waren. Gerade auf diesem Feld bemüht sich die Organisation „Antikomplex“,4 am intensivsten tätig zu werden und den Lehrern Wege anzubieten, wie man eine authentische Erfahrung mit der Geschichte eigentlich vermitteln und wie man dann damit weiterarbeiten kann. Es gibt viele Möglichkeiten – eine Reihe davon lässt sich sogar direkt in der Schule realisieren. Aber die meisten Gelegenheiten liegen außerhalb der Mauern der Schule. Ein bewährter Weg ist die Erkundung eines Ortes in allen möglichen Zusammenhängen. Im Englischen verwendet man für eine solche Unterrichtsform den Begriff place based education.5 Es handelt sich um das Lernen auf der Grundlage einer Erfahrung mit einem konkreten Ort. In unserem Fall konzentrieren wir uns bei der Erkundung von Orten auf deren Geschichte und auf deren Gedächtnis. Wir wollen einige praktische Anwendungsbeispiele aus unserer Arbeit aufzeigen.6 III. Auf der Suche nach der Geschichte eine Ortes Massengrab bei Postoloprty: Die Schüler entdeckten diese Stelle (Abb. 5) anhand von allgemein zugänglichen Quellen im Internet und waren überrascht, dass ein derart historisch belasteter Ort einfach so ungekennzeichnet in der Landschaft zu finden ist, und dass die Einwohner von Postoloprty (Postelberg) nicht darüber sprechen, obwohl die Quellen allgemein zugänglich sind und die Lokalität in ihrer Nähe liegt; vielleicht wissen sie auch gar nichts darüber. Den Schülern bot dieser Ort ein äußerst intensives Erlebnis eigener Erkundung der Geschichte, insbesondere dann, als er sich zu einem Mosaik mit weiteren ähnlichen Plätzen in der Nähe von Postoloprty zusammenfügte, wo noch Überreste eines Lagers für „jüdische Mischlinge“ aus dem Krieg zu finden waren. 4  Vgl.

den Internetauftritt unter http: /  / www.antikomplex.cz [26.06.2012]. A. Smith / David Sobel: Place- and Community-Based Education in Schools. New York, NY 2010. 6  Siehe dazu auch Antikomplex o. s. (Hrsg.): Krajina za školou [Die Landschaft hinter der Schule]. Praha 2007; Tereza o. s. (Hrsg.): Krajina za školou v Praze [Die Landschaft hinter der Schule in Prag]. Praha 2008. 5  Gregory



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Abb. 5: Schüler zweier nordböhmischer Gymnasien in der Fasanerie Levanice bei Postoloprty, wo eine Untersuchungs­kommission 1947 ein Massengrab von Deutschen, die im Mai und Juni 1945 umgebracht worden waren, exhumierte. Foto: Ondřej Matějka.

Abb. 6: Blick auf das Stadtzentrum von Most mit dem markantesten Bauwerk. Foto: Matěj Spurný.

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Abb. 7: Haus unweit von Chomutov. Foto: Ondřej Matějka.

Das Stadtzentrum von Most: Mit Studenten haben wir an diesem Ort untersucht, was uns der markanteste Bau über den Charakter und die Zeit der Entstehung der Stadt sagen kann. In den mittelalterlichen Zentren ist die Kirche das auffälligste Bauwerk – z. B. in Prag oder Olomouc (Olmütz) –, in den Städten der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts ist es das Rathaus – wie etwa in Liberec (Reichenberg). In Most (Brüx) hingegen ist das markanteste Gebäude der Sitz der Tagebaugesellschaft (Abb. 6). Haus bei Chomutov: Es handelt sich um einen gewöhnlichen Ort (Abb. 7), der jedoch auf den ersten Blick einen besonderen Kontrast zwischen einem gepflegten, schönen Einfamilienhaus und der industriellen Infrastruktur darstellt – ein gewöhnlicher Ort, der viel über den Charakter der Region um Chomutov (Komotau) aussagt, in der eine solche Kombination möglich ist. Die Schüler aus Nordböhmen werden von einem solchen Ort an sich selbstverständlich nicht angesprochen, er erscheint ihnen normal und ist in der Region tatsächlich nicht so selten. Gleichzeitig ist aber ein solcher Ort ein guter Kontrast, den die Schüler selbst als typisch für ihre Heimat, wo Mensch und Industrie dicht nebeneinander existieren müssen, entdecken können.



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IV. Beispiele aus Arbeiten von Schülern Es folgen Beispiele aus den Arbeiten der Schüler aus unserem aktuellen tschechisch-sächsischen Projekt Grenzüberschreitungen, das im Rahmen des Ziel 3- / Cíl 3-Programmes von der EU gefördert wird.7 Schüler aus zwei tschechischen und zwei sächsischen Schulen legen bei einem gemeinsamen Treffen ein Thema fest, das sie anschließend selbst in ihrer Stadt bearbeiten. Auf dem nächsten Treffen vergleichen sie dann ihre eigenen Geschichten und suchen mögliche Parallelen. Das konkrete Ergebnis ist eine Ausstellung. In diesem Fall war das gemeinsame Thema „Orte, wo Menschen ihre Freizeit verbringen“. Wie soll die Forschung ablaufen? Ein Leitprinzip ist, dass die Schüler beginnen, dort die Geschichte zu suchen, wo sie zu Hause sind, in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie arbeiten mit Fotografien und anderen Quellen, die sie bei sich daheim finden, befragen Zeitzeugen, die aus ihrer Familie stammen. Erst im nächsten Schritt widmen sie sich Informationsquellen außerhalb ihres Familienkreises – Museen, Archiven, Gemeindechroniken. Der Goethepark in Greiz (Abb. 8 und 9), in dem ab 2008 die Vogtlandhalle erbaut wurde, geht auf ein Kulturhaus zurück, das den Namen Bürger­ erholung trug und 1851 errichtet wurde. 1946 brannte das Gebäude vollständig nieder und musste 1949 abgerissen werden. Anlässlich des 200. Geburtstages von Johann Wolfgang Goethe wurde das Grundstück in einen Park umgestaltet. In der Vergangenheit diente er als Kulisse großer politischer und kultureller Veranstaltungen, zum Beispiel der Maidemonstrationen. Vom ursprünglichen Goethepark blieb nur ein Stück des geschmiedeten Eisenzauns übrig, das wieder eingesetzt wurde. Im Herbst 1989 kamen hier die Menschen zusammen, um für die Freiheit zu demonstrieren. Das Siechhaus (Abb. 10 und 11) war Bestandteil eines Gebäudekomplexes, zu dem auch die Sebastianskapelle gehörte. Aus dem einstigen Krankenhaus wurde ein Ausflugslokal. Dieses überlebte – im Unterschied zur Kapelle – auch das kommunistische Regime. Nach dem Bau der neuen Straße zum Grenzübergang Pomezí nad Ohří / Mühlbach befand sich hier die Raststätte Forsthaus (Myslivna) mit einem Saal und kleinen Bungalows zum Übernachten. Noch in den 1980er Jahren wurde der Saal genutzt. Nach der Samtenen Revolu­tion entstand im Gebäude ein Nachtclub. Die neue Umgehungsstraße von Cheb (Eger) in Richtung Grenze bewirkte, dass das Lokal seinen Zweck nicht mehr erfüllte; das Gebäude verfiel. Es kam zu einem Brand, in dessen Folge das Dach und das obere Stockwerk einfielen. Heute hausen Obdachlose in den Überresten des Gebäudes. 7  Vgl. den Internetauftritt unter http: /  / www.grenz-ueberschreitungen.de [26.06.2012].

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Abb. 8 und 9: Goethepark Greiz / Vogtlandhalle. Fotos: Schüler des Ulf-Merbold-Gymnasiums Greiz.



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Abb. 10 und 11: Siechhaus (Forsthaus), Cheb. Fotos: Schüler des Gymnasiums Cheb.

Brücke im Elstertal: Vor mehr als 90 Jahren konnten die Menschen noch einen ungestörten Blick auf dieses 68 Meter hohe und 279 Meter lange Bauwerk zwischen den Gemeinden Jocketa und Röttis, das aus 12 Millionen Ziegelsteinen bestand, genießen (Abb. 12 und 13). Die Natur tat jedoch das Ihre und versperrte den Blick auf das Bauwerk, das nur neun Meter kleiner ist als die Göltzschtalbrücke, die größte Ziegelsteinbrücke der Welt.

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Abb. 12 und 13: Brücke im Elstertal. Fotos: Schüler des Beruflichen Schulzentrums Plauen.

1945 wurde die Brücke von der deutschen Armee gesprengt, die Ortsansässigen benutzten die Ziegelsteine zum Häuserbau. Nach dem Krieg wurde die Brücke detailgetreu nachgebaut. Heute ist sie ein beliebtes Ausflugsziel und ein wichtiger Bestandteil der regionalen Infrastruktur.



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Abb. 14 und 15: Hoher Stein. Fotos: Schüler der Havlíček-Grundschule, Kraslice (Graslitz).

Hoher Stein im Elstergebirge: Dies ist ein Ort, der Wanderer auch ohne Gasthaus anzieht (Abb. 14 und 15). Das Quarzitmassiv liegt 774 Meter über dem Meeresspiegel und wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein zum Abbau von Schiefer genutzt. Die ursprüngliche Behausung für die Arbeiter wurde

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1883 in ein Ausflugslokal umfunktioniert. Bis 1937 wurde das Gebäude mehrfach umgebaut. Ab 1906, als die Stadt Graslitz das Grundstück erwarb und so das Felsmassiv vor dem Abbau bewahrte, spielte hier regelmäßig eine Kapelle den Ausflüglern zum Tanz auf. In den 1930er Jahren fanden sogar Theateraufführungen statt. Nach 1945 wurde es ruhig um das Lokal, das Objekt wurde später aus militärischen Gründen abgerissen – wegen der Nähe zur Staatsgrenze. Heute ist der Hohe Stein (Vysoký Kámen) ein vielbesuchtes Naturdenkmal. V. Einschätzung der Schüler Nun stellt die Frage, ob es mit dieser Arbeit gelingt, das hochgesteckte Ziel zu erreichen, dass die Schüler wirklich ein neues Verhältnis zur Geschichte und zu ihrer Heimat aufbauen. Die Projektarbeit krankt an zahlreichen Problemen. Das größte Problem besteht darin, dass unsere Projekte an den Schulen nur selten als Bestandteil des laufenden Unterrichts aufgefasst werden. Den meisten Lehrern erscheinen die Projekte zwar interessant, aber auch als zusätzliche Arbeit, der sie sehr intensiv, jedoch nur über die beschränkte Zeit einiger Monate begegnen. In der verbliebenen Zeit wird der curricurale Geschichtsunterricht abgehalten, der sowohl in Tschechien als auch in Sachsen – wenngleich dort in geringerem Maße – nach wie vor mehr auf die kritik­lose Aneignung einer großen Menge von Informationen ausgerichtet ist. Wir betrachten die Ergebnisse unserer Arbeit mit den Schulen bzw. mit den Schülern im Rahmen von Sonderseminaren dennoch als erfolgversprechend. Dazu zwei Schülermeinungen aus dem bereits abgeschlossenen Projekt Tragische Erinnerungsorte, das in den Jahren 2008 bis 2010 im Bezirk Ústí nad Labem realisiert wurde: „Außerdem hat sich mein gesamter Blick auf die Geschichte als solche verändert. Ich habe festgestellt, dass Geschichte nicht nur Stichwörter im Lehrbuch sind. Dass es nicht nur darum geht, dass in jenem Jahr dies und das geschah. Ich bin mir bewusst geworden, dass die Geschichte von Menschen gestaltet wird, dass wir sie selbst gestalten. Und Menschen können sich irren, können lügen und die Dinge nach ihren Vorstellungen darstellen. Außerdem, dass Geschichte nicht nur das ist, was in der Vergangenheit passierte. Geschichte ist auch eigentlich all das, was in der Gegenwart geschieht.“8 „Bei mir hat sich der Blick auf die gesamte Geschichte ein wenig verändert. Ich bin eher ein Typ, der es liebt, wenn alles klar ist. Ich meine damit, dass wenn man sagt 1 + 1 = 2, dann ist das wirklich so. Früher habe ich auch die Geschichte so verstanden. Was geschrieben 8  Ondřej Matějka (Hrsg.): Tragická místa paměti. Průvodce po historii jednoho regionu 1938–1945 / Tragische Erinnerungsorte. Ein Führer durch die Geschichte einer Region 1938–1945. Praha 2010, S. 373.



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stand, das habe ich als hundertprozentige Wahrheit genommen. Und genau da hat mir das Projekt die Augen geöffnet. Heute ist mir klar, dass das, was wir in den Geschichtsbüchern als Fakten lesen, eigentlich doch nur der Blick von irgendjemandem auf die Dinge, die sich irgendwann vor langer Zeit ereignet haben, ist. Und gerade bei dem Projekt haben wir gelernt, die Geschichte auch so zu gestalten.“9 Im Hinblick auf unser Herangehen an die Didaktik des Geschichtsunterrichts scheint mir am wichtigsten diese Komponente zu sein: eine eigene Meinung zu konkreten geschichtlichen Ereignissen einzunehmen und Erfahrungen bei der eigenen Formulierung eines geschichtlichen Ereignisses zu sammeln. Wie aus den Meinungen ebenfalls deutlich wird, werden durch diese Fähigkeit nicht einmal so sehr Schüler zu Historikern, sondern eher ein wenig zu aktiveren Bürgern, denn sie haben keine Angst, selbständig über die Dinge nachzudenken, die sie bislang nur von Fachleuten vorgesetzt bekommen hatten. VI. Schlussbetrachtung Erst die eigene Erfahrung mit historischer Materie jeder Art und die Reflexion persönlicher historischer Bewusstseinshaltungen ermöglicht es den Schülern, einen Ausgangspunkt für das Erzählen ihrer eigenen Geschichte zu finden. Diese kann dann zum Grundstein des Vergleichens oder der offenen Konfrontation mit Geschichten werden, die man selbst um sich herum sieht. Geschichten sind nämlich die grundlegende Art der Kommunikation im öffentlichen Raum. Jedes Problem, jede politische These hat ihre Geschichte, stützt sich in irgendeiner Art auf die logische Auslegung früherer Ereignisse. Die Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu erzählen, ermöglicht es den Schülern, den Ursprung von Geschichten zu begreifen, die sie um sich herum sehen. Diese verstehen sie dann als schöpferisch gestaltete Geschichten, nicht als Fakten, deshalb sind das auch Geschichten, die im Prinzip offen, diskutabel und kritisierbar sind. Dadurch stellt sich den Schülern jedoch auch automatisch die Frage, welche Geschichte ihnen gefällt, wozu sie sich bekennen wollen und welche sie weiterspinnen möchten. Der wichtigste Gewinn des kurz umrissenen Anliegens besteht darin, dass wir – bildlich gesprochen – die Schüler in eine Situation versetzen wollen, in der sie die eigene Umgebung als Bestandteil einer längeren und somit verständlichen Geschichte sehen. Verlassene Fabrikgebäude sind dann nicht mehr nur ein hässlicher Teil der Stadt, sondern bekommen eine neue Bedeutung, weil sie in den Augen der Schüler zu Zeugen einer reichen industriellen Vergangenheit werden; zugewachsene Alleen sind nicht mehr nur ein Dschungel in der Stadt, sondern plötzlich sieht man in ihnen Überreste 9  Matějka

(Hrsg.): Tragicka místa paměti (wie Anm. 8), S. 371 f.

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einer gepflegten Kulturlandschaft, eine Erinnerung an ein reiches Leben im Ort; leerstehende Häuser sind nicht mehr nur unansehnliche und gleichgültige Ruinen, sondern werden zu Zeugen des Bevölkerungsrückgangs, sei es nach 1945 oder nach 1989. Die Fähigkeit, in Bezug auf die Dinge um uns herum Geschichten zu sehen, die weit in die Vergangenheit reichen, bringt selbstverständlich auch eine stärkere Beziehung zum eigenen Ort, häufig gar ein Gefühl des Stolzes mit sich. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine stärkere Identifizierung mit der eigenen Heimat. Welche Rolle spielen in einem solchen Unterricht die Heimat und die Heimatgeschichte? Gibt es einen Unterschied zwischen der lokalen, regionalen und der „großen“ Geschichte, auf die der Geschichtsunterricht in der Regel Bezug nimmt? Eigentlich keinen, in Wirklichkeit greifen beide Ebenen sehr gut ineinander. Es gibt keinen Unterschied zwischen einer „lokalen Geschichte“ und der „großen Geschichte“. Bei allen Geschichten, welche die Schüler in ihrer Umgebung finden können, besteht irgendeine Verknüpfung zur „großen Geschichte“ aus den Lehrbüchern, wie beispielsweise dem Zweiten Weltkrieg oder der kommunistischen Diktatur. Das ist selbstverständlich teilweise dadurch gegeben, dass es sich um bekannte Geschichten handelt – die regionalen oder älteren Geschichten hingegen sind nicht so bekannt, deshalb ist es schwierig für die Schüler, sie zu entdecken. Gleichzeitig lernen sie, die „große Geschichte“ nicht als etwas aufzufassen, was weit weg von ihrem Wohnort geschah, sondern etwas, was natürlich auch Einfluss auf ihre Heimat hatte. Obwohl der dargelegte Zugang zum Geschichtsunterricht über die Formulierung eigener Geschichten in den Schulen eher selten zu finden ist, glauben wir, dass er Chancen hat, sich durchzusetzen. Die Schulen müssen auf die Veränderung der Lebenswelt der heutigen Schülergeneration reagieren. Chancen sehen wir vor allem darin, dass die skizzierte Herangehensweise an die Geschichte auch in andere Schulfächer eingreift, was heutzutage sehr gewünscht wird. Die Stückelung des Unterrichts in isolierte Fächer erweist sich aus vielerlei Gründen als unzureichend, weil sie zwar die Schüler darüber belehrt, was Menschen in verschiedenen Wissenschaften in der Vergangenheit entdeckt haben, sie aber nicht auf die Zukunft vorbereitet. Da wir nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird, sollten wir uns mehr der Fähigkeit des eigenständigen und kritischen Denkens der Schüler sowie jenen Aspekten der Bildung widmen, die sie auf die Lösung neuer und unerwarteter Probleme vorbereitet. Die Verknüpfung einzelner Fächer stellt dabei eine Möglichkeit dar, das Bildungssystem in dieser Richtung zu verändern. Dadurch hört das Bildungsziel auf, nur eine pseudoakademische Vorbereitung auf Fächer vom Typ Chemie, Mathematik oder Geschichte zu sein. Das Ziel wird vielmehr die Fähigkeit sein, mit Hilfe dieser Fächer Probleme der Welt um uns herum zu lösen.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Rudolf Boch Inhaber der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz Anna Habánová, M. A., Ph. D. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte an der Technischen Universität Liberec, Kuratorin der Regionalgalerie Liberec doc. PhDr. Michaela Hrubá, Ph. D. Leiterin des Instituts für Geschichte der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität Ústí nad Labem Dr. George Indruszewski Gastforscher am Institut für Umwelt-, Sozialen und Räumlichen Wandel der Universität Roskilde doc. PhDr. Petr Kaleta, Ph. D Associate Professor am Institut für Mitteleuropäische Studien der Karlsuniversität Prag Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Inhaber der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz Mgr. Ondřej Matějka Historiker, Direktor von Antikomplex s. o., Prag Martin Munke M. A. Wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und der Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas an der Technischen Universität Chemnitz Mgr. Táňa Nejezchlebová Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Jan-EvangelistaPurkyně-Universität Ústí nad Labem PhDr. Michaela Ottová, Ph. D. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Christlichen Kunst der Karlsuniversität Prag Prof. Dr. Miloš Řezník Inhaber der Professur für Europäische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

doc. PhDr. Marie Ryantová, CSc. Direktorin des Instituts für Archivwesen und Historische Hilfswissenschaften der Philosophischen Fakultät an der Südböhmischen Universität České Budějovice, Vorsitzende der Tschechischen Archivgesellschaft Prof. Dr. Martina Schattkowsky Leiterin des Bereiches Geschichte des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. in Dresden, apl. Professorin an der Technischen Universität Dresden Dr. Markéta Bartoš Tautrmanová Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Teplice Dr. Lutz Vogel Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. in Dresden