Russische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert: Simon L. Frank: Das Gottmenschliche des Menschen 9783495860311, 9783495483367


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German Pages [353] Year 2014

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Inhaltsverzeichnis
I. Lebensetappen
II. Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg
1. Humanistischer Individualismus
2. Philosophie ist Lebensverstehen
3. Zeitgenössische Einflüsse
4. J. W. Goethes Intuition der Ganzheitlichkeit
5. Die personalistische Ontologie Wilhelm Sterns
6. Das Programm des »religiösen Humanismus«
7. Religiosität und »pantheistische Liebe
8. Der Optimismus der Vernunft
9. Die Selbstevidenz des Erlebens: W. James und F. Schleiermacher
10. Das ganzheitliche Begreifen des Wirklichen
11. Spinoza und die Zurückweisung des Monismus und Pantheismus
12. Das sittliche Ideal: Einheit des Unbedingten und Bedingten
III. Die ontologische Grundlegung
1. Die »Anwesenheit« des Seins
2. Das Sein ist metalogische Fülle. Die Unangemessenheit begrifflicher Sprache
3. Das Sein ist eines. Es ist unbestimmbar und undenkbar
4. Das Sein ist schöpferisches Können
5. Das Sein ist Leben und Geist
IV: Das Sein im Selbstsein
1. Die All-Einheit der menschlichen Seele
2. Die sich durch sich selbst erschließende Realität
3. Das unmittelbare Selbstsein ist transzendierendes geistiges Leben
4. Das Grenzenlose in der Weise des Begrenzten
5. Das Ganze im Einzelnen und das Einzelne in jedem anderen
6. Die Realität – ein »offenbar Geheimnis«
7. Die Aktualisierung des Selbstseins
V. Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein. Die Grundform der Offenbarung
1. Die Evidenz der Du-Realität
2. Offenbarung als Mitteilung der Realität des Offenbarenden
3. Das Wort – das Medium der Offenbarung
4. Die überzeitliche Gemeinschaftlichkeit – Grund jeder Gesellschaft
5. Das Wir-Sein ist grenzenlos, überzeitlich, überindividuell
6. Der ontologische Vorrang der Einheit vor der Vielfalt
VI. Anschluß an Transzendentalphilosophie und Phänomenologie
1. Kritischer Anschluß an Kant
2. Fichtes »intellektuelle Anschauung
3. Wilhelm Dilthey – Edmund Husserl – Max Scheler – Martin Heidegger
VII. Zur Methode des Frankschen Denkens: »Lebendiges Wissen« – »Belehrtes Nichtwissen«
1. Lebendiges Wissen
2. Auratische Beschreibung und »belehrtes Nichtwissen«
VIII. Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben
1. Das erkennende und wollende Transzendieren zur Welt
2. Das Transzendieren auf das an sich Sinnvolle und Objektive in der Liebe
3. Der Geist ist Grund
4. Einheit und Unterschiedenheit von Seele und Geist
5. Die Erfahrung der geistigen Realität als Zuruf und Offenbarung
6. Das geistige Sein – das Fundament der Personalität
IX. Das Sollen gründet im Sein
1. Das Sein ist Wille und Wert
2. Sittliches Leben ist mehr als Gesetzesgehorsam
3. Sittliche und rechtliche Normen
4. Vernunft und sittlicher Takt
5. Die Unvermeidbarkeit der Sünde. Die Eindämmung des Bösen
6. Die universale Schicksalsgemeinschaft aller Menschen
7. Nochmals: Gnade und Gesetz. Christliches Leben in der Welt
8. Die Utopie der Selbsterlösung
9. Christlicher Optimismus
X. Das transzendentale Wissen von Gott
1. Der Gott der Philosophen und der Gott des christlichen Glaubens
2. Der Gottesbeweis
3. Das ontologische Argument
4. Der religiöse Charakter des Arguments
5. Ablehnung des »kosmologischen« Gottesbeweises
6. Analoges und transzendentalphilosophisches Denken
7. Der Trost der Philosophie
XI. Das verstehende Erleben des Göttlichen und Heiligen
1. Bedingungen für die Erfahrung des Göttlichen
2. Andersheit und Ähnlichkeit
3. Die transzendentale Erfahrung der Realität im Schönen
4. Religiöse Erfahrung
5. Glaube als Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott
6. Die Gewißheit des Glaubens
7. Gegenständliche Wahrnehmung Gottes: W. Alston und J. Hick
XII. Der Mensch und das Sein: Geschöpf und Schöpfer
1. Das Ungeschaffene im Menschen
2. Der Mensch: Mitschöpfer mit Gott
3. Die Erschaffung des Seins durch Gott. Die »Andersheit« der Schöpfung
4. Eschatologischer Ausblick. Der Sieg am Ende
XIII. Gottmenschentum
1. Die transzendentale Einheit. Immanenz und Transzendenz
2. Gott und Mensch – ineinander verschränkte Begriffe
3. Der Begriff »Gottmenschlichkeit«
4. Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma
5. Das Heil für alle Menschen
6. Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung
7. Parallelen zur gegenwärtigen Theologie
XIV. Die Kirche – die göttliche All-Einheit in der Welt
1.Die »Wahrheit« des Wir als das »Heilige«
2. Die Kirche – soziologisch, ontologisch, theologisch
3. Die »eigentlich mystische« und die »empirisch-reale Kirche«
4. Die Einheit der beiden »Naturen« der Kirche
XV. mysterium iniquitatis
1. Der Widersinn des Bösen
2. Das konstruktive und das zerstörerische Moment der Negation
3. Das Böse – eine Folge der Freiheit?
4. Verführung durch das Böse?
5. Mein Sündenfall – der Sündenfall der Welt
XVI. Das Leid
1. Das Leid – das Signum des Weltseins
2. Der Sinn im Leiden
3. Der leidende Gott
4. Sühneopfer und stellvertretendes Opfer
XVII. Nikolaus von Kues – der Lehrer
1. Die Gewißheit des Absoluten
2. Wissen als ungegenständliche Erfahrung
3. Der menschliche Geist – das Bild des göttlichen Geistes
4. »transcensus«
5. Die Gottmenschlichkeit
6. Das Sein als Koinzidenz von Aktualität und Potentialität
7. Die »Kirche« – die in der »Wahrheit« vereinte Menschheit
XVIII. Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen
1. Kritische Rezeption
2. Religionsphilosophie
3. Russische Philosophie
4. Desiderate der Forschung
5. S. L. Frank – der Philosoph des christlichen Humanismus
Register
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Russische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert: Simon L. Frank: Das Gottmenschliche des Menschen
 9783495860311, 9783495483367

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https://doi.org/10.5771/9783495860311 .

Peter Ehlen Russische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert: Simon L. Frank

VERLAG KARL ALBER

A

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Simon L. Frank (1877–1950) ist nach dem Urteil des Philosophiehistorikers und Theologen W. W. Senkowski »der größte russische Philosoph überhaupt«. Frank hatte um die Jahrhundertwende Vorlesungen Georg Simmels in Berlin gehört und sich mit der Philosophie des Neukantianismus, mit Fichtes Idealismus, mit Schleiermacher, Spinoza und dem Pragmatismus auseinandergesetzt. Er rezipierte die Phänomenologie Husserls und den Personalismus. Als seinen »in gewissem Sinne einzigen Lehrer der Philosophie« aber bezeichnete er Nikolaus von Kues. Peter Ehlen geht den Einflüssen nach, die Frank verarbeitet hat. Er zeigt, wie Frank ausgehend von der personalistischen Phänomenologie eine Seinslehre begründet, in der die Problematik von Transzendenz und Immanenz im Sinne der subtilen Cusanischen Lehre der coincidentia oppositorum gelöst wird. Die Welt wird als Symbol der unergründlichen göttlichen Realität, der Mensch wird als »Gottmensch« begriffen. Der Begriff der »religiösen Erfahrung« findet durch Frank eine tragfähige Begründung. Ehlen zeigt, daß Franks Gedanken der gegenwärtigen Religionsphilosophie fruchtbare Impulse geben können. Der Autor: Peter Ehlen SJ ist Professor em. der Hochschule für Philosophie, München. Jüngste Veröffentlichungen insbes. zu russischen Philosophen. Mitherausgeber der Werke S. L. Franks in deutscher Sprache.

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2014

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Peter Ehlen

Russische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert: Simon L. Frank Das Gottmenschliche des Menschen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

2014

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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Kasimir Malewitsch, Rotes Haus © The Bridgeman Art Library Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten ISBN 978-3-495-48336-7 (Print)

ISBN 978-3-495-86031-1 (E-Book)

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Inhaltsverzeichnis

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II. Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg . . . . 1. Humanistischer Individualismus . . . . . . . . . . 2. Philosophie ist Lebensverstehen . . . . . . . . . . 3. Zeitgenössische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . 4. J. W. Goethes Intuition der Ganzheitlichkeit . . . . 5. Die personalistische Ontologie Wilhelm Sterns . . 6. Das Programm des »religiösen Humanismus« . . . 7. Religiosität und »pantheistische Liebe« . . . . . . 8. Der Optimismus der Vernunft . . . . . . . . . . . 9. Die Selbstevidenz des Erlebens: W. James und F. Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Das ganzheitliche Begreifen des Wirklichen . . . . 11. Spinoza und die Zurückweisung des Monismus und Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das sittliche Ideal: Einheit des Unbedingten und Bedingten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 24 34 38 41 43 46 48

III. Die ontologische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . 1. Die »Anwesenheit« des Seins . . . . . . . . . . . . 2. Das Sein ist metalogische Fülle. Die Unangemessenheit begrifflicher Sprache . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Sein ist eines. Es ist unbestimmbar und undenkbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Sein ist schöpferisches Können . . . . . . . . . 5. Das Sein ist Leben und Geist . . . . . . . . . . . .

63 66

IV. Das Sein im Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die All-Einheit der menschlichen Seele . . . . . . 2. Die sich durch sich selbst erschließende Realität . .

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I. Lebensetappen

49 54 56 58

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5 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Inhaltsverzeichnis

3. Das unmittelbare Selbstsein ist transzendierendes geistiges Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Das Grenzenlose in der Weise des Begrenzten . . . 96 5. Das Ganze im Einzelnen und das Einzelne in jedem anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6. Die Realität – ein »offenbar Geheimnis« . . . . . . 101 7. Die Aktualisierung des Selbstseins . . . . . . . . . 103 V. Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein. Die Grundform der Offenbarung . . . . . . . . . . . . 1. Die Evidenz der Du-Realität . . . . . . . . . . . . 2. Offenbarung als Mitteilung der Realität des Offenbarenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Wort – das Medium der Offenbarung . . . . . 4. Die überzeitliche Gemeinschaftlichkeit – Grund jeder Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Wir-sein ist grenzenlos, überzeitlich, überindividuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der ontologische Vorrang der Einheit vor der Vielfalt VI. Anschluß an Transzendentalphilosophuie und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kritischer Anschluß an Kant . . . . . . . . . . . . 2. Fichtes »intellektuelle Anschauung« . . . . . . . . 3. Wilhelm Dilthey – Edmund Husserl – Max Scheler – Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 108 111 113 115 117 119 123 124 128 130

VII. Zur Methode des Frankschen Denkens: »Lebendiges Wissen« – »Belehrtes Nichtwissen« . . . . 139 1. Lebendiges Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Auratische Beschreibung und »belehrtes Nichtwissen« 146 VIII. Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das erkennende und wollende Transzendieren zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Transzendieren auf das an sich Sinnvolle und Objektive in der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Geist ist Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einheit und Unterschiedenheit von Seele und Geist . 6 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Inhaltsverzeichnis

5. Die Erfahrung der geistigen Realität als Zuruf und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Das geistige Sein – das Fundament der Personalität . 160 IX. Das Sollen gründet im Sein . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Sein ist Wille und Wert . . . . . . . . . . . . 2. Sittliches Leben ist mehr als Gesetzesgehorsam . . 3. Sittliche und rechtliche Normen . . . . . . . . . . 4. Vernunft und sittlicher Takt . . . . . . . . . . . . 5. Die Unvermeidbarkeit der Sünde Die Eindämmung des Bösen . . . . . . . . . . . . 6. Die universale Schicksalsgemeinschaft aller Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Nochmals: Gnade und Gesetz. Christliches Leben in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Utopie der Selbsterlösung . . . . . . . . . . . 9. Christlicher Optimismus . . . . . . . . . . . . . . X. Das transzendentale Wissen von Gott . . . . . . . . . 1. Der Gott der Philosophen und der Gott des lebendigen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das ontologische Argument . . . . . . . . . . . 4. Der religiöse Charakter des Arguments . . . . . 5. Ablehnung des »kosmologischen Gottesbeweises« 6. Analoges und transzendentalphilosophisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Trost der Philosophie . . . . . . . . . . . . . XI. Das verstehende Erleben des Göttlichen und Heiligen . 1. Bedingungen für die Erfahrung des Göttlichen . . 2. Andersheit und Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . 3. Die transzendentale Erfahrung der Realität im Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Religiöse Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Glaube als Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott 6. Die Gewißheit des Glaubens . . . . . . . . . . . 7. Gegenständliche Wahrnehmung Gottes: W. Alston und J. Hick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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184 186 190 193 195

. 196 . 198 . 201 . 202 . 204 . . . .

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Inhaltsverzeichnis

XII. Der Mensch und das Sein: Geschöpf und Schöpfer 1. Das Ungeschaffene im Menschen . . . . . . 2. Der Mensch: Mitschöpfer mit Gott . . . . . 3. Die Erschaffung des Seins durch Gott. Die »Andersheit« der Schöpfung . . . . . . 4. Eschatologischer Ausblick. Der Sieg am Ende

. . . . 220 . . . . 220 . . . . 225 . . . . 228 . . . 234

XIII. Gottmenschentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Die transzendentale Einheit. Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Gott und Mensch – ineinander verschränkte Begriffe 242 3. Der Begriff »Gottmenschlichkeit« . . . . . . . . . 244 4. Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5. Das Heil für alle Menschen . . . . . . . . . . . . . 253 6. Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 7. Parallelen zur gegenwärtigen Theologie . . . . . . 260 XIV. Die Kirche – die göttliche All-Einheit in der Welt . . . . 1. Die »Wahrheit« des Wir als das »Heilige« . . . . . 2. Die Kirche – soziologisch, ontologisch, theologisch . 3. Die »eigentlich mystische« und die »empirisch-reale« Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Einheit der beiden »Naturen« der Kirche . . . . XV. mysterium iniquitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Widersinn des Bösen . . . . . . . . . . . . . 2. Das konstruktive und das zerstörerische Moment der Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Böse – eine Folge der Freiheit? . . . . . . . . 4. Verführung durch das Böse? . . . . . . . . . . . 5. Mein Sündenfall – der Sündenfall der Welt . . . XVI. Das Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Leid – das Signum des Weltseins . . 2. Der Sinn im Leiden . . . . . . . . . . . 3. Der leidende Gott . . . . . . . . . . . . 4. Sühneopfer und stellvertretendes Opfer

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. 277 . 278 . . . .

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289 289 291 294 296

Inhaltsverzeichnis

XVII. Nikolaus von Kues – der Lehrer . . . . . . . . . . . 1. Die Gewißheit des Absoluten . . . . . . . . . . 2. Wissen als ungegenständliche Erfahrung . . . . 3. Der menschliche Geist – das Bild des göttlichen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »transcensus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Gottmenschlichkeit . . . . . . . . . . . . . 6. Das Sein als Koinzidenz von Aktualität und Potentialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die »Kirche« – die in der »Wahrheit« vereinte Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII. Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen 1. Kritische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . 2. Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . 3. Russische Philosophie . . . . . . . . . . . . 4. Desiderate der Forschung . . . . . . . . . . . 5. S. L. Frank – der Philosoph des christlichen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Register

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Simon L. Franks Philosophie will in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts Orientierung bieten. Dazu fragt sie in sokratisch-platonischer Manier nach dem, was »wahrhaft« ist. Im menschlichen Selbstsein will sie den Grund des Seins aufdecken und so einen Humanismus begründen, der den Herausforderungen der Gegenwart standhält. Frank sieht diesen Grund im Sein des Menschen als Gottmenschen. Seine Philosophie ist darum philosophische Anthropologie. Sofern sie das Wesen und die Würde des Menschen in seiner Gottmenschlichkeit begründet sieht, nimmt sie auch zu den zentralen Problemen der philosophischen Gotteslehre Stellung. Franks Ausführungen zur politischen Philosophie, seine zeitgeschichtlichen Analysen sowie seine Aufsätze zur Literatur werden in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande berührt; in erster Linie will sie seine ontologische Begründung des Humanismus aufschließen. Es wird sich dabei zeigen, daß Frank bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bis heute kontrovers diskutierten Fragen der Religionsphilosophie Beiträge geleistet hat, die geeignet sind, auch die gegenwärtige Diskussion zu befruchten. Zu Recht wurde Frank von dem Philosophiehistoriker W. Senkowski »als der größte russische Philosoph überhaupt« bezeichnet, dessen System »die größte Errungenschaft, den Höhepunkt in der Entwicklung der russischen Philosophie« bilde. 1 Freilich, einen großen Teil seiner Werke hat Frank nicht in Rußland geschrieben. Die Umstände, unter denen sie verfaßt wurden, sind wenigstens zu skizzieren. Wichtiger noch sind die geistigen Einflüsse, die den Werdegang des Philosophen mitbestimmt haben. Auf sie ist ausführlicher einzugehen. Die außerhalb Rußlands vorherrschende Vorstellung vom philosophischen Denken in Rußland ist nach wie vor bestimmt durch die großen Schriftsteller-Philosophen des 19. Jahrhunderts (F. Dostojewski, L. Tolstoi, N. Gogol, I. Turgenew u. a.) und durch die eher nichtsystematischen Werke von Philosophen wie N. Berdjaew, L. Schestow oder in neuerer Zeit von M. Bachtin. Wladimir Solowjow, der große Denker des 19. Jahrhunderts, wird von philosophisch Interessierten zwar stets mit Hochachtung genannt, doch die Wahrnehmung seiner Philosophie beschränkt sich (außerhalb des kleinen Kreises von Solowjow-Spezialisten) weitgehend auf die eindrucksvolle »Kurze Erzählung vom Antichrist«; von seinen umfangreichen 1

V. V. Zen’kovskij: Istorija russkoj filosofii, Paris 1950, II, 2, S. 158, 178.

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Werken sind allenfalls Schlagworte bekannt wie »Sophia« und »Gottmenschentum«. Die Abhandlungen seiner späten Jahre zur Erkenntnismetaphysik und Ontologie sind in Deutschland de facto unbekannt. P. Florenski hat aufmerksame Leser zumal in Deutschland gefunden. Neben dem bewegenden Lebensschicksal ist es aber auch bei ihm die eigenartige Mischung von Theologie mit brillanter essayistischer Literatur, die ihm die Aufmerksamkeit sichert, und weniger die systematisch argumentierenden Passagen. Die Arbeiten von G. Schpet, der wie Florenski 1937 erschossen wurde, sowie A. Losew, der in die innere Emigration gezwungen wurde, sind in Deutschland weitgehend unbekannt. Der vorherrschende Eindruck vom philosophischen Denken der großen Russen, der sich in Westeuropa durchgesetzt hat, lautet in formaler Hinsicht zusammengefaßt etwa: Ein Philosophieren in literarischer Gestalt. Ein weiterer Grund dafür, daß die russischen Denker mit ihrem im engeren Sinn philosophischen Werk in Westeuropa nur wenig bekannt sind, liegt in ihrem Interesse an dem »Unsagbaren«. Denker, welche die immer neu aufbrechende Frage des Menschen nach Gott und die verführerische Macht des Bösen zum Thema wählen, sie aber nicht auf die Kategorien »nützlich« und »schädlich« reduzieren, sondern an ihrer Unergründlichkeit festhalten (erwähnt seien hier nur W. Solowjow, W. Iwanow und N. Berdjaew), werden schnell nicht mehr als stringente Denker ernst genommen und bleiben vom philosophischen Diskurs ausgeschlossen. Was (nach Wittgenstein) nicht »klar gesagt« werden kann, so das verbreitete Urteil, sei nicht Sache der Philosophie, sondern der Poesie und Kunst. Wo der philosophische Denker berührt, was den Menschen »unbedingt angeht« (P. Tillich) und damit über das hinausgeht, was begrifflich eindeutig sagbar ist, begibt er sich in die Nähe der Theologie. Er ist dann der Frage ausgesetzt, ob sein Wissen noch philosophischen Ursprungs ist oder bereits einen nur theologisch zu rechtfertigenden Begriff der Offenbarung voraussetzt. Er steht vor der Aufgabe, sein Wissen als philosophisch begründet aufzuweisen, obwohl es nicht mehr das Ergebnis einer formallogisch zwingenden Schlußfolgerung ist. Es wird sich zeigen, daß es S. L. Frank gelingt, methodisch stringent die Notwendigkeit, über die Beschränktheit des Verstandes hinauszugehen, mit den Mitteln eben des Verstandes aufzuweisen und so eine Weise des Wissens zu rechtfertigen, die nicht auf das begriff12 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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lich Sagbare beschränkt ist. Daß dies auf der Grundlage der philosophischen Tradition geschieht, ist selbstverständlich. Die Hauptwerke Franks, die im vorliegenden Buch herangezogen werden, sind in deutscher Übersetzung im Verlag Karl Alber, Freiburg, erschienen. Bei den bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht auf deutsch veröffentlichten Schriften greife ich auf die russischen Ausgaben zurück. Bis 1920 konnte Frank seine Arbeiten in Rußland veröffentlichen; die meisten seiner in der Emigration verfaßten Werke erschienen in Paris in russischer Sprache. Seit 1990 sind Franks Werke in Rußland wieder frei zugänglich. Übersetzungen einzelner Werke liegen außerdem englisch, italienisch, französisch, ungarisch und demnächst auch spanisch vor. Bei der Übertragung russischer Eigennamen in das lateinische Alphabet übernehme ich im Haupttext die Transkription des Duden; bei den bibliographischen Angaben in den Fußnoten folge ich der in den Bibliotheken und bei den Slawisten im deutschen Sprachraum üblichen Transliteration.

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I. Lebensetappen

Simon L. (Semjon Ljudwigowitsch) Frank wurde am 16. Januar 1877 in Moskau in der Familie des jüdischen Arztes Ludwig Frank geboren 1 ; der Vater starb, als Simon fünf Jahre alt war. Der Großvater mütterlicherseits, Mitbegründer der Moskauer jüdischen Gemeinde, vermittelte dem Jungen die ersten religiösen Eindrücke; doch dann führte ihn sein Stiefvater in die Gedankenwelt der radikalen »Volksfreunde« ein. Als Gymnasiast und dann als Student an der Moskauer juristischen Fakultät teilte Frank das für viele junge russische Intellektuelle gegen Ende des Jahrhunderts typische Interesse am Marxismus. Er selbst sprach von seinem »sozialistischen Glauben an die Erlösung der Menschheit durch eine radikale gesellschaftliche Umwälzung«. 2 Als 1899 Studentenunruhen ausbrachen, wurde er wegen Abfassung einer Proklamation für zwei Jahre von allen russischen Universitäten ausgeschlossen. Die hervorragende Beherrschung der deutschen Sprache veranlaßte den jungen Frank, nach Deutschland zu gehen (das Deutsche nannte er scherzhaft seine »Großmuttersprache«, weil er mit ihm durch seine aus Deutschland stammende Großmutter mütterlicherseits seit seiner Kindheit vertraut war). In Berlin besuchte er ab Herbst 1899 die Universität und hörte dort u. a. Vorlesungen zur Politischen Ökonomie und Philosophie beim Privatdozenten Georg Simmel, der zu dieser Zeit sein Werk »Philosophie des Geldes« abschloß und mit der formalen Soziologie eine neue Betrachtungsweise der Kultur begründete. Noch in Berlin verfaßte Frank seine erste wissenschaftliche Arbeit: eine kritische Stellungnahme zu Marx’ Werttheorie. Sie erschien 1900 in St. Pe-

Vgl. die ausführliche Biographie von Philip Boobbyer: S. L. Frank (1877–1950), Russian Philosopher. London 1993. 2 S. L. Frank: Licht in der Finsternis. Versuch einer christlichen Ethik und Sozialphilosophie. Freiburg (Alber) 2008. S. 42. 1

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tersburg.3 Anfang 1901 kehrte Frank nach Rußland zurück, wo er in Kasan sein juristisches Staatsexamen ablegen konnte. Das Tagebuch, das er im Winter 1901/1902 in Jalta begonnen hatte, ist ein beredtes Zeugnis seiner Suche nach geistiger Orientierung. 4 Es enthält zahlreiche längere Zitate in deutscher Sprache aus der Lyrik H. Heines, aber auch anderer deutscher Schriftsteller. Die mehrmalige anerkennende Erwähnung G. Simmels mit Zitaten aus dessen Einleitung in die Moralwissenschaft läßt den Einfluß erkennen, den dieser Denker für das Problembewußtsein des jungen Frank hatte. Das Frühjahr 1902 war für ihn eine Zeit, in der sich ihm, wie er später selbst bekannte, die »Wirklichkeit des Geistes« öffnete. In besonderer Weise hat hierzu auch die Lektüre der Schriften Nietzsches beigetragen. Von Bedeutung für Franks politisches und sozialphilosophisches Denken wurde im Herbst 1902 in Stuttgart die Begegnung mit Petr B. Struwe, einem der führenden liberal-konservativen politischen Publizisten in Rußland vor der Revolution. 5 Dieser war zuvor auf Franks Marxbuch aufmerksam geworden und hatte eine anerkennende Rezension darüber geschrieben. Mit dem sieben Jahre älteren Struwe sollte Frank eine lebenslange freundschaftliche Beziehung verbinden. Im Herbst 1903 hielt Frank sich in München auf und arbeitete in den folgenden eineinhalb Jahren an der von P. B. Struwe gegründeten und in Stuttgart erscheinenden oppositionellen Zeitschrift Befreiung (Osvobozˇdenie) mit. Ihr Ziel war, durch Unterstützung der Partei der »Konstitutionellen Demokraten« in Rußland eine konstitutionell verfaßte rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Nach der Rückkehr nach Rußland redigierte Frank gemeinsam mit Struwe die Wochenzeitung Polarstern (Poljarnaja zvezda) und, nachdem diese 3 S. L. Frank: Teorija cennosti Marksa i ee znac ˇ enie. Kriticˇeskij etjud, St. Petersburg 1900. Vgl. S. L. Frank: Vospominanija o P. B. Struve. In: Neprocˇitannoe, Moskau 2001, S. 402. Ferner: Predsmertnoe. Vospominanija i mysli. In: Russkoe mirovozzrenie. St. Petersburg 1996, S. 661. – Diese Jugendschrift Franks war mir nicht zugänglich. Es wäre zu prüfen, wie weit sie unter dem Einfluß Simmels steht, der sich gleichfalls mit Marx’ Werttheorie auseinandergesetzt hatte. Simmels »Philosophie des Geldes« erschien 1900 bei Duncker und Humblot in Leipzig. Sie war vorbereitet durch mehrere Veröffentlichung u. a. zur »Psychologie des Geldes« (1889), zur »Sozialen Differenzierung« (1890). 4 S. L. Frank: Saratovskij tekst. Sostav. A. Gaponenkov, E. Nikitin. Saratov (Izd. Sarat. un-ta) 2006. 5 Vgl. A. A. Ermic ˇ ev: S. L. Frank – filosof russkogo mirovozzrenija. In: Russkoe mirovozzrenie. St. Petersburg 1996. S. 8.

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eingestellt werden mußte, ab Ende 1906 mehr als zehn Jahre die Zeitschrift Russisches Denken (Russkaja Mysl’). Seine Sprachkenntnisse erlaubten es Frank, sich als Übersetzer zu betätigen: Er übersetzte W. Windelbands Präludien (2. Auflage, 1903), K. Fischers Geschichte der neuen Philosophie, F. Schleiermachers Reden über die Religion und E. Zellers Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie. 1909 gab er die Logischen Untersuchungen I von Edmund Husserl in russischer Sprache heraus, die erste fremdsprachige Ausgabe dieses Werkes überhaupt. An einem Mädchengymnasium und an einer Abendschule fand er seine erste Anstellung als Dozent für Philosophie. 1912 wurde er orthodoxer Christ. Im selben Jahr begann er als Privatdozent in St. Petersburg zu lehren. Von 1913 bis zum Beginn des Krieges im August 1914 hielt Frank sich zu weiteren Studien in Marburg und in München auf. Als deren Frucht legte er in Petrograd (St. Petersburg) 1915 seine Erkenntnislehre vor und verteidigte sie im Mai 1916 als »Magisterdissertation«. Er gab ihr den Titel Der Gegenstand des Wissens – Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis. 6 Es ist die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Ontologie der All-Einheit. Dmitri Tschizˇewskij hat es als das »wohl bedeutendste Buch der russischen philosophischen Literatur im 20. Jahrhundert« bezeichnet. 7 Ein ruhiges akademisches Leben war in Rußland zu dieser Zeit schon nicht mehr möglich. Im Februar 1917 wurde der Zar gestürzt. Im Juli 1917 hatte Frank mit dem Titel Die Seele des Menschen seine im Jahr zuvor abgeschlossene philosophische Psychologie veröffentlichen können. 8 Sie war seine »Doktordissertation«; nach deutschem S. L. Frank: Der Gegenstand des Wissens – Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis. Freiburg/München 2000. 526 S. – Der russische Titel Predmet znanija kann sowohl als Gegenstand des Wissens als auch als Gegenstand der Erkenntnis wiedergegeben werden. Frank selber hat ihn in seinem Aufsatz Erkenntnis und Sein auf deutsch wiedergegeben: Der Gegenstand der Erkenntnis. Über die Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis (in: Logos, Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 1928, Bd. 17). Das Wort otvlecˇennoe im Untertitel Ob osnovach i predelach otvlecˇennogo znanija wird gewöhnlich als abstrakt übersetzt. Frank selber begründete die Verwendung als begrifflich in Der Gegenstand des Wissens, S. 294 (Predmet znanija. St. Peterburg 1995, Kapitel VI, S. 220, Fußnote) damit, daß es im Russischen keine adjektivische Ableitung von ponjatiå (= Begriff) gibt. Außerdem rechtfertigt Frank diesen Wortgebrauch (otvlecˇennoe = begrifflich) im »Vorwort«. – Die Schrift W. Solowjows Kritika otvlecˇennych nacˇal wird gewöhnlich übersetzt Kritik der abstrakten Prinzipien. 7 D. Tschiz ˇ ewskij: Hegel bei den Slaven, Darmstadt 2 1961, S. 358. 8 S. L. Frank: Dus ˇ a cˇeloveka. Opyt vvedenija v filosofskuju psichologiju. Petrograd 6

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Standard handelte es um eine Habilitationsschrift, die dem Verfasser die akademische Laufbahn an der Universität eröffnen sollte. Doch ihre Verteidigung konnte nicht mehr stattfinden. Soziale Unruhen erschütterten das Land. Im Oktober ergriffen die Bolschewisten die Macht. Wenige Wochen vor der bolschewistischen Revolution wurde Frank zum Lehrstuhlinhaber und Dekan der neu eröffneten historisch-philologischen Fakultät der Universität Saratow, der Heimatstadt seiner Ehefrau, berufen. Dann endete der Weltkrieg; es begann der verheerende Bürgerkrieg mit einer viele Menschen dahinraffenden Hungersnot. Frank suchte Zuflucht in den deutschen Siedlungsgebieten an der Wolga. 1921 arbeitete er in Moskau (zusammen mit N. A. Berdjaew) an der »Akademie für geistige Kultur«. Doch schon im Herbst des folgenden Jahres wurde er, wie zahlreiche andere den neuen Machthabern nicht genehme Wissenschaftler und Gelehrte aus der Russischen Sowjetrepublik ausgewiesen. Zuvor hatte er noch seine in Saratow gehaltenen Vorlesungen unter dem Titel Grundriß der Methodologie der Gesellschaftswissenschaften herausbringen können. 9 Mit seiner Ehefrau Tatjana und seinen vier Kindern zog er nach Berlin. Es begann die Zeit der Not als heimatvertriebener Emigrant. Mit anderen ausgewiesenen russischen Intellektuellen wie N. Berdjaew und F. Stepun gründete Frank in Berlin eine »Religionsphilosophische Akademie« und ein »Russisches wissenschaftliches Institut« zur Weiterbildung russischer Emigranten. Es entstanden mehrere größere Aufsätze: Götzendämmerung (1924), Die religiösen Grundlagen der Gesellschaftlichkeit (1925), Der Sinn des Lebens (1926). Auch in deutschen Zeitschriften publizierte er, so in den »Kant-Studien«, im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, im »Logos«, im »Hochland« und im »Gral«. Zu den damals entstandenen Schriften zählt auch der heute in Rußland mit der Person Franks besonders verbundene Aufsatz Die russische Weltanschauung; seine erste Fassung hatte Frank 1925 in Berlin vor der Kant-Gesellschaft vorgetragen. 10 Aufmerksam beobachtete Frank die Vorgänge in der Sowjetunion. 11 Seine Deutung der Geschehnisse übertraf durch ihre Klarheit 1917. Dieses Werk erscheint 2009 als 2. Band der deutschen Werkausgabe im Verlag Alber, Freiburg. 9 S. L. Frank: Oc ˇ erk metodologii obsˇcˇestvennych nauk. Moskau 1922. 124 S. 10 S. L. Frank: Die russische Weltanschauung. (Berlin-)Charlottenburg 1926. 41 S. 11 P. Ehlen: Semen Frank kak politic ˇ eskij myslitel’ (P. Ehlen: Simon Frank als politischer Denker). In: Voprosy filosofii (Fragen der Philosophie) Nr. 11, 2003, S. 135–150.

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und Nüchternheit die Stellungnahmen von Berdjaew und Karsawin. Frank deckte bereits in den frühen zwanziger Jahren den Zusammenhang der Marxschen Erlösungsutopie mit dem Terror des bolschewistischen Sozialismus auf, den in Westeuropa selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Analytiker erkannten. Seine Analyse hat er vor allem in zwei einander ergänzenden Aufsätzen vorgelegt: 1924 in russischer Sprache mit dem Titel Die religiös-historische Bedeutung der russischen Revolution 12 , dann 1925 in deutscher Sprache unter dem Titel Kommunismus und Bolschewismus als geistige Erscheinungen im »Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie«. 13 Religionsphilosophisch bedeutsam ist sein Beitrag für das »Russische wissenschaftliche Institut« in Belgrad 1930 Der ontologische Beweis für das Sein Gottes. 14 Im politisch aufgewühlten Berlin jener Jahre schrieb Frank seine Sozialphilosophie Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft, die er 1930 in Paris veröffentlichte. 15 Für wenige Jahre, 1931 bis April 1933, konnte er am Slawischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität als Lektor arbeiten (Max Vasmer, den Lehrstuhlinhaber, kannte Frank aus Saratow). Aber dann war, infolge der Herrschaft der Nationalsozialisten, die Möglichkeiten, durch wissenschaftliche Vorträge und Publikationen den Lebensunterhalt zu verdienen, nur noch sehr eingeschränkt gegeben. In Berlin arbeitete Frank weiter an seiner Religionsphilosophie Das Unergründliche 16 ; er schrieb sie auf deutsch, um sie in Deutschland publizieren zu können. Im Dezember 1935 war die Arbeit abgeschlossen, doch die nationalsozialistischen Machthaber ließen eine Veröffentlichung nicht zu. Ende 1937 floh Frank mit seiner Familie nach Paris. Seine Religionsphilosophie erschien dann leicht umgearbeitet in russischer Sprache 1939 in einem kleinen Pariser Emigrantenverlag. 12 S. L. Frank: Religiozno-istoric ˇ eskij smysl ruskoj revoljucii, Berlin 1924. In: S. L. Frank: Russkoe mirovozzrenie, St. Petersburg 1996, S. 119–137. 13 S. Frank: Bolschewismus und Kommunismus als geistige Erscheinungen. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 18, 1925, S. 529–544. 14 S. L. Frank: Ontologic ˇ eskoe dokazatel’stvo bytija Boga. In: Po tu storonu pravogo i levogo, Paris 1970. 15 S. L. Frank: Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft. Einführung in die Sozialphilosophie. Freiburg 2002 [S. L. Frank: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva, Vvedenie v social’nuju filosofiju. Paris 1930]. 16 S. L. Frank: Das Unergründliche. Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion. Freiburg/München 1995 [S. L. Frank: Nepostizˇimoe. Ontologicˇeskoe vvedenie v filosofiju religio. Paris 1939].

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Lebensetappen

Den Krieg überlebte Frank in großer materieller Bedrängnis; oft schwebte er in Lebensgefahr. Ein kontinuierliches Forschen und so auch die Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Auffassungen war stark behindert. Die letzten Schriften erscheinen seiner Schaffenskraft geradezu abgerungen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er eine Überlegung zur Ursache dieser Katastrophe: Die Häresie des Utopismus. Er sah sie im angemaßten Willen zur Selbsterlösung, der in einem irrigen Menschenbild gründet. 17 1945 war Frank mit seiner Frau nach London zur dort lebenden Tochter übergesiedelt. 1946 veröffentlichte er in englischer Sprache eine Abhandlung Mit uns ist Gott zum Begriff des Glaubens und der religiösen Erfahrung (u. a. eine Auseinandersetzung mit John Henry Newmans Essay in Aid of a Grammar of Assent); es folgte 1949 in russischer Sprache Das Licht in der Finsternis. Versuch einer christlichen Ethik und Sozialphilosophie (begonnen in Berlin 1934; abgeschlossen in London im November 1945). Im September 1949 konnte Frank seine philosophische Anthropologie zu Ende bringen: Die Realität und der Mensch. Eine Metaphysik des menschlichen Seins; posthum erschien sie 1956 in Paris in russischer Sprache. 18 Zusammen mit seiner Erkenntnislehre und Das Unergründliche enthält sie die Summe seines Denkens und damit seinen eigenen wesentlichen Beitrag zur Philosophie des 20. Jahrhunderts. Am 10. Dezember 1950 starb Frank in London an den Folgen einer Lungenerkrankung. Der Erste Weltkrieg, die Revolutionen 1917, die durch den folgenden Bürgerkrieg noch verschärfte Hungersnot, die Vertreibung mit der Familie aus der Heimat und die für einen jüdischen Emigranten äußerst schwierige Existenzsicherung in Deutschland, schließlich die Flucht vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und die Lebensgefahr während der deutschen Besatzung, die bedrückende Not im London der Nachkriegszeit – das waren keine günstigen Voraussetzungen für ein philosophisches Forschungsprogramm. Eine mit diszipliniertem Fleiß gepaarte außerordentliche Begabung erlaubte es Frank dennoch ein eindrucksvolles Werk zu schaffen, das von jedem Ressentiment frei ist und Einsichten enthält, die über die Bedingungen ihrer Entstehung hinaus Interesse verdienen. S. L. Frank: Eres’ utopisma. In: Novij zˇurnal, 1946, Nr. 14, S. 137–153. In: Po tu storonu pravogo i levogo. Paris 1970. 18 S. L. Frank: Die Realität und der Mensch. Eine Metaphysik des menschlichen Seins. Freiburg (Alber) 2004 [Real’nost’ i cˇelovek. Metafizika cˇelovecˇeskogo bytija. Paris (YMCA) 1956]. 17

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II. Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

Simon Franks Sohn Viktor schrieb in seinem Nachruf: Der Vater »war in der russischen geistigen Tradition fest verwurzelt, zugleich aber war er ein überzeugter Westler, in vielem der europäischen und insbesondere der deutschen Kultur verbunden. Marx hatte seinen Intellekt geweckt, Nietzsche sein geistiges Leben; Goethe aber hatte ihm geholfen, sich seiner philosophischen Grundintuition bewußt zu werden. Und nicht zufällig hat er einen deutschen Denker als seinen einzigen Lehrer in der Philosophie bezeichnet – den Philosophen und Theologen Nikolaus von Kues«. 1 Marxist oder Nietzscheaner ist Frank freilich nie in dem Sinne gewesen, daß er die Weltanschauung dieser Denker sich zu eigen gemacht hätte; sie haben lediglich den ersten Fragehorizont des jungen Mannes mitgestaltet. Ungleich prägender wurde der Einfluß jener Philosophen, die Frank in dem darauf folgenden Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg kennenlernte. Die Fragen »Was ist der Mensch? Welchen Sinn hat sein Leben?«, die Frank als typisch für das Philosophieren in Rußland nannte 2 , sind auch die Fragen, die von Anfang an sein eigenes Denken leiteten; auch für Frank schlossen sie die Frage nach dem Sinn des gesellschaftlichen Lebens ein. Es lag nahe, daß er zuerst bei der in jenen Jahren in Deutschland vorherrschenden Philosophie eine Antwort suchte: bei der Philosophie Kants und Fichtes in ihrer neukantianischen Fassung. Sie lehrte ihn, daß die Wirklichkeit ein Ganzes ist, dessen Mitte das menschliche Bewußtsein bildet. In diesem Abschnitt sollen die Aufsätze herangezogen werden, die Frank bis 1913 verfaßt hat und die über seine tastenden Versuche

V. S. Frank: Semen Ljudvigovicˇ Frank, 1877–1950. In: Sbornik Pamjati Semena Ljudvigovicˇa Franka. Pod.red. V. Zen’kovskogo. München 1954, S. 3. Ich verdanke die Mitteilung, daß der Verfasser dieses Beitrags der Sohn Viktor ist, Peter Scorer, London. 2 Vgl. S. L. Frank: Die russische Weltanschauung. (Berlin-)Charlottenburg 1926. S. 31 f. 1

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

Auskunft geben, dieses Ganze zu begreifen. Der Begriff »Kultur« kennzeichnet eine wichtige Etappe auf diesem Weg.

1.

Humanistischer Individualismus

1905 hatte Frank einen Aufsatz Grundrisse einer Kulturphilosophie mit den Zwischentiteln Was ist Kultur? und Kultur und Person in der Zeitschrift »Polarstern« gemeinsam mit P. B. Struwe veröffentlicht. 3 Im nächsten Jahr folgte ein Aufsatz Religion und Kultur anläßlich eines Buches von D. S. Mereshkowski gleichfalls im »Polarstern«. 4 1909 ein Aufsatz Kultur und Religion in »Russisches Denken«. 5 Weiter erschien 1910 die Abhandlung Natur und Kultur in »Logos« 6 und schließlich im selben Jahr der Band Philosophie und Leben mit 18 (teilweise schon früher verfaßten) Aufsätzen und dem erklärenden Untertitel Studien und Skizzen zur Kulturphilosophie. 7 Wichtige Begriffe und Themen, die Franks Denken insgesamt kennzeichnen werden, begegnen bereits im Aufsatz Grundrisse einer Kulturphilosphie aus dem Jahr 1905. Es soll genügen, diese hier herauszustellen. Franks Interesse am kulturellen Zusammenhang, in den jedes Individuum gestellt ist, ist phänomenologisch, nicht soziologisch orientiert. Die Kultur ist als ein das menschliche Leben umfassendes Ganzes erkannt, aus dem auch, wer einzelne ihrer Erscheinungen bekämpft, nicht ausscheiden kann. Zum kulturellen Schaffen angeregt wird der Mensch durch Ideale und Werte – an erster Stelle durch die Werte des Wahren, des Guten, des Schönen, des Heiligen. Im geistigen Leben, das die Kultur ausmacht, wächst das »göttliche Wesen« des Menschen mit seinen irdischen Werten zu einer Einheit zusammen. Schrittweise wird so das absolute Ideal in die Kultur »inkarniert«. Denn im menschlichen Bewußtsein »kreuzt« sich die S. L. Frank: Ocˇerki filosofii kul’tury. Cˇto takoe kul’tura? Kul’tura i licˇnost’. Poljarnaja zvezda, Dezember 1905, Nr. 2 und Nr. 3 (gemeinsam mit P. B. Struwe). In: Neprocˇitannoe … Stat’i, pis’ma, vospominanija. Moskau 2001, S. 37–62. 4 S. L. Frank: Religija i kul’tura, in »Poljarnaja zvezda«, 1906, Nr. 12. In: Russkoje mirovozzrenie, St. Petersburg 1996, S. 529–535. 5 Kul’tura i religija, in »Russkaja Mysl’«, 1909, VII. In: Russkoje mirovozzrenie, St.Petersburg 1996, S. 554–569. 6 S. L. Frank: Priroda i kul’tura. In: Logos, 1910, S. 50–89. 7 S. L. Frank: Filosofija i z ˇ izn’. Etjudy i nabroski po filosofii kul’tury. St. Petersburg 1910. 3

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Humanistischer Individualismus

»Welt des Ideals« mit der »Welt des Wirklichen«. Das kulturelle Leben ist von den dinglichen zivilisatorischen Errungenschaften zu unterscheiden, wenngleich es von ihnen auch nicht getrennt ist. Jedenfalls bedarf es keiner Rechtfertigung durch irgendwelche Nützlichkeit. Bereits in diesem frühen Aufsatz kennzeichnet Frank die Rolle des Menschen als des Schöpfers und Vermittlers aller Kulturerscheinungen – auch der Religion – mit dem Begriff »Gottmenschentum«. Dem Kulturbegriff liegt darum das »Gottmenschentum« zugrunde. Vergäße der Mensch, daß er selber das »höchste Prinzip« schafft, und würde er es daraufhin (wie es im religiösen Leben »häufig« geschehe) als etwas objektiv Gegebenes verehren, würde er sich selbst verleugnen. Die Idee des »Gottmenschentums« ist in dieser Schrift eng mit der des »Humanismus« verbunden; dessen Kern besteht im »Glauben an absolute Werte vereint mit dem Glauben an die Menschheit und ihre schöpferische Aufgabe auf Erden«. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, ist Freiheit die unabdingbare Voraussetzung. Die Aussagen über das Gottmenschentum und den Humanismus sind für Frank Wesensaussagen, die für jeden Menschen gelten und deshalb weitreichende Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben haben: Jeder Mensch ist eine »physisch-psychische Erscheinung des höchsten transzendenten Prinzips – jenes Geistes, der für uns das Heilige ist«; er ist damit von unendlichem und deshalb gleichem Wert und hat das Recht auf unbedingte Achtung. Er kann darum niemals Mittel für andere sein oder für irgendwelche außerhalb seiner liegende Ziele. Gewalt gegen andere Menschen anzuwenden, heißt es bereits 1905, kann unter bestimmten Bedingungen geboten sein (etwa zur Verteidigung); doch auch dann bleibt sie sittlich verwerflich. Mit dem Problem, daß sittliche Forderungen in einer komplexen Situation einander widersprechen können, wird Frank bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs ringen. Der Mensch ist einer »ewigen Tragöde« ausgesetzt und kann nur versuchen, einen »ethisch vertretbaren Kompromiß zwischen einander widersprechenden Pflichten« zu finden. Eine »prinzipielle Lösung des Dilemmas« ist unter den Existenzbedingungen der faktisch gegebenen Welt nicht möglich. Frank faßt seine Auffassung mit dem Begriff »humanistischer Individualismus« zusammen und bezeichnet sie als »ganzheitliche und innerlich stimmige kultur-philosophische Weltanschauung«. 23 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Am Auffälligsten ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffs »Gottmenschentum«, der an W. Solowjows »Vorlesungen« erinnert, aber noch keineswegs die volle Bedeutung hat, die ihm bei Solowjow und in Franks eigenen späteren Werken zukommt. Frank gebraucht ihn als Chiffre für den Kreuzungspunkt des Absoluten und des Konkret-Beschränkten im Menschen. Wie die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen und innerhalb dieser Einheit das Göttliche zu verstehen ist, in welchem Sinne also der Mensch eine »Erscheinung« des »Heiligen« ist, andererseits aber doch diese Idee, einschließlich der Idee Gottes, »zu schaffen« imstande ist, bleibt, ebenso wie der Begriff »Transzendenz«, noch ungeklärt. Offensichtlich ist jedoch, daß für Frank das Göttliche oder Heilige dem Menschen nicht als etwas objektiv Eigenes gegenübersteht. Es ist in die »Kultur«, die als Lebensganzes eine dynamische geistige Einheit ist, eingeschlossen. Franks Interesse an der Kulturphilosophie erscheint von seinem Berliner Lehrer G. Simmel inspiriert. Mit ihm stimmt er in der Wertung der Kultur als überindividuelles Gebilde, dessen Erscheinungen unabhängig vom Dafürhalten der Individuen Geltung besitzen, überein. Eine evolutionistische Deutung der Kultur, wie sie bei Simmel anzutreffen war, findet sich jedoch bei Frank nicht. Mit dem Begriff des »Gottmenschentums« geht er über die neukantianische Kulturphilosophie zumindest insofern hinaus als mit ihm die Frage nach einem idealen Seinsgrund der Kulturerscheinungen angedeutet ist. Zu berücksichtigen ist, daß der hier zusammengefaßte Aufsatz nicht als philosophischer Essay, sondern als Programmschrift für eine politische Zeitschrift verfaßt wurde.

2.

Philosophie ist Lebensverstehen

Von welchem philosophischen Hintergrund ausgehend Frank seine Skizze des »humanistischen Individualismus« entworfen hat, zeigt der umfangreiche Aufsatz »Kritischer Idealismus«, den er kurz zuvor, im Dezember 1904, veröffentlicht hatte. 8 Die bekenntnishafte Anerkennung, die der 27jährige Verfasser der Philosophie Kants und Fichtes entgegenbringt, entspricht dem Charakter einer Jugendschrift; dennoch ist der Aufsatz durchaus kein schülerhafter Abriß 8

S. L. Frank: O kriticˇeskom idealizme, in: Mir Bozˇij, Nr. 12, 1904, S. 224–264.

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Philosophie ist Lebensverstehen

des Kant-Fichteschen Idealismus. Auch wenn Frank nicht alle in ihm vertretenen Thesen beibehalten wird, werden doch in ihm bereits Gedanken thematisiert, die das Profil des reifen Werkes ausmachen. Weil dieser Aufsatz den Quellort von Franks Philosophieren erkennen läßt, wird die Analyse ausführlicher sein müssen als bei den übrigen. Wie können wir unser Wissen als wahres Wissen ausweisen? Frank beginnt mit der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Kriterium der Wahrheit. Die naiv-realistische Antwort: Wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt, genügt nicht. Sie provoziert die weitere Frage, wie wir denn wissen können, was wirklich ist, da doch, was wir als wirklich ausgeben, immer die von uns schon erkannte Wirklichkeit, also immer Inhalt unseres Bewußtseins ist. Der Abgrund zwischen dem Bewußtseinsinhalt und dem Wirklichen ist unüberbrückbar. Die Wahrheit kann deshalb nicht mit Berufung auf eine »absolut« verstandene Wirklichkeit bewiesen werden; ihr Kriterium kann nur »innerhalb der Grenzen des Bewußtseins« liegen. Frank beruft sich auf die Einsicht Kants, die er für unabweisbar hält: Was uns als wirklich erscheint, ist Werk des menschlichen Bewußtseins. Unser Bewußtsein gliedert die chaotischen Sinneseindrücke mit den logischen Kategorien der Substantialität und Ursächlichkeit und macht sie zu einem Komplex, der sich durch strenge Gesetzmäßigkeit auszeichnet und sich dadurch von willkürlich erzeugten oder »bloß subjektiven« Vorstellungen unterscheidet. Aber auch der Unterschied des Wirklichen vom nur »Subjektiven« verbleibt innerhalb des Bewußtseins. Da auch die »Gegenständlichkeit« (Substantialität), wie Kant zeigte, eine Kategorie des Bewußtseins ist, ist das, was uns als »Welt« erscheint, ungeachtet seiner harten Wirklichkeit, »ein geronnener, kristallisierter Teil unseres Bewußtseins« (S. 233). Aber auch was die Metaphysiker sich als »transzendente Wirklichkeit« denken, ist, sobald sie es denken, nur eine Gegebenheit ihres Bewußtseins. Frank verweist hier auf die Immanenzphilosophie, die in jenen Jahren von W. Schuppe, R. Schubert-Soldern und verwandten Denkern auf der Basis der Kant-Fichteschen Erkenntnislehre entwickelt worden war. In deren Sinn schreibt er: »Wir können die immanenten Grenzen des Bewußtseins weder praktisch […] noch theoretisch […] überschreiten« (S. 235). Sowohl Metaphysiker wie Positivisten sind, je auf ihre Weise, in einer »Seinshypnose« befangen, in der sie meinen, sie könnten die Wirklichkeit als solche erreichen. Die »absolute Wirklichkeit«, vor welcher das naive vorkritische 25 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Denken sich »wie vor einer allmächtigen und all-einen Gottheit ehrfürchtig verneigte«, ist dagegen, wie die »kritische« Philosophie zeigt, »Teil eines noch größeren und wirklich allumfassenden Ganzen – des Bewußtseins« (S. 237). Für Frank ergibt sich daraus eine höchst folgenreiche Einsicht: Unsere Vernunft ist nicht darauf beschränkt, die »substantielle Wirklichkeit« zu denken; dieser »prinzipiell gleichberechtigt« ist der »weite und fruchtbare Bereich der Selbsttätigkeit der Vernunft«. Schon die Erkenntnis selber kann nicht zur »Wirklichkeit« gezählt werden, weil sie es ja ist, welche die Wirklichkeit aufbaut. Ebensowenig ist die »Wahrheit« als Korrelat der Erkenntnis etwas substantiell (gegenständlich) Wirkliches. »Sobald wir bei der Erforschung der Wirklichkeit das erste Urteil fällen, werden wir schon vom fertigen Begriff der Wahrheit geführt und erkennen seine ganze unbedingte Bedeutung«. Die Inhalte unseres geistigen Lebens – dazu gehören die sittlichen, ästhetischen und religiösen Erfahrungen – sind nur zu einem Teil »objektive« Wirklichkeit. »Das Übrige, wie die Gesetze und Formen, unter denen das Bewußtsein funktioniert, bleibt bei uns in seiner ganzen Unversehrtheit und Unabdingbarkeit, ohne in die objektive Welt einzugehen« (S. 239). Wollte man diese Inhalte und mit ihnen die Funktionen des Bewußtseins und den Wahrheitsbegriff als »Sein« bezeichnen, müßte sicher gestellt sein, daß dieses »Sein« nicht nur wesentlich, sondern auch in der unmittelbaren Form seiner Wahrnehmung, nicht vom Subjekt getrennt ist, sondern »von uns gewußt wird wie unser eigenes inneres Erleben«. Das Sein wäre darum völlig falsch verstanden, würde man es für eine gegenüber dem Subjekt verselbständigte jenseitige »metaphysische Wirklichkeit« halten. Den Grundfehler der Metaphysik sieht der »kritische« Philosoph »im Versuch, Objekt und Subjekt im Begriff einer allumfassenden Realität zu synthetisieren«. Eine derartige Synthese muß widersprüchlich und bloß scheinbar bleiben – widersprüchlich, weil es, ohne in logische Widersprüche zu fallen, unmöglich ist, die Formen und Produkte der Selbsttätigkeit des Bewußtseins zu hypostasieren und sich als absolute Wirklichkeit vorzustellen – bloß scheinbar, weil jenseits eines derartigen imposanten Systems der metaphysischen Realität immer noch unschwer das Erkenntnissubjekt, die Vernunft, die dieses System errichtet hat und über ihm frei schwebt, auszumachen ist (S. 243 f.). Während die Metaphysik wie auch der Positivismus »onto26 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Philosophie ist Lebensverstehen

morph« ein (je verschieden verstandenes) objektiv gegebenes Sein zum Gegenstand ihrer Philosophie machen, strebt der »kritische Idealismus« nach einem »ganzheitlichen Wissen« verstanden als »System des Bewußtseins« oder der Vernunft [razum], in welches auch das erkennende Subjekt einbezogen ist. Gegenstand der kritischen Philosophie ist somit das »geistige Leben«. Dieses ist das »Ganze«, nicht aber eine objektivierbare Quantität, die zu untersuchen Aufgabe der Einzelwissenschaften ist (vgl. S. 264). 9 Gerade das erkennende Subjekt bzw. sein Ich ist nicht als Objekt zu erkennen. Aufgabe der kritischen Philosophie ist es im Sinne Kants die falsche Alternative zu überwinden, in der alles entweder als objektive Realität oder Substanz gilt oder als bloßes Hirngespinst angesehen wird, und das Bewußtsein zu befähigen, alles Gegebene gemäß dem ihm eigenen Sein zu verstehen. Fundamentalbegriff der kritischen Philosophie ist also das Bewußtsein, nicht das Sein, das in Franks Sicht unweigerlich etwas Objektivierbares bezeichnet. Das Bewußtsein steht außerhalb der Frage, ob es ist oder nicht ist, ob es wirklich oder nur gedacht ist – denn schon diese Fragen setzen es voraus. »Nicht die Kategorie des Seins, sondern nur die Idee der absoluten Undenkbarkeit des Entgegengesetzten gibt uns einen Hinweis auf den Charakter jener Unabweisbarkeit und Gegebenheit, die dem Bewußtsein eignet«. Freilich, auch die Kategorie der Undenkbarkeit setzt das Bewußtsein voraus und zeigt so nochmals dessen absolute Prioriät, wie Frank sofort anmerkt. Daraus ergibt sich die gewichtige Konsequenz: Das Bewußtsein, »das nicht wie ein Objekt erkannt werden kann, kann nur erlebt werden« (S. 241). Das umfassende Ganze, nach dem Frank als »kritischer Idealist« gesucht hatte, ist nicht gegenständlich als »Welt«, sondern als »ganzheitliches geistiges Leben« oder »Leben des Bewußtseins« zu charakterisieren. Wie die »Kategorie der Wirklichkeit« sind auch die sittlichen, ästhetischen und religiösen Ideen und die ihnen entsprechenden »Geistesverfassungen und Erfahrungen« unabweisbare »Momente des geistigen Lebens«, d. h. mit dem, was »absolut ursprünglich« Es ist bemerkenswert, daß Frank, wenn er von seiner Absicht spricht, ein »ganzheitliches Wissen« des Wirklichen zu gewinnen, W. Solowjow nicht erwähnt, der schon mit seiner Arbeit »Die philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens« (1877) und dann in »Kritik der abstrakten Prinzipien« (1877–1880) die Einheit von Vernunft und Glauben aufdecken wollte.

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und »gewiß« ist – dem »Leben des Bewußtseins« – selber unmittelbar verbunden (S. 242 f.). Wir haben sie »nicht als reale Objekte«, die wir uns durch Fragen nach ihrer Ursache, ihrer Herkunft und ihrer Stelle in der Welt »urteilend aneignen« können. Würden wir es versuchen, würden wir sie unausweichlich »verfälschen und vernichten« (S. 246). »Sie wurzeln ewig in den unerforschlichen Tiefen des Lebens« und sind dem rationalen Erkennen unzugänglich. Allein die »ganzheitliche Erfahrung des Geistes« kann sie erreichen. Für ihre Inhalte fordert Frank gleichwohl ein »realistisches Verstehen«, denn sie sind ja keine willkürlichen Hervorbringungen, sondern mit dem »Leben des Bewußtseins« selber unmittelbar gegeben. Realismus kann hier deshalb nicht heißen, die Werte des Guten, Schönen und Heiligen »als Kräfte oder Substanzen« eines objektivierbaren »Weltgebäudes« anzusehen. Sie sind, wie gesagt, »Lebensmomente«. Daraus folgt Franks Bestimmung der wahrhaft »universalen Philosophie«: »Sie darf nicht Weltbetrachtung sein, sondern muß Lebensverstehen [zˇizneponimanie] sein« (S. 246). Der »kritische Idealismus«, zu dem Frank sich bekennt, hat Konsequenzen für die Auffassung von der menschlichen Person. Der Leser kann den Eindruck gewinnen, daß der anthropologische Aspekt des Idealismus für Frank sogar im Vordergrund steht. Als »empirische Person« ist der Mensch nur ein winziges unscheinbares Element des grenzenlosen Weltalls. Obwohl der empirische Mensch sich in der ungeheuerlichen Weite des Weltalls als bedeutungsloses Staubkorn erfährt, ist die Welt dennoch »nur ein Teil des sie umfassenden universalen Bewußtseins«. Deshalb ist die Person, kraft ihrer Befähigung zur schöpferischen Tätigkeit kein nichtiger Teil des Seienden, vielmehr dessen höchster Gipfel und letzter Grund. Sie »umfaßt als Träger des allgemeinen Bewußtseins in sich das Leben in totaler Ganzheit« (S. 260). Denn ohne die Befähigung der Vernunft zu dem, was Kant die »transzendentale Apperzeption« genannt hatte, ist die Welt nicht denkbar. Mit der Anerkennung der Zweiheit von empirischer und transzendentaler Natur ist zugleich die Frage nach ihrer Einheit im konkreten Menschen gestellt. Es sei eine der schwierigsten Aufgaben der Erkenntnistheorie, meint Frank, die Einzigkeit des transzendentalen Subjekts mit der Vielheit der empirischen Subjekte zu versöhnen. Klar ist, daß es sich nicht um eine Addition zweier wesentlich gleichartiger Wirklichkeiten oder »Substanzen« handelt, wie auch, daß das »logisch transzendentale Ich« nicht mit den psychischen Erscheinun28 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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gen der empirischen Person verwechselt werden darf. Denn das transzendentale Ich, das »die Gesamtheit des dem Bewußtsein Zugänglichen« umfaßt, ist »dem Du und Er genau so nahe wie meinem empirischen Ich«. Der Begriff der »Teilhabe« kann, so meint Frank, das Eine und das Viele vermitteln: »Jede Person muß als Teil oder Teilhaber des transzendentalen Ich, als dessen reale, empirische Erscheinung angesehen werden« (S. 262). Der Mensch zeichnet sich also durch eine »Doppelnatur« aus: Er ist empirische Person mit einem Ich und entsprechendem »seelischen Leben, welches das Korrelat der äußeren Natur bildet«, und er ist zugleich transzendentale Person. Letztere ist nicht als Substanz oder als realer Grund des Bewußtseins anzusehen, sondern als »gnoseologischer Grenzbegriff«. Sie enthüllt sich uns als »lebendige Verbindung und als Knotenpunkt des Bewußtseins«, als »unerklärbarer, aber allen einsichtiger Mittelpunkt, der die chaotische Vielheit des Bewußtseinsinhalts zur Einheit des vernünftigen geistigen Lebens zusammenfügt« (S. 259). Die Einheit des Empirischen mit dem Transzendentalen begründet die »Heiligkeit des Personprinzips«. Programmatisch formuliert Frank: Für den kritischen Idealismus »wird das Personprinzip zum zentralen philosophischen Begriff und zur letzten Seinsverbindung. Deshalb tritt er für einen ethischen Individualismus ein«. Kollektivismus und Solipsismus sind diesem Prinzip gleicherweise fern. Vielmehr gehört »die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Ich und Du als gleichberechtigte Erscheinungen des transzendentalen Bewußtseins« zu den Grundsätzen des ethischen Individualismus (S. 262 f.). Zu Franks ethischem Individualismus gehört von vornherein der soziale Aspekt: »Die Gesellschaft ist nichts Fremdes für uns, denn sie ist nicht außerhalb und unabhängig von uns« (S. 264). Hier wird nochmals deutlich, wie sehr es Frank in der Einheit der Vielen auf die Wahrung der Besonderheit eines jeden ankommt. »Allgemeines Ideal ist nicht die spurlose Auflösung alles Individuellen in ein einiges und einförmiges absolutes Ganzes, sondern die fruchtbare Zusammenarbeit und lebendige Verbindung von Personen, die mit reichem und vielgestaltigem Inhalt erfüllt sind«. Das transzendentale Ich ist etwas Lebendiges und als solches »Subjekt«; es ist in jedem Menschen und befähigt ihn zu schöpferischem »geistigen Leben«. Diesem Menschenbild des »kritischen Idealismus«, so betont Frank, kommt eine enorme »sittlich-erzieherische Bedeutung« zu. Die dem Menschen eigene »Doppelnatur« verlangt, immer erneut 29 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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über sich selbst hinauszustreben. Mit Franks Worten: »Wenn das Ganze nicht als Substanz, sondern als Subjekt verstanden wird, nicht als Weltall, sondern als das geistiges Leben der Person, dann muß die moralische Vervollkommnung und Veredelung dieses Lebens als höchste und all-umfassende Verpflichtung gelten« (S. 263; Hervorh. v. P. E.). Das sittliche Tun hat »die Gewährleistung und Achtung allseitiger Freiheit der empirischen Person« zur Bedingung. Frank nennt es das »sittliche Grundgesetz«. Die geistige Atmosphäre, die von diesem »Gesetz« bestimmt ist, muß durch das persönliche sittliche Tun, aber auch »durch die Mitwirkung an der freien Entwicklung der anderen Personen und in der Herstellung der dafür erforderlichen Bedingungen« geschaffen werden (S. 262). Von nachhaltiger Bedeutung für Franks eigenes Leben sollte die Einsicht werden, daß die im transzendentalen Bewußtsein gründende Idee des Guten und mit ihr die Forderung, sittlich zu handeln, dem Menschen eine Überlegenheit über alle erfahrbaren Nöte des Lebens verleiht. Die äußere Welt, »die als solche ohne inneren Sinn und in Beziehung auf unsere Ideale indifferent ist, kann uns niemals in völlige Verzweiflung stürzen. Denn wir wissen, daß mit dieser sinnlosen und gleichgültigen Welt unser Leben noch nicht erschöpft ist und daß zum Vernunftsystem noch eine andere, uns zugänglichere, enger mit unserer Person verbundene Welt gehört – die Welt der Werte. Die unaufgebbare Zugehörigkeit zu ihr ist für uns eine unerschöpfliche Quelle sittlicher Energie« (S. 256). Das Wissen, daß das sittlich Gute absolut gilt, rechtfertigt, »hoffend auf den Erfolg bis zum Ende zu kämpfen, – uns aber auch in der Niederlage daran zu erinnern, daß Ruhm und Ehre auf Seiten dessen sind, der nach dem Guten strebt« (S. 258). Die »Geltung« des Guten kann durch kein »Sein« zerstört werden (S. 255). Gleichwohl ist schon der junge Frank nicht blind gegenüber den »Widersprüchen« in der Welt. Sie philosophisch »versöhnen« zu wollen, auch Hegels Versuch einer dialektischen Aufhebung, hält er für aussichtslos. Wir müssen uns mit der Einsicht begnügen, daß die Erfahrungen der Unversöhnlichkeit »Momente des allgemeinen Lebens des Bewußtseins« sind und wir nicht in der Lage sind, sie inhaltlich zum Ausgleich zu bringen (S. 257). Am Ende der Abhandlung kommt das Pathos, mit dem Frank seine Ausführungen vorträgt, nochmals eindrucksvoll zum Ausdruck. Er greift, ohne seine Quelle namentlich zu nennen, Fichtes 30 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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berühmte Gegenüberstellung des philosophischen »Dogmatikers« und »Idealisten« auf 10 : Was für Fichte der »Dogmatiker« ist, ist für Frank der »vom realistischen Instinkt« durchdrungene Mensch, »der gewohnt ist, auf sein Leben als auf etwas nur empirisch Gegebenes zu blicken«. Für diesen ist das Äußere die Grundrealität, deren nichtiger Bestandteil er selber ist. Ganz anders derjenige, der eine »idealistisch-individualistische Haltung« einnimmt: Er neigt zur Selbstbeobachtung und ganzheitlichen Auswertung der lebendigen Eindrücke; er blickt auf alles Umgebende wie auf den inneren Besitz seines persönlichen Lebens. Erkenntnis und praktische Einwirkung auf die Welt, die reflektierende und die tätige Beziehung zu ihr, sind für ihn Bereicherungen des geistigen Inhalts seiner Person. Das entspricht der »sittlichen Losung« der idealistischen Philosophie, die lautet: »Vervollkommnung der Person«, – jedoch nicht so, daß die Sorge für die eigene Person den Einsatz für die Welt und die Gesellschaft ersticken dürfte. Die Anspielung auf Fichtes Urteil über den philosophischen »Dogmatiker« am Ende des Aufsatzes ruft die Zitate in Erinnerung, die Frank seinem Beitrag als Motto vorangestellt hatte: je ein Zitat von Nietzsche und von Fichte (in deutscher Sprache, ohne Quellenangabe). Der Satz Nietzsches – er stammt aus der »Vorrede« zu »Jenseits von Gut und Böse« – spricht die Erwartung aus, daß »alles Dogmatisieren in der Philosophie« bestenfalls »edle Kinderei und Anfängerei« gewesen und endlich überwunden sei. Er leitet zum Fichtezitat über, das die »dogmatische« Vergegenständlichung des Absoluten zurückweist und das »Absolute« im menschlichen Lebensvollzug findet: »Man kann das Absolute nicht außer sich anschauen, welches ein reines Hirngespinst gibt, sondern man muß in eigener Person das Absolute sein und leben«. Das von Frank postulierte »Personprinzip« hat in diesem an Fichtes Schrift »Die Bestimmung des Menschen« erinnernden Satz seine klassische Formulierung gefunden. Das 1904 verfaßte Frühwerk zum »kritischen Idealismus« läßt deutlich die Impulse erkennen, die Frank zu Beginn seines Philosophierens durch Kant und Fichte empfangen hat, auch vermittelt durch die zeitgenössischen Neukantianer. Ihr Einfluß ist erkennbar, wenn 10 Vgl. J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98). Einleitung, Abschnitt 4. Bd. 1.

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Frank nicht das Sein, sondern das Bewußtsein zur »letzten, unbedingt höchsten, alles umfassenden Kategorie« erklärte (S. 242). Die von Frank geteilte Zurückweisung des Seinsbegriffs hat seine Wurzel in Fichtes These, daß die »Intelligenz« oder das Selbstbewußtsein selber reines »Tun« ist, das nicht mittels einer »Wechselwirkung« von etwas anderem bestimmt ist. Der Ausdruck »Sein« aber würde das Selbstbewußtsein als »Resultat« einer solchen »Wechselwirkung« begreifen. Sein ist für den frühen Fichte beharrend und deshalb beschränkend, »bloße Negation« der Freiheit. 11 Seine Philosophie nannte Fichte »kritischen« oder »transzendentalen Idealismus«, weil sie von den »Gesetzen« ausgeht, die im Wesen der »Intelligenz« selber liegen, d. h. ihr nicht von den Erkenntnisobjekten auferlegt sind, und daher zur Geltung kommen, wo immer etwas gedacht wird. 12 Die einzige Möglichkeit, das »Ganze« oder »All-Eine« (wie Frank bereits in diesem Aufsatz sagt) wahrhaft zu verstehen, kann nur das »Verstehen des Lebens« oder das »Erleben« sein. Fichte zufolge war die Position des Dogmatikers durch den verfehlten Versuch gekennzeichnet, das Objekt der Philosophie »lediglich durch freies Denken« hervorzubringen, wobei die »Realität« dieses Objekts unklar bleiben mußte. Dagegen ist für den Idealisten das Objekt der Philosophie niemals ein gedachtes »Ding«, sondern der jeder bestimmten Erfahrung vorausliegende »Erklärungsgrund«: das »Ich an sich«. Das »Ich an sich« wird von Fichte auch als »unmittelbares Selbstbewußtsein« bezeichnet, das nur »in einer freien Handlung des Geistes« sich seiner Wirklichkeit bewußt werden kann. Zwar hat Frank die Besonderheit des Erlebens in seinem Aufsatz nicht weiter untersucht, doch ist klar, daß damit kein gegenständliches Fühlen von etwas objektiv Gegebenem gemeint ist, wie es die Sinne ermöglichen. Man kann annehmen, daß Frank es ähnlich der intellektuellen »Anschauung« Fichtes verstand. Diese ist, wie Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre erklärte, kein Betrachten von außen, vielmehr »ist es ein besonderes, und zwar ein unmittelbares Bewußtsein, also Anschauung, und zwar nicht sinnliche Anschauung, die auf ein materielles Bestehen ginge, sondern Anschauung der bloßen Tätigkeit, die nichts stehendes ist, sondern ein fortgehendes, kein Seyn, sondern ein Leben«. Es ist »unmittelbares Bewußt11 12

Ebd., S. 499. Ebd., Abschnitt 7.

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sein, daß ich handle und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue«. 13 Die hier von Fichte beschriebene Einheit von Tun und Wissen als Leben ist die sich ihrer selbst bewußte Tathandlung des Ich. Diese »Anschauung« ist stets in einen konkreten Zusammenhang eingebettet und mit einer sinnlichen Anschauung verknüpft: »Ich kann mich nicht handelnd finden, ohne ein Objekt zu finden, auf welches ich handle«, betont Fichte 14 . Das Ich wird »angeschaut«, indem es mit einem Objekt handelt; dabei werde ich mich meines Unterschieds zum Objekt unmittelbar bewußt und weiß unmittelbar, daß ich es bin, der handelt. Diese »intellektuelle Anschauung« ist nicht von außen aufweisbar, sondern nur in sich selbst erfahrbar. Sobald das Angeschaute begrifflich bestimmt wird, wird es objektiviert und zum Gegenstand des Denkens. 15 – Das Wissen durch das Tun oder das Erkennen im »Erleben« wird in Franks Philosophie größte Bedeutung gewinnen. Es weist voraus auf das »lebendige Wissen«, wie Frank bald das eigentümliche Wissen des Seins nennen wird. Das »Gottmenschentum«, das Frank in seinem Aufsatz zur Kulturphilosophie erstmals erwähnt hatte, verweist zwar auf Solowjow, doch eine Bemerkung im Aufsatz über den »Kritischen Idealismus«, in der er gerade Solowjow eine Metaphysik vorwirft, in der das Absolute verdinglicht werde (S. 245), zeigt, wie kritisch er Solowjow zu dieser Zeit als Denker gegenüberstand. Es scheint, daß er seinen russischen Lesern mit einem ihnen geläufigen Begriff den gedanklichen Gehalt dessen vermitteln wollte, was Fichte den »Vereinigungspunkt« oder »Einheitspunkt« nannte, »der die höchsten und absoluten Gegensätze vereint«. 16 Fichte hatte das Einheitsprinzip mit dem sich selbst setzenden transzendentalen Ich gleichgesetzt, in dem und aus dem, weil es nicht überstiegen werden kann, alles begriffen werden muß. Ein grundlegender Gedanke des Fichtischen Idealismus wird Frank, ganz wie es Fichtes Intention entsprach, Mut im Lebenskampf verleihen: die Überzeugung von der absoluten Überlegenheit des Gu13 J. G. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), Sämtl. Werke, hg. von J. H. Fichte, 1. Abt. 1. Band, Leipzig o. J., S. 463 ff. 14 J. G. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Abschnitt 5. 15 J. G. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Abschnitt 7, S. 472 f. 16 J. G. Fichte: Sämtl. Werke, Bd. X, S. 488. (= Gesamtausgabe Werke, II,13, S. 176). Vergleichbare Äußerungen macht Fiche auch in der Wissenschaftslehre von 1804, indem er vom »Einheitspunkt von absoluter Einheit und Mannigfaltigkeit« spricht.

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ten über alle Mächte des Bösen. Als Frank 1904 seinen Aufsatz niederschrieb, konnte er noch nicht ahnen, wie hart sie auf die Probe gestellt werden würde. Später hat Frank sie ausdrücklich auf ihren biblisch-christlichen Ursprung zurückgeführt. Daß er sie im Kriegsjahr 1941 mit Versen aus Solowjows Gedicht »Emmanuel« (Gott ist mit uns) ausspricht, zeigt, wie stark die Form seines Denken sich gewandelt hat: »Inmitten zufälliger Hast Im Strom trüber Sorgen des Lebens Besitzest Du ein freudiges Geheimnis: Das Böse ist machtlos. Wir sind ewig. Mit uns ist Gott«. 17 Zu den Themen, die 1904 erstmal anklingen und Frank bis ans Lebensende beschäftigen werden, gehört die mit der Unüberwindbarkeit des Guten verknüpfte Frage, ob das Böse endgültig besiegt und so der »Riß« im all-einen guten Sein geheilt werden könne oder ob der Zweikampf zwischen Gut und Böse ewig andauern werde. Unter den gegenwärtigen Weltbedingungen ist der Widerspruch unauflösbar; darum ist die befriedete Einheit des Seins nur ein »Postulat«, kein »apodiktisches Axiom«, heißt es 1904 (S. 254; 256). Schließlich ist es Fichtes Einfluß zuzuschreiben, daß Franks Begriff des »Lebens« frei von dunkler Irrationalität ist, vielmehr dem Begriff des »Geistes« entspricht, und sich so deutlich von der Fundamentalkategorie der Lebensphilosophien Bergsons und Nietzsches unterscheidet. In der Bedeutung, die Frank dem Element des Schöpferischen, das mit »Bewußtsein« und »Leben« verbunden ist, zuschreibt (vgl. S. 231), kann gleichfalls die »kopernikanische« Wende zum Subjekt erkannt werden, die Kant und ihm folgend Fichte vollzogen haben.

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Zeitgenssische Einflsse

Unübersehbar ist der Einfluß der Philosophie Kants und insbesondere Fichtes auf den jungen Frank. In seiner Abhandlung nennt Frank Frank hat diese Verse Solowjows zusammen mit zwei biblischen Zitaten seinem Buch Mit uns ist Gott vorangestellt. Seine philosophische Auffassung von der Überlegenheit des Guten ist in seiner Anthropologie Die Realität und der Mensch abschließend begründet.

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Zeitgenssische Einflsse

einige zeitgenössische Neukantianer, die er als Mittler Kantischen und Fichteschen Gedankenguts schätzte. Freilich, aus der Nennung eines Philosophen folgt noch nicht, Frank habe von ihm Gedanken übernommen. Andererseits trifft man aber auch auf Thesen und Themen, die vermuten lassen, daß Frank Anregungen aufgenommen hat, obwohl er keine Quelle angibt. So wird man annehmen können, daß sein Interesse am philosophischen Kulturbegriff, das in seinen frühen Aufsätzen zum Ausdruck kommt, auch durch die kulturphilosophischen Schriften G. Simmels, W. Windelbands, H. Rickerts, W. Diltheys geweckt war. Ausdrücklich bezieht Frank sich in seiner Abhandlung über den kritischen Idealismus auf Windelbands Aufsatz »Vom System der Kategorien« 18 , in dem es darum geht, das Wesen der Philosophie zu bestimmen (S. 240). Frank zieht darin Windelbands Begriff des »Normalbewußtseins« heran, um den Vorrang des »Personprinzips« gegenüber den sachlich gegenständlichen Werten zu unterstreichen. Windelband hatte diesen Begriff in der Aufsatzsammlung »Präludien« in den Beiträgen »Das Heilige« und »Was ist Philosophie« im Sinne eines idealen oder normativen Bewußtseins verwendet. Es drückt die Überzeugung aus, daß das von ihm Gebotene verwirklicht sein soll, »ohne jede Rücksicht darauf, ob es in der naturnotwendigen Entfaltung des empirischen Bewußtseins wirklich ist«. Die ihm eigene Notwendigkeit, so betont Windelband, »ist in keinem Falle irgendwoher abzuleiten, sie kann nur aufgewiesen werden«. 19 Im Normalbewußtsein (oder Normbewußtsein) enthüllt sich »ein geistiger Lebensgrund, ein übererfahrungsmäßiger Zusammenhang der Persönlichkeiten«. Im Wert des »Heiligen« findet »das Normalbewußtsein des Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit«, seine Zusammenfassung; denn dieser Wert ist der »Inbegriff der Normen, die das logische, ethische und ästhetische Leben beherrschen«. Zur Begründung dieser Annahme beruft Windelband sich auf den »Glauben« Platons »an das ntw@ n, an die übermenschliche und überempirische Wirklichkeit der Norm und des Ideals – die Überzeugung, daß die Norm der Vernunft nicht unsere 18 Vgl. W. Windelband: Vom System der Kategorien. In: Philosophische Abhandlungen für Christoph Sigwart, 1900. – Frank hat diesen Aufsatz der russischen Ausgabe von Windelbands »Präludien« als Anhang angefügt. 19 W. Windelband: Was ist Philosophie? In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Tübingen und Leipzig 2 1903, S. 46–49. Zitat S. 44–45.

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Erfindung oder unsere Illusion ist, sondern ein Wert, der in den letzten Tiefen der Weltwirklichkeit selbst begründet ist«. 20 Die Gedanken Windelbands aufnehmend schreibt Frank: »Versteht man unter dem Heiligen die Verkörperung der Gesamtheit der Ideale, ›das Normalbewußtsein des Wahren, des Guten und des Schönen, erlebt als transzendente Realität‹, so muß die Person als das einzige Heilige auf Erden, als das einzige absolut heilige Prinzip anerkannt werden«. Das »personale Bewußtsein«, so Frank, ist gewissermaßen der »einzige Punkt«, an dem sich »die empirische Wirklichkeit mit den anderen Lebensmomenten, die es in geistig-sittlicher Hinsicht übersteigen, kreuzt«. So ist die Person »die einzige uns zugängliche Konkretisierung des Absoluten«. Man darf sie folglich nicht »zum Knecht irgendwelcher es scheinbar übersteigender transzendenter Prinzipien oder Kräfte« machen, man muß sie vielmehr »als das einzige Heilige auf Erden, als das einzige absolut heilige Prinzip anerkennen«. Denn »alle Ideale, was immer ihr Inhalt ist«, sind als »freie Schöpfungen« der »transzendentalen Person« anzusehen, die sie »ganz in sich vereint« (S. 261). Der Sinngehalt dessen, was Frank in seiner Frühschrift das »Gottmenschentum« nannte, ist mit diesen Worten zum Ausdruck gebracht. Windelband hat den Begriff des »Normalbewußtseins« später damit gerechtfertigt, daß er einen sonst hoffnungslosen ethischen und ästhetischen Relativismus vermeiden hilft. 21 Schon die Berechtigung, dem Wissen Wahrheitswert zuzuschreiben, setzt eine in ihrer Geltung über die spezifische menschliche Vorstellungsweise hinausreichende »Ordnung« voraus. Ähnlich beruht auch die Überzeugung, daß es »absolute, über die empirischen Anlässe seiner Betätigung erhabene Normen gibt, auf der Voraussetzung, daß auch darin eine übergreifende Vernunftordnung zu Herrschaft gelangt«. Wir müssen diese Ordnung »als Inhaltbestimmungen einer absoluten Vernunft, d. h. Gottes« vorstellen«. 22 Windelband will diesen Erweis freilich nur als »Hindeutung« oder »Postulat« verstanden wissen, nicht als »metaphysische Erkenntnis«. Frank hat den zwielichtigen Begriff des »Normalbewußtseins« nach 1904 nicht mehr verwendet. Das Verhältnis des »NormalbeW. Windelband: Das Heilige (Skizze zur Religionsphilosophie). In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Tübingen und Leipzig 2 1903, S. 365– 367. 21 W. Windelband: Einleitung in die Philosophie. Tübingen 1914, S. 254. 22 Ebd., S. 254 f. 20

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wußtseins« als eines »Werts-an-sich« zum »sozialen Gesamtbewußtsein« war bei Windelband doch zu unklar geblieben. Einerseits sollte das Norm(al)bewußtsein auf die tatsächlich in einer Gesellschaft vollzogenen Wertungen irreduzibel sein, doch wurde andererseits seine geschichtliche Vermittlung von Windelband anerkannt. Kants These, daß vom »Ding-an-sich« kein Sein ausgesagt werden könne, führte in der neukantianischen Wertlehre dazu, von den Werten anzunehmen, daß ihnen kein Sein zukomme, sondern nur eine Geltung. Wie Frank bald darauf in seiner Sozialphilosophie feststellte, konnte sie die Frage, worin die verpflichtende Idealität der Norm, d. h. ihre Geltung gründet, nicht zufriedenstellend beantworten. Es war nur zu naheliegend, daß das »Erleben«, auf das Windelband rekurrierte, um zu erklären, wie die Normen erkannt würden, auf einen psychischen Vorgang zurückfiel. Der Einfluß Kants und Fichtes auf die ersten Formen von Franks Philosophieren liegt auf der Hand. Doch erstaunt es, daß Frank bei der strikten Gegenüberstellung von Sein und Leben sich an den frühen Fassungen von Fichtes »Wissenschaftslehre« orientiert; daß Fichte nach 1801 einen Wandel vollzogen und das Sein als Leben begriffen hat, hat im Aufsatz »Kritischer Idealismus« kaum Spuren hinterlassen. Erst in »Der Gegenstand des Wissens« und in Franks Schriften zur Religionsphilosophie begegnen wir der zentralen Einsicht des späten Fichte, daß Sein und Leben eins sind. Zu den Gedanken aus Franks frühem Aufsatz, die in das Profil seines späteren Werkes eingegangen sind, gehört die unvergleichliche Bedeutung der individuellen menschlichen Person und, mit ihr verbunden, das »ganzheitliche Wissen« des Wirklichen, das im »Erleben« gewonnen wird. Dabei nimmt der Begriff der Ganzheitlichkeit eine für das Denken in Rußland charakteristische Forderung auf. Wo das Ganze als »geistiges Leben« verstanden wird, ist Einförmigkeit ausgeschlossen. Die Universalienproblematik wird bereits hier im Sinne der realistischen Lösung des universale in re entschieden. Frank wird sein Denken später nicht mehr als »kritischen Idealismus« bezeichnen, sondern als »Ideal-Realismus«; aber auch damit folgt er einem von Fichte verwendeten Terminus. 23 23 Fichte kennzeichnet seine Philosophie als »kritischen Idealismus, den man auch einen Real-Idealismus oder einen Ideal-Realismus nennen könnte«. J. G. Fichte: »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« [1794], in: Gesamtausgabe Werke Bd. 2, Stuttgart 1965, S. 412 (Sämtl. Werke, hg. von J. H. Fichte, 1. Abt. 1. Band, Leipzig, S. 281).

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

Mit Franks Aufsatz von 1904 war bereits die Frage des Gesamtwerks gestellt: Wie ist die wechselseitige Beziehung zwischen dem Individuum und dem »Ganzen« beschaffen? Das »Ganze« kann das Individuelle überwältigen, wie Frank bei Spinoza, Hegel und Schopenhauer beobachtete. Bei ihnen ist das »Ganze« ein »Universum oder System der Wirklichkeit, welches an Umfang und Bedeutung die zu ihr gehörenden individuellen Teile unendlich übersteigt« (S. 262). Wie mit dem »Ganzen« das »Personprinzip«, ohne aufgelöst zu werden, vereint sein kann, war für Frank zu Beginn seines Denkweges noch offen. Mit dem Begriff »Gottmenschentum« war zunächst eine Arbeitshypothese aufgestellt, die dazu aufforderte, diese Einheit immer besser zu verstehen. Daß dem Menschen kraft seines Wesens der Auftrag gestellt ist, sie auch in seinem persönlichen Lebensbereich zu realisieren, erkannte Frank an Goethe.

4.

J. W. Goethes Intuition der Ganzheitlichkeit

Bis zum Ende seines Schaffens hat Frank Goethes Weltauffassung und Lebensgestaltung als Quelle der Inspiration und als Vorbild geschätzt. Das Ideal des »kritischen Idealismus«, »das Ganze als System des Bewußtseins oder ganzheitliches geistiges Leben zu verstehen«, sah er durch Goethes nicht nachlassendes Streben nach »Bereicherung, Erweiterung und Veredelung der Person« verwirklicht. Goethes Bemühen, aus seinem Leben ein »harmonisches, künstlerischgelungenes und vollendetes Ganzes« zu machen, schloß die Tätigkeit für Staat und Gesellschaft ein (Frank zitiert Goethes Ausspruch deutsch: »das Leben – ein Kunstwerk«). Die ganzheitliche Sicht des Lebens, betonte Frank, umfaßt das eigene innere ebenso wie das gesellschaftliche Leben. In seinem Aufsatz über W. Sterns Werk »Person und Sache« aus dem Jahre 1908 (s. u.) formulierte Frank die Aufgabe, »eine ganzheitliche philosophische Synthese zu schaffen, in der Sein und Wert, Natur und Kultur, Kosmisches und Menschliches wieder versöhnt sind«. Goethe nannte er dabei als den, der diese Synthese mit erstaunlicher Geistestiefe und freier Geistesweite vorbildlich in Angriff genommen habe. Frank wird in jener Zeit Goethes dichterisches Werk gekannt haben. 1908 lernte er Goethes wissenschaftliches und religionsphilosophisches Schrifttum kennen. In seiner Biographie Struwes bezeichne38 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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J. W. Goethes Intuition der Ganzheitlichkeit

te er diese Begegnung als »wichtigstes Ereignis« seines geistigen Lebens der Folgezeit. Sie hat, schrieb Frank »auf meine philosophische und geistige Entwicklung einen bestimmenden Einfluß ausgeübt«. In seiner »positiven Bewertung« von Goethes Gedanken und in der »Achtung vor den Grundmotiven seiner Lebensauffassung« wußte er sich mit Struwe geistig verbunden. Struwe war es auch, der Frank veranlaßte, ein eigenes Werk über Goethes Weltanschauung zu verfassen. 24 Es erschien 1910 in Russkaja mysl’ unter dem Titel Goethes Erkenntnislehre und befaßte sich mit Goethes Einstellung zur Natur. In ihm sind wesentliche Elemente von Franks eigener philosophischen Methode zu erkennen. Einen Anstoß, sich eingehender mit Goethe als Denker zu beschäftigen wird auch W. Windelbands Aufsatz »Aus Goethes Philosophie« gegeben haben, den Frank in der 2. Auflage der »Präludien« von 1903 gelesen hatte. Frank hebt bei Goethe das »stille, bessere Wissen« hervor, in dem die Wahrheit »lebendig, konkret« gegeben ist und das sich vom begrifflichen Wissen wesentlich unterscheidet. Für Goethe ist, schreibt Frank, »das unvermittelte Bewußtsein der Realität das ursprüngliche erkenntnistheoretische Faktum, dem jede Theorie sich beugen muß«. »Die wahre Erkenntnis ist immer eine Offenbarung, welche freilich niemandem zwingend auferlegt ist, sondern zugleich mit ihrem höchsten Licht notwendig die Seele erhellt und wesentlich sich vom ausdruckslosen, blinkenden Licht solcher Gedanken unterscheidet, die von der menschlichen Willkür geschaffen sind«. Die mit dieser Offenbarung verbundene Evidenz fordert »logisch keinerlei Beweis im strengen Sinn des Wortes, d. h. sie bedarf keiner Ableitung aus irgendeinem höheren oder einsichtigeren Urteil«. »Begründung« kann hier nur darin bestehen, die gegebene Tatsache zur Selbstevidenz zu führen, die Bezüglichkeit von innerem und äußerem Sein, von Bewußtsein und äußerer Realität zu erhellen. »Alles weitere Bemühen, zu ›begründen‹ – in didaktischer Hinsicht gewiß sehr wichtig –, reduziert sich auf kritische Erläuterung und Widerlegung sich einstellender Mißverstände und Zweideutigkeiten der Schulterminologie, welche die genannte Selbstevidenz der Realität nur verdunkeln«. 25 Frank war von Goethes ganzheitlichem Denken beeindruckt. In seiner Abhandlung Natur und Kultur zitiert er russisch aus Goethes Erläuterungen zu dem aphoristischen Aufsatz ›Die Natur‹ : »Auch 24 25

S. L. Frank: Biografija P. B. Struve, New York 1956, S. 93 f. S. L. Frank: Gnoseologija Gëte, in: Zˇivoe znanie, Berlin 1923, S. 25–70, hier S. 36 f.

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht. […] Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt, man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will«. 26 Was Goethe von der Natur sagte, fand, wie Frank an mehreren anderen Stellen ausgeführt hat, auch in Hinblick auf die Kultur seine Bestätigung. Die Wahl des Wortes »Nepostizˇimoe« (»Das Unergründliche«) als Titelwort seiner Religionsphilosophie legt die Vermutung nahe, daß auch zu ihm Goethe angeregt hat (ungeachtet der Übereinstimmung mit dem Begriff inattingibile aus der Philosophie des Nikolaus von Kues). Goethe hatte in seinen »Maximen und Reflexionen« geschrieben, die »wahre Symbolik« sei es, »wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum oder Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen« (Goethe: »Maximen und Reflexionen« 314). Frank übersetzte Goethes Wort Das Unerforschliche mit Nepostizˇimoe. Zu Eckermann bemerkte Goethe über die Natur (15. Juli 1831): »Ihre Geheimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe; aber es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hineinzutun. Und gerade daß sie am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wieder zu ihr heranzugehen und immer wieder neue Einblicke und neue Entdeckungen zu versuchen«. Schon die deutsche Erstfassung der Religionsphilosophie Franks trug das Wort »Das Unergründliche« als Titel. Die Anerkennung, die Frank Goethes Welt- und Naturerfahrung entgegenbrachte, war nicht auf eine vorübergehende Phase beschränkt (vgl. die Namensregister in der Werkausgabe). In seiner Anthropologie stellte Frank der Verengung des Erfahrungsbegriffs durch den Englischen Empirismus die Erkenntnis Goethes gegenüber, daß es »in den tiefsten Tiefen des Seins« Beziehungen gebe, die »man als ›ewige Tatsachen des Seins‹ bezeichnen könnte«. In seiner »völlig eigenständigen Theorie des Wissens« sei Goethe zu der Einsicht gelangt, daß die Erkenntnis ihr letztes Ziel erst erreicht habe, »wenn sie zur Feststellung gewisser ›Urphänomene‹ gelangt und demütig bekennen muß, daß sie nicht über diese Feststellung hinausgehen kann; alle Versuche einer weiteren ›Erklärung‹, d. h. rationalen Erfassung bleiben vergeblich und gegenstandslos«. 27 26 27

S. L. Frank: Priroda i kul’tura. In: Logos. Moskau 1910, S. 74. S. L. Frank: Die Realität und der Mensch, Freiburg 2004. S. 230, Fußnote.

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Die personalistische Ontologie Wilhelm Sterns

Goethe war für Frank nicht nur anregend durch seine philosophisch-methodischen Einsichten. Auch noch in seiner geistlichen Schrift Mit uns ist Gott, geschrieben in den Schreckensjahren des Zweiten Weltkriegs, in der Frank dem Leser »die Erfahrung der Immanenz Gottes in der menschlichen Seele« vermitteln will, nimmt er mehrmals auf Goethe Bezug (so aus »Tasso«: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide«). Wie hoch Frank den Denker Goethe schätzte, wird schließlich daran erkennbar, daß er seine Anthropologie und damit sein philosophisches Lebenswerk mit Versen aus den Zahmen Xenien abschloß: »Und alles Drängen, alles Ringen / Ist ewige Ruh’ in Gott dem Herrn«. 28 Es wird Frank nicht verborgen geblieben sein, daß Goethe kaum als christlicher Dichter im engeren Sinn gelten kann. Dessen ungeachtet bezeugte »der große Heide« (H. Heine) in Franks Augen in eindrucksvoller Weise Elemente eines religiösen Humanismus, die auch für die christliche Existenz unverzichtbar sind.

5.

Die personalistische Ontologie Wilhelm Sterns

Nachhaltigen Einfluß auf Frank übte das dreibändige Werk »Person und Sache« des Breslauer Psychologen und Philosophen Wilhelm (William) Stern aus, das dieser 1906 veröffentlicht hatte. Frank schrieb über dieses Buch in Russkaja mysl’ einen umfangreichen und zustimmenden Bericht. 29 Er hatte Sterns Titel übernommen und als Untertitel hinzugefügt: »Philosophische Begründung des Vitalismus«. Das Interesse, das Frank dem »kritischen Personalismus« Sterns entgegenbrachte, war durch die Ich-Philosophie Fichtes vorbereitet. Doch ist mit Stern über die Bewußtseinsphilosophie hinaus ein Schritt auf eine personalistische Ontologie hin getan. Sterns Personalismus bestätigte eine Einsicht, die Frank schon im »Kritischen Idealismus« ausgesprochen hatte. Die Person ist das Muster eines »einigen Ganzen« [edinoe celoe]. In der Person tritt uns 28 Ebd., S. 395. Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien, VI. Von Frank in deutscher Sprache zitiert. 29 S. L. Frank: Lic ˇ nost’ i vesˇcˇ (filosofskoe obosnovanie vitaliszma). In: Russkaja mysl’ 1908, No. 11, S. 50–81; dann in: Frank, S. L.: Filosofija i zˇizn’. Etjudy i nabroski po filosofii kul’tury. St.Petersburg 1910, S. 164–217 (Zitate S. 174; 186; 200; 201 vgl. 194 f.; 179 f.; 185; 215; 217).

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

das »Rätsel der Einheit des Vielgestaltigen« gegenüber; es ist ein Rätsel, weil diese Einheit oder Synthesis mehr ist als die Summe der sie bildenden Teile und sich so der Forderung des analytischen Verstandes widersetzt, sie restlos in ihre Bestandteile auseinanderzunehmen. Zu verstehen, wie eine Synthesis des Mannigfaltigen möglich ist, ist solange unmöglich, als die synthetisierende Kraft – sei sie Lebenskraft, Seele oder Gott genannt – wie ein Ingenieur gedacht wird, der dem Vielen gegenübersteht und es von außen her ordnet. Stern hatte die verblüffende Folgerung gezogen, daß dort, wo in einem Komplex eine reale, wirkende Einheit anzutreffen ist, das Personprinzip wirksam sei. Dieses besagt nach Stern im wesentlichen nur schöpferische Selbsterhaltung. »Alles, was wirksam existiert«, so referiert Frank, »ist Person, denn nur im sich selbst erhaltenden komplizierten Ganzen kann man echte Einheit finden, welche das notwendige Merkmal substantiellen Seins ist«. Die Selbsterhaltung, die wir überall in der Natur finden, kann ohne das Moment des Schöpferischen und der Spontaneität nicht gedacht werden. Es wäre deshalb willkürlich, das Schöpferische auf einen Punkt einzuschränken: sei es auf den Weltanfang oder auf Gott. Der Glaube an einen von außen auf sein Geschöpf wirkenden Schöpfer, wäre ein »naiver Personalismus«. Wir müssen vielmehr jedes Wirken in der Welt als eine zielgerichtete d. h. personale »Selbsttätigkeit« betrachten. »Wir müssen das Schöpferische als immanente Eigenschaft der Natur annehmen«. Frank ist durch Stern ein neuer Aspekt des Erkenntnisproblems bewußt geworden, der ihn einen wichtigen Schritt auf den gesuchten Einheitspunkt hin gehen läßt. Auch das erkennende Bewußtsein ist ein Seiendes; es gehört in diesem Sinne zur »Welt«. Die »Einheit« darf nicht als »transzendentales Bewußtsein« hypostasiert werden. Die »Beziehungen« und »Gesetze« sind vielmehr in den Realitäten. Das bedeutet: »In jedem Seienden ist die synthetische Einheit des Vielen zu sehen«. Frank hat Sterns Werk ganz außerordentlich gelobt: Es vermittelt die Einsicht, daß das Leben »für das abstrakte Denken prinzipiell unergründlich ist [principial’no nepostizˇimym]«. Diese Einsicht ist für Frank »von gewaltigem philosophischem Wert«. Stern gelang es, den »Zwiespalt zwischen der Naturwelt und der Kulturwelt, zwischen der Sphäre blinder, lebens- und seelenloser Naturgesetzlichkeit, die den Makrokosmos umfaßt, und der Sphäre der Vernunft, 42 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Programm des »religisen Humanismus«

der Zwecke und Werte, die den menschlichen Mikrokosmos bildet«, – von Außen- und Innenperspektive – zu überbrücken. Frank selber entnimmt der Lektüre Sterns die Aufgabe, den Personalismus »logisch und erkenntnistheoretisch« zu begründen. Verbunden ist damit die Aufgabe, in einer ganzheitlichen Synthese »Sein und Wert, Natur und Kultur, Kosmisches und Menschliches« zu versöhnen. Frank hat die Arbeiten Sterns auch weiter verfolgt; in seinem Buch über Die Seele des Menschen (1917) nimmt er anerkennend auf diesen »scharfsinnigen Psychologen« Bezug.

6.

Das Programm des »religisen Humanismus«

1909 veröffentlichte eine Gruppe russischer Intellektueller unter dem Titel Wegzeichen (russisch Vechi) eine schonungslose Kritik der geistigen Haltlosigkeit der führenden russischen Kulturträger. Diese Kulturanalyse gehört zu den bedeutendsten Publikationen aus jener scheinbar friedlichen Zeit vor dem großen Zivilisationsbruch, der mit dem Ersten Weltkrieg und den darauf folgenden Revolutionen offenbar wurde. Die meisten Charakterisierungen, die in diesem Sammelband vorgenommen wurden, konnten mit nur wenigen Änderungen für die gesamte sich fortschrittlich dünkende kulturelle Elite in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts Geltung beanspruchen. Vorausgreifend wurden in ihnen mit geradezu frappierender Hellsichtigkeit die geistigen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte skizziert. Frank war der jüngste unter den sieben Verfassern, die den Zeitgenossen warnend den Spiegel vorhielten. Er nannte seinen Beitrag »Die Ethik des Nihilismus – Zur Charakterisierung der moralischen Weltanschauung der russischen Intelligenzia«. Diese Intelligenzia gefiel sich in Bekenntnissen zu Gerechtigkeit und Fortschritt, zu Harmonie und Emanzipation. Aber diese Bekenntnisse waren, wie Frank anmerkte, grundlos und beliebig. »Weshalb soll das ›Ich‹ sich dem ›Du‹ opfern?« – die Intelligenzia vermochte diese bohrende Frage Max Stirners nicht zu beantworten, ja sie ließ sie gar nicht erst an sich heran, weil sie einer prinzipiellen Auseinandersetzung darüber, wie die hehren Forderungen nach Gerechtigkeit und Altruismus philosophisch zu begründen seien, aus dem Wege ging. 30 30 Max Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum, war im Oktober 1844 erschienen und 1893 bei Reclam in Leipzig erneut veröffentlicht. Frank, der Stirner dreimal na-

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Frank schloß seinen Beitrag: »Wenn wir in einem Aphorismus angeben dürfen, worin die Wende bestehen muß, dann schließen wir unsere kritischen Überlegungen mit einem positiven Vorschlag. Wir müssen vom unproduktiven, kulturfeindlichen nihilistischen Moralismus zu einem schöpferischen, die Kultur aufbauenden religiösen Humanismus gelangen«. 31 Franks These, daß nur ein begründeter religiöser Humanismus den weiteren Zerfall der russische Gesellschaft aufhalten könne, war nicht unwidersprochen geblieben. Frank verteidigte seine Auffassung in einem Beitrag in Russkaja mysl’ unter dem Titel »Kultur und Religion« gegen die Kritik des Publizisten S. V. Lurje. 32 Religiöser Humanismus, schrieb Frank, bedeutet »die Verbindung von Religiosität mit geistiger Weite und Freiheit«. Wieder war es Goethe, der für Frank in dieser Frage vorbildlich wurde. Mit seinem unvollendeten (360 Zeilen umfassenden) Gedicht »Die Geheimnisse« aus dem Jahre 1784 habe er dem religiösen Humanismus das poetische Symbol gegeben, mit dem er zeigte, »daß alle verschiedenen Religionen ihre höchste Blüte insofern erreichen als sie sich der Heiligkeit der ›Menschlichkeit‹ […] annähern und sogar mit ihr verschmelzen, und, sobald sie von diesem Geist durchdrungen sind, keiner weiteren äußeren Führung […] bedürfen«. Goethe ist für Frank gleichsam der Gewährsmann dafür, daß die Verbindung von »Religiosität mit geistiger Weite und Freiheit« tatsächlich als Inbegriff der Humanität anzusehen ist. Frank erwähnt noch ein weiteres Kennzeichen des religiösen Humanismus, das, wie er sagt, gleichfalls Goethe nahekommt: Es ist »die Verbindung des religiösen Gefühls mit dem kulturellen Schaffen der Menschheit, mentlich erwähnt, hat dessen Werk aufmerksam gelesen. In die Charakterisierung des »Nihilismus« und der Prinzipienlosigkeit der russischen Intelligenzija fließen Merkmale ein, mit denen Stirner den Nihilismus des »Einzigen« beschreibt, der die entfremdende Abhängigkeit von allen Idealen und Geboten überwunden hat. Die Frage, die Frank als Frage Stirners formuliert, findet sich in dieser Fassung nicht bei Stirner. Stirner sucht nicht nach einer sittlichen Begründung des Altruismus; denn jedes sittliche Gebot würde die Freiheit des Menschen einschränken und ihn zum unfreien »Diener« machen. Daß Stirner in Rußland Aufmerksamkeit gefunden hat, beweist auch die Bemerkung Kistjakowskis in den »Vechi« zum »Stirnertum«. 31 S. L. Frank: Etika nigilizma. In: S. L. Frank: Soc ˇ inenija. Moskau 1990. S. 77–110. Vgl. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz. Eingeleitet und aus dem Russischen übersetzt von Karl Schlögel. Frankfurt am Main 1990. 32 S. L. Frank: Kul’tura i religija (Po povodu stat’i o »Vechach« S. V. Lur’e), in: Russkaja mysl’ VII, 1909. In: Russkoe mirovoszzrenie, Sankt Petersburg 1996. (Zitate: S. 568 und 564).

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anders gesagt, die unauflösbare Verbindung des Glaubens an die Gottheit mit dem Glauben an die Menschheit«. Frank will mit dem »religiösen Humanismus« den »Zwiespalt zwischen ›Weltlichem‹ und ›Göttlichem‹« überwinden; er sieht diesen Humanismus zusammengefaßt in der »Idee des Gottmenschentums, befreit lediglich vom dogmatischen Rahmen und von groben eschatologischen Erwartungen«. In dieser Idee kommt der »Glaube« zum Ausdruck, »daß der historische kulturschöpferische Prozeß eine Verwirklichung objektiver Werte ist – die Verkörperung des göttlichen Prinzips im menschlichen Leben, die Enthüllung der höchsten absoluten Potenzen des empirischen irdischen Seins«. Ohne Anerkennung des Absoluten ist Humanismus nicht denkbar. »Alles Relative ist uns nur auf der Basis oder dem Hintergrund des Absoluten als dessen Teil und konkrete Verkörperung gegeben; alles Begrenzte und Endliche besteht nur, indem es in das Unbegrenzte und Unendliche eingeht«. Das gilt zumal für die Schaffung von Kulturgütern, denn sie »ist ohne eine vereinigende Idee, ohne den Glauben an absolute Werte, welche dieses Tun rechtfertigen und begründen, unmöglich«. Freilich muß niemand an absolute Werte glauben. Wer jedoch Ziele verwirklichen will, die über den gegenwärtigen Tag hinausreichen, der kann nicht umhin, »theoretisch und praktisch eine überindividuelle Motivation anzuerkennen und, folglich, die sie begründenden absoluten Werte«. Diese Werte sind eine Instanz, die der selbstherrlichen Willkür Schranken setzt. Die Anerkennung des Absoluten schließt die »Bereitschaft zum Selbstopfer« ein, – die aber hier gerade höchster Ausdruck personaler Autonomie ist, wie Frank, auf Kant verweisend, sagt. Sie ist »ein Akt freier Liebe und Glaubens, der freie Anschluß der Person an die Hierarchie des universalen Geistes, jene ›selige Lust‹, von der Goethe spricht, als der Durst alles Lebendigen durch ›Flammentod‹ wiedergeboren zu werden, ohne die der Mensch ›nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde‹ ist«. 33 Frank schrieb diese in die Zukunft weisenden Sätze drei Jahre bevor er orthodoxer Christ wurde. 33 Frank zitiert (S. 565) Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht«. Dieses Gedicht trug in der ersten Fassung die Überschrift »Selbstopfer und Vollendung«. In »Das Unergründliche« zitiert Frank nochmals aus diesem Gedicht. Aus dem Gedicht »Die Geheimnisse« zitiert er die Verse »Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet«. W. Windelband hatte in seinem Aufsatz »Aus Goethes Philosophie« die Bedeutung unterstrichen, welche die Selbstüberwindung bis hin zur Selbstentsagung für Goethe hatte.

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Religiositt und »pantheistische Liebe«

In seinem Essay über Goethes Erkenntnislehre hatte Frank anerkennend angemerkt, daß Goethe eine »pantheistische Geistesrichtung [auszeichne], in der sich das stolze, kühne Bewußtsein der Teilhabe des individuellen menschlichen Geistes an der Gottheit mit der wahrhaft religiösen Demut gegenüber der höchsten, unverletzlichen Wahrheit der göttlichen All-Einheit verbindet«. 34 Dem philosophischen Werk Franks ist von Kritikern vorgeworfen worden, es »neige« zum Pantheismus. Die Frage, ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist, soll später erörtert werden. Was der junge Frank unter »pantheistischer« Geisteshaltung versteht, geht sehr anschaulich aus einem kleinen Aufsatz jener Jahre hervor. Die 22jährige Natalja Sergejewna Klimowa, Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, hatte 1906 an einem Attentat auf den Ministerpräsidenten Stolypin teilgenommen und war daraufhin zum Tode verurteilt worden. In der Erwartung der Hinrichtung verfaßte sie einen Brief, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Frank schrieb zu ihm im selben Jahr einen Artikel mit der Überschrift »Die Bewältigung einer Tragödie«. 35 Klimowa war wie fast alle ihre Freunde überzeugte Materialistin. Sie schrieb: »Sobald ich aus Mangel an Sauerstoff ersticke und das Herz aufhört zu funktionieren, wird mein Ich als bestimmte Individualität mit seiner Vergangenheit und Gegenwart für immer verschwinden«. »Ich denke oft darüber nach, warum ich mich so ruhig gegenüber dem Tod verhalte, so daß ich ihn überhaupt nicht als Problem empfinde … Meine Gedanken über den Tod reichen nicht über das Gefühl hinaus, daß ich den Strick an meinem Halse spüren werde, daß die Kehle zusammengeschnürt, daß ich rote und schwarze Kreise vor den Augen sehe. Das ist gewiß unangenehm. Aber etwas Schreckliches ist es nicht«. Ein anderes Gefühl erfüllte sie und überwand die Angst: »das Gefühl einer alles absorbierenden besonderen inneren Freiheit«. Dieses Gefühl, schrieb sie, ist mit noch einem intensiveren Gefühl verbunden. Es ist ein Gefühl, »das den Verstand veranlaßte, mit frohem Interesse und Liebe mit allem umzugehen, was da war: dem weißen Schnee zuzulächeln, dem Frühling und den Schneeglöckchen, dem 34 S. L. Frank: Gnoseologija Gëte, in: Russkaja mysl’ 1910. Wiederveröffentlicht in: Z ˇ ivoe znanie, Berlin 1923, S. 70. 35 S. L. Frank: Preodolenie tragedii, in: Slovo 1908, Nr. 750. In: Russkoe mirovozzrenie, S. 569–574 (Zitat S. 573).

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Garten, der brennenden Sonne, dem Hochwasser am Fluß, dem Knirschen der Skier in der mondhellen Nacht … Dieses Gefühl ist es, das jeder Bewegung, auch der einfachsten, einen besonderen Reiz, einen besonderen Sinn verleiht. Das ist – Lebensfreude!« »Diese Lebensfreude«, heißt es weiter, ist »auch das Gefühl voller Harmonie zwischen den äußeren Lebensbedingungen und meiner inneren kleinen Welt mit meinem Ich, mit seinem Streben und Wollen, mit seinem Begriff von Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit«. Sie beschrieb noch ein weiteres jetzt angesichts der bevorstehenden Hinrichtung in ihr aufsteigendes Empfinden: »Das ist eine grenzenlose, alles durchdringende Liebe (genauer vielleicht eine für alles aufmerksame Zärtlichkeit). […] Was auch immer ich denke, was auch immer ich betrachte, alles sehe ich durch ihr Prisma«. »Wißt ihr, was es heißt, in einem solchen Augenblick die große Einheit der ganzen Welt zu fühlen? Die ganz feine und schöne Verbindung zwischen […] dem weit entfernten Gestirn und hier diesem mikroskopischen Staubkörnchen auf der Tischplatte, zwischen den größten Genies der Menschheit und dem ersten Keim im System irgendeines Wurms, zwischen mir und der kleinen weißen, feinen Struktur und Schönheit einer Schneeflocke, dem Strahl der Frühlingssonne, dem Wachsen des Grases, […] oder der Psyche irgendeines Pjotr oder Iwan, der am anderen Ende der Welt lebt?« Frank deutete in seinem Kommentar das Selbstgefühl der jungen Frau, das in ihr den inneren Sinn und die Harmonie des WeltSeins aufleuchten ließ, als »religiöses Bewußtsein« und nannte es »Weltliebe« und »pantheistische Liebe«. Hier steht ein Mensch vor uns, schrieb Frank, der, wie Schleiermacher es von Spinoza gesagt hatte, wahrhaft »von Gott erfüllt ist«. »Er erfährt Gott, ohne ihn beim Namen zu nennen. Und mit dieser Kraft verjagt und vernichtet er ruhig und unaufgeregt jede Tragik«. 36 Was Frank hier bewundernd »pantheistisches« Gefühl nannte, hatte er selber in seiner Jugend intensiv erlebt. 37 Unter dem Eindruck existentieller Bedrohung durch die nationalsozialistischen Machthaber in Deutschland hatte er rückblickend auf seine eigene geistige 36 Das Todesurteil an der jungen Frau wurde nicht vollstreckt; sie wurde zu Zwangsarbeit begnadigt, konnte fliehen und sich ins Ausland absetzen. Alexander Solschenizyn schildert ihr Schicksal in seinem Buch Das Kalb und die Eiche im Kapitel Die Unsichtbaren. 37 S. L. Frank: Predsmertnoe, in: S. L. Frank: Russkoe mirovozzrenie, St. Petersburg 1996, S. 53.

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Entwicklung seine Erinnerungen festgehalten. Bereits im Gymnasium, schrieb er, habe er durch Kuno Fischer Spinoza kennengelernt und dessen »Ethik« auch selbst gelesen. Lange Zeit sei es Spinoza gewesen, der sein philosophisches Denken bestimmte. Was ihn beeindruckte, war der auf Gott gerichtete »amor intellectualis«, der »kontemplative Pantheismus« und das »mystische Gefühl göttlicher All-Einheit«. »Ich habe darin schon früh etwas gefühlt, das dem tiefsten Wesen meiner Persönlichkeit entsprach«, berichtet Frank, und er erwähnt, daß er schon als Kind beim Blick in den Himmel »dieses pantheistische Gefühl« erlebte. Es fügte sich »zwanglos in das normale religiöse Bewußtsein ein, indem es sich mit dem Gebet zum persönlichen Gott verband«. »Diese Synthese gewann damals ohne Nachdenken in mir Gestalt; sehr viel später wurde sie zur Grundlage meines Lebensdaseins«. Diese jugendliche »Synthese«, in der die Erfahrung »des gesamten Seins als Einheit« mit dem Gebet zum »persönlichen Gott« vereint ist, hat mit einem Pantheismus im philosophischen Sinn nichts zu tun. Ebensowenig enthält Franks Stellungnahme zum Brief aus dem Gefängnis eine Bejahung des Pantheismus. Daß Frank sich der Problematik des philosophischen Pantheismus früh bewußt war, zeigt sein Aufsatz zu Spinoza von 1912; auf ihn ist noch einzugehen.

8.

Der Optimismus der Vernunft

Löst sich die Spannung von Vernunft und Glauben im »ganzheitlichen Wissen« auf? In einem Artikel mit dem Titel »Wissen und Glaube« (1908) hatte Frank zu Berdjaews Unterscheidung von »großer« und »kleiner« Vernunft Stellung genommen. 38 Die »große« Vernunft sei der christliche Glaube, hatte Berdjaew behauptet, ihm gegenüber könne die Ratio nur als »kleine« Vernunft gelten. Frank wies diese Abwertung der Ratio und die Möglichkeit einer »doppelten Wahrheit« oder »zweifachen Vernunft« scharf zurück. Falls die Ratio bzw. die Wissenschaft tatsächlich zum Unglauben führen sollte, müßten wir das anerkennen, entgegnete er. Aber die Lage sei so S. L. Frank: Znanie i vera. In: Slovo, 1908, Nr. 579. Jetzt: Russkoje mirovozzrenie, St. Petersburg 1996, S. 580 f. – Auch später noch hat Berdjaew Franks Zorn provoziert, weil er die wahre Philosophie nur als Kunst verstanden wissen wollte und sie der Rationalität entgegenstellte: S. L. Frank: Dusˇa cˇeloveka. In: Real’nost i cˇelovek. Moskau 1997, S. 12.

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tragisch ja gar nicht! Man könne sehr wohl »ein Wissen finden, das den Glauben nicht vernichtet, und einen Glauben, der dem Wissen nicht widerspricht«! Die Versöhnung des Wissens mit dem Glauben wäre erreicht, wenn das Wissen »Horizonte für neue Hoffnungen eröffnet« und der Glaube »durch das Wissen bestärkt und bestätigt wird«. Frank ist zuversichtlich, daß die geistige Entwicklung hierzu gelangen wird. Berdjaews Auffassung sei dagegen noch eine der Vernunft feindlich gesonnene »Romantik«. Diese Romantik aber ist krank, »gesund ist das Klassische«, sagt Frank mit Goethe. Beispielhaft ist für Frank die »antike Harmonie des Geistes«, in welcher der Kosmos nicht als ein sinnleeres physikalisches System aufgefaßt wurde. Weder »die Lebensfremdheit des Positivismus« noch »die nervöse Ekstatik der Romantik« ist das, was Frank befriedigt. Er sucht die »gesunde Lebendigkeit [zdorovaja zˇiznedejatel’nost’], die auf einem ruhig durchdachten, hellen Glauben beruht«. Dieser »Glaube« ist freilich kein explizit religiöser, geschweige denn christlich-orthodoxer Offenbarungsglaube. Die von Frank hier anvisierte ratio fide illustrata ist die Vernunft, die sich selbst auf das Absolute verwiesen sieht und in ihm das Licht erkennt, das sie zur Wahrheitserkenntnis befähigt. Ihre »gesunde Lebendigkeit« gründet in der Überzeugung, daß sie, wo sie sich sittlich gefordert erfährt, in sich das Absolute zu berühren und so praktisch zu wissen vermag.

9.

Die Selbstevidenz des Erlebens: W. James und F. Schleiermacher

Bei Fichte hatte Frank lernen können, daß das nicht objektivierbare Absolute doch »erlebt« werden kann, weil es selber »Leben« ist, an dem der Mensch als Person schon immer wesentlich teilhat. Fichte hatte das »Erleben« des Absoluten ein »Sehen« oder »Anschauen« genannt. Das war eine Weise der Erfahrung, die sich radikal von sinnlicher Erfahrung unterschied. Frank wußte aber auch, wie vieldeutig der Lebensbegriff ist. Die zeitgenössischen Philosophen Dilthey, Nietzsche, Bergson sprachen in einer Weise vom »Leben«, in der dieser Begriff nicht mehr geeignet war, Synonym des göttlich Absoluten zu sein. Frank sah es als seine Aufgabe an, die Begriffe »erleben« und »erfahren« weiter zu klären. Dazu bot sich die kritische Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie von William James und mit der Erkenntnistheorie des Pragmatismus an. Die An49 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

regung dafür, sich mit James und dem Pragmatismus auseinanderzusetzen, wird von Simmel stammen. Dieser hatte schon 1895 »das Verhältnis von Wahrheit und Nützlichkeit in grundsätzlich derselben Weise« beschrieben, »wie der Pragmatismus«. 39 1908 war James’ Pragmatism auf deutsch erschienen; auch auf dem III. Internationalen Kongreß für Philosophie in Heidelberg im September 1908 stand der Pragmatismus auf der Tagesordnung. Frank veröffentlichte 1910 zwei Abhandlungen zu diesen Themen, die bereits die Grundlage seiner eigenen Religionsphilosophie erkennen lassen. 40 James hatte mit seinem Buch The Varieties of Religious Experience (1902) den Erfahrungsbegriff ins Zentrum der religionsphilosophischen Diskussion gestellt. Frank begrüßte James’ Werk, das gerade ins Russische übersetzt war, als »epochemachend« und verglich es in dieser Hinsicht mit Ch. Darwins Entstehung der Arten. James habe auf ein Bedürfnis der Zeit reagiert; sein Werk sei ein befreiendes Werk, unabhängig davon, welche wissenschaftliche Bedeutung man ihm im einzelnen zuerkenne. Der »radikale Empirismus«, den James in diesem Zusammenhang entwickelt hatte, fand Franks besonderes Interesse. Die Gewißheit, daß das unmittelbar Erfahrene auch real sei, werde nicht erst durch einen besonderen Urteilsakt gewonnen, der zum Phänomen hinzutrete. Vielmehr, so zeige James, sei die Realität des Erfahrenen durch die Erfahrung selbst bezeugt. Der »radikale Empirismus« verzichte deshalb zu Recht darauf, das in der religiösen Erfahrung Gegebene, theoretisch begründen zu wollen, weil er erkenne, daß die Erfahrung eine eigene Evidenz besitzt und als solche keines Beweises von etwas anderem her bedarf. 41 Die Anerkennung, die Frank dem James’schen Werk zollte, schloß kritische Vorbehalte gegenüber der Erklärung des religiösen Willfried Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Weilerswist (Velbrück) 2003, S. 61. 40 S. L. Frank: Filosofija religii V. Dz ˇ emsa. In: Russkaja Mysl’, 1910, Nr. 2, 155–164. S. L. Frank: Pragmatizm kak filosofskoe ucˇenie. Ebd., 1910, Nr. 5, 90–120. 41 James schreibt: »Es ist, als gäbe es im menschlichen Bewußtsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ›da ist etwas‹ – eine Wahrnehmung, die tiefer und allgemeiner reicht als irgendeiner der besonderen ›Sinne‹, deren die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken realer Existenz zuspricht«. Dieses »Realitätsgefühl« ähnelt »mehr einer Sinneswahrnehmung als einer Verstandesleistung im eigentlichen Sinne«. W. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt 1997, S. 89 und 96. 39

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Die Selbstevidenz des Erlebens: W. James und F. Schleiermacher

Phänomens durch James nicht aus. Es waren vor allem drei Einwände, die Frank geltend machte: 1. Sofern James den Wert des religiösen Glaubens davon bestimmt sein lasse, welchen Beitrag er zur »Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse« leiste, verkenne er die Eigenart des Glaubens. Die Religion mit ihrem Nutzen für das Leben rechtfertigen wollen, »hieße die Religion negieren und sie aus einem hohen befriedigenden Besitz zu einem Dienstinstrument zu machen«. Für den religiösen Menschen bestimmt die Religion den Rang der Lebensbedürfnisse, nicht aber hängt der Wert der Religion von ihrer praktischen Lebensdienlichkeit ab. 2. Wenn James meine, in der religiösen Erfahrung gelange, was zuvor im Unterbewußten gegeben sei, in das helle Bewußtsein, so könne das eine gerechtfertigte Vermutung über den Ursprung der Erfahrung sein, sage aber nichts über ihren Wahrheitsgehalt aus. 3. James sehe im Begriff der »objektiven und allgemein-verbindlichen Wirklichkeit« nur eine »wissenschaftliche Abstraktion« von instrumenteller Bedeutung. Kritisch fragt Frank daraufhin nach dem Kriterium für die von James propagierte »allgemeingültige Bearbeitung der Vielfalt der religiösen Intuitionen«. Anerkennend stellt Frank fest, daß James mit dem Begriff des »radikalen Empirismus« dem philosophischen Denken eine fruchtbare Aufgabe gestellt habe. Es bleibe aber noch die Frage zu beantworten, wie die erfahrene Wirklichkeit zur gewußten Wirklichkeit wird und welcher Art dieses Wissen ist. Ist in ihm die Wirklichkeit unmittelbar gegeben oder handelt es sich bei ihm um eine »Abstraktion«? Die Antwort, die Frank hier gab, lautete: In der religiösen Erfahrung zeigt sich die Realität des religiösen »Gegenstandes« in ihrem Gegebensein. Diese Selbstevidenz des Gegebenen fordert die »Anerkennung der Intuition als Basis des Erfahrungswissens«. Franks ergänzender Aufsatz zur »Erkenntnislehre des Pragmatismus« ist eine kenntnisreiche und stringente Kritik an dessen Wahrheits- und Wirklichkeitsauffassung (W. James, Ch. Dewey, Ch. Peirce, F. C. S. Schiller). 42 Mit der Auffassung, »daß der Gegenstand der Erkenntnis außerhalb der Erkenntnis nicht existiert, daß er dem menschlichen Denken nicht ›gegeben‹, sondern ›aufgegeben‹ und daß die Erkenntnis keine Erklärung, sondern ein kreatives Schaffen der Vgl. S. L. Frank: Pragmatizm kak gnoseologicˇeskoe ucˇenie, 1910. In: Zˇivoe znanie, Berlin 1923. S. 119–166.

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Realität sei«, vollende der Pragmatismus den von Kant ausgehenden Subjektivismus »in streng psychologischem und naturalistischem Sinn«, schreibt Frank. 43 Zustimmung verdiene freilich die Absicht, »das abstrakte Wissen und den Begriff der theoretischen Wahrheit auf etwas Tieferes und Ursprünglicheres zurückzuführen, das man […] als Wissen-Leben im Gegensatz zu Wissen-Theorie bezeichnen könnte«. Doch die Weise, in der diese Intention durchgeführt wird, ist logisch inkonsistent. Indem sie, »den Sinn des Wissens« theoretisch zu erklären beansprucht und damit »einigen Begriffen eine sich selbst genügende innere Bedeutung und den aus ihnen gebildeten Urteilen selbstevidente Wahrheiten zuschreibt«, widerspricht sie ihren eigenen extrem nominalistischen Prämissen. Ebenso ist der psychologistische Naturalismus, auf den der Pragmatismus notwendig hinausläuft, innerlich widersprüchlich, weil er, wie jeder Naturalismus, den Fehler begeht, »das Ursprüngliche aus dem Abgeleiteten zu erschließen«. Denn er setzt die selbstevidente Wahrheit jener realen Bedingungen voraus, von denen seiner Theorie zufolge, der Sinn und die Wahrheitskriterien der Urteile, zumal jener über die psychologische Natur des Menschen und seiner Beziehungen zur Außenwelt, abhängen. 44 Franks Kritik impliziert bereits das spätere Seinsverständnis, das den Subjektivismus grundsätzlich hinter sich läßt und doch fern von einer Vergegenständlichung des Seins ist. Seine eigene Lehre vom »Gegenstand des Wissens«, an der er zu dieser Zeit zu arbeiten begann, ist auch eine Stellungnahme zum Erkenntnis- und Wissensideal des Pragmatismus. Wichtiger noch als die Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus wurde für Franks eigene Religionsphilosophie das Werk Friedrich Daniel Schleiermachers. Das Ergebnis seiner Beschäftigung mit ihm hat Frank in einer ausführlichen Abhandlung 1911 zusammengefaßt. Schleiermachers »Reden über die Religion« hat er außerdem ins Russische übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben. Ich referiere hier nur die Rezeption von Schleiermachs Begriff des »Gefühls«, da er für das religionsphilosophische Werk Franks von besonderer Bedeutung sein wird. 45 »In genialer Intuition« habe Schleiermacher mit diesem Begriff Ebd., S. 150; S. 159 f. Ebd., S. 165. 45 S. L. Frank: Lic ˇ nost’ i mirovozzrenie Fr.Šlejermachera. In: Zˇivoe znanie, Berlin 1923, S. 99 und 97. 43 44

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den Weg gebahnt, das »emotionale Wissen« ernst zu nehmen, oder, wie Franz Brentano es ausdrückte, die »emotionale Evidenz«. Freilich könne dieser Begriff, der bei Schleiermacher das Medium des religiösen Lebens bezeichnet, Mißverständnisse nahelegen; besonders gelte das für das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« (eine Formulierung, die Frank als »unglücklich« bezeichnet, die übrigens in den Reden, wie er feststellt, nicht erwähnt wird). Schleiermachers Schwanken zwischen dem Einfluß Kants und des frühen Fichte einerseits und dem Denken in den Kategorien des Objektiven bei Spinoza, Schelling und Hegel andererseits spiegele sich gerade bei der Verwendung des Gefühlsbegriffs. Doch Schleiermacher wolle mit dem Begriff des »Gefühls«, so interpretierte ihn Frank, die Religion nicht einer subjektiven Sphäre zuordnen. Was er mit »Gefühl« bezeichnet, reiche vielmehr über den Gegensatz des Subjektiven und Objektiven hinaus. Richtig verstanden meine »Gefühl« bei Schleiermacher keinen besonderen Bereich des Psychischen, sondern »die tiefste Wurzel des ganzen Bewußtseins überhaupt«. Schleiermacher wolle mit dem »Gefühl« die »Wurzel« des Wissens, die der Unterscheidung des theoretischen Erkennens und des praktischen Tuns noch vorausliegt, anzeigen. Der Sinn dieses Begriffs liege darin, diese Sphäre als Leben zu bestimmen, als Bewußtsein, das nicht von der Fülle des Erlebens zu trennen ist und das als solches über die auf sich beschränkten Bereiche von Theorie und Praxis sich erhebt und ihre Einheit bildet. »Weder das Wissen noch das Handeln können an sich das Ganze des Lebens ausmachen; sie setzen einander und folglich auch ihre ursprüngliche Einheit voraus, d. h. ihre Verbindung mit dem inneren Leben, die im Gefühl gegeben ist«. »In diesem Prinzip ist das äußere Bild des Gegenstandes noch mit dem inneren Leben des Subjekts zusammengeschlossen. Hier ist jeder Akt des Lebens in seiner allgemeinsten und ursprünglichsten Form eine Einheit des ›Seins für sich‹ und des ›Seins im ganzen‹, von Selbstbewußtsein und Wahrnehmung«. Erst in der Reflexion wird »die äußere Vorstellung vom inneren Leben des Gefühls« unterschieden. Eine interessante Parallele zu dieser Schlußfolgerung Franks finden wir bei Wilhelm Dilthey, der in seiner Breslauer Ausarbeitung, von Schleiermacher angeregt, die Einheit, von der Frank spricht, mit dem »Satz der Phänomenalität« ausgesagt hatte: Was als »Tatsache des Bewußtseins« gegeben ist, kann nicht weiter aufgelöst, sondern nur als »letzter Befund« aufgezeigt werden. Es ist nur 53 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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einem »Innewerden« zugänglich, das im Erleben geschieht und jedem »Vorstellen« vorausliegt, schreibt Dilthey. 46 Frank brachte diese vor der Unterscheidung von Denken und Gegenstand liegende Einheit, Schleiermacher interpretierend, so zum Ausdruck: »In der Religion interessiert nicht das vom erkennenden und fühlenden Subjekt abstrahierte Objekt, sondern die unauflösliche Verbindung des einen und anderen im Erleben«. Folglich ist die religiöse Wahrheit »nicht so sehr ein Wissen vom Objekt, als vielmehr eine Identität mit ihm, das Erleben einer ganzheitlich subjektiv-objektiven Wahrheit«. Anders als die wissenschaftliche Wahrheit, die eine intellektuelle Reproduktion des Objekts ist, ist die religiöse Wahrheit »Leben im Objekt, lebendiges Zusammenfließen mit ihm«. 47 Nicht nur Schleiermachers Einsicht, daß es eine vom Denken allein nicht zu erreichende Wahrheit gebe, sollte Frank zu weiteren erkenntnistheoretischen Überlegungen anregen, auch Begriffe wie »Universum« und »Unendliches«, die in Schleiermachers Phänomenologie der religiösen Erfahrung eine Rolle spielen, werden in Franks entfalteter Ontologie der All-Einheit ihre volle Bedeutung gewinnen. 48 Zweifellos hat die Beschäftigung mit dem Pragmatismus und mit Schleiermacher Frank veranlaßt, dem Begriff der Erfahrung besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

10. Das ganzheitliche Begreifen des Wirklichen Im selben Jahr, in dem Frank seinen Essay über Goethes Erkenntnislehre veröffentlichte (1910), erschien in der Zeitschrift »Logos« auch sein Aufsatz »Natur und Kultur«. 49 Er war im wesentlichen eine Stellungnahme zur Diskussion, die im Anschluß an Heinrich Rikkerts Buch »Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft« (1. Auflage 1899) geführt wurde. Franks Überlegungen bringen eindrucksvoll seinen »Ideal-Realismus« zum Ausdruck, in dem »Geist« und »Welt« unvermischt eine Einheit bilden. Wie sehr Goethe hierzu beiWilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Leipzig u. Berlin 1922 ff., Bd. XIX, S. 66. S. L. Frank: Licˇnost’ i mirovozzrenie Fr.Šlejermachera. In: Zˇivoe znanie, S. 104. 48 Vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, S. 56, vgl. auch 128 f. »Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche« S. 53. 49 S. L. Frank: Priroda i kul’tura, In: Logos, 1910, S. 50–89. 46 47

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getragen hatte, macht er mit einem Zitat in deutscher Sprache aus einem Brief Goethes sichtbar, in dem dieser sich kritisch über Jacobi geäußert hatte: »Wem es nicht zu Kopfe will, daß Geist und Materie, Seele und Körper, Gedanken und Ausdehnung […] die notwendigen Doppelingredienzen des Universums waren, sind und sein werden, die beide gleiche Rechte für sich fordern und deswegen beide zusammen wohl als Stellvertreter Gottes angesehen werden können; wer zu dieser Vorstellung sich nicht erheben kann, der hätte das Denken längst aufgeben … sollen«. 50 »Die Tiefe und der Reichtum von Goethes Weltanschauung ist bisher noch nicht ausgeschöpft«, bemerkt Frank dazu. Bemerkenswert ist aber auch, daß Frank bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Ich-Du-Beziehung (wenngleich noch nicht in der klaren Form wie in Das Unergründliche) als den Schlüssel zur Seinserkenntnis begreift. Hier wird der fortwirkende Einfluß des Personalismus von Wilhelm Stern erkennbar. Ein Denken, das nicht zur Kenntnis nimmt, daß die personalen Kategorien der Kultur – Geist, Freiheit und Zielstrebigkeit – in der objektiven Welt selber enthalten sind, führt in letzter Konsequenz zum Naturalismus. Aber auch der erkenntnistheoretische Idealismus, stellte Frank kritisch fest, ist außerstande, außerhalb des erkennenden Ich »wahre Geistigkeit« zuzulassen, wie sie uns doch im anderen Menschen zweifellos begegnet. Er ist genötigt, den anderen als bloßes Nicht-Ich und somit inadäquat zu begreifen. 51 Der Neukantianismus ist nicht in der Lage, die schroffe Gegenüberstellung von Geist und Natur zu überwinden, in der die Realität kulturlos und die Kultur ohne Realität ist. 52 Die kritische Distanz, die Frank zum Neukantianismus gewonnen hat, läßt ihn jedoch nicht übersehen, daß schon im Schelling-Hegelschen und im Kant-Fichteschen Idealismus Anregungen enthalten sind, »die Dualität von Natur und Kultur zu überwinden«. In diesem frühen Aufsatz wird wieder das zugleich intellektuelle und moralische Anliegen deutlich, das Franks gesamtes Arbeiten begleitete: den wahren Kern, der selbst in extremen Positionen enthalten ist, aufdecken und bewahren und so durch Versöhnen der Gegensätze zum Fortschritt der Erkenntnis beitragen.

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Ebd., S. 88. Aus dem Brief Goethes an Karl Ludwig von Knebel, 8. April 1812. Ebd., S. 79. Ebd., S. 81: »die Kulturlosigkeit aller Realität und die Nicht-Realität aller Kultur«.

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11. Spinoza und die Zurckweisung des Monismus und Pantheismus Noch deutlicher als im Aufsatz »Natur und Kultur« wird Franks inzwischen erreichte eigene philosophische Position in seiner Abhandlung Spinozas Lehre über die Attribute, die 1912 in der Zeitschrift Voprosy filosofii erschien. Franks Interesse richtet sich auf die Frage, wie Spinoza das Eine versteht. Wieder ist es die erkenntnismetaphysische Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis, von der Frank ausgeht. Offensichtlich, so meint er, sucht Spinoza nach einem Wissen, das nicht von seinen Objekten getrennt ist, sondern sie gleichsam umgreift und das Subjekt in das Sein selbst eintauchen läßt. Verglichen mit einer so gewonnenen vollen Erkenntnis wäre ein Wissen, das sich allein auf Urteile und abstrakte Begriffe stützt, ein bloßer Glaube, weil es nur von außen auf die Dinge hinweist, sie aber nicht selber enthält. »Das Ideal des Erkennens besteht im Erleben der konkreten Fülle der Realität und nicht im Fixieren ihrer abstrakten Einzelzüge«, forderte Frank im Sinne des Prinzips des »lebendigen Wissens«. Daß auch Spinoza dieses Ideal anerkannte und verfolgte, gehe eindeutig aus seinem Kurzen Traktat (»Kurzer Traktat von Gott, dem Menschen und seinem Glück«) hervor. Doch habe er hier nur ein Programm vorgelegt, ohne es auszuführen. Das geschehe erst in seiner Ethik, – wenngleich in einer dem eigenen Anliegen inadäquaten Form. 53 Spinozas Intention sei zwar darauf gerichtet, stellt Frank mit Verweis auf Trendelenburg fest, die Einseitigkeit sowohl des Naturalismus als auch des Idealismus zu überwinden und das »ursprüngliche mystische Empfinden für ›die Einheit des Geistes mit der gesamten Natur‹« zum Ausdruck zu bringen, doch die Verwirklichung dieses Projekts scheiterte, weil Spinoza unter dem Einfluß des cartesischen Rationalismus und des naturalistischen Pantheismus Giordano Brunos eine Terminologie und eine Systemstruktur zur Darstellung seiner Gedanken wählte, die ihnen nicht angemessen waren. 54 Die Formel Deus sive natura gibt nur sehr unvollkommen die Philosophie des reifen Spinoza wieder, hält Frank als Ergebnis seines Spinozastudiums fest. Spinozas Monismus wolle »die Einheit des Realen mit dem Idealen« in erkenntnistheoretischer Hinsicht lehren 53 S. L. Frank: Uc ˇ enie Spinozy ob atributach. In: Voprosy filisofii i psichologii, 1912, Nr. 114, S. 551. 54 Ebd., S. 555.

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Spinoza und die Zurckweisung des Monismus und Pantheismus

und dürfe deshalb nicht mit einem »psychophysischen« Monismus verwechselt werden. Besonders zu beachten sind hier Franks Bemerkungen zu Spinozas Verständnis Gottes als der »unendlichen Einheit des Idealen und Realen«. Dieses Verständnis laufe auf eine »Überwindung der logischen Abgrenzung von ›Bewußtsein‹ und ›Sein‹ und ihre unmittelbare Schau als identischen Urgrund« hinaus und nähere sich einem mystischen Gottesverständnis. Spinoza denkt seinen erkenntnistheoretischen Monismus mit dem Begriff »Substanz« als erweitertem Seinsbegriff. Er hat damit gezeigt, daß ein erkenntnistheoretischer Monismus nicht nur als Idealismus denkbar ist, wie im Gefolge Kants angenommen wird, sondern auch als Realismus, der keineswegs naturalistisch konzipiert sein müsse. 55 Hatte Frank bereits in diesem Aufsatz die Schwachstellen von Spinozas Monismus argumentativ aufgedeckt, so war die Stellungnahme zum Pantheismus Spinozas anläßlich des 300jährigen Geburtstags des Philosophen 1933 noch entschiedener. Nur darauf soll hier hingewiesen werden. Spinozas Philosophie könne man, erklärte Frank, »methodisch und inhaltlich als Mystik anschauender Erkenntnis« charakterisieren. Doch die Ausführung dieses Entwurfs durch Spinoza sei von »grandioser Einseitigkeit«: Was gut und böse bedeutet, wird nicht erkannt; geleugnet wird jegliche »Ursprünglichkeit«; ebensowenig wird die Freiheit des Willens und die individuelle Unsterblichkeit anerkannt. Geleugnet wird auch die Personalität Gottes, die man freilich nicht grob naturalistisch verstehen dürfe, wie Frank anmerkt. 56 Wieder nennt Frank den rationalistischen Ansatz als Grund dafür, daß es Spinoza nicht gelinge, das Relative und Partikuläre mit dem Absoluten in Einklang zu bringen. Spinozas Gott »verschlingt erbarmungslos alles Übrige«. Dagegen betont Frank: »Das Absolute wird wahrhaft Absolutes nur als Einheit des Absoluten und des Relativen. Bei Spinoza ist alles in Gott; Gott aber ist nicht in diesem«. Wo die Göttlichkeit der Welt behauptet wird, führt das paradoxerweise zur Leugnung ihrer eigenen Realität. Das bestimme auch Spinozas Ethik: Wert hat nur die reine Anschauung des Absoluten, die von aller lebendigen Vielfalt und schöpferischen Weltentwicklung losgelöst ist. »Gerade der Pantheismus Spinozas kann die Ebd., S. 559–560. S. L. Frank: Osnovaja ideja filosofii Spinozy (Die Grundidee der Philosophie Spinozas). In: Put’, Febr. 1933, Nr. 37, S. 64–65. Hervorh. von mir, P. E. 55 56

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wahre All-Einheit nicht erreichen«. Infolge seines Rationalismus mußte Spinoza auch die »wahre Inkarnation« und der »gottmenschliche Gott« fremd bleiben. 57 Spinoza, so lautete Franks abschließendes Urteil, blieb dem »naturalistischen Pantheismus« eines Giordano Bruno verhaftet, obwohl seine Lehre von der einen Substanz eine Einsicht offenbart, die über diesen Naturalismus hinausreicht. Frank hatte erkannt, daß eine rationalistische Erkenntnisauffassung eine letztlich dualistische oder, wie bei Spinoza, eine monistisch-pantheistische Deutung der Beziehung Gottes zur Welt zur Folge hat und den Begriff des Gottmenschentums zerstört. Im Anschluß an seine Auseinandersetzung mit Spinoza lernte er das Werk des Nikolaus von Kues kennen. Seine Arbeit über den Gegenstand des Wissens, die er 1915 veröffentlichte, beweist bereits den nachhaltigen Einfluß dieses Theologen und Philosophen. Bei ihm wird Frank den tragfähigen Grund finden, auf dem er sein eigenes philosophisches System errichten konnte: Die Idee der Koinzidenz, welche den Gegensatz des Unendlichen zum Endlichen in metalogischem »belehrtem Nichtwissen« zu übersteigen erlaubt. Auf diesem Grund konnte Frank das »Ganze« als alles umfassende und durchdringende unvermischte lebendige Einheit des Idealen und Realen verstehen. Damit fand auch der »religiöse Humanismus« die gesuchte philosophische Begründung.

12. Das sittliche Ideal: Einheit des Unbedingten und Bedingten Nach der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus im spinozistischen Monismus und mit der naturalistischen Erkenntnislehre des Pragmatismus wandte Frank sich in der für ihn überaus fruchtbaren Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auch der naturalistischen Ethik zu. Der Aufsatz Das sittliche Ideal und die Wirklichkeit (1913) ist von herausragender Bedeutung, weil in ihm durch die Begründung des Seinsbegriffs der wesentliche Schritt über Kant und den Subjektivismus hinaus vollzogen wird. Er war seine Antrittsvorlesung, die er im Jahr zuvor als »Privatdozent« an der Petersburger Universität gehalten hatte. 58 Ebd., S. 66. S. L. Frank: Neprocˇitannoe … Stat’i, pis’ma, vospominananija. Moskau 2001. Predislovie, S. 6.

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Das sittliche Ideal: Einheit des Unbedingten und Bedingten

Das sittliche Ideal (Sittengesetz) kann empirisch weder bewiesen noch widerlegt werden, erklärt Frank anknüpfend an Kant. Es gründet in einer »ursprünglichen Evidenz, die man nur haben oder nicht haben, deren Überzeugungskraft aber weder positiv noch negativ von irgendwelchen Überlegungen abhängen kann«. Folgt daraus, daß Sollen und Sein einander absolut entgegengesetzt sind? Windelband und Rickert, aber auch Lotze, waren dieser Auffassung. Dagegen hatte Kant »in der Anerkennung des Dualismus von Sein und Sollen nicht das Ende, sondern erst den Anfang des ethischen Wissens [gesehen]; er suchte mit seiner Lehre vom ›intelligiblen Charakter‹ und den ›Postulaten der praktischen Vernunft‹ bestimmte positive Lösungen hinsichtlich des Verhältnisses von Wirklichkeit und Ideal«. Die Lösung aber, die er mit seiner praktischen Philosophie gab, ist, wie Frank mit Verweis auf Windelband und Solowjow einwandte, nicht ohne Widersprüche. Frank will deshalb, ohne sich an der direkten Auseinandersetzung mit Kant zu beteiligen, »versuchen, diese Frage selbständig zu entwickeln«. 59 Mit Kant ist zu sagen: Wo der menschliche Wille sich des Sittengesetzes bewußt wird und das Gesollte sich zu eigen macht, gewinnt er eine neue Qualität: Er wird zum sittlichen Willen. In einem unteilbaren Akt ist er dann sowohl Untertan des sittlichen Ideals als auch zugleich sein Gesetzgeber. Hier gibt es also, folgert Frank, »keine äußere Wechselbeziehung zwischen zwei selbständigen Momenten, […] sondern die einzige, einheitliche Realität des idealen oder sittlichen Willens«. 60 Anders als der von einem Ideal bestimmte empirische Wille ist der sittliche Wille »die Realität des Ideals selbst, der Punkt in dem Sollen und Sein in eins verschmolzen sind«. Dieser ideal bestimmte Wille kann nur »als überempirischer und unbedingt allgemeiner Wille« gedacht werden, »obwohl er konkret in der empirischen Welt nur in Verbindung mit dem individuellen Willen eines einzelnen Menschen auftritt«. Die realistische Auffassung, daß das Universale immer im Einzelnen zu finden ist, sieht Frank auch hier bestätigt. Hegels Wort, daß im sittlichen Willen »das Sollen ebensosehr Sein« ist, wird von Frank übernommen, aber in dem Sinn verstanden, daß das sittliche Ideal, das »mit der idealen Realität

59 S. L. Frank: Nravstvennyj ideal i dejstvitel’nost’ in: Russkaja mysl’ 1913. Z ˇ ivoe znanie, Berlin 1923. S. 169–197. S. 176 und 179. 60 Ebd., S. 182.

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eines universalen Willens gleichgesetzt« ist, nicht zum »Volksgeist« oder »objektiven Geist« wird, wie Hegel meinte. Frank geht es um die »Autonomie« des sittlichen Bewußtseins (in der Kant den »Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« gesehen hatte). Um von Autonomie reden zu können, muß die empirische Person den unbedingten Willen, dem sie sich unterordnet, »in sich selbst vorfinden«. Dieser Wille aber ist nicht mit ihr identisch; er ist universal, »umfaßt sie und geht unendlich über sie hinaus«; er läßt damit jede Unterscheidung zwischen den Individuen hinter sich. Frank hat hier einen äußerst wichtigen Schritt zur Erkenntnis des übersinnlichen Seins vollzogen. Im sittlich bestimmten Willen erkennt er eine Realität, die »überempirischen Charakter besitzt, eine reine Idee ist«. 61 Der sittlich bestimmte Wille »steht an der Schwelle zweier Welten, der idealen und der empirischrealen, und verbindet beide miteinander«. Der sittliche Wille, der darauf gerichtet ist, das Ideale im Empirischen zu verwirklichen, ist selber »etwas ganz Reales«, freilich völlig anders als die empirische Realität. Ist hier tatsächlich das Ideale mit dem Empirisch-Realen eins geworden, dann folgt unabweisbar, daß die geschlossene Naturkausalität »ganz real durch das Eindringen eines nicht empirischen, idealen Faktors verletzt wird. Das sittliche Ideal ist in all seiner Idealität eine ganz reale Kraft im irdischen, empirischen Leben«. 62 Die Befürchtung, mit der Annahme eines in die Determinationskette der Natur einwirkenden Ideals würde das Prinzip der Willkür eingeführt, ist grundlos. Denn die natürliche Gesetzmäßigkeit wird nicht durch eine andere empirischen Erscheinung durchbrochen, sondern durch die »Realität des sittlichen Willens«. Seit Kant gilt es als unumstößliche Wahrheit, daß der »Sternenhimmel über mir« und damit alles, was zur körperlichen Welt gehört, »in keiner Weise durch das ihm entgegengesetzte ›moralische Gesetz in mir‹ bestimmt ist«. Frank vertritt dagegen einen »realen Zusammenhang« zwischen beiden Bereichen und findet ihn im »unmittelbaren Bewußtsein unserer Motivation durch den sittlichen Willen«. Da der überempirische sittliche Wille seiner Natur nach universal ist, Ebd., S. 185. Ebd., S. 188. – Kant nennt die »Achtung fürs Gesetz« und dieses selbst eine »Triebfeder« zum sittlichen Handeln. Insofern schreibt auch Kant dem apriorischen sittlichen Ideal eine reale Kraft zu.

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muß sein Vorhandensein prinzipiell bei allen Menschen anerkannt werden, ja, darüber hinaus, da der Mensch Teil der Natur ist, auch im ganzen organischen und sogar im kosmischen Leben, d. h. in allem Sein. Selbstverständlich ist diese Anwesenheit des Idealen in der gegenständlichen Natur immer beschränkt, verglichen mit der Fülle, mit der es als solches im Menschen bewußt wird. 63 Das Ethos der Weltgestaltung hat damit eine neue Grundlage gewonnen. Die Forderung, die irdischen Verhältnisse, die gegenständlichen Beziehungen eingeschlossen, im Namen der Gerechtigkeit zu verändern, richtet sich nicht an eine der Sittlichkeit »fremde Seinssphäre, sondern [verlangt] nur eine Vertiefung und Bereicherung jener idealen Kräfte, die auch schon vor dieser Forderung in der Wirklichkeit enthalten sind«. Sittlich motivierte Weltgestaltung ist darum in ihrem Wesen ein Erwecken der idealen Kräfte in der Welt selber. Wer so dem Sittengesetz gemäß handelt, bringt »das lebendige Wirken des Seins selbst, gleichsam eine geistige Entelechie«, zum Ausdruck, welche die Gestalten des Lebens »von innen formt und sich unterordnet«. 64 Für den sittlichen Menschen ist die Wirklichkeit deshalb »nicht nur Objekt trockener Kalkulation«; ihn muß ein Gefühl beseelen, »welches das Ideal nicht nur als abstrakte Forderung empfindet, sondern auch als mächtige reale Kraft des personalen und des kollektiven Seins«. 65 Frank leitet aus diesem Befund schließlich noch eine bemerkenswerte Einschätzung des Gewissensurteils ab. Weil jede sittliche Überzeugung immer mit bedingten Elementen durchsetzt ist und nicht absolut sein kann, ist jeder Mensch gerade kraft seines Gewissens verpflichtet, sein sittliches Urteil, so sehr er auch von dessen Rechtmäßigkeit überzeugt sein mag, »mit dem ganzen System des sittlichen Seins in Einklang zu bringen und in der eigenen sittlichen Person nur eine der Erscheinungsformen des allgemeinen sittlichen Geistes zu sehen«. 66 Der philosophisch bedeutsame Schritt ist getan: Im Sein selbst liegt der Ursprung »lebendiger sittlicher Macht«, aus der auch das je eigene sittliche Streben sich speist. Die Einsicht, daß der ideale Wert des Guten eine reale Kraft ist, bestimmt Franks Denken bis an das Lebensende. 63 64 65 66

Vgl. ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 196. Ebd., S. 194–195.

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Die geistige Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

Die philosophischen Fragen der vorangehenden Jahre haben eine gewisse Antwort erhalten. Was Frank bei früherer Gelegenheit »Weltliebe« oder sogar »pantheistische Liebe« genannt hatte, ist durch die Immanenz – nicht die Auflösung – des Unbedingten im Bedingten philosophisch gerechtfertigt. Zugleich ist der Heiligkeit des Personprinzips, um deren Begründung sein Denken seit Anfang kreiste, mit dem Aufweis der sittlichen Autonomie ein festes Fundament gegeben. Kants Ausgang vom Subjekt ist beibehalten, dennoch ist der Subjektivismus durch den Schritt auf die Ontologie der All-Einheit hin überwunden. Der platonische Gedanke der »Teilhabe«, aber auch Motive der Moralauffassung Hegels und der Naturrechtslehre sind fruchtbar gemacht.

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III. Die ontologische Grundlegung

Die Zeit vom Frühjahr 1913 bis zum Kriegsbeginn 1914 verbrachte Frank in Deutschland (Marburg, München, Herrsching am Ammersee); hier arbeitete er an seinem Buch Der Gegenstand des Wissens, das im Frühjahr 1915 in St. Petersburg erscheinen konnte. Es war die Zeit, in der er mit der Ontologie der All-Einheit das Fundament für sein eigenes philosophisches System legte. Daß in dieses System in veränderter Form die Einsichten und Fragen eingegangen sind, die ihm in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere mit Kant, bewußt geworden waren, ist selbstverständlich. Doch zum Fundament, auf dem er seine eigene Philosophie errichtete, wurde das von Platon angestoßene Denken, zumal in der Gestalt des christlichen Neuplatonismus. Im platonischen Denken erkannte er den Grundstrom der philosophia perennis, so daß er jetzt die »ganze Transzendentalphilosophie nur als Etappe in der Geschichte des Platonismus« verstehen konnte (GdW 85). Die Bedeutung, die er dem Neuplatonismus für seine Auseinandersetzung mit der Gegenwartsphilosophie zuerkannte, beweisen die programmatischen Zitate, die er den Kapiteln seiner Erkenntnislehre als Motti voranstellte. Vorbehaltlos hat Frank in Das Unergründliche die Bedeutung des Nikolaus von Kues für sein Denken anerkannt, indem er ihn hier als seinen »in gewissem Sinne einzigen Lehrer der Philosophie« bezeichnete (zum Einfluß des Cusanischen Denkens auf Frank s. u.). 1 In methodischer Hinsicht nicht zu unterschätzen, zumal in Hinblick auf die innere Wahrnehmung und Erfahrung, ist die von E. Husserl in seinem gerade erschienenen Buch »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« (1913) ausgearbeitete Wesensschau. Frank errichtete unter Verwertung dieS. L. Frank: Das Unergründliche. Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion. (DU). In der deutschen Ausgabe, S. 24, fehlt der Satz »In gewissem Sinne ist er für mich der einzige Lehrer der Philosophie«.

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Die ontologische Grundlegung

ser Einflüsse sein philosophisches Gedankengebäude. Er hat es in den folgenden Jahrzehnten ausgebaut, auch indem er neue Aspekte erschloß, doch wesentlich verändert hat er es nicht mehr. Die hier vorgelegte Rekonstruktion geht davon aus, daß seit der Stellungnahme 1909 zum Nihilismus der russischen Intelligenzia Franks philosophisches Interesse auf die Begründung und Rechtfertigung eines religiösen Humanismus gerichtet ist, der im Begriff des Gottmenschentums programmatisch zusammengefaßt ist. Die verschienenen Teile seines Gesamtwerkes sind durch die religionsphilosophische Kardinalfrage nach der Immanenz des Göttlichen im Menschlichen zur Einheit verbunden. Franks Schriften werden im Folgenden nicht mehr in der Reihenfolge ihres Entstehens vorgestellt, vielmehr sollen seine wichtigsten Gedanken zur Metaphysik des menschlichen Seins thematisch behandelt werden. Heranzuziehen sind in erster Linie Der Gegenstand des Wissens – Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis (1915), mit dem er seiner Philosophie das epistemologische und ontologische Fundament gegeben hat; weiter Das Unergründliche (1939), das den Untertitel Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion trägt, und Die Realität und der Mensch (1949/ 1956) mit dem Untertitel Eine Metaphysik des menschlichen Seins. Für die All-Einheit des Seins ist zusätzlich die Einführung in die philosophische Psychologie mit dem Titel Die Seele des Menschen (1917) heranzuziehen, für die sittliche Erfahrung und für den Begriff der Kirche Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft (1929), für die christliche Spiritualität und das Verständnis des Glaubens Mit uns ist Gott (1941/1946), gleichfalls für die christliche Spiritualität, für die Christologie, die Eschatologie und Ethik Das Licht in der Finsternis (1949) 2 . Aufschlußreich für Franks philosophisch-theologisches Denken insgesamt ist der Aufsatz Der ontologische Beweis für das Sein Gottes (1930). 3 Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt auf dem epistemologischen und ontologischen Aspekt der FrankDer Titel der deutschen Veröffentlichung, in dem der bestimmte Artikel weggelassen wurde, ist nicht adäquat: S. L. Frank: Licht in der Finsternis. Freiburg (Alber) 2008. Frank hat zum Titel und Thema seines Buches den Satz aus dem Prolog des Johannesevangeliums gemacht: »Das Licht [leuchtet] in der Finsternis …«; er hat ihm sogar den griechischen Wortlaut [to fw@ ffn th skotffla …] als Motto vorangestellt. 3 Die Fundstellen der Zitate aus Franks Werken werden im Haupttext angegeben. GdW = Der Gegenstand des Wissens. DU = Das Unergründliche. RM = Die Realität und der Mensch. GGdG = Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft, LidF = Licht in 2

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schen Religionsphilosophie. Die Ausführungen zur Gesellschaftslehre werden nur berührt; sie verdienen ebenso wie die subtilen psychologischen Untersuchungen zur »Seele« eine eigene Monographie. Die philosophische Begründung des Humanismus mußte, um von den Zeitgenossen ernst genommen zu werden, sowohl gegenüber einer verfehlten Metaphysik, die das Absolute objektiviert dem Menschen gegenüberstellt, als auch gegenüber allen Spielarten des Materialismus und Positivismus bestehen können. Wohlgemeinte Postulate genügten hierzu ebensowenig wie die bloße Behauptung, daß es eine Erfahrung des Absoluten gebe. Frank war bewußt, daß zur Bewältigung der gestellten Aufgabe die Auseinandersetzung mit Kants Erkenntniskritik unumgänglich war. Wenn, wie Kant gemeint hatte, unserer Erkenntnis das Sein grundsätzlich verschlossen ist, wäre der Skeptizismus in der Tat nur folgerichtig. Ohne im Sein zu gründen, können Werte keine letztgültige Verbindlichkeit beanspruchen. Gegen die kritizistische Bestreitung war darum die Realgeltung des Seinsbegriffs zu erweisen, zugleich aber war eine naiv realistische Objektivierung des Seins zu vermeiden. Frank hat diesen Erweis in Der Gegenstand des Wissens und, auf Einwände eingehend, im ersten Teil von Das Unergründliche durchgeführt. In nochmals anderer Form ist das Wissen des Seins in Die Realität und der Mensch entwickelt. In der für ihn grundlegenden Einsicht, daß das Sein – und letztlich Gott – nur über das Selbstsein des Subjekts zu finden sind, folgt Frank der kopernikanischen Wende Kants. In immer neuen Ansätzen versucht er zu zeigen, daß der Mensch, indem er sich auf seine eigene unergründliche Seinstiefe hin transzendiert, das absolute Sein »berühren« kann. Mit Kant weiß Frank sich jedoch darin einig, daß jeder Versuch, das absolute Sein aus der Vielheit des Weltseins schlußfolgernd abzuleiten (selbst wenn diese das Übersinnliche und Ideale einschlösse), der logischen Struktur dieser Vielheit verhaftet bliebe. Als Ergebnis eines derartigen Versuchs würde Gott als jemand gedacht, der den obersten Platz innerhalb des Alls einnimmt, das einer Pyramide von Gegenständen und Wesen mit ihren Eigenschaften und Beziehungen gliche (vgl. RM 134).

der Finsternis. – Nicht immer übernehme ich exakt die genaue Wortfolge der deutschen Übersetzung.

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Die ontologische Grundlegung

1.

Die »Anwesenheit« des Seins

Frank nimmt in seiner Erkenntnislehre die transzendentale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit unserer begrifflichen Erkenntnis auf. Aber anders als Kant zeigt er, daß die Möglichkeitsbedingung jeder bestimmten Erkenntnis in der unbestimmten Anwesenheit des Seins besteht. Der Aufweis dieser Anwesenheit hat den Charakter einer »ersten Philosophie«, in der Erkenntnistheorie und Seinstheorie nicht geschieden sind, sondern das Sein als Ermöglichungsgrund der Erkenntnis und des Wissens gedacht wird. Die hierzu durchgeführte logische Analyse der Kopula »ist« des Erkenntnisurteils scheint auf den ersten Blick mit Religionsphilosophie nichts zu tun zu haben; dennoch ist mit der Begründung des Seinsbegriffs auch der Grund für das richtige Verständnis des Gottesbegriffs gelegt. Denn würde das Sein als objektivierbarer Inhalt mißverstanden, ginge auch das philosophische Begreifen Gottes in die Irre. Erkennen heißt – so nimmt Frank gegen den (neu-)kantianischen Idealismus realistisch an – zu entdecken, wodurch ein Objekt inhaltlich bestimmt ist; dabei wird angenommen, daß diese Inhalte unabhängig davon sind, ob sie erkannt werden oder nicht. Wie kann dieses Wissen möglich sein? Denn es würde bedeuten, dass das erkennende Subjekt bereits vorgängig zu seiner aktuellen begrifflichen Erkenntnis ein ursprüngliches Wissen des Gegenstandes besitzt. Wie ist dieses Wissen zu denken? Selbstverständlich kann es kein ausdrückliches Wissen des Gegenstandes als solchen sein, denn dieser ist, wie vorausgesetzt, unbekannt und soll erst erkannt werden. Damit ist die Aufgabe gestellt, die unbestimmte »Anwesenheit« des Seins als die transzendentale Bedingung für die Möglichkeit jeglicher bestimmten Erkenntnis zu erweisen. Frank löst sie durch die logische Analyse des begrifflichen Erkennens. Jedes Urteil beantwortet eine ihm logisch vorausgehende Frage. Dem Urteil A ist B (Die Rose ist rot) geht die Frage voraus: Was ist A? Welche Eigenschaft hat A? Die Frage richtet sich auf einen unbekannten Inhalt, den A hat. Diese Blickrichtung auf das Unbekannte ist die Möglichkeitsbedingung jeder Erkenntnis. »Erkenntnis ist immer Bewegung des Erkennens, ist die Anstrengung, die uns umgebende ›Dunkelheit‹ zu erhellen«. Erkennen als Erhellen des unbekannten Dunkels hat dieses zur Voraussetzung. Das Unbekannte ist als das »den Sinn des Fragens bestimmende Prinzip« selbst absolut unbezweifelbar, fraglos (DU 46 f.). 66 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die »Anwesenheit« des Seins

Um zu verstehen, was mit dem in der Erkenntnis zu erhellenden Unbekannten gemeint ist, ist der Gegenstand des Urteils genauer zu untersuchen. Frank wendet sich hierfür der Kopula »ist« zu. Wird im Urteil A ist B mit dem »ist« die Identität von A (die Rose) und B (rot) behauptet? Das ist nicht möglich, sagt Frank, denn A ist logisch nur A und keineswegs B. Das Urteil verbindet verschiedene Begriffe (wären A und B identisch, gäbe es keine Erkenntnis). Wie aber ist es möglich, dass der Gegenstand A dann B ist? Widersprüchlich und falsch wäre es, würde man die gewonnene Erkenntnis in den Gegenstand vorverlegen, also behaupten, daß B bereits in A enthalten war. Denn auch hier gilt: A ist A und nur A; B ist nicht in A enthalten. Wäre der Inhalt der Erkenntnis (der im Urteil A ist B ausgesagt wird) als solcher bereits im Gegenstand A enthalten, könnte von einer Erkenntnis im eigentlichen Sinne ebenfalls keine Rede sein. A, von dem gesagt wird, daß es B »ist«, kann also weder das isolierte A sein, noch ein A, das bereits mit B verbunden ist. Wie also ist das »ist« im Urteil A ist B zu verstehen? Dieses für die Logik der Erkenntnis zentrale Problem kann nur befriedigend gelöst werden, wenn angenommen wird, daß der Gegenstand des Urteils, nämlich A, auf unbestimmte Weise mehr ist als nur A. Dieser unbekannte »Überschuß« wird von Frank x genannt. Der Gegenstand A kann darum als Ax bezeichnet werden. Dieses unbekannte x wird im erkennenden Urteil inhaltlich bestimmt, und zwar als B: Aus Ax wird A ist B. Das heißt: Damit erkannt werden kann, daß A den Inhalt B hat, muß der Gegenstand des Urteils umfassender sein als sein begrifflicher Inhalt: Er muß Ax sein, d. h. er muß mit etwas überhaupt verbunden sein. Im Urteil wird dieses Etwas als B erkannt und bestimmt. Das Urteil lautet: A ist mit B verbunden. Es wäre also ganz verfehlt, das mit A verbundene unbekannte x als einen Inhalt zu denken, vergleichbar B. Bei Ax handelt es sich nicht um die Einheit zweier gesonderter inhaltlicher Elemente. Vielmehr besteht die Bedingung, welche die Erkenntnis ermöglicht, in der Einheit des Bestimmten mit etwas Unbestimmtem und Unbekanntem. Weil x kein bestimmter Inhalt oder Begriff ist, aus dem der Inhalt A folgen könnte, hat es selbstverständlich auch nicht die Funktion des logischen Subjekts im Urteil. Das Unbestimmte, das x, könnte als transzendentales Subjekt bezeichnet werden. Es steht für das Unbekannte überhaupt, das im Urteil in einem Ausschnitt als 67 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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inhaltlich bestimmt, als B, erkannt wird. Es richtig zu verstehen, ist von größter Wichtigkeit (vgl. GdW 98–102). Erkennen besteht also im Bestimmen und Ausgrenzen eines Inhalts aus einem unbestimmten unbekannten Etwas. Dieses Etwas muß in jedem Urteil vorausgesetzt werden. Bei Frank heißt es: »Jegliches Wissen ist auf das Unbekannte gerichtet, und dieses Unbekannte oder Unbestimmte ist gerade das, ›wovon es spricht‹ im logisch exakten Sinn dieses Ausdrucks. Jedes Wissen bestimmt dieses Unbestimmte, sagt darüber ›etwas‹, und in dieser aufgedeckten Bestimmtheit des Unbekannten besteht der Inhalt des Urteils – gleichgültig, ob diese Bestimmtheit einfach oder komplex ist, ob sie unmittelbar erkannt wird (wie in thetischen Urteilen) oder durch Zwischenschritte (wie in synthetischen Urteilen)« (GdW 105). Die Urform des Urteils lautet x ist A (oder B, C …), d. h.: im Unbekannten wird ein Inhalt erkannt: A (oder B oder C …). Das heißt aber weiter: Der erkannte Inhalt, der sich von dem Hintergrund des Unerkannten abhebt, ist nicht von ihm abgetrennt. Das Unbekannte ist nur zu einem Teil bestimmt worden, nämlich als A; das ausgesonderte A grenzt damit an den ganzen logischen Rest von x an – und bleibt so mit ihm verbunden. A ist immer Ax! Durch das x gehört es zu einem umfassenderen Ganzen und kann deshalb fortgesetzt bestimmt werden. Das Erkannte bleibt behaftet mit dem Unbekannten. Es wird als etwas erkannt, das mit dem Hintergrund des Unbekannten unlösbar verbunden ist. Die Anwesenheit oder das Vorhandensein des nicht-erhellten Unbestimmten ist absolut notwendig, um das Bestimmte denken zu können. Frank hat den Nachweis, daß jenes x in jeder Erkenntnis ungegenständlich miterkannt und mitgewußt ist, in mehrfacher Hinsicht durchgeführt. Weil dieses x selbst kein Inhalt ist, der von einem anderen Denkinhalt klar abgegrenzt wäre, ist der Übergang des Bestimmten zum Unbestimmten notwendig fließend. Frank verdeutlicht diesen Zusammenhang mit dem Hinweis auf unser räumliches Gesichtsfeld. An seinem Rand bemerken wir einen nicht präzise bestimmbaren Übergang des deutlich Erkannten in den unbekannten, dunklen Hintergrund. Unmerklich verliert das Erkannte dort an Prägnanz und verschwimmt mit dem, was außerhalb seiner liegt. Obgleich das, was jenseits des deutlich Erkannten liegt, sich unserem Zugriff entzieht, zweifeln wir nicht im geringsten an seiner Anwesenheit. Ebenso sind wir unbedingt gewiß, daß es hinter 68 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die »Anwesenheit« des Seins

den Gegenständen, die uns den Blick in die Ferne verstellen, doch etwas gibt, obwohl wir seinen Inhalt nicht kennen. Dieselbe Einsicht – daß etwas vorhanden ist, ohne daß es uns als solches inhaltlich bestimmt gegeben wäre – gewinnen wir, wenn wir die zeitliche Dauer bedenken. Wirklich gegeben ist uns nur der winzige Augenblick der unmittelbaren Gegenwart, und doch zweifeln wir nicht im geringsten, daß diesem Augenblick etwas voranging und etwas folgen wird, auch wenn wir es inhaltlich nicht kennen. Nicht einmal den jetzigen Augenblick könnten wir als gegenwärtigen verstehen, wenn wir nicht unbedingt gewiß wären, daß er von Vergangenem und Künftigem umgeben ist. Das Vergangene haben wir nur teilweise in der Erinnerung; das Künftige können wir bestenfalls irgendwie voraussehen. Beides ist uns weitestgehend inhaltlich unbekannt – und doch in der ihm zukommenden Seinsweise ist es verborgen vorhanden oder anwesend: als es war und es wird sein. Auch in diesem Beispiel geht das Gegenwärtige, das inhaltlich deutlich gegeben ist, unmerklich in das Künftige über und wird zum Vergangenen. Auch hier gibt es keine präzise Grenze, die das inhaltlich Gegebene von dem, was verborgen anwesend ist, trennt. Weil diese Überlegungen fundamental sind, um zu verstehen, was Sein ist, soll auch auf den prinzipiell gleichen Sachverhalt hingewiesen werden, der sich ganz allgemein aus der Logik ergibt. Jede begriffliche Aussage begreift ihren Inhalt als diesen im Unterschied zu etwas anderem. Indem wir etwas begrifflich fassen, d. h. unterscheiden, setzen wir als völlig evident voraus, daß dieses neben sich etwas anderes hat: alles andere überhaupt. Dieses ist geradezu durch die Beziehung des Unterschieds, durch den negativen Zusammenhang mit anderem konstituiert. Weil alles begrifflich Gegebene durch Unterscheidung bestimmt ist, gehört auch das andere, letztlich alles andere, als Bedingung der Unterscheidung, obwohl inhaltlich nicht erkannt, zu dem, was evident gegeben ist. Wenn man schließlich versucht, sich die »Gesamtheit« alles inhaltlich Erkannten zu vergegenwärtigen, zeigt sich, daß dieses Ganze selber nicht mehr wie ein Inhalt mit klar umrissener Grenze gedacht werden kann; seine Abgrenzung vom Unbekannten verschwimmt gleichsam im Nebel und geht unmerklich ins Unbekannte über. Das Ganze ist niemals gegenständlich gegeben, und doch ist es bei der Erkenntnis des jeweils unmittelbar Gegebenen immer mitgedacht – und zwar als Unbestimmtes. Es zeigt sich, daß unser Wissen von einem Gegenstand sich nicht 69 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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in dem erschöpft, was im »immanenten Material« der Wahrnehmung (z. B. im Hier und im Jetzt) gegeben ist. Kein konkretes Ding (z. B. eine rote Rose) ist als das, was wir mit seinem Begriff denken, unmittelbar gegeben. Unmittelbar erkannt sind immer nur Ausschnitte, etwa die Vorderseite oder die Außenansicht des Dinges. Auch die Kombination der nacheinander wahrgenommenen Teilansichten ist nicht mit der Einheit des gedachten Dinges (etwa der Rose) identisch. Um aus den Einzelwahrnehmungen diese Einheit (rote Rose) zu bilden, ist das Eindringen in »Nichtgegebenes« unerläßlich (GdW 115). Selbst in den einfachsten Urteilen geht das Behauptete über das »hier« und »jetzt« tatsächlich immanent Gegebene hinaus. So schließt auch das Urteil »ich sehe etwas Rotes« etwas Wahrnehmungstranszendentes ein. Denn die Behauptung der Röte besagt ihrem Sinn nach, daß das Rote schon vor dem unmittelbar gegebenen Augenblick rot war und im nächsten sein wird, und daß es als Farbe mit allem anderen Roten identisch ist. Wenngleich im genannten Urteil kein nichtgegebenes Material hinzugezogen wird, enthält die Form des Wissens im Vergleich zum immanenten Material doch etwas Neues (GdW 116). Frank zieht aus diesen Überlegungen die keineswegs »mystische«, sondern die durchaus nüchterne Folgerung, daß in allem Gegebenen etwas unbestimmt und deshalb unbekannt Grenzenloses anwesend ist, denn als Gegebenes ist es durch Abgrenzung konstituiert. Es ist immer Teil von etwas anderem, und dieses Andere – sei es auch nur dunkel und undeutlich oder gar nicht »gegeben« – ist unendlich (DU 52–55). Dieser Überlegung könnte entgegengehalten werden, daß das, was hier unendlich genannt wird, doch aus Inhalten besteht, die uns zwar aktuell nicht bekannt sind, grundsätzlich aber erkennbar sind. Und als solche sind sie, weil bestimmbar, endlich. Frank macht geltend, daß immer nur die Inhalte, auch die uns bisher unzugänglichen, als endlich anzusehen sind. Das Unbekannte x dagegen ist als Unbestimmtes unendlich; genauer, es fällt mit dem Unendlichen zusammen. Das bedeutet: Unentfaltet ist das Unendliche in unserem Bewußtsein anwesend (DU 56). Damit ist die Frage nach der Einheit des Subjekts mit dem Objekt beantwortet, die jeder Erkenntnisbeziehung als Bedingung vorausgeht. Es ist die Einheit des Erkennenden und seines Gegenstandes im absoluten Sein, das alles Bestimmte und Einzelne durchdringt und umgibt. Nur auf Grund dieser Ur-Einheit, die unvermittelt und 70 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein ist metalogische Flle. Die Unangemessenheit begrifflicher Sprache

unabdingbar bei uns und in uns ist, ist im Erkenntnisakt die Differenzierung von Bewußtsein und Gegenstand möglich. Wir haben und wissen das Sein auf ungegenständliche Weise. Dieses Wissen ist scharf von dem Wissen eines gegenständlichen Inhalts zu unterscheiden. Es ist kein Wissen für sich, kein Wissen von etwas im Unterschied zu etwas anderem. Aber in unserem Bewußtsein ist es präsent, wenn auch nicht begrifflich aussagbar (GdW 107).

2.

Das Sein ist metalogische Flle. Die Unangemessenheit begrifflicher Sprache

Der Begriff des Seins ist weiter verständlich zu machen. Es wäre, wie schon angedeutet, falsch, das Sein mit dem, was jenseits des (räumlich, zeitlich und logisch) Bestimmten anwesend ist, schlechthin gleichzusetzen, sofern das die Annahme einschlösse, daß dieses unbestimmt Anwesende doch auch aus Inhalten besteht, die prinzipiell erkennbar sind, selbst wenn sie aktuell noch nicht bekannt sind. Diese Inhalte sind zwar potentiell unerschöpflich und deshalb von menschlicher Erkenntnis nicht einzuholen, aber sie sind nicht das Sein. Das Sein ist mehr als der Inbegriff einer, wenngleich für uns unerschöpflichen, aber doch prinzipiell clare et distincte bestimmbaren Mannigfaltigkeit von Inhalten, die als Weltwirklichkeit gedacht werden kann. Es geht um das Sein, das – weil eben nicht aus Inhalten zusammengesetzt – dem rationalen Zugriff grundsätzlich entzogen, d. h. wesentlich unbestimmbar und unergründlich ist (DU 70–72). Frank nennt es den wesensmäßig über die Inhalte hinausreichenden »Überschuß«. Er ist das, »was Inhalte ›enthält‹ oder ›hat‹, was ihr ›Träger‹ ist« (DU 72). Er hat, weil er selbst kein Inhalt ist, keine bestimmbaren Eigenschaften. Jeder Versuch, ihn mit einem Begriff zu denken und sich so zum Gegenstand zu machen, müßte ihn verfehlen. Dieser »Überschuß« gehört zum Wesen des gegenständlichen Seins. Frank hat diese Einsicht in der »allgemeinen These« formuliert: »Jedes Ding und jedes Wesen in der Welt ist mehr und anderes als alles, was wir von ihm wissen und wofür wir es halten – und mehr noch: Es ist mehr und anderes als alles, was wir jemals von ihm erfahren können. Und was es eigentlich in all seiner Fülle und Tiefe ist, das bleibt für uns unergründlich« (DU 68). Wir können jenen »Überschuß« erleben, wenn wir intuitiv einen Wesensverhalt erfassen, aber spüren, daß unsere abstrakten, begriff71 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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lichen Aussagen nicht an das heranreichen, »was wir meinen und worauf sich das Ausgesagte bezieht« (DU 81). Die Erfahrung kann zeigen, daß zu dem, was wir von einem Ding begrifflich wissen, noch etwas hinzukommt: Das eigentliche »Was« dieses Gegenstandes (die Scholastiker und Nikolaus von Kues nannten es die »Washeit«, »quidditas«). Frank versucht, es mit Worten wie »ursprüngliche innere Einheit«, »Konkretheit«, »Dichte«, »Fülle«, »Lebendigkeit« verständlich zu machen. Die Fülle und Konkretheit eines intuitiv erfaßten Wesensverhalts auszudrücken und so einen adäquaten Zugang zur Wahrheit des Gegenstandes zu erschließen, kommt in besonderer Weise der künstlerischen Darstellung zu. Zumal dem lyrischen Dichter kann es gelingen, nicht nur von der Realität zu reden, »sondern sie uns selber, in größerem oder geringerem Maße, erblicken zu lassen« (GdW 360; DU 81) 4 . Es zeigt sich also, daß wir zweierlei »Wissen« haben: Ein abstraktes Wissen, das in Urteilen und Begriffen ausgedrückt werden kann, und ein »Wissen«, das durch eine »unmittelbare Intuition des Gegenstandes in seiner metalogischen Ganzheit und Dichte« gewonnen wird. Dieses »Wissen«, das Frank als »ursprünglich« bezeichnet, ist kein Wissen im üblichen Sinne des Wortes, weil es keinen bestimmten Inhalt hat. Zwischen beiden Weisen des Wissens besteht deshalb auch keine logische Identität, sondern nur eine »metalogische Entsprechung« oder »Ähnlichkeit«. Das ursprüngliche Wissen wird im sekundären, abstrakten Wissen »abgebildet« oder »ausgedrückt«. Was in unserer begrifflichen Sprache vom Gehalt der gegenständlichen Wirklichkeit zum »Ausdruck« kommt, gleicht freilich damit nur dem, was eine Landkarte von einer konkreten Landschaft vermittelt 5 : Es sind »nur einige erkaltete, partielle, nicht vollkommen miteinander verbundene Reste dieser lebendigen Realität« 6 (GdW 360; DU 80). Anstelle des Begriffs »Sein« verwendet Frank häufig den Begriff »Realität«, um mit ihm die Konkretheit und lebendige Fülle des Seins zu betonen. Hier ist noch eine mögliche Fehldeutung des als »Überschuß« In M. Heideggers Schrift »Der Ursprung des Kunstwerks« macht das philosophische Wort das Wesen des in einem Gemälde van Goghs dargestellten Paar Schuhe sichtbar. 5 In GdW (S. 360, Fußnote) merkt Frank an, daß er diesen Vergleich Dewey entlehnt habe, und er verweist auf seinen Aufsatz Pragmatizm kak gnoseologicˇeskoe ucˇenie, In: Novye idei v filosofii, No. 7, 1913. 6 Vgl. E. Cassirer: Es gibt keine Abbildung, sondern symbolische Vermittlung des Gegenstandes in der Erkenntnis, vgl. Ph.d.s.Formen III, S. 3 ff. (Einleitung). 4

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Das Sein ist metalogische Flle. Die Unangemessenheit begrifflicher Sprache

und »Träger« charakterisierten Seins auszuschließen. Der Gebrauch dieser Wörter könnte dazu verleiten, das Sein aus einem »Träger« und von diesem getragenen »Inhalten« zusammengesetzt zu denken. Tatsächlich aber ist »das Ursprüngliche hier gerade die metalogische Einheit als konkrete, schlechthin unzertrennliche Einheit des Rationalen und Irrationalen«, bzw. der rational bestimmbaren Inhalte als des »Getragenen« und seines »Trägers« (DU 86). Für Frank ist es von ursprünglicher intuitiver Evidenz, daß die rational bestimmbare Vielheit des Einzelnen nicht das Letzte sein kann, daß die Realität vielmehr eine kompakte Einheit bildet. Um diese gleichsam »urwüchsige« Einheit der Realität geht es Frank. Zu klären ist, wodurch das viele Einzelne zu dieser Einheit verbunden ist. Das verbindende transrationale Substrat darf gegenüber seinen rationalen qualitativen Komponenten keinesfalls verselbständigt werden; es ist in den Inhalten anwesend und zugleich jenseits von ihnen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß die Reflexion sozusagen im nachhinein Träger und Inhalt begrifflich unterscheidet. Um diesen »Nicht-Inhalt«, der kein qualitativ bestimmbares Etwas ist, zu charakterisieren, verwendet Frank auch den aus der Philosophiegeschichte geläufigen Terminus materia prima (DU 84). Mit ihm werden alle irgendwie denkbaren aktuellen inhaltlichen Bestimmungen zurückgewiesen und die Formbarkeit bzw. Potentialität des Seins unterstrichen. Franks Verständnis der Potentialität aber unterscheidet sich von dem des Aristoteles, der jenen Terminus eingeführt hatte. Frank besteht darauf, wie noch auszuführen ist, daß dem Sein zuinnerst gleichsam Leben und Kraft innewohnen, mit denen die logisch fixierbaren Inhalte »durchtränkt« werden, so daß sie »jene Dichte, Fülle und Tiefe, jene innere Einheit [gewinnen], durch die sie in der Realität selbst den Charakter metalogischer Einheit besitzen«. Damit ist klar, daß der »Träger« des gegenständlichen Seins nicht als Substanz im Sinne Spinozas oder Descartes’ zu verstehen ist. Denn Substanz ist in deren Verständnis etwas, »das in sich ist und als in sich seiend gedacht wird, ohne zu seinem Sein und seinem Gedachtsein irgendeines anderen zu bedürfen«. Dagegen wendet Frank ein: »In der Welt gibt es nichts und kann auch nichts gedacht werden, das an sich selber und ohne jeden Zusammenhang mit etwas anderem wäre. Das Sein ist eine All-Einheit, in der alles Besondere eben nur durch seinen Zusammenhang mit etwas anderem – letzten Endes mit allem anderen – besteht und gedacht werden kann« (DU 85). 73 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die ontologische Grundlegung

Frank ist mit seinem Versuch, das nicht Aussagbare doch auszudrücken an die Grenze der Sprache gestoßen. Er verweist zur Rechtfertigung dieses Versuchs auf Platons logism@ nqo@ aus dem Dialog Timaios (52b): Das heißt, die verwendeten sprachlich-begrifflichen Aussagen sind »illegitime« Formulierungen oder »Bastarde«, die das logisch nicht Aussagbare dennoch zu sagen versuchen. Anschaulich drückt Frank dieses notwendig unbefriedigend bleibende Bemühen mit einem Vergleich aus: So wie wir die Peripherie unseres Blickfeldes nur durch ein gleichsam »schielendes Sehen« erreichen, so ähnlich begegnen wir dem Irrationalen am Rande des Rationalen. Diese Beschränkung des Erkenntnisvermögens könnte Grund zur Klage sein; doch Frank sieht zuerst das positive Moment: Gerade »das Bewußtsein der Inadäquatheit seines rationalen Wesens« kann den menschlichen Geist bewegen, die »Einseitigkeit alles Rationalen doch immer wieder zu überwinden«. Den eigentlichen Zugang zum Transrationalen eröffnet »die noch nicht rationalisierte Erfahrung« – nicht allein die Begegnung mit dem Kunstwerk, mehr noch die Erfahrung der Gemeinschaft, insbesondere der Liebe.

3.

Das Sein ist eines. Es ist unbestimmbar und undenkbar

Unter den transzendentalen Eigenschaften des Seins wird in der aristotelischen und thomistischen Philosophie an erster Stelle seine innere Einheit genannt. Auch Frank geht es um die »unzerlegbar ganzheitliche Einheit« des Seins, die zu unterscheiden ist von der logischen Einheit des Allgemeinbegriffs und der summarischen oder quantitativen Einheit einer Menge. Noch weniger hat sie mit gestaltloser Einerleiheit zu tun. Unser abstraktes Denken, welches das Einzelne unter der Form des Allgemeinbegriffs faßt und damit die Realität als komplexes System von Arten und Gattungen begreift, erfaßt zwar durchaus etwas objektiv Gültiges; in gewisser Hinsicht hat auch der »logische Realismus« Recht, wenn er behauptet, daß die Logik es mit einer eigenen Kategorie objektiver Gegenstände zu tun hat. Doch die Einheit des Seins selber ist etwas ganz anderes als das »Netz« unserer abstrakten Begriffe, mit dem wir uns ihrer zu bemächtigen versuchen. Die Beziehungen partieller Identität und Differenz sind auf den »eminenten Gehalt« der Realität nicht anwendbar. In ihrer »unzerlegbaren Ganzheitlichkeit« ist die Realität »im74 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein ist eines. Es ist unbestimmbar und undenkbar

mer etwas Einzigartiges«. Die hier sich ergebende Folgerung ist für Frank besonders bedeutsam: Denn diese Einzigartigkeit gilt ebenso von jedem besonderen Ausschnitt der Realität, der immer zugleich rational und transrational ist (DU 88 f.). In der konkreten Realität »gibt es schlechthin keinen Plural«; einen solchen gibt es nur in der »abgeleiteten äußeren Schicht oder Gestalt der Realität, die dem Prinzip der Bestimmtheit in ihr entspricht, d. h. dem, was in einem Begriffssystem abstrakt gewußt werden kann. Jenseits dieser Grenzen, d. h. auf die Realität in ihrer konkreten Fülle ist der Plural schlechthin unanwendbar« (DU 90; Übersetzung geändert). Diese Feststellung bestätigt nochmals, daß es keine objektive Erkenntnis des Seins gibt. Denn, wo es keine Mehrzahl von Inhalten gibt, ist kein Seiendes als solches nur der besondere »Fall« eines Gesetzes oder eines es umfassenden Ganzen. Vielmehr existiert jedes »in der Einzahl, als etwas einziges« und bleibt, weil es als einzelnes in Allgemeinbegriffen nicht adäquat zu fassen ist, unbegreiflich, – denn begreifbar ist, was sich wiederholt. Bei der Unterordnung unter Allgemeinbegriffe wird gerade die einmalige Fülle des Gegebenen in ihrer Konkretheit ignoriert. Frank gelingt es zu zeigen, daß die Zuwendung, welche die Einzigartigkeit eines Geschehens erfaßt, keine nur die Oberfläche berührende emotionale subjektive Reaktion ist, sondern gerade erfahren läßt, was das Gegebene ist: Wenn ein geliebter Mensch stirbt, so wird dieser Todesfall nicht als Fall eines Allgemeinen adäquat verstanden; allein die »liebende« individuelle Betrachtung kann das Sein dieses Geschehens in seiner konkreten Ganzheit erfassen (DU 91). Die immer neu wirksame Neigung, das Sein für etwas Gegenständliches, Meß- und Wägbares zu halten, steht dem philosophischen Verstehen – und das heißt für Frank: dem ganzheitlichen Verstehen – im Wege. Um dieses Verstehen zu erreichen, das Einzigartige wahrzunehmen und nicht nur den Fall zu sehen, – im aufmerksamen Leben nicht weniger als in der Philosophie – bedarf es einer besonderen Einstellung: der Einstellung der Liebe, die auf die »konkrete Totalität der Realität gerichtet« ist. Das ganzheitliche Sein ist zwar, wie gezeigt, keine Systemeinheit. Aber, so könnte gefragt werden, ist es nicht doch »Etwas« und insofern mit sich identisch? Ist es denn ausgeschlossen, das Sein, einem Gemälde vergleichbar, als ganzheitliche Einheit zu denken, die mehr ist als die bloße Gesamtheit aller Teilinhalte? Frank verneint diese Fragen: Das all-eine Sein kann nicht als mit sich identisch 75 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die ontologische Grundlegung

und insofern als »bestimmt« aufgefaßt werden. Denn alles Identische ist eine abgeschlossene Einheit, die eo ipso von etwas anderem unterschieden gedacht wird. Frank zieht daraus die naheliegende Folgerung: Weil denken bedeutet, »etwas als überzeitlich-identische Einheit, als Bestimmtes, als unveränderliches ›So etwas‹ zu haben«, kann die metalogische Einheit des Seins nicht gedanklich erfaßt oder umfaßt werden. Sie ist größer als jede bestimmte Größe, wie groß diese auch gedacht würde (schon hier sei gesagt, daß Franks Überlegungen auf das »Maximum« des Nikolaus von Kues verweisen, das, weil es das Größtmögliche ist, auch das »Minimum« einschließt und so jede »Bestimmung« sprengt) (DU 95). Das Sein schließt alles Bestimmte und alle Bestimmungen in sich ein – eben damit aber auch das Prinzip des Bestimmens selber. Weil jeder Unterschied in ihm inbegriffen ist, ist auch der Unterschied zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit inbegriffen. Dadurch erweist sich das Sein als »wahrhaft konkret«; denn »konkret ist die Realität, sofern sie lebendig und ein Ganzes ist, das nicht vollendet ist, das nicht umgriffen werden kann, das die Grenzen alles Bestimmten und insofern Erstarrten und Verknöcherten ständig überschreitet« (DU 95 f., Übersetzung geändert). Sie ist lebendig, weil sie von innen her jede Begrenztheit sprengt. Als jede Begrenzung überschreitend und als allumfassendes Ganzes ist das Sein folglich »immer mehr und anderes als alles, was gedacht werden kann. Ja mehr noch: Es ist mehr und anderes als alles, was es gleichsam in fertiger und vollendeter Gestalt schon ist. Es ist die Realität als seiende Möglichkeit auch dessen, was sie nicht ist«. In dieser Eigenschaft ist die Realität nicht nur in Begriffen nicht zu fassen, sondern auch der gegenständlichen Anschauung unzugänglich. »Sie kann nicht erschaut, sondern nur erlebt werden« (DU 96; Frank nimmt die Einsicht seiner frühen Auseinandersetzung mit Fichte wieder auf; zugleich wird der Einfluß der Cusanischen Ontologie des Seins als des posse ipsum sichtbar). Damit ist die unerschöpfliche und unüberblickbare dem Sein wesensmäßig eigene Dynamik, die auch das Noch-Nicht umfaßt, als der eigentliche Grund genannt, der es »unergründlich« sein läßt. Dieses Sein durchdringt jeden, auch den winzigsten Ausschnitt und erfüllt ihn mit unbegreiflichen »Seinsmöglichkeiten«. In jedem Seinspunkt fließt die »Überfülle« des Seins über »die Grenzen alles Vollendeten und Bestimmten« hinaus.

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Das Sein ist schpferisches Knnen

4.

Das Sein ist schpferisches Knnen

Das Sein ist von überbordender Fülle; in ihm sind auf transrationale Weise Werden und ewige Vollkommenheit vereint. Das lebendige Können als Einheit von passiver und aktiver Potentialität bildet den Kern der Frankschen Ontologie und ist grundlegend für das Verständnis des religionsphilosophisch höchst wichtigen und zugleich problembefrachteten Begriffs der Schöpfung. In diesen Überlegungen, die in Der Gegenstand des Wissens, in Das Unergründliche und in Die Realität und der Mensch einen Angelpunkt bilden, zeigt sich besonders der Einfluß des Nikolaus von Kues. Frank nimmt damit auch eine von russischen Philosophen wie N. Berdjaew und L. Schestow eindringlich (freilich ohne Verständnis für die ontologische Systematik) vertretene Intention auf. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle kurz auf die Zeitanalyse einzugehen, in der Frank sich mit Paul Natorps Auffassung auseinandersetzt, die Zeit entspreche dem Nacheinander der Ordnungszahlen. Frank kann zeigen, daß diese am mathematischen Zeitbegriff orientierte Lösung ungenügend ist. Das Werden als Wechsel der Momente in der Zeit, entgegnet Frank, ist von der Einheit des überzeitlich Ganzen durchdrungen und kann deshalb ohne sie nicht verstanden werden. Deshalb sind »Zahl und Zeit nicht voneinander abzuleiten, sondern beide sind von etwas noch Ursprünglicherem abgeleitet«. Seine eigene Auffassung findet Frank bei Henri Bergson beispielhaft durchgeführt: Die Zeit ist »nicht die Ablösung des einen durch ein anderes, keine Reihe einzelner, in sich geschlossener Momente, sondern reine Dauer, die ein Element des Schaffens, des Neuen, der Entwicklung enthält (und sich damit von der Unbeweglichkeit des Zeitlosen unterscheidet) und zugleich die unmittelbare Einheit, wechselseitige Durchdringung und Kompaktheit ihres Flusses ist« (GdW 391). 7 Frank erkennt an, daß Bergsons Theorie gegenüber Natorps Auffassung einen Fortschritt darstellt, dennoch bleibt auch sie einseitig, weil sie den metaphysischen Aspekt der Zeit verkennt. Bergson kann deshalb die widersprüchlichen Aussagen nicht auf ihren Grund zurückführen: Einerseits erkennt er, daß die Zeit ein »lebenFrank bestätigt, daß diese Zeitauffassung im wesentlichen schon bei Plotin (Ennead., IV, 4, 6–8) und in der Neuzeit bei Jacobi und »teilweise auch Goethe« anzutreffen ist (ebd.).

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Die ontologische Grundlegung

diger Strom des Werdens, des Schaffens, des Entstehens von Neuem« ist. Zugleich aber sagt er von der Zeit, daß sie »ein unteilbares oder kontinuierliches Ganzes« sei. Diese Aussagen, so richtig sie je für sich sind, setzen aber, wendet Frank ein, eine Einheit voraus. Erst sie macht es denkbar, daß der Dauer »nicht nur das Moment des Werdens, der Entwicklung, des Schaffens zukommt, sondern gleichermaßen das Moment der Konstanz, also der Überzeitlichkeit«. Die beiden von Bergson erkannten Momente der Zeit – das des schöpferischen Werdens und das der Kontinuität – können ihr gemeinsam nur zukommen, weil die Zeit in der Ewigkeit gründet (GdW 393). Gerade die Nähe, in der Bergsons Denken zu seinem eigenen steht, veranlaßt Frank, scharf zu widersprechen, wo er einen Fehler in dessen Auffassung erkennt. Die Vernachlässigung des ontologischen Aspekts, bemerkt Frank, ist mit Bergsons »größtem und gefährlichstem Irrtum« verbunden, der methodischer Art ist und darin besteht, Erlebnis und Intuition zu verwechseln. Bergson habe deshalb, was er mit seiner philosophischen Zeitanalyse eigentlich intendierte, nicht angemessen zum Ausdruck bringen können. Denn das sei »nicht die ›erlebte Zeit‹, nicht die Zeit als Prozeß, nicht einmal die Zeit als reine Dauer gewesen, sondern die Zeit, wie sie in der Intuition gegeben ist – die Zeit, die unmittelbar in der Überzeitlichkeit zu sehen ist, das Werden und die Dauer in unlösbarer Einheit mit der überzeitlichen Einheit selbst, gleichsam in ihrem Schoße«. Die überzeitliche Einheit ist eben die Einheit von Werden oder Dauer und von ruhiger Unbeweglichkeit; sie ist nicht in höherem Maße das eine oder das andere. »Die Wahrheit von Bergsons Lehre liegt nicht darin, daß die ›reine Dauer‹ das Absolute ist, sondern nur darin, daß das Absolute keine reine Unbeweglichkeit ist, daß ihm das ureigene Moment der Dynamik oder des Schaffens zukommt. Das Absolute ist lebendige Einheit oder einheitliches Leben« (GdW 394). Ob Bergson seine ursprüngliche Einsicht in das Wesen der Zeit tatsächlich verfehlt hat, soll hier nicht diskutiert werden. Wichtiger ist die Feststellung, daß in den (nur kurz zusammengefaßten) Einwänden, die Frank gegen ihn erhebt, seine eigene Auffassung von der Einheit des Endlichen mit dem Unendlichen zum Ausdruck kommt. Sie geht auf Plotin zurück und folgt in ihrer Durchführung der Cusanischen Methode der coincidentia oppositorum. Frank zeigt, daß begriffliches Denken die coincidentia auflöst und das Geeinte, aber nicht Vermischte, in seiner Widersprüchlichkeit nebeneinander stellt. Dagegen ist »die All-Einheit als solche die Einheit von Ruhe 78 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein ist schpferisches Knnen

und Bewegung oder von Ewigkeit (Einheit) und Leben (Schaffen) – eine solche Einheit, in der diese beiden Momente einander vollständig durchdringen und nicht als zwei einzelne Momente existieren. Sofern jedoch die All-Einheit unter der Form der Bestimmtheit betrachtet wird – oder sofern sie als abgeleiteter Ausdruck, dem Prinzip der reinen (abstrakten) Einheit unterworfen erscheint –, wird sie notwendig in eine Reihe von Einzelgliedern aufgesplittert, in eine Reihe, die zugleich das Moment der Fortsetzung oder Bewegung voraussetzt. Ebenso wird dieses Moment der Bewegung oder des Werdens, das isoliert betrachtet (das heißt gedacht) ist, zur Zeit, das heißt zum Übergang von einem zum anderen oder zum Prozeß des Wechsels. Deshalb hat die Seinssphäre, die dem begrifflichen Wissen entspricht und dem Gesetz der Bestimmtheit unterliegt, notwendig zwei korrelative Formen – die zeitlose Vielheit und die zeitliche Abfolge« (GdW 396–398). Daß es wirkliches Werden von Neuem gibt, daß also das Sein kein »konservatives System« ist, in dem immer nur das Bisherige sich fortsetzt, ist unleugbar. Das bereits erwähnte »Über-den-RandFließen« ist dem Sein wesentlich und hat zur Voraussetzung, daß es auch Unfertiges enthält, das dazu tendiert, sich zu vollenden (DU 101 f.). Das heißt, »daß alles Seiende immer mehr und anderes ist, als alles, was es in fertiger und abgeschlossener Gestalt ist« (DU 104). Echtes Werden setzt Potentialität, Können voraus. Möglichkeit ist für Frank deshalb keine bloße Reflexionskategorie. Wenn das Neue nicht die bloße Fortsetzung des Alten ist, kann es nur aus dem transfiniten Wesen der Realität selber hervorgehen: Diese ist auch Seinkönnen. Das Neue entsteht also weder »aus sich selbst« noch ist es grundlos. Es entsteht aus der »unbestimmten und unbestimmbaren Potentialität« (ebd.). Diese kommt freilich nur dem Sein als All-Einheit zu. Zwar geht das Neue nicht unmittelbar aus der universalen Potentialität hervor, sondern aus der spezifizierten Potentialität eines bestimmten Seienden. Dieses aber kann als Ursache wirken, weil es nicht restlos bestimmt, sondern »in der universalen Potentialität als solcher wurzelt«. Die im konkreten Seienden liegende Wirkkraft ist damit zu einem gewissen – im voraus nicht bekannten – Grade eingeschränkt, so daß nicht alles aus allem werden kann. Es ist darum unmöglich, alle Gründe zu kennen. die zur restlosen Erklärung eines neu entstandenen Phänomens erforderlich sind – und zwar nicht nur, weil wir die zu berücksichtigenden Bedingungen nicht alle kennen können, sondern »weil alles konkret Seien79 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die ontologische Grundlegung

de aus dem Schoß der an sich unbestimmten und gerade deshalb rational unbestimmbaren Potentialität des Seins entsteht« (DU 106). Das Nicht-Wirkliche, aber Mögliche, ist noch ganz unbestimmt. Ihm steht es noch bevor, sich zu verwirklichen und so zu bestimmen. In der Möglichkeit zu werden oder sich zu verändern, die allem konkret Realen zukommt, sieht Frank das Element der Freiheit »im allgemeinsten Sinn«. Damit das Neue aus an sich seiender Unbestimmtheit hervorgehen kann, ist »eine dynamische Kraft« erforderlich, die dem Formlosen selbst eignet. Das noch Unbestimmte ist also nicht nur passiv. Es ähnelt vielmehr einem »chaotischen Wogen« und entspricht dem, was Jakob Böhme den »Ungrund« oder die »Begierde« genannt hatte. Ihr steht die potentia activa als Gestaltungskraft oder Arbeit des Bestimmens gegenüber, die aus dem unbestimmten Stoff selbst hervorgeht. Es gibt also die »Dynamik der Ungeordnetheit« und die »Dynamik des Bestimmens«. In dieser »untrennbaren Zwei-Einheit« sieht Frank das »Wesen der Potentialität als ursprünglicher Freiheit« (DU 109). Notwendigkeit kommt nur dem zu, was bestimmt und »ein solches« ist. »Notwendigkeit läuft letztlich auf das einfache ›so ist es‹ hinaus«. »Sofern aber das Sein Potentialität d. h. schöpferisches Können eines sich in den Tiefen der Unbestimmtheit vollziehenden Bestimmens ist, ist es eben ursprüngliche Freiheit«. Sofern das Sein mit der Potenz zum Werden auch den Drang zur Gestaltung, Vollendung und Verwirklichung besitzt, kann es »als Ganzes nur als transrationale Einheit von Rationalität und Irrationalität, d. h. von Notwendigkeit und Freiheit verstanden werden« (DU 109) 8 . Die fundamentale Erfahrung des unaufhörlichen Werdens und sich Veränderns kann uns schaudern lassen, weil wir uns nicht verbergen können, daß alles um uns »nur wird und vergeht, aber niemals wahrhaft ist«. Mehrmals hat Frank dieses Wort Platons aus dem Timaios 9 zitiert. Diese Erfahrung kann aber auch zu Staunen und 8 Auch Béla Weissmahr vertritt das Einssein von potentia passiva und activa: »Weil das endliche Seiende das, was es werden kann, aufgrund seines Seins antizipiert, ist es als Seiendes dem Vermögen nach niemals bloß passive, sondern immer auch aktive Potentialität. Rein passives Vermögen ist ein Abstraktum, das es in der Wirklichkeit nicht geben kann. […] Der letzte Grund dafür, daß jedes Seiende immer mehr ist als es statisch gesehen ist, liegt in der grundsätzlichen Bezogenheit jedes Seienden zu jedem anderen, derzufolge nichts in der Wirklichkeit isoliert besteht«. In: Ontologie. Stuttgart 2 1991, Nr. 292. 9 Platon: gignmenon kaì apollÐmenon, ntw@ de oudffpote n (Timaios, 28a).

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Das Sein ist Leben und Geist

Bewunderung Anlaß geben. Die lebendige Dynamik des Seins, die wir überall als »über den Rand Fließen« wahrnehmen, kann uns auch die Ewigkeit in der Zeit nahebringen. Franks Bemerkung hierzu erinnert an Jakob Böhme: »Die ›Welterschaffung‹, die ein schlechthin unergründliches Geheimnis ist«, findet in der »ewig schöpferischen Unruhe des Werdens ihr, wenngleich kümmerliches, Abbild« (DU 100; vgl. GdW 396).

5.

Das Sein ist Leben und Geist

Zu Franks Verständnis des Seins als dynamische Kraft und schöpferisches Wirken hat Fichtes Philosophie der Tathandlung zweifellos maßgebliche Anstöße gegeben. Die Denker, mit denen Frank sich in der Folge auseinandersetzte, haben dieses Seinsverständnis vertieft: Hervorzuheben sind Plotin mit seinen Reflexionen über zeitliches Werden und Ewigkeit, Bergson mit der Philosophie des schöpferischen élan vital (ungeachtet der Kritik, mit der Frank Bergsons Begründung beurteilt) und in besonderer Weise Nikolaus von Kues mit seiner Lehre von Gott als schöpferisches »Können-Selbst« – »posse ipsum«. Franks Auffassung von der metalogischen Einheit von Werden und Sein unterscheidet sich von zwei in der Geschichte der Philosophie anzutreffenden Positionen: In der ersten (aristotelischen) wird das Sein als actus purus im Sinne vollendeter Aktualität verstanden, in der alle Möglichkeiten restlos realisiert sind und die deshalb die Bedingung jeglichen Werdens zum Vollkommeneren ist. Für die zweite Richtung (in der Neuzeit vertreten von M. Scheler, in gewisser Hinsicht von H. Bergson, in neuester Zeit von E. Bloch) ist die Realität selber im Werden begriffen und zwar in der Weise einer »Evolution«, in der sie aus einem keimhaften Ursprung sich immer weiter vervollständigt. Frank versucht die Einseitigkeiten beider Positionen zu überwinden. Gegen die erste Position wendet er ein (übereinstimmend mit N. Berdjaew), daß das Sein, in dem alle Möglichkeiten erschöpft sind, tot und starr wäre. Es bliebe unverständlich, wie »das Moment des Schöpferischen, des Lebens, der Aktivität […] eine nur abgeleitete Äußerung eines anderen, fertigen, vollendeten, unbeweglich-ewigen Seins« sein kann. Es muß im Gegenteil als »ebenso primär-ursprünglich wie das Moment der vollendeten Aktualität« gedacht 81 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die ontologische Grundlegung

werden (RM 220). Die Vollendung muß mit dem Werden und Wirken metalogisch eins sein. Dasselbe gilt auch für die zweite Position. Es wäre verfehlt anzunehmen, die Realität befände sich in einem »stufenförmigen« Wachsen, in dem nacheinander verschiedene Stadien durchlaufen würden bis hin zur Vollendung. Das Noch-Nicht, verstanden als permanenter, unaufhörlich zu überwindender Mangel, wäre in dieser Auffassung ein Merkmal der Realität als solcher und nicht nur unserer beschränkten Welterfahrung. Dagegen erklärt Frank: Die Kreativität des Seins »setzt kein endliches Ziel außerhalb ihrer selbst voraus, das durch sie verwirklicht würde und das vor seiner Verwirklichung nicht existierte. Im Gegenteil, das Ziel ist mit seinem Schöpfer identisch, das Ende mit dem Anfang«. Darum ist die Unterscheidung eines Schöpfersubjekts und einer von ihm ausgehenden schöpferischen Aktivität, deren Ergebnis die Welt ist, auf das metalogische Wesen der Realität nicht anwendbar. Die Realität ist nicht nur in dem Sinne kreativ, daß sie von ihr Unterschiedenes hervorbringt; »ihre primäre Kreativität besteht darin, daß sie sich selbst schafft, daß sie nichts anderes ist als Kreativität« 10 (RM 221; zu Franks Verständnis der Schöpfung vgl. Kapitel XIV, 3). Übereinstimmend mit Nikolaus von Kues versteht Frank die Realität weder als reine Aktualität im Unterschied zur Potentialität noch als reine Potentialität: »Sie ist das eine und das andere in ihrer unzertrennlichen Einheit«. In diesem Sinne ist die Realität »ewiges Leben«, das »von Anfang und sogleich die ganze Fülle dessen in sich hat, was es aktiv in sich verwirklicht«. Von nichts anderem bestimmt ist sie selber absolute Spontaneität, die mit der Notwendigkeit eins ist. Leben ist der von Frank bevorzugte Begriff für die Realität in ihrer Fülle; der emphatische Klang, der diesem Begriff eigen ist, weist darauf hin, daß es nicht abgeleitet, sondern selber tiefster Ursprung ist. Gerade der Begriff Leben läßt verstehen, daß die Realität als AllEinheit konkret ist und doch nicht faktisch fertig vor uns liegt, sondern sich selbst setzt und begründet. Das mit ihm Gemeinte auszusagen, ist auch der Begriff Geist geeignet. Das schöpferische Wirken ist nicht als eine seiner Eigenschaften anzusehen, so daß es irgendwie real von ihm unterscheiden wäre, sondern ist es selbst. Die Begriffe Frank findet diese These auch durch Hegel bestätigt (RM 221). Im russischen Text heißt es irrig »theologisch« statt »teleologisch«. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, 2. Teil, 2. Abschnitt, 3. Kapitel, C: »Die Teleologie« (Werke Bd. 6, Frankfurt 1969, S. 454).

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Das Sein ist Leben und Geist

Leben und Geist sind auch geeignet, auf das »objektiv« Gültige und Wertvolle aufmerksam zu machen, durch das die Realität der letzte tragende Grund alles Begrenzten ist, sei es unseres Selbsteins, sei es einer partikulären Erkenntnis, einer inneren Erfahrung oder eines Dinghaften (vgl. RM 221–225; DU 332, 335). Die auf das Sein angewendeten Begriffe – in Das Unergründliche tritt noch der (platonische) Begriff Licht hinzu – entstammen (wie alle unsere Begriffe) der veränderlichen und beschränkten inneren Erfahrung. Sie sind an diese Erfahrung rückgebunden und können deshalb nicht univok auf die Realität in ihrer Ganzheit und Fülle übertragen werden. Gefordert ist hier ein analoges Denken, das neben der Angemessenheit auch die Unangemessenheit der Begriffe beachtet (vgl. RM 218; DU 334) 11 .

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Zum Begriff der Analogie s. Kapitel XI, 2.

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IV. Das Sein im Selbstsein

Die bisherige Darstellung hat gezeigt, wie Frank die ungegenständliche Anwesenheit des absoluten Seins als die Möglichkeitsbedingung jeder begrifflich bestimmten Erkenntnis aufweist und welche transzendentalen Eigenschaften das Sein bzw. die Realität auszeichnen. Dabei erwies sich, daß das ungegenständliche »Wissen« des Absoluten mit dem Selbstvollzug des Subjekts eins ist. Im »unmittelbaren Selbstsein« finden wir das »einzige Tor« zur Ontologie (DU 334). Im Selbstsein erleben wir die Realität als über sich hinausgehendes, expressives, sich selbst offenbarendes Geschehen, nicht als etwas Sachhaftes, das uns passiv gegenübertritt. In den folgenden Abschnitten geht es weiter um die Anwesenheit des absoluten Seins im Selbstsein des Menschen.

1.

Die All-Einheit der menschlichen Seele

Die ungegenständliche Anwesenheit des absoluten Seins hat ihren »Ort« in der »Seele« des Menschen. Sie galt es, phänomenologisch zu untersuchen. Frank hat sein Buch Die Seele des Menschen als »Fortsetzung und Ergänzung« seiner Lehre vom Wissen bezeichnet. Es ist seine Habilitationsschrift, an der er im Kriegsjahr 1916 gearbeitet hat; später hat er es als den zweiten Teil einer »Trilogie« bezeichnet, zu der neben dem Gegenstand des Wissens noch die Sozialphilosophie gehört (GGdG 81). In Die Realität und der Mensch (1949) nannte er es deren »Erstentwurf« (RM 125). Er unterstrich damit die Kontinuität seines Denkens, machte aber auch deutlich, daß mit ihm noch nicht die ausgereifte Fassung seiner philosophischen Anthropologie erreicht ist. In systematischer Hinsicht ist es ein erster Versuch, die ontologischen Bedingungen des »Gottmenschentums« aufzudecken. Seine Zielsetzung kommt in dem Augustinuszitat zum Ausdruck, das ihm als Motto vorangestellt ist: »Zuerst 84 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die All-Einheit der menschlichen Seele

muß der Mensch sich selbst finden, damit er, nachdem dieser Schritt getan ist, von hier aus aufsteige und zu Gott empor genommen werde«. 1 Es wird im Folgenden selbstverständlich nicht darum gehen, die den Hauptteil des Werkes ausmachende phänomenologische Beschreibung der »Schichten« des seelischen Lebens zusammenzufassen; nur im Blick auf die Religionsphilosophie sollen einige wesentliche Punkte wiedergegeben werden. Franks Frage nach der Seele als dem Inbegriff des menschlichen Seins ist von vornherein eine phänomenologisch-philosophische Frage. Allein die »Selbstbeobachtung«, die darauf zielt, das »gattungsgemäße ›eidetische‹ Wesen« in dem »sich seiner selbst bewußt werdenden inneren Leben« aufzudecken, kann, wie Frank in Anspielung auf E. Husserl bemerkt, der zum Ziel führende Weg sein – nicht aber die Untersuchung der vom inneren Wesen des Menschen als Subjekt losgelösten gegenständlichen Prozesse des psychischen Lebens in ihrer kausalen oder sonstigen Gesetzmäßigkeit. Für die Methode des »radikalen«, nach Wesenszusammenhängen fragenden Denkens (das somit die Empirie im gewöhnlichen Sinne übersteigt) ist auch der mehrmals erwähnte W. James fruchtbar geworden. Auch M. Scheler (obwohl nicht erwähnt) scheint mit seiner materialen Wertethik Anregungen zur phänomenologischen Betrachtung der inneren Erfahrung gegeben zu haben (auführlicher zu Husserl und Scheler siehe Kapitel VI, 3). Franks philosophische Psychologie geht von der Erfahrung (im Husserlschen Sinn) aus und versucht, indem sie nach der Bedingung ihrer Möglichkeit fragt, zu ontologischen Aussagen zu gelangen (vgl. SdM 61 2 ). Dabei ist das Interesse darauf gerichtet, die Beziehungen des »seelischen Lebens« zu anderen Seinsbereichen zu berücksichtigen, um seine »Stellung im allgemeinen System des Seienden« zu bestimmen. Die Frage, was die menschliche Seele und damit das menschliche Ich ist, ist nicht zu beantworten, ohne zu klären, was das menschliche Bewußtsein ist. Verfehlt wäre es, im Bewußtsein eine Art Projektionsleinwand zu sehen, auf der sich die idealen Inhalte, die uns in 1 Augustinus: Retractationes: Prius sibi ipse homo reddendus est, ut illic quasi gradu facto inde surgat atque attollatur ad Deum. I. 8,3. Diesen Satz, der als Motto den Sinn des auf ihn folgenden Werks anzeigt, hat der Autor auch dem zweiten Teil von Das Unergründliche vorangestellt. 2 Die Seitenangaben beziehen sich auf: S. L. Frank: Die Seele des Menschen. Versuch einer Einführung in die philosophische Psychologie. Freiburg (Alber) 2008 = SdM.

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Das Sein im Selbstsein

der Logik, Mathematik, Ästhetik, Ethik und Religion begegnen, abbilden. Die Frage »Wer bin ich eigentlich?« ist weder mit dem Hinweis auf die wechselnden Bewußtseinsinhalte noch auf das Bewußtsein als solches beantwortet. Was mich ausmacht im Unterschied zu meinen Gefühlen, Wünschen und Vorstellungen ist »das Sein eben dieses unwiederholbaren Trägers des Bewußtseins«. Dieser Träger ist das, »was wir das ›Ich‹ nennen und was seinem eigenen Wesen nach für jeden von uns im Singular existiert als unwiederholbares und mit nichts vergleichbares Zentrum alles übrigen«. Dieser »Träger« ist »formlos und inhaltsleer«; er ist »nur ein lebendiger, realer Seinspunkt, der sich von allem auf der Welt dadurch unterscheidet, daß es der Punkt ist, in dem das Sein unmittelbar für sich und gerade dadurch wirklich bedingungslos ist. Alles übrige ist entweder Inhalt des Bewußtseins oder seine Form. Im einen wie im anderen Fall ist es bloß relativ, für anderes oder bei anderem. Das, was wir unser ›Ich‹ selbst nennen, ist hingegen lebendiges, inneres Sein als letzter Stützpunkt für alles in ihm oder für es Seiende« (SdM 116). Erst der Träger macht »das ideale Licht des Bewußtseins zu einer lebendigen, konkreten Realität«. Frank bestimmt diese Realität »als inneres ›Sein für sich‹, unabhängig davon, ob es selbst jeweils bewußt ist oder nicht«, denn zu ihm gehört auch das Un- oder Unterbewußte. Dieses innere Sein macht die »Seele« aus; es ist zwar »mit dem spezifischen Prinzip des idealen Lichtes, das wir unser Bewußtsein nennen«, »unzertrennlich verschmolzen«, aber doch nicht identisch. Mit anderen Worten: »Das Wesen des seelischen Lebens liegt im Erleben als solchem, im unmittelbaren inneren Sein, nicht aber im begleitenden Bewußtsein«, denn es ist eben mehr als Bewußtsein (SdM 117). Was Frank »Seele« nennt, ist darum sowohl vom »gegenständlichen Bewußtsein« als Bewußtsein von etwas (das sich im Wissen von etwas vollendet) als auch vom Selbstbewußtsein unterschieden (denn sie umfaßt, wie erwähnt, auch das Unbewußte). Zum »seelischen Leben« gehört auch das Gefühlsleben. Weil in ihm das emotionale und das intellektuelle Moment vereint sind, ist sein Sein »logisch zu bestimmen unmöglich«. Auf dieses Sein ist Franks Interesse gerichtet. »Wenn Bewußtsein ›Sein für sich‹ ist, dann gibt es außer dem Moment dieses ›für sich‹, dieser Selbstevidenz, auch das Moment des Seins selbst als seiner offensichtlichen Bedingung. Wir behaupten also, daß dieses Moment des unmittelbaren Seins ein wesentlicheres und ursprünglicheres Merkmal des seelischen Lebens ist als das Moment des Bewußtseins. In dem Maße, in dem Leben 86 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die All-Einheit der menschlichen Seele

wichtiger und primärer ist als Erkennen, in dem das Tun der Anschauung vorausgeht, ist das seelische Leben primär eine reale Kraft und erst sekundär der ideale Träger des Bewußtseins« (SdM 101). Frank hat in Die Seele des Menschen eingelöst, was W. Dilthey mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaft gefordert hatte. Dieser hatte sein epochemachendes Werk mit der kritischen Beobachtung eröffnet, daß »in den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, nicht wirkliches Blut [rinnt], sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit« 3 . Für Dilthey war die »Totalität unseres Wesens«, von welcher der Erkenntnistheoretiker ausgehen sollte, im »Leben« enthalten. Auch Frank legt, um die »Totalität« des menschlichen Wesens zu erreichen, das »Leben« seiner Philosophie zugrunde, aber nicht das Bewußtseinsphänomen, sondern das innere Erleben als Seinsvollzug. Das seelische Leben, das für sich genommen ungeformt und ohne Inhalt ist, hat seine Wesensaufgabe darin, das auf die gegenständliche Wirklichkeit gerichtete Erkennen zu ermöglichen. Frank sagt sogar: Es »ist selber nichts anderes als der Ausgangs- oder Stützpunkt für die Verwirklichung dieser Beziehung« (SdM 191). Als lebendiger Ausgangspunkt der Intentionalität ist es selber »untrennbar mit den sich ihm in dieser Ausrichtung enthüllenden gegenständlichen Inhalten verschmolzen«. Es ist keineswegs ein »sich selbst genügendes, von allem anderen abgesondertes inneres Grundelement«, sondern gleicht einem »Strahlenbündel, dessen Wesen gerade in der Überwindung der Grenze« zu der ihm transzendenten Welt besteht (SdM 192). Der dem Sein als solchen eigene transzendierende dynamische Charakter zeigt sich auch im seelischen Sein; er ist bedingt durch das absolute Sein, das in der Seele anwesend ist. Worauf es Frank in seinem frühen philosophisch-psychologischen Werk ankommt, ist der Aufweis dieser Immanenz. Im Bewußtsein von etwas, das auf das gegenständliche Erkennen ausgerichtet ist, besitzt das seelische Leben bereits eine »besondere, formende oder aktualisierende Instanz«. Denn diese Ausrichtung hat zur Bedingung, daß in ihm bereits »das reine Licht des Wissens, die ideale Helligkeit [ozarennost’] oder Durchsichtigkeit des Seins, seine absolute Selbstdurchdrungenheit und Selbstoffenheit – das spezifische ursprüngliche ideale Prinzip des Wissens oder 3

Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Leipzig und Berlin 1922 ff., Bd. I, S. XVIII.

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Das Sein im Selbstsein

der Vernunft –« anwesend ist (561). Befähigung zur Erkenntnis besagt nichts anderes als vom Licht erleuchtet zu sein, das vom absoluten Sein ausgeht, das als solches »die Einheit von Wissen und Sein« ist. Aber auch die Objektwelt ihrerseits ist nur erkennbar, weil sie durch das vom absoluten Sein ausgehende Licht »ideal erhellt« ist. Die gegenständliche Wirklichkeit und das sie erhellende Wissenslicht sind in erkenntnismetaphysischer Hinsicht »lediglich abstrakte Aspekte« eben jenes »absoluten Lebens«. So zeichnet sich die Seele durch eine einigartige Zweiheit aus, in der beide Elemente nicht einfach zusammengesetzt sind, sondern eine Einheit bilden: Die Seele »ist gleichermaßen die individuelle Brechung oder begrenzte Äußerung des Strahls oder Lichts des reinen Wissens [znanie], wie auch eine subjektiv begrenzte Form der gegenständlichen Wirklichkeit« (SdM 213). Frank ist damit zum wichtigsten Ergebnis seiner Untersuchung gelangt. »Also ist die Seele nicht nur ›Bild‹ [obraz] der Welt, sondern auch Bild [obraz] des Geistes oder Gottes, reines Licht der Vernunft, wenngleich gebrochen im Elementarelement [stichija] des seelischen Lebens und subjektiv umgebildet durch die individuellen zielstrebigen Kräfte der seelischen Entelechie. Von außen und von innen – in seinem gegenständlichen Inhalt, der erhellt und angeeignet wird, und in der erhellenden Kraft des Wissens selbst – ist die Seele mit der Unendlichkeit verschmolzen und ist eine Realität, die potentiell ins Unendliche fortschreitet, sich gleichsam unbegrenzt erweitert oder vertieft. Nur gleichsam in der Mitte, in dem Punkt, wo Subjekt und Objekt sich begegnen, eben dort, wo die Seele in die Außenwelt eintritt, ist sie ein geringes, bescheidenes Teilchen des Seins […]. Zwei Unendlichkeiten, die gleichsam aus den unergründlichen Tiefen des Seins stammen – die Unendlichkeit des reinen, allumfassenden Lichtes des Wissens und die Unendlichkeit des von ihm erleuchteten Universums – begegnen sich, indem sie in einer undeutlichen und begrenzten Mitte zusammenschrumpfen und sich brechen, in einem kleinen Punkt – und dieser Punkt ist das individuelle Bewußtsein« (SdM 214). Das seelische Leben, das wir in seiner Ungeformtheit und Inhaltsleere phänomenologisch als reines Erleben fassen können, ist ein Seinsvollzug. Als solcher aber reicht er über jede Begrenzung unendlich hinaus: »Auch wenn der ganze Inhalt unseres seelischen Lebens durch und durch subjektiv und individuell wäre, ist doch sein Sein selbst etwas Überindividuell-Objektives, bedeutet es dessen Ver88 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die All-Einheit der menschlichen Seele

wurzelung in der allumfassenden Einheit des absoluten Seins« (SdM 229). Das Absolute im seelischen Leben ist kein gelegentlich auftretender Bewußtseinsinhalt; es zeichnet das Sein der Seele aus, so daß sie trotz ihrer individuellen Beschränktheit ins Unendliche reicht. 4 Für Frank ist es wichtig, daß die »Verwurzelung« der Seele im absoluten Sein auch erlebt werden kann, etwa wenn wir in einer seelischen Erschütterung vor die Frage nach dem »Wesen unseres Lebens« gestellt sind. Wir werden uns dann bewußt, »daß die Substanz, die Wurzel selbst unseres ›Ich‹ – was wir im höchsten und strengsten Sinn des Wortes unsere ›Seele‹ nennen dürfen –, eben nichts anderes ist als die sich selbst-verwirklichende, schöpferisch-formende Kraft der absoluten Idee«. Im Augenblick tiefster existentieller Verunsicherung wird der Mensch sich bewußt, wie sehr er auf »ihre Kraft« angewiesen ist und zugleich doch die Differenz zu ihr schmerzlich erfährt. Die Bedeutsamkeit jener »Substanz« des Ich – seine Wurzel im Sein – besteht darin, daß sie »ein Strahl des lebendigen absoluten Lichts« ist. Dessen »unmittelbare Anwesenheit« ist, wie Frank bemerkt, »die Grundlage aller menschlichen Religiosität«, in der »Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein [Bogosoznanie] ein und dasselbe« sind. »Der Weg zum Gottesbewußtsein verläuft eben gerade über die Versenkung in sich selbst, über das Wahrnehmen der dem subjektiven ›Ich‹ transzendenten absoluten Wurzel unseres ›Ich‹«. Hierin sieht Frank die Aufforderung erfüllt, die mit dem Motto gestellt war: transcende teipsum (SdM 222). Um das Wirken des »Strahls des lebendigen absoluten Lichts« in der eigenen Seele erfahren zu können, ist ein waches Unterscheidungsvermögen vonnöten. Es darf nicht mit der Präsenz eines bestimmten Bewußtseinsinhalts verwechselt werden. Nur, wo diese Unterscheidung getroffen wird, ist die rational-begrifflich nicht abgrenzbare Erfahrung seiner Anwesenheit in der eigenen Seele zu gewinnen. Die eigentlich religiöse Erfahrung, daß der Mensch sich in seiner Begrenztheit dem Wirken des »Lichts« widersetzen kann, wird gerade durch die ontologische Differenz ermöglicht. Die »Brechung« des Absoluten im Individuellen ist keine bloß numerische Verkleinerung, sondern ein mitunter dramatisches geistig-lebendiges Geschehen. 4 Zwar erwähnt Frank in Die Seele des Menschen Nikolaus von Kues nicht ausdrücklich, doch lassen seine Aussagen über die Seele als »Bild« doch an die Cusanische Bildlehre denken.

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Das Sein im Selbstsein

»Das seelische Leben ist keine abgeschlossene Sphäre bestimmter Inhalte, die anderen Bereichen der Welt entgegengesetzt wäre: in sich selbst betrachtet ist es überhaupt kein Teil der Welt. Es ist alles oder nichts: alles, weil es Potenz zu allem ist, nichts, weil es nur Potenz ist. Deshalb ist es einerseits bloß Enthüllung der unendlichen Fülle und All-Einheit des reinen Geistes 5 und allumfassenden Ursprungs des Seins und andererseits, indem es nur Potenz ist, kann es in einen begrenzten Teil des körperlich-gegenständlichen Seins eingehen [vmesˇcˇat’sja] und uns als ein kleines Teilchen der Außenwelt selbst erscheinen«. Es macht das Wesen der menschlichen Seele aus, daß in ihr »die unfaßbare Unendlichkeit, Fülle, aktuale Durchsichtigkeit und Einheit des absoluten Seins mit der Beschränkung, dem Dunkel, der Desintegration und Veränderlichkeit des empirischen Seins« zur Einheit geworden ist (SdM 272 f.). Das menschliche Sein ist wesentlich durch diese Zweiheit charakterisiert. Diese Einsicht, die Frank in Die Seele des Menschen begründet, gilt für sein gesamtes Werk. Daß in manchen Formulierungen in diesem frühen Werk die Balance zwischen der Einheit mit dem Ganzen und der Eigenständigkeit des Einzelnen gefährdet erscheinen kann, geht auf den Einfluß des Neuplatonismus zurück, der unverkennbar ist. Doch gelingt es Frank auch hier, die Differenz zu wahren ohne die Einheit zu gefährden (und umgekehrt). Die folgenden Abschnitte werden die Ergebnisse der ontophänomenologischen Analyse des Seins im Selbstsein, die Frank in den Schriften der Emigrationszeit durchgeführt hat, vorstellen. Zur Reifung hat der Einfluß des Personalismus, der erst nach der Abfassung der Seele des Menschen wirksam wurde, maßgeblich beigetragen.

2.

Die sich durch sich selbst erschließende Realitt

Die Begründung des Humanismus – das ist Franks Einsicht seit Beginn seines Denkweges – kann nur auf der Basis einer argumentativ gesicherten Ontologie erfolgen. Um den verschütteten Zugang zum Sein freizulegen hat Frank auch Erkenntnisse der Philosophie der Neuzeit fruchtbar gemacht. Eine besondere Rolle spielte hier die Entdeckung der unbezweifelbaren Realität des denkenden Subjekts durch Descartes. Das eigene Sein oder Bin-Sein als solches steht, 5

Das russische Wort Duch ist mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.

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Die sich durch sich selbst erschließende Realitt

wie Descartes gezeigt hatte, dem Subjekt nicht gegenüber als etwas, auf das sein Denken urteilend gerichtet wäre. Es ist ihm unvermittelt gegeben und deshalb jedem Zweifel entzogen. Nicht schlußfolgernd erkennt das Subjekt sein Sein, vielmehr ist das Denken selber die Selbstenthüllung des Seins des Ich (selbstverständlich kann das eigene Sein, wie alles andere, auch zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden). Die unleugbare Realität des denkenden Ich hatte zuvor schon Augustinus erkannt. Beide hatten eine Realität entdeckt, die sich prinzipiell von der Objektwirklichkeit unterscheidet: Wir »haben« diese Realität in der ganz besonderen Weise, »daß wir selbst sind, was wir haben. Es ist dies eine Realität, die sich durch sich selbst erschließt, die sich nicht dadurch erschließt, daß ein anderer auf sie blickt, sondern kraft dessen, daß ihr Sein selbst ein unmittelbares Sein-für-sich, Selbstdurchsichtigkeit ist« (RM 142). Descartes hatte freilich die Tragweite seiner Einsicht verkannt, indem er das Sein des denkenden Ich (die res cogitans) als Substanz mißverstand, die mit anderen Substanzen die objektive Struktur der Weltwirklichkeit bildet. Seine Einsicht konnte für Frank nur beschränkt wegweisend sein. Das überräumliche unendliche, inhaltlich nicht bestimmte Sein schrumpfte bei Descartes auf einen »inhaltslosen Seinspunkt zusammen, dessen Wesen sich darin erschöpft, Ausgangspunkt des Erkennens zu sein«. Diese Reduktion auf das »reine«, inhaltslose Erkenntnissubjekt hat, wie Frank bemerkt, viel Schaden in der neuzeitlichen Philosophie angerichtet, weil sie einen entpersonalisierten Intellektualismus zur Folge hatte (DU 190–192). Augustinus aber hatte sich mit der Erfahrung des Selbstseins eine ganz neue Tiefendimension des Seins eröffnet: das Sein »als unmittelbares, für sich selbst seiendes, sich selbst sich erschließendes Leben«. Er hatte in diesem Sein »das ursprüngliche Wesen unseres eigenen Seins« erkannt, eine »Realität, welche die Grenzen des ganzen, vermeintlich alles umfassenden Systems der objektiven Wirklichkeit überschreitet und letzterer zugrunde liegt«. Diese Realität – das war die fundamentale Einsicht des Augustinus – ist uns »von innen her gegeben als der Bodengrund, in dem wir verwurzelt sind und aus dem wir hervorwachsen« (RM 143). Immer wieder geht es Frank darum, das naheliegende und deshalb häufige Mißverständnis zurückzuweisen, das Sein sei irgendwie doch objektiv gegeben oder könne objektiviert werden. Er verweist dazu auch auf die Einsicht Kants, daß wir nicht in der gegenständlichen Erfahrung der Weltwirklichkeit, sondern erst im sittlichen Le91 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein im Selbstsein

ben, in dem die Vernunft über die Grenzen der theoretischen Welterkenntnis hinausgeht, zur Realität an sich gelangen. Auch Kants idealistischen Nachfolgern erschloß sich, indem sie »die Augen der Seele« (wie Platon gesagt hatte) von außen nach innen wandten, eine Realität, die »in den lebendigen Tiefen des Selbstbewußtseins ist und sich äußert« (RM 144). Es geht also darum, mit der Einsicht, daß das Sein nur in der »lebendigen Tiefe des Selbstbewußtseins« zu finden ist, den Einwand zurückzuweisen, das Haben dieser Realität sei doch das Haben von etwas, das Wissen des Seins sei also nicht unmittelbar, vielmehr geschehe in diesem Wissen doch eine Vergegenständlichung. Was hier Gegenstand heißen könnte, entgegnet Frank, »befindet sich im Inneren unseres Seelenlebens« und steht uns nicht erkenntnistheoretisch gegenüber. So sind auch die idealen Formen des Denkens und die Elemente der Logik, die im Vollzug des Denkens gewußt werden, eine Realität, die zur Elementarsphäre unseres Denkens selber gehört. Ein anderes Beispiel ist das Wissen, das der Liebende gewinnt, wenn er sich seiner Liebe bewußt wird, ihre Freuden und Leiden von innen her erlebt und ihren Sinn zu verstehen sucht; dieses Wissen ist ein völlig anderes als das Wissen, das jemand gewinnt, der das seelische Phänomen seiner Verliebtheit wie einen Gegenstand analysiert. Gerade das von Kierkegaard ausgehende Denken habe gezeigt, daß die Existenz – »das unmittelbare, konkrete Für-sich-Sein des Menschen – etwas ganz anderes, tieferes und ursprünglicheres ist als das Seelenleben, das zum Gegenstand objektiver psychologischer Erkenntnis gemacht wird«. Subjekt und Objekt gehören im Wissen der eigenen Existenz derselben Seinssphäre an; ihre Unterscheidung ist hier lediglich »abstrakt« (RM 147). Schließlich ergibt sich die Einsicht, daß nicht alles, was ist, zur gegenständlichen Wirklichkeit gehören kann, auch daraus, daß die Realität des Erkenntnisblicks, der sich auf diese Wirklichkeit richtet, immer außerhalb ihrer bleibt. Das Selbstsein des Subjekts, das kein Teil der objektivierbaren Wirklichkeit ist, darf aber auch nicht, wie Frank gegen Descartes geltend macht, als bloßes Erkenntnissubjekt verstanden werden. Zwar geht das Erkenntnisstreben aus ihm hervor, doch ist das Selbstsein mehr als nur dessen punktförmiger Ausgang; es ist etwas »höchst Komplexes und Inhaltsreiches«. Frank meint sogar, daß das Erkennen für den ontologischen Charakter des Selbstseins durchaus nicht das bestimmende Merkmal sei; das Sein des Selbstseins reicht darüber unendlich hinaus. 92 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die sich durch sich selbst erschließende Realitt

Der Erkenntnisakt selbst zeigt diese Unendlichkeit des unmittelbaren Selbstseins des Subjekts. Nur das Erkenntnisstreben mit der entsprechenden Anstrengung kann beim Erkennen dem Subjekt zugeschrieben werden. Zweifellos ist es mehr oder weniger anstrengend, räumt Frank ein, eine Einsicht zu gewinnen. Doch wo sie gelingt, wird die Evidenz – das Aufleuchten des gesuchten Grundes oder Zusammenhanges – ungeachtet der vorausgegangenen Mühe doch als »reine Gabe« erfahren, die dem Ich gleichsam von außen zuteil wird. Der grammatisch angemessene Ausdruck für die Erkenntnis heißt darum »mir leuchtet etwas ein«, »mir ist ein Licht aufgegangen«, nicht aber »ich erkenne etwas« (DU 192–193). Frank hat diese Erfahrung mit einem Wort Goethes illustriert, der zu Eckermann bemerkte, »daß alles Denken zum Denken nichts hilft; so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: da sind wir!« 6 Noch nachdrücklicher unterstreicht die religiöse Erfahrung den Charakter der Erleuchtung, die sich nach quälenden Zweifeln oder Ungewißheit einstellt: Sie wird »Gnade« genannt (vgl. RM 210). Aus dieser Eigenart des Erkenntnisvorganges erklärt sich Franks Charakterisierung des Selbstseins als Dunkel und als Licht: Es ist sowohl helles Bei-sich-sein, als auch zu erhellendes Dunkel. Der Wortgebrauch ergibt sich aus Franks Verständnis des Erkennens als Erleuchtung. Das Ich, das die Einsicht (Evidenz) nicht als das Resultat der eigenen Anstrengung, sondern als Gabe erfährt, ist in dieser Hinsicht ein zu erleuchtendes Dunkel. Sofern es aber der Erleuchtung und damit der Einsicht fähig ist, muß es das Erkenntnislicht potentiell in sich haben. Die erkenntnismetaphysische Überlegung bestätigt die Doppelnatur oder Zweiheit des Menschen: Er ist mit seinem Leib und seiner Psyche Teil der Weltwirklichkeit, in seinem Selbstsein aber von der Realität als solcher durchdrungen. Die Erkenntnis ist eine »Gabe«, die das Subjekt von der es durchdringenden Realität empfängt (vgl. DU 195).

Frank hat diesen Satz aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann (24. Februar 1824) in russischer Übersetzung zitiert. Vgl. J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von F. Bergemann. Frankfurt am Main 1997, S. 81.

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Das Sein im Selbstsein

3.

Das unmittelbare Selbstsein ist transzendierendes geistiges Leben

Das Sein des Subjekts ist also mehr als nur der Punkt, von dem die Erkenntnisintentionalität ausgeht. Aber wie kann dieses Mehr charakterisiert werden? Nicht durch irgendwelche zusätzlichen Inhalte. Denn es ist ja selber das Enthaltende, das mit dem Enthaltenen zusammenfällt. In ihm ist, wie Descartes exemplarisch aufgewiesen hatte, der Habende auch das, was er hat. Gerade um dieses »Zusammenfallen« zu charakterisieren, spricht Frank vom »unmittelbaren« Selbstsein. 7 Denn im Selbstsein begegnen wir unvermittelt durch das Denken der »Realität als solcher«. Den Begriff »Selbstbewußtsein« hält Frank zur Charakterisierung des Selbstseins für wenig geeignet, weil im Gebrauch dieses Wortes doch die Selbsterkenntnis im Vordergrund steht und so das Selbstsein auf sie beschränkt würde (DU 193–194). Die geeignetste Kennzeichnung für das Selbstsein als »sich selbst offenbares Sein« ist Frank zufolge »›Leben‹ in dem ganz ursprünglichen Sinn eines Seins als unmittelbarer Selbsterfahrung, als Einheit von ›Erleben‹ und ›Erlebtem‹« (DU 195). Man kann dieses »Leben« nicht von außen beobachten; man hat es als das eigene BinSein unmittelbar in sich. Es unterscheidet sich deutlich von den Vorstellungen und Gefühlen, von der Summe des individuellen Erlebens, die unsere eher periphere, relativ leicht objektivierbare psychische »Wirklichkeit« ausmachen. Allerdings: Was wir als »geistiges Leben« erfahren, kann sich vom psychischen nicht so unterscheiden wie ein »Objekt« vom anderen. Ihr Unterschied ist »nur von innen her faßbar« wie der zwischen der »Existenz«, die der objektiven Betrachtung unzugänglich ist, und der Oberflächenschicht der Eindrükke und Erfahrungen, mit welcher jener »intime Kern des Ich« gleichsam von außen umgeben ist. Das geistige Leben ist eine »sich selbst erschließende, sich selbst gegebene Realität« jenseits der objektiven Wirklichkeit (DU 197; RM 150). Dem Verdacht, es handle sich bei diesem »Leben« nur um eine »subjektive« Konstruktion hält Frank entschieden entgegen, daß es die eigentliche, in gewissem Sinne »primäre Realität« des Subjekts ist (RM 153). Ganz abwegig wäre es, das lebendige nicht-objektivierbare 7 Der Begriff »Selbstsein« [samobytie] findet sich erst in Das Unergründliche (1939) und scheint durch Heideggers Wortgebrauch (»Dasein«) inspiriert.

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Das unmittelbare Selbstsein ist transzendierendes geistiges Leben

Selbstsein oder Bin-Sein – oft auch »Seele« genannt – als eine irgendwie abgeriegelte Sphäre, die im Körper gleichsam eingeschlossen ist, zu denken. Frank kann auch hier an dem Wahrheitsgehalt der cartesischen Einsicht anknüpfen, daß auf die »Seele« unmittelbar keine räumliche Bestimmung anwendbar ist (non est extensa); nur durch die Vermittlung des Leibes, den sie beseelt, ist sie lokalisiert. Ihr ist eine eigentümliche Unendlichkeit eigen, wie etwas, »das sich in unermeßliche, bodenlose Tiefen verliert«. Dem Blick des Phänomenologen bietet sie sich dar als etwas, das »nach innen hin, in die Tiefe, […] nirgendwo auf ihr ›Ende‹ [trifft …], im Gegenteil, sie weitet sich aus, indem sie unmerklich in das übergeht und mit dem verschmilzt, was schon nicht mehr ›sie selber‹ ist. Auch wenn sie dabei das Bewußtsein bewahrt, unterschieden zu sein von dem, was schon etwas anderes als sie ist und außerhalb ihrer Grenzen liegt, wird doch gerade in ihrem tiefen Grenzbereich diese Unterscheidung nicht deutlicher und schärfer, sondern immer undeutlicher und unbestimmter« (RM 155; 159). Die Erfahrung der Grenzenlosigkeit des eigenen Seins findet Frank bereits bei Heraklit und Aristoteles; in der Neuzeit begegnet sie in besonderer Weise in der lyrischen Dichtung, so bei F. Tjutschew. Frank wendet sich hiermit ausdrücklich gegen Heidegger, der zwar anerkennt, daß die innere menschliche Realität (Existenz) von unüberschaubarer Fülle ist und einem unermeßlichen Universum gleicht, sie aber doch für in sich verschlossen und endlich hält. In der Tat geht es hier um die zentrale und alles Übrige beeinflussende These der Frankschen Metaphysik: Im Selbstsein, dem »sich mir von innen her offenbarenden Leben«, durchschreiten wir das »Tor«, das zur Realität als solcher führt. Im Selbstsein begegnen wir nur der gleichsam nächsten »Schicht« dieser Realität, der »von ihrem eigenen Wesen her das Moment des Transzendierens eigen ist«. Ich kann, so führt Frank diesen Gedanken weiter, »mein eigenes Sein nicht anders denn als Teil oder Glied des Seins überhaupt, das über dessen Grenzen hinausgeht, haben« (RM 157). Derselbe Gedanke, der schon in Der Gegenstand des Wissens die Grenzenlosigkeit des Seins kenntlich machte, gilt auch für das Selbstsein. Auch hier kommt der Negation oder Abgrenzung eine konstitutive Funktion zu. »Jede Grenze setzt jenseits ihrer etwas Begrenzendes voraus. Grenze ist ein relativer Begriff; sie ist die Scheide zwischen einem Inhalt und einem anderen, die Linie, die nicht nur trennt, sondern auch verbindet. […] Ein Übergang und ein Übergang 95 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein im Selbstsein

zu etwas (das heißt zu einem positiven Inhalt) sind äquivalente Begriffe« (GdW 196). Das Selbstsein ist individuell bestimmt – aber gerade indem es bestimmt ist, ist es von anderem, letztlich von allem anderen, abgegrenzt. Das bedeutet jedoch, daß dieses Andere zur Konstitution des Bestimmten gehört. Das Andere ist als inhaltlich Unbestimmtes in ihm anwesend. Es zeigt sich, daß das Sein des Subjekts, das »von innen her sich offenbarende eigene Leben«, nur »als verbunden mit etwas Anderem, ihm Transzendenten denkbar ist« (RM 156 f.; vgl. DU 55). Ich habe mein Sein als meines, meine personale Identität, weil ich auch das Sein habe, von dem ich mich abgrenze – ich habe es freilich auf andere Weise als mein eigenes, – aber genauso ursprünglich. Durch dieses andere – die nächsten Mitmenschen, die Geschichte meiner Familie, die Kultur meines Volkes u. s. w. – bin ich, der ich bin. Auch hieraus ergibt sich: Was »außerhalb« meiner sich befindet, begründet und ermöglicht mich in meinem Selbstsein in nicht geringerem Maße, als das, was zu mir selbst gehört. Ich bin als abgegrenztes Seiendes nur unter Voraussetzung einer übergeordneten inhaltlich unbestimmten und deshalb auch unbegrenzten Einheit möglich. »Indem ich hier mich ›selbst‹ von dem, was ich ›habe‹ (oder was mich hat) unterscheide, besitze ich doch zugleich alles, was über mich hinausreicht, in der Weise, daß es in mir ist oder daß ich in ihm bin. Und das bedeutet: Der grundlegende Wesenszug ›meines inneren Seins‹ ist das ihm immanent zugehörige Moment des Transzendierens – die Teilhabe am Sein jenseits der Grenzen meiner selbst« (RM 159; 161). Mit der Einsicht, daß im Selbstsein das grenzenlose oder absolute Sein anwesend ist – nicht getrennt, aber auch nicht mit ihm vermischt –, hat Frank das Fundament für das Verständnis der AllEinheit ebenso wie der Einheit des Gott-Menschentums erreicht.

4.

Das Grenzenlose in der Weise des Begrenzten

Der Satz des Aristoteles »Die Seele ist auf gewisse Weise alles« 8 bietet Anlaß, die Beziehung des unmittelbaren Selbstseins zum Sein als ganzem weiter zu präzisieren und gegen Mißverständnisse abzusichern. In seinem Transzendieren kann das Selbstsein sich auf alles 8

Aristoteles: Über die Seele, III. 8, 431. b. 21.

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Das Grenzenlose in der Weise des Begrenzten

erstrecken, was möglich ist. Es ist so für sich der Mittelpunkt von allem. Alles erhält durch die Beziehung auf das Selbst seinen Sinn. Das Selbst ist »ein unermeßlich-allumfassendes Reich, ein Kosmos für sich, der seinem Wesen nach grenzenlos ist und alles umfaßt« (DU 204). Das unmittelbare Selbstsein, das sich als Sein nicht nichtseiend denken kann, »hat sich selbst als Absolutes« – aber eben nur, wie Aristoteles sagt, »auf gewisse Weise«. Denn es unterscheidet sich von allem anderen, setzt sich diesem entgegen »und hat sich selbst erst in dieser seiner Absonderung«; es ist dadurch, daß es sich in seiner Andersheit behauptet. In dieser Selbstbehauptung erfährt es sich als etwas, das »nur für sich selbst und für niemand anderen ist«. Zugleich bedarf es aber des anderen, ist auf es angewiesen. Würde es sein Angewiesensein nicht wahrhaben und sich für das einzige Absolute halten, würde es seinem eigenen Wesen widersprechen. Frank sieht hierin das Wesen des Bösen (s. u.). Das Selbstsein ist also eine All-Einheit – aber auf beschränkte Weise, »nicht die All-Einheit überhaupt, die All-Einheit als solche«; es besitzt sich als All-Einheit »gerade außerhalb dieser letzten«. Mit anderen Worten: Das menschliche Selbstsein, das unendlich vieles umfaßt, ist »das Grenzenlose in der konkreten Form des Begrenzten« oder »die All-Einheit des Seins als einzelnes« (DU 204). Indem die All-Einheit das Andere in sich hat, ist sie eine »Einheit von Einheit und Vielheit« und kein nur »kompakter, einheitlicher Hintergrund« (in dem nach Hegels Wort »alle Katzen grau« wären). Daraus ergibt sich eine höchst wichtige Folgerung: Die Einheit durchdringt alle ihre Elemente innerlich so, daß sie als Ganzes, d. h. in ihrem wahren Wesen, in jedem – im Menschen in größerem, in einem Ding in geringerem Ausmaß – anwesend ist. So »hat jeder Punkt des Seins alles übrige außer sich und ist zugleich an seiner Stelle und auf seine Art das Ganze selbst«. »Es ist von allem durchdrungen und durchdringt alles« (DU 206; vgl. RM 186). Das Sein oder die Realität ist darum nicht anders zu denken denn als antinomische Einheit der Gegensätze. Indem die Einheit in jedem Punkt anwesend ist, ihn teilhaben läßt an ihrer primären Natur, in ihrer Eigenschaft des sich selbst genügenden, selbständigen Seins, wird jeder Punkt des Seins zu einem abgeleiteten Ganzen oder zur abgeleiteten Einheit. »Die Einheit der Realität bringt in sich selbst die Vielheit der substanziell seienden partikularen Elemente hervor, ohne dabei aufzuhören, einfache, ursprüngliche, absolut primäre Einheit zu sein, die über die Grenzen alles Vielen und Partikularen hin97 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein im Selbstsein

ausgeht« (RM 189). Die Einheit oder das Eine ist immer lebendige Einheit, die in ihrer Potenz alles mögliche Viele in sich trägt. Gerade das geistige Leben zeigt sich als lebendige Einheit von Vielem, in der die Unterschiede und Spannungen zwischen den partikularen Realitäten nicht eingeebnet, sondern ermöglicht werden.

5.

Das Ganze im Einzelnen und das Einzelne in jedem anderen

Wie sehr für Frank, nach seinem eigenen Bekenntnis, Nikolaus von Kues zum »Lehrer« geworden ist, zeigt sich in der Ontologie der AllEinheit. Schon an dieser Stelle der Analyse kann ein Blick auf die Cusanische Seinslehre zum Verständnis von Franks Begriff der AllEinheit beitragen. Das All, so hatte Nikolaus im 2. Buch von De docta ignorantia ausgeführt, ist eine unendliche Einheit und als solche das Maximum – aber es ist diese Einheit in der Weise der Kontraktion (Zusammenziehung) zur Bestimmtheit von vielen Einzelnen. Es ist, weil Gott als die aktual unendliche Einheit von allem Möglichen die in ihm eingefaltete Seinseinheit ausfaltet. Das All besitzt dadurch unerschöpfliche Potentialität (oder potentielle Unendlichkeit). In jedem Einzelnen ist es anwesend, aber in kontrahierter Weise als dieses Einzelne: Nach dem anschaulichen Beispiel des Nikolaus ist das Universum in der Sonne die Sonne, aber nur die Sonne, im Mond nur der Mond, also in jedem das jeweilige Bestimmte. In keinem Einzelnen (auch nicht in deren Summe) ist das Universum voll aktualisiert. 9 Das Nikolaus von Kues unterscheidet in De docta ignorantia II, cap. 4, n. 115 die absolute Washeit [quidditas] eines Dinges von seiner kontrahierten Washeit. Die absolute Washeit der Sonne ist dieselbe wie die irgendeines anderen Dinges, denn sie ist das Sein Gottes, der die absolute Washeit von allem ist. Die kontrahierte Washeit ist dagegen nichts anderes als die jeweilige Sache selbst. So ist das Universum weder die Sonne oder der Mond, wohl aber je anders kontrahiert in der Sonne und anders im Mond. Gott aber, der die vielheitslose Einheit des Seins alles Seienden ist, »ist nicht in der Sonne Sonne oder im Mond Mond, sondern das, was die Sonne und der Mond ist, ohne Vielheit und Verschiedenheit«. M. Enders erläutert diesen Cusanischen Gedanken: »Alles endlich Seiende hat zwei Seinsweisen: Es ist in seiner ewigen innergöttlichen Seinsweise ein Moment seiner göttlichen Seinsweise und damit wesensidentisch mit dieser; es ist also in Gott nichts anderes als Gott selbst […], als Verursachtes ist es von seiner göttlichen Seinsursache verschieden, während es in seiner sachlich ersten, innergöttlichen Seinsweise gerade nicht von seiner göttlichen Seinsursache verschieden, sondern mit dieser identisch ist«. M. Enders: Unendlichkeit und All-Einheit. In: M. Thurner: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Berlin (Akademie-Verlag) 2002. S. 426.

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Das Ganze im Einzelnen und das Einzelne in jedem anderen

heißt: Sofern es im Einzelnen zu dessen Sachgehalt zusammengezogen ist, ist dieses Einzelne, und so jedes Seiende auf seine Weise, bestimmt durch die Gesamtheit alles übrigen; jede Einzelverwirklichung schließt das Ganze aller Verwirklichungen ein. 10 Nikolaus hat die wechselseitige Durchdringung eines jeden mit jedem auf der Basis der Einheit des Universums mit der Formel quodlibet in quolibet zusammengefaßt. 11 Die absolute Washeit (quidditas) jedes Einzelnen aber ist unmittelbar in Gott; zugleich ist die das Sein verleihende aktuale forma essendi – die göttliche Seinsmacht – auf beschränkte Weise in jedem. Das gilt der Sache nach auch für Franks Ontologie: In jedem Einzelnen ist alles übrige mitenthalten, denn jedes kontrahiert [szˇimaetsja] auf seine Weise die »All-Einheit überhaupt« und ist so mit allen anderen Kontraktionen innerlich verbunden. Frank hat diese lebendige Einheit mit einem Wort bezeichnet, das bei Philosophen des Idealismus geläufig war: »Die konkrete All-Einheit ist ein Geisterreich« [carstvo duchov] (DU 207). Eine Konsequenz daraus, daß das Einzelne als beschränkte Manifestation des Ganzen mit jedem anderen Einzelnen »auf gewisse Weise« eins ist, ist die Solidarität eines jeden mit jedem – auch in der Schuld. Auf dieses Moment ist noch einzugehen. Von Gott, dem Urheber und Urgrund der All-Einheit, ist der Mensch nicht nur unterschieden; er ist ihm auch in einer besonderen Weise ähnlich. Nach Nikolaus von Kues ist er nicht nur eine Ausfaltung der lebendigen aktualen Einheit des Seins, sondern mit seiner Seele (der mens) auch deren »lebendiges Bild« (viva imago; imago unitatis). Frank sieht im Moment des Bin – im Sich-selbst-gegenüber-offenbar-sein – das Moment in der Doppelnatur des Menschen, das, wie er sagt, die »Verwandtschaft« mit Gott begründet. Zugleich ist aber jedes Selbstsein durch sein Selbst einzig und sogar in gewissem Sinne »absolut einsam«. Weil es in keiner Beziehung sich restlos mitzuteilen vermag, bleibt es in seiner Tiefe »unsagbar-stumm in sich und bei sich selbst« – und muß es bleiben, wie man Franks Selbsterfahrung wohl aussprechen darf. Auch in dieser Einzigkeit bis hin zur Einsamkeit ist es dem »schlechthin Einzigen ähnlich und innerlich verwandt«. 10 Vgl. K. H. Volkmann-Schluck: Nicolaus Cusanus. Die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Frankfurt a. M. (Klostermann) 1957, S. 54. 11 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia II, cap. 5, n. 118. Vgl. dazu K. H. VolkmannSchluck, a. a. O. S. 53–57.

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Das Sein im Selbstsein

Diese in der Gottähnlichkeit gründende letzte Unveräußerlichkeit bewahrt das unmittelbare Selbstsein vor der Auflösung ins Allgemeine, wie auch immer dieses beschaffen sein mag. Frank erkennt diese Gefahr in der Mystik der Upanischaden, sofern in ihr »das Selbst sich verflüchtigt und nur die Unmittelbarkeit des Seins zurückläßt, die dann gewissermaßen mit der verschmolzenen, grenzenlosen Einheit des unbedingten Seins überhaupt zusammenfällt« (DU 202). Frank denkt dagegen das Zusammenfallen der Teile mit dem Ganzen und untereinander im Sinne der Cusanischen coincidentia, die nicht zu einem Verschmelzen ins konturlose Eine führt, denn die opposita als solche bleiben in ihr erhalten. Die Idee der Koinzidenz kann darum in keiner Weise zur ontologischen Rechtfertigung eines sozialistischen Kollektivismus dienen (vgl. DU 200). Die All-Einheit des Seins ist, wie ausgeführt, eine lebendige Einheit; kraft ihrer Potentialität drängt sie über sich hinaus. In besonderer Weise gilt das für das unmittelbare Selbstsein. Sein Transzendieren kann in der Hinwendung zur Weltwirklichkeit geschehen; doch selbst wenn das Transzendieren als erkennende und handelnde Aneignung der objektiven Wirklichkeit geschieht und von einem Werterfassen begleitet wird, bleibt hier das Subjekt für sich, und sein Streben nach der »Fülle« bleibt unbefriedigt. Nur die Zuwendung zu einem Sein, das ihm gleich ist, kann es erfüllen und Befriedigung gewähren. Frank nennt zwei Weisen, in denen diese Zuwendung geschehen kann: das Transzendieren in ein anderes Bin in der Liebe und das Transzendieren in die nicht mehr potentielle, sondern aktuale transsubjektive Tiefe der Realität. In diesem Sich-selbst-Transzendieren, zumal in der Liebe, kann auch das göttliche Du in der Tiefe der Realität begegnen. Frank hat auch zum »Existenzialismus« seiner Zeit Stellung genommen; dieser erkenne von den »zwei Naturen«, die den Menschen auszeichnen, nur die eine, durch die er Teil der Weltwirklichkeit ist, und leugne, daß er in der Tiefe seines Wesens auch zur überzeitlichen alles umfassenden Realität gehört. Frank erwähnt für diese Auffassung namentlich M. Heidegger, man wird aber auch an J.-P. Sartre denken können. Heidegger hatte in »Sein und Zeit« geschrieben »Sein ist das transcendens schlechthin« 12 , doch sein Begriff des Transzendierens unterscheidet sich fundamental von dem Franks, denn es erreicht nicht das wahrhaft überzeitliche Sein. Frank wirft Heidegger 12

M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963, S. 11 und 38.

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Die Realitt – ein »offenbar Geheimnis«

denn auch vor, daß er zwar die Fülle der inneren Realität des Menschen erkannt habe, aber dieses »Universum« doch »innerhalb der Grenzen seiner selbst« verbleibe. Zwar existiere für Heidegger die »Seele« in der Welt gemeinsam mit anderen, doch »von innen her, für sich selbst, existiert sie nur in sich und befindet sich quasi in lebenslänglicher Einzelhaft« (RM 156, vgl. 186).

6.

Die Realitt – ein »offenbar Geheimnis«

Die Ontologie der All-Einheit bringt durch die Einsicht in die unerschöpfliche Potentialität des Seins und das Durchdrungensein eines jeden von jedem eine Erfahrung ins helle Bewußtsein, die unausgesprochen schon das alltägliche Leben begleitet. Auch wenn das Sein inhaltlich nicht bestimmbar ist, so haben wir doch, obwohl es »stumm, schweigend und unaussprechbar« bleibt, eine »Anschauung« von ihm, die ein »ursprüngliches Wissen« ist. Wir erfassen es als »in sich unergründlich« – als ein deutliches, hell erleuchtetes sichtbares Geheimnis, das nicht dadurch aufhört Geheimnis zu sein, daß es als solches offen vor uns liegt und von uns angeschaut wird (DU 82). Im Anschluß an Goethe nennt Frank das Sein ein »offenes Geheimnis« 13 (RM 171). Weil alles Begreifbare nur durch das unergründliche Sein ist, hat es auch an dessen Geheimnis Anteil. Mehrfach betont Frank – gleichsam als Quintessenz seiner Ontologie –, daß kein Wissen definitiv ist, weil die Realität »immer ›dieses und das andere‹«, d. h. »die Einheit ihrer selbst mit dem, was ihr gegenübersteht« ist (RM 255). Die »Allgegenwart des Unergründlichen« hat die Folge, daß »jedes Ding und jedes Wesen in der Welt mehr und anderes ist als alles, was wir von ihm wissen und wofür wir es halten – und mehr noch: Es ist mehr und anderes als alles, was wir jemals von ihm erfahren können. Und was es eigentlich in all seiner Fülle und Tiefe ist, das bleibt für uns unfaßbar« (DU 68). Das gilt selbstverständlich auch für 13 Frank fügt an den russischen Ausdruck javstvennaja tajna in Klammern die deutschen Worte »offenes Geheimnis« an. Er bezieht sich dabei wahrscheinlich auf das Gedicht Goethes aus dem »Buch Hafis« im »West-östlichen Divan«, das die Überschrift »Offenbar Geheimnis« trägt. Möglich ist auch der Bezug auf das Gedicht »Epirrhema«, aus dem Frank gelegentlich die Verse zitiert: »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen«. Die folgenden Verse lauten: »So ergreifet ohne Säumnis / Heilig öffentlich Geheimnis«.

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Das Sein im Selbstsein

den Menschen: Auch er »ist seinem Wesen nach stets mehr und anderes als alles, was wir in ihm als abgeschlossene, sein Wesen konstituierende Bestimmtheit wahrnehmen« (DU 295). Die Hermeneutik des Wissens hat ihren ontologischen Grund in dieser Verflochtenheit eines jeden mit jedem, die auf die Einheit im Sein zurückgeht. »Anfang und Ende jedes einzelnen Phänomens oder Inhaltes gehören nicht ihm selber, sondern liegen in einem anderen – letzten Endes im Ganzen als solchen. Gerade deshalb ist jedes besondere Wissen […] ein partielles Wissen des Ganzen« (DU 78). Frank macht noch auf einen interessanten Aspekt dieser überzeitlichen Einheit der Realität aufmerksam. Sie ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit, wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Deren Gegenstand, die Objektwelt, ist der Erfahrung immer nur in wechselnden, zeitlich begrenzten Ausschnitten, niemals als ganze gegeben. Doch als Bedingung jeglichen Forschens setzt der Wissenschaftler die Wirklichkeit als beständiges zusammenhängendes, gesetzmäßiges Ganzes voraus. Dieser Weltzusammenhang ist jedoch nur unter Voraussetzung der allumfassenden Einheit der Realität denkbar. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Forscher mit unbedingter Gewißheit annehmen, daß auch jenseits der räumlichen und zeitlichen Grenzen des von ihm Wahrgenommenen etwas ist, obgleich er dessen Inhalt nicht kennt. Das bedeutet, daß kraft der selbstevidenten Gegenwart der überzeitlichen Einheit des Seins »der Begriff der ›Leere‹, des ›Nichtseins‹ im absoluten Sinn unmöglich ist. […] Wenn daher irgendein partikulärer Inhalt in der Zeit verschwindet, ist dies nur dadurch möglich, daß er durch irgendeinen anderen positiven Inhalt ersetzt wird« (RM 166). Daß jedes Seiende, weil es vom »Transzendenten« durchdrungen ist (DU 324), ein »Geheimnis« birgt, hat die Mehrzahl der zeitgenössischen Philosophen vergessen. Die Dichter, deren Beruf es ist, »das Unergründliche und Unsagbare in Worte zu fassen« wissen es. Frank zitiert aus Rilkes Sonette an Orpheus: Aber noch ist unser Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert. Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus (DU 69). 14 14

R. M. Rilke: Die Sonette an Orpheus X.

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Die Aktualisierung des Selbstseins

7.

Die Aktualisierung des Selbstseins

Das menschliche Sein, das als Abgeleitetes-Ursprüngliches auf seine konkrete Weise am all-einen Sein teilhat, nimmt auch, indem es über sich hinausstrebt, an dessen Kreativität teil: Es schafft kraft seines Selbstseins aus sich selbst »den Inhalt seines Seins«. Der Mensch kann in seiner Aktualität wachsen und so gleichsam realer werden, weil er immer schon mehr als nur Potentialität ist. Sofern er sein Strebeziel als »gesollt« erfährt und verwirklicht, tut er, was die »höchste, transsubjektive Realität« will. Das, »was von uns als Pflicht gefordert wird«, kann in jedem Lebensbereich erkannt und realisiert werden. Wir ordnen uns dann dem Willen der Realität selbst unter, die durch uns »nach Selbstverwirklichung strebt« (s. u. Kapitel IX). Frank unterstreicht, daß das Gesollte als Verwirklichung des Selbstseins, nicht nur im eigentlichen sittlichen, sondern auch im künstlerischen und wissenschaftlichen Tun gefunden werden kann. Doch kann es auch ein Streben geben, das ganz in den Grenzen des eigenen potentiellen und an sich grundlosen Wesens verbleibt und sich darin erschöpft, Güter zu erwerben und Ziele zu verfolgen, die durch die eigene Subjektivität charakterisiert sind. Dieses Streben, so rastlos es auch sein mag, würde die eigene unbestimmte leere Möglichkeit nie restlos erfüllen können: Wie zahlreich auch die Güter wären, die jemand in Besitz nehmen könnte, »die Besessenheit durch das ewig lockende und uns immer entgleitende ›noch und noch‹« würde den Menschen zu einem sinnlosen Leerlauf verurteilen. Die Teilhabe an der schöpferischen Realität selber realisiert sich im Rahmen der »objektiven Wirklichkeit«, die uns sowohl in unserem körperlichen als auch psychischen Dasein begrenzt. Doch gibt es in uns eine Instanz (dem intelligiblen Ich vergleichbar), die den empirischen Existenzbedingungen transzendent ist und als deren »Richter und Lenker« wirken kann – eben weil in ihr die Realität selber wirkt (RM 222 ff.). Frank sieht die Daseinsaufgabe des Menschen letztendlich im freien Mitvollzug des allseitigen Wirkens Gottes (Solowjow hatte ihn mit dem Begriff »Theurgie« bezeichnet). Frank will aus der philosophischen Erkenntnis, wo immer es möglich ist, auch eine moralische Nutzanwendung ziehen. Hier ist es ein biblisch-christlicher Gedanke, dessen ontologischen Grund er sichtbar macht: Der Mensch, der nach der Aktualisierung seiner 103 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein im Selbstsein

Möglichkeiten strebt, kann sich selbst dabei aus dem Auge verlieren. Es nützt ihm nichts, wenn er »die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet«.

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V. Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein. Die Grundform der Offenbarung

Einen wesentlich neuen Impuls für das Begreifen des Seins und somit für die systematische Begründung des Humanismus brachte der nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Personalismus. Er lenkte Franks Aufmerksamkeit auf das Sein als Ich-Du- und als Wir-Sein. Nicht zuletzt wird man Franks Beitrag zur Philosophie des 20. Jahrhunderts in der Integration des phänomenologischen Personalismus in die Ontologie der All-Einheit sehen dürfen. Für Frank wurde immer deutlicher, daß eine philosophische Seinslehre nur sinnvoll möglich ist, wenn sie das Sein als Wir-Sein begreift. Daß diese Einsicht auch auf die Gotteslehre Auswirkungen hat, ist nur konsequent (vgl. DU 258). Die Bedeutung, die Augustinus für das personalistische Denken des Seins zukommt, fand durch Frank eine neue Würdigung. Eine gewisse Sensibilität für die ontologische Bedeutung der Kategorien »Ich« und »Wir« war bei Frank bereits durch die Denker des Deutschen Idealismus geweckt worden. An erster Stelle ist hier Fichte zu nennen, in dessen Spätphilosophie Sein und Leben »eins« sind, »aktuelles Leben« aber ein »reines in sich selber lebendes Wir in sich« ist. 1 Auch Hegel hatte in seiner »Phänomenologie« auf die »Wir«-Struktur des Geistes aufmerksam gemacht: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist«. 2 Doch das eigentliche personalistische Denken, in dem die Beziehung des Ich zum Du im Mittelpunkt steht, ist nachidealistisch. Anstöße sind von Kierkegaard ausgegangen. Frank war bekannt, welche Bedeutung dieser christliche Existenzphilosoph dem zur Entscheidung aufgerufenen Ich beimaß, das sich dem unbegreiflichen Gott gegenübergestellt erfährt. J. G. Fichte: Die Anweisung zum seeligen Leben, 1806. (GA I,9,S. 57). J. G. Fichte: II,8, XV. Vortrag, S. 228 f. = X,206 f. 2 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke Bd. 9, Hamburg 1980, S. 127 (»Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst«); vgl. auch S. 246 (»Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib«). 1

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

Das personalistische Denken war auch eine Reaktion auf die Vermassung und Selbstentfremdung der Menschen infolge der Auflösung der bisher den Einzelnen tragenden sozialen Beziehungen im Zuge der Industrialisierung. Mit den Versuchen der sozialistischen Bewegungen, das gesellschaftliche Wesen des Menschen erneut bewußt zu machen und die zunehmende Vereinzelung zu überwinden, war der junge Frank schon durch seinen Stiefvater bekannt geworden. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß diese Bewegungen, nicht zuletzt infolge ihrer dürftigen philosophischen Begründung, weit davon entfernt waren, die Ansprüche des Individuums mit den Ansprüchen der Gesellschaft überzeugend vermitteln zu können. J. Samjatin hatte in seinem utopischen Roman »Wir« (1920), mit dem Schreckbild einer Gesellschaft, in der die Menschen ihrer Individualität beraubt zu bloßen Nummern degradiert sind und mit ihrer Freiheit sogar die Möglichkeit des Verbrechens verloren haben, die Konsequenz einer verfehlten Wir-Philosophie radikal sichtbar gemacht. 3 Auch wenn nicht ausdrücklich beabsichtigt, ist Franks »WirPhilosophie« hierzu ein Gegenentwurf. In seinem Beitrag zur Festschrift für P. Struwe, 1925, und dann in seinem Aufsatz »›Ich‹ und ›Wir‹« hatte er sich die Aufgabe gestellt, gegenüber der seit Descartes vorherrschenden »Ich-Philosophie« »entschieden und radikal eine ›Wir-Philosophie‹« zu begründen, »die auf dem Bewußtsein des primär-ursprünglichen Charakters der Gemeinschaft und ihrer unmittelbaren ontologischen Evidenz aufbaut«. 4 Daß die ontologische Priorität der Wir-Einheit keinesfalls die Unterwerfung des Individuums unter ein gesellschaftliches Kollektiv zur Folge hat, betonten bereits seine ersten Arbeiten zur Sozialphilosophie. 5 Frank konnte nur auf wenige zeitgenössische Autoren zurückgreifen, die vor ihm der Metaphysik der Ich-Du-Beziehung Aufmerksamkeit entgegengebracht hatten. Von nachhaltiger Bedeutung Samjatin schrieb den Roman 1920; er wurde 1924 ins Englische, Französische und Tschechische übersetzt; 1927 erschien in der Tschechoslowakei eine russische Kurzfassung. Samjatin beeinflußte Huxleys »Brave New World«. 4 S. Frank: »Ja« i »My«. In: Festschrift für P. B. Struve, Prag 1925. S. Frank: »Ich« und »Wir«. Zur Analyse der Gemeinschaft. In: Der russische Gedanke. Internationale Zeitschrift für russische Philosophie, Literaturwissenschaft und Kultur, 1(1929–30) Bonn, S. 57. 5 S. Frank: Zur Metaphysik der Seele. Das Problem der philosophischen Anthropologie. In: Kantstudien 34 Jg., 1929, Nr-3–4, S. 351–373. Vgl. ferner Franks »Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft« (russ. Paris 1930), Freiburg 2002. 3

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

für Frank sind in dieser Hinsicht M. Scheler, M. Buber 6 und F. Ebner 7, mit Einschränkung G. Simmel. Scheler hatte die »›Du-heit‹« als »die fundamentalste Existenzkategorie des menschlichen Denkens« bezeichnet. »Das Wissen jedes Menschen, er sei ›Glied‹ einer Gesellschaft überhaupt, ist«, so Scheler, »kein empirisches Wissen, sondern ›a priori‹. […] Kein ›Ich‹ ohne ein ›Wir‹, und das ›Wir‹ ist genetisch stets früher inhaltlich erfüllt als das ›Ich‹«. 8 In der Zurückweisung der sog. Einfühlungstheorie, mit der Th. Lipps die Gewißheit von der Existenz des fremden Subjekts hatte erklären wollen, stimmt Frank mit der Argumentation Schelers überein. Im Januar 1926 hatte Frank eine Rezension zu F. Rosenzweigs Buch »Stern der Erlösung« (1921) veröffentlicht. Seine Stellungnahme ist nicht unkritisch; das schließt jedoch nicht aus, daß auch Rosenzweigs hymnischer Vorgriff auf das »Wir« aller erlösten Menschen Frank zur Neubewertung der Wir-Beziehung inspiriert hat.

Hier ist an Martin Bubers Schrift »Ich und Du« (1923) zu denken, deren erste Niederschrift 1919 erfolgt war. Buber verweist seinerseits auf den Anstoß durch die Leibphilosophie Ludwig Feuerbachs. Feuerbach habe »jene Du-Entdeckung eingeleitet, die man die ›kopernikanische Tat‹ des modernen Denkens genannt hat [die …] ›genauso folgenschwer ist, wie die Ich-Entdeckung des Idealismus‹« (M. Buber: Das Problem des Menschen, Heidelberg 1954, S. 62). 7 Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten (1921). Ebner schreibt hier: »Das Ich und das Du, das sind die geistigen Realitäten des Lebens. Die Konsequenzen hieraus und aus der Erkenntnis, daß das Ich nur in seiner Relation zum Du und nicht außerhalb ihrer existiere …«. »Die Existenz des Ich kann niemals widerspruchslos in der dritten, sondern immer nur in der ersten Person ausgesagt und behauptet werden, dadurch, daß sich das Ich selbst ausspricht«. In: Schriften 1. Band, München 1963, S. 85, S. 188, vgl. S. 258 ff. 8 Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens (1924). In: Gesammelte Werke. Die Wissensformen und die Gesellschaft. Bern und München 1960, Bd. 8, S. 57 und S. 52. – In seiner Arbeit über die »Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß« mit dem Anhang »Über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden Ich« (Halle 1913) hatte Scheler festgestellt: »›Zunächst‹ lebt der Mensch mehr in den Anderen als in sich selbst; mehr in der Gemeinschaft als in seinem Individuum« (S. 127). In der ergänzten 2. Auflage 1923 heißt es, »daß der Mensch nicht nur Teil der Gesellschaft ist, sondern auch die Gesellschaft als Beziehungsglied ein wesentlicher Teil von ihm; daß das Ich nicht nur ein ›Glied‹ des Wir ist, sondern auch das Wir ein notwendiges Glied des Ich« (M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 7, Vom fremden Ich, S. 225). 6

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

1.

Die Evidenz der Du-Realitt

Zu den unbestreitbaren menschlichen Erfahrungen gehört, daß wir dem anderen Menschen als Du begegnen können – auf völlig andere Weise als einem unpersönlichen Gegenstand oder einem Tier. Was ist die Bedingung dafür, daß diese Beziehung zustande kommen kann? Sie bliebe unerklärt, wenn das eigene Selbstsein nur Träger der Erkenntnisbefähigung wäre, dem alles andere, worauf sich seine Erkenntnisintention richten kann, als gegenständliche Wirklichkeit gegenübersteht. Auch der andere Mensch könnte dann nur als Objekt erreicht werden. Schon das erkennende Subjekt selbst wäre kein Ich im vollen Sinne. Denn die Ichwerdung geschieht, indem ein anderer Mensch sich »mir« zuwendet und den Blick auf »mich« richtet (in der Regel wird es zuerst der Augenkontakt zwischen Mutter und Kind sein). Wo diese Zuwendung geschieht, gewinnen die Momente des »mein« und »mir« eine völlig neue Bedeutung; sie stehen nicht mehr für die Beziehung zu einem Gegenstand. Dieser Vorgang ist einzigartig; sein spezifischer Gehalt ist nicht aus der bloßen Erkenntnisbeziehung verständlich zu machen. Frank betont, daß hier eine reale geistige Wechselwirkung stattfindet. Indem das nur potentielle Ich dem anderen Menschen als Du begegnet, gelangt es selbst zur vollen Aktualität (DU 221; 227). Anders als ein Gegenstand, der sich meinem Erkenntnisblick passiv darbietet und gleichsam darauf wartet, von mir erkannt zu werden, kann ich das Du nicht anders haben als dadurch, daß es sich selbst auf mich richtet und sich mir aktiv eröffnet. Die freie Selbsterschließung des anderen ist die Bedingung dafür, ihn als Du wahrnehmen zu können. Durch sie kommt die kommunikative Begegnung allererst zustande. Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Seitenblick auf Jean-Paul Sartre zu werfen, der in seiner »phänomenologischen Ontologie« auch das Wissen vom anderen Subjekt begründen und den Solipsismus überwinden will. Mit Frank kommt er darin überein, daß die Frage der Existenz des Fremd-Ich nicht als Erkenntnisproblem, sondern nur durch Analyse eines Erlebens gelöst werden kann. Dennoch klafft zwischen den Ontologien Sartres und Franks ein Abgrund. Sartre spricht davon, daß »in Bezug auf jeden lebenden Menschen jede menschliche Realität auf dem Untergrund ursprünglicher Gegenwart anwesend oder abwesend ist. Und diese ursprüngliche Gegenwart kann nur als Erblickt-Sein oder Erblickend-Sein Sinn haben, je nachdem, ob der andere für mich Objekt ist oder ich selbst Objekt für den 108 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Evidenz der Du-Realitt

Anderen bin. Das Für-Andere-Sein ist ein ständiges Faktum meiner menschlichen Realität, und ich erfasse es mit seiner faktischen Notwendigkeit beim kleinsten Gedanken, den ich mir über mich mache«. »Der Andere ist mir überall als das gegenwärtig, durch das ich Objekt werde«. 9 Sartres Phänomenanalyse gelangt nicht zu einer Begegnung, in der die aufeinandertreffenden Subjekte zu Ich und Du werden und eine Gemeinschaft zwischen ihnen entsteht. Das »Für-andere-Sein« bedeutet bei Sartre für den Anderen Objekt sein. Sartre zufolge wird die Existenz des Anderen mir dadurch gewiß, daß ich mich als von ihm beobachtetes Objekt erlebe. Das Bewußtsein, stets erblickt werden zu können, ist konstitutiv für die Beziehung auf mich selbst und auf den Anderen. Auch Frank fragt nach der Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis des Fremd-Ich, aber er geht, anders als Sartre, nicht von einem fertigen, für sich seienden Ich aus, um die Erkenntnis eines »anderen« Ich zu erklären. Dieser Versuch würde, wie Frank in seiner Analyse bemerkt, unweigerlich zu Ungereimtheiten führen. Denn das Ich habe und kenne ich nur als meines, mein Ich gibt es nur im Singular, als mein konkretes »Ich«. Von ihm ausgehend gelange ich immer nur zum Nicht-Ich, d. h. zu Objekten, nie aber zu einem anderen Ich, das ein Du wäre. Von einem zweiten Ich zu sprechen ist, streng genommen, logisch widersinnig. Seine Annahme wäre eine bloße petitio principii. Um zu verstehen, daß ich außer der Objektbeziehung tatsächlich auch die ganz andere Beziehung zum Du haben kann, ist die Annahme unumgänglich, daß mein Bin-Sein selbst mit der Bist-Form des Seins unvermischt vereint ist, mit anderen Worten, daß mein Sein schon immer auf das Du bezogen ist, bzw. es in potentia in sich hat. Durch die Du-Begegnung wird diese Potenz aktualisiert und mein Bin-Sein zum »Ich bin« im vollen Sinn. Für Frank ist das Sein, ganz anders als für Sartre, lebendiges Sein oder ein »Geisterreich« (DU 221–224). Franks Analyse der Begegnung zeigt weiter: Das Du des Anderen, das in der Begegnung erlebt wird und in mich eingeht, ist nicht das Ergebnis der Addition vieler einzelner inhaltlicher Eindrücke – des Aussehens, der Stimme, der Gestik, Mimik u. s. w.; es ist die intuitiv wahrgenommene Realität des Anderen als konkrete »ganzheitliche Einheit«. Das Wissen um die Realität des Du ist ursprüngJ.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg (Rowohlt) 1962, S. 370 und 371.

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

licher und unmittelbarer als das Wissen darum, was dieses Du inhaltlich ausmacht. Daß das Selbstsein des Anderen für mich die Gestalt des Du annimmt, bedeutet deshalb noch nicht, daß ich es auch begreifen könnte. Seine Inhalte sind mir immer nur ganz umrißhaft zugänglich; selbst was einen Freund, der eng mit mir verbunden ist, hier und jetzt bewegt, bleibt für mich in ein letztlich unergründliches Dunkel gehüllt. Obwohl ich seine Inhalte nicht klar erfassen kann, ist mir doch seine Realität in unbezweifelbarer Evidenz gegeben. Das zu erklären, überfordert, wie Frank bemerkt, alle rationalistischen Erkenntnistheorien. Selbstverständlich kann der Eindruck, den ein anderer auf mich ausübt, analysiert und in einzelne Inhalte zerlegt werden; das aber geschieht in einer von der unmittelbaren Begegnung unterschiedenen Reflexion. Dieses Ergebnis ist, wie sich zeigen wird, auch für die philosophische Gotteslehre von Bedeutung. Die Begegnung mit dem anderen als Du ist durch äußere Ausdrucksformen vermittelt – durch Mimik, Gebärden, durch den Blick der Augen, nicht zuletzt durch das gesprochene Wort – doch was sich in ihnen »ausdrückt«, sind nicht Nervenreize, Muskelspannungen u. s. w., sondern ist primär die Realität des Anderen, sein Selbstsein. »Diese eigentlich allbekannte Erscheinung des ›Selbstausdrucks‹, in dem ein ›Inneres‹, ein gewisses Selbstsein, durchschimmert und nach außen dringt und sich so in einem ›Äußeren‹ kundtut, ist ein Prozeß sui generis, der mit Kategorien des gegenständlichen Seins schlechthin nicht zu fassen ist« (DU 227). 10 Die Möglichkeit, die gegenständliche Erkenntnisbeziehung zu übersteigen und dem anderen Menschen als Du zu begegnen, – so Franks religionsphilosophisch folgenreiche Annahme – ist allein unter der Bedingung zu verstehen, daß das Du meinem Sein immer schon innewohnt. Die dem Ich wesentliche Beziehung zum Du stellt sich also nicht erst her, wenn der andere gleichsam von außen wie ein Gegenstand zufällig in meinen Erlebenshorizont eintritt; es muß vielmehr die gesonderte Einheit von Du und Ich als Grundgestalt des Seins vorausgesetzt werden. Nur so ist es möglich, daß mein Selbstsein im anderen seinem eigenen Wesen begegnen und sich im anderen wiedererkennen kann. Frank kann deshalb sagen: »Die IchDu-Beziehung als Ich-Du-Sein manifestiert sich somit als die Urgestalt des Seins; sie erscheint uns so als Offenbarung der inneren Struktur der Realität als solcher – und zwar in ihrer Unergründlich10

Hier sei auf E. Cassirer hingewiesen, der eine sehr ähnliche Beobachtung macht.

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Offenbarung als Mitteilung der Realitt des Offenbarenden

keit, jenseits jedes begrifflichen Erfassens« (DU 249). Sie ist »unergründlich«, weil sie als Einheit des Unterschiedenen sich der rationalen, auf distinkte Inhalte gerichteten Erfassung widersetzt; sie ist allein dem »belehrten Nichtwissen« zugänglich. Frank nennt das »Zusammenfallen von ›Innen‹ und ›Außen‹, von Ich und Nicht-Ich« im Erleben der Ich-Du-Beziehung – ohne daß die Andersheit beseitigt würde – »die ausdrucksvollste Manifestation« der coincidentia oppositorum (DU 249; 255).

2.

Offenbarung als Mitteilung der Realitt des Offenbarenden

Die phänomenologische Analyse der Ich-Du-Beziehung und des WirSeins spielt in Franks Ontologie und in seiner Gotteslehre eine zentrale Rolle (über die Begrenztheit dieser Analogie in Hinblick auf die Begegnung mit Gott wird noch zu sprechen sein). Die unergründliche und unbegrenzte Realität des Du, die sich in der Begegnung offenbart, ist nicht dem objektivierenden, sondern nur dem »lebendigen Wissen« oder »verstehenden Erleben« zugänglich, in dem der Erkennende mit dem Erkannten eins ist. Um das Sein des anderen erfahren und in mich aufnehmen zu können, muß es sich selber kund tun. Ich kann es nicht von mir aus ergreifen und mir aneignen. Das Wissen, das ich von der Du-Realität habe, unterscheidet sich deshalb von dem Wissen, das ich durch den gewöhnlichen Erkenntnisvorgang erwerbe, in dem das Objekt sein Erkanntwerden passiv hinnehmen muß (vgl. DU 226). Frank schreibt von dieser eigentümlichen Beziehung, in der das Selbstsein des anderen begegnet: »Nicht ich enthülle das Du, es enthüllt sich mir selbst. Es schickt selbst ein unsichtbares Fluidum von sich aus, das in mich eindringt; ich habe das Du erkannt, wenn ich dieses Fluidum empfangen habe. Eine solche Erkenntnis kann man im Unterschied zur gegenständlichen Erkenntnis nicht anders bezeichnen als mit dem Wort ›Offenbarung‹« (RM 208; DU 227). Frank hat mit dieser »selbstevidenten, aber trotz aller Evidenz doch rätselhaften und wunderbaren Erscheinung« den epistemologischen Gehalt des Begriffs der Offenbarung aufgedeckt. »Offenbaren« bedeutet nicht, einen logisch bestimmten Inhalt präsentieren, der dann vom Adressaten zur Kenntnis genommen würde. »Offenbarung ist die reale Anwesenheit der sich offenbarenden Realität selber« (DU 349), nicht das Herzeigen von Sachinhalten. Wenn ein an111 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

derer Mensch, der zuvor nur ein gegenständlich gegebenes Gegenüber war, zum Du wird und sein Selbstsein sich für mich öffnet, erfahre ich von ihm nicht zuerst inhaltlich bestimmte Charaktereigenschaften, sondern ich erlebe sein Du, das mit seiner Zuwendung einen lebendigen Widerhall in mir weckt. Was in der Du-Begegnung offenbar wird, ist das ins Unendliche transzendierende und deshalb unergründliche Personsein des anderen. Mit Franks Worten: Was in der Du-Begegnung in mich eingeht, »ist die unsagbare, gegenüber sich selbst offenbare, ihrer selbst bewußte Realität in einem begrenzten, partikularen Seinsausschnitt«, nämlich in der Erfahrung einer bestimmten anderen Person (vgl. DU 150). Indem ich des unergründlichen Selbstseins der anderen Person in lebendiger Wahrnehmung inne werde, trete ich »in Verbindung mit den geheimnisvollen Tiefen der lebendigen Realität« selber (RM 201). Das offenbarte Sein ist kein farbloses Abstraktum, sondern konkret und »gehaltvoll« – eben das Selbstsein der anderen Person – dessen konkreter Gehalt aber auch in der offenbarenden Begegnung ein unergründliches Geheimnis bleibt, das immer von neuem zu vertiefter Deutung auffordert. Das gilt erst recht, wenn die Fülle der Realität, Gott, sich offenbart (vgl. DU 340; 374). Die bereits vom all-einen Sein ausgesagte »Selbst-Durchsichtigkeit«, das Offenbarsein sich selbst gegenüber, ist Voraussetzung für die Offenbarung, die in der Zuwendung zu einem Anderen und im Sicherschließen ihm gegenüber besteht. Die Realität selber ist »Fürsich-sein« oder lebendiges »Sich-selbst-immanent-sein« oder, kurz gesagt, sie ist sich selber gegenüber offenbar oder »licht«. Auch das unmittelbare Selbstsein ist eine »innerlich gegliederte Allgemeinheit«. Was Frank mit Fichte »Geisterreich« nennt, durchdringt auch das Selbstsein. Das Transzendieren zum Du als einer mir gleichen Realität setzt das ursprüngliche Sein meiner selbst in der Sphäre des »Ich-Du-Seins«, der Sphäre der lebendigen, für-sich-seienden AllEinheit voraus (vgl. DU 254). Ihr inneres Gelichtetsein drängt von sich dazu, »sich einem anderen zu offenbaren, sich zu eröffnen, sich einem anderen zu zeigen« und, wo sie nicht selber die Fülle ist, sich dadurch selbst zu vollenden (DU 226). Frank macht noch auf einen weiteren Aspekt dieses Gelichtetseins aufmerksam: Das Sein des anderen, das mir durch Offenbarung zuteil wird, ist mir nicht fremd. Zwar hat jede Person ihre eigene, nur ihr allein gehörige Wurzel im Sein, die von der dem fremden Blick unzugänglichen Tiefe des Ich ausgeht. Weil aber das Ich ebenso 112 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Wort – das Medium der Offenbarung

wesentlich »Glied einer gemeinschaftlichen Vieleinheit, Teilhaber eines Wir« ist, spricht die eine überindividuelle Realität, die »in der Gestalt des Du« zu mir spricht, eben darin auch »von mir selbst«. Jede Begegnung sagt mir von neuem, daß ich selbst nur in der Einheit mit der Tiefe der lebendigen personalen Realität wahrhaft ich selbst bin (RM 204; 207; vgl. 201).

3.

Das Wort – das Medium der Offenbarung

Weil das Wort das herausragende Mittel ist, durch welches das Selbstsein zum Ausdruck gelangt und seine »geistigen Energien« mitteilt, hat Frank in Das Unergründliche eine knappe, aber inhaltsreiche Skizze zum »Geheimnis des Wortes« eingefügt. Er geht von der sprachwissenschaftlichen Streitfrage aus, worin das originäre Wesen des Wortes besteht: einen Gegenstand zu bezeichnen oder als Interjektion ein subjektives Befinden auszudrücken. Auch hier ist er der Auffassung, daß die alternative Entgegensetzung falsch ist. »Das Wort drückt ursprünglich weder das gegenständliche Sein als solches in seinem stummen und kalten objektiven Inhalt aus noch ›meinen subjektiven Eindruck‹ von ihm, meinen emotionalen Zustand in der Begegnung mit diesem Gegenstand. Es drückt die unergründliche Realität selber in ihrer Absolutheit – in einer ihrer Einzelerscheinungen – aus, die tiefer liegt als die Teilung in Subjekt und Objekt oder in Subjektivität und Objektivität«. Weder spricht das Wort »im ursprünglichen Sinn« über etwas, noch manifestiert sich in ihm »das ›subjektive‹ Wesen des Menschen«, – sondern das Sein selber (DU 376). Davon zeugt eindrucksvoll die Poesie, in der das menschliche Wort »in seiner vollwertigen Bedeutung erscheint«. Hohe Lyrik ist keineswegs nur eine »›Konfession‹ des Dichters« über sein subjektives Befinden. Noch weniger dient das dichterische Wort in erster Linie der »begrifflich abstrakten Bestimmung oder ›objektiven Beschreibung‹ gegenständlicher Realität«. Wer das Wort des Dichters in sein Inneres einläßt, erfährt etwas von dem, was »wahrhaft ist«. Wie sich dem Betrachter des nächtlichen Sternenhimmels die unergründliche konkrete Realität – jenseits der objektiven astronomischen Wirklichkeit – in Einheit von Erleben und Erlebnisinhalt offenbart, so kann auch die Poesie für die im Dinglichen anwesende »wahrhafte« Realität das Auge öffnen. Frank vergleicht darum die 113 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

Poesie mit dem »cherubinischen Gesang« der ostkirchlichen Liturgie, in dem die unsichtbar anwesenden Engelsmächte durch den Mund des menschlichen Chores ihr »dreimal heiliges Lied« singen. Die Poesie ist »die Stimme der Realität selbst, vom Dichter abgelauscht und überbracht« (ebd., Übersetzung geändert). Reichhaltiger und intensiver als in der gegenständlichen Natur spricht in der Begegnung mit dem Du die Realität selber – das, was »wahrhaft ist« – von sich. »Sprechen« bedeutet hier, gewisse vom Du »ausgehende Strahlen, gewisse geistige Energien, die seinem Wesen gemäß sind«, dem anderen »in der Tiefe einzuflößen«. Was hier mitgeteilt wird, sind darum nicht einzelne Wörter mit ihrem lexikalischen Bedeutungsgehalt, keine Sachinhalte, vielmehr teilt der andere durch das sprachliche Ausdrucksmittel etwas von sich selbst mit. Kein Ausdrucksmittel vermag freilich das »Wesen des Du« dem anderen mitzuteilen; denn auch in der intimsten Verbindung kann es sich selbst nicht preisgeben; es bleibt ein unergründliches Geheimnis (RM 208 f.). 11 Kein Ausdrucksmittel – das wird besonders am alltäglichen und auch am wissenschaftlichen Wortgebrauch deutlich – entkommt freilich dem Widerstreit von Subjektivität und Objektivität. Es tendiert dazu, seinen Gehalt zu verengen und »zur bloßen Bezeichnung abstrakter Begriffe zu kristallisieren«. Für die Wissenschaft ist das

Franks Begriffe der »Energien« oder des vom Du ausgehenden »Fluidum« oder (des die Erkenntnis ermöglichenden) »Strahls des lebendigen absoluten Lichts« haben eine Entsprechung in der Lehre des byzantinischen Theologen Gregor Palamas (gest. 1359) von den göttlichen Wirkungen (»Energien«) in der Welt. Der orthodoxe Metropolit Seraphim (Albert Lade) schreibt, daß Gott, auf den der Begriff des »Seins« nicht angewendet werden kann, weil er der Schöpfer des Seins ist, doch »der Welt immanent ist, nämlich in Seinen Energien; in diesen offenbart Er sich der Welt und wirkt in der Welt. Jedes geschaffene Sein existiert überhaupt nur, weil es an den göttlichen Energien teil hat. Gott ist in Seinen Energien das Sein aller Wesen. Durch Teilnahme an den Energien kann sich das Geschöpf Gott nahen und mit ihm in Gemeinschaft treten. Die Energien sind von der Wesenheit nicht zu trennen. Sie sind deshalb ebenso wie das Wesen Gottes, dessen Erscheinung sie sind, ungeschaffen und ewig. In den Akten der Synode von Konstantinopel vom Jahre 1351 ist gesagt: ›Wir denken sie (die Energie) nicht als außerhalb der göttlichen Wesenheit befindlich, sondern … sagen, daß sie aus der göttlichen Wesenheit wie einem ewigen Quell entfließt und entspringt und ohne diesen nie wahrgenommen wird. Sie bleibt mit der göttlichen Wesenheit untrennbar verbunden, koexistiert von Ewigkeit mit ihr und ist untrennbar mit ihr vereint‹. Deshalb wird die Energie auch mit dem Terminus ›Gottheit‹ bezeichnet«. Die Ostkirche, hg. v. A. Lade, Stuttgart (Verlag Spemann) 1950, S. 37–38.

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Die berzeitliche Gemeinschaftlichkeit – Grund jeder Gesellschaft

zweifellos von Vorteil, räumt Frank ein. Doch zeigt dieser »Widerstreit«, der im Menschen selbst seinen Grund hat, die nur beschränkte Eignung seiner Sprache, die Offenbarung der Realität adäquat auszudrücken. Deshalb »äußert sich die konkrete Offenbarung Gottes, sein Wort – vom Menschen her gesehen – in ›unaussprechlichen Worten, die kein Mensch sagen kann‹«, schreibt Frank mit dem Apostel Paulus (2. Korintherbrief 12:4). Frank faßt seine philosophische Skizze des Wortes zusammen: »Im Wort gewinnt die Realität selber, das Unergründliche, eine Stimme. In ihm spricht die Realität von sich selbst, ›macht eine Aussage‹, ›drückt sich aus‹«. Das menschliche Wort ist auf seine beschränkte Weise Ausdruck der absoluten Realität; es erweist sich als unvollkommenes »Abbild« des ewigen Logos, der, wie Frank den Prolog des Johannesevangeliums aufnehmend sagt, »›am Anfang bei Gott war‹ und ›Gott selber war‹«. Jene »Worte Gottes, die in der Heiligen Schrift überliefert sind, die aber auch jeder Mensch zu vernehmen gewürdigt sein kann, sind einzelne Manifestationen des Wortes, des Logos«. Sie sind eine Äußerung von Gottes Wesen, in der es »für uns ein lebendiges Antlitz und eine Gestalt annimmt (ohne dadurch aufzuhören unergründlich zu sein). Eine solche Äußerung Gottes als Wort in lebendiger Gestalt ist auch jene höchste und angemessenste konkret-positive Offenbarung, in welcher ›das Wort‹ in der menschlichen Gestalt Jesu Christi ›Fleisch wurde‹« (DU 377; vgl. Johannesevangelium 1:14). Das »eitel gebrauchte Wort« und »jedes bloße Gerede« kommen deshalb einer »Blasphemie« gleich (DU 376).

4.

Die berzeitliche Gemeinschaftlichkeit – Grund jeder Gesellschaft

Die Begegnung ist, wie erläutert, ein lebendiger Vorgang wechselseitiger Aktivität. Ich entstehe als Realitätspunkt zugleich mit dem Du – als ein Glied »der sich zugleich damit konstituierenden Einheit des Wir« (DU 230). Dieses »wunderbare, von tiefster Bedeutung erfüllte Wort ›Wir‹« ist mehr als nur ein anderes Wort für die Ich-Du-Einheit; schon die Sprache hat mit ihm, indem sie es schuf, ein ganz eigenes Realitätsmoment zum Ausdruck gebracht (DU 256). In seiner Sozialphilosophie hat Frank für die Wir-Einheit das Wort sobornost’ eingeführt. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die einflußreiche Schrift A. S. Chomjakows über »Die eine Kirche«; 115 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

sie hat ihn zur Verwendung dieses Begriffs offensichtlich angeregt. 12 In ihm klingen die Bedeutungen der Gemeinsamkeit, der Verbundenheit, der Konziliarität, der Katholizität, der inneren Sammlung an. Seine Übersetzung in eine andere Sprache ist schwierig. Frank selbst hält ihn für »unübersetzbar« und beläßt es in seinem deutsch verfaßten Vortrag »Die russische Weltanschauung« (1926) bei Umschreibungen u. a. durch die Wörter »Konziliarismus« und »Gemeinschaftsprinzip«. 13 L. P. Karsawin hatte als deutsche Übersetzung »Symphonie«, »Symphonismus« vorgeschlagen. 14 R. v. Walter, der Übersetzer von N. Berdjaews »Die Philosophie des freien Geistes«, meint, daß das deutsche Wort »Gesammeltheit« dem russischen Wort am nächsten komme. 15 Für die Bedeutung, die Frank dem Wort sobornost’ gegeben hat, sind diese Übersetzungen nicht geeignet. Das treffendste (wenngleich nicht voll befriedigende) deutsche Äquivalent für den Gebrauch, den Frank von ihm macht, ist »Gemeinschaftlichkeit«. Irreführend wäre die Übersetzung »Gemeinschaft«, das eine konkrete, auf besondere Weise verbundene Gruppe von Menschen charakterisiert. 16 In seinem russischen Aufsatz über die Religiösen Grundlagen der Gesellschaftlichkeit aus dem Jahr 1925 hat Frank den Begriff noch nicht verwendet; er spricht hier von »Solidarität« als einer »Elementartatsache«, die jeder »Gesellschaftlichkeit« Der slawophile Schriftsteller und Theologe A. S. Chomjakow (1804–1860) verwendet in seiner Arbeit Cerkov’ odna (1867 gedruckt; deutsch Die eine Kirche), soweit ich sehe, nur das Adjektiv sobornyj. Auch in der Auseinandersetzung mit P. Iwan S. Gagarin SJ über die russische Übersetzung des nicäo-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses verwendet Chomjakow nur das Adjektiv. Für Chomjakow ist der griechische Begriff kajolikffi des Glaubensbekenntnisses allein durch sobornyj korrekt wiedergegeben – als Ausdruck für »die Einheit in der Vielfalt« (vgl. A. S. Chomjakov: Socˇinenija bogoslovskie, St. Petersburg 1995, S273 ff.). In seiner während des Zweiten Weltkriegs verfaßten Schrift Mit uns ist Gott verwendet Frank, um den umfassenden Charakter der Kirche, ihre »Katholizität«, zu kennzeichnen, das Wort kafolicˇna, das bereits I. S. Gagarin für die Übersetzung des Wortes kajolikffi vorgeschlagen hatte. – Es ist eine offene Frage, ob Chomjakow sich auf die Schrift J. A. Möhlers Die Einheit der Kirche oder das Princip des Katholizismus (1825) gestützt hat. 13 S. Frank: Die russische Weltanschauung. (Berlin-)Charlottenburg 1926, S. 22 f. – B. Jakim, der amerikanische Übersetzer von Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft ließ das Wort sobornost’ unübersetzt. 14 L. P. Karsawin: Die Russische Idee, in: Der Gral, Nr. 8, Mai 1925, S. 356. 15 N. Berdiajew: Die Philosophie des freien Geistes. Problematik und Apologie des Christentums. Tübingen 1930, S. 11 (Fußnote). 16 F. Tönnies hatte den Begriff in diesem Sinne verstanden; Frank grenzt sich ausdrücklich von ihm ab (GGdG 144). 12

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Das Wir-Sein ist grenzenlos, berzeitlich, berindividuell

und jeder »Kommunikation« zugrunde liegt. 17 In seinen späteren Schriften spielt der Begriff sobornost’ keine signifikante Rolle mehr. Die »Gemeinschaftlichkeit« ist keine Gegebenheit der objektivierbaren Wirklichkeit, keine besondere Stimmung oder äußerlich erkennbare Weise des mitmenschlichen Umgangs. Sie ist kein Idealzustand, der durch sittliche oder ähnliche Anstrengungen erst verwirklicht werden müßte. Sie ist die Einheit des Wir – und als solche eine geistige Realität. Sie ist nicht die Summe oder Anhäufung vieler Ich; sie befindet sich nicht neben oder über den Vielen. Sie steht aber auch »nicht als äußeres, transzendentes Prinzip der Vielheit gegenüber, sondern ist ihr immanent und vereinigt sie von innen her«. Sie ist der ontologische Begriff für »das innere Wesen« und »die innere Schicht oder Wurzel« jeder Gesellschaft: »In jedem ihrer zeitlichen Abschnitte, in jedem Moment ihrer Existenz lebt die sichtbare Gesellschaft von ihrer unsichtbaren überzeitlichen Gemeinschaftlichkeit« (GGdG 150; 154). In ihr ist die All-Einheit des Seins konkret. Das bedeutet, daß jedes Individuum, wo immer (und solange) es mit einem anderen zum Wir vereint ist, es auch mit dem Ganzen, dem »Geisterreich«, auf besondere Weise eins ist. Aber auch umgekehrt gilt: »Die Einheit des Wir ist innerlich in jedem Ich anwesend, ist die innere Grundlage des Lebens eines jeden Ich«. In der geistigen Seinseinheit konkurrieren nicht die Einheit des Ganzen und die Selbständigkeit jedes seiner Teile mit einander, sie ist »freies Leben« (GGdG 150–151). Es wäre ein gefährlicher Irrtum, die freie Gemeinschaftlichkeit mit einer objektiv existenten Gesellschaft zu identifizieren. Frank weiß, daß die Gemeinschaftlichkeit nur in einer strukturierten Gesellschaftlichkeit zum Ausdruck kommen kann, welche die Freiheit der einzelnen Glieder unweigerlich normiert und sogar dazu tendieren kann, sie zu beseitigen. In welchem Sinne nach Frank die Gemeinschaftlichkeit der »Kern« jeder Vergesellschaftung ist, muß noch gezeigt werden.

5.

Das Wir-Sein ist grenzenlos, berzeitlich, berindividuell

Als Seinseinheit ist die Wir-Einheit potentiell grenzenlos – sie kann letztlich alle Seienden umfassen. Dem hl. Franz von Assisi war »auf 17 S. L. Frank: Religioznyja osvnovy obs ˇ cˇestvennosti, in: Put’, September 1925, Nr. 1, S. 12 f.

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

der höchsten Stufe der geistigen Entwicklung« diese Wir-Einheit alles Seienden bewußt geworden: Nicht nur mit den Menschen, auch mit den Tieren und mit den Dingen, selbst mit dem Tod wußte er sich brüderlich verbunden (GGdG 136; DU 235). Die Wir-Einheit als Seinseinheit ist auch überzeitlich und überindividuell. Diese Eigenschaften verweisen nochmals auf ihre geistige Seinsweise, die nicht mit ihrem psychischen Erleben (und, selbstverständlich, nicht mit ihrer gesellschaftlichen Verkörperung in einer Freundschaft, Ehe oder in einer konkreten Gesellschaft) verwechselt werden darf. Äußere Ereignisse, etwa ein Eheversprechen, eine Vereins- oder Staatsgründung können den Anstoß zur Bildung einer Wir-Einheit geben und ihren Beginn markieren. Diese Ereignisse sind bald vergangen; das Wir-Sein, die Seinseinheit, aber bleibt Gegenwart. Die Realität einer Ehe, einer Freundschaft, einer Familie, des Staates usw. ist unabhängig davon, ob ihre Glieder aktuell sich ihrer bewußt sind. Das Zusammentreffen mit den anderen Gliedern kann die Einheit bewußt erleben lassen; dieses aktuelle Erleben oder Bewußtsein ist aber nicht die Einheit selbst. Was im Denken sich abspielt oder psychisch erlebt wird, ist ein zeitlich beschränktes Geschehen und gehört nur dem einzelnen Menschen an. Sozialpsychologische Vorgänge sind, so Frank, nur eine besondere Weise der individualpsychologischen. Überzeitlichkeit bedeutet andererseits nicht, daß das Wir-Sein vom Willen seiner Glieder unabhängig wäre. Wie im Menschen das seelische Sein mit seinem Leib eins ist, bis diese Einheit durch den Tod getrennt wird, so können auch gesellschaftliche Einheiten zu bestehen aufhören. Selbst der Staat ist davon nicht ausgenommen, wie Frank mit einem Blick auf den Untergang des Zarenreiches in den Revolutionen von 1917 bemerkt. Das oft verzweifelte Bemühen, den Bestand einer Freundschaft oder Ehe zu erhalten, wenn ihre äußere gesellschaftliche Einheit im Zerfall begriffen ist, zeigt, daß ihre geistige Realität nicht identisch ist mit ihrer äußeren physischen Existenz, daß sie diese vielmehr noch eine gewisse Zeit überdauern kann. Auch in der kulturellen Tradition eines Volkes, zumal in seiner Sprache, lebt eine überindividuelle, die Zeit übergreifende reale geistige Einheit. So wenig das geistige Wir-Sein mit den hirnorganischen Vorgängen verwechselt werden darf, so wenig auch mit den stofflichen Elementen, die für die Kultur eines Volks und einer Gesellschaft unentbehrlich sind. Die geistige Realität ist keine objektivierbare Wirklichkeit für sich; sie ist in den äußeren kulturellen Gegebenheiten. Ganz verfehlt wäre es deshalb, das geistige Sein als eine 118 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der ontologische Vorrang der Einheit vor der Vielfalt

Art grenzenlosen Äther zu verstehen, der über der gegenständlichen Wirklichkeit schwebt.

6.

Der ontologische Vorrang der Einheit vor der Vielfalt

Das individuelle, unmittelbare Selbstsein hat seine »Wurzel« in der geistigen Einheit des Wir; diese ist ontologisch früher als jenes. Auch die sichtbare Gesellschaft ist nur kraft dieser vorgängigen Wir-Einheit: »Das ›Wir‹ als äußerlich sichtbare Gemeinschaft oder Gesellschaft, als Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren Menschen – die Gesellschaft, die mich ›umgibt‹ und zu der ich gleichsam nur äußerlich ›gehöre‹, – ist nur die äußere Manifestation und Abbildung des ›Wir‹, in dem ich auf die Weise existiere, daß es in mir ist, oder vielmehr, daß es die ursprüngliche innere Grundlage des ›Ich bin‹ selber ist« (DU 258). Frank ist sich bewußt, daß die Wir-Philosophie, sobald die strikt geistige (oder ontologische) Seinsweise des Wir verkannt wird, zur Rechtfertigung eines kollektivistischen Gesellschaftsideals mißbraucht werden kann. Er sieht diese Gefahr in der »utopisch-romantischen« Weltanschauung der Slawophilen durchaus gegeben. 18 Der Vorwurf ist denn nicht ausgeblieben, in seiner Philosophie der AllEinheit verliere das Individuum das Recht auf Selbstbestimmung. Die All-Einheit des Seins, die der Angelpunkt von Franks Philosophie ist, kann in der Tat, sobald sie mißverstanden wird, zum wunden Punkt werden. Deshalb ist es angebracht, auf diesen Vorwurf einzugehen In seinen Ausführungen zur Funktion der Grenze hatte Frank festgestellt, daß der Begriff des »meinigen« nur gebildet werden kann, weil ich auch, was jenseits des »meinen« liegt, »habe«; ich »habe« dieses Jenseitige genauso ursprünglich wie das unmittelbar meinige, wenngleich auf andere Weise. Obwohl es außerhalb meiner bleibt, gehört es doch konstitutiv zu meinem Selbstsein. Im personalen Wir, zu dem ich selber gehöre, erfahre ich das Transzendieren meiner Begrenzung und die Einheit mit dem Du-sein unmittelbar als lebendige wechselseitige Beziehung. Ich erlebe, »daß ich auch da bin, wo ich nicht selber bin, – daß mein eigenes Sein auf meiner

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S. Frank: Die russische Weltanschauung. A. a. O. S. 22.

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

Teilhabe am Sein, das nicht meines ist, beruht, – daß ich selbst bin im ›du bist‹« (DU 258). Das für das Selbstsein konstitutive Ausgreifen auf das jenseits des Eigenen liegende Andere bedeutet, daß »das ›Ich-bin‹ entgegen der gewöhnlichen Anschauung keineswegs die ursprüngliche, adäquate und allumfassende Form des ›inneren Seins‹, des unmittelbaren Selbstseins, ist, sondern nur als abgeleitetes Teilmoment der tieferen und ursprünglicheren Offenbarung der Realität als eines Wir-Seins anzusehen ist« (DU 257). Frank behauptet also, daß Ich als unterschiedenes Einzelnes nur sein kann, weil ich an einem unendlichen Sein teilhabe, an dem auch das Du teilhat: Ich und Du können nur sein, weil ihnen eine »höhere, sie umgreifende Einheit« – das Wir-Sein – vorausgeht (vgl. GGdG 137). Frank bezeichnet die Einheit im Wir mit dem Cusanischen Begriff als coincidentia oppositorum (z. B. DU 257; RM 181, 201). Ob der Vorwurf, in der All-Einheit werde das Einzelne vom Ganzen »verschlungen«, gerechtfertigt ist, hängt davon ab, wie die »Koinzidenz« verstanden wird. Frank besteht darauf, daß die Einheit des Wir eine originäre Seinsinstanz ist. Darum ist sie nicht von unten, von den Einzelnen her gedacht; die Wir-Einheit ist nicht die Summe von Ich und Du. Wäre sie nur das Ergebnis einer Addition, so bliebe sie den Gliedern äußerlich. Die Einheit ist mehr als nur eine Klammer, welche das Viele zusammenhält. Bedeutet sie also eine Vermischung, in der die Glieder ihres Selbststandes beraubt und zu bloßem Schein herabgesetzt sind? Was mit dem »Zusammenfall« von Ich und Du im Wir gemeint ist, zeigt die phänomenologische Analyse. In der Du-Begegnung dringt die Realität des anderen als anderen in mich ein und wird von mir auf Grund dieses Eindringens erlebt. Ich erlebe das Du als eine andere Realität, und indem ich sie erlebe, wird sie ein Teil meines Selbstseins. Das Wir steht dem Ich nicht gegenüber; es ist die »Einheit des Seins ›in mir‹ und ›außer mir‹« und als solche der »innere Grund meiner eigenen Existenz – meines Ich«. Nur so ist das Wir die »Wurzel« von Ich und Du, in welcher die Gegensätzlichkeit zwischen diesen beiden »überwunden ist – und doch gewahrt bleibt«, wie Frank sofort hinzufügt (DU 257). Mit anderen Worten: In der »coincidentia« werden die »opposita« nicht aufgelöst oder vermischt, sondern bleiben als solche erhalten. Der Vollzug dieses Widerspruchs ist nur möglich, weil es der Vollzug einer geistigen Einheit und nicht der von gegenständlichen Größen ist. Denn das Wir-Sein ebenso wie 120 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der ontologische Vorrang der Einheit vor der Vielfalt

das Selbstsein, ist gegenständlicher Erkenntnis unzugänglich. Es ist nur als erlebte, sich selber offenbarende Realität gegeben. Franks Ausführungen zur Gemeinschaftlichkeit sind nicht Ergebnis empirisch-sozialer oder sozial-psychologischer Untersuchungen. Als »konkrete All-Einheit« durchdringt das Sein als Ganzes jedes seiner Teile; es ist als solches ein »lebendiges Sein« oder, wie Frank wiederholt gegen den zeitgenössischen Existentialismus sagt, ein »Geisterreich«. Dieses Ganze ist kein gegenständliches Seiendes – als solches würde es das Einzelne tatsächlich »verschlingen«. Kein Ich ist ein »in sich geschlossenes isoliertes Sein« (und in diesem Sinne »Substanz«), es ist »ein als Ich-Du-Sein sich vollziehendes Sein«. Es wird überhaupt erst zum Ich, »verwirklicht sich selber erst im Hinausgehen über sich selbst, im Transzendieren zum Du«. »Das Geisterreich besteht eben darin, daß das Eine immer für das Andere, im Anderen – über sich hinaustretend – existiert, sich nur behauptet, indem es sich selbst um eines anderen willen verläßt« (DU 250, vgl. RM 186, 205). Franks »Wir-Einheit« ist darum etwas völlig anderes als das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« im Marxschen Verständnis. 19 Hier wird das spirituelle Motiv sichtbar, das Frank bewegt. Es geht darum, den Individualismus durch einen Humanismus zu überwinden, der sich bewußt ist, daß die Liebe zum Nächsten kein letztlich beliebiges Sentiment ist, sondern von der Realität selber gefordert ist. Denn das »Grundprinzip« des Seins – das Zusammenfallen der Gegensätze –, vollendet sich »konkret-lebendig« als Liebe, in welcher der reale Unterschied (nicht der logische) zwischen dem einen und dem anderen überwunden ist und doch »die Gliederung und wechselseitig verbundene Vielgestalt des Seins in sich und für sich nicht beseitigt wird: sie bleibt erhalten, ja vollendet sich allererst in ihrer ganzen Fülle und Tiefe« (DU 255–256; Übers. geändert). 20 Das philosophische Denken ist ständig in Versuchung – bemerkt Frank in Die Realität und der Mensch –, die Realität monistisch oder 19 K. Marx: 6. These über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke Bd. 3, Berlin 1962, S. 6. – Marx war unter dem Einfluß von Feuerbachs Sensualismus außerstande, ein geistiges Sein zu denken. 20 In seiner späteren Schrift Mit uns ist Gott unterstreicht Frank nochmals, daß von »Liebe« nur gesprochen werden kann, wo dem Ich ein Du begegnet, nicht aber wenn im anderen dem Ich wieder das Ich entgegentritt (Frank sieht die Auflösung des Unterschieds von Ich und Du im buddhistischen tat twam asi). S. L. Frank: Mit uns ist Gott, Teil 2, Kapitel 5 »Die Religion der Liebe«.

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Das Transzendieren zum Du. Das Sein ist Wir-Sein

pluralistisch zu deuten, obwohl beide Auffassungen in ihrer Abstraktheit inkonsistent sind und Kompromisse erzwingen. So mußte Spinoza im Widerspruch zu seinem System doch die Vielfalt der Seienden anerkennen, die er dann »Attribute« der einen Substanz nannte. Und Leibniz konnte nicht umhin, seine pluralistische Seinslehre durch eine »Harmonie« zu ergänzen, weil ohne eine Beziehung zwischen den Monaden nicht einmal von Vielheit gesprochen werden konnte (RM 188). Das Wir enthüllt die Wesenseigenschaft des geistigen Seins: Es »hat zwei korrelierende Aspekte: Es ist die differenzierte Vielheit vieler individueller Bewußtseine und zugleich ihre unteilbare UrEinheit« (GGdG 137 f.). Diese Ur-Einheit – in Franks Ontologie die Bedingung für die Unterscheidung des Vielen – entspricht dem »transzendentalen Bewußtsein« in Kants Erkenntnistheorie, welches als einheitsstiftendes Prinzip die Bedingung jeglicher Wirklichkeitserfahrung ist. (Zu Franks »antinomischem Monodualismus« und der ihm entsprechenden docta ignorantia als dem Wissen des Seins s. u.).

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VI. Anschluß an Transzendentalphilosophie und Phnomenologie

Die »dogmatische« Metaphysik« (Frank folgt hier dem Urteil Kants) hatte naiv das Sein als möglichen Gegenstand des begreifenden Erkennens angenommen. Durch Kants Skeptizismus war die Aufgabe gestellt, sollte Philosophie das Sein überhaupt erreichen können, eine andere Weise zu suchen, ein Wissen vom Sein zu gewinnen. Frank hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg intensiv mit den Versuchen auseinandergesetzt, den Subjektivismus in der Erkenntnislehre zu überwinden. Die Erkenntnistheorie war, wie er feststellt, in eine Krise geraten. In ihren Stellungnahmen zu der von Kant aufgeworfenen Problematik haben Denker wie »Schuppe, Cohen, Rehmke und Husserl in verschiedenen Formen die allgemeine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß es keine Erkenntnistheorie als Erforschung der ›Erkenntnis‹ außerhalb einer Untersuchung ihres Gegenstandes gibt« (GdW 83 f.). »Cohen erklärt, daß ›Erkenntnistheorie eine unklare Bezeichnung‹ sei und ersetzt sie durch eine ›Logik der reinen Erkenntnis‹ ; einige seiner Schüler sprechen sogar von einer ›Logik des Seins‹. Schuppe vermischt die Gnoseologie mit der Logik und die Logik mit der Ontologie, Husserl ersetzt sie von Anfang an durch die ›Phänomenologie‹ und in seinen jüngsten Arbeiten – durch eine offene Ontologie«. 1 Die Versuche, die Erkenntnistheorie vom »Psychologismus« zu befreien, haben in der Vergangenheit dazu geführt, faßt Frank zusammen, sie als Wissenschaft, die sich von einer »Theorie des Seins« unterscheidet und ihr vorausgeht, zum Verschwinden zu bringen. Gegenwärtig sei das Bemühen darauf gerichtet, eine Philosophie zu schaffen, welche die Einheit von Wissen und Gegenstand umfaßt, »einerlei, ob wir sie nun als ›Phänomenologie‹, ›reine Logik‹, ›Grundlage der Wissenschaft‹ oder ›Ontologie‹ bezeichnen« (GdW

1 S. Frank: Krizis sovremennoj filosofii. Antrittsvorlesung 1916. In: Z ˇ ivoe znanie, Berlin 1923, S. 256.

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Anschluß an Transzendentalphilosophie und Phnomenologie

ebd.). Frank selber hält den aristotelischen Begriff »Erste Philosophie« für den geeignetsten, um die Frage nach dem Grund zu stellen, auf dem »die Unterscheidung zwischen Wissen und Gegenstand des Wissens überhaupt erst möglich wird«. Ausdrücklich bestätigt er bei der Entwicklung seiner eigenen Auffassung »Berührungspunkte« mit der zeitgenössischen deutschen Philosophie und durch sie vermittelt mit dem »klassischen deutschen Idealismus«. Die von Frank hervorgehobene Nähe zu Bergson und »einigen Strömungen der russischen Philosophie« weist auf das Motiv hin, das W. James mit dem methodischen Prinzip des »radikalen Empirismus« verfolgt hatte. Denn von Anfang an ist Franks Interesse an der Erkenntnistheorie auf die Begründung einer Anthropologie gerichtet, die keine bloße Naturwissenschaft ist, sondern den Menschen als besondere Realisierung des Seins versteht.

1.

Kritischer Anschluß an Kant

Obwohl ausdrückliche Kommentare Franks zu Kant selten sind, läßt sich doch zeigen, wie Kants Denken für ihn zur fruchtbaren Herausforderung wurde. Der Realität »an sich« können wir uns, wie Kant gemeint hatte, weder theoretisch noch mittels intellektueller Anschauung vergewissern, aber es sei doch möglich, sie in unserem sittlichen Bewußtsein zu erreichen. Das Bewußtsein, vom Sittengesetz unbedingt gefordert zu sein und ihm frei folgen zu können, hatte Kant ein »Faktum« genannt, das »sich für sich selbst uns aufdringt«, sobald wir unserer Vernunft inne werden. Kant rekurrierte damit auf eine Erfahrung, die weder sinnlich noch psychisch genannt werden kann. 2 Diese Erfahrung bedurfte, wie Frank sah, unbedingt der weiteren Klärung. Auch in seiner »Kritik der Urteilskraft« hatte Kant die Möglichkeit eingeräumt, im künstlerischen Schaffen mit dem »Gefühl« etwas zu erfassen und in der künstlerischen »Vorstellung« zum Ausdruck zu bringen, was für die begriffliche Sprache der Philosophie »unnennbar« bleibt. Die schöpferische künstlerische Gestaltungskraft (Kant nannte sie »produktives Erkenntnisvermögen« oder »Einbildungskraft«) vermag eine »Vorstellung« zu schaffen, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Ge-

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I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 55 (Originalausgabe).

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Kritischer Anschluß an Kant

danke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann«. 3 Die Formkraft des Künstlers versetzt die Vernunft »in Bewegung«, über das hinauszugehen, was begrifflich »in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann«. Der »Begriff« wird so »auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert«. Die bildlichen Symbole, durch die der Künstler etwa einen religiösen Gegenstand sinnbildlich darstellt, geben »der Einbildungskraft einen Schwung« und können dazu anregen, »mehr dabei, obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke, zusammenfassen läßt«. 4 Die künstlerische Einbildungskraft trägt »indirekt also doch auch zu Erkenntnissen« bei. 5 Sie »belebt« das Erkenntnisvermögen, ja noch mehr, sie verbindet »mit der Sprache als totem Buchstaben Geist«. 6 Auch hier hatte Kant eine Realitätserfahrung angenommen, sie ontologisch aber gleichsam in der Luft hängen lassen. Über Kant hinausgehend sah Frank die Möglichkeit, gerade in der Erfahrung des sittlichen Sollens und in der Erfahrung des Schönen das Sein geistig zu »berühren«, weil der menschliche Geist selber zur Sphäre des Seins gehört. Die eigentliche Auseinandersetzung mit Kant spielt sich aber auf dem Feld der Epistemologie und Ontologie ab. Franks »Gegenstand des Wissens« will den primären oder eigentlichen Gegenstand unserer Erkenntnis – das Sein – und die Weise, ihn zu erkennen, untersuchen. Es ist in seiner Intention und Anlage eine Auseinandersetzung mit Kants erkenntnistheoretischer Metaphysikkritik. Der Begriff »transzendental«, mit dem Frank sein eigenes Vorgehen charakterisiert (vor allem in seinen späteren Schriften, z. B. DU 168 f., vgl. GdW 489), zeigt an, daß er sich bewußt der Fragestellung Kants anschließt. Wie dieser fragt er nach den Bedingungen, welche im Subjekt vorgängig zu jedem Empfangen von Eindrücken liegen und die Gegenstandserkenntnis ermöglichen. Wie Kant verneint Frank die Möglichkeit, eine Metaphysik auf gegenständlich erkennbare materielle oder seelische Phänomene (und sei es ihre Summe als »Welt«) zu gründen: Er nimmt so mit

3 4 5 6

I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, A 192 f. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, A 195–196 (Hervorh.von mir, P. E.). I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, A 198. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, A 197 (Hervorh. von mir, P. E.).

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Anschluß an Transzendentalphilosophie und Phnomenologie

dem transzendentalen Denken das Anliegen des Kantischen Skeptizismus auf. Kants »kopernikanischer Wende« – nach der die Gegenstände »sich nach unserer Erkenntnis richten« müssen, so daß wir von ihnen »nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« 7 – folgt Frank freilich nicht, ohne deshalb auf die vorkantische rationalistische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt zurückzugehen. Franks epistemologische Position ist ideal-realistisch. In realistischer Hinsicht besagt sie, daß das gegenständlich Gegebene durch sich selbst bestimmt ist und im Erkennen »für uns« faßbar wird. Unsere Erkenntnis ist »wahr«, sofern unsere Begriffe mit der »an sich seienden Bestimmtheit« der gegenständlichen Wirklichkeit zusammenfallen (DU 71). Das ideale Moment in Franks Erkenntnislehre besteht in der Annahme eines »Überschusses«, der in jedem Objekt über das jeweils logisch-begrifflich Erkannte hinaus vorhanden ist. Würde unser Denken von restlos bestimmten Wissensinhalten ausgehen, könnte es überhaupt keinen Zusammenhang zu anderen Inhalten als begründet erkennen. Tatsächlich geht unser Erkennen aber nicht von einzelnen bestimmten Inhalten aus, an die sich Zusammenhänge erst anschließen. Es geht von »ganzheitlichen Komplexen oder Einheiten« aus, welche im Erkennen »in Inhalte, die untereinander zusammenhängen, zerlegt werden«. Als Bedingung dafür, daß das Subjekt Begriffsinhalte und Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen kann, muß ihm deshalb ein »ganzheitliches Bild des Seins« vorliegen, in dem es noch keine fixierten Inhalte und Zusammenhänge gibt, »sondern nur eine gewisse ganzheitliche kompakte Einheit« (DU 76). Jede Gliederung und das Begreifen ihrer Zusammenhänge stützt sich auf die »Anschauung« dieses »Bildes«, die einem »ursprünglichen Wissen« gleicht. Die transzendental gewußte Anwesenheit des Seins im gegenständlich Erkannten ermöglicht erst, wie Frank gegen Kant einwendet, immer tiefer in den Erkenntnisgegenstand einzudringen, ohne ihn wissensmäßig je erschöpfen zu können. Wir besitzen also zwei Weisen des Wissens: das transzendentale Wissen des Seins und das begriffliche Wissen des Gegenstandes. Letzteres beruht auf dem ersten und bringt es abstrakt zum »Ausdruck«. Es ist ein Wissen sekundärer Art, das zum ursprünglichen Wissen des Seins nicht in der Beziehung logischer Identität, sondern in »metalogischer Entsprechung« steht, eben weil das Sein nicht logisch bestimmt werden kann (DU 82; 78 f.; 151 f.). 7

I. Kant: KdrV. B XVI; B XVIII.

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Kritischer Anschluß an Kant

Das Subjekt selber gehört beiden Seinsebenen an, die sein Wissen erreicht: jener der objektiven »Wirklichkeit« und zugleich dem Sein mit seiner unerschöpflichen Fülle. Indem das unbedingte Sein sich im Subjekt mit den zu ihm gehörenden Momenten des »Habens« und »Besitzens« enthüllt, ist überhaupt die Bedingung erfüllt, bestimmte Wissensinhalte »haben« zu können. Das eigene »BinSein« ist keine abgeschlossene und sich genügende Seinssphäre, vielmehr ist »in jedem ›ich bin‹ eo ipso unmittelbar auch das ›es ist‹ (nämlich das Sein des Objekts) als zweites korrelatives Moment des Seins gegeben – nicht meines Seins, sondern des allumfassenden Seins überhaupt«. Dieses Sein ist immer in uns, unabhängig davon, auf welchen abgegrenzten Gegenstand unser aktuelles Erkennen gerichtet ist, weil »wir selbst in ihm sind […] und uns unserer selbst nur durch seine eigene Selbstenthüllung in uns bewußt werden« (DU 146). Keineswegs wird in Franks »lebendigem Wissen« die »Anschauung des Subjekts als Objekt« versucht, die Kant als Trugschluß zurückgewiesen hatte. 8 Die Erkenntnisstruktur des Subjekts ist für Frank nicht vom Sein geschieden, das er vielmehr als lebendiges »Licht« versteht, welches die »Urbegründung« jeder Evidenz ist und Erkennen überhaupt erst ermöglicht (vgl. DU 332). Damit ist der grundlegende Mangel genannt, den Frank in Kants Erkenntnislehre sieht. Er hat die »unklare Vermengung des ›Subjekts‹ als konkretes erkennendes Wesen, als Mensch, mit der Potenz des Erkennens« zur Folge. Für Frank aber ist das Erkennen eine der Realität im menschlichen Verstand »zugehörige Potenz«. Denken bedeutet darum, entgegen Kants Auffassung, »ein Sich-in-der-Realität-selber-Orientieren«. Daraus ergibt sich daß »die ›transzendentale Logik‹ eine Logik des Seins selber« ist und sich nicht darauf beschränken darf, die subjektiven (genauer: subjekthaften) Bedingungen des Denkens zu analysieren. Kant berücksichtigt auch nicht den Zusammenhang, in dem die formale Logik zur transzendentalen Logik steht. Nachdrücklich betont Frank, daß die formalen logischen Prinzipien für die Konstituierung der Gegenständlichkeit »von grundlegender Bedeutung« sind. Die transzendentale Frage, die sich auf die Bedingungen der Gegenständlichkeit richtet, muß deshalb »die Besinnung auf die Prinzipien

Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 399 ff. über die »Paralogismen« der Vernunft.

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Anschluß an Transzendentalphilosophie und Phnomenologie

der Rationalität« einschließen. Daraus ergibt sich die für Frank zentrale Feststellung: Transzendentale Besinnung bedeutet eben, »die Grenzen dessen zu transzendieren, worauf man sich besinnt« – die »Grenzen der Rationalität« selber (DU 169–172). 9

2.

Fichtes »intellektuelle Anschauung«

J. G. Fichtes Philosophie hat Franks Denkweg von seinem Beginn an begleitet und befruchtet. Sie hat offensichtlich auch dazu beigetragen, daß Frank das transzendentale Denken als »verstehendes Erleben« oder »lebendiges Wissen«, d. h. im Sinne einer transzendentalen Erfahrung verstand. In seinem »Anhang zur Geschichte des ontologischen Beweises« hat Frank die Wissenschaftslehre von 1804 und Die Anweisung zum seligen Leben von 1806, in denen Fichte nach langem Ringen seiner Philosophie die vollendete Gestalt gegeben hatte, anerkennend gewürdigt. Fichte sei hier die Entdeckung »des profunden Gedankens« gelungen, welcher schon der Einsicht Descartes’ zugrunde lag, den dieser aber »nicht nur nicht klar ausgedrückt, sondern auch nicht zu Ende gedacht« hatte, nämlich die Einsicht, daß das absolute Sein »nicht Subjekt und nicht Objekt, nicht Denken und nicht gedachtes Sein ist, sondern reines sich selbst durchsichtiges und für sich seiendes Licht (= Vernunft), lebendiges Denken als Einheit des Seins von Denkendem und Gedachtem«. Fichte hat die »innere Einheit« der Selbstevidenz des Denkens, die im cartesischen cogito ergo sum ausgesagt ist, mit der Selbstevidenz des allumfassenden Seins verstanden. Die vom späten Fichte immer wieder betonte Unmittelbarkeit, mit der das absolute Sein in uns erfahren wird, war für Franks »verstehendes Erleben« und »lebendiges Wissen« eine wichtige Anregung. Wie Frank wußte, hatte Fichte in seiner Anweisung zum seligen Leben geschrieben, daß »auf dem Standpunkte der Religion« die Erkenntnis gewonnen wird, daß »die Erscheinung des inneren Wesens Gottes, in uns, als dem Lichte, unmittelbar […], – sein Ausdruck, und sein Bild, durchaus und schlechthin, und ohne allen Ab-

Daß Kant den ontologischen Gehalt seiner eigenen Einsichten nicht ausgeschöpft hat, zeigt auch J. B. Lotz: Transzendentale Erfahrung. Freiburg 1978, S. 23 f.

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Fichtes »intellektuelle Anschauung«

zug, also wie sein inneres Wesen herauszutreten vermag wie in einem Bilde«. 10 Gott tritt »in seinem wirklichen, wahren und unmittelbaren Leben in uns ein; oder strenger ausgedrückt, wir selbst sind dieses sein unmittelbares Leben« (vgl. GdW 511). Und weiter heißt es in Fichtes Anweisung: Im wahren religiösen Lebensvollzug schwinden die Verhüllungen, »die Gottheit selbst tritt wieder in dich ein, in ihrer ersten und ursprünglichen Form als Leben, als dein eignes Leben, das du leben sollst und leben wirst«. Religiöses Leben wird von Fichte nicht als ein »das rationale Wissen begleitendes Gefühl« verstanden, sondern als eine »Reflexion«, die mit dem göttlichen Leben im Menschen selbst gegeben ist: Gott ist das, »was der ihm Ergebene und von ihm Begeisterte tut«. 11 Zugleich konnte Frank erkennen, wie Fichte die pantheistische Vermischung (die in den Schriften vor 1800 durchaus anzutreffen ist) überwand. »Jenes unser Sein in Gott, ohnerachtet es in der Wurzel immer das unsrige sein mag, [bleibt] uns dennoch ewig – fremd, und so, in der Tat und Wahrheit, für uns selbst nicht unser Sein«. Wichtiger noch ist die Begründung dafür in der »Wissenschaftslehre« von 1812: »Gott macht sich nicht unmittelbar zum Erscheinenden, sondern nur mittelbar in und vermöge der Freiheit der Erscheinung […]. Er kann erscheinen nur in einem Freien«. 12 Fichte hat die Bahn für Franks eigenen Denkweg geebnet. Nicht ohne Sympathie nimmt Frank die »lange geistige Entwicklung« und »das tiefe Nachdenken« zur Kenntnis, mit dem Fichte seine Einsichten gewonnen hat, aber auch »die außergewöhnliche Kompliziertheit« seines Denkens (GdW 514). Beide Philosophen wissen, daß nicht die »wissenschaftliche Philosophie« es ist, die Gott allererst erkennen läßt; sie reflektiert nur den Weg, den der »natürliche Wahrheitssinn« den Gottsucher bereits geführt hat. Auch Frank weiß wie Fichte, daß der Philosoph Gott nicht rational »beweisen«, daß er aber zum »Verstehen« dieser Wahrheit führen kann. 13

10 J. G. Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. Hamburg 2001, S. 81. 11 Ebd., S. 82. Vgl. S. 155. 12 J. G. Fichte: Wissenschaftslehre vorgetragen 1812. In: Nachgelassene Werke, herausgg. v. J. H. Fichte, Leipzig (ohne Jahr), Bd. 2. S. 382. 13 J. G. Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, S. 32. Vgl. DU 338.

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3.

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Zur Kenntnis genommen hat Frank auch die im 19. Jahrhundert entwickelten philosophischen Lebensbegriffe. Daß ihm der irrationalistische Zug in Bergsons, erst recht in Nietzsches Verständnis des Lebens fremd war, wurde bereits erwähnt. In epistemologischer Hinsicht steht ihm Wilhelm Diltheys Lebensbegriff näher. Dilthey fragt, wie die Realgeltung einer Erfahrung, in der uns der Sinngehalt eines literarischen Werkes aufgeht, begründet sei. Wir werden ihrer in einem ursprünglichen selbstevidenten Erleben inne, meint Dilthey, in dem die Selbstunterscheidung des Subjekts von den äußeren Ereignissen noch nicht vollzogen ist. Hier ist die Realität noch unmittelbar »für mich da«. Erst in der nachträglichen Reflexion, in der ich mir etwas als etwas vorstelle, setze ich es von mir ab. Dilthey schreibt über dieses Haben der Realität im Erleben: »Das Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist uns nicht gegeben, sondern die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeinem Sinne zugehörig unmittelbar habe. Erst im Denken wird es gegenständlich«. 14 Schon in seiner »Breslauer Ausarbeitung« (1880–1890) hatte Dilthey (von Schleiermacher angeregt) über die »Tatsache des Bewußtseins« geschrieben: »Es gibt ein Bewußtsein, welches nicht dem Subjekt des Bewußtseins einen Inhalt gegenüberstellt (vor-stellt), sondern in welchem ein Inhalt ohne jede Unterscheidung steht. In ihm sind dasjenige, welches seinen Inhalt bildet, und der Akt, in welchem das geschieht, gar nicht zweierlei. Das, was inne wird, ist nicht gesondert von dem, welches den Inhalt dieses Innewerdens ausmacht. Das, was den Inhalt des Bewußtseins bildet, ist von dem Bewußtsein selber nicht unterschieden«. 15 Was Dilthey unter der »Realität« versteht, die im Erleben »für mich da« ist, ist allerdings nicht die Realität, von der Frank spricht. Für Dilthey ist sie eine »Bewußtseinstatsache«, die ihren »Ausdruck« in einer Gestalt des objektiven Geistes findet. Zwar betont er, das Leben sei das Letztgegebene und »von innen Bekannte« und deshalb W. Dilthey: Fragmente zur Poetik (1907/1908). Gesammelte Schriften, Leipzig u. Berlin 1922 ff., Bd. VI (1924), S. 313. Hervorhebungen von mir, P. E. 15 W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. XIX (1982), S. 66. 14

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die »Grundtatsache« schlechthin, die »den Ausgangspunkt der Philosophie bilden« müsse. Zugleich aber heißt es, das Leben könne von der Vernunft nicht beurteilt werden, weil »die Wirklichkeit selbst in letzter Instanz nicht logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden« könne. 16 Dilthey hatte hier zwischen Leben und Vernunft eine Kluft aufgerissen, die Frank nicht anerkennen konnte. Das vorbegriffliche Erleben, wie Dilthey es verstand, ist deshalb nicht das lebendige Wissen im Sinne Franks. Ihm ging es um das im »Innewerden« enthaltene ontologische Moment, das Dilthey nicht sah. Für diesen war das »Erleben« ein psychischer Vorgang, der, wie sein durch begriffliche Artikulation gewonnener Ausdruck, ganz dem immanenten Weltzusammenhang in der Zeit angehört. Der ältere Dilthey konzentrierte sich folgerichtig auf diesen Ausdruck und untersuchte, wie er innerhalb des Geisteslebens hermeneutisch zu verstehen ist. Für Frank, wie er in einem deutsch geschriebenen Aufsatz 1929 offensichtlich auch im kritischen Blick auf Dilthey (und Bergson) betont, geschieht im »Erleben« ein »ständiges Transzendieren über das Einzelleben, oder – was dasselbe ist – ein Hineinwachsen« auch in das, »was außerhalb der Grenzen eines Einzelwesens als solchen liegt«. Das wissende Erleben ist »Erfahrung im tiefsten Sinn des Wortes, nicht als sinnlich-äußere Berührung des Seins, sondern als ein In-sich-haben und In-sich-erfassen seiner. Es ist deshalb möglich, weil wir vom Sein selber in seiner allumfassenden Einheit nicht geschieden sind«. »Erleben« heißt »das konkrete Leben, als Geschehen und Wirken […] in sich dadurch zu besitzen, daß man an ihm selber realiter teilnimmt. Zugleich aber ist Erleben als wissendes Erleben das Haben des Zeitlichen samt seinem zeitlosen Aspekt, im Lichte seiner zeitlosen Idee – mithin also das Haben der konkreten Inhaltsfülle des überzeitlichen Seins, als einer organischen Einheit von Zeitlosigkeit und Zeit, von Idee und Leben. 17 Von größter Bedeutung wurde für Frank das phänomenologische Denken. Schon in seiner Erkenntnislehre macht er auf die in dieser Denkrichtung enthaltene Intention aufmerksam, die Einheit von Denken und Sein neu zu begründen und so die Kantische Trennung zu überwinden. In der Abhandlung über Die Natur des seeW. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. VII, 359 + VIII, 174. S. Frank: Erkenntnis und Sein, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Bd. 18 (1929) S. 258 f. 16 17

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lischen Lebens, die Frank 1927 in Berlin verfaßt hatte, 18 wird sowohl der kritische Ausgang von Kant als auch das Interesse an einer »radikal empirischen« Anthropologie und Gotteslehre sichtbar. Wichtige Anstöße, um die Einheit von Person und Sache neu zu denken, gingen, so Frank, von F. v. Brentano aus, der schon 1874 in seinem Buch Psychologie vom empirischen Standpunkte auf die Bedeutung des Aktes aufmerksam gemacht hatte, mit dem das Bewußtsein sich aktiv, billigend oder zurückweisend, auf die Gegenstände richtet. Edmund Husserl hatte Brentanos Gedanken aufgenommen und zur »Phänomenologie« weiterentwickelt. In seinem Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/11) hatte Husserl den Erfahrungsbegriff auch auf die phänomenologische Wesensanalyse angewendet und diese eine »empirische Analyse« genannt. Frank unterstreicht, daß in diesem Denken die Trennung des Erlebens von den »Sachen« grundsätzlich überwunden ist, sofern das Subjekt durch die intentionalen Akte sich sinnhaft auf die Welt bezieht. »Im Erkennen, in Willensregungen, in Wertungen haben wir es nicht einfach mit einem Erleben zu tun, nicht mit irgendwelchem Material oder Inhalt des seelischen Lebens, sondern mit Akten, durch die gleichsam Verbindungen zwischen der Person und der Gegenstandswelt hergestellt werden«, die man »Sinnbeziehungen« nennen kann. Als Herausgeber der Logischen Untersuchungen in russischer Sprache war Frank mit Husserls Anliegen vertraut. In Der Gegenstand des Wissens (1915) hat er sich mit dem bis dahin erschienenen Werk auseinandergesetzt; noch in seiner Religionsphilosophie hat er es anerkennend erwähnt. Zweifellos hat ihn Husserls »phänomenologische Einstellung« beeinflußt. Ihr geht es darum, den Blick weg vom Wahrgenommenen »auf das Wahrnehmen zu richten, bzw. auf die Eigenheiten der Gegebenheitsweise des Wahrgenommenen«. 19 Diese »Einstellung« sucht die »immanente Wahrnehmung«, die in scharfer Unterscheidung zur »Dingwahrnehmung« eine »Erlebniswahrnehmung« ist, als »schlichtes Erschauen von etwas …«, und zwar in seiner phänomenalen Ganzheit, zu verstehen. Mit ihm habe ich »ein Absolutes, es hat keine Seiten, die sich bald so, bald so darS. L. Frank: O prirode dusˇevnoj zˇizni [Die Natur des seelischen Lebens], 1927 in Berlin verfaßt, veröffentlicht vom Sohn Vassili S. Frank in: Po tu storonu pravogo i levogo, Paris (YMCA) 1972, S. 155–239. Zitate S. 224–226 und 228. 19 E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). I. Halbbd. (Husserliana III/1). Den Haag 1976, S. 201. 18

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stellen« oder »abschatten« könnten. 20 Husserl nennt das Erschaute »intentionales Objekt«, das sich durch »Sinn« auszeichnet. »Sinn zu haben, bzw. etwas ›im Sinne zu haben‹ ist der Grundcharakter alles Bewußtseins, das darum nicht nur überhaupt Erlebnis, sondern sinnhabendes, ›noetisches‹ ist«. 21 Indem ich auf den unmittelbar gegebenen Bewußtseinsstrom »hinblicke und mich selbst dabei als das reine Subjekt dieses Lebens fasse […], sage ich schlechthin und notwendig: Ich bin, dieses Leben ist, Ich lebe: cogito«. 22 Das heißt, die »phänomenologische Einstellung«, in der von der »Dingwahrnehmung« ganz abgesehen wird, führt zur »immanenten Wahrnehmung« des Seins des Subjekts. Dieses erfaßt sich als »reines Subjekt« und erlebt sich selbst als einfach seiend. Das »absolute Sein des Immanenten« ist in seiner Gewißheit schlechterdings unbestreitbar. 23 Trotz der Nähe zu Husserls phänomenologischer Einstellung ist die Differenz nicht zu übersehen. Husserls »transzendentalen Idealismus«, in dem die Welt zum »Bewußtseinskorrelat« des Ich schrumpft, teilt Frank nicht. In seinem Aufsatz Zur Phänomenologie der sozialen Erscheinung, den er 1928 in dem angesehenen »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« veröffentlichte, stellt er fest, daß Husserls »Wesenswissenschaft«, die von jeder Realität und Tatsächlichkeit absieht, nicht fähig ist, das Wesen der sozialen Beziehung zu erfassen. Frank zufolge ist die Gemeinschaftlichkeit des Wir die Explikation des all-einen absoluten Seins; dabei bestreitet er (was Husserl postuliert), daß das Ich dem »Anderen« und der »Welt« wesenhaft vorangeht. Er betont die Gleichursprünglichkeit und Nichtzurückführbarkeit von Ich und Du zugleich mit der Notwendigkeit, sie als transrationale Einheit zu denken, um ihre unauflösliche Beziehung (die als Ich-Du-Begegnung eben nicht nur die Beziehung zu einem jeweils Anderen ist) und ihre unaufhebbare Differenz verstehen zu können. Frank vertritt entschieden eine ideal-realistische Position, weil er weiß, daß dort, wo die »Welt« idealistisch als durch das Ich konstituiert gedacht wird, der »Andere« nicht als Du, sondern nur als Fremd-Ich erreicht wird. 24 20 21 22 23 24

Ebd., S. 92. Ebd., S. 201. Ebd., S. 97. Ebd., S. 91; 96 f. S. Frank: Zur Phänomenologie der sozialen Erscheinung. In: Archiv für Sozialwissen-

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Von nicht geringer Bedeutung für Frank ist auch Max Schelers methodisches Vorgehen. »Wenigstens prinzipiell« sei durch Scheler »der Weg eröffnet, um das menschliche Leben in seiner konkreten Fülle und Lebendigkeit zu erforschen und zu begreifen«, bemerkt Frank in seinem Aufsatz über Die Natur des seelischen Lebens. 25 Schon in seiner Erkenntnislehre hatte er Scheler mit Bezug auf dessen grundlegendes Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913) als »sehr talentierten zeitgenössischen deutschen Autor« bezeichnet (GdW 305). Wie Frank hält auch Scheler es für ausgeschlossen, das Sein der Person vergegenständlichend begreifen zu können. In seinem frühen Hauptwerk schreibt er: »Ist aber schon ein Akt niemals Gegenstand, so ist erst recht niemals Gegenstand die in ihrem Aktvollzug lebende Person. Die einzige und ausschließliche Art ihrer Gegebenheit ist vielmehr allein ihr Aktvollzug selbst […] – ihr Aktvollzug, in dem lebend sie gleichzeitig sich erlebt«. Eine »psychologische Objektivierung« der Person wäre, so Scheler, gleichbedeutend mit ihrer »Entpersonalisierung«. 26 »Das Sein des echten Aktes besteht in seinem Vollzug, und er ist eben darin absolut – nicht relativ – vom Begriff des Gegenstandes verschieden«. Was hier »Reflexion« heißt, »ist allein ein Mitschweben des völlig unqualifizierten ›Bewußtseins von‹ mit dem sich vollziehenden Akt«. 27 Der phänomenologische Akt ist keine Wahrnehmung eines Geschehens als eines »dinglich gegebenen Etwas«; vielmehr ist die Aufmerksamkeit vom sinnlich vermittelten Gegenstand abzuwenden und auf das Vollzogenwerden des Aktes selbst zu richten. Schelers phänomenologische »Einstellung« ist dem »lebendigen Wissen« Franks sehr ähnlich. Scheler verwendet den Begriff »Mitschweben«, mit dem Frank das Wissen der Koinzidenz des Widersprüchlichen beschreibt. Doch darf nicht übersehen werden, daß Scheler in seiner Auffassung vom Sein sich von Frank erheblich unterscheidet. Schelers Interesse ist auf den Aktvollzug und dessen Zentrum, die Person, schaft und Sozialpolitik (Mohr, Tübingen 1928), Bd. 59, S.75–95. Zur Beziehung von Ich und Du bei Husserl und Buber vgl. M. Theunissen, Der Andere. Berlin 1981. 25 S. L. Frank, a. a. O. 26 M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Gesammelte Werke, Band II, S. 397, S. 484, vgl. auch S. 50 f. 27 M. Scheler: Idole der Selbsterkenntnis. II. Täuschung und innere Wahrnehmung«. In: Vom Umsturz der Werte. 1. Aufl. 1915, 3. Aufl. 1923. Gesammelte Werke, Band 3, S. 230 und 234.

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gerichtet. Das transzendierende absolute Sein, das die Person und jedes Phänomen, weil und sofern sie an ihm teil haben, erst sein läßt, bleibt ihm fern; den ontologischen Status des Personseins hat Scheler nicht geklärt. Die Beziehung Franks zu Martin Heidegger verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit, das 1927 erschienen war, bezeugen die Notizen, die Frank zur Vorbereitung eines Vortrags am »Russischen Wissenschaftlichen Institut« in Berlin niedergeschrieben hat; sie stammen etwa aus den Jahren 1931 bis 1933. 28 In Das Unergründliche (1939) wird der Begriff »Fundamentalontologie« mit Bezug auf die neuere philosophische Diskussion zustimmend erwähnt, nicht aber Heideggers Name. Von den wenigen ausdrücklichen Stellungnahmen, die Frank zu Heideggers frühem großen Werk abgegeben hat, sind die Bemerkungen in einem Brief vom 24. Juli 1942 an den Schweizer Psychiater und persönlichen Freund Ludwig Binswanger am ergiebigsten. In ihm hatte Frank auf Binswangers Buch Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins reagiert, das in jenem Jahr in Zürich erschienen war. Da Binswanger sich nach Franks Erachten zu sehr von Heidegger beeinflußt zeigte, begründete Frank seine Ablehnung von Gedanken Heideggers und betonte im Sinne seiner eigenen Philosophie, »daß das menschliche Dasein ein zweifaches Antlitz trägt – zugleich Tragik des In-der-Welt-Seins und Ruhe des Über-die-Welt-hinausSeins«. Heidegger aber verkenne das zweite Moment. Seine »Beschreibung des Wesens der Tragik ist ganz einseitig und willkürlich – ein krampfhaftes Erstarren in Verzweiflung«. Seine Philosophie sei deshalb »reiner Nihilismus«. Heideggers »Grund« sei kein wahrer Grund, auf dem man stehen könne: »Er ist so etwas wie ein Felsen, an dem man sich anklammert am Rande und angesichts des Abgrundes. Ich frage mich immer: wieso Angst – und nicht Vertrauen? Wieso soll Angst ein ›ontologisch‹ fundierter Zustand sein, und Vertrauen – schon eine vermaledeite ›Theologie‹ ? […] Wahrer Grund ist nur das, was weiter ist als meine eigene Existenz; wahrer Grund ist nur ›Heimat‹, Boden, ›Wir-Sein‹ und dgl.; alle Isolierung und Tragik findet statt schon im Rahmen dieses primären Grundes und hat deshalb 28 Vgl. N. Plotnikow: »Heidegger–Rezeption in Rußland: Semen L. Frank und Ludwig Binswanger. In: Daseinsanalyse. Zeitschrift f. phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie. 1994, H. 11. S. 119. Hier sind auch die Briefe Franks an Binswanger, 24. 07. 1942 und 30. 08. 1950, veröffentlicht, in denen Frank auf Heidegger zu sprechen kommt (s. u.).

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einen Ausweg. Schon ›Sorge‹ ist so etwas, wie ein Ausweg; Sorge selbst um mich selber ist schon vernünftige Überwindung der Not, um so mehr Sorge um Andere, die Ausdruck der Liebe ist. Auch ist ›Sein zum Grunde‹ nicht ein krampfhaft-heroisches Sich-zurückziehen auf sich selber, sondern im Gegenteil Selbstüberwindung, das Augustinische transcende te ipsum«. Heidegger verkenne auch »die wahre Quelle aller Tragik« des Seins, nämlich »das Dämonische, Böse, das Chaotische, Zerstörende«, das, was die Bibel »Sünde« nennt; »denn es ist Folge der Vereinzelung«. Dieses »Dämonische« ist »keine ›theologische‹, auch keine rein ›ethische‹ Idee, sondern der grundlegende ontologische Zug des menschlichen Daseins«. 29 Wie sehr Frank, ungeachtet seiner scharfen Kritik, den deutschen Philosophen schätzte, zeigt sein letzter Brief an Binswanger. Frank schrieb ihn am 30. August 1950, knapp vier Monate vor seinem Tode. Er hatte auf dem Krankenlager die Abhandlungen in Heideggers Holzwege gelesen und äußerte sich erfreut, »daß der größte deutsche Denker auf seinem eigenen Weg zum Ergebnis kommt, das als Grundintuition, gleichsam als Offenbarung mein ganzes Schaffen seit 40 Jahren leitet«. Frank beschloß seinen Abschiedsbrief an den Freund: »Sollte die europäische Kultur ihrer Vernichtung entgegengehen, so ist Heideggers letztes Buch ihr bestes Abschiedswort – freilich für diejenigen, die Ohren haben zu hören«. 30 Heideggers Humanismusbrief (1946) kannte Frank offensichtlich nicht. Mehr als die wenigen ausdrücklichen Bemerkungen Franks zu Heidegger verdient die ontologische Fragerichtung, die beide Denker verbindet, Aufmerksamkeit. Ob Frank einige seiner Überlegungen in seiner Religionsphilosophie und Anthropologie in direkter Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelt hat, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Sowenig auszuschließen ist, daß Frank sich von Heideggers Daseinsanalyse hat anregen lassen, so ist doch unbestreitbar, daß Frank auch dort, wo eine Nähe zu Heideggers Denken erkennbar wird, aus eigenem Ursprung denkt. Der Satz, mit dem Heidegger sein Seinsverständnis charakterisiert, könnte auch aus Franks Feder stammen: »Sein ist das transcendens schlechthin«. Das gilt auch für die Erläuterung zu diesem Satz: »Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche

29 30

Zitiert nach Plotnikow, a. a. O., S. 123. Zitiert nach Plotnikow, a. a. O., S. 126.

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seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus«. 31 Sowohl für Frank als auch für Heidegger ist Erschlossenheit von Sein »veritas transcendentalis«. 32 »Der Überstieg geschieht in Ganzheit und nie nur zuweilen und zuweilen nicht, etwa gar lediglich und zuerst als theoretisches Erfassen von Objekten. Mit dem Faktum des Da-seins ist vielmehr der Überstieg da«, heißt es ergänzend in Heideggers Schrift Vom Wesen des Grundes (1929). 33 Heidegger betont: »Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein. Welt macht die einheitliche Struktur der Transzendenz mit aus; als ihr zugehörig heißt der Weltbegriff ein transzendentaler. Mit diesem Terminus wird alles benannt, was wesenhaft zur Transzendenz gehört und seine innere Möglichkeit von ihr zu Lehen trägt«. »Zur Transzendenz gehört Welt als das, woraufhin der Überstieg geschieht«. 34 »Nur solange Dasein ist …, ›gibt es‹ Sein« 35 , hieß es schon in »Sein und Zeit«, und: »Sein ist jeweils das Sein eines Seienden«. 36 Heideggers nachdrückliche Mahnung, das Sein nicht doch als Seiendes zu verstehen und so wieder aus dem Blick zu verlieren, ist der Leitgedanke, unter dem auch Franks gesamte Philosophie steht. Beide begreifen die Seinsfrage als transzendentale Frage. Sie zielt auf die »apriorische Bedingung der Möglichkeit« dafür, daß überhaupt Seiendes sein kann: »Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis« 37 , – diese Einsicht Heideggers ist auch die Franks seit seiner Erkenntnislehre. Darum gilt auch für ihn, was Heidegger in seiner Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« (1927) schreibt: Die »transzendentale Wissenschaft vom Sein […] übersteigt das Seiende, um zum Sein zu gelangen«. Dabei »versteigt« sie sich aber »nicht wiederum zu einem Seienden, das etwa hinter dem bekannten Seienden läge als eine Hinterwelt« 38 . M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963, S. 38. Hervorheb. von Heidegger. Ebd., S. 38. Hervorheb. von Heidegger. 33 M. Heidegger: Vom Wesen des Grundes, 1929. In: Wegmarken. Frankfurt 2 1978, S. 139. 34 Ebd., S. 139. 35 M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963, S. 212. 36 Ebd, S. 9. 37 M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963, S. 11 und 38. 38 M. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung Sommersemester 1927, GA (Frankfurt 1975), Bd. 24, S. 23. 31 32

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Der A-Theismus, der in Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit unübersehbar ist, ist in der Aversion gegen ein Verständnis Gottes als »idealisiertes absolutes Subjekt« begründet. 39 Daß Frank nicht minder entschieden einen Gottesbegriff zurückweist, der Gott in der Art eines jenseitigen Subjekts denkt, das als causa prima oder als summum ens gleichsam an der Spitze einer Seins-Pyramide steht, kann durchaus auch durch Heideggers Kritik veranlaßt sein. Der tiefreichende Unterschied in der Seinsauffassung zwischen Frank und Heidegger ist, ungeachtet der Ähnlichkeit ihrer Formulierungen, nicht zu übersehen. Frank geht in Das Unergründliche von der Analyse des Selbstseins aus. Dieser Begriff scheint nicht ohne den Blick auf Heideggers »Dasein« gewählt; doch im »Selbstsein« ist mit dem Sein in der Zeit – anders als im »Dasein« – zugleich die zeitenthobene Ewigkeit des Absoluten gegenwärtig.

Zum Beispiel: »Die Behauptung ›ewiger Wahrheiten‹ ebenso wie die Vermengung der phänomenal gegründeten ›Idealität‹ des Daseins mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den noch längst nicht ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik«. M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 229.

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VII. Zur Methode des Frankschen Denkens: »Lebendiges Wissen« – »Belehrtes Nichtwissen«

Jeder Versuch, das Sein rational-begrifflich zu denken, scheitert. »Was das rationale Denken zu fassen und zu ›verstehen‹ vermag, ist etwas Statisches und Unbewegliches. Denn für das Denken in Begriffen erscheint alles als außerzeitlicher ›Inhalt‹, als etwas Identisches, das, auf die Zeitebene projiziert, als unveränderlich und ruhend vorgestellt wird«, bemerkt Frank in Das Unergründliche (DU 99). Das Sein in seiner transzendierenden Dynamik kann nur verstehend erlebt werden. Aber auch im Transzendieren auf die unbegrenzte Realität bleibt das »lebendige Wissen« des Seins von seiner Herkunft geprägt: Es ist immer das Wissen eines konkreten Subjekts. Das Sein, das der Mensch im »lebendigen Wissen« haben kann, ist das unendliche Sein, das sich in seiner Fülle selbst offenbar ist – aber er hat es doch auf seine endliche Weise. Das Endliche ist vom Unendlichen weder geschieden, noch mit ihm vermischt. Wir finden das Absolute im Relativen. »Das Unergründliche scheint durch das Ergründliche hindurch, ist in ihm und mit ihm immanent gegeben und uns nur in dieser Form zugänglich, ja mehr noch: Nur in dieser Form ist es überhaupt sinnvoll zu denken« (DU 173). In diesem Kapitel sollen die methodischen Prinzipien der Seinserkenntnis, die für den religionsphilosophischen Aspekt von Franks Werk von fundamentaler Bedeutung sind, eigens zur Sprache kommen.

1.

Lebendiges Wissen

Das »lebendige Wissen« [zˇivoe znanie], das Frank auch als »verstehendes Erleben« [mysljasˇcˇee perezˇivanie] oder »Wissen-Erleben« [znanie-perezˇivanie] bezeichnet, ist die einzig mögliche Weise, das Sein nicht als zeitlosen Denkinhalt, sondern in seiner lebendigen Überzeitlichkeit zu »haben« und so zu »wissen«. Das Motto, das er 139 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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»Lebendiges Wissen« – »Belehrtes Nichtwissen«

dem letzten Kapitel seines Werks Der Gegenstand des Wissens vorangestellt hat, verweist auf Plotin als Quelle dieses Begriffs: »Das Leben dort ist Weisheit –  zw¼ sofffla – und eine Weisheit, die nicht durch Schlüsse beschafft wird, denn sie war immer als ganze da und in keinem Stücke unvollständig, daß sie erst eines Suchens bedürfte. Nein, diese Weisheit ist die Erste und stammt nicht von einer anderen her. Ihr Sein selber ist Weisheit«. 1 Außer Plotin nennt Frank noch mehrere andere Philosophen, die eine »Metaphysik des Lebens« vertreten, als Gewährsleute: Nikolaus von Kues, Leibniz, den späten Fichte und Schelling, ferner Jacobi und Goethe (GdW 426; 456). Der Nachweis des Seins als Bedingung der Möglichkeit jeglichen gegenständlichen Wissens macht den Inhalt des Werks von 1915 aus (vgl Kap. III, 1); wo immer das »ontologische Argument« zur Sprache kommt, wird unter spezifischer Rücksicht auch dieser Nachweis aufgenommen. Das »lebendige Wissen« des Seins ist nicht das Wissen von einem Gegenstand – vielmehr ist es ein überzeitliches Wissen im Sein. Frank hat dieses Moment, das für das Wissen Gottes von großer Bedeutung ist, ausgehend von einer wissenschaftstheoretischen Frage, die schon Leibniz aufgeworfen hatte, deutlich gemacht. Wie ist der Zusammenhang zu verstehen, der zwischen allgemeinen, zeitlosen logischen Notwendigkeitsurteilen (vérités éternelles) und den Einzeltatsachen (vérités de fait) besteht, in denen sich die Notwendigkeit realisiert? Zu den ersten gehören z. B. Naturgesetze, die in dem Urteil ausgesagt sind: Wenn die Bedingung A erfüllt ist, dann folgt notwendig das Ereignis B. Frank betont, daß zwischen den beiden »Wahrheiten« ein realer Zusammenhang besteht, kein logischer. Diesen realen Zusammenhang begrifflich widerspruchslos zu denken, ist jedoch nicht möglich. Denn sobald wir das reale zeitliche Faktum denken, haben wir statt seiner nur noch einen zeitlosen Begriff und damit eine »ewige Wahrheit« – genauso wie bei anderen Denkinhalten. Auf der Ebene des Denkens bleibt es unerklärlich, wie eine reale zeitliche Einzeltatsache mit allgemeinen zeitlosen Naturgesetzen notwendig verbunden sein kann, denn auf dieser Ebene schließen sie einander logisch aus (GdW 446). So ist es nicht verwunderlich, daß Hume und andere Empiristen, die das zeitlich Einzelne als die alleinige wahre Realität ansahen, den Kausalzusammenhang Plotin: Enneaden V, 8, 4. Siehe Plotins Schriften, Bd. IIIa, Hamburg 1964. (Übersetzung R. Harder). Frank zitiert griechisch.

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Lebendiges Wissen

für nicht rational begründbar hielten. In der Tat, so schreibt Frank, ist der Begriff des Kausalzusammenhangs für ein Denken, »das auf zeitloses und zeitliches Sein wie auf zwei einander entgegengesetzte Denkinhalte je für sich gerichtet ist, unbegreiflich«. Humes Behauptung, es sei nicht möglich, in der Selbstbeobachtung einen Kausalzusammenhang wahrzunehmen, hat eben zur Voraussetzung, daß er darunter die Wahrnehmung verschiedener abstrakter Inhalte versteht. Erfahrungswissen haben bedeutet bei ihm, »eine individuelle Tatsache in einem Urteil, in Form einer zeitlosen Verbindung von Begriffen auszudrücken, d. h. sie als besonderen Inhalt zu denken« (GdW 448). Tatsächlich aber handelt es sich um einen Zusammenhang im Sein, das als solches kein zeitloser Inhalt, sondern lebendig überzeitlich ist. Es kann als solches »niemals vollständig dem Denken allein gegeben sein, d. h. der Anschauung unter der Form der Zeitlosigkeit. Es ist nur einer solchen Anschauung zugänglich, die ihrem Gegenstand adäquat ist, die […] ein wirkliches Haben des Seins selbst in seiner Überzeitlichkeit ist« (GdW 447). Deshalb ist auch der Zusammenhang des Allgemeinen und Notwendigen mit dem Einzelnen nur einem Wissen faßbar, »das sich auf die Einheit beider bezieht, oder genauer, das diese Einheit hat und von ihr ausgeht« (ebd. 448), nicht aber dem reproduzierenden Wissen-Denken, das alles in einen zeitlosen Denkinhalt verwandelt. Das rationale begriffliche Wissen kann nicht die einzige Wissensform sein. Frank macht dazu auch auf die Erfahrung des eigenen Seins als Person aufmerksam: Ich erlebe hier eine »unmittelbare Einheit von Unveränderlichkeit und Veränderung«. Wenn ich mir der Einzeltatsachen meines Lebens bewußt werde, habe ich sie nicht als bloß zeitliche Denkinhalte in der Weise isolierter Ereignisse, sondern als »Inhalte, die unmittelbar aus der Realität meines Ich als Ganzen hervorgehen und seine Notwendigkeit teilen«. Ich kann die Notwendigkeit erkennen, mit der ein Ereignis auf das andere folgt: Jeder einzelne Zustand wird mir als notwendig bewußt; ich begreife ihn »als unmittelbaren Ausdruck der Einheit des lebendigen Wesens meiner Person«. Hier gibt es keine Aufeinanderfolge in sich abgeschlossener Einzelheiten, sondern deren einheitliche Verbindung, »die als solche, und folglich auch in jedem ihrer einzelnen Momente, nichts anderes ist als die im Zeitstrom entfaltete einheitliche Manifestation unseres Wesens als solchen. […] Sofern ich diese Einheit unmittelbar habe, habe ich zugleich auch ihren Ausdruck in der zeit141 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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lichen Kette meiner besonderen Erlebnisse, und jedes von ihnen ist für mich ebenso notwendig wie auch mein Sein als ganze Realität« (GdW 450). Der reale Zusammenhang des Allgemeinen und Notwendigen mit den einzelnen zeitlichen Gegebenheiten ist in meinem Personsein nicht wie ein Denkinhalt vom erkennenden Subjekt unterschieden, sondern »ist in mir als sich selbst erkennendes Sein«. Deshalb können die einzelne Tatsachen meines Lebens von mir als abgeleiteter Ausdruck dieser Einheit, die mir selber »im denkenden Erleben unmittelbar gegeben ist«, verstanden werden. Mit anderen Worten: Die zeitumfassende Einheit des Personseins, die ihren Ausdruck in den individuellen Ereignissen und in der allgemeinen konstanten Gesetzmäßigkeit meines Lebens findet, ist nur meinem lebendigen Wissen zugänglich. Einen wichtigen Impuls für die Konzeption des »lebendigen Wissens« empfing Frank durch die vom philosophischen Personalismus neu bewußt gemachte Ich-Du-Beziehung. Das Sein der anderen Person wissen wir nicht als eine uns »gegenüberstehende transzendente Realität«, sondern so, daß es »in uns selbst gegenwärtig, von innen mit uns verwachsen ist und sich uns von innen eröffnet« (GGdG 167). Die geistige Einheit mit einem anderen Menschen ist nicht gegenständlich wahrnehmbar; wohl aber ist sie der eigenen »inneren geistigen Teilnahme und dem Miterleben« zugänglich. Besonders eindringlich erfahren wir diese Einheit in einer Liebesbeziehung. Das Wissen, das wir durch das Nachdenken über die konkrete Liebesbeziehung oder Freundschaft gewinnen, ist selbstverständlich ein gegenständliches Wissen, weil in ihm Sein und Wissen geschieden sind. In der aktuellen Liebes- oder Freundschaftsbeziehung aber ist das Sein dieser Beziehung vom Selbstbewußtsein des Liebenden nicht unterschieden; es ist ihm immanent. Das Glück, das Liebe oder Freundschaft schenken, geht in das Selbstsein ein und gehört zu ihm, auch dann, wenn es nicht gesonderter Gegenstand der Aufmerksamkeit ist. Ähnlich wird beim Hören eines musikalischen Kunstwerks die in einer Reihe von Einzeltakten enthaltene allgemeine Form »lebendig gewußt«, ohne daß diese Form auf abstrakte Weise als Denkinhalt gegenwärtig sein müßte. Wir kennen hier, bemerkt Frank, »unmittelbar nicht den abstrakten zeitlosen und daher passiven Inhalt, sondern die lebendige Realität und Wirksamkeit des Allgemeinen« (GdW 452). 2 Ein anderes Beispiel ist die verstehend erlebte Einheit 2

Dieser Hinweis auf das Allgemeine im Einzelnen erinnert an Dilthey: Dilthey schreibt

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mit der Natur, die ihrem begreifenden Erkennen als Objektzusammenhang vorausgeht. Frank nennt hierfür Künstler wie Leonardo da Vinci und Goethe (GdW 452). »Die spezifische Eigenart dieses lebendigen Wissens besteht gerade darin, daß in ihm der Gegensatz zwischen dem Gegenstand und dem Wissen über ihn verschwindet. Etwas zu wissen bedeutet in diesem Sinne nichts anderes als das zu sein, was man weiß, oder dessen eigenes Leben zu leben« (GdW 458). In einem Vortrag aus dem Jahr 1916, den Frank im Anschluß an seine Habilitation hielt, formuliert er es so: Durch das »lebendige Wissen wissen wir das Sein nicht als etwas uns Jenseitiges, vielmehr so, wie wir unsere eigene Existenz wissen, die wir haben. Wir wissen das Sein, weil wir selbst existieren, weil wir leben und dieser von selbst evidente Urgrund des Seins, den wir Leben nennen, in uns unmittelbar hervortritt« 3 . Gelegentlich hat Frank das lebendige Wissen auch als »mystisches Bewußtsein« bezeichnet. In formaler Hinsicht unterscheidet sich das »verstehende Erleben« der Verbundenheit in ehelicher Liebe nicht von der Erfahrung des Mystikers, mit Gott vereint zu sein. Wie in einer unio mystica sind Erkennender und Erkanntes eins – ohne ineinander zu verschwimmen. »Die Realität, die uns in dieser inneren mystischen Erfahrung gegeben ist«, schreibt Frank, »geht immer über die Entgegensetzung von ›subjektivem Leben‹ und der ihm äußeren ›Gegenstände‹ hinaus; sie ist nicht der äußeren Betrachtung zugänglich, sondern nur dem inneren lebendigen Wissen, in dem die Realität selbst sich in uns öffnet« (GGdG 168). Die Unterscheidung des Wissenden vom Gewußten bleibt auch in der unio mystica erhalten, denn selbst in der höchsten Erhebung seiner Seele, weiß der in seiner Abhandlung Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910): »Dieser Lebenszusammenhang ist nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit. Von dem Gegenwärtigen aus durchlaufen wir rückwärts eine Reihe von Erinnerungen bis dahin, wo unser kleines ungefestigtes, ungestaltetes Selbst sich in der Dämmerung verliert, und wir dringen vorwärts von dieser Gegenwart zu Möglichkeiten, die in ihr angelegt sind und vage, weitere Dimensionen annehmen. So entsteht ein wichtiges Resultat für den Zusammenhang der Geisteswissenschaften. Die Bestandteile, Regelmäßigkeiten, Beziehungen, welche die Anschauung des Lebensverlaufs konstituieren, sind allesamt im Leben selber enthalten; dem Wissen vom Lebensverlauf kommt derselbe Realitätscharakter zu wie dem vom Erlebnis«. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Leipzig u. Berlin 1922 ff., Band VII, S. 140. 3 S. L. Frank: Krizis sovremennoj filosofii, in: Russkaja Mysl’, Nr. 9 (1916), S. 33–40, abgedruckt in: Zˇivoe znanie, Berlin 1923, hier S. 262 f.

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Mystiker, daß er nicht Gott ist. Doch ist das Gewußte hier in einem ganz anderen Sinne Objekt als der Gegenstand eines distanziert forschenden Interesses. In seiner Anthropologie hat Frank Pascals Begriff des esprit de finesse aufgenommen. Dieser esprit vermag zu erfassen, was das »Herz« verstehend erlebt und so weiß. In Franks Deutung ist er auf die Erfahrung gerichtet, »in der sich uns die Realität von innen her durch unsere eigene Zugehörigkeit zu ihr offenbart«, also auf das, was er das »lebendige Wissen« nennt. In ihm kommt jene Seite der Vernunft zur Geltung, »kraft welcher sie Geschmeidigkeit, Formbarkeit, ›Feinheit‹ besitzt, d. h. die Fähigkeit, die Begriffe dem logisch undurchsichtigen, komplizierten, nur durch Erfahrung feststellbaren Seinsgehalt anzupassen«. Pascal hatte diese Weise des Verstehens dem Vernunftwissen des esprit géométrique gegenübergestellt, der, wie er in seinen Pensées ausführt, nur den idealen zeitlosen Gehalt des Seins begrifflich erfaßt und deshalb ungeeignet für die Gotteserkenntnis ist (vgl. RM 230 f.). Beim »lebendigen Wissen« geht es nicht um das Wissen solcher innerer seelischer Zustände oder Regungen, die wir objektivieren können und die auf diese Weise zum gegenständlichen Wissensmaterial werden wie andere Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis auch (vgl. GdW 452). Es geht um die Einheit des begrenzten Subjekts mit dem Sein, das ihm in einem bestimmten Seinsbereich in seiner Unbegrenztheit aufleuchtet. Das hier gewonnene Wissen ist, weil es nicht logisch bestimmt ist, nur in sehr eingeschränktem Sinne eine »Erkenntnis«. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Aufsatz von Franks Berliner Lehrer Georg Simmel aus dem Jahr 1914 über Henri Bergsons Verständnis der Intuition als eines »nicht begrifflich vermittelten Wissens«. »Es gehört zu Bergons originellsten Gedanken«, bemerkt Simmel, »daß der Instinkt nicht eine Vorstufe ist, aus der sich der Intellekt entwickelt, ebensowenig auch eine Nachfrucht des Intellekts, eine unbewußt gewordene Aufhäufung einzelner Erfahrungen der Gattung. […] Während der Verstand uns die Dinge dadurch erkennen läßt, daß er sie in Formen faßt und sie für sich sozusagen erst zurechtmacht, würde hier ein mit der Sache selbst zusammenfallendes Erschauen ihrer stattfinden – ein metaphysisches Ergreifen, kein wissenschaftliches, das von Bedingungen abhängt. Es ist das Wissen, das im Miterleben besteht, darin, daß wir uns aus der gewohnten Schematik des Denkens in die Strömung des 144 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Lebens selbst hineinversetzen, die das reale Werden der Dinge ist […]. Jene Mitwissenschaft, die eigentlich eine metaphysische Mitseinsschaft ist, nennt er die Intuition, die also nur die subjektive Seite der Strömungseinheit des Daseins ist«. 4 Ob Frank, als er 1914 in München und in Herrsching an seiner Wissenstheorie arbeitete, Simmels Aufsatz zur Kenntnis nahm, muß dahingestellt bleiben. Interessant ist, daß Simmel auf eine von Bergson nicht gelöste Problematik aufmerksam macht, die mit anderer Begründung auch Frank kritisieren wird. Der Instinkt ist Bergson zufolge, so bemerkt Simmel, »etwas Dunkles und Dumpfes«; er »kann nicht zum Bewußtsein heben, was er als Realität besitzt«. Das intuitive Wissen kann deshalb die »Distanz«, die das begriffliche Erkennen »zwischen Erkennendem und Erkanntem« setzt, nicht überwinden. Die »Identität des Seins« wird im intuitiven Wissen »wohl erstrebt, aber nicht erreicht«. Doch sei es das Verdienst der Lebensphilosophie, bemerkt Simmel zustimmend, den »tiefen Gedanken« geäußert zu haben, »daß das Leben nur vom Leben begriffen werden kann […]. Wir verstehen wirklich und von innen her nur das Lebendige, weil wir selbst lebendig sind«. 5 Auch Frank sieht – vom Standpunkt seiner Ontologie – den Mangel an Bergsons Lebensbegriff darin, daß er die »Distanz« nicht wahrhaft überbrücken kann, weil er die überzeitliche Einheit des Konstanten und des schöpferischen Werdens in der Ewigkeit nicht kennt. Diese Einheit bliebe freilich ein bloßer Begriff, würde man sie nur denken; wie sie »lebendig gewußt« werden kann, ohne zu einem zeitlosen Denkinhalt zu werden, zeigt Frank mit dem Cusanischen Belehrten Nichtwissen (GdW 393; 276 f. Fußnote). 6 G. Simmel: Henri Bergson. In: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Band II, hg. v. K. Latzel. Gesamtausgabe Band 13, Frankfurt (Suhrkamp), S. 67. Hervorheb. v. mir, P. E. 5 Ebd., S. 68. 6 Es ist bemerkenswert, daß auch der junge Heidegger das lebendige Vollzugswissen kennt. Unter dem Titel »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« zeigt er, daß das Leben im Geist, von dem der Apostel Paulus in seinen Briefen spricht, als Vollzugsoder Lebenswissen zu verstehen ist: »Paulus weist die Thessalonicher auf sich selbst zurück und auf das Wissen, das sie als Gewordene haben«. Heidegger kritisiert den Wissensbegriff, den die »heutige Psychologie und Erkenntnistheorie« entwickelt hat, welche die »Bewußtseinsphänomene sich vorgeben läßt«. Dagegen schreibt Heidegger: »Das Wissen ist immer dabei. Die Vollzugszusammenhänge selbst ihrem eigenen Sinn nach sind ein ›Wissen‹«. Und weiter: Der »Geist« (pneuma) »ist die Vollzugsgrundlage, aus der das Wissen selbst entspringt«. Die Befähigung, »alles zu beurteilen«, die Paulus 4

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2.

Auratische Beschreibung und »belehrtes Nichtwissen«

Das »lebendige« Seinsverstehen als solches kann, wie gezeigt wurde, in einem Urteil nicht adäquat ausgesagt werden. Ist jede Art von Mitteilung damit ausgeschlossen? Frank nennt zwei Weisen, sich dem Absoluten zu nähern und es auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, ohne den zum Scheitern verurteilten Versuch einer rationalen Bestimmung und Aneignung zu unternehmen. Beide Weisen machen das Sein als unbegreifbar gerade in dieser seiner Eigenschaft dem geistigen Blick zugänglich: Die auratische »Beschreibung« und das »Belehrte Nichtwissen«, in dem das »transzendentale Denken« sich vollendet. Die Beschäftigung mit der Poesie hatte Frank gezeigt, daß die Dichter auf ganz eigene Weise den Gehalt von etwas, das »unsagbar« ist, doch über das Medium des Wortes zu vermitteln vermögen. Ihnen – in erster Linie sind hier Puschkin, Goethe, Rilke, Tjutschew zu erwähnen – gelingt diese Vermittlung über die »Atmosphäre«, die sie mittels bestimmter Wortverbindungen schaffen können. Frank spricht von der »Aura«, die einem poetischen Wort eigen ist und über die mehr mitgeteilt werden kann als das mittels eines Begriffs innerhalb einer logischen Analyse möglich ist. Deshalb wäre es widersinnig, den Gehalt großer Lyrik in sachlicher Rede wiedergeben zu wollen, denn das lyrische Werk vermittelt vermöge des auratischen Gehalts seiner Worte und ihrer Verbindung wesentlich mehr als nur Sachwahrheiten. Das gilt, wie Frank feststellt, auch noch für die künstlerische Prosa; auch sie kann sich das »poetische Element« der Sprache, d. h. ihre überbegriffliche Ausdruckskraft, zunutze machen, indem sie die Wörter so miteinander verbindet, daß »ihre bloß rationale, abstrakte Bedeutung überwunden und die konkrete Realität gerade in dem Aspekt zum Ausdruck gelangt, in dem sie über den Begriff hinausgeht und sich prinzipiell von ihm unterscheidet« (RM 178). Wortkünstler wie L. Tolstoi und F. Dostojewski haben beispielhaft gezeigt, wie eine durch die Wortsetzung erzeugte Atmosphäre die Stimmung eines Romanhelden dem Leser lebendig vermitteln den Christen zubilligt, gründet im Besitz dieses »Geistes«. Es wäre deshalb falsch, den »Geist« (pneuma) »als einen Teil des Menschen anzusehen«; er bedeutet vielmehr eine wissende Lebenshaltung »in scharfem Gegensatz« zum »theoretischen Erkennen«. M. Heidegger: Vorlesung »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« (Wintersemester 1920/21). Gesamtausgabe, II, Band 60, Frankfurt 1995. S. 103, 123 f. Ferner S. 83. Vgl. 1. Kor. 2:15; 1. Thess. 5:21.

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kann. 7 Die dem Wort vom Künstler verliehene Aura kann den Begriff »auf unbegrenzte Art« atmosphärisch erweitern (so hatte Kant es in seiner »Kritik der Urteilskraft« formuliert 8 ) und mit dem sonst »toten Buchstaben Geist verbinden«; sie kann so bewußt machen, daß die eigentliche oder wahrhafte Realität (Platons ntw@ n) das Gegebene transzendiert. Was dem Schriftsteller möglich ist, kann grundsätzlich auch der Philosoph: die Bedeutungs- und damit die Seinsfülle eines Realitätsbereichs durch spezifische »Beschreibungen« seinen Lesern nahebringen. Man wird bei dieser Bemerkung Franks an manche Abschnitte aus Platons Dialogen denken dürfen, die in ihrer mythologischen Bildsprache den philosophischen Gehalt treffender zum Ausdruck bringen als das eine rational-begriffliche Analyse vermöchte. Doch besitzt der Philosoph mit der auf Nikolaus von Kues zurückgehenden Denkweise des »Belehrten Nichtwissens« noch eine eigene Methode, die Beschränktheit des begrifflichen Urteils zu überwinden. Ausführlich hat Frank mit dieser Denkweise sich bereits in seiner »Geschichte des ontologischen Gottesbeweises«, die er seiner Wissenslehre als Anhang angefügt hatte, und dann nochmals im erkenntnistheoretischen Teil seiner Religionsphilosophie befaßt (GdW 487–491; DU 154–184). Das bestimmte Seiende hat, wie ausgeführt wurde, das unbegrenzte Sein nicht neben sich, sondern ist von ihm durchdrungen, ohne mit ihm unterschiedslos zusammenzufallen. Das Konkrete ist endlich und – kraft des Seins, von dem es erfüllt ist – zugleich unendlich über sich hinausreichend. Die fundamentalen Beispiele für die rational unsagbare, aber lebendig wißbare »Einheit von Sonderung und Verschmelzung« sind die Einheit und Unterschiedenheit von Frank konnte bei dieser Einsicht auch an Ernst Cassirer anknüpfen. Dieser hatte in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« (1923) und ähnlich in seinem Aufsatz »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921– 1922) ausgeführt: »Das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt« (Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, S. 18). Für Cassirer ist die sprachliche Artikulation mehr als nur eine Geburtshelferin, die das »lebendig Erfahrene« ans Licht bringt. Mit der Formung gewinnt der Gedanke auch seine Existenz. Cassirers Symboltheorie unterscheidet sich jedoch durch die Ablehnung der Ontologie fundamental von Franks Theorie der Repräsentanz. 8 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, A 197. 7

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Mensch und Gott und, analog hierzu, die Einheit des personalen BinSein mit dem Du-Sein und Wir-Sein und ihre Unterschiedenheit. Um die intendierte Wahrheit annähernd ausdrücken zu können, müssen die logisch unvereinbaren Urteile (»Mensch und Gott sind eins« – »Mensch und Gott sind verschieden«) sich gegenseitig durchdringen und so metalogisch vereint werden. Frank nennt das Ergebnis »antinomischen Monodualismus«, präziser, eine »antinomische Zweieinheit« (DU 182). Sie besagt, daß wir uns der Wahrheit, die im Ineinsfallen zweier einander logisch sich ausschließender Urteile liegt und nicht mehr in einem begrifflichen Urteil ausgedrückt werden kann, nähern können, indem wir die Einheit im Widerspruch »mit einem einzigen geistigen Blick« in »beiden, einander entgegengesetzten Aspekten« erfassen (RM 181 f.). Diese Wahrheit, heißt es in Das Unergründliche, »drückt sich in einem unüberwindbaren, durch nichts mehr überbietbaren Schweben zwischen und über diesen beiden logisch unverbundenen und nicht verbindbaren Urteilen aus. Die transrationale Wahrheit liegt eben in der unausdrückbaren Mitte zwischen diesen beiden Urteilen, in ihrer unsagbaren Einheit, nicht aber in irgendeinem logisch fixierbaren Zusammenhang zwischen ihnen« (DU 179 9 ). Sie ist nur in einem »stummen Erleben« zu haben, in dem die Realität »sich selbst schweigend ausspricht« (DU 148). Das Wissen, das im »Schweben über« dem begrifflich bestimmten Denken gewonnen wird, ist darum von völlig anderer Art als die Erkenntnis durch die konjunktive Verknüpfung einander widersprechender logischer Urteile – etwa in der Form »Gott und Mensch sind sowohl eins als auch nicht eins«. Die einfache Feststellung, es handle sich um eine »antinomische Aussage« ist deshalb mißverständlich (vgl. DU 179, 182; ferner 373, 388/389, 392, 394, 397). Das Wissen im lebendigen Vollzug der Einheit, in dem das Subjekt mit dem Sein »zusammenfällt«, ohne sich mit ihm zu vermischen, ist, weil seines logisch gegenständlichen Nichtwissens bewußt, ein belehrtes Nichtwissen. Die Sprache kann den »Zusammenfall der Gegensätze«, auf den unser Geist trifft, wenn er sich dem Unergründlichen nähert, lediglich »abbilden«. Auf diese Weise kommt der unendliche Abstand des endlichen Subjekts, in dessen Selbstsein die Wahrheit des Seins aufscheint, gegenüber der unendlichen Fülle In der deutschen Übersetzung von Das Unergründliche heißt es unsinnig: »… Schweben zwischen und über diesen beiden logisch verbundenen und nicht verbindbaren Urteilen …« (DU 179). Vgl. S. L. Frank: Socˇinenija. Moskau 1990, S. 312.

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dieser Wahrheit zum Ausdruck. Sie kann nur in der demütig-bescheidenen Aussageweise des belehrten Nichtwissens verbalisiert werden. Das im »Schweben über« Erlebte und Verstandene ist mit dem logischen Wissen nicht vergleichbar und deshalb ihm gegenüber nicht mangelhaft oder minderwertig, wie Frank mit Nikolaus unterstreicht. Denn was in ihm »gewußt« wird, ist keine Teilwahrheit, die sich durch logische Abgrenzung und Bestimmung weiter präzisieren ließe. Die Wahrheit des Seins besitzt nicht die an der mathematischen Wahrheit orientierte Begrenztheit und cartesische Eindeutigkeit, die clare et distincte gefaßt werden kann. Möglich ist die Wahrheitserkenntnis im verstehenden Erleben, weil der Mensch vermöge seiner Vernunft, wie Nikolaus von Kues sagt, »auf erhabene Weise Gottes Abbild« ist – alta dei similitudo. Die neuplatonische Urbild– Abbild–Relation zeigt sich hier in ihrer Fruchtbarkeit. Frank geht es um die Wahrheit selber, die mit dem Sein in seiner Fülle identisch ist. Im Anschluß an Platon kann sie als »sich selbst erleuchtendes Licht« bezeichnet werden, d. h. als Bedingung, überhaupt Einzelwahrheiten begreifen zu können. Sie ist »nur über eine stumme Berührung, über ein unsagbares inneres Ergriffensein zugänglich« (DU 181). Frank nimmt mit diesem Satz das Cusanische Motto auf, das er seiner Religionsphilosophie vorangestellt hat: Attingitur inattingibile inattingibiliter – nur in der Weise des Nichtberührens wird berührbar, was sich dem besitzen wollenden Zugriff entzieht. 10 Der emphatische Klang, der dem Wort »Wahrheit« als dem, was eigentlich recht ist, eignet – Frank verwendet hier das russische Wort pravda –, hat seinen Grund in dieser Gleichsetzung mit dem Sein selbst. Das »lebendige Wissen« dieser Wahrheit ist für Frank die primäre Weise von Erkenntnis überhaupt. Schon in seiner Erkenntnislehre schreibt Frank, daß Erkennen überhaupt nur möglich ist, weil es sich auf die »unmittelbar in uns und mit uns seiende Einheit des absoluten Seins stützt« (GdW 459). Jedes begriffliche Wissen ist, wie Frank mit Fichte sagt, »Nachkonstruktion« des Verstandes; es bietet bestenfalls ein dem Irrtum ausgesetztes flaches »Spiegelbild« der »lebendigen Konkretheit« der Realität Die Cusanisch-Franksche Zurückweisung der Möglichkeit, das Unergründliche objektivierend erkennen zu können, darf nicht dem Mißverständnis Vorschub leisten, das Göttliche und Ewige verflüch10

Nikolaus von Kues: Idiota de sapientia I, n. 7.

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tige sich im Belehrten Nichtwissen zu einem nebligen Phantom. Der »Ort« des lebendigen Wissens ist das menschliche Subjekt. Seine transzendierende Teilhabe am unendlichen Sein – sein Hineinreichen in die unendliche Tiefe – ist die Bedingung dafür, das Unendliche (auch in den Naturgeheimnissen oder in der Schönheit von Natur und Kunst) verstehend erleben zu können. Das »belehrte Nichtwissen«, in dem das »lebendige Wissen« auf der Ebene des antinomischen Urteils ausgesagt wird, ist das methodische Prinzip von Franks Philosophie. Seine Ausführungen zum »Urgrund des Seins«, in denen Ontologie, Epistemologie und existentielle Anthropologie konvergieren, machen das nochmals deutlich. Das Licht des Urgrundes, schreibt Frank in Das Unergründliche, »ist von dem ganzen uns anschaulich und rational vorliegenden Sein verdeckt und verstellt und scheint durch letzteres nur hindurch. Es gehört zu seinem Wesen, verborgen zu sein, und seine Offenbarung ist eine Offenbarung des Verborgenen als solchen. Es handelt sich hier nicht um ein offenes Vorliegen, um irgendeine anschauliche Evidenz, die sich auch dem kühlen Blick eines Beobachters gleichsam unabweisbar und gewaltsam aufdrängte. Was sich hier durch lebendige Konzentration und Selbstvertiefung vollzieht, ist ein Aufleuchten des Lichtes aus der Tiefe und Ferne, welche die Mühe des Suchens, der lebendigen Hinwendung zu ihm voraussetzt. Unerachtet dessen, daß dieses Licht in dem Augenblick, wo es für uns aufleuchtet, das Allergewisseste von allem ist, was uns überhaupt zugänglich ist, kann man es jedoch jederzeit wieder von neuem aus den Augen verlieren. Der Urgrund ist daher vor allem in gewissem Sinne das für uns Unergründliche, und zwar – als Endpunkt eines unendlichen Weges in die Tiefe – das schlechthin und absolut für uns Unergründliche. Andererseits ist der Urgrund überhaupt kein ›Etwas‹, sondern eben nichts anderes als der Urgrund und die Urquelle von allem, die schöpferische und sinngebende Potenz von allem. Daher liegt die einzig mögliche Antwort auf die Frage nach seinem ›Wesen‹ oder seiner ›Wesenheit‹ darin (sofern hier eine solche Kategorie überhaupt anwendbar ist), daß der Urgrund die absolute Einheit und das Zusammenfallen aller Gegensätze ist – die coincidentia oppositorum« (DU 340 f. 11 ). Mit einem Satz des Nikolaus von Kues unterstreicht Frank, daß die verstehende Bejahung der die üblichen DenkIn der deutschen Übersetzung von Das Unergründliche lautet im Zitat der letzte Satz falsch: »auf die Frage nach ihrem ›Wesen‹ oder ihrer ›Wesenheit‹ …«.

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gewohnheiten übersteigenden überlogischen Wahrheit angespannte Aufmerksamkeit erfordert: »Es ist etwas Großes, an der Verbindung der Gegensätze in Beständigkeit festhalten zu können« (DU 180) 12 . Das Zusammenfallen des sich kontradiktorisch Ausschließenden ist kein Ergebnis intellektueller Anstrengung. Die Einheit im Zusammenfallen der in unendlichem Abstand zu einander stehenden Gegensätze kann nicht hergestellt, sondern muß »geschaut« werden, wie Nikolaus von Kues sagt. 13 Franks »Schweben« über dieser Einheit entspricht dem Cusanischen »Schauen«. In jedem Versuch, das Unberührbare denkend begreifen und so haben zu wollen, entgleitet es. Das Berühren auf die Weise des Nicht-Berührens geschieht im verstehenden Erleben der Bewegung des Transzendierens jeder möglichen Bestimmung. Nicht umsonst hat Frank die Cusanische Formel vom Unberührbaren, das (nur) auf die Weise des Nicht-Berührens (inattingibiliter) zu berühren ist, seinem Werk gleichsam als Überschrift gegeben.

12 Magnum est posse se stabiliter in coniunctione figere oppositorum. Frank zitiert den latenischen Text. Nikolaus von Kues: De beryllo, cap. 22, n. 32, 6. 13 J. Hoff bemerkt zu Nikolaus von Kues: »Die Koinzidenz ist nicht ›machbar‹«. Das gilt auch für Frank. J. Hoff: Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues. Freiburg (Alber) 2007, S. 166.

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VIII. Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben

Der Erfahrungsgrund der Frankschen Ontologie ist das Selbstsein oder »innere Sein« des Menschen; um seine konkrete Lebendigkeit zu unterstreichen, nennt Frank es auch einfach »Seele«. Es ist für ihn eine Grunderfahrung, daß die Seele sich selbst in eine unendliche, unergründliche Tiefe transzendieren kann, – die ihre eigene ist, in der sie doch zugleich eine andere Realitätsschicht erreicht. Die Vorstellung, die Seele sei in den Körper eingeschlossen und könne, was anders ist als sie, nur durch die Sinnesorgane berühren, ist folglich ganz irrig. Die innere Erfahrung, in der die Bewegung der Seele wahrgenommen wird, zeigt das Selbstsein als ein dynamisches, über sich selbst hinausgreifendes Sein. Diese Erfahrung eröffnet sich dem Schauen nach »innen«, das nichts mit einer psychologischen Introspektion zu tun hat. Die Gefahr, das seelische Leben und das geistige Sein als etwas sachlich Gegebenes zu mißdeuten, liegt gleichwohl nahe, weil die zur Beschreibung auch seelischer Vorgänge verwendeten Wörter dem Bereich des Sinnlich-Gegenständlichen entstammen: »Schicht«, »Tiefe«, »Wurzel«, »Boden«, »Kraft«, »Grenze«, »erstrecken« u. a. Sie dürfen wie auch die Bestimmungen »innen« und »außen« in der Ontologie nicht in ihrer ursprünglichen sinnlichanschaulichen Bedeutung verstanden werden. Von »Schichten« des inneren Seins kann deshalb nur sehr uneigentlich gesprochen werden. In der Tiefe des logisch nicht abgrenzbaren Seins sind die »Wurzeln« selbst schon der »Grund«, in den sie hinabreichen (vgl. DU 269 f.; 265; 271; 285). Auch den Substanzbegriff hält Frank für eine Ontologie und eine philosophische Gotteslehre, die von den Erfahrungen des geistigen Lebens ausgehen, für nicht geeignet, weil das, was in ihnen gegeben ist, nicht »unabhängig von allem anderen« gedacht werden kann (vgl. DU 86; 413). Diese Erfahrungen überholen ständig die getroffenen Unterscheidungen und sind Gliederungen nur beschränkt zugänglich. Gerade in der inneren Erfahrung gilt das Prinzip des »antinomischen Monodualismus«, demzufolge Un152 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das erkennende und wollende Transzendieren zur Welt

terscheiden und Zusammenfallen eins sind (vgl. DU 286–287). Ganz offensichtlich ist Franks Beschreibung der dem Selbstsein wesenseigenen Strebedynamik von Platon inspiriert.

1.

Das erkennende und wollende Transzendieren zur Welt

Die Seele erlebt in sich einen Widerstreit: Sie erfährt sich aktual als begrenzt und der Ergänzung bedürftig und strebt über sich hinaus zu dem, was außerhalb ihrer ist. Ihr Ausgriff auf alles andere aber hat seine Bedingung darin, daß sie potentiell, »in gewisser Weise«, bereits »alles« ist (Aristoteles). Aus dieser Spannung von Potentialität und Aktualität resultiert das der Seele wesenseigene Über-sich-Hinausgehen, das Streben nach erfüllter Aktualität. So existiert sie, infolge ihrer Subjektivität und Labilität, nur »in Anlehnung« an andere Seinsweisen, in denen sie für sich »Halt« und »Grund« sucht. Das Selbstsein überwindet die eigene Begrenztheit zunächst durch die Intentionalität des Erkennens. Doch die erkennende Ausrichtung auf die Welt der Objekte kann keinen die eigene Labilität stützenden »Grund« bieten. Das Selbstsein verbleibt in der Erkenntnisintentionalität real in sich selbst. Was im Erkenntnisakt transzendiert, ist nicht das Selbstsein selbst, sondern ein »reiner Lichtstrahl, der von ihm aus und durch es hindurchgeht und das Objekt erreicht«. Der Erkennende kann beim Erkennen innerlich völlig teilnahmslos bleiben. Aber auch wenn das Selbstsein (wie es gewöhnlich geschieht) sich als »Sein-in-der-Welt und Sein-mit-der-Welt« erfährt und sein Erkenntnisstreben mit dem emotional-volitiven Einwirken auf die Welt verbunden ist, gewinnt es dadurch für sich noch keinen »Halt«, schon weil die Menge der Gegenstände, die es erkennen und erstreben könnte, unerschöpflich ist. Ein derartiges Streben wäre mit Hegels Wort, das Frank aufgreift, in einem »schlechten« Sinne unendlich. Der Mensch, der meint, erfüllte Aktualität durch das Transzendieren zur Welt gewinnen zu können, müßte unaufhörlich »noch mehr« sich aneignen und würde in permanentem Widerstreit zwischen potentieller Fülle und unerfüllter Leere existieren. Die Gier nach einer Fülle, die letztlich nicht erfüllen kann, würde das »wahre innere Wesen des unmittelbaren Selbstseins« überdecken und schließlich aushöhlen (DU 216 f.; vgl. RM 222).

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Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben

2.

Das Transzendieren auf das an sich Sinnvolle und Objektive in der Liebe

Die unermeßliche Vielheit der Weltdinge kann dem Selbstsein, das seine Unerfülltheit zu überwinden sucht, keinen eigentlichen Halt bieten, weil sie ihm letztlich fremd und außerhalb seiner bleibt. Der feste Grund, auf den gestützt es wahre Aktualität gewinnen kann, muß ihm wesensverwandt sein und sich real mit ihm verbinden (nicht nur ideal wie in der erkennenden Aneignung). Frank zeigt diese Möglichkeit durch die Phänomenologie der Ich-Du-Beziehung in der Liebe, die sich von jeder Dingbeziehung wesentlich unterscheidet. In ihr kann das menschliche Selbstsein über sich selbst hinausgehen und im Sein des Geliebten die entbehrte Aktualität und Fülle finden. Doch eine genauere Phänomenologie zeigt, daß selbst in der Liebe, der das Transzendieren zum Sein des Anderen und die Vereinigung mit ihm wesenseigen ist, das Element der Fremdheit nicht völlig ausgeschlossen ist. Neben der tröstlichen Erfahrung, sich in der Person des Geliebten wiederfinden zu können, kann in ihr jederzeit doch auch etwas Befremdliches oder sogar Unheimliches aufblitzen. Auch in der intimen Liebesnähe kann noch eine letzte »unsagbare und unausdrückbare Einsamkeit« erfahren werden, die nicht mehr mitgeteilt und aufgelöst werden kann, »die nur für sich selber im unmittelbaren Schweigen offenbar ist« (DU 267). Ungeachtet dieser möglicherweise erschreckend bewußt werdenden Fremdheit – kann in der Tiefe des Geliebten dennoch eine »vollwertige Realität« erfahren werden, die nicht mehr das »wesensmäßig Unvollkommene, Willkürliche, bloß Potentielle« ist, das in ihm auch immer da ist und weiterer Vervollkommnung und Ergänzung bedarf. Hier begegnet im Geliebten nicht mehr nur die labile Subjektivität, die ich auch in mir selbst erlebe. Vielmehr erblicke ich in ihm – über seine individuelle Liebenswürdigkeit hinaus – etwas wesensmäßig »Objektives, an sich Gültiges«, eine Realität, die »inneren Eigenwert und eigene Geltung« besitzt. »Das Du eröffnet sich hier als etwas Transsubjektives und wird als solches erlebt«. Vermittelt durch die Liebe und in ihr vollzieht sich »ein Transzendieren völlig anderer Art – das Hinausgehen über die Grenzen der Subjektivität überhaupt« (DU 269). 1 Es scheint, als ob die Tiefe, in der das an sich Gültige und Wert1

Franks Analyse der Liebe steht der Onto-Phänomenologie, die W. Solowjow in seiner

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Der Geist ist Grund

volle aufscheint, sich außerhalb des eigenen Seins befindet, eben im Du des anderen. Doch, wie schon bemerkt, dürfen »außen« und »innen« hier nicht als Angaben räumlicher Art verstanden werden. Die Realität, die sich dem Liebenden in der Liebe eröffnet, hat die Begrenzung auf ein bestimmtes Subjekt überschritten; sie befindet sich »überörtlich« in der Tiefe des mir äußeren unmittelbaren Selbstseins des Geliebten wie auch in mir selbst. Im systematischen Zusammenhang des Frankschen Denkens ist mit diesem Transzendieren, durch das die Seele der Realität des Geistes begegnet, ein entscheidender Schritt getan. Die Erfahrung der Seele, an eine Realität heranzureichen, die anders als sie und ihr doch verwandt ist, wird sich dem weiter in die Tiefe des Selbstseins vordringenden Blick als Berühren des »Urgrundes« der Realität erweisen. Die Erfahrung der Liebe ist, so Frank, wohl der leichteste Weg, auf dem wir das Transzendieren zur transsubjektiven Tiefe der Realität erfahren können. In ihr erschließt sich das an sich Bedeutsame und Gültige ungeachtet der zugleich bewußten Möglichkeit von Fremdheit und Wankelmut. Nachdrücklicher noch bezeugt das religiöse Leben, daß mit der Erfahrung der eigenen Grundlosigkeit und Sündigkeit die unverbrüchliche Überzeugung vereint sein kann, nicht verloren gehen zu können.

3.

Der Geist ist Grund

Was Geist ist, kann nur annähernd beschrieben werden, indem der Vollzug des Transzendierens in die »Tiefe« der Seele aufgewiesen wird. Gerade hier ist gefordert, daß die Seele ihre »Augen« öffnet, um in das eigene unmittelbare Selbstsein schauend vorzudringen und so zur unvermittelten Einsicht in die Realität des Geistes zu gelangen. Die besondere Schwierigkeit liegt darin, daß die geistige Realität anders ist als die Seele und ihr doch zugleich wesensverwandt. So wenig die Seele eine abgegrenzte Schicht bildet, so wenig auch das geistige Sein. Das heißt aber, daß wir unser Selbstsein oder unsere Seele nicht in cartesischer »unanfechtbarer Klarheit« besitzen, so daß eindeutig angegeben werden könnte, wie weit in der Tiefe des geistigen Seins die »Wurzel« in den »Grund« hinabreicht. Schrift Der Sinn der Liebe durchgeführt hat, sehr nahe. Auf deutsch erschienen: Hamburg (Meiner) 1985.

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Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben

Den »Grund«, der »Halt« gibt, das aber hat sich gezeigt, findet die Seele in sich selber. Dabei ist die Erfahrung dieses Grundes kein »gesonderter Prozeß, der zum seelischen Sein hinzukäme«. Vielmehr gehört das Berühren des geistigen Seins »zum ureigensten Wesen des unmittelbaren Selbstseins«. Indem der Mensch sich auf seine eigene Seele richtet und dabei der bloßen Potentialität und Uneigentlichkeit seines Selbstseins inne wird, erfaßt er auch schon die Wurzel, welche den ihm sonst fehlenden Halt finden läßt. Er würde nicht einmal seine labile Subjektivität und Uneigentlichkeit erfahren, wenn er einfach ins Leere liefe. Die Bedingung für sein Streben nach einem Halt ist vielmehr, daß dieser bereits in ihm verhüllt anwesend ist. Er ist dem eigenen Selbstsein sowohl transzendent, weil es ihn nicht besitzt, sondern seiner bedarf, – als auch so innerlich, »daß sich das unmittelbare Selbstsein, indem es mit dem geistigen Sein in Verbindung tritt, diesem sich angleicht und mit ihm verschmilzt, so daß es sich selbst als geistiges Sein besitzt«. Die »Objektivität«, die hier dem Sein zuerkannt wird, hat natürlich nicht die Bedeutung von »Gegenständlichkeit«, sondern von Aktualität im Gegensatz zur Potentialität. Sie bedeutet: »Sein und Geltung an sich und aus sich« und »ein vollendetes, ruhiges, festes Sein, das eben als solches wirkt« (DU 273–275; 267 f.). Der Geist als »Grund«, auf den hin das Selbstsein ausgerichtet ist, darf selbstverständlich nicht als logischer Grund verstanden werden, der nach dem »Prinzip des zureichenden Grundes« zur Begründung der objektiven Geltung eines Denkinhalts gefordert ist. Ein derartiger Grund besteht selber wieder in einem Seinsinhalt, der in einem notwendigen Zusammenhang mit einem anderen Seinsinhalt steht und dadurch den Platz, den das zu Begründende in der All-Einheit des Seins hat, kenntlich macht. Das Selbstsein oder die Seele aber ist kein gegenständlicher Denkinhalt, der durch die Beziehung auf einen anderen Inhalt in seiner Gegenständlichkeit erwiesen werden könnte. Das unmittelbare Selbstsein ist vielmehr eine Realität, die sich als spezifische Seinsform – als die Bin-Form des Seins – in unmittelbarer Selbstevidenz bezeugt. Wenn hier von ihrem »Grund« gesprochen wird, so ist dieser im teleologischen Sinn zu verstehen. Frank verdeutlicht, was hier mit »Grund« (und so auch mit Geist) gemeint ist, durch ein Beispiel: Wenn angesichts des plötzlichen Todes eines geliebten Menschen verzweifelt gefragt wird: »Wie konnte das geschehen?«, richtet sich die Frage nicht auf die gegenständlichen Ursachen des Todesfalls. Beantwortet ist sie nur, wenn 156 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Geist ist Grund

ein Sinn genannt wird, der sowohl über das nur Faktische als auch über das nur subjektiv Gewünschte hinausgeht. Ähnlich fragt die Frage »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?« nicht nach einem Erkenntnisgrund, der einen Ort im Sein angibt, auf den das Gegebensein ursächlich zurückgeht. Gefragt ist vielmehr nach dem Recht und Sinn dessen, was ist. Man könnte es die Frage nach dem »idealen« Grund nennen. Das Faktische in seinem bloßen Bestand für sich genommen hat keinen sinnhaltigen Grund. Wir können nur seine Faktizität konstatieren; seine Evidenz ist blind; es begründet sich nicht selbst. Der Verweis auf irgendein Faktisches als Grund würde unabschließbar die Frage nach weiteren Gründen nach sich ziehen. Die Frage nach dem Sinn können wir nur durch Vermittlung unseres eigenen unmittelbaren Selbstsein beantworten, das eben kein gegenständliches Sein mit dem Merkmal blinder Faktizität ist. Unser eigenes Sein – und was mit ihm verbunden ist – erfahren wir als wahrhaft real und eben damit als begreiflich, indem uns sein Sinn und, so verstanden, sein Grund bewußt wird (der Aufweis, daß das Selbstsein einen Sinn hat, muß noch gegeben werden). Das heißt: Sinnvoll begründet ist etwas nur dann, wenn es »als an sich gerechtfertigt« verstanden werden kann, wenn es also aus sich selbst letzte Geltung besitzt. Das bloß Wünschenswerte genügt nicht. Darum – so Franks wichtige Folgerung, die auch gegen die neukantianische Trennung von Sein und Wert (H. Rickert) gerichtet ist, – kann sinngebender Grund nur das Sein selber sein. Nur dem Selbstevidenten kommt die »Würde wahrer und tiefster Realität« zu, so daß der »sinngebende Grund zugleich der tiefste Grund der Realität« ist (DU 280). Das Geistige, läßt sich jetzt mit Frank sagen, ist der selbstwertige, sinngebende innerlich gültige Grund von innerer Durchsichtigkeit. »Es ist die Seinsform der inneren Objektivität«. Wir finden diese Realität im Durchgang durch die Tiefen des unmittelbaren Selbstseins als sinngebende, als Aktualität verleihende Instanz, die sich dadurch von unserer »bloßen« Subjektivität unterscheidet. Die Vorstellung, das Geistige sei ein inhaltlich oder qualitativ objektivierbares Seinsgebiet, ist endgültig überwunden. Gerade deshalb ist es, wie das Sein, das wesensmäßig Unergründliche. In diesem Sinne heißt es bei Frank: »Wer darum auch nur die geringste Erfahrung von der Realität des geistigen Seins besitzt, macht damit die Erfahrung, in gewisse bodenlose, für das logische Denken undurchdringliche Tiefen zu schauen – obgleich sie gerade in ihrer Undurchdring157 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben

lichkeit durchsichtig, klar und evident sind«. Es kann nur in seiner Bedeutung für uns oder in seiner Wirkung auf uns erfaßt werden (DU 283; vgl. 280). Frank nennt das geistige Sein in der Tiefe des Selbstseins »Leben« (vgl. RM 221). Er unterstreicht hiermit nochmals, »daß das Sein sich nicht in einem begrifflich bestimmbaren, gegenständlichen Inhalt erschöpft, daß es vielmehr noch ein anderes Ausmaß, eine Tiefe, besitzt, das die Grenzen alles logisch Ergründlichen überschreitet« (DU 284).

4.

Einheit und Unterschiedenheit von Seele und Geist

Eindeutige Abgrenzungen sind in der Realität des geistigen Lebens, wie bereits erwähnt wurde, nur beschränkt möglich. Wo dennoch klare Unterschiede behauptet werden, tragen diese leicht den Charakter einer Konstruktion. Gerade beim Transzendieren des Selbstseins in den Grund des Geistes ist eine genaue Scheidung beider Seinsbereiche nicht möglich; vielmehr gehen sie, wo sie sich berühren, ineinander über. Die Erfahrung zeigt, daß das unmittelbare Selbstsein in seiner letzten Tiefe »schon selbst ›geistig‹« ist. Und der Geist gewinnt an der »Grenze«, an der er dem seelischen Sein »vollgültige aktuale Realität« verleiht, selber den Ausdruck »subjektiven Lebens« (DU 286). Wie zuvor Nikolaus von Kues ist auch Frank sich, bewußt, daß die logische Unterscheidung in der Ontologie nicht der einzige Weg sein kann, um zum »Wissen« zu gelangen, daß sie, um eine der Erfahrung angemessene Deutung des Seins zu gewinen, durch das »belehrte Nichtwissen« überboten werden muß. Ein Denken, das auch in der Ontologie grundsätzlich an quantifizierenden Abgrenzungen festhält, wird die behauptete antinomische Einheit von Seele und Geist des Seinsmonismus verdächtigen. Für Frank bedeutet die Einheit keineswegs Vermischung; er weiß mit Nikolaus, daß die »Andersheit« des Geistes gegenüber dem inneren Selbstsein von anderer Art ist als irgendeine numerische Verschiedenheit. »Der Geist ist der Seele gegenüber sowohl transzendent als auch immanent, und zwar nicht im Sinn einer einfachen, summativen Koexistenz dieser zwei Relationen, sondern im Sinn ihrer inneren Wesenseinheit«. Diese Einheit besagt aber gleichfalls, »daß der Geist der Seele gegenüber 158 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Erfahrung der geistigen Realitt als Zuruf und Offenbarung

weder transzendent noch immanent ist, sondern zu ihr in einer gewissen dritten unsagbaren Beziehung steht« (DU 287). Frank will mit diesen Aussagen eine subtile Erfahrung beschreiben, die für ihn unleugbare Evidenz besitzt, und er will sie auch in seinen Lesern wecken. Die ontologische Deutung setzt diese Erfahrung – das bewußte Eintauchen in die Tiefe der eigenen Existenz – voraus.

5.

Die Erfahrung der geistigen Realitt als Zuruf und Offenbarung

Frank ist sich bewußt, wie schwierig es ist, was er mit »Geist« meint, verständlich zu machen. Darum ist die Weise, in der wir dieser Realität »inne« werden, sorgfältig freizulegen und dabei jeder Ausdruck zu vermeiden, welcher eine verdinglichte Auffassung vom Geist befördern könnte. Betont wurde, daß wir die geistige Realität im Transzendieren der Seele in die eigene Tiefe erreichen (vgl. DU 288; vgl. 88). Dieses paradoxe Sicherstrecken in das »andere« im Eigenen unterscheidet sich von der immanenten Selbstoffenbarung, die das Wesen des unmittelbaren Selbstseins ausmacht, und auch von der Offenbarung des Du, das eine »mir« gegenüber transzendente Realität ist. Im Transzendieren zur Realität des Geistes dringt diese selbst von innen her in uns ein. Sie selber enthüllt sich uns, »indem wir ihre auf uns gerichtete reale Einwirkung, ihre eigene Anziehungskraft oder ihren an uns gerichteten ›Zuruf‹ erfahren« (DU 286; 290). Das »Transzendieren« hat hier den Charakter einer Offenbarung, in der diese Realität in eigener Initiative sich mir öffnet. Wenn sich auch die Offenbarung des geistigen Seins von jener des Du unterscheidet, so ist es doch kein unpersönliches »Es«, kein gesichtsloser Abgrund. Der Sprache fehlt, wie Frank bemerkt, für die Offenbarung der Realität des Geistes die passende Wortform, die zwischen »Ich«, »Du« und »Es« zu situieren wäre. Obwohl ich das Geistige in der innersten Tiefe meines Selbst erfahre, mit der es gleichsam verschmilzt, ist es nicht einfachhin dasselbe wie »Ich«. In der »Stimme« des Gewissens – bildlich gefaßt in der Gestalt des »Schutzengels« oder des sokratischen »Daimon« – die über die Regungen unseres Ich richtet, kommt das noumenale Seins am deutlichsten als Zuruf in der Du-Form zum Ausdruck. Die Besonderheit der Offenbarung 159 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Transzendieren des Selbstseins zum Geist und zum Leben

des geistigen Seins hat ihre Analogie, in der Wir-Erfahrung, in der, wie oben gezeigt wurde, die Immanenz des Ich mit der Transzendenz des Anderen vereint ist (DU 290).

6.

Das geistige Sein – das Fundament der Personalitt

Es ist naheliegend, das »Selbst« als den »Ort« im Selbstsein zu bezeichnen, mit dem der Geist sich verbindet; indem es durch den Geist von dem »an sich Bedeutsamen« erfüllt ist, kann es dem seelischen Ich, das unsere Subjektivität und Emotionalität lenkt, als beurteilende Instanz gegenübertreten. 2 Dadurch, daß das Selbst im Transzendieren nach Innen dem geistigen Sein – dem »Prinzip der an sich gültigen Bedeutsamkeit« – zugewandt ist und an ihm teilhat, wird der Mensch zur Person (DU 294). Der Geist erweist seine transzendente Macht gerade dadurch, daß er das höhere Selbst oder die Person befähigt, das eigene Verhalten zu bewerten – nach Frank das »einzig wahre Merkmal«, das den Menschen vom Tier unterscheidet (DU 292 f.). Das »Personprinzip«, das Frank in seiner ersten philosophischen Reflexion bereits als »heilig« qualifiziert hatte, ist kein bloßes Postulat mehr, sondern hat durch den phänomenologischen Aufweis der Offenbarung des Geistes in der Tiefe des Selbst eine ontologische Begründung erhalten. Der Geist wirkt durch das Selbst und in ihm; dieses kann sich für das weitere Eindringen des geistigen Prinzips in die Seele öffnen; es kann sich gegen das friedliche Einfließen dieses Prinzips aber auch verschließen (DU 291 f.). Obwohl die Wirksamkeit der geistigen Realität von der Empfänglichkeit des Selbstseins für sie abhängt, ist sie doch jedem Menschen eigen. Denn jeder Mensch, selbst wenn er in sittlicher Hinsicht leer ist, besitzt »das zumindest schlummernde Streben« zu etwas »durch sich selbst Gültigem« und so zu dem geistigen Grund seines Seins. Durch die ontologische Konstitution der Person durch die Präsenz des unendlichen Geistes gilt für den Menschen in gesteigerter Weise, was von der konkreten Realität insgesamt gesagt wurde: Er »ist seinem Wesen nach stets mehr und anderes als alles, was wir an ihm als abgeschlossene, sein Wesen konstituierende Bestimmtheit Vgl. Kants Gegenüberstellung des »homo noumenon« und »homo phaenomenon«. I. Kant: Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 239.

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Das geistige Sein – das Fundament der Personalitt

wahrnehmen. Und zwar ist er in einem gewissem Sinne eine Unendlichkeit, weil er innerlich mit der Unendlichkeit des geistigen Reiches verwachsen ist«. Von dieser Verwurzelung in der Unerschöpflichkeit des geistigen Seins rührt die Unergründlichkeit jeder Person her (DU 295 f.).

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IX. Das Sollen grndet im Sein

Nicht die Intelligenzleistung ist das den Menschen als solchen auszeichnende Merkmal – zur tierischen Intelligenz sieht Frank nur quantitative Unterschiede –, sondern die im Personsein gründende Erfahrung, vor sittlich bedeutsame Entscheidungen gestellt zu sein (wie sehr Goethes Menschen- und Weltbild Frank in dieser Auffassung bestärkt hat, zeigen die Verse aus dessen Gedicht »Das Göttliche« die er wie zur Bestätigung zitiert: »Nur allein der Mensch vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, wählet und richtet«. GGdG 172). Die Forderung, sich selbst sittlich zu vervollkommnen, ist uns nicht von außen auferlegt, sondern mit unserem eigenen Wesen gesetzt. »Das sittliche Bewußtsein des Menschen ist überhaupt nichts anderes als die praktische Seite des Bewußtseins seines gottmenschlichen Wesens«, schreibt Frank bereits in seiner Sozialphilosophie (GGdG 96). Vergleicht man die frühen Schriften Die Seele des Menschen und Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft mit den Erörterungen zur Ethik in den Schriften aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ist (bei aller Kontinuität im Grundsätzlichen) doch eine Veränderung festzustellen. Hatte Frank anfangs das sittliche Bewußtsein unmittelbar auf das Wirken Gottes im Menschen zurückgeführt, so gesteht er in Die Realität und der Mensch, daß diese Erklärung nicht sofort einsichtig ist, gibt es doch Menschen, die ein lebendiges Bewußtsein sittlicher Pflicht besitzen, aber über keine religiöse Erfahrung verfügen, diese mitunter sogar als nicht möglich ansehen (RM 211 f.).

1.

Das Sein ist Wille und Wert

In seiner Anthropologie geht Frank von der phänomenologischen Analyse des sittlichen Bewußtseins aus. Sie bestätigt, daß der unbedingte Anspruch an den Menschen, sittlich zu leben, eine Letztgege162 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sein ist Wille und Wert

benheit von »völlig durchsichtiger und überzeugender« Evidenz ist. Die unmittelbare »innere Autorität oder Überzeugungskraft« des sittlichen Imperativs kann, wie Kant festgestellt hatte und worin Frank uneingeschränkt zustimmt, nicht auf etwas Ursprünglicheres (sei es eine gesellschaftliche Konvention oder sei es sublimer Egoismus) zurückgeführt und aus ihm erklärt werden. Würde der sittliche Imperativ auf eine äußere Instanz zurückgehen, hätte er auch an deren Bedingtheit teil. Doch der Annahme Kants, er entspringe dem »intelligiblen Ich«, welches das Gesollte in Beziehung zum empirischen Ich des Menschen setzt, folgt Frank nicht ohne Einschränkung. Richtig an dieser Deutung ist, daß das sittliche Sollen nicht an unserem persönlichen seelischen Leben vorbei in uns eindringt. Aber – das ist Franks gewichtiger Einwand gegen Kant –, es geht »bloß durch es hindurch und nicht etwa aus ihm selbst in seiner Isolation hervor«. In meiner empirischen Gegebenheit bin ich also nicht der Ursprung des Sittengesetzes, ich »empfange« es als »Unbedingtes, d. h. als Offenkundig-Autoritatives«. Die letztlich befehlende Instanz ist von mir unterschieden, aber doch nicht als »etwas Äußerliches nach Art irgendeiner mir fremden Realität«. Sie ist etwas anderes, aber so, daß »die Tiefe meines Ich« an ihr teilhat und ihr als »Organ und Bote« dient (RM 212). Das Ich oder unmittelbare Selbstsein ist ja keine isolierte Instanz für sich, sondern befindet sich in differenter Einheit mit dem Sein. Was Frank über die Einheit und Unterschiedenheit von Seele und Geist ausgeführt hatte (siehe das vorangegangene Kapitel), gelangt hier in neuer Hinsicht zur Anwendung. In einem weiteren Schritt der Analyse zeigt sich, daß der sittliche Imperativ Ausdruck eines Willens ist, der sich an meinen Willen richtet und von ihm Gehorsam verlangt. Wenn jedoch weder der individuelle menschliche Wille als solcher noch der Wille einer äußeren Instanz Ursprung des kategorischen Gebotes sein kann (und die Deutung der Autonomie als Ausdruck der Theonomie zunächst beiseite gelassen wird), dann muß die befehlende Instanz als »gewissermaßen subjektlos« angesehen werden. »Subjektlos« bedeutet, daß der befehlende Wille uns einfach in der Form »es ist gesollt«, »es ist geboten« bewußt wird, ohne daß seine Herkunft genannt werden könnte; »subjektlos« bedeutet nicht, daß er Ausdruck eines elementaren »unpersönlichen« Triebs ist; es bedeutet auch nicht, daß er überhaupt niemandes Wille ist. Franks Folgerung (als Aussage über den Befund der phänomenologischen Analyse) lautet: »Das sittliche Gebot ist Ausdruck des Willens der Realität selber als solcher, der 163 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

geistigen Sphäre, die uns in der inneren Erfahrung gegeben ist und uns selbst übersteigt – und zwar in ihrer allumfassenden Einheit, also in ihrer Absolutheit« (RM 213). Dieser Befund besagt nicht, daß die Realität bzw. das Sein als Subjekt zu denken sei, das einen Willen »hat«. »Sie ist vielmehr Wille, sie offenbart in der sittlichen Erfahrung ihr Wesen als Willen. Dieser subjektlose Wille ist nichts Abstraktes, sondern ist konkrete Realität. Die Realität als sich selbst offenbares (und somit sich uns offenbarendes) an und für sich seiendes Leben – als allumfassende Einheit betrachtet – tritt in der sittlichen Erfahrung als Wille hervor« (RM 214). Um den sittlichen Imperativ unverkürzt zu verstehen, ist also auf das Sein selbst, die Realität, zurückzugehen, die sich in der phänomenologischen Analyse des Sollens von einer neuen Seite zeigt. Die Unbedingtheit des sittlichen Sollens kann nicht anders denn als Ausdruck der Unbedingtheit der Realität selber gedacht werden. Ihre Absolutheit zeigt sich im Sollensgebot als »Hoheitlichkeit« (ebd.). Die Realität ist eben nicht nur All-Einheit, welche die Vielheit durchdringt und dadurch begründet; sie ist Erstursprung und Urgrund auch in dem Sinne, daß sie die alles ideal beherrschende Kraft ist; dazu gehört, daß sie als absoluter Wert, als heiliger Wille hervortritt. Dieser Wille wirkt nicht als unabweisbare naturhafte Notwendigkeit, sondern durch unser Ich und unsere Freiheit hindurch, also als Aufforderung und besitzt, anders als eine kausale Notwendigkeit, innere Evidenz. Der sittliche Imperativ hat die Eigenschaft eines Wertes, dessen eigentliches Moment darin besteht, daß er durch sich selbst »Verwirklichung ›fordert‹«, so daß wir vermöge seiner Überzeugungskraft zu seinem »freiwilligen ausführenden Organ in der Welt« werden. Er erweist sich als eine Instanz, die, indem sie unseren Geist an sich zieht, »sich den Weg zu ihrer Verwirklichung in der empirischen Realität bahnt«. So kann Frank sagen: »Der unbedingte Wert und die primäre Realität, gedacht als Wille, der sich an unseren Willen wendet, sind dasselbe«. Die Realität als Wert steht nicht außerhalb von uns, sondern ist mit unserem Geist in seiner letzten Tiefe verwandt; sie ist die »Quelle, aus der er sein eigenes Wesen schöpft und die ihm das Element der Unbedingtheit eingießt« (RM 215). So können wir das sittliche Gesetz als kategorisches und dennoch zugleich als eigenes (autonomes) erfahren, weil unser Geist teil hat an dem Geist oder Urgrund, in dem es seinen Ursprung hat. Wo der Imperativ mit sei164 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Sittliches Leben ist mehr als Gesetzesgehorsam

ner ganzen Evidenz von uns Besitz ergreift, wird er zu einer Kraft, die mit dem tiefsten Wesen unseres Ich zusammenfällt – und so den Charakter des Befehls ablegt. Franks Ethik und Axiologie hat das Sein als dynamische Kraft oder Geist zur Voraussetzung. Es aktualisiert sich nicht allein kraft seiner eigenen Potentialität, sondern auch, indem es an das menschliche Selbstsein Forderungen stellt. Die von Kant der philosophischen Ethik gestellte Aufgabe – jedes heteronome Verständnis des sittlichen Sollens auszuschließen und die freie Selbstbestimmung als Bedingung des sittlichen Lebens sicherzustellen – hat Frank aufgenommen.

2.

Sittliches Leben ist mehr als Gesetzesgehorsam

In der Sozialphilosophie war Frank unmittelbar vom »Heiligen« ausgegangen, das wir erfahren, wo immer wir, vermittelt durch die DuBegegnung, der unergründlichen Tiefe der Person-Realität gewahr werden und diese kraft ihrer Gottebenbildlichkeit von uns Anerkennung fordert (vgl. auch Kap. XIII, 1). Die »absolute göttliche Realität« ist hier, indem sie in der Selbsterfahrung praktisch wird, das die Sittlichkeit begründende Prinzip. Auch in dieser frühen Schrift will Frank zeigen, daß das so begründete sittliche Gebot mir nicht als »fremder Wille« gegenübertritt, sondern als »Grund und Wesen des eigenen Lebens«, seine Befolgung also nicht eigentlich die Erfüllung eines Gebots oder eines Gesetzes ist (vgl. GGdG 179). Auch phänomenologisch aufzuzeigen, daß das in der unmittelbaren Erfahrung des Göttlichen begründete sittlich Gesollte den Charakter des Befehls abstreift, ist Frank offensichtlich wichtig, denn später, in Das Licht in der Finsternis nimmt er diesen Gedanken wieder auf. Er benutzt dafür zum Begriff »Gesetz« als Antonym den theologischen Begriff »Gnade« (aus dem die Momente der Willkür und Herablassung auszuschließen sind, die in seinem Alltagsgebrauch oft mitgedacht werden. Wesentlich ist die freie von Liebe erfüllte Zuwendung, die über alles Geschuldete hinausreicht). »Gnade« charakterisiert die Erfahrung des Heiligen, das den Menschen nicht wie eine äußere, fremde Macht überwältigt, sondern von innen her bereichert. Es läßt ihn nicht nur frei sein, sondern begründet seine Freiheit, indem es – in der Du-Begegnung – das Selbstsein weckt und bestätigt. Der Begriff »Gnade« unterstreicht so das zutiefst personale (genauer: über-personale) Moment in der Erfahrung des Heiligen (GGdG 183 f.). 165 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

Frank illustriert die gnadenhafte Erfahrung des Gesollten mit zwei Beispielen aus den Evangelien. Die Begegnung mit der Heiligkeit der Person Christi führt bei dem mit Christus gekreuzigten Verbrecher und der Christus sich zuwendenden Sünderin 1 zu einem sittlichen Neubeginn, indem durch diese Begegnung in ihnen selbst das Heilige geweckt wird und ihnen ihr eigenes Wesen bewußt macht. Diese Beispiele der Bekehrung und Reue zeigen, daß die gnadenhafte Erfahrung des Heiligen selbst schon sittliches Leben ist, ohne daß es durch den Gehorsam gegenüber einem Gesetz vermittelt wäre. Der Mensch reicht mit seinen »substantiellen Wurzeln« in Gott hinein und ist »potentiell ›vergöttlicht‹«, wie Frank immer wieder betont; er ist deshalb »Gottes Sohn, Teilnehmer am göttlichen Leben« (GGdG 184 f.). Wahrhaft sittliches oder gottgefälliges Leben ist darum mehr als nur die »Befolgung des jenseitigen Willens Gottes«, der in der Form des Sittengesetzes bewußt wird; bei einer solchen gliche das Verhältnis des Menschen zu Gott dem eines Knechtes zu seinem Herren. Wahrhaft sittliches Leben dagegen ist »Gottes Anwesenheit in uns und unser Leben in ihm« (ebd.). Ein sittliches Verhalten, das nur aus »Achtung vor dem Gesetz« und, wie Frank meint, folglich »ohne Liebe zu Gott und ohne das innere Leben in ihm« geschähe, nennt er »armselig«. (Ob dieses Urteil Kants Sollens-Ethik trifft, muß dahingestellt bleiben. Franks spätere Ausführungen lassen eine gewisse Korrektur dieses Urteils erkennen.) Kant, der die Doppelnatur des Sittlichen als »Gnade« und als »Gesetz« nicht erkannt hat und das sittlich Gesollte nur unter der Form des Gesetzes dachte, hat es faktisch mit dem Naturrecht identifiziert. Frank betont dagegen, daß das sittlich Gebotene, je nach dem, wie lebendig die Anwesenheit des Heiligen von einem Menschen erfahren wird, einen je anderen Charakter annehmen kann. Besonders dort, wo das gottmenschliche Wesen der Du-Realität dem seelischen Empfinden bewußt wird, wird das sittlich Gesollte als intimer individueller »Wink des Gewissens« erfahren werden, nicht aber in der »groben Allgemeinheit« einer kategorischen Pflicht.

1

Vgl. Lukas 7:36 ff., 23:40.

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Sittliche und rechtliche Normen

3.

Sittliche und rechtliche Normen

Das sittliche Bewußtsein weist eine Doppelnatur auf. Einerseits lebt das Gesollte im Menschen »in seiner ganzen Absolutheit und spricht in ihm selbst. Andererseits erscheint es dem menschlichen Geist als ein transzendent-objektives Prinzip, das sich von außen an ihn wendet und von ihm Gehorsam verlangt«. Letzteres ist dadurch begründet, daß der Mensch auch vom »gegenständlich-kosmischen Sein« allseitig durchdrungen ist, in dem Gott »nur als es von außen bestimmender Wille« handelt. Das Gesollte wird dem Menschen deshalb auch als »gegenüberstehender Wille Gottes« bewußt – sei es in der Form naturrechtlicher Normen oder des Sittengesetzes (z. B. in der Form der Zehn Gebote) oder, vielfach vermittelt, als positive Rechtsnorm oder auch als überliefertes Brauchtum (GGdG 182; 184). Die übliche Unterscheidung, der zufolge das Sittengesetz die inneren menschlichen Antriebskräfte bestimmt, während das Recht das äußere Verhalten normiert, hält Frank für inkonsistent. Sowohl die Normen des Rechts wie auch die der Sittlichkeit umfassen prinzipiell alle Lebensbereiche; Überschneidungen sind deshalb nicht zu vermeiden. Rechtliche und sittliche Gebote unterscheiden sich lediglich graduell (quantitativ), nicht aber prinzipiell. Entscheidend kommt es auf den Ursprung ihrer Verbindlichkeit, ihren »Bestimmungsgrund« an. Was die Befolgung eines Gebots sittlich verbindlich macht, ist sowohl bei den sittlichen Geboten und Normen als auch bei den Rechtsnormen allein das in ihnen anwesende Heilige, d. h. ihre frei erkannte »Wahrheit« (GGdG 181). Bei den positiven Rechtsnormen und Gesetzen kann diese »Wahrheit« als die das Gewissen bindende Kraft freilich sehr vermittelt sein. Ein parlamentarisch beschlossenes Gesetz ist nicht unmittelbarer Ausdruck göttlicher Heiligkeit; sein Inhalt ist meist Ergebnis eines Kompromisses egoistischer Interessen. Im Gewissen verbindlich ist es, wenn die Gesetzgebung als gerecht gelten kann und das Gesetz den Bürgern als ein um des Gemeinwohls willen notwendiger Kompromiß vermittelt wird. Diese »Wahrheit« genügt, um zur Gesetzestreue sittlich zu verpflichten. Wo ein Gesetz nur als Machtdemonstration erfahren wird, werden die Betroffenen versuchen sich ihm nach Möglichkeit zu entziehen. Der schleichende Zerfall des Gemeinwesens wäre die unausbleibliche Folge.

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4.

Vernunft und sittlicher Takt

Schon in der Sozialphilosophie hat Frank die Vernunft hervorgehoben, um im gesellschaftlichen Leben das im konkreten Fall sittlich Gebotene zu bestimmen. Zum vernunftgemäßen Handeln ist es unerläßlich, die »idealen« Bedingungen zu berücksichtigen, die mit dem Wesen oder Sinn des gesellschaftlichen Lebens vorgegeben sind. Frank bezeichnet diese Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit gesellschaftliches Leben überhaupt möglich ist, als »ontologische, organisch-teleologische Gesetzmäßigkeiten«. So wie mit der Konstitution des menschlichen Körpers gewisse Gesetze gesunder Ernährung und Hygiene vorgegeben sind und beachtet werden müssen, sollen nicht Siechtum und Tod die Folge sein, so müssen auch im menschlichen Zusammenleben bestimmte Regeln beachtet werden. Ihre Übertretung würde unweigerlich zum Zerfall des jeweiligen Gemeinwesens (vom Staat bis zur Familie und Ehe) führen. Das mit den »ontologisch notwendigen« Normen gesetzte Sollen – jene Verhaltensweisen zu vermeiden, welche den konkreten gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden – ist kein hypothetisches, das zu befolgen der Neigung überlassen bliebe. Denn die sittliche Pflicht, sie zu beachten, geht nicht aus der Erfahrung als solcher hervor, sondern liegt in der ontologischen »Wahrheit«, eben dem »Sinn« des gottmenschlichen gesellschaftlichen Seins. Freiheit und Verantwortung sind seine wesentlichen Elemente. Die »ontologischen Notwendigkeiten«, die der – häufig religiös sanktionierten – Erfahrung entnommen werden können, bieten aber nur eine allgemeine Orientierung. Deshalb bleibt es der Entscheidung der verantwortlichen Individuen überlassen, zu bestimmen, was im konkreten Fall unter Berücksichtigung der vorgegebenen Bedingungen sinnvoll zu tun ist. Mit einem eindrucksvollen Text des englischen Historikers und Essayisten Th. Carlyle über die Umschiffung von Kap Horn illustriert Frank die sittliche Notwendigkeit, die durch Erfahrung bekannten »ontologischen« Bedingungen (hier die nautische Erfahrung des Seefahrers und die meteorologischen Gegebenheiten) in verantwortlicher Entscheidung zu berücksichtigen. Der Kapitän, der sie ignoriert, riskiert, mit seinem Schiff an den Felsen Patagoniens zu zerschellen (GGdG 112). Neben den »ontologischen Notwendigkeiten« kennt Frank auch solche, »die logisch aus dem allgemeinen Inhalt dessen folgen, was man unter ›Gesellschaft‹ versteht« (Frank nennt den Unterschied 168 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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»theoretisch sehr wesentlich«, aber »praktisch relativ«. GGdG 108, 113). So muß jede Gesellschaft zwingend eine gewisse konstante Struktur mit einer verantwortlichen Autorität besitzen. Der Versuch, einen radikalen Anarchismus einzuführen, hätte eo ipso die Selbstauflösung der Gesellschaft zur Folge. Frank, der die Gesellschaftsexperimente zu Beginn der bolschewistischen Herrschaft vor Augen hat, fügt mit dem von R. Stammler stammenden Bonmot hinzu, daß es den Menschen dennoch frei steht, auch Unmögliches zu wollen und sogar eine Partei zur Herbeiführung einer Mondfinsternis zu gründen. In dem nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossenen Werk Das Licht in der Finsternis 2, das Frank »Versuch einer christlichen Ethik und Sozialphilosophie« nannte, ist die Frage nach den Maßstäben der gesellschaftlichen Ordnung erneut aufgenommen. Sittliches Handeln muß darauf gerichtet sein, unter den jeweiligen Bedingungen ein maximal vernünftiges und gerechtes Zusammenleben zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Das Fundament einer Gesellschaftsordnung, das dem Wesen des Menschen als Bild Gottes und dem Grundprinzip der Liebe entspricht, ist die Gerechtigkeit, zu der wesentlich die Freiheit gehört. Es gilt also, Solidarität und Freiheit in den sich verändernden Umständen immer wieder neu in möglichst weitgehende Übereinstimmung zu bringen und so eine Ordnung zu schaffen, in »der die individuelle Freiheit der notwendigen Solidarität […] nicht zum Nachteil gereicht und die Solidarität oder allgemeine Ordnung nicht durch die Unterdrückung der individuellen Freiheit verwirklicht wird«, daß also »das maximale Gleichgewicht und der maximale Einklang unter den freien subjektiven Kräften aller gefestigt werden«. In diesem Prinzip, in dem Frank »das Wesen oder die entscheidende Bedeutung des Naturrechts« sieht, wird das Vorbild der ontologischen All-Einheit des »Geisterreichs« sichtbar – der freien Vereinigung freier personaler Wesen (LidF 229 f.). Weil die in Gesetzen und Rechtsvorschriften festgelegten Regeln infolge ihrer Allgemeinheit sich oft als unzureichend erweisen, um unter den sich verändernden Umständen »lebendige Gerechtigkeit« zu gewährleisten, und weil sie infolge ihrer Abstraktheit sogar in Konflikt zu einander geraten können, ist ein »sittlicher Takt« unerläßlich, um die jeweils höchstmögliche Realisierung der sittlich geS. L. Frank: Licht in der Finsternis. Versuch einer christlichen Ethik und Sozialphilosophie. Freiburg (Alber) 2008.

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botenen Gerechtigkeit zu erreichen. Frank bezieht sich hier auf das, was Aristoteles ¥pieikffi@ genannt hatte. 3 Er selber versteht unter »Epikie« – ein, wie er sagt unübersetzbares Wort – eine »ganzheitliche Entscheidung«, die in einer komplexen Situation versucht zu tun, was konkret »paßt«, »angemessen und billig« ist (LidF 185). Er nennt sie auch »das lebendige Empfinden dafür, welches Gesetz in welcher Form und in welchem Maße in einem konkreten Fall angewendet werden kann und muß, damit wirklich das allgemeine Ziel des Gesetzes erreicht wird – die Bekämpfung des Bösen in der Welt –, oder genauer, welcher sittliche Akt, welche konkrete sittliche Entscheidung und Handlung unter den gegebenen konkreten Bedingungen diesem allgemeinen Ziel des Gesetzes entspricht« (LidF 192). Denn nicht die »buchstäbliche Einhaltung des Sittengesetzes«, bei der die »konkreten Nöte des realen Lebens« übersehen werden können, garantiert »die wirklich richtige sittliche Entscheidung«, sondern »nur die Liebe, deren Forderungen immer konkret sind«. Wenn sittliche Forderungen zueinander in Widerspruch treten, kann das Dilemma nicht mittels einer »rational utilitaristischen Berechnung« des Nutzens und Nachteils der jeweiligen Alternativen gelöst werden. »Von der richtigen sittlichen Entscheidung kann man nur eines sagen: Sie ist so beschaffen, daß, wenn wir die ganze Fülle der konkreten Lage, die ganze konkrete Bedeutung und alle Folgen unseres Tuns in Betracht gezogen haben, wir eben so und nicht anders handeln müssen, damit sie – ungeachtet der Unvollkommenheit und Sündigkeit unseres Tuns – in höchstem Maße unserer Pflicht gegenüber uns und unseren Nächsten – dem Gefühl der Verantwortung im Dienst an Gott und den Menschen – genügt« (LidF 185).

5.

Die Unvermeidbarkeit der Snde. Die Eindmmung des Bsen

Frank hatte bei seinen Erwägungen zur Auflösung eines sittlichen Dilemmas den radikalen Pazifismus der Tolstojaner vor Augen. Anlaß dazu hatte L. Tolstoi mit seinem Essay gegeben »Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt«, in dem er sich auf das Wort Jesu berief »Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, son-

3

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 14. 1137.

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Die Unvermeidbarkeit der Snde. Die Eindmmung des Bsen

dern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin« (Mt 5:39). Die Tolstojaner forderten daraufhin, im gesellschaftlichen Verkehr auf alle Zwangsmaßnahmen zu verzichten und sich auf Ermahnungen zu beschränken, weil sie allein der Liebe und der Achtung vor dem freien Wesen des Menschen entsprechen. Zumal den bewaffneten Militär- und Polizeieinsatz lehnten sie mit Berufung auf die Bergpredigt strikt ab. Frank hat sich die Auseinandersetzung mit dem Pazifismus, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg gerade in christlich gesinnten Kreisen in Westeuropa verbreitet war, nicht leicht gemacht. In der nach Kriegsende überarbeiteten Schrift Das Licht in der Finsternis sind ihr lange Abschnitte gewidmet. Den Pazifisten gesteht er zu, daß das Gebot des Dekalogs »Du sollst nicht töten« universal gilt. Darum ist »jeder, der getötet hat, ein Sünder – selbst wenn diese Tötung aus den uneigennützigsten Motiven, aus dem Gefühl der Nächstenliebe […] begangen wird. Auch der Soldat, der den Feind im gerechtesten Verteidigungskrieg tötet, […] muß sich als Sünder erkennen« (LidF 182). Die Tötung eines Menschen, auch in Notwehr oder zu Verhinderung eines Verbrechens bleibt eine »schwere Sünde« (LidF 181). Das Dilemma ergibt sich daraus, daß auch das Unterlassen einer angemessenen Verteidigung bei drohender Kriegsgefahr oder gegenüber einem gewalttätigen Verbrecher sündhaft ist, weil es gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt. In dem Dilemma, sich entweder gegen das Gebot der Nächstenliebe zu versündigen, indem man die Hilfe in der Gefahr unterläßt, oder zu sündigen, indem man durch die Tötung des Angreifers oder Verbrechers das Sittengesetz verletzt, ist der Ausweg zu wählen, »der am wenigsten von Sündigkeit belastet ist oder im größtmöglichen Maße den Forderungen der moralischen Pflicht genügt« (ebd. 184). Der Christ steht also vor der Aufgabe abzuwägen, welche Sünde größer ist: »die Sünde, die mit dem aktiven Widerstand gegen das Böse verbunden ist«, also die Sünde der Gewaltanwendung aus Nächstenliebe, oder »die Sünde der Untätigkeit«. Franks Formulierung läßt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß es Situationen geben könne, in denen die Verantwortung für den Nächsten und der von der Liebe geleitete »sittliche Takt« keine andere Wahl lassen, als »Zuflucht zu den weltlichen Mitteln des Kampfes zu nehmen, die unvermeidlich mit Sünde belastet sind, d. h. einen Weg zu betreten […], der vom Weg der inneren geistigen 171 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

Vervollkommnung abweicht«. Gerade »die christliche Pflicht« nötigt uns, sagt Frank den Pazifisten, »eher eine Sünde auf unser Gewissen zu nehmen, anstatt mit Rücksicht auf unsere persönliche Reinheit und Heiligkeit durch Untätigkeit schuldig am Triumph des Bösen in der Welt zu werden« (LidF 181; Übersetzung geändert). Daß es überhaupt zu diesem Dilemma kommen kann, hat seinen Grund darin, daß die Welt, in der wir handeln müssen, »eine noch unerlöste und deshalb mit Sünde belastete Welt« ist (LidF 181). Mit den aus seiner Sicht ganz irrigen pazifistischen und anarchistischen Folgerungen aus der Bergpredigt hat Frank sich wiederholt auseinandergesetzt. Er hält ihnen entgegen, daß schon das Sittengesetz und nicht erst die staatliche Ordnungsgewalt die freie Selbstverfügung einschränkt, diese also nicht als absolut verstanden werden kann. Er gesteht den Tolstojanern allerdings zu, daß das Gesetz, welche Form es auch hat, ein Tribut an den bösen Willen des Menschen und damit an die Sünde ist. Wer das Gesetz und seine Sanktionsgewalt zur Bekämpfung des Bösen einsetzt, erkennt eben dadurch dessen Macht an und unterwirft sich ihr. Zwang jeder Art ist in der Tat, wie Frank nachdrücklich betont, völlig ungeeignet, das Böse im Herzen eines Menschen zu tilgen. Daß die mit den Gesetzen verbundene Nötigung dennoch moralisch berechtigt und unverzichtbar ist, macht die »Antinomie« und »Tragik« der menschlichen Situation aus. Diese Tragik macht es unvermeidlich, im Kampf gegen das Böse, zu Maßnahmen zu greifen, die objektiv sündhaft sind, und diese Sünde »auf seine Seele zu nehmen« (GGdG 189). Da Frank an der uneingeschränkten Geltung des Tötungsverbots festhält, kann er dem Vorwurf entgegentreten, der gute Zweck der Nächstenliebe heilige bei ihm das unheilige Mittel der Gewaltanwendung. Davon kann, wie Frank ausführt, keine Rede sein. Das Prinzip »Der Zweck heiligt die Mittel« ist als unsittlich zurückzuweisen, »weil es die Heiligkeit des Guten relativiert und den unbedingten Gehorsam gegenüber der moralischen Pflicht durch eine rational-utilitaristische, gleichsam wirtschaftliche Berechnung der moralischen Vor- und Nachteile ersetzt« – nicht aber, weil es unter bestimmten Umständen eine Handlung zuläßt, die böse ist. Wo ein Verbrecher einen Unschuldigen angreift und ein Helfer den Angreifer in Notwehr tötet, geht es nicht um die absolute Rechtfertigung einer sündhaften Tat (das gilt, wie Frank eigens bemerkt, selbstverständlich auch für den Verteidigungskrieg). Vielmehr wird hier ein Mensch »gegen seinen Willen vor die tragische Notwendigkeit ge172 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die universale Schicksalsgemeinschaft aller Menschen

stellt, die moralische Reinheit einer einzelnen Handlung auf Grund der Forderung der Nächstenliebe zu opfern«. Wer in diese tragische Situation gestellt ist, weiß um die Sündhaftigkeit seines Tuns, weiß aber auch, daß Untätigkeit eine noch größere Sünde wäre. Seine Handlung drängt sich ihm »ungeachtet ihrer Sündhaftigkeit« als »einzig moralisch verpflichtende« Lösung auf (LidF 184). Der Maßstab, an dem die sittliche Gutheit einer Handlung zu messen ist, ist darum »nicht ihre Reinheit oder Sündenlosigkeit, sondern nur ihre Notwendigkeit für die möglichst effiziente Bewahrung der Welt vor dem Bösen [dlja naibolee effektivnogo ograzˇdanija mira ot zla]« (LidF 183). Sittlich gerechtfertigt sind solche Handlungen, welche die Gerechtigkeit fördern; – daß diese nicht in einem nur partikulären Nutzen bestehen kann, sondern allumfassend zu verstehen ist, geht hinreichend deutlich aus der Ontologie der All-Einheit hervor.

6.

Die universale Schicksalsgemeinschaft aller Menschen

Frank nennt es »ein unerschütterliches Axiom des christlichen Gewissens«, daß jeder Mensch nicht nur für das von ihm selber verursachte Böse, sondern »auch für das in der Welt herrschende Böse, dem er sich nicht widersetzt, verantwortlich ist« (LidF 176). Durch dieses Axiom unterscheidet sich die christliche Moral von der bürgerlichen Rechtsordnung, derzufolge allein der Täter für seine Tat verantwortlich ist. Daß Verantwortung über das eigene Tun hinausreichen kann, erleben wir, wo die menschliche Beziehung nicht vom Recht, sondern von der Liebe bestimmt ist. So fragen sich Eltern, was sie in ihrer Erziehung schuldhaft versäumt haben, wenn ihre Kinder Böses tun. In einer Ehe »macht jeder der Partner sich selbst für jede Ungerechtigkeit verantwortlich, die in der Beziehung unterläuft, sogar dort, wo die unmittelbare Schuld beim anderen liegt; er fragt sich, welche seiner eigenen Sünden, welches Versäumnis jenes Böse verursacht hat, das sich in die Seele des Partners eingeschlichen hat«. Weil die Liebe zum Nächsten die oberste Pflicht des Christen ist, »erkennt er sich als mittelbar für jedes Übel, jedes Leid und jede Not in der Welt verantwortlich […]. Denn jedes Übel oder Unglück versteht er als Ergebnis seines Versäumnisses in der Erfüllung der Pflicht der Liebe«. Ebenso trägt für das Unrecht, das im öffentlichen Leben geschieht, jeder eine gewisse Verantwortung, auch wer nicht 173 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

unmittelbar daran beteiligt ist: »Wir sagen uns: ›Ich mußte das voraussehen und ihm beizeiten entgegenwirken; und wenn das nicht geschehen ist, dann ist am Bösen, das von anderen begangen wurde, auch meine Nachlässigkeit schuld; meine Unaufmerksamkeit gegenüber dem, was von anderen Menschen getan wird, ist ein Mangel an tätiger Liebe zu den Nächsten oder der Sorge um sie‹«. »Das christliche Bewußtsein gibt diesem Prinzip der Verantwortung jedes einzelnen für das weltliche Übel eine allgemeine, grundsätzliche und universale Begründung. Denn hier ist die Pflicht zur Liebe und zur Verantwortung für andere nicht einfach eine moralische Vorschrift oder ein moralisches Gefühl, sie gründet vielmehr in der Wahrnehmung der inneren ursprünglich organischen All-Einheit des allmenschlichen Lebens« (LidF 177). Frank nennt es eine »überaus wesentliche Schlußfolgerung«, daß jeder Mensch, also auch jener, der sich ernsthaft um sittliche Vollkommenheit bemüht, »den dunklen Kräften dieser Welt unterworfen« ist, so daß auch in ihm »die universale Sündhaftigkeit der Welt« zur Wirkung gelangt (LidF 173 f.; 178). Die geistige Schicksalsgemeinschaft wirkt sich selbstverständlich auch in positiver Hinsicht aus: Das stille Gebet eines Einsiedlers hat, »all unseren naturalistischen Vorstellungen zum Trotz«, eine heilsame Wirkung für alle anderen Menschen. Die Überzeugung, daß alle Menschen zu einer universalen »Schicksalsgemeinschaft« verbunden sind, so daß an der Schuld des einen auch die anderen teilhaben, findet sich auch in zahlreichen Zeugnissen der klassischen russischen Literatur. 4 Der ontologisch begründete »Zusammenhang der ganzen Welt, die Einheit ihres Schicksals«, hat weitreichende theologische Konsequenzen, auf die noch näher einzugehen ist. Frank sieht in ihm »letzten Endes die einzige Bedingung, unter der – entgegen der verbreiteten individualistischen Anschauung – die erlösende, sühnende Kraft von Christi Offenbarung und Tat für uns überhaupt denkbar ist«. Was für die Tat Christi gilt, gilt auf andere Weise für jeden

F. Dostojewski läßt in seinem Roman »Die Brüder Karamasow« den todkranken Markell sprechen: »Ja, und ich sage dir, Mütterchen, ein jeder von uns ist vor allen an allem schuldig. […] Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber ich fühle es bis zur Qual«. Ähnlich erkennt sich auch der Richter, der den Mörder des alten Karamasow verurteilen soll, am Mord, obwohl er nichts mit ihm zu tun hat, mitschuldig. In I. Turgenews Roman »Das Adelsnest« ist die junge Lisa bereit, »für unsere Sünden«, an denen sie aktuell keinen Anteil hat, Buße zu tun.

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Nochmals: Gnade und Gesetz. Christliches Leben in der Welt

Menschen: Jeder hat »durch seine ureigene Verbindung mit allen anderen Menschen, durch seine Teilhabe an der All-Einheit des Weltseins notwendig teil an der gemeinsamen, kosmischen Tat der Erlösung«. Aus der idealen Einheit aller folgt weiter, daß die endgültige Erlösung nur einer einzelnen Seele undenkbar ist, solange eine andere krank ist oder untergeht. »Denn unabhängig davon, welches Glied von der Krankheit betroffen ist, wäre dies ein Zustand, der den Organismus als ganzen in Mitleidenschaft zöge«. Und er zitiert den Apostel Paulus, daß »alle Glieder mitleiden, wenn ein Glied leidet, und sich alle mit ihm freuen, wenn ein Glied geehrt wird« (1. Kor. 12:26. LidF 173–175. Zur geistigen Einheit s. auch Kap. XIII über die Kirche).

7.

Nochmals: Gnade und Gesetz. Christliches Leben in der Welt

Das sittliche Leben hat, wie gezeigt wurde, zwei Seiten: Es besteht in der Übereinstimmung mit dem immanenten Heiligen, aber auch im Gehorsam gegenüber der vom transzendenten Sittengesetz auferlegten Pflicht. Damit das Heilige im Menschen wachsen kann, muß dieser sich ihm in voller Freiheit öffnen. »Denn die wahrhaft erlösenden und gnadenreichen Kräfte wirken nur durch das Element der Freiheit, durch das spontane Erwachen der tiefen Kräfte des menschlichen Geistes, die jenen bereitwillig entgegenkommen«. Jeder Zwang – selbst die Nötigung durch die vom Sittengesetz auferlegte Pflicht – schränkt die Freiheit der Zustimmung zur »Wahrheit« ein (GGdG 188 f.). Die Welt vom Bösen zu befreien liegt ausschließlich in der Macht der »höchsten Gnadenkräfte«, die der Mensch nur »begleiten« kann, indem er durch seine Liebe bewirkt, daß auch der andere Mensch sich ihnen öffnet und sie in sich wirken läßt. Die Welt – zu ihren Mitteln gehört auch das Sittengesetz – kann sich nicht selbst vom Bösen befreien. Der christliche Realismus muß deshalb, wie Frank in Das Licht in der Finsternis mit großem Nachdruck betont, zwischen der Ausrottung des Bösen und seiner Eindämmung unterscheiden. Zum letzten gehört der Einsatz für das Wohl des Nächsten, der auch Gewaltmittel bis hin zur Tötung eines Verbrechers einschließen kann. Denn als empirische Kraft ist die Gnade ohnmächtig – so wie das Licht des Logos, das in der Finsternis leuchtet, 175 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

diese aber bis zum Ende der Welt nicht überwinden kann (vgl. LidF 179 f.). Franks Annahme einer um der Liebe zum Nächsten willen gerechtfertigten »Sünde« enthält zweifellos ein Problem. Frank sieht die Lösung in der Unterscheidung der Gebote des Sittengesetzes bzw. des Naturrechts von den Geboten Christi; er knüpft dabei an einen Gedanken des Apostels Paulus an. Der Sinn eines Gesetzes besteht in der »Disziplinierung, Lenkung und Zügelung des menschlichen Willens«. Es verlangt oder normiert bestimmte Handlungen, damit das Leben nicht im Chaos versinkt. Das gilt auch für das Vierte Gebot des Dekalogs, das dazu auffordert, seinen Vater und seine Mutter zu ehren; denn auch dieses Gebot ist auf ein bestimmtes Tun gerichtet. Anders die Gebote Christi, wie sie etwa im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe und in der Bergpredigt zum Ausdruck kommen. Sie lenken das sittliche Leben »als erlösende und rettende Gnade«, die dem Menschen »im Akt des Glaubens gegeben und deshalb frei verwirklicht wird«. Wo die immanente Gnade zur Wirkung kommt, erhält das sittliche Leben einen neuen Charakter: Es wird nicht mehr von der Sorge um die korrekte Erfüllung des Gesetzes beherrscht, sondern geschieht im Vertrauen auf die befreiende Gnade und in ihrer Kraft. Die mit Hilfe der Gnade zu erfüllenden Gebote Christi haben einen anderen Sinn und deshalb auch ein anderes Objekt. Sie gebieten oder verbieten keine bestimmten Handlungen und fordern nicht die Erfüllung bestimmter Pflichten, sondern richten sich auf »die innere geistige Ordnung des Menschen, aus der die Handlungen hervorgehen – die ihr aber dennoch nie ganz adäquat sind«. Die Gnade ist darauf gerichtet, »so zu sein, wie man sein muß, um ›durch das Tor, das zum Leben führt‹ zu gelangen« (vgl. Mt 7:14). Die Gnade macht nicht im Sinne des »Gesetzesgehorsams« gerecht, wie Frank mit Paulus sagt; vielmehr heilt sie das sittlich kranke Sein des Menschen, so daß er in das Reich Gottes eingehen kann und »vollkommen« wird, wie es auch sein »himmlischer Vater« ist (vgl. Mt 5:48; LidF 188 f.) So gelangt Frank zu der Folgerung: An sich gibt es überhaupt keine Handlungen, die als solche im strengen Sinn des Wortes »christlich« zu nennen wären; »sie sind dies nur in dem Maß, in dem sie wahres christliches Sein zum Ausdruck bringen« (LidF 190). Das christliche Lebens als solches besteht in der »nicht sichtbaren Aktivität einer inneren Ordnung, die auf das Erreichen, das Bewahren und die maximale Fülle des Seins in Gott abzielt«. Alles Tun, 176 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Nochmals: Gnade und Gesetz. Christliches Leben in der Welt

seien es äußere Handlungen oder eine innere Gesinnung, »sind nur Ausdruck und Hinweis – und zwar ein inadäquater – auf das Sein als Sein in Gott«. Zwar kann in der »Welt«, die noch nicht von der Gnade durchdrungen ist, unter gewissen Umständen der »sittliche Takt« eine Handlung nahelegen, die dem Sittengesetz widerspricht; auf der Ebene der Gnade aber, die wesentlich »die Ordnung des geistigen Seins des Menschen« betrifft, kann es keine Situation geben, die verlangen könnte, dieses Sein zu verletzen. Das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, welches die Ordnung des christlichen Seins zum Inhalt hat, gilt absolut und verbietet ohne Einschränkung, den Mitmenschen zu hassen – gerade auch in den Situationen, die es zur Pflicht machen, »die Normen des Naturrechts, d. h. die Handlungsnormen zu übertreten« und gegebenenfalls einen Angreifer in der Notwehr zu töten (LidF 192 f.). Frank weiß sehr wohl, daß es letztlich nicht die der Gerechtigkeit geschuldete äußere Gewaltanwendung ist, die das menschliche Zusammenleben am nachhaltigsten zerstört, mag sie auch vom bestraften Übeltäter als grausam empfunden werden; vielmehr ist es der »Geist des Hasses«. Ein konkretes Beispiel bietet der Zusammenhang zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert: »Die Menschheit hätte sich längst und verhältnismäßig leicht von den Zerstörungen des Krieges von 1914–1918 erholt, wenn der in dieser Zeit angesammelte Geist des Hasses, der Erbitterung und des Rachedurstes nicht das ganze ökonomische und politische Leben der folgenden Jahrzehnte vergiftet hätte. Die Frucht eben dieses haßerfüllten Geistes war der soeben vergangene zweite, noch weitaus schrecklichere Krieg, der die Drachensaat des Hasses und des Rachedurstes in noch viel größerem Umfang ausgesät hat« (LidF 194). Auch für sein Beharren auf der uneingeschränkten Geltung des Sittengesetzes, das ihn jeden Verstoß gegen das Tötungsverbot als »schwere Sündhaftigkeit« verurteilen läßt, sieht Frank sich durch die Erfahrung bestätigt. Denn sie zeigt, daß die Gewalt den verrohen läßt, der sie anwendet, und eine Atmosphäre schafft, in der die Gewalt zur Gewohnheit wird. Die Gewöhnung an Handlungen, die vom Naturrecht verurteilt werden, kann »die Seele verderben«, weil sie die Feinfühligkeit abstumpfen läßt. Das gilt selbst dann, wenn die Gewalt von der Pflicht gefordert wird. Die umstandslose Rechtfertigung der Gewalt im »gerechten Krieg« verwischt die Grenze zwischen Gut und Böse, so daß schließlich jedes Mittel als erlaubt gilt. Die altkirchliche Praxis, die vom Soldaten für die von ihm – gleich 177 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Sollen grndet im Sein

unter welchen Umständen – begangenen Gewalttaten Reue und Buße verlangt, hat, wie Frank bemerkt, einen tiefen Sinn (LidF 182) 5 . Eine gewisse Nähe Franks zu Kant ist auch in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen. Zustimmend zitiert Frank Kants berühmten Satz aus der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, daß »überall nichts […] zu denken möglich [ist], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« 6 (LidF 194). Dieser Satz, demzufolge die Gesinnung für die sittliche Qualität einer Handlung ausschlaggebend ist, fällt, wie Frank bemerkt, »mit dem Sinn der christlichen Wahrheit zusammen« (nur Kants Begriff »Willen« hält er für erklärungsbedürftig). Doch auch der Unterschied zu Kant ist deutlich erkennbar. Kant kennt nach Franks Urteil mit dem Sittengesetz nur die eine Seite des sittlichen Lebens, nicht die im Menschen immanent wirkende Gnade. Er gelangt zu rigoristischen Konsequenzen, weil er von der »Glückseligkeit«, die er als Beweggrund des sittlichen Handelns unbedingt ausschließen will, nicht die Liebe zum Mitmenschen unterscheidet (so verurteilt Kant, der die aristotelische Epikie nicht kennt, in geradem Gegensatz zur Frank jeden Verstoß gegen das Sittengesetz, so auch die Lüge, die zur Rettung eines von Mord bedrohten Mitmenschen geschieht).

8.

Die Utopie der Selbsterlsung

Fataler als der Irrtum der »Tolstojaner«, die als ethische Puristen das Gesetz und seine Sanktionen ablehnen und zur Passivität angesichts der Gewalt neigen, ist die Auffassung, mittels rigider gesetzgeberischer Maßnahmen eine Heilung der sittlichen Unvollkommenheit des Menschen erreichen zu können. In den Geistigen Grundlagen der Gesellschaft aus der Zwischenkriegszeit der zwanziger Jahre warnt Frank im Blick auf das kommunistische Projekt des »neuen Menschen« und auf christliche Gruppen, die sich von ihm beeindruckt zeigten, vor dem Bestreben, durch staatliche Machtmittel die Menschen vom Bösen zu befreien. Diese Tendenz ist als theokratiVgl. auch S. L. Frank: S nami Bog, in: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva. Moskau (Respublika) 1992, S. 336. 6 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kant’s Werke, Band IV. Berlin und Leipzig 1911, S. 393 (Frank zitiert ungenau auf Russisch). 5

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Die Utopie der Selbsterlsung

sche Versuchung auch die Versuchung der Kirche, nämlich das Heilige mit weltlichen Mitteln durchzusetzen. Frank erkennt sie bereits bei den Taboriten, den Wiedertäufern, im calvinistischen Genf und dann bei den Jakobinern in der Französischen Revolution. Wo ein Machthaber gewaltsam die Menschen sittlich vervollkommnen und humanisieren will, rechtfertigt er sein Vorgehen mit einer Ideologie, meist in Gestalt einer Sozialutopie; er verlangt zu diesem Zweck bedingungslosen Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen und schränkt so die sittliche Selbstbestimmung seiner Bürger ein oder hebt sie sogar auf. Dieser Versuch muß scheitern. »Die ›Welt‹ muß zwar restlos in das gottmenschliche Sein eingehen und verklärt von ihm auf genommen werden – doch kann und soll sie, da sie Welt bleibt, dieses nicht in die engen Grenzen und entstellten Formen, die ihr als solcher eigen sind, aufnehmen«. Wahres sittliches Bemühen muß versuchen, die Welt für das Heilige zu gewinnen und das Heilige vor dem Eindringen der Welt zu bewahren (GGdG 203). Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Frank in einer bemerkenswerten Analyse nochmals den geistigen Zusammenhang untersucht, der zwischen dem Bestreben, durch politisch-organisatorische Maßnahmen die Gesellschaft vom Bösen zu befreien, und dem Abgleiten in den Terror besteht. Mit dem Titel Die Häresie des Utopismus bildete diese Analyse ein Kapitel in Das Licht in der Finsternis, sie erschien dann etwas verändert als eigener Aufsatz 1946 in russischer und 1954 in englischer Sprache. 7 Unmittelbar hatte Frank in seiner Analyse die Menschenverachtung vor Augen, die der sowjetische Sozialismus auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft praktizierte. Mit großer Klarsicht erkannte er aber ebenso, daß auch die »Dämonie des Nationalsozialismus und des Faschismus« die Menschen verführen konnte, weil in diesen Bewegungen »der von Anfang an böse Wille sich den Anschein einer messianischen Bewegung zur Rettung der Welt gab« 8 . Unter »Utopismus« versteht Frank nicht einfach den Versuch, durch organisatorische Maßnahmen die Gesellschaft gerechter zu machen; utopistisch ist vielmehr die Auffassung, das vollkommenere Leben könne durch einen bestimmten organisatorischen Aufbau der Gesellschaft und unter Verzicht auf mühsame erzieherische Appelle S. L. Frank: Eres’ utopizma. In: Novyj zˇurnal, 1946, 137–153. Nochmals abgedruckt in: Po tu storonu pravogo i levogo. Pod red. V. S. Franka. Paris 1972, S. 83–106. 8 S. L. Frank: Eres’ utopizma. In: Po tu storonu pravogo i levogo. Paris 1972, S. 88, 86. 7

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Das Sollen grndet im Sein

an die freie Zustimmung der Bürger gleichsam automatisch erreicht werden. Der Utopismus ist die Ideologie von Menschen, die meinen, ein aufgeklärtes Bewußtsein über die wahren Ursachen, welche das vollkommene mitmenschliche Leben bisher verhindert haben, zu besitzen. Sie glauben, daß diese Ursachen »nicht innerhalb, sondern außerhalb des Menschen«, vor allem in den Mechanismen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung liegen. Frank sieht in dem Glauben, »die Welt durch den alles organisierenden autonomen Willen des Menschen erlösen« zu können, »das typische Beispiel einer Häresie«, nämlich die »Entstellung einer religiösen Wahrheit«. Gerade die kommunistische Sozialutopie setzt voraus, daß die Menschen an sich gut sind und die sozialen Beziehungen nur durch böse Umstände verdorben sind. Sie glaubt, durch Enteignungen und Planwirtschaft die Übel beseitigen und die Gesellschaft befrieden zu können. Damit die Befreiung von den Übeln der Gesellschaft gelingen könne, müssen alle ihre Glieder die von den Sozialingenieuren erlassenen Gesetze konsequent befolgen. Da die mangelhaften Zustände trotz der ergriffenen Maßnahmen bestehen bleiben, müssen Schuldige gefunden werden, welche die Übelstände zu verantworten haben und die deshalb an ihrem verderblichen Tun zu hindern bzw. zu ihrem Heil zu zwingen sind. Die Gesetze werden noch unnachsichtiger durchgeführt und können die Heilung der Gesellschaft doch nicht erreichen. Da die Prämisse der Erlösungsutopie nicht in Frage gestellt wird, müssen die Schuldigen, um der Gesundung der Gesellschaft willen, ausgerottet werden. Diesem Zweck diente in der Sowjetunion die Parole von der »Verschärfung des Klassenkampfes« und der Vernichtung des Klassenfeindes durch die so legitimierten »Säuberungen«. Die Anmaßung zu wissen, was wahrhaft menschlich ist, trifft im Utopismus mit der Verachtung der Freiheit und dem Glauben an die befreiende Rolle der Gewalt zusammen; denn an den freien Willen zu appellieren führt nach der Meinung der Ideologen nicht zur Besserung der menschlichen Gesellschaft. Bereits der Apostel Paulus hat die »Häresie« der Selbsterlösung entschieden zurückgewiesen und ihm die christliche Hoffnung auf Erlösung durch Gnade gegenübergestellt. Wohl kann das Gesetz, wie Paulus im Römerbrief ausführt, das Böse äußerlich zügeln und ist deshalb unverzichtbar. Als Korrektiv der Sünde ist es aber auch deren Korrelat. Es kann deshalb das Böse nicht prinzipiell überwinden und von ihm befreien. Das vermag nur die Gnade, deren Korrelat die Freiheit ist. Das Gesetz aber ist der Widerpart von Freiheit und 180 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Utopie der Selbsterlsung

Gnade. Wo aus dem Gesetz die »Wahrheit« (das seinsgemäße Heilige im Sinne Franks) geschwunden ist, wird es zum »gnadenlosen« Instrument des Terrors. Der utopistische Versuch, »mit menschlichen Kräften das Reich Gottes auf Erden zu errichten«, mißachtet die Grenze, die der weltlichen Ordnungsmacht durch das Wort Jesu gesetzt ist: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Lk 20:25). So sehr damit die weltliche Macht in ihrer Selbständigkeit anerkannt ist, so ist diese doch durch den Herrschaftsanspruch Gottes begrenzt und relativiert. Frank macht damit nochmals auf die Zweiheit des Lebens aufmerksam, die zum Grundbestand des Daseins gehört: Der Mensch ist sowohl den Kräften dieser Welt unterworfen, aber er besitzt auch ein freies Sein in Gott. Weder kann das Reich des Kaisers das Reich Gottes verschlingen, noch können, solange die Welt besteht, die Kräfte der Gnade die Welt in das Gottesreich verwandeln. Der Versuch, die Welt insgesamt zur Kirche Christi zu machen, würde unausweichlich zur Verweltlichung der Kirche führen und das »Salz der Erde« würde seine Kraft verlieren zu salzen. Diese Grenzziehung ist den weltlich-rational denkenden Staatslehrern, den »Griechen« und »Römern«, unverständlich und eine »Torheit« – »für das leidenschaftliche und nur die eine Seinsebene kennende Denken der Juden« aber ist sie ein »Ärgernis« (wie Frank in Anspielung auf den Ersten Brief des Paulus an die Korinther, 1:23, sagt). Der Versuch, die Grenze zwischen der Welt und dem Heiligen zu verwischen oder aufzuheben, ist im Grund »eine judaisierende Entstellung« 9 der christlichen Offenbarung, für welche das Gottesreich »nicht von dieser Welt« ist. »Sie ist als solche die Reaktion auf das ›Ärgernis‹, welche die Offenbarung für ›Juden‹ immer bleibt, d. h. für Menschen, für die das Maß der Wahrheit in ihrer Nützlichkeit besteht, die den eigenen Augen sichtbar, klar und in ihrem Leben verkörpert ist. Der Zugang zum Reich Gottes, der den Menschen durch Christus eröffnet wurde, wird hier, kurz gesagt, als politisches Programm verstanden, um das messianische Gottesreich auf Erden zu verwirklichen« (LidF 140; 142). Schon in Die geistigen Grundlagen der Gesellschaft hatte Frank in den utopistischen Bestrebungen in neuem Gewand die Wiederkehr der pharisäischen Überzeugung erkannt, das Heil durch strikte UnDie Wortform »judaisierende Entstellung« [iudaizirujusˇcˇie] hat in der russischen Kirchengeschichte ein gewisses Vorbild. Im 15. Jahrhundert war in Nowgorod eine rationalistisch denkende christliche Häresie entstanden, die von ihren orthodoxen Gegnern Judaisierende [zˇidovstvujusˇcˇie] genannt wurden.

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terordnung unter das Gesetz gewinnen zu können: »Jeder Glaube an den absoluten und heiligen Charakter irgendwelcher Prinzipien und Formen des äußeren, empirischen gesellschaftlichen Lebens, jeder Versuch, durch äußere Maßnahmen und gesellschaftliche Reformen das ›Reich Gottes auf Erden‹ zu errichten, enthält in sich die geistige Krankheit des Pharisäismus und macht in dem Maß, in dem er verwirklicht wird, das ihm eigene sittliche Böse offenkundig – seine Unmenschlichkeit, seine Herzlosigkeit, seinen tödlichen Formalismus« (GGdG 203). Wenige Jahre bevor Frank seine Sozialphilosophie abfaßte, hatte der marxistische Philosoph Georg Lukács, damals für kurze Zeit Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik, die Frage gestellt, ob das Ziel, »die Menschheit von der Ausbeutung zu befreien«, auch die Anwendung terroristischer Mittel und die physische Vernichtung des Klassenfeindes rechtfertige. Lukács hatte diese Frage bejaht: Der Revolutionär darf um des guten Zweckes willen sich subjektiv schuldig machen und muß akzeptieren, daß er folglich auch unter seinem subjektiven Schuldgefühl leidet. 10 Frank erwähnt diese brisante Diskussion nicht; die Gedanken über »Gnade und Gesetz«, die er in den Geistigen Grundlagen der Gesellschaft entwickelt, enthalten jedoch eine Stellungnahme. Der Staat darf und muß, um das Böse »zu bändigen«, mittels seiner Gesetze in das gesellschaftliche Leben regelnd eingreifen. Dabei kann es, wie Frank erkennt, zu »tragischen Konflikten« kommen, denen das Individuum nicht ausweichen darf. Denn das Gesetz »widerspricht an sich dem Ideal der auf Freiheit und Liebe gegründeten wesenhaften Sittlichkeit und bezeugt die sündhafte Schwäche des Menschen« (GGdG 187–190). Der Unterschied der Position Franks zu jener des Marxisten Lukács ist offensichtlich. Anders als dieser wußte Frank, daß das sittliche Gute und so auch die Gerechtigkeit allein durch freie Zustimmung verwirklicht werden kann. Darum ist die Gewaltanwendung für ihn nicht schon gerechtfertigt, um Gerechtigkeit durchzusetzen, sondern nur um aktuelles Unrecht zu verhüten.

Vgl. G. Lukács: Taktik und Ethik, Politische Aufsätze I, 1918–1920, hg. v. J. Kammler und F. Benseler. Darmstadt-Neuwied 1975. Dazu Agnes Heller, in: R. Dannemann (Hg.): Georg Lukács. Jenseits der Polemiken. Beiträge zur Rekonstruktion seiner Philosophie. Frankfurt 1986.

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Christlicher Optimismus

9.

Christlicher Optimismus

Sowohl die eigene Lebenserfahrung als auch das neuplatonische Denken hätten Frank veranlassen können, das »Dunkel« in der Welt für so mächtig zu halten, daß der Kampf mit dem »Licht« ewig unentschieden bleiben muß. Dennoch ist sein Urteil über die »Welt« von einem mit empirischen Maßstäben nicht zu begreifenden Optimismus bestimmt: »An und für sich, in ihrer ursprünglichen inneren Beschaffenheit, ist sie nicht Finsternis. Als Schöpfung des göttlichen Lichts, das vom Logos herrührt und von dieser Herkunft geprägt ist, verbirgt sie in ihren Tiefen das Prinzip des Lichts«. Die »Welt« ist zwar von der Finsternis des Bösen durchdrungen, sie ist nach dem Johannesevangelium sogar das Symbol dieser Finsternis; aus derselben Quelle aber weiß Frank auch, daß die Welt »das Gefäß und Material ist, in dem der Logos sich inkarnierte«. Sie ist, wenngleich auf andere Weise als die individuelle Person, »Bild und Gleichnis Gottes«, denn sonst wäre es nicht möglich, in ihr »Gottes unsichtbare Wirklichkeit« wahrzunehmen, wie es im Römerbrief heißt (vgl. Röm.1:20). Weil trotz des Sündenfalls der »positive und heilige Urgrund« nach wie vor in der Welt präsent ist, ist es geboten, die Autorität des Naturrechts »als das normierende Prinzip des weltlichen und menschlichen Lebens anzuerkennen«. Entschieden widerspricht Frank der bei einigen protestantischen Theologen anzutreffenden Auffassung, das naturrechtliche Denkens sei ein Relikt des Heidentums und in der christlichen Religion der Gnade ein Fremdkörper. Im Naturrecht kommen vielmehr zwei einander widerstreitende Prinzipien wie in einem Kompromiß zusammen: »die Heiligkeit des Menschen in seinem ontologischen Urgrund wie auch seine Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit in seiner empirischen Beschaffenheit« (vgl. LidF 231). Nicht Rückzug von der Welt mit der Begründung, die eigene Heiligkeit zu bewahren, sondern tätige Zuwendung, sogar »Liebe zur Welt« ist gefordert: »Die Zurückweisung der Welt als Sphäre der Finsternis muß mit der Liebe zum heiligen ersterschaffenen Wesen der Welt einhergehen, in dem die Welt das Licht des Logos, das sie geschaffen hat, reflektiert«. Diese theologisch-ontologisch begründete Anerkennung der wesentlich unversehrten ursprünglichen Natur der Schöpfung ist sowohl die Bedingung dafür, den Begriff der Kirche (wie Frank ihn konzipiert) denken zu können, als auch die Voraussetzung für das Gebot der Nächstenliebe (LidF 243–245). 183 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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X. Das transzendentale Wissen von Gott

Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, daß Gott in einem »lebendigen« Vollzugswissen gewußt wird. Dieses Wissen, das die rationale Begrifflichkeit hinter sich läßt, entspringt nicht einem emotionalen Überschwang. Es ist das verstehend erlebte nüchterne, aufmerksame Streben oder Transzendieren des menschlichen Selbstseins ins Unendliche des Urgrundes der Realität, das Gott »berührt« oder »erfährt«. Die rationale Argumentation ist dabei keineswegs überflüssig. Sie muß sich aber bewußt machen, daß sie selbst nur bis an die Schwelle zur Gotteserfahrung gelangen kann (bis an die »Mauer des Paradieses«, wie Nikolaus von Kues sagt), und sie muß das Transzendieren kritisch begleiten, damit es sich nicht mit einem vorläufigen Wissen begnügt. Die Begriffe, mit denen der lebendige Vollzug der transzendentalen Erfahrung beschrieben und verständlich gemacht wird, müssen philosophisch gerechtfertigt sein.

1.

Der Gott der Philosophen und der Gott des christlichen Glaubens

Einer der Einwände gegen die philosophische Gotteserkenntnis, den zu entkräften Franks wiederholtes Anliegen ist, lautet, daß die »Gottheit«, die sich dem »natürlichen« transzendentalen Denken in der »allgemeinen Offenbarung« des Seins zeigt, wenig oder nichts mit dem Gott des christlichen Glaubens zu tun habe; der Gott der Philosophen sei etwas völlig anderes als der Gott und Vater Jesu Christi. Die Behauptung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen beiden Bereichen kann schon deshalb nicht wahr sein, entgegnet Frank, weil wir, um überhaupt das natürliche Wissen vom Glauben unterscheiden zu können, beides zuvor mit einem einzigen geistigen Blick umfaßt haben müssen. Das aber hat zur Bedingung, daß das »sogenannte ›natürliche‹ Sein selbst in seinen letzten Tiefen – auf abgeleitete 184 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Gott der Philosophen und der Gott des christlichen Glaubens

Weise – auch übernatürlich ist«. Die Auffassung, der Glaube als Wissen des Übernatürlichen und die Vernunft als natürliche Erkenntnisweise stünden sich feindlich oder beziehungslos gegenüber, würde jede anspruchsvolle Theologie ausschließen und »sowohl in der Philosophie als auch in der Religion nur zu Obskurantismus« führen (RM 229; 232 f.). So offensichtlich der Unterschied zwischen der Erfahrung des Herzens, in der Frank das Wesen der religiösen Erfahrung sieht, dem esprit de finesse Pascals, und dem rationalen Wissen, dem esprit géométrique, auch ist, so ist doch eine eindeutige scharfe Trennung zwischen beiden Bereichen nicht möglich. Das rationale Denken, das bis zu der Grenze vordringt, die es selbst vom Glauben trennt, erfährt nicht nur seine Beschränkung und Ohnmacht, sondern weist eben dadurch auch auf das »Unberührbare« hin, das jenseits ihrer liegt. In diesen Bereich vermag nur das transzendentale Denken »berührend« einzudringen, so daß in konkreter Beschreibung zum Ausdruck gebracht werden kann, worin der Glaube über die Vernunft hinausgeht. Die Erfahrung des Herzens hat ihre einzigartigen unvergleichbaren Momente, die das ausmachen, was persönliche Religiosität genannt wird: die einmalige individuelle Geschichte der Seele mit Gott mit ihren »lyrischen« und »dramatischen« Höhepunkten. Diese Erfahrung ist jedoch von Elementen durchdrungen, die der rationalen Verallgemeinerung zugänglich sind und die ihre »metaphysische« Komponente genannt werden können. Ein Heiliger, der auf besondere Weise mit der lebendigen göttlichen Fülle verbunden ist, besitzt zweifellos ein unvergleichlich tieferes, lebendigeres »Wissen« von Gott als der Philosoph oder Theologe, der nur rational scharfsinnig über Gott nachdenkt und nur die »allgemeine Natur« Gottes kennt. Doch auch das Gottesverhältnis, das den Heiligen auszeichnet, enthält die metaphysische Komponente: Auch er erfährt Gott »als ewiges, allumfassendes und allgegenwärtiges Wesen«, »als den absoluten Grund allen Seins«, der »in unzertrennlicher Verbindung zu allem Seienden« steht. Unbeschadet der Verschiedenartigkeit des philosophischen Wissens und des Glaubens »fließen sie doch in der einen, allumfassenden Realitätserfahrung zusammen«. Die religiöse Erfahrung hat, wie Frank sagt, »eine Seite, in der sie mit der metaphysischen Erfahrung zusammenfällt« (RM 323). Der rational vorgehende Theologe muß sich bewußt sein, daß die eigentliche Quelle, 185 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

aus der er schöpft, das verstehende Erleben des Herzens ist, soll seine wissenschaftliche Dogmatik nicht zur toten Konstruktion erstarren.

2.

Der Gottesbeweis

Um die Begrenzung der Ratio aufzudecken, bedarf es der argumentativen Stringenz; nur wenn sie gewährleistet ist, ist auch der Überstieg (der Cusanische transcensus) zum Unfaßbaren (incomprehensibile) kein unverantwortlicher Sprung ins Ungewisse oder schwärmerisches Vermuten. Frank hat deshalb nicht gezögert, vom »Beweis« für das Sein Gottes zu sprechen, wenngleich sein Beweis gänzlich anders vorangeht als die berühmten »fünf Wege« des Thomas von Aquin. In klarem Unterschied zu den sog. klassischen Gottesbeweisen lehnt Frank den Ausgang von der uns gegenständlich gegenüberstehenden Weltwirklichkeit ab. Die »einzige Primärquelle«, in der die Frage nach Gott entsteht und aus der sie auch beantwortet werden kann, ist für ihn, wie bereits deutlich wurde, die »reine ›Erfahrung des Herzens‹«. Jede religiöse Erfahrung ist aber unvermeidlich beschränkt; so ist seine eigene Erfahrung durch die Glaubenserfahrung der christlichen Kirche geprägt. Doch darf der Forscher, wie Frank bemerkt, diese Beschränkung in Kauf nehmen, sofern er sich um ein ursprüngliches »religiöses Gespür« bemüht und, um seinen geistlichen Horizont zu erweitern, bereit ist, bei »den Meistern auf diesem Gebiet, den Heiligen und Mystikern«, in die Schule zu gehen. Als beispielhaft sieht Frank die Einstellung an, die er in Bergsons Werk Les deux sources de la morale et de la religion angetroffen hat. Den als »wissenschaftlich« und vorurteilsfrei gepriesenen Versuch, induktiv aus allen bezeugten religiösen Erfahrungen einen ihnen gemeinsamen Gottesbegriff zu ermitteln, hält er für völlig ungeeignet und unergiebig. Selbstverständlich scheidet auch ein autoritativ festgelegtes Gottesverständnis für die philosophische Frage aus. Klar und knapp hat Frank seinen Beweis für das Sein Gottes in Die Realität und der Mensch vorgelegt. Er schreibt hier: »Das Sein der menschlichen Person, wenn man sie in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung versteht, nämlich als Wesen, das sich selbst transzendiert«, ist selbst der »einzige, aber völlig adäquate ›Gottesbeweis‹«. Alle Eigenschaften Gottes, die aus seiner Beziehung zur gegenständlichen Welt erschlossen werden können – so etwa die Vorstellung von 186 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Gottesbeweis

Gott als des allmächtigen Schöpfers und Erhalters der Welt – sind »von der reinen Erfahrung her betrachtet, mehr oder weniger problematisch«, denn – so Franks methodisch maßgebende Einsicht – »Gott offenbart sich mir unmittelbar nur in der ungeteilten Einheit ›Gott und ich‹«. Die Idee »Gott«, welche die meisten Menschen irgendwie haben, philosophisch rechtfertigen, kann deshalb nur heißen, »sie ›verstehen‹, d. h. im Rahmen des Möglichen ihren Inhalt erläutern und ihn mit anderen uns bereits bekannten Gegebenheiten der inneren Erfahrung der Realität in Beziehung bringen« – nicht aber, sie aus irgendwelchen äußeren Gegebenheiten schlußfolgernd abzuleiten (RM 242; 246; 250; DU 362). Die Erfahrung, von der Frank ausgeht, ist die Entfremdungserfahrung, die auch in der neuzeitlichen Philosophie thematisiert wird. Für Frank – der hier mit Kierkegaard übereinstimmt – begleitet das Bewußtsein, fremd und heimatlos in der Welt zu sein, die menschliche Existenz als solche. Gerade in der unabweisbaren Frage nach dem Sinn seines Lebens wird dem Menschen bewußt, daß das bloße Dasein allein weder Sinn noch »Heimat« bietet. Sowohl die objektivierte menschliche Natur im Staat und im öffentlichen Leben als auch die kosmisch-naturhafte Wirklichkeit können jederzeit gleich einem Fremdkörper auf den Menschen eindringen und ihm bewußt machen, wie sehr er in seinem Dasein einem »blinden Gang der Dinge« ausgeliefert ist. Nicht einmal Liebe und Freundschaft schließen die Möglichkeit aus, daß der Geliebte oder Freund plötzlich zum Fremden wird und der Mensch die Erfahrung tiefster Einsamkeit macht. Welt und Natur sind in ihrer sich selbst genügenden Ordnung für seine Sinnsuche blind; sie können deshalb dem Menschen keine letzte Geborgenheit bieten. Ebenso läßt ihn die menschliche Gesellschaft allein. Nicht zuletzt ist es gerade ihre Geschichte, welche die Frage nach dem Sinn des Lebens auslöst. Schließlich bietet auch das eigene Gefühlsleben mit seinen Schwankungen und Widersprüchen dem Menschen keine Antwort auf seine Sinnfrage. Wenn weder die äußere Welt noch die in uns selbst wirkenden naturhaften Kräfte die innerste Sehnsucht nach Heimat und Sinn befriedigen können, ist sie vielleicht – so Franks nächste Frage – im unendlichen Sein zu finden? Seine Antwort: Nein. Die Realität, die wir im Transzendieren über unser eigenes Selbstsein hinaus entdekken, ist namenlos. Heimat oder inneren Halt und Sinn kann uns nur eine Instanz gewähren, die »alles in sich hat, was das Wesen unseres Ich als Person ausmacht. Denn alles Unpersönliche ist uns fremd und 187 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

kann für uns nicht Zuflucht sein« (RM 245). Zwei Attribute sind es, die jene sinngebende Instanz, deren wir offensichtlich bedürfen, auszeichnen müssen: Sie muß, um unbedingt fester Grund unseres Seins sein zu können, das Sein aus eigener Kraft (a se) besitzen, und sie muß »innerlich unbedingt sinnvoll« sein. Beide Attribute ergeben sich aus ihrer Beziehung zu unserem Selbstsein. Im namenlosen und unpersönlichen endlosen Sein, das die Ontologie bedenkt, sind sie nicht zu finden. Franks Argumentation gelangt hier an ihren entscheidenden Punkt: Der Grund für die von der inneren Erfahrung bezeugte Heimatlosigkeit in der gegenständlichen Welt liegt darin, daß der Mensch diese Welt an Ursprünglichkeit und Tiefe unendlich übertrifft. Die Erfahrung selbst – in dieser Welt keine wahre Bleibe zu besitzen – ist jedoch nur möglich, weil der Mensch »in einer anderen Seinssphäre« bereits eine Heimat hat. Es ist also gerade die Erfahrung, heimatlos in der Welt zu sein, die den Menschen verstehen läßt, daß er »in dieser Welt der Vertreter eines anderen, vollkommen realen Seinsprinzips ist« (RM 250 f.). In diesem Gedanken besteht das eigentliche Argument. Es schließt nicht von irgendwelchen Folgen auf deren Ursache. Vielmehr wird ein Prinzip angewendet, das allgemeiner und ursprünglicher ist als ein Vernunftschluß: Als lebendiges Subjekt weiß ich, daß ich der gesamten objektiven Welt-Wirklichkeit erkennend und wertend gegenüberstehe. Ich weiß damit von der Weltüberlegenheit meines Wesens als Person. Zugleich weiß ich in meiner Selbsterkenntnis aber auch, daß ich mit meiner Überweltlichkeit nicht mir selbst genüge, sondern ohne Grund und Halt bin. Das besagt: Indem ich mich in meiner Weltüberlegenheit als unvollkommen erkenne, erkenne ich eben dadurch die Fülle und Ursprünglichkeit einer Realität über der Welt, denn der Bezug auf sie macht mich als »partikuläre, sekundäre, beschränkte und unvollkommene Äußerung« erst denkbar. Mit anderen Worten: Indem ich mein »Sein und Wesen als von aller objektiven Wirklichkeit verschieden und es zugleich als ungenügend und in seinem rein immanenten Wesen der Fülle, Festigkeit und inneren Begründung ermangelnd« erfahre, erfahre ich mich als »›Bild‹, als Erscheinungsweise, als irdische Äußerung eines überweltlichen Prinzips – eines Prinzips, das anders ist als alles irdische Sein« (RM 252). Das, worauf bezogen ich mich als beschränkt erfahre, kann nicht selber beschränkt sein. Frank erinnert daran, daß der platonische Sokrates formal ähn188 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Gottesbeweis

lich argumentiert hatte: Es sei widersinnig anzunehmen, daß wir vernunftbegabten Menschen, die als leibliche Wesen nur einen verschwindend geringen Teil der Welt ausmachen, durch einen glücklichen Zufall als einzige in den Besitz der sonst nirgendwo anzutreffenden Vernunft gelangt seien. Es ist also gefordert, als deren Herkunftsort eine überweltliche Vernunft anzunehmen (RM 251 1 ). Franks Überlegung schließt den Gedanken ein, daß wir unseren Mangel nicht erfahren, d. h. Gottes nicht bedürfen und ihn suchen könnten, wenn wir selber nicht immer schon eine gewisse verkleinerte Spiegelung dessen wären, was wir entbehren (vgl. RM 253). Mehrmals beruft er sich für diesen Gedanken auf Augustinus, der ihm vielfältigen Ausdruck gegeben hat: viderim me, viderim te – würde ich mich erkennen, würde ich auch dich erkennen. Das hier angesprochene Verhältnis – die Erfahrung des Menschen, nach Gott zu fragen und so auf ihn bezogen zu sein – entspricht der biblischen Aussage, daß der Mensch das »Bild« Gottes ist. Doch anders als die Bibel, die vom Schöpfer ausgeht, geht der Philosoph vom immanent erfahrbaren Wesen des Menschen aus: Indem der Mensch sich als auf die Wesensfülle verwiesen und damit als deren Abbild erkennt, erkennt er eben dadurch auch das transzendente Urbild oder den absoluten Tiefengrund des Abbildes. Mit der Erkenntnis, daß Gott ist, ist freilich keine Aussage darüber gemacht, was Gott ist, d. h. über den Inhalt des Gottesbegriffs. Verstehbar ist für uns nur das Verhältnis Gottes zu uns. Nur von ihm ausgehend können wir von Gott sprechen. Ein isoliertes, in sich selbst seiendes Wesen Gottes ist für uns nicht denkbar, weil es prinzipiell überrational und undefinierbar ist. Allein im antinomischen »belehrten Nichtwissen« können wir uns diesem Wesen als einer Instanz nähern, »die, indem sie eben eine der Instanzen des Seins und dabei grundsätzlich verschieden von allem anderen ist, zugleich ihr Wesen in der Gesamtheit ihrer Beziehungen zu allem anderen hat, weshalb dieses Andere irgendwie auch zu ihr gehört«. Einfacher gesagt: Gott ist – und als solcher ist er »›er selbst und das andere‹« – er ist die Einheit seiner selbst mit dem, was ihm gegenübersteht, und so auch mit mir (RM 255). Frank gibt für diesen Verweis keine Quelle an. Man kann vermuten, daß er an Platons Phaidon denkt. Im Anhang über die »Geschichte des ontologischen Gottesbeweises« in Der Gegenstand des Wissens setzt er sich ausführlich mit Platons Beweisen zur Unsterblichkeit der Seele und zum Sein Gottes auseinander.

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Das transzendentale Wissen von Gott

Nur die Diskursivität unseres Denkens zwingt uns, die Frage nach »Gott« und die Frage nach »Gottes Beziehung zu allem anderen« auseinanderzuhalten; in der überrationalen Realität ist das eine vom anderen nicht zu trennen (vgl RM 256). Auf den Vorwurf des Pantheismus oder Seinsmonismus, den Franks Formulierungen bei oberflächlicher Kenntnisnahme auslösen können, ist noch einzugehen.

3.

Das ontologische Argument

Methodisch entspricht Franks Begründung der Realität Gottes und seiner Immanenz im Menschen in seinen wesentlichen Zügen dem ontologischen Gottesbeweis. Bereits in seiner Erkenntnislehre 1915 hatte Frank sich in einem eigenen Kapitel und in dem umfangreichen Anhang »Zur Geschichte des ontologischen Gottesbeweises« ausführlich mit dessen Gehalt auseinandergesetzt. Keineswegs beginnt seine Geschichte, wie Frank feststellt, erst mit Anselm von Canterbury; sein wesentlicher Gedanke ist bereits bei Parmenides anzutreffen. Frank verfolgt dann seine Entwicklung in der Antike insbesondere bei Plotin und Augustinus, in der Neuzeit bei Nikolaus von Kues, Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz bis hin zum Deutschen Idealismus, hier insbesondere bei Fichte. Es handelt sich um eine Idee, so sein Ergebnis, die nicht nur fast alle großen Denker beschäftigt hat, sondern die »in gewissem Sinn das zentrale Problem der Philosophie«, ja sogar deren »zentrale Wahrheit« ausmacht (GdW 520). Seine eigene Sicht des ontologischen Arguments hat er 1930 in einem Beitrag für das »Russische wissenschaftliche Institut« in Belgrad mit dem Titel Der ontologische Beweis des Seins Gottes systematisch entwickelt. 2 Es geht ihm hierbei vor allem darum, die logische Struktur des Beweises gegen spätere und bis in die Gegenwart verbreitete Fehldeutungen klarzustellen. Denn gegen die geläufige Fassung, in welcher der Beweis meist vorgebracht wird, wäre Kants berühmter Einwand berechtigt (100 Taler, die mir fehlen, deren Begriff ich aber denke, werden dadurch nie zu realen 100 Talern). Bei endlichen Dingen gliche es in der Tat dem Bemühen eines Magiers, die Realität des Gedachten aus dem bloßen Begriff ableiten zu wollen. Beim gültigen ontologischen Beweis (den, wie Frank nachweist, 2

Diese Abhandlung ist im Band 8 der Werkausgabe, Verlag Alber, Freiburg, enthalten.

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Das ontologische Argument

auch Anselm vertreten hatte) aber haben wir es mit einem ganz anderen Denkinhalt zu tun. Kant hat, wie Frank mit Hegel feststellt, unbegründet vorausgesetzt, daß sein Einwand auch für jene Begriffe gilt, deren Inhalt über dem »Endlichen« steht. Er hätte beweisen müssen, daß bei jedem logisch notwendigen Urteil die Denkmöglichkeit seines Inhalts von der realen Existenz dieses Inhalts getrennt ist. Mit dem Sein aber haben wir einen Begriff, dessen Inhalt nur als real angenommen werden kann; er kann nicht bloß hypothetisch gedacht oder als bloß gedacht »vorgestellt« werden. Gerade die offensichtliche Tautologie in der Aussage »das Sein ist« zeigt den Sinn des ontologischen Arguments. Er besagt, daß das Denken des Seins nicht anders möglich ist, als daß das Sein (der Inhalt dieses Denkens) real ist, »weil ich im Sein eben etwas habe, das sich über den Gegensatz von ›Denkbarkeit‹ und ›Realität außerhalb des Denkens‹ erhebt«. Daß das Sein ist, folgt notwendig aus seinem Begriffsinhalt. Das gilt selbstverständlich nicht für das Denken über das Sein eines endlichen Seienden, etwa der 100 Taler. So zeigt die cartesische Formel cogito, ergo sum (genauer müßte es heißen cogito, ergo est cogitatio) das denkende Bewußtsein als einen »Inhalt«, der nur als seiend gedacht werden kann. Bei den Begriffen Sein und Bewußtsein ist es sinnlos zu behaupten, sie wären »bloße Begriffe und alle sie betreffenden logisch notwendigen Urteile wären nur hypothetisch und würden deshalb nichts über die Realität des Subjekts des Urteils aussagen« (GdW 226 f.). »Das Denken erkennt sich notwendig als seiend, und ein Denken als ›bloß Gedachtes‹ ist ein innerer Widerspruch« (GdW 493). Es gibt also Denkinhalte, die als »bloß eingebildet« nicht gedacht werden können, deren Gehalt wesentlich über die Grenzen eines Denkinhalts hinausgeht. Zur logischen Struktur des ontologischen Arguments gehört, daß das Sein, das unbedingt seiend ist, kein Gegenstand ist, der dem Erkenntnisblick im epistemischen Sinn gegenübersteht und ihm vermittelt durch den Begriff zugänglich wird. Es wird vielmehr durch seine Selbstenthüllung erkannt. Bildlich ausgedrückt: Wir haben hier keine an sich dunkle Sache, welche erst noch von außen durch einen Lichtstrahl beleuchtet werden müßte, sondern ein Licht, das sich selbst erhellt. Das heißt, daß die »einfache geistige Anschauung« des Inhalts genügt, um seine reale Existenz zu erkennen. Es handelt sich um unmittelbare Evidenz oder Selbstevidenz, nicht um die Ableitung aus irgendwelchen dieser Evidenz logisch vorangehenden 191 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

Einsichten. Das ontologische Argument ist darum kein »Beweis« im üblichen Sinne des Wortes. Frank verweist in seiner Abhandlung auch auf Fichtes Begriff des »Sehens«, von dem (wie bei Descartes’ »Denken«) gilt, daß wir das Sehen niemals nur »hypothetisch« sehen. »Denn dieses Sehen selbst sieht sich, es ist für uns, genauer, für sich selbst, nur kraft seiner selbst anwesend«. »Nicht das ›Sehen‹ als bloßer Akt, nicht das ›Denken‹, ist das, was uns in der Form der Selbstenthüllung gegeben ist und worauf deshalb der ontologischen Beweis anwendbar ist, sondern die Einheit des ›Sehens‹ mit dem ›Gesehenen‹, das absolute Leben, gleichsam der lebendige Herzschlag der tiefsten Urquelle alles Denkbaren und Seienden, der zugleich Sehen und Gesehenes ist«. 3 Was seine »Idee« nicht außer sich haben kann, so daß sie denkbar wäre, auch ohne mit der Realität verbunden zu sein, ist die absolute Realität. Das Absolute ist »jene Realität, die unserem Denken nicht als ›Gegenstand‹ gegeben ist, sondern als etwas, das unserem Denken unabtrennbar eigen ist, und zwar deshalb, weil unser Denken nicht verneint werden kann, denn die Verneinung selbst ist, wie auch alles übrige, sein Ausdruck und deshalb, bezogen auf es selbst, sinnlos. Man kann nicht die bloße Idee, den Gedanken an das absolute Sein haben und fragen: Ist dieser Gedanke wahr, entspricht ihm etwas in der ›Realität selbst‹ ? Denn hier setzt die Frage schon voraus, worauf sie sich bezieht, und verliert darum ihren Sinn. […] Man kann sinnvoll fragen: Existiert dieser oder jener einzelne Inhalt? Denn das heißt: Gehört er zum Sein? Doch man kann nicht fragen: Existiert das Sein selbst? Denn der Gedanke, der in der Frage ›Existiert das … ?‹ ausgedrückt ist, setzt eben das Sein voraus. Das cartesische cogito, ergo sum verwandelt sich, wenn man es genauer bedenkt, in die Wahrheit: cogito, ergo est esse absolutum (oder ens absolutum)«. 4 Die Negation ist auf das Sein nicht anwendbar, weil sie das Sein voraussetzt. Was Descartes mit der Formulierung des cogito also eigentlich beweist, ist nicht das Sein des vereinzelten Ich, sondern das absolute Sein als solches. Klarer hat Descartes, die Einsicht, daß das Sein an sich absolut S. Frank: Der ontologische Beweis für das Sein Gottes. Kapitel I. In: S. L. Frank: Philosophische Aufsätze. Freiburg (Alber). 4 Ebd. – Descartes hat seine Einsicht in die absolute Selbstgewißheit des Geistes verschiedentlich vorgetragen: In den Principia Philosophiae (Teil 1), in den Meditationes (Teil 1) und französisch im Discours de la méthode (Teil 4). 3

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Der religise Charakter des Arguments

ist, mit dem »anthropologischen« Argument in seiner »Dritten Meditation« ausgeführt. Er zeigt hier, ausgehend von der Gewißheit des Ich, daß der Begriff des endlichen Seins erst durch Einschränkung des unendlichen gewonnen wird. Die Wortform »unendlich« verleitet dazu, das Unendliche als Negation des Endlichen vorzustellen (unendlich = nicht endlich). Tatsächlich aber ist schon das Sein als solches unendliches Sein, »alles umfassende Fülle« (ens amplissimum). Erst durch den nachfolgenden Akt der Beschränkung dieser ursprünglichen Fülle gelangen wir zum Endlichen. Darum ist das Endliche das Abgeleitete und Sekundäre, nicht das Unendliche. Das heißt: Descartes’ Überlegung tendiert darauf zu zeigen, daß die Selbstevidenz des Ich in seiner Begrenztheit nicht die logisch ursprüngliche Selbstevidenz ist; ursprünglich ist die Selbstevidenz der Fülle des Seins, weil unser begrenztes Ich überhaupt nur auf dem Boden dieses ursprünglich-unendlichen Seins, durch Begrenzung, denkbar ist. Descartes hat, wie Frank anmerkt, diese Konsequenz allerdings nicht klar gezogen – er hätte sonst den Individualismus, durch den er zum Initiator der neueren Philosophie wurde, nicht vertreten können. – Ganz offensichtlich greift Frank mit dieser Überlegung auch auf Nikolaus von Kues zurück (s. u.). Die erwiesene Notwendigkeit des Seins ist weder eine bloß faktische noch eine nur logische Notwendigkeit. Sie ist von anderer Art, die Frank »ursprüngliche« oder »absolute« Notwendigkeit nennt. Sie kommt dem Sein als umfassender All-Einheit zu, in der die faktische Gegebenheit in ihrer Unüberwindbarkeit mit der Unabweisbarkeit des Logischen vereint ist.

4.

Der religise Charakter des Arguments

Die Erläuterungen, die Frank zum Sinn des ontologischen Arguments gibt, sind für den religiösen Gehalt seiner Philosophie aufschlußreich. Das Wissen von Gott, das dieses Argument offen legt, ist nicht »die Frucht des stolz abstrahierenden Verstandes«. Es »ist einfach die Anwesenheit Gottes selber in unserem Bewußtsein«. Es ist darum ein lebendiges Wissen, in dem es die Trennung von Subjekt und Objekt nicht mehr gibt. Selbstverständlich ist es immer möglich, auch von Gott wie von einem Gegenstand zu reden und den Begriff »Gott« wie jeden anderen Begriff gleichsam als Etikett zu gebrauchen. Von den Dingen können wir Begriffe bilden, die ontologisch 193 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

etwas anderes sind als das Gemeinte selber. Ihre Realität ist uns mittels der Begriffe gegeben. Das wahrhafte Wissen von Gott aber ist kein abstrakt vermitteltes oder begrifflich-gegenständliches Wissen. Gott erkennen oder wissen wir, »indem er selbst sich uns in seiner Realität offenbart«. Der ontologische Beweis ist in Franks Auffassung deshalb eigentlich nur die »rationale Rechenschaft über ein unmittelbares mystisches Erschauen [o … uzrenii]«. Das lebendige Wissen von Gott – wie im ontologischen Beweis aufgedeckt – zeichnet zwei Momente aus, die auch für den religiösen Glauben wesentlich sind: Es ist sowohl frei als auch irrtumslos. Die Aufmerksamkeit auf die im eigenen Selbstsein sich eröffnende geistige Realität auszurichten, ist nur als freier Akt möglich. In ihm löst der Mensch sich von der gleichsam »hypnotisierenden Wirkung«, welche die sinnlich-gegenständliche Welt auf ihn ausübt und ihn überzeugt sein läßt, allein in ihr wahre Realität finden zu können. Das lebendige Wissen, »in dem die Seele von Gott entflammt ist«, ist irrtumslos, weil in ihm die Beziehung des Subjekts zum Objekt eine ganz andere als im gegenständlichen Wissen ist. In ihm »fällt die Idee Gottes mit seiner Realität zusammen«, und diese Koinzidenz läßt (wie Descartes vom denkenden Bewußtsein gezeigt hat) keinen Raum, in den Zweifel und Irrtum eindringen könnten. Wohl können wir uns in unserem Denken über Gott »grob täuschen«; doch in der inneren geistlichen Erfahrung gibt es dafür keinen Platz. Das Wesen des ontologischen Beweises, resümiert Frank, besteht gerade darin, die »spezifische Gewißheit der religiösen Erfahrung« zu erklären. 5 Sich selbst als Abbild einer absoluten Seinsinstanz wahrzunehmen ist etwas anderes, als etwa einen komplexen mathematischen Zusammenhang zu begreifen. Für diesen genügt geschärfte intellektuelle Aufmerksamkeit. Dagegen bedarf es einer »lebendigen Intuition«, um die Sehnsucht nach einem festen Grund im eigenen Selbstsein – und darin schon seine Anwesenheit und sein Wirken – wahrzunehmen. Denn Gott als das unergründliche Woraufhin unseres Transzendierens ist kein Sachverhalt, der wie ein Objekt sich der Erkenntnisanstrengung passiv darbietet. Schon die vorurteilsfreie Wahrnehmung des eigenen Gefühlslebens auf dem Hintergrund des körperlichen Befindens erfordert intensive Aufmerksamkeit; erst Ebd., Kapitel III. Frank zieht hier einen Satz aus dem 1. Johannesbrief (4:13) heran: »Daran erkennen wir, daß wir in ihm sind und er in uns, denn er hat uns von seinem Geist gegeben«.

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Ablehnung des »kosmologischen« Gottesbeweises

recht verlangt die lebendige Wahrnehmung des eigenen Selbstseins in der unbegrenzten Bewegung seines Transzendierens eine besondere Bereitschaft. Wo sie gelingt, erfahren viele Menschen sie als »Offenbarung«, durch die sich ihr Selbstverständnis tiefgreifend verändert.

5.

Ablehnung des »kosmologischen« Gottesbeweises

Franks Argument appelliert an die Bereitschaft, sich auf die eigene innere Erfahrung einzulassen. Damit unterscheidet sich sein ontologischer Aufweis nachdrücklich von dem »klassischen« Gottesbeweis, der aus der Kontingenz der Welt auf die Notwendigkeit ihres absoluten oder unbedingten Urhebers schließt. Dieser kosmologische Beweis, so Frank, setzt zwischen der Welt und Gott einen Zusammenhang voraus und versucht zu zeigen, daß das gegebene Faktum, die Welt, nur durch diesen Zusammenhang begründet und gerechtfertigt ist. »Begründen« heißt hier, ein bestimmtes Phänomen von einem umfassenderen Ganzen her verständlich machen. Frank wendet gegen diese Beweisführung ein: Würde man versuchen, Gott schlußfolgernd als »Grund« der Welt zu erweisen, würde man ihn »den Zusammenhängen des Seins unterworfen denken, ihm als Teilinhalt des Seins einen Ort im Ganzen des Seins zuweisen, was unsinnig und widersprüchlich wäre«. Das Sein würde zu einer Kategorie, die Gott wie auch der Welt übergeordnet ist und sie umschließt. Gott wäre vom Sein verschlungen. Will man diese fatale Konsequenz vermeiden, darf Gott nicht aus einem ihm vorausliegenden allgemeinen Grund deduziert werden. Er darf nicht als das Abgeleitete, sondern muß von vornherein nur als das Begründende gedacht werden (DU 351 f.). Außerdem setzt jede schlußfolgernde von der Weltwirklichkeit ausgehende Beweisführung den Begriff Gottes als bekannt voraus, muß ihn also bereits anderweitig gewonnen haben. Bei seiner Ablehnung des (auch von Thomas von Aquin favorisierten) kosmologischen Beweises hat Frank offensichtlich die Induktion vor Augen, mit welcher der Naturwissenschaftler unter Anwendung des Kausalgesetzes einem Phänomen, das er als Wirkung ansieht, ein anderes Phänomen als Ursache zuordnet. Unter dieser Voraussetzung hat Frank recht, wenn er die Anwendung des Kausalgesetzes für den Beweis des Seins Gottes zurückweist. Der kosmologische Beweis, richtig verstanden, arbeitet jedoch nicht mit diesem 195 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

Gesetz; er stellt seine Ausgangsphänomene unter die transzendentale Bedingung der Möglichkeit ihrer Existenz. Er zeigt, daß das Bedingte nur im Horizont des Unbedingten gedacht werden kann. Für das Verständnis dieses Prinzips ist die analogia entis unverzichtbar. 6 In seiner Abhandlung über den »ontologischen Beweis für das Sein Gottes« geht Frank auch auf das physikoteleologische Argument ein, das Gott als Grund für die Ordnung und Harmonie der Weltwirklichkeit erkennen will. Die Tatsache, daß neben der Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit auch »Zufall, Sinnlosigkeit, Disharmonie und Übel« in der Welt herrschen, raubt nach Franks Auffassung dieser Überlegung »jede Überzeugungskraft«. Angesichts der Würde der menschlichen Person bedeutet »schon ein einziges Faktum von Tragik und Unrecht eine Dissonanz, welche die gesamte Harmonie sofort zerstört«. Frank verweist auf Dostojewski, der Iwan Karamasow sagen läßt, daß schon das Tränchen eines einzigen schuldlos gequälten Kindes »nicht mehr erlaubt, die Welt zu ›akzeptieren‹«. 7

6.

Analoges und transzendentalphilosophisches Denken

Nach Franks Urteil liegt den thomanischen Gottesbeweisen eine subtile Fehldeutung des Verhältnisses von Gott und Welt zugrunde. In ihnen werde Gott »in der logischen Form objektiver Wirklichkeit« gedacht, »als eine außerhalb von uns objektiv seiende Realität, als ein Objekt, dessen Sein durch unser Denken zu bestätigen ist«. Von Thomas werde Gott, so interpretiert Frank weiter, »gleichsam als Fundament des Universums gedacht, und in diesem Sinne als etwas, das über einen ebensolchen allgemeinen kategorialen Charakter objektiven Seins verfügt wie die Welt auch – ungefähr vergleichbar dem, wie das Fundament und das darauf basierende Gebäude auf dieselbe Weise den allgemeinen physikalischen Gesetzen unterworfen sind« (RM 237). Frank konzediert zwar, daß Thomas mit dem Prinzip der analogia entis »ein Motiv völlig anderer Ordnung« kenne, das über die Einordnung Gottes in die »objektive Wirklichkeit« hinausZum kosmologischen Gottesbeweis vgl. J. Schmidt: Philosophische Theologie. Stuttgart (Kohlhammer) 2003. K. Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg (Herder) 1976, S. 76–79. 7 S. Frank: Der ontologische Beweis. Kapitel 3. A. a. O. Vgl. DU 351. 6

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Analoges und transzendentalphilosophisches Denken

führe; er meint jedoch, dieses Prinzip in der Frage der Gotteserkenntnis bei Thomas »außer Acht« lassen zu können. Tatsächlich stimmt Thomas mit Frank darin überein, daß wir von Gott mit Gewißheit nur wissen, daß er ist, nicht aber, was er ist. Daß Gott ist, wissen wir aus seinen »Wirkungen«, deren erste darin besteht, daß er das Seiende im Sein erhält. Alles Geschaffene wird nach logischen Kategorien, etwa nach Gattung und Art, unterschieden und so in seinem »Was« bestimmt. »Das göttliche Wesen aber ist unbegrenzt, da es in sich alle Vollkommenheit des ganzen Seins umfaßt«. 8 Thomas macht sich hier die Auffassung des Dionysios Areopagita zu eigen: »Das Geschöpf hat etwas, was Gott gehört«; deshalb ist es Gott ähnlich. Diese Aussage ist aber nicht umkehrbar, so daß gesagt werden könnte, Gott habe etwas, das dem Geschöpf gehört, und deshalb sei Gott dem Geschöpf ähnlich. »Denn was in Gott vollkommen ist, findet sich in den anderen Dingen in nur beschränkter Teilhabe«. 9 Thomas denkt Gott nicht »in der logischen Form« der Weltdinge, sondern versteht sein Verhältnis zur Welt als analoges, in dem Gott das analogatum primarium ist, in Franks Terminologie der »Urgrund«. Der Vorwurf, den Frank gegenüber Thomas erhebt, läuft darauf hinaus, daß dieser nicht vermochte, transzendentalphilosophisch zu denken. Für Frank selber stehen transzendentalphilosophisches und analoges Denken nicht im Widerspruch; nicht selten gebraucht er die Analogie, um Ergebnisse des transzendentalphilosophischen Denkens zu verdeutlichen. Die von Frank bei der Anwendung der Seinsanalogie verfolgte Intention entspricht jener, die auch Karl Rahner in seiner Transzendentaltheologie im Sinne hat. Ein Seitenblick auf die Erklärung Rahners läßt auch Frank besser verstehen. Es wäre verfehlt, heißt es bei Rahner, das analoge Erkennen als bloße Mitte oder gar Mischung von univokem und äquivokem Begreifen zu verstehen. Nicht das univoke Begreifen mittels klarer Einzelbegriffe ist das Ursprüngliche in unserer Erkenntnis. Vielmehr ist die »transzendentale Bewegung des Geistes« das »Ursprüngliche« – und eben diese Bewegung auf den unbegrenzten Horizont unseres Begreifens »wird mit analogia auf andere Weise bezeichnet«. Dagegen sind die eindeutigen Begriffe unserer wissenschaftlichen und alltäglichen Sprache »defiziente Modi jenes Thomas Aquinas: Summa contra gentiles, III, qu. 49, 3. Vgl. I, qu. 28. 43. Thomas Aquinas: Summa contra gentiles. I, qu. 29: per quandam deficientem participationem. Ferner z. B.: De veritate. qu. 10, art. 11, ad 10.

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Das transzendentale Wissen von Gott

ursprünglicheren Verhältnisses, in dem wir zu dem Woraufhin unserer Transzendenz stehen«. Der analoge Sinn, wenn er sprachlich artikuliert wird, ist auf jene Begriffe angewiesen; doch er selbst liegt über ihnen: »So ist eine Aussage über dieses Geheimnis [Gott] immer eine ursprüngliche, nicht mehr von uns selbst verwaltbare Schwebe zwischen der weltlichen Herkunft unserer reflektierten Aussage und der Ankunft dort, wohin diese Aussage eigentlich zielt, nämlich auf das Woraufhin der Transzendenz«. Rahner verwendet hier dasselbe Wort »Schwebe«, das Frank bereits in Das Unergründliche gebraucht hat, um das »belehrte Nichtwissen« zu charakterisieren, das im »Schweben über« den sich ausschließenden Widersprüchen gewonnen wird. In Rahners Deutung geschieht im analogen Denken ein »Schweben über« dem »kategorialen Ausgangspunkt und der Unbegreiflichkeit des heiligen Geheimnisses«, das uns – wie Rahner mit Frank übereinstimmend sagt – »als geistige Subjekte in unserem Selbstvollzug« kennzeichnet. 10 (Zur Seinsanalogie bei Frank siehe auch Kapitel XI, 2.)

7.

Der Trost der Philosophie

Die besondere Zuwendung, in der Gott sich als Du oder sogar als Vater zeigt, geht über die allgemeine, transzendentale Erfahrung Gottes hinaus. Franks Zurückhaltung, die ihn häufig apersonal von der Gottheit statt von Gott sprechen läßt, wird man als Scheu verstehen dürfen, das, was sich dem transzendentalen Denken durch die Vertiefung in das eigene Selbstsein offenbart, umstandslos mit dem vertrauten Wort »Gott« zu nennen. Denn was die religiöse Sprache »Gott« nennt, ist »eine ganz bestimmte Erscheinungs- oder Offenbarungsweise« dieses Urgrundes, der sich uns allgemein als Gottheit oder einfach das »Heilige« zeigt (vgl. DU 343). Das Wissen von Gott auf Grund der »allgemeinen Offenbarung« wird nicht dadurch entwertet, daß es durch die »positive« geschichtliche Offenbarung überboten wird. Für nicht wenige Menschen ist die transzendentale Erfahrung die einzige Quelle ihres religiösen Lebens. So ist Franks philosophische Rede über die Unberührbarkeit des göttlichen Seins keineswegs von Resignation beK. Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg 1976, S. 80 f. Vgl. auch K. Rahner: Geist in Welt, Innsbruck 1939.

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Der Trost der Philosophie

gleitet. Frank kennt, ähnlich dem christlichen Philosophen der Spätantike, Boethius, den »tiefen Trost«, den das transzendentale Wissen von der Gottheit schenken kann. Denn trotz der »theoretisch und real schlechthin unüberbrückbaren Differenz«, in welcher der unsagbare »Urgrund« der Realität zu allem weltlichen Sein steht, gibt es doch eine »antagonistische Verbindung innerhalb der Realität« zwischen ihm und uns. Das transzendentale Wissen von dieser Verbindung ist durch nichts zu widerlegen, weil jede Widerlegung oder Leugnung sie immer schon voraussetzt und durch sie überhaupt erst verstehbar ist. Das »Nein« zu dieser Verbindung kann das argumentierende Nein des Atheisten sein, es kann aber, fundamentaler, auch das »Nein« einer existentiell erfahrenen Grundlosigkeit oder Gottesferne sein. Aber es ist gerade die Not dieser Erfahrung, die nach Frank die verborgene Realität des Grundes bezeugt. »Alle Tragik der Entbehrung erwächst selber letzten Endes aus der Ruhe des unsichtbaren, unbewußten und verborgenen Besitzes«, faßt er seine Lebensweisheit (und zugleich den Grundgedanken des »ontologischen Arguments«) zusammen (DU 338 f.). Auch das Wissen, daß im Urgrund alles Gegensätzliche zusammenfällt, schenkt Trost und Ermutigung. Die »harte Schale« des Seins, die uns in der Gestalt der Welt kalt und unbarmherzig gegenübertritt, ist in diesem Grund mit der »intimsten Tiefe des unmittelbaren Selbstseins« versöhnt. Der Urgrund bietet dem Menschen, der sich dem »unheimlich-fremden Wesen der wertindifferenten, unmittelbar sinnleeren Welt der kosmischen Realität« ausgeliefert erfährt, Heimat. Frank sieht in der Versöhnung der gegenständlichen Welt mit dem geistigen Sein sogar »für uns den fundamentalen Sinn des Zusammenfallens der Gegensätze« (vgl. DU 341 f.). Das belehrte Nicht-Wissen, das sich von jedem partikulären Wissen unterscheidet, vermag Trost zu schenken, weil nicht wir es sind, die sich in einem subjektiven Erkenntnisakt des Urgrundes der Realität bemächtigen, sondern diese »dringt in uns ein und erschließt sich auf diese Weise«. Selbstverständlich wird dadurch nicht das logische Erfassen des Inhaltes dessen, was sich offenbart, ermöglicht. Es ist Offenbarung des Unergründlichen als solchen (DU 340). Frank hat ein waches Bewußtsein dafür, daß die Realität sich unterschiedlich tief offenbaren kann: im Du als jene intime innige Vertrautheit, die überhaupt nur zwischen einem Ich und einem Du möglich ist, aber auch als das Urprinzip, in dem mein unmittelbares Selbstsein, meine Seele, mit der mir fremden gegenständlichen Welt zusam199 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das transzendentale Wissen von Gott

menfällt, eben als das schlechthin Unergründliche, als die nur dunkel erahnbare Tiefe der Realität. »Das ist der konkrete Inhalt der allgemeinen Offenbarung. Man muß ihn nehmen, wie er ist, ohne jegliche Umdeutung« (DU 388).

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XI. Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

In der Vorstellung, Gott sei eine nach dem Muster der Gegenstandserfahrung objektivierbare Wirklichkeit, sieht Frank den in das religiöse Leben immer wieder neu eindringenden gefährlichen Grundirrtum. Durch ihn wird das Wesen Gottes zutiefst verfälscht; ihn zurückzuweisen und zu zeigen, daß Gott nur als das dem Menschen selbst innerliche unergründliche heilige Geheimnis erfahren werden kann, ist das Ziel seines religiös-philosophischen Denkens. In der Absicht, die Gefahr der vergegenständlichenden Fehldeutung auch in der sublimsten Form aufzudecken, problematisiert Frank die Urteile »Gott ist« und »es gibt Gott«. Das Urteil »Gott ist« sagt, genau genommen, von Gott wie von einem Einzelseienden, daß er zum Sein gehört. Von Gott aber läßt sich ebensowenig wie vom Sein sinnvoll sagen, »es ist«. Wollte man mit einem Verb den Selbstvollzug des Seins ontologisch aussagen, müßte man sagen, »es ›west‹ [bytijstvuet], und alles andere ›ist‹ kraft dessen«. Ebenso könnte man von Gott ontologisch korrekt nur sagen »Gott gottet«, nicht aber »es gibt Gott«, denn Gott ist es, der alles gibt und damit auch das Sein; nicht aber gibt das Sein Gott (DU 346–348). 1 Gott liegt jeder Bestimmung, die ihn dem Sein ein- und unterordnen würde, voraus. Er ist das unauflösbare »Urgeheimnis der Realität als solcher«, die »Urrealität, der gegenüber alles Sein schon etwas Abgeleitetes, zu Begründendes und zu Verwirklichendes ist«, er ist der Grund jeder Bestimmbarkeit (DU 337; 342 f.; 354). Zu der Einsicht, daß es unmöglich ist, Gott von einem Bezugspunkt her zu verstehen, der außerhalb seiner sich befindet, und sei es das Sein, ist Frank offensichtlich durch die Traktate von Nikolaus von Kues, insbesondere De non aliud, angeregt worden; aber auch Platons Gedanken, daß das Sein dem »Guten« nicht übergeordnet werden kann, Man wird annehmen können, daß Frank zu den im Russischen völlig ungebräuchlichen Verbformen »west« und »gottet« von Heidegger angeregt wurde.

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

sondern dieses noch »jenseits« des »Wesens« ist, erwähnt Frank. 2 Von den Theologen, welche die Unmöglichkeit betonen, Gottes Wesen in Allgemeinbegriffe zu fassen, werden aus der östlichen und westlichen Christenheit Gregor von Nazianz, Gregor der Große und Johannes vom Kreuz genannt. Für die Möglichkeit, Aussagen über Gott zu machen, gilt, was Frank im »Stundenbuch« R. M. Rilkes ausgedrückt fand: »Du hast so eine leise Art zu sein. Und jene, die dir laute Namen weihn, sind schon vergessen deiner Nachbarschaft«. Die angemessenste Rede über das Göttliche würde in ehrfürchtigem Schweigen bestehen, weil mit ihm am nachhaltigsten seine Nicht-Gegebenheit anerkannt würde. Doch wäre es irrig, in Frank den Verfechter einer radikalen »negativen Theologie« zu sehen. Wenngleich Gott kein Gegenstand der äußeren Erfahrung und des darauf gründenden rationalen Wissens ist, so können wir doch seiner Realität, die sich uns in der Tiefe unseres Selbstseins erschließt, »begegnen«, so daß wir auch von ihm »wissen«. Dabei ist das »Wissen« von Gott, d. h. das wissende »Berühren« seiner als Realität, von ursprünglicher Evidenz, die als solche völlig unabhängig davon ist, welche Kenntnisse man von der objektiven Wirklichkeit hat. Dennoch sind es in der Regel besondere Erfahrungen des weltlichen Seins, die zur Begegnung mit dem Göttlichen hinführen, ja diese verhüllt schon in sich enthalten. In ihnen leuchtet dem menschlichen Subjekt ein »sinngebender Grund« auf oder, es wird ein in ihnen enthaltenes »objektiv Gültiges« sichtbar. Was Frank hier »verstehendes Erleben« nennt, stimmt in vieler Hinsicht mit dem überein, was andere Autoren »transzendentale Erfahrung« 3 nennen. Auch er selber spricht in diesem Zusammenhang häufig einfach von »Erfahrung«.

1.

Bedingungen fr die Erfahrung des Gttlichen

Das erfahrende »Wissen« des Göttlichen ist nicht das Ergebnis einer Erkenntnisanstrengung. Doch das heißt nicht, daß es ohne jeden eigenen Beitrag gewonnen werden könnte. Das menschliche Subjekt muß etwas dazu tun, damit es imstande ist, das Unergründliche zu »berühren«. Es bedarf eines »unmerklichen inneren Umschwungs 2 3

Frank zitiert aus Platon: Der Staat, 6. Buch (509) und Der Siebte Brief (341 cd). Vgl. zu diesem Begriff J. B. Lotz,: Transzendentale Erfahrung. Freiburg (Herder) 1978.

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Bedingungen fr die Erfahrung des Gttlichen

der Seele«, sagt Frank an Platon anknüpfend. Ohne sich selbst für die Frage nach dem Sinn des Seins zu öffnen, ist die transzendentale Erfahrung nicht zu gewinnen. Wie in der Du-Begegnung die »lebendige Hinwendung« zu dem sich offenbarenden Du erforderlich ist, so auch zu der sich offenbarenden Gottheit. Wie die Du-Begegnung wieder zu einer sachhaften Er- oder Es-Beziehung werden kann, so kann auch das aufleuchtende göttliche Sein jederzeit wieder aus dem Auge verloren werden. Ohne »lebendige Konzentration und Selbstvertiefung« ist das gewonnene »lebendige Wissen« nicht zu bewahren. Was für die allgemeine transzendentale Offenbarung gilt, trifft a fortiori auf den eigentlichen religiösen Glauben zu. Mit der Heiligen Schrift nennt Frank als besondere Bedingung, um dem Gott des Glaubens begegnen zu können, die Kindlichkeit, die noch »ungebrochene Ganzheitlichkeit«, für welche die russische Sprache das Wort celomudrie mit der Bedeutung Keuschheit besitzt. 4 Allein das »reine Herz« ist befähigt, »Gott zu schauen«, sagt Frank mit einem Vers aus den »Seligpreisungen«. 5 Aber er betont sofort: Der Blick des »Herzens« als existentieller Blick aus der Tiefe des eigenen Seins ist dem Erkennen der Vernunft nicht entgegengesetzt. Vielmehr ist das »Herz« als Inbegriff »des ganzheitlichen, allumfassenden inneren Seins« zu verstehen, von dem »auch die ›Vernunft‹ ein Strahl sein kann«. Die Vernunft aber muß, um sich selbst transzendieren und die Gottheit erreichen zu können, ihre Kraft aus der Ganzheitlichkeit des »Herzens« schöpfen. Dieses ist das eigentliche Organ, aus dem sich die Sehnsucht nach Gott speist. Die Vernunft, die sich im transzendentalen Denken verwirklicht, kann und soll darum die Erfahrung des Herzens begleiten und ihr Klarheit verleihen. Sie kann nachzeichnen, wie das »Herz« in der eigenen Tiefe die Ur-Einheit von Sein und Wert findet (vgl. DU 354 f.; RM 324). Die Bedingung zu erfüllen, um Gott schauen zu können, ist jedoch nicht die voraussetzungslose souveräne Leistung des Menschen. Der Befähigung, Gott schauen oder seine Offenbarung hören zu können, liegt immer schon die Einheit mit dem sich Offenbarenden vorDas Wort celomudrie (Keuschheit) ist zusammengesetzt aus celyj (ganz) und mudryj (weise) 5 Matthäusevangelium 5:8. Vgl. auch: »Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast«. Mt. 11:25. 4

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

aus. Die Realität selbst im unmittelbaren Selbstsein ermöglicht und weckt in ganz unterschiedlichen Formen die Frage nach dem Sinn des Seins und führt den Fragenden in die eigene Tiefe. Der Mensch kann sich dieser Dynamik freilich widersetzen. Die von Gott gegebene Freiheit des Menschen und die freie Selbstoffenbarung Gottes bedingen einander als konstitutive Momente der Gottesbegegnung. Frank geht freilich davon aus, daß Gott, der bereits in jedem Menschen gegenwärtig ist, auch erfahren wird, sobald der Mensch wahrhaft zu sich selbst gelangt, – gemäß dem Augustinus-Wort »Würde ich mich wahrhaft selbst erkennen, würde ich auch dich erkennen« (DU 274). 6

2.

Andersheit und hnlichkeit

Die analogia entis als Einheit von wesentlicher Andersheit und intimer Ähnlichkeit des göttlichen und menschlichen Seins ist die Bedingung wahrhaft geistlicher Erfahrung, denn gerade in dieser Einheit begegnet uns das unergründliche Geheimnis des göttlichen Seins. Die Aussage, Gott sei »der ganz Andere«, hat jedoch in logischer Hinsicht ihre Tücke. Frank gibt zu bedenken, daß Gottes Andersheit weder als bloß »konträre« verstanden werden darf, weil sie so innerhalb einer gemeinsamen Gattung gedacht und so dieser Gattung untergeordnet würde, noch darf sie jede Beziehung überhaupt abweisen. Denn die Behauptung, daß die Gottheit gar nichts mit der Welt zu tun habe, wäre nicht mit der Einsicht vereinbar, daß sie der Urgrund und die Urquelle von allem ist. Die Andersheit des Göttlichen zu allem übrigen muß von anderer Art sein als jene, die als Gegensatz zur Identität verstanden wird. Sie kann nur darin liegen, daß Gott »sich über den alles übrige umfassenden Gegensatz von ›Andersheit‹ und ›Nichtandersheit‹ erhebt« (DU 357). Die Beziehung des Seins zum Seienden, des Schöpfers zum Geschöpf, Gottes zur Welt (und umgekehrt) kann nach diesem Prinzip ohne verfälschende Überbetonung der einen oder der anderen Seite nur im »transrationalen Schweben über« dem logisch Gegensätzlichen erlebt werden. Weil Gottes »Andersheit« nicht logisch zu verstehen ist, bedeutet sie nicht Distanz. Sie kann vielmehr als mit »tiefster, innerlichster Verwandtschaft oder Ähnlichkeit« verbunden erfahren werden. 6

viderim me, viderim te. Augustinus: Soliloquia II, 1.

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Die transzendentale Erfahrung der Realitt im Schnen

Weder die Andersheit noch die Ähnlichkeit erstrecken sich nur auf einige Merkmale des göttlichen Seins. Das göttliche Sein ist eine unzerlegbare Einheit. Es scheint »durch das konkrete Antlitz aller Erscheinungen und Aspekte des Seins« hindurch. Die Analogie, deren Begriff Frank hier entwickelt, besagt, daß das göttliche Sein allem ähnlich, d. h. in allem gegenwärtig, ebenso aber auch allem gegenüber anders und transzendent ist. Durch seine alles durchdringende Anwesenheit wird alles, was ist, in seinem Sein begründet und so zum Abbild und Symbol des Letztbegründenden. Transzendentale Erfahrung der Realität ist Erfahrung ihrer Analogizität. Frank beruft sich bei dieser Explikation der analogia entis auf Dionysios Areopagita und Thomas von Aquin. Die Nähe wie die Andersheit, d. h. die Analogie, kann jeweils sehr unterschiedlich verwirklicht sein. Das Sein, das uns in dem einfachen Urteil »das ist« begegnet, ist von »blinder, im eminenten Sinne nicht selbstevidenter, wesentlich nicht einleuchtender Faktizität«; in ihm gelangt Unbedingtheit des Absoluten nur äußerst schwach zum Ausdruck (vgl. DU 358 f.). Weil die Ähnlichkeit der verschiedenen Seienden mit dem göttlichen Sein und damit ihre eigene Seinstiefe unterschiedlich ist, spricht Frank von einer Hierarchie der Seienden, in welcher der jedem Einzelnen zukommende Rang durch den Grad bestimmt ist, indem es das göttliche Sein anzeigt oder symbolisiert. In dieser Rangfolge steht der Mensch als Träger des geistigen Seins, d. h. als Person, der Gottheit näher als das kosmische Sein, das Lebendige näher als das Tote, das gute Sein näher als das üble. Der eigentliche Ort analoger Beziehung ist darum das personale Selbstsein, denn ihm kommt die Absolutheit selber in abgeleiteter Weise zu (DU 360). Gerade Franks Ausführungen zur analogia entis zeigen, wie unbegründet der Vorwurf ist, er neige einem Seinsmonismus zu. Tatsächlich überwindet die Einsicht, daß Gott als transzendenter in allem anwesend ist, die unlösbaren Widersprüche, zu denen die Einseitigkeiten des Monismus und Dualismus führen.

3.

Die transzendentale Erfahrung der Realitt im Schnen

Zu den Lebensbereichen, von denen ausgehend Frank aufweist, daß wir in unserer geistigen Tiefe an einen Realitätsbereich rühren, der nicht von unseren subjektiven Bedürfnissen hervorgebracht wird und 205 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

doch zu uns gehört, zählt neben der Wir-Beziehung (siehe Kap. V, 2 und 5) und der Erfahrung sittlicher Pflicht (siehe Kap. IX, 1) das ästhetische Erleben des Schönen. Der hier sich eröffnende Zugang zur Realität steht seiner Bedeutung nach nicht an erster Stelle, ist aber doch, wie Frank bemerkt, der augenfälligste. An ihm wird die ontologische Struktur der religiösen Erfahrung erkennbar. Sowohl in Das Unergründliche als auch in Die Realität und der Mensch kommt er auf ihn ausführlich zu sprechen (DU 311–323; RM 191–197). Auf die offensichtlichen Berührungspunkte von Franks Analyse der ästhetischen Erfahrung mit den Einsichten anderer Denker (Solowjow, Dilthey, Cassirer, Scheler, Croce) werde ich nicht eingehen. Franks Analyse zielt auf das Phänomen des »Ausdrucks«, dem wir in einem Kunstwerk oder in einer schönen Naturerscheinung begegnen. Was ästhetisch zum »Ausdruck« gelangt, kann logischsachlich nicht angemessen wiedergegeben werden; jeder Versuch dazu würde hinter dem ästhetisch Erfahrenen prinzipiell zurückbleiben. Im Kunstwerk oder im Naturschönen, also in einem sinnlichen Gegenstand, kommt etwas Nichtsinnliches zum Ausdruck, durch welches die Realität selbst zu uns »spricht«. Die »rauhe Rinde« des Faktischen, des logisch Festgelegten, wird im Ausdruck des Schönen »durchsichtig«, so daß »die Realität selbst durch sie durchscheint«. Dabei wird im physikalisch beschreibbaren Gegenstand etwas spürbar, das von ganz eigener, völlig anderer Evidenz ist als das gegenständlich Faktische. Mit diesem ist es in keiner Hinsicht logisch verbunden. Das Schöne selbst besitzt eine eigene innere Einheit, die sich in dem äußert, was wir die Harmonie ihrer Teile nennen. Es ist in seiner Erscheinung »ein allumfassendes, eigenständiges Ganzes, das auch im Beschränkten, Partikularen, ganz anwesend ist«; als solches hat es die Eigenschaft geistiger Realität. Frank beschreibt das Wesen der ästhetischen Form als Verbindung eigenständiger Ganzheit und Beschränkung. Durch sie erhält die Realität in einem beschränkten, gegenständlichen Rahmen einen »eigentümlichen Ausdruck vollendeter Unendlichkeit, aktualisierter, allumfassender und daher sich selbst genügender Fülle«. Ein weiteres Moment, das Frank besonders unterstreicht, ist die ontologische Verwandtschaft der Realität, die sich im Schönen zeigt, mit dem Selbstsein des Subjekts. Wir können im Schönen »etwas Bedeutendes, einen geistigen Sinn« erfahren, weil sein Gehalt mit jener Realität übereinkommt, die wir in der Tiefe unserer eigenen inneren Selbst-Erfahrung entdecken. Wir begegnen im Schönen »et206 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die transzendentale Erfahrung der Realitt im Schnen

was, was der intimen Tiefe unseres Ich verwandt ist«. Das Schöne nimmt uns, anders als das gegenständlich Faktische, das aufdringlich und gleichsam gewaltsam Aufmerksamkeit fordert, »innerlich gefangen, indem es uns eine gewisse letzte, innerlich sinnhaltige Tiefe, die unserem eigenen Wesen nahekommt, immanent bezeugt« (RM 193). Frank nennt das ästhetisch Gehaltvolle etwas »›Seelenähnliches‹, etwas, das inneres Leben ist, in äußerer Gestalt verkörpert und ausgedrückt«. Es bewirkt, daß im Augenblick der ästhetischen Erfahrung das Gefühl der Einsamkeit schwindet: Wir treten mit etwas in Gemeinschaft, das unserem Selbstein verwandt ist. Dieses Bewußtsein ist sehr wohl mit dem klaren Wissen vereinbar, daß »Seelenähnlichkeit« hier nicht bedeutet, daß das Schöne ein reales, für sich selbst seiendes Subjekt wäre; noch weniger besagt sie, daß die ästhetische Erfahrung das Resultat einer »Einfühlung« ist, in der wir unsere eigene seelische Stimmung auf den Gegenstand übertragen. Entscheidend kommt es hier darauf an zu verstehen, daß das »Bedeutungsvolle«, das uns durch die sinnliche Wahrnehmung des Schönen vermittelt wird, weder ein Ausschnitt aus der gegenständlichen Wirklichkeit noch ein Teil unseres eigenen Innenlebens oder unsere bloße Projektion ist, sondern dem Gegenstand selbst zukommt. Es ist der Gegenstand selber, von dem die ästhetische Wirkung ausgeht. Dieser ist schön, in ihm gelangt die Realität – das Sein im Seienden – zum Ausdruck. In der Begegnung mit dem Schönen unterscheidet sich der immanente Inhalt der ästhetischen Erfahrung deutlich von den durch ihn ausgelösten Gefühlen in uns. Die Realität, die im Schönen zum Ausdruck kommt und mit jener verwandt ist, die wir in der Tiefe unseres Selbst erfahren, ist selber unpersönlich. Sie hat kein Selbstbewußtsein und drückt sich nicht vorsätzlich aus. Das aber zeigt, daß die ästhetische Realität, die mit unserem Selbstsein wesensverwandt ist, doch weitreichender ist als dieses und mit der Realität als solcher zusammenfällt. »In ihr dringen wir gewissermaßen nicht nur im Inneren unser selbst, in den Tiefen unseres vereinzelten Ich, sondern auch außerhalb von uns, in der uns umgebenden Welt durch die Schale der objektiven Wirklichkeit hindurch und spüren den lebendigen inneren Kern des Seins« (RM 197). Dagegen beruht die These von der »Einfühlung« oder »Beseelung«, so Frank, auf dem (psychologistischen) Vorurteil, daß das »Seelenähnliche«, welches dem Schönen eignet, dem Gegenstand, der seiner selbst nicht bewußt ist und selber keine Seele besitzt, vom Betrachter zugefügt sein muß. 207 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

Sehr deutlich wird durch diese Bemerkung der Unterschied von Franks »verstehendem Erleben« zum »Verstehen« des Kunstwerks bei W. Dilthey. Für Dilthey vollendet sich das Verstehen, indem der Betrachter den ursprünglichen künstlerischen Schaffensvorgang nacherlebt. Sein Ich »findet« sich so im Du des Künstlers »wieder« und erfährt dadurch eine Erweiterung seiner bisherigen »Determination«. Die Bedingung für das Nacherleben des künstlerischen Schaffensakts ist für Dilthey die allen Menschen gemeinsame »allgemeine Menschennatur«, verstanden als Psyche. In Franks Sicht versteht das Subjekt in der Erfahrung des Schönen (nicht nur des Kunstschönen) sich selber tiefer (erweitert sich in seiner »Determination«, wie Dilthey schreibt), weil es von der universalen geistigen Einheit des Seins angerührt und ihrer in »lebendigem Wissen« bewußt wird. Frank übersieht nicht, daß dem Schönen etwas Zweideutiges, sogar verführerisch Schillerndes anhaften kann. Die unergründliche Fülle der Realität gelangt im Schönen nur eingeschränkt zum Ausdruck. Es »ist in einem gewissen Sinne gleichgültig gegenüber Gut und Böse«. Die Beobachtung, wie totalitäre politische Mächte die Schönheit in ihren Dienst stellen, konnte das eindrucksvoll bestätigen. Zur bitteren Lebenserfahrung gehört, schreibt Frank, daß die ästhetische Harmonie mit der »wahrhaften, uns versöhnenden und errettenden Seinsharmonie« nicht schlechthin identisch ist. Zwar eröffnet sich im Schönen die Realität selbst, aber gewissermaßen nur »oberflächlich«. Es enthält nur die »tröstliche Andeutung der Möglichkeit eines ganz anderen Seins«. Insofern aber ist durch die ästhetische Erfahrung doch »die Gewähr für die Möglichkeit und Denkbarkeit« der »aktuellen, voll verwirklichten Harmonie des Seins« gegeben.

4.

Religise Erfahrung

Im Umgang mit der Welt und in der Begegnung mit den Menschen eröffnet sich die Möglichkeit, im Transzendieren des Selbstseins die Realität in ihrer Unergründlichkeit »verstehend zu erleben«. Ihm ist insofern ein religiöser Charakter eigen, weil in ihm der »Urgrund« der Realität auf nicht-berührende Weise berührt werden kann. In seiner Sozialphilosophie beschreibt Frank das religiöse Grundgefühl als lebendig erfahrene Verbundenheit »mit jenem absoluten Prinzip, das der universalen Gemeinschaftlichkeit des Seins zugrunde 208 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Religise Erfahrung

liegt«. Er charakterisiert es auch als Erfahrung, »zu einem Ganzen zu gehören, das uns nicht von außen umgibt, sondern von innen vereint und erfüllt«. Die religiöse Grunderfahrung, daß wir mit unserem Selbstsein in die »geheimnisvoll uns umgreifenden Tiefen des Seins« hinabreichen, kann sich anläßlich ganz alltäglicher Situationen einstellen. Vom oberflächlichen und bald vorübergehenden Berührtsein durch das »absolute Prinzip« kann es sich bis zur mystischen Erfahrung der Anwesenheit des göttlichen Du in allen Dingen vertiefen. Mit außergewöhnlicher Eindringlichkeit hat das religiöse Genie des hl. Franz von Assisi diese Anwesenheit und kraft ihrer die »Gemeinschaftlichkeit« mit allen Geschöpfen erfahren (vgl. GGdG 148). Besondere Anlässe, um die Tiefe der Realität zu erfahren, sind die erotische Beziehung zwischen Ehegatten, die lebendig erfahrene Sorge der Eltern um ihre Kinder, das Erleben der heimatlichen Geborgenheit am »häuslichen Herd«, das vertraute gemeinsame Mahl, das Bewußtsein, mit den Vorfahren verbunden zu sein und, nicht zuletzt, das Bewußtwerden eines gemeinsam erlittenen Lebensschicksals. Auch eine gegenständliche Wirklichkeitswahrnehmung – etwa einer außergewöhnlichen, erhabenen Naturerscheinung – kann das Transzendieren des eigenen Selbstseins anstoßen, so daß das »Herz« (im Sinne Pascals) über sich selbst hinausgeführt wird und zu einer Begegnung mit der Tiefe der Realität gelangt. Die erlebte Einheit mit der Natur kann das Bewußtsein vermitteln, zu einem geheimnisvollen überkosmischen, lebendigen Ganzen zu gehören. Das gilt auch für die Naturfrömmigkeit eines Schamanen. Die Frage, wer in seiner Religiosität Gott näher ist – der Schamane oder der philosophisch und theologisch gebildete Gläubige – ist allein daher zu beantworten, in wessen »Herzen« die »Realität« in ihrer unergründlichen göttlichen Fülle vollständiger und angemessener erfahren wird. Für einen Außenstehenden bleibt es unentscheidbar. Die Realität ist niemals als bestimmte oder abgegrenzte zu haben und darum nicht meßbar. Die wahre Begegnung mit Gott – und sei sie ein undeutliches Berühren Gottes in seiner ganzen Unfaßbarkeit – geschieht ausschließlich »in den letzten, dem äußeren Blick verborgenen Tiefen unseres Wesens«. Frank macht (mit M. Buber) darauf aufmerksam, daß in der Naturfrömmigkeit eines Schamanen oder Fetischverehrers die Bewegung des »Herzens« freilich »gänzlich an einen einzelnen äußeren Eindruck gebunden ist und qualitativ durch ihn bestimmt wird« (RM 241 f.). 209 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

Unter den Anlässen, die eine religiöse Erfahrung anstoßen können, ragt die Begegnung mit der »überweltlichen Tiefe eines anderen personalen Geistes« hervor. Weil unser Ich mit dem Du-Sein und dem Wir-Sein ontologisch verbunden ist, kann das für das Selbstsein konstitutive Transzendieren in das Unendliche durch die Begegnung mit der personalen Heiligkeit eines anderen Menschen in besonderer Weise aktualisiert werden und »in uns bislang verborgene Tiefen unseres eigenen Ich« wecken. Frank sieht die Bedeutung Jesu für die religiöse Erfahrung gerade darin, daß die Begegnung mit seiner Person »den Zugang zu den inneren Tiefen unseres eigenen geistigen Seins« erschließt (RM 242). In seiner theologisch-spirituellen Schrift Mit uns ist Gott hat Frank sich ausdrücklich mit der religiösen Erfahrung befaßt. 7 Sie ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Fähigkeit ihres Verfassers, seine philosophisch-phänomenologischen Einsichten für das religiöse Leben fruchtbar zu machen. Frank knüpft hier, um den »Gegenstand« der religiösen Erfahrung sichtbar zu machen, an der Erfahrung sittlicher Schönheit an. Wer von einer wahrhaft uneigennützigen Hilfeleistung oder vom großmütigen Verzeihen einer Kränkung innerlich angerührt wird, erlebt die Schönheit dieser Tat als etwas Reales, »das in einer unsichtbaren Tiefe existiert und sich sogar in gewissem Sinne absichtlich in ihr verbirgt«. Sie ist kein sinnlich gegebenes Faktum, dennoch wird ihre Realität nicht nur vermutet, sondern ist gewiß. Wir können sie »unmittelbar mit unserer Seele« wahrnehmen, weil die eigene Seele ihr verwandt ist. Sehr ähnlich ist die Wahrnehmung dieser Realität, wenn wir unsere Pflicht gegen inneren und äußeren Widerstand erfüllt haben. Frank beschreibt das Aufleuchten dieser Realität so: »In der innersten Tiefe unseres Herzens erfahren wir die lebendige Anwesenheit und Wirkung einer Kraft oder Instanz, von der wir unmittelbar wissen, daß sie eine Kraft höherer Ordnung ist, daß unsere Seele eine Kunde aus der Ferne erreicht hat, aus einem anderen Seinsgebiet als jenes, dem die gesamte gewöhnliche, alltägliche Welt angehört«. Weil wir hier einer Realität begegnen, die wesentlich anders ist als das Faktische und Begrenzte, ist es möglich, immer tiefer in sie einzudringen und sie sich zu vergegenwärtigen. S. L. Frank: S nami Bog. Tri razmysˇlenija. In: S. L. Frank: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva. Moskau 1992, S. 217–404. Vorgesehen ist die deutsche Veröffentlichung als 6. Band der Werkausgabe bei Alber, Freiburg.

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Religise Erfahrung

Die Realität, die hier begegnet, ist – das wird bei diesem Beispiel besonders deutlich – absolut. Frank ist überzeugt, daß »die Erfahrung des Guten und Schönen zur religiösen Erfahrung gehört und gleichsam ihren Keim bildet«; sie ist aber damit noch nicht erschöpfend beschrieben. Hinzu kommt, daß ihr »Gegenstand«, den wir »als etwas Ursprüngliches, als letzte Tiefe und als Absolutes erkennen«, »eine letzte, höchste Freude, vollkommene Befriedigung und Begeisterung« verschafft. Auf der subjektiven Seite entspricht ihm »das Gefühl, das wir ›Ehrfurcht‹ nennen, eine unteilbare Einheit bewegter Verehrung – der Furcht vergleichbar, aber keineswegs mit ihr identisch, und der Seligkeit von Liebe und Bewunderung«. Frank sieht sich durch den Religionsphänomenologen Rudolf Otto, der die Elemente des tremendum und des fascinans als kennzeichnend für das Mysterium des Heiligen angenommen hatte, bestätigt. Geht man weiter strikt von der Erfahrung aus, so läßt sich das Göttliche als »etwas absolut Erstes, Allumfassendes, alles Durchdringendes, alles Bestimmendes, Ewiges« umschreiben. Ihm gegenüber erscheint das eigene Leben als etwas Abgeleitetes, das in essentieller Hinsicht weder seinen Grund noch sein Endziel in sich hat, sondern beides außerhalb seiner selbst voraussetzt. Was wir als Grund und Endziel begrifflich unterscheiden, und zwar als das, »woraus wir hervorgegangen sind, worauf wir uns stützen, worin und wodurch wir sind und wohin letzten Endes unser Herz strebt«, das ist im Sein »ganz offenbar ein und dasselbe«: »Eben dies unsagbar Eine, Erste und Letzte ist das, was wir mit den Worten Heiligkeit, Gottheit, Gott bezeichnen«. Durch die phänomenologische Analyse der »Unruhe« des Herzens erkennt Frank mit Augustinus den essentiellen »Hinweis auf das Letzte, Höchste, absolut Wertvolle, Heilige, auf letzten Trost und Glückseligkeit«. Damit ist die religiöse Erfahrung im eigentlichen Sinn umschrieben. Sie geschieht, wo in der Realität »jenes Unsagbare« begegnet, das die menschliche Sprache andeutungsweise in solchen Worten wie »das Heilige«, »Gottheit«, »Gott« ausdrückt (S nami Bog 237). Sie vollendet sich, wenn dem Menschen das Heilige oder die Gottheit als Du begegnet und er darauf antwortet. Der zuvor anonyme »Urgrund« des Seins offenbart sich dann als ein Gesicht von unergründlichem Ausdrucksreichtum. Seine Erfahrung ist durch die Weise, wie die Realität sich erschließt, charakterisiert. Es kommt hier sehr darauf an, mahnt Frank, den phänomenologisch erhobenen Gehalt nicht durch eine abgeleitete theologische 211 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

Theorie zu ersetzen. Gerade die vorgefertigten Begriffe der überkommenen theologischen Sprache können das Bemühen, eine ursprüngliche Erfahrung des Geglaubten zu gewinnen, behindern, indem sie ein Wissen suggerieren, das mit dem lebendigen Erfahrungswissen nur wenig gemein hat. Um dieses phänomenologisch zu klärende Erfahrungswissen geht es, wenn Frank von der »Gottheit« spricht. Echte religiöse Erfahrung hat die Einheit (nicht eine Mischung) von Immanenz und Transzendenz zum »Gegenstand«. »In der religiösen Erfahrung haben wir eine eigentümliche, klare Verbindung intimer Nähe mit der Ferne – philosophisch ausgedrückt, von äußerster Immanenz (die hier der lebendige Besitz, die Verflechtung des Erfahrungsgegenstandes mit unserem ›Ich‹ ist) mit Transzendenz. Die Natur der religiösen Erfahrung besteht darin, daß etwas in unsere Seele eindringt, sie unmittelbar berührt und von ihr innerlich empfunden wird, was zugleich als etwas erkannt wird, das von einer unerreichbaren Tiefe oder Ferne ausgeht«. Der religiöse »Gegenstand« selber wird dabei »als etwas Verborgenes« erfahren. Mit anderen Worten: Es handelt sich um »die immanente Erfahrung einer transzendenten Realität« (ebd. 250). Weil diese Realität über unser Ich hinausgeht und, als Unbegrenzte, uns nicht in ihrer ganzen Fülle zugänglich ist, kann sie, was für die unmittelbare sinnliche Erfahrung kaum möglich ist, übersehen oder bestritten werden. »Das im Grunde Gewisse erweist sich hier als psychologisch und subjektiv ungewiß«, ja es kann sein, daß es nicht einmal als vorhanden erkannt wird. So kann jemand vom Schönen und Guten beeindruckt sein, ohne darin das absolut Transzendente zu bemerken. Das Hören der »göttlichen Stimme« gleicht der Wahrnehmung eines »›feinen Windhauchs‹«, sagt Frank mit dem Propheten Elija. Gott »ist nur als Flüstern in der Stille zu hören oder, genauer, tonlos in der Stille selbst. Deshalb ist es ganz unmöglich, ihn inmitten des Lärms der weltlichen Hast und des Geschwätzes zu vernehmen, und es ist sehr leicht möglich, ihn zu überhören, nicht auf ihn zu reagieren, seine Anwesenheit zu bestreiten« (ebd. 252).

5.

Glaube als Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott

Der »Gegenstand« des christlichen Glaubens ist nicht die »Gottheit« als absolutes apersonales »Heiligtum«, sondern Gott als »Vater« und so auch als »Person«. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß Frank sich 212 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Glaube als Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott

sehr reserviert zeigt, wenn es um die Übertragung des Personbegriffs auf Gott geht. Die Vorstellung von Gott als einer »Person«, die »irgendwo« »existiert«, so fürchtet er, verfehlt fast unvermeidlich »jene unaussprechliche, unermeßliche Fülle, jene unendliche Tiefe und absolute Ursprünglichkeit«, die Gott ist. Diese Gefahr geht bereits von unserer Sprache aus, die von Gott als einem »jemand« spricht und ihn so zu einer »abgegrenzten Seinsinstanz« vergegenständlicht. Immer wieder betont Frank den für ihn zentralen Gedanken, daß die Beziehung des Menschen zu Gott niemals der Beziehung zwischen zwei Einzelinstanzen gleicht, sondern die All-Einheit des erlösten Seins einbezieht. Frank kann sich hier auf den Satz des Apostels Paulus im 1. Korintherbrief (15:28) berufen, dem zufolge die Erschaffung des Seins durch Gott erst dann vollendet ist, wenn »alles« Gott unterworfen sein wird und er selber »alles in allem« ist. Franks Deutung versucht, die ursprüngliche Dynamik dieses Satzes zu bewahren. Um die Gefahr der Vergegenständlichung zu vermeiden, die mit der Vorstellung Gottes als einer Person verbunden ist, betont Frank, daß Gott als transzendentale Bedingung dafür, daß der Mensch Person sein kann, selber wesentlich mehr als eine Person ist. Damit ist gesagt, daß Gott »dem tiefsten Innern unserer Person nahe und verwandt« ist und es doch unendlich übersteigt. Gott ist »die Antwort auf das, was in der Welt einzigartig ist: auf das Wesen unserer Person«. Dem entspricht die Eigenart unserer Beziehung zu ihm. Wir stehen ihm nicht »gegenüber«, sondern sind in eine »Gemeinschaft« mit ihm aufgenommen, die »personal« genannt werden kann [v licˇnom obsˇcˇenii 8 ] (S nami Bog, 257). Daß diese Gemeinschaft niemals nur als eine Zweierbeziehung zu verstehen ist, findet Frank durch die Predigt Jesu vom »Reich« Gottes bestätigt. Dieses »Reich« umfaßt die Realität – eben die Schöpfung – als umfassendes Ganzes. Denn das »Reich«, so Franks Exegese, ist nicht eine Einrichtung neben Gott, sondern ist als die erlöste Schöpfung eins mit Gott. Es ist darum nicht »irgendwo« außerhalb der Welt zu suchen; es »ist nichts anderes als das Sein, vollständig durchdrungen und erleuchtet von göttlichen Kräften, das Sein, in dem Gott ›alles in allem‹ ist, das Reich der Wahrheit, des Guten, Schönen, Heiligen«. Mit dem »Reich« ist unsere Einheit mit Gott gemeint. Von ihm heißt es deshalb, daß es »in uns« ist (Lk. Frank spricht in Mit uns ist Gott nicht mehr von sobornost’, Gemeinschaftlichkeit, sondern von obsˇcˇenie, Gemeinschaft.

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

17:21), daß wir es »wie ein Kind« (Lk. 18:17), ohne es abstrakt begründen zu können, »im Genuß unmittelbarer Erfahrung« annehmen sollen (ebd. 258). Wie die Beziehung zu Gott als »personale Gemeinschaft« erfahren werden kann, erläutert Frank an der Beziehung des Kindes zur Mutter und zum Vater. Die Gemeinschaft mit ihnen »besteht keineswegs in der klaren, nüchternen, intellektuell auszudrückenden Überzeugung von ihrer Existenz als ›Personen‹, sondern einfach in der nicht in Worte zu fassenden Empfindung ihrer Realität als einer Quelle von Wärme, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Aufgehobensein« (ebd. 259). Das Wort »Vater«, mit dem Jesus selber Gott anredet und mit dem auch seine Jünger Gott anreden sollen, bezeichnet, wie Frank erklärt, »nicht nur ein liebendes, uns ernährendes und schützendes Wesen«. Der »Vater« verkörpert in der Sprache Jesu »auch die unteilbare, kollektive familiäre Einheit der Gattung oder Familie, in deren Bestand allein mein Leben möglich ist. Er ist das Symbol des Vaterhauses, etwa in der Art des heutigen Heimatbegriffs« (ebd. 263). Der Glaube an Gott im christlichen Sinn ist auch für Frank mehr als die ehrfürchtige Erfahrung des unergründlichen unpersönlichen Urgrundes des Seins. Er ist die Erfahrung eines den Menschen ansprechenden, anschauenden Du, das ihn in seine »persönliche Gemeinschaft« aufnimmt. Er ist das vertrauensvolle Verhältnis des »Kindes« zu Gott als Vater. Der Glaube geht »über die Anerkennung des transzendenten, abgesonderten Seins Gottes als Person« hinaus, denn er ist auf Gott gerichtet, »nicht nur als personales Wesen, sondern zugleich als göttliche Heimat der Seele«. Wahrer Glaube ist darum nicht schon dort gegeben, wo jemand »denkt und überzeugt ist, daß irgendwo ›Gott existiert‹«; wahrhaft »gläubig« ist erst, »wessen Seele vom Licht der göttlichen Wahrheit berührt wird, der die lebendige Empfindung des Reichs des Heiligen, der himmlischen Heimat hat«. »Wir erfahren Gottes Realität in dem Moment, in dem er unsere Seele berührt und in unserer Seele – auf diese Berührung antwortend – sich ein ihm zugewandtes Gefühl entzündet. In diesem Sinne ist der Glaube an den personalen Gott das Wesen der religiösen Erfahrung« (ebd. 262). Glaube, mit anderen Worten, ist nicht die Anerkennung eines bestimmten Gegenüber, sondern die »lebendige Berührung des allumfassenden und alles erfüllenden gnadenvollen Seins« (ebd. 260). Es wird uns zugänglich, wie Franks neutestamentlich begründete Bemerkung zeigt, »weil wir es durch dasjenige wahrnehmen, was göttlich ist in uns selbst« (ebd. 242). Daß die Anwesen214 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Gewißheit des Glaubens

heit Gottes im Menschen als Bedingung dafür, ihm begegnen zu können, eine freie personale Tat Gottes und somit bereits »Gnade« ist, steht für Frank außer Frage. Die Gemeinschaft mit Gott erfahre ich in der »Berührung«, die in gewisser Weise der Begegnung von Ich und Du gleicht. Der Unterschied zur zwischenmenschlichen Ich-Du-Begegnung darf jedoch nicht übersehen werden. In der Begegnung ist immer auch die Andersheit zwischen mir und dem ewigen Du Gottes präsent, weil es überhaupt »Grundlage, Boden und tiefste Wurzel« meines Ich, seine »transzendentale« Bedingung, ist. Doch erfahre ich, wo das göttliche Du sich mir zeigt, daß ich mit ihm eins bin und mit ihm zusammenfließe. Es ist nicht möglich, eine Trennungslinie Gott gegenüber zu ziehen wie zwischen den welthaften Gegenständen. »So sehe ich nicht mehr deutlich, wo die letzte Tiefe meiner selbst endet und wo beginnt, was ich Gott nenne« (ebd. 263). So kann man verallgemeinern: Das Selbstsein erfährt sich ausgerichtet auf einen absoluten Sinn und, weil an ihm teilhabend, in ihm geborgen.

6.

Die Gewißheit des Glaubens

In einer Analyse der gnoseologischen Qualität des Glaubensaktes, zeigt Frank, daß dem religiösen Glauben auch die Gewißheit zukommt, die der Erfahrung als Wirklichkeitserfahrung eigen ist. Sie gleicht dem auf unmittelbarer Erfahrung beruhenden unbezweifelbaren Wissen, zu sein. Ähnlich ist mir die Wirklichkeit eines Schmerzes oder einer Freude, die ich unmittelbar erlebe, die also in meinem Bewußtsein ist, unwiderleglich gewiß. Gewißheit – die nicht mit analytischer Einsicht in den betreffenden Sachverhalt verwechselt werden darf – ist gegeben, wenn der Gegenstand des Wissens oder Denkens im Bewußtsein real anwesend ist. Sobald ein Gegenstand sich außerhalb des Bewußtseins befindet und ich nur an ihn denke oder ihn mir vorstelle, ist das Urteil über seine Realität der Täuschung ausgesetzt, es kann wahr oder falsch sein (ebd. 233). Das gilt selbstverständlich auch für religiöse Denkinhalte. Doch ist der Glaube wesentlich mehr als das Denken an gewisse Inhalte; er ist die Erfahrung der Anwesenheit Gottes. Der Glaube, soll er das Vertrauen rechtfertigen, das ich seinem Inhalt entgegenbringe, muß, so betont Frank, auf unmittelbarer Evidenz, d. h. auf unmittelbarer Erfahrung der Realität Gottes und seiner Zuwendung beruhen (ebd. 224). 215 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

Worin kann dieser Glaube begründet sein? Den Menschen des rationalen Denkens ist, wie Paulus schreibt, der christliche Glaube eine »Torheit« (1. Kor. 1:23). Denn sein Inhalt – daß Gott sich dem Menschen bis zur eigenen Selbsthingabe in Liebe zuwendet – ist schlichtweg unwahrscheinlich. Keine äußere Autoritätsinstanz reicht aus, um ihn vertrauenswürdig zu machen – weder die der Eltern noch die der kirchlichen Lehrer bis hin zu den Aposteln. Jede Autorität, welche behauptet, eine Kenntnis von Gott zu besitzen, die mir fehlt, müßte diese Behauptung begründen. Würde sie sich dafür wieder auf eine Autorität berufen, hätten wir einen Fortgang ins Unendliche. Selbst der Verweis auf Gott als äußerer Autoritätsinstanz liefe auf eine petitio principii hinaus, denn man müßte der Autorität Gottes glauben, daß Gott die den Glauben rechtfertigende Autorität sei. Frank antwortet darauf: »Von Gott und seiner Wahrheit zeugt letzten Endes nur Gott selbst«. Das heißt aber, der Glauben, soll er gewiß sein und so zur Lebensgrundlage werden können, muß sich auf unmittelbare Erfahrung stützen können und nicht auf eine vermittelnde Autorität. Diese für den Glauben unabdingbare Eigenschaft der unvermittelten »Gewißheit« hat erstmals in der Geschichte des religiösen Lebens der Prophet Jeremias erkannt. Das »eigentlich Revolutionäre« der Offenbarung Christi besteht Frank zufolge gerade darin, daß sie Gottes Verhältnis zum Menschen als »Immanenz«, als »unmittelbare Nähe und Zugänglichkeit« enthüllt (ebd. 229). Der eigentliche Gehalt des christlichen Glaubens besteht eben im »Wissen« der erlösenden Anwesenheit Gottes in der Seele des Menschen. Das wird durch die Lehre vom Heiligen Geist bestätigt, denn sie »ist nichts anderes als die Enthüllung jener Kraft oder Hypostase Gottes, durch die Gott in der menschlichen Seele immanent anwesend ist« (ebd. 228 f.). Oder, wie es der erste Johannesbrief sagt: »Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns bleibt: Er hat uns von seinem Geist gegeben« (1. Joh 4:13; 3:24). Gäbe es die auf Erfahrung gegründete Gewißheit des Geglaubten nicht, dann wäre der Glaube das Ergebnis einer Willensanstrengung, mit der man sich zwingt, das an sich Unwahrscheinliche doch für wahr zu halten. Ein derartiger Glaube könnte weder befreiend sein noch könnte er das Bewußtsein begründen, in Gott unbedingt geborgen und so unsterblich zu sein (vgl. ebd. 243). Der Wille, der für den Glauben unerläßlich ist, ist nicht der Wille, etwas für wahr zu halten, was eigentlich ungewiß ist. Nachdrücklich betont Frank, daß 216 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gegenstndliche Wahrnehmung Gottes: W. Alston und J. Hick

jeder Zwang, auch der Selbstzwang, dem Glauben widerstreitet. Der Wille, auf den der Glaube nicht verzichten kann, ist der Wille zum »Aufmerken« [vnimanie], der Wille, auf den Zuruf eines Du zu hören und zu antworten, oder, mit Franks Worten, »den geistigen Blick anzuspannen, um wahrhaft zu entdecken und zu sehen, was ist« (ebd. 253). Dieser »Wille zum Aufmerken« ist ein freier Akt, der seine Entsprechung in der Zuwendung zum Du der anderen Person hat: Gott »gibt sich nur dem, der sich ihm frei, aus eigenem inneren Antrieb, öffnet und ihm entgegengeht« (ebd. 255). Frank beruft sich auf das Wort Jesu: »Wer Ohren hat, der höre«. Dieses »Aufmerken« und »Hören« ist möglich, weil das Ich als solches bereits durch die Beziehung zum Du konstituiert ist. Frank fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu. Religiöse Erfahrung ist »die Erfahrung einer Gemeinschaft«. Er nennt den Glauben deshalb »Wissen–Erleben, Wissen-Gemeinschaft [znanie-perezˇivanie, znanie-obsˇcˇenie]« (ebd. 271; 279). Mit »Gemeinschaft« ist nicht die Vermittlung des Glaubensinhalts durch andere, auch nicht der gemeinschaftliche Vollzug des Glaubensaktes gemeint. Die Begriffe »Wissen-Gemeinschaft« und »Wissen-Erleben« besagen, daß im Glauben das Gewußte als Erleben mit dem Wissenden eins ist – vergleichbar der Einheit von Ich und Du in der Ich-Du-Begegnung. Es geht Frank um die ontologische Qualität des Glaubens als lebendiger freier Selbstmitteilung der Realität Gottes an den Glaubenden.

7.

Gegenstndliche Wahrnehmung Gottes: W. Alston und J. Hick

Ein kurzer Blick auf zwei Beiträge zu dem in jüngster Zeit geführten religionsphilosophischen Diskurs soll die Besonderheit von Franks Position verdeutlichen. Der amerikanische Philosoph William Alston (geb. 1921) geht von den Zeugnissen fremder religiöser Menschen über ihre mystischen Begnadungen und Erfahrungen aus und entnimmt ihnen, daß sie eine direkte und unmittelbare nichtsinnliche Wahrnehmung Gottes haben (direct awareness of God; perceiving God). 9 In ihren Erfahrungen ist das Wahrgenommene, Gott, vom W. P. Alston: Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience, London 1991. Vgl. dazu A. Hansberger: Gott wahrnehmen. William Alstons perzeptives Modell religiöser Erfahrung. In: F. Ricken (Hg.): Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Stuttgart 2004, S. 113–125. M. Wasmaier: Zwischen Pragmatismus

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Das verstehende Erleben des Gttlichen und Heiligen

Wahrnehmungssubjekt unterschieden und kommt so verstanden von außen. Es handelt sich, Alston zufolge, um eine Subjekt-Objekt-Relation, in der das Wahrgenommene ursächlich auf das wahrnehmende Subjekt wirkt; dennoch ist das, was sich in der Wahrnehmung »präsentiert«, unmittelbar gegeben. Das Wahrnehmungserleben selbst ist vorbegrifflich; die begriffliche Identifizierung folgt nachträglich. Anders als Frank geht Alston von gegenständlich vorliegenden Zeugnissen aus, nicht vom eigenen Selbstsein. Einen Seins- und Geistbegriff kennt er nicht. Er ist deshalb außerstande, plausibel zu machen, wie die »Wahrnehmung« Gottes, die nach seinem Urteil nicht-sinnlicher Art ist, sich von Erfahrungen gegenständlicher Art wesentlich unterscheidet. Es ist für ihn deshalb konsequent zu behaupten, wie F. Ricken feststellt, Gott sei dem Mystiker »in derselben Weise gegeben, wie die Gegenstände unserer Umgebung unserem Bewußtsein in der Sinneswahrnehmung gegenwärtig oder gegeben sind«. 10 Die Einheit von Immanenz und Transzendenz, die Frank zufolge die Erfahrung Gottes kennzeichnet, vermag Alston nicht zu denken. Der englische Religionsphilosoph John Hick 11 (geb. 1922) geht bei der Erklärung der religiösen Erfahrung davon aus, daß jede Wahrnehmung der Interpretation bedarf, weil erst durch sie das Wahrgenommene eine Bedeutung erhält. Eine Wahrnehmung, die für sich schon eindeutig wäre, gibt es nicht (all intentional experience is experiencing-as). Weil jede Wahrnehmung an sich mehrdeutig ist, kann keine Deutung beanspruchen, die allein mögliche zu sein. Deshalb kann eine Erfahrung, die religiös gedeutet wird, auch naturalistisch verstanden werden. Auch das sogenannte »Transzendente« ist, wie Hick den verschiedenen religiösen Gottesbilder induktiv entnimmt, unterschiedlichen Deutungen zugänglich. Jede Deutung erfolgt durch die »Linse« einer bestimmten Kultur mit ihren jeweiligen Begriffen und geschichtlich bedingten Erfahrungen. Hick folgert daraus, daß wir das »ultimately Real« niemals als solches oder an sich und Realismus. Eine Analyse der Religionsphilosophie von William P. Alston. Heusenstamm 2007. 10 F. Ricken: Religiöse Erfahrung und Glaubensbegründung. In: Theologie und Philosophie 70 (1995), S. 400. 11 J. Hick: An Interpretation of Religion. London 1989. Vgl. hierzu: G. Gäde: Viele Religionen – ein Wort Gotten. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie. Gütersloh 1998.

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Gegenstndliche Wahrnehmung Gottes: W. Alston und J. Hick

erreichen. Was wir als das »Real« ansehen, ist Ergebnis einer Deutung der Wirklichkeit mittels religiöser Begriffe. »We describe as religious experience those in the formation of which distinctively religious concepts are employed«. 12 Der folgenreiche Unterschied zu Frank liegt, wie schon bei Alston, darin, daß Hick von vornherein in der Subjekt-Objekt-Relation denkt. Er gelangt nicht zum lebendigen Wissen des Seins, sondern bleibt bei begrenzten Bewußtseins- und Denkinhalten stehen. Es gelingt ihm darum nicht, eine transzendentale Erfahrung des Göttlichen zu erreichen. Zur Begründung seiner These, daß in die Wahrnehmung (Erfahrung) eines Gegenstandes die kulturabhängigen Strukturen unseres Denkens erkenntnisbestimmend einfließen, beruft Hick sich auf Kants Kategorienlehre. Die für Kant fundamentale transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis stellt er nicht.

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XII. Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

Franks Ausführungen zur Schöpfung gehören zum spekulativ Kühnsten und Schwierigsten seines Werks. Sie versuchen, einen wesentlich theologischen Gedanken philosophisch nachzudenken und die Einheit und Differenz Gottes zum Sein aus dem Wesen Gottes im Ur-Akt der Schöpfung zu verstehen. Die allgemeine ontologische Einsicht in die Anwesenheit des Seins in allem findet ihre spekulativtheologische Bestätigung. Der tiefe christliche Gedanke, daß Schöpfung und Erlösung innerlich zusamengehören, spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Die von Gott ausgehende Vereinigung mit dem »Anderen« wird als seine Befähigung zur Teilnahme am Schöpfungswerk erkannt.

1.

Das Ungeschaffene im Menschen

Franks Gedanke, daß der Mensch nicht nur Kreatur ist, sondern in ihm auch ein »ungeschaffenes Prinzip« anwesend ist, setzt beim traditionellen rational-religiösen Denken an und versucht, ausgehend von der geistlichen Erfahrung, in neuer Hinsicht die Einheit und Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf aufzuzeigen. Es geht auch darum, die objektivierende Vorstellung von Gott als ein jenseitiges Gegebenüber in gewisser Weise zu rechtfertigen und sie auf ihren wahren Kern zurückzuführen. Frank knüpft dabei an die Lehre zahlreicher Mystiker an, die von zwei »Schichten« oder »Seelen« im inneren Sein des Menschen spricht: Der Mensch ist autonomes Subjekt – in dessen Tiefe Gott »wohnt«, ohne daß das autonome Selbstsein durch die Immanenz Gottes als dessen Grund beeinträchtigt würde. Frank findet diese Erfahrung im Christentum schon bei Paulus, der davon spricht, daß Christus oder der Heilige Geist in ihm selbst lebt und wirkt; weiter kommt sie bei altchristlichen Autoren wie Tertullian, Augustinus, Dionysios Areopagita zum Ausdruck, im 220 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Mittelalter bei Hugo und Richard von St.Victor, bei Meister Eckhart, der devotio moderna des 14. und 15. Jahrhundert und deutlich bei der hl. Theresa von Avila (gest. 1582), die im Menschen »Geist« und »Seele« unterscheidet, und dem hl. Franz von Sales (gest. 1622), der in der Seele zwei Prinzipien wahrnimmt, die er hinsichtlich ihrer Nähe zur göttlichen Gnade mit den Namen der Abrahamsfrauen »Sarah« und »Hagar« benennt. Auch außerhalb des Christentums ist die Erfahrung der zwei Schichten anzutreffen: im Alten Testament, in der Kabbala, und insbesondere in der von Frank geschätzten arabisch-persischen Mystik. Die Überlegungen, die Frank in seinem Spätwerk Die Realität und der Mensch zu dieser Zweiheit anstellt, führen Gedanken weiter, die bereits in dem Buch Die Seele des Menschen, das er noch in Rußland vor der Revolution hatte veröffentlichen können, angedeutet waren. Die Zweiheit im eigenen Inneren, die Frank verständlich zu machen unternimmt, entspricht nicht der Unterscheidung des eigenen Selbstseins vom psychophysischen Organismus, sie entspricht auch nicht dem Haben bestimmter einzelner Erkenntnisinhalte. Sie liegt innerhalb des Selbstseins. Wenn Augustinus sagt: »Gott war schon immer in mir, nur ich selbst war nicht bei mir«, so unterscheidet er gleichsam zwei Ich, die einander gegenübertreten können. Auch der Ausdruck vom »Gipfel« oder »Funken der Seele«, der in der deutschen Mystik anzutreffen ist, bezeugt die Unterscheidung gleichsam von mir selbst und meiner »Seele«. Die Erfahrung dieser Zweiheit kann etwa nachvollzogen werden, wo der Mensch sich des Unterschieds bewußt wird zwischen seinem Selbstbewußtsein, das sich als Ich ausdrückt, und der Wahrnehmung der eigenen inneren Welt als einer lebendigen Fülle oder auch vermeintlichen Leere. Für viele Menschen ist die Entdeckung dieser seelischen Wirklichkeit eine Art »Offenbarung«, die sie, wie Frank bemerkt, erschrecken lassen kann. Sie ist vom Ich unterschieden, doch nicht wie ein Objekt der gegenständlichen Wirklichkeit, vielmehr wie etwas, das in ihm selbst lebt. Versucht man weiter zu verstehen, was sich hier als »Seele« zeigt, so merkt man, daß sie als Realität die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, Immanenz und Transzendenz übersteigt und sie in sich vereint. Von dieser Erfahrung ausgehend läßt sich verstehen, daß die Beziehung zu Gott, die von meinem »Ich« und die von meiner »Seele« ausgeht, jeweils eine andere ist. Dem Ich als Subjekt des Erkennens und Wollens tritt Gott wie eine transzendente Instanz von außen gegenüber, vergleichbar den Inhalten der objektiven Wirklich221 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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keit. Meine Seele aber als in mir lebende Realität, die auf die Realität in ihrer ganzen Fülle hin offen ist, erfährt Gott als in ihr wohnend (RM 293 ff.). Um diese Zweiheit innerhalb des Selbstseins und die damit verbundene unterschiedliche Beziehung zu Gott weiter verständlich zu machen, erinnert Frank an die allgemeine epistemologische Einsicht, derzufolge es die transzendentale Bedingung jeglichen Wissens ist, daß wir vor und unabhängig von der Ausrichtung des Erkenntnisblicks auf die Objekte diese doch schon irgendwie »haben«. Dieses »Haben« und somit ihre Erkenntnis ist möglich, weil wir mit den Erkenntnisgegenständen in der alles umgreifenden Einheit der Realität immer schon verbunden sind. Diese Bedingung gilt auch für unsere rational-religiöse Beziehung zu Gott, in der wir Gott wie einer gegenüberstehenden transzendenten Größe gegenübertreten. Das mit dieser Beziehung verbundene Wissen von Gott ist kein primäres Wissen. Daß wir überhaupt »die Idee Gottes als einer transzendenten, uns äußeren Realität« bilden können, hat vielmehr die Immanenz Gottes in uns oder das ungegenständliche Wissen von Gott, das mit seiner Anwesenheit in uns identisch ist, zur Bedingung. Franks Folgerung zur Erklärung der »rationalen« Beziehung zu Gott lautet nun, daß die Seele jenes »primäre Wissen« von Gott, das in seiner Immanenz gründet, dem rationalen Selbstbewußtsein d. h. gewissermaßen der Oberfläche der Seele »übergibt«: »Nur dadurch kann mein Ich (in seinem Unterschied zu Gott) Gott auf sekundäre Weise als transzendente Instanz haben, sich auf ihn richten, die Pflicht erkennen, ihm zu gehorchen, d. h. einen transzendenten Maßstab des eigenen Lebens haben« (RM 296 f.). Das rationale »Wissen« von Gott ist deshalb, obwohl »sekundär«, keine bloße Begriffskonstruktion, sondern gründet in der Erfahrung der realen Immanenz Gottes als jenseitigen. Die Immanenz Gottes im Menschen ist nicht nur die Bedingung dafür, von Gott wissen zu können. Auch die Befähigung, mich selbst und alles andere in der Welt zu beurteilen und zu bestimmen, so Franks weitreichende Folgerung für die Anthropologie, gründet in der Verwurzelung in Gott. Das heißt, daß das Wesen des Menschen als Person – seine Freiheit und Ursprünglichkeit, sein Selbstand, und damit auch seine Befähigung zu schöpferischem Handeln – keine Naturgegebenheiten sind, sondern ihren Grund darin haben, daß Gott ihm innewohnt. Frank formuliert es so: Subjekt und Person bin ich dadurch, daß ich »eine Ausstrahlung der allumfassenden Reali222 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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tät« bin, die durch die Tiefen meines Wesens hindurchgeht. Gerade als autonomes Subjekt und Person bin ich »wesentlich nichts anderes als die abgeleitete Spiegelung« dieser Tiefendimension. Hier findet Frank das Wort Meister Eckharts bestätigt: Weil vom »Erstursprung und Zentrum der Realität, von Gott« ein »Funke« im Menschen lebendig ist, ist er selber »ein abgeleitet-ursprüngliches Zentrum des Seins« (RM 298). Weil das Wirken Gottes einem Lichtstrahl gleicht, der durch das Zentrum der Person hindurchgeht, genauer, es als solches überhaupt ins Sein ruft, also dem Menschen nichts fremdes ist, kann Frank in ihm das ursprüngliche Verhältnis zwischen Gnade und Freiheit erkennen. Gnade und Freiheit sind »nicht zwei verschiedene und einander äußerliche Kräfte – in ihrem letzten, innersten Wesen sind sie zwei Momente, zwei Seiten ein und derselben wirksamen Realität«. Sie stehen einander nicht entgegen, weil die Gnade, das Wirken Gottes »von oben«, die Freiheit schafft. Zur Erläuterung dieses Verhältnisses, in dem das Verhältnis zwischen der menschlichen Personalität und dem Innesein Gottes wiederkehrt, nimmt Frank das Begriffspaar anima und animus auf, das »zwei Momente ein und derselben wirksamen Realität« bezeichnet: Die anima, das »weibliche« Prinzip des menschlichen Geistes, dem die ontologische Priorität zukommt, empfängt und birgt in ihrem Schoß den Samen der Gnade, der als animus »nach außen tritt und als selbständiges aus sich heraus handelndes Wesen sein eigenes Leben hat« (RM 298). Die Unterscheidung zwischen der Tiefe der Seele und dem Ich als dem unmittelbaren Selbstbewußtsein darf die unteilbare Einheit der Person nicht vergessen oder sogar zu ihrer Spaltung führen. Der gottmenschliche Grund meines Seins ist selber das innerste Wesen, die »Wurzel«, meiner selbst als Subjekt. Die Tiefenschicht der menschlichen Seele ist mit Gott so eng »verschmolzen«, daß – diese Folgerung sieht Frank als unabweisbar an – »die reine Geschöpflichkeit durchbrochen und in diesem Sinn ein ungeschaffenes, überkreatürliches Prinzip der menschlichen Seele« anzuerkennen ist. Meister Eckhart hatte diese Auffassung, wie Frank weiß, den Vorwurf eingetragen, eine häretische Lehre zu vertreten. Frank bemüht sich auch in dieser sublimen Frage um Klärung und Akzeptanz. Selbstverständlich ist das Sein des Menschen, wie er immer wieder betont, keine »primäre, absolut-ursprüngliche Realität«; es besteht aber in der »Verbindung mit Gott«, deren »Begründung« Gott selbst ist. Diese intime Verbindung macht den Menschen »in abgeleiteter Wei223 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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se der Ewigkeit Gottes selbst teilhaft« – und begründet damit den Glauben, nicht endgültig vernichtet werden zu können, also unsterblich zu sein (RM 301). Zu beachten ist selbstverständlich, daß die Über-Kreatürlichkeit nur dem personalen Geist des Menschen zukommt, keineswegs aber den empirischen seelischen Inhalten seines Lebens. Jede Formulierung des überrationalen Verhältnisses von Gott und Mensch ist ein Behelf. Sie kann nur annähernd das letztlich Unergründliche aussagen: Gott und Mensch haben »ein identisches Wesen, aber in zwei verschiedenen kategorialen Formen: In Gott in der Form des ursprünglichen, aktualen und unendlichen Seins und im Menschen in der Form des abgeleiteten, potenziellen und begrenztpartiellen Seins, quasi en miniature« (RM 303). Mit gebührender Vorsicht kann diese »Tiefenschicht« des Menschen, die aus Gott »geboren« ist oder aus ihm »fließt«, auch als Emanation Gottes bezeichnet werden – wenn beachtet wird, daß sie selbstverständlich nicht mit Gott identisch und kein Teil von ihm ist. Nochmals in Anlehnung an Meister Eckhart: Wie ein »Funke« leuchtet als letzter Grund meines eigenen Wesens »der Strahl, der von der zentralen Sonne des Seins ausgeht«. Jene »Tiefenschicht« nimmt »sozusagen eine Zwischenposition zwischen ›Geschöpf‹ und Gott« ein. Zur Bestätigung dieser gewiß ungewöhnlichen Aussage beruft Frank sich auf zwei auch für Theologen unverdächtige Zeugen: auf Maximus den Bekenner (gest. 662) und auf Franz von Sales (gest. 1622). Nicht zuletzt im Zeugnis des Neuen Testaments selber sieht Frank eine Bestätigung seiner These: Heißt es in ihm nicht, daß wir berufen sind, »Kinder« und »Söhne« Gottes zu sein (hier wäre an den Römerbrief 8:14 ff. zu denken)? Weiter verweist Frank auf das Gespräch Jesu mit Nikodemus, in dem Jesus von der »Geburt« des Menschen »aus dem Geist« spricht (Johannes 3:3). Diese »Geburt von oben« und Annahme des Menschen als »Kind« Gottes darf nicht auf einen zeitlichen Moment in der Lebensgeschichte eines Menschen, etwa eine »Bekehrung«, eingeengt (oder gar als bloße blumige Redeweise abgetan) werden. »Der Mensch könnte nicht ›Kind Gottes‹ werden, wenn er es nicht dem Wesen nach von Anfang an wäre, nicht von Gott schon so vorgesehen wäre. In der ontologischen Ordnung gehört der Primat gerade diesem höheren Wesen des Menschen als dem wahren Endziel, das Gott mit dem Menschen erreichen will«. In ontologischer Hinsicht ist die »Geburt von oben« eine überzeitliche »ewige Geburt«, die als transzendentale Bedin224 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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gung dem Geschehen in der Zeit enthoben ist (RM 304). Das Endziel, das, wie Frank sagt, transzendental gegenwärtig ist, besteht nach kirchlicher Lehre in der »Vergöttlichung«, in der Teilhabe des Menschen am Wesen Gottes.

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Mit dem das Wesen des Menschen auszeichnenden »ungeschaffenen Prinzip« ist seine Befähigung grundgelegt, in der Kraft Gottes auch selber Schöpfer zu sein. Frank sieht sich mit dieser These im Widerspruch zur theologischen Tradition (er erwähnt Augustinus und Thomas), die allein Gott die Befähigung zum Erschaffen des Seins zuerkennt. Freilich, Franks These, die auch den Menschen wahrhaft schöpferisch sein läßt, ist eine Analogie, in der das Schöpfertum Gottes das analogatum primarium ist. Die Zweiheit im menschlichen Subjekt – seine Autonomie und zugleich die Immanenz einer es übersteigenden geistigen Realität – ist die Bedingung seines Schöpfertums. Besonders augenfällig verwirklicht sich die Fähigkeit, schöpferisch tätig zu sein, im künstlerischen Schaffen. Um dieses Schöpfertum zu charakterisieren, greift Frank, wie schon bei der Phänomenologie des Schönen, den Begriff »Ausdruck« auf – »eines der rätselhaftesten Worte der menschlichen Sprache«. »Die Kunst ist, da sie ›Ausdruck‹ ist, Verkörperung. In ihr wird etwas Geistiges in einen Körper gekleidet, dringt gleichsam ins Materielle ein und erscheint in ihm als seine ›Form‹« (RM 308). Evident setzt dieser Akt schon Seiendes voraus. Doch gelangt durch ihn Neues in das Sein, indem das Geistige, das der Künstler noch unfertig in sich trägt, durch sein Tun eine gegenständliche Gestalt gewinnt. Zwei Momente verschmelzen dabei zu einer unvermischten Einheit: das Tun und Mühen des Künstlers und die ihn zum Schaffen drängende und begleitende Inspiration. Das vom Künstler geschaffene Werk ist so »der individuell-menschliche Ausdruck« des in ihm wirkenden »übermenschlichen Geistes«. In dieser Einheit kann der Anteil des menschlichen Schöpfers von der als »Geschenk von oben« erfahrenen Inspiration nur »abstrakt« unterschieden werden. Goethe hat das Zusammenwirken dieser Momente mit seiner Bemerkung bezeugt, »daß alles Denken zum Denken nichts hilft, daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns 225 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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dastehen und uns zurufen: da sind wir!« (RM 210). 1 Die Erfahrung, zu schöpferischem Tun gedrängt zu sein, ist, wie Frank an mehreren Stellen seines Werkes betont, auch dem Philosophen nicht fremd. Auch der wahrheitsuchende Philosoph weiß, daß der Ursprung des schöpferischen Aktes nicht allein seine individuelle Subjektivität ist. Ebensowenig wird die Annahme eines »unpersönlich-allgemeinen Trägers von Bewußtsein« als Quelle der Inspiration durch die Erfahrung gerechtfertigt. Aus diesen Erwägungen ergibt sich als metaphysisch und theologisch höchst bemerkenswerte Konsequenz: Gott ist nicht nur der schöpferische Ursprung des Seins, sondern hat das Sein selbst mit schöpferischer Kraft ausgestattet, d. h. er hat seiner Schöpfung die Befähigung verliehen, an seinem eigenen Schöpfungswerk mitzuwirken. »Gottes Schöpfertum trägt den Charakter einer Erschaffung von Schöpfern«, die seinen Schöpfungsplan ausführen. Vergleichbar ist diese Beziehung mit der eines Komponisten, der das Musikwerk geschaffen hat, zu dessen schöpferischen Interpreten (RM 382). Der von der göttlichen Schöpferkraft herkommende schöpferische Impuls, der sich in der weltlichen Evolution äußert, ist begrifflich-abstrakt vom primären schöpferischen Handeln Gottes klar zu unterscheiden. In der konkreten Evolution aber sind sie zu einer Einheit zusammengewachsen. Im Unterschied zu den auch im Kosmos zu beobachtenden unpersönlichen und artspezifischen schöpferischen Prozessen ist sich die menschliche Kreativität ihrer selbst als aktiver Kraft bewußt. Als ihr Ursprungsort erweist sich die vom Urgrund der Realität »abgeleitete Ursprünglichkeit«, die den Menschen als Person auszeichnet. Wenngleich in besonderer Weise der Künstler, zumal der Dichter, sich seiner schöpferischen Kraft bewußt ist, oft bis zur Verachtung des »gemeinen Volks«, besteht Frank doch darauf, daß jeder Mensch seine Berufung zum schöpferischen Tun erfüllen kann, daß also in allen Lebensbereichen – auch im familiären und selbst im politischen – in gewissem Ausmaß wahrhaft Neues geschaffen werden kann. In der Erfahrung, im geistigen Schaffen von einer geschenkten Inspiration geführt und gedrängt zu werden, wird die UnergründFrank hat diesen Satz aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann (24. Februar 1824) in russischer Übersetzung zitiert. Vgl. J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von F. Bergemann. Frankfurt am Main 1997, S. 81.

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lichkeit der Realität bewußt, ohne daß diese Erfahrung einen religiösen Charakter haben müßte. Wie schon die phänomenologische Analyse der ästhetischen Erfahrung und der Erfahrung des sittlichen Imperativs zeigte, kann das Transzendieren zum göttlichen Urgrund der Realität je nach der konkreten Begrenztheit des Subjekts und seines Aktes, in sehr verschiedener Gestalt, Tiefe und Intensität erlebt werden. Der Künstler verspürt in der schöpferischen Inspiration »die Wirkung Gottes nur von einer ihrer Seiten, nämlich als schöpferisches Prinzip und somit als Quelle seiner eigenen, menschlichen Kreativität, während die übrigen ›Attribute‹ Gottes, die sich in der religiösen Erfahrung offenbaren, außerhalb seines Gesichtsfelds bleiben«. Entscheidend ist jedoch, daß »jede geistige Kraft (sofern sie durch das Zentrum der menschlichen Person wirkt und daher in die schöpferische menschliche Freiheit überfließt) von jenem Mittelpunkt und Erstursprung der Realität ausgeht, den wir Gott nennen«. Frank meint, daß der Mensch gerade in seiner Eigenschaft als künstlerischer Schöpfer sich als »Bild und Gleichnis Gottes« erfährt – dadurch allerdings auch der besonderen Versuchung ausgesetzt ist, sich zum Titanen zu stilisieren – während im eigentlichen religiösen und sittlichen Erleben eher die Differenz zu Gott bewußt wird (RM 310 f.). Der Mensch, der am göttlichen Schöpfertum mitwirkt, ist dadurch noch nicht dem Wesen Gottes ähnlich geworden. Denn Gott ist nicht nur der schöpferische Erstursprung des Seins; er ist darüber hinaus auch »personifizierte Heiligkeit, das ideale Prinzip der inneren Vollkommenheit, gleichsam der geistigen Durchsichtigkeit und Rechtfertigung des Seins«. Gott begnügt sich nicht damit, etwas anderes ins Sein zu rufen, sein Wille ist darauf gerichtet, das Geschaffene auch mit dem eigenen Wesen zu durchdringen, es zu vergöttlichen. Menschliches Schaffen ist darum erst dann im vollen Sinn Mitschaffen mit Gott, wenn es auch »die Heiligkeit Gottes in das eigene – individuelle und kollektive – Sein einbringt und aufnimmt«. Freilich, in dieser Hinsicht ist der Mensch »am wenigsten ›Schöpfer‹ und im höchsten Grad bloßer Empfänger der gnadenreichen Realität Gottes« (RM 314). Obwohl das menschliche Schaffen innerhalb seiner eigenen Sphäre souverän ist (das künstlerische ist nur seiner eigenen Vollkommenheit verpflichtet), bleibt es als ganzes dem Prinzip der Heiligkeit untergeordnet. Im Blick auf die Kreativität des Künstlers zeigt sich das darin, daß wirklich schöpferisches Tun »ohne sittlichen Ernst und ohne Verantwortungsgefühl« nicht möglich ist; es 227 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

erfordert »die sittliche Anstrengung der Wahrhaftigkeit«, es muß »mit Demut verbunden sein und durch die Askese uneigennützigen Dienens vollbracht werden« (RM 315). Dem schöpferischen Tun des Menschen ist eine immanente Grenze gezogen, weil Gott ihm mit dieser Befähigung nicht die ganze Fülle seines Wesens mitteilt.

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Die Erschaffung des Seins durch Gott. Die »Andersheit« der Schpfung

Von Kritikern ist Frank vorgeworfen worden, daß in seiner Philosophie der All-Einheit der Begriff der Schöpfung ein leeres Wort sei. Frank hat besonders in seinem letzten Werk Die Realität und der Mensch zu dieser Problematik Auskunft gegeben. Von dem »überrationalen Geheimnis« der Schöpfung können wir überhaupt nur sprechen, weil wir selber die Erfahrung des menschlichen Schöpfertums machen. So kann man, ausgehend von der Analogie des künstlerischen Schaffens, sagen: Die Erschaffung des Seins bedeutet, daß Gott etwas von sich weggibt und mitteilt. Mit anderen Worten: Der Schöpfungsakt besteht darin, daß Gott »die Realität aus sich heraussetzt, indem er gleichsam das ursprüngliche kategoriale Moment des ›ist‹ seines eigenen Wesens nach außen ausstrahlt«. Frank spricht sogar von einer »Selbstaufteilung« Gottes, in der dieser »eine sich äußere Sphäre setzt, indem er ihr in abgeleiteter Weise seine eigene Ursprünglichkeit verleiht«. Das von Gott nach außen gesetzte »ist« darf nicht als lebloses Substrat des Seins verstanden werden, sondern als »ein aktives, dynamisches Prinzip«, als sich entfaltendes »Leben«. Damit ist aber auch die Grenze der Analogie erreicht: Zur Andersheit, die in der Analogie zu beachten ist, gehört, daß Gottes Schöpfungsakt, anders als die der Zeit unterworfene kreatürliche Evolution, überzeitlich-ewig ist. Das schließt die Vorstellung aus, der Schöpfungsvorgang gleiche einer »augenblicklichen Geburt«, nach deren Abschluß das Sein sich selbst überlassen bliebe. In Franks Perspektive aber ist das Weltsein nicht so sehr das Ergebnis als vielmehr der »immanente Ausdruck« von Gottes Schöpfertum. Schon in der Bibel findet er die Lehre, daß Gottes Schaffen auf die gesamte Weltdauer ausgedehnt ist. Das Sein »ist nichts anderes als fortwährende Erschaffung«. Das heißt aber: das Weltsein ist wesentlich kontingent. Von der Weltseite her gesehen hat der Schöpfungsakt den Charakter eines evolutiven Prozesses. Frank konnte sich hier Bergson anschlie228 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Erschaffung des Seins durch Gott. Die »Andersheit« der Schpfung

ßen, der in der Zeitlichkeit des Weltseins die Äußerung des ihm zugrunde liegenden Moments der Schöpfung sah (RM 374; 381 f.). In der vom biblischen Schöpfungsbericht aufgeworfenen Frage, wie es zu verstehen sei, daß Gott »im Anfang« Himmel und Erde erschaffen hat, schließt Frank sich der Deutung an, die W. Solowjow dem ersten Wort des Buchs Genesis gegeben hatte. In seiner Schrift »La Russie et l’Eglise universelle«, 1889, hatte Solowjow das hebräische Wort be-reschit nicht als Umstandswort (»anfangs«) verstanden, sondern als Aussage über die Erschaffung des »Anfangs«. 2 Dieser »Anfang« selbst »ist die ursprüngliche Grundlage oder das ursprüngliche Substrat des universalen Seins« (RM 375). Was hiermit gemeint ist, wird verständlicher, wenn man der Frage nachgeht, ob Gott irgendein Material benutzt, das er außer sich vorfindet, oder ob sein Schaffen allein »durch seine eigene innere aktive Kraft bestimmt« ist. Damit ist die Frage nach der Erschaffung aus dem »Nichts« aufgeworfen. Schon die Analogie des göttlichen Schöpfungsaktes mit dem Schaffen des Künstlers legt sie nahe. Die Antwort ist nur auf die Weise des »belehrten Nichtwissens« zu geben. Dazu ist zunächst festzuhalten, daß die Kategorien »innerhalb« und »außerhalb«, die alle partikulären Denkinhalte und alle weltlichen Beziehungen logisch bestimmen, auf Gott, der kein partikulärer Inhalt ist, nicht angewendet werden können. Vielmehr »wird jedes außerhalb (wie auch jedes innerhalb) durch Gott selbst gesetzt, ist ein Moment seiner alles bestimmenden unendlichen Fülle«. Darum ist »jedes ›Andere als Gott‹ ›ein Anderes in Gott selbst‹, ist ›Gottes Anderes‹, ist das Moment der ›Andersheit‹, das aus der Selbsterschließung Gottes hervorgeht«. In Das Unergründliche heißt es ähnlich: Die Andersheit der Welt gegenüber Gott »stammt selber aus Gott und ist in ihm begründet«, und sie »verbleibt in Gott«. Die All-Einheit ist im »belehrten Nichtwissen« als Koinzidenz zu verstehen: Der transzendente Erstursprung ist zugleich der immanente Grund der Schöpfung. Gott ist selbst »die All-Einheit, außerhalb derer überhaupt nichts denkbar ist«. Gott ist »die Einheit von ›diesem und dem anderen‹« (RM 383). All-Einheit hat in diesem Verständnis nichts mit Vermischung zu tun, sondern besagt die übergreifende Einheit von Andersheit und Selbigkeit. Dem transzendentalen Denken zeigt sich »die ›Andersheit‹ Gottes als eine ganz andersartige, Vgl.: W. Solowjow: Rußland und die universale Kirche. In: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von W. Solowjew. Band 3. Freiburg 1954, S. 351 f.

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ungewöhnliche Andersheit«. Weil in der Schöpfung die radikale Andersheit Gottes mit seiner Immanenz transrational vereint ist, ist sie nur »einer ganz anderen geistigen Einstellung als dem abstrakten Denken« zugänglich (DU 428). Damit ist das Entscheidende gesagt: »Gott hat es bei der Schöpfung nicht mit irgendeinem ihm selbst fremden und von ihm unabhängig existierenden Material zu tun. Aber er erschafft nicht ›aus dem Nichts‹. Sein Schaffen ist – wie jedes Schaffen – ein Formen von Material. Nur setzt er es selbst. Dieses Material ist ›das Andere Gottes selbst‹ – ein Prinzip, das Gott sich selbst entgegensetzt als ›Anderes‹«. Dieses Andere ist nicht irgend etwas Bestimmtes. Es ist ungeformte Potenz oder einfach »schlechthin elementare Dynamik«, die, weil formlos, von der Einheit von Akt und Potenz, die das Wesen Gottes ausmacht, unterschieden ist. Die bloße Potenz oder Formbarkeit als das Gott gegenüberstehende Prinzip ist deshalb auch nicht die Realität in ihrer Verbindung mit Gott, die kraft dieser Verbindung gleichfalls eine Einheit von Akt und Potenz ist. So kann in Franks Sicht die Erschaffung der Welt als »Formung, Gliederung und Koordinierung« verstanden werden, in der Gott seine Aktualität und Vollkommenheit in diese formlose Potentialität einführt (RM 384; DU 428). Gott bringt durch die begrenzte, jeweils andere Mitteilung seines eigenen Seins das von ihm verschiedene Sein der Geschöpfe hervor. Erschaffen bedeutet in Franks Verständnis, daß Gott seinen »Sinngehalt« oder sein Sein der Welt verleiht und sie dadurch in ihrem »Gehalt« oder »Wert begründet« (DU 428). Darum kann die Schöpfung als »Gewand« Gottes und »Abglanz seiner ›Herrlichkeit‹« erfahren werden (DU 430; 433), oder, wie Frank mit Cusanus sagt, als Gottes Offenbarung, »explicatio Dei«. Sie ist darum in gewisser Hinsicht dem »Ausdruck« vergleichbar, den der menschliche Geist seinem Körper gibt. Doch wenn Gott sich zum »Ausdruck« bringt, »›schafft‹ das ›Innere‹, das sich nach außen, in der Welt ausdrückt, selbst sein Ausdrucksmittel, die ›Umhüllung‹, in der es sich ausdrückt« (DU 433). Weil die Differenz Gottes zur Welt in Gott verbleibt, ist die Andersheit des Schöpfers gegenüber der Schöpfung »eine positive, verbindende, ›verbrüdernde‹ Beziehung«, in der gerade »die höhere transrationale Einheit«, aus der sie hervorgeht, zum Ausdruck kommt. Bei diesen Aussagen ist immer im Auge zu behalten, daß Gott als das non aliud (wie Nikolaus von Kues in gnoseologischer Hinsicht Gott nannte) die »transzendentale Bedingung« 230 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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jeder geschöpflichen Unterscheidung von aliud und idem ist (GdW 289) 3 . Ganz abwegig wäre es, Gott als »›Substanz‹ oder ›Substrat‹ der Welt« zu denken, weil dann seine »völlige Andersheit« nicht mehr gewahrt wäre. 4 Damit ist klar geworden, welche Bedeutung die traditionelle Formel, nach der Gott die Welt »aus dem Nichts« geschaffen hat, für Frank hat. Sie betont die »absolute Abhängigkeit, nicht nur des Wesens, sondern auch des Seins der Welt von ihrem einzigen Urgrund, von Gott«. Sie besagt: Die Welt ist nicht a se, vielmehr ist »die letzte Begründung des universalen Seins diesem selbst transzendent« (RM 377). Das »Nichts«, aus dem Gott, wie die traditionelle Redeweise sagt, schafft, kann also nicht als eine Art Stoff gedacht werden, der dem Schaffen Gottes vorausläge: Das Nichts ist nichts. Das Wort unterstreicht nur, daß das Geschaffene nicht war, »bevor« es geschaffen wurde, daß es das ihm eigene Sein, durch das es als solches bestimmt ist, ganz von einem anderen, dem Schöpfer, erhält (»bevor« ist hier ohne jede zeitliche Konnotation gebraucht). Es besagt, daß das Sein, durch welches das Geschöpf ist, »vor« der Erschaffung als göttliches Sein in Gott ist. Mit den Worten des Nikolaus, dem Frank im Wesentlichen folgt: Das Sein der Geschöpfe ist in Gott das Sein Gottes (vgl. DU 428; vgl. 357). 5 Vgl. zu diesem Cusanischen Kernbegriff wie zum Cusanischen Koinzidenzgedanken G. Schneider: Gott – das Nichtandere. Untersuchungen zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues. Münster (Aschendorff) 1970. Besonders S. 65 ff. 4 Eine univoke Anwendung des Substanzbegriffs, der von den irdischen Seienden gewonnen wird, auf Gott ist ausgeschlossen. Thomas von Aquin hält die Übertragung des Substanzbegriffs auf Gott für nicht möglich, weil in Gott Sein und Wesen (esse et quidditas) eins sind (unde Deus non est in genere substantiae, sed est supra omnem substantiam): Quaest. disp. de potentia 7, art. 3, ad 3 und 4. An anderen Stellen hält er eine analoge Anwendung des Substanzbegriffs auf Gott für zulässig. – Zum Begriff der Schöpfung vgl. auch Béla Weissmahr: Philosophische Gotteslehre, Stuttgart (Kohlhammer) 2 1994, bes. S. 124–137. Ferner Thomas von Aquin: Summa theol. I, q. 8, a. 1. 5 Schon in De docta ignorantia (II, cap. IV, 115) hat Nikolaus am Beispiel der Gestirne dargelegt, wie die Immanenz des Alls [universum] im Einzelding sich von der Immanenz Gottes im Geschöpf unterscheidet: »Wie Gott als der Unermeßliche weder in der Sonne noch im Mond ist, obwohl er auch auf absolute Weise in ihnen das ist, was sie sind, so ist auch das All [universum] zwar nicht in der Sonne noch im Mond, aber es ist in ihnen das, was sie sind, in eingeschränkter Weise [contracte]. Die absolute Washeit [quidditas] der Sonne ist von der absoluten Washeit des Mondes nicht verschieden – es ist Gott, die absolute Seiendheit [entitas] und Washeit [quidditas] von allem. Die eingeschränkte Washeit [quidditas contracta] der Sonne dagegen ist von der eingeschränkten Washeit des Mondes verschieden; denn 3

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Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

In dem Gedanken, daß analog zum Künstler auch Gott aus einem »Material« schafft, das mehr ist als bloßes Nichts, findet Frank eine Lösung einer gerade den religiösen Menschen der Gegenwart bedrängenden Frage: Wie ist die offensichtliche Unvollkommenheit der Welt mit der Allmacht eines allgütigen Gottes zu vereinbaren? Wie der schaffende Künstler dem widerständigen Material mit einer gewissen Anstrengung seine Form aufzwingen muß, so setzt auch das in der Schöpfung zu formende Material Gott einen Widerstand entgegen. Dieses Material ist, d. h. es ist mehr als nichts. Es ist »lebendige«, noch »ungeformte Dynamik, die zu ihrer Formung einer gewissen Zügelung, der Einfügung in einen schöpferischen Plan bedarf«. Wie das Wirken des Künstlers durch Mühen bei der Überwindung von Schwierigkeiten, durch Rückschlage und Mißlingen gekennzeichnet ist und oft neu ansetzen muß, so auch Gott in seinem Schaffen (RM 384 f.). Selbstverständlich ergibt sich dieser Eindruck, wie Frank eigens anmerkt, nur aus der Perspektive der Schöpfung. Aber die Allmacht des Schöpfers erscheint in dieser Sicht »vereinbar mit dem Moment der Dramatik, der angespannten schöpferischen Anstrengung und mit der relativen Unvollkommenheit seiner Schöpfung«. Sowohl die natürliche Evolution als auch die Menschdie absolute Washeit eines Dinges ist nicht das Ding selbst, wohl aber ist die eingeschränkte Washeit nichts anderes als das Ding selbst. So ist klar, daß – weil das All eine eingeschränkte Washeit ist, die in anderer Weise in der Sonne eingeschränkt ist und in anderer Weise im Mond – die Identität des Alls in Verschiedenheit [in diversitate] besteht wie die Einheit in der Vielheit [sicut unitas in pluralitate]. Das All ist, obwohl es weder Sonne noch Mond ist, dennoch in der Sonne Sonne und im Mond Mond. Gott aber ist nicht in der Sonne Sonne und im Mond Mond, sondern das, was Sonne und Mond ohne Vielheit und Verschiedenheit ist [sine pluralitate et diversitate]. Das All bedeutet Allheit [universalitatem], d. h. Einheit von Vielem«. – Nikolaus sagt zwar, daß alles in allem ist. Das aber heißt nicht, daß ein Einzelding alles ist: Das All ist vielmehr auf individuelle Weise das Einzelne – Sonne oder Mond. M. Enders faßt den Cusanischen Gedanken so zusammen: »Die Koinzidenz Gottes mit dem absoluten Sein und damit die Immanenz des wahren Seins der Geschöpfe in Gott bedeutet nicht, daß dadurch die Subsistenz der geschaffenen Entitäten in ihren eigenen geschöpflichen Seinsformen aufgehoben wäre, sondern nur, daß Gott universelle Seinsursache ist, daß er als die Form aller Formen diesen das Sein allererst verleiht und damit jede Seinsform bildet und gestaltet«. »Der Seinsgrund und damit das wahre Sein […] jeder hervorgebrachten Seinsform ist seine innergöttliche, mit Gott selbst identische Seinsweise; insofern ist Gott das Sein selbst bzw. ist jedes Geschöpf in Gott das, was es – in seiner exemplarursächlichen, eigentlichen Seinsform ist«. Vgl. M. Enders: Unendlichkeit und All-Einheit In: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Hg. M. Thurner. Berlin (Akademie-Verlag) 2002. S. 383–441. S. 429.

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Die Erschaffung des Seins durch Gott. Die »Andersheit« der Schpfung

heitsgeschichte können in ihrer Unvollkommenheit verstanden werden als »Ausdruck des angespannten tragischen Kampfes der schöpferischen Kraft Gottes mit der chaotischen Unordnung und der Widerspenstigkeit der elementaren Dynamik seines Materials – der reinen Potentialität des Seins« (RM 385). Die Dunkelheit, die dieser Lösung in gewisser Weise anhaftet, könnte auf Jakob Böhmes Einfluß zurückgehen. Doch Franks Erwägungen sind keine Spekulationen um ihrer selbst willen; sie versuchen, die augenscheinliche Schwäche des göttlichen Willens in der Welt, die schon im Neuen Testament ausgesagt ist, zu deuten. Die Schrift Das Licht in der Finsternis, die in der Schreckenszeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde, hat den Widerstand zum Thema, der (gemäß dem Johannesevangelium) dem göttlichen Logos von der menschlich-geistigen »Welt« entgegengebracht wird und den das »Licht« bis zum Jüngsten Tag nicht überwinden kann. Franks Ausführungen über das »Ungeschaffene« im Menschen ließen schon erkennen, daß der Mensch in einem anderen Verhältnis zu Gott steht als die gesamte übrige Schöpfung: Er ist Geschöpf und zugleich »Bild und Gleichnis Gottes«; dies bedeutet, daß der Mensch »ein Geschöpf ist, in dem Gott selbst unsichtbar potentiell anwesend ist«. Wieder zeigt sich die Zweieinheit, die dem Menschen eigen ist: Als Naturwesen ist er Geschöpf wie die übrige Welt. Zu dieser Naturseite gehört auch sein psychisches Leben mit seinen Trieben und Begierden. Durch sein geistiges Wesen aber unterscheidet sich der Mensch von allem anderen: Er ist »Person« – »eine Schöpfung, in der Gott sein eigenes Wesen als Geist, Person und Heiliger ausdrükken will«. Er verfügt mit dem Personprinzip über »Selbstbewußtsein, Autonomie, die Fähigkeit, seine Handlungen zu kontrollieren und ihnen, in Unterordnung unter das oberste Prinzip des Guten oder der Heiligkeit, eine Richtung zu geben« (RM 387). Diese Abgrenzung aber ist relativ. Frank gelangt hier zu einer bemerkenswerten Folgerung (die in ähnlicher Weise auch vom Theologen K. Rahner vertreten wurde 6 ). Der Mensch empfindet nicht nur den tiefen Ge»Wenn nämlich Werden wirklich Selbsttranszendenz ist, auch u. U. zu einem neuen Wesen hin, wenn auch nur kraft der Dynamik absoluten Seins (welches hinwiederum nicht aufhebt, daß es sich um eine Selbsttranszendenz handelt), wenn Materie und Geist nicht einfach disparate Größen sind, sondern Materie gewissermaßen gefrorener Geist ist, dessen einziger Sinn die Ermöglichung wirklichen Geistes ist, dann ist eine Entwicklung der Materie auf Geist hin kein unvollziehbarer Begriff. Gibt es überhaupt unter der Bewegung durch das absolute Sein ein Werden im Materiellen; durch das dieses sich

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Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

gensatz, der ihn als Geist und Person von den anderen kreatürlichen Seinsträgern trennt; sein religiöses und ästhetisches Empfinden läßt ihn sogar in den unpersönlichen Schöpfungen der Natur ein »seelenähnliches Prinzip« wahrnehmen, so daß diese gleichsam als Gottes »erster Werkentwurf« erscheinen, als »Schöpfung, der es noch bevorsteht, freier Geist zu werden und dadurch eine Verwandtschaft mit dem Menschen zu erlangen«. Das gegenwärtige Verhältnis des Menschen zum Untermenschlichen läßt sich als das eines »erwachsenen älteren Bruders« zu den noch »kindhaften Wesen« begreifen, aus denen die natürliche Welt besteht.

4.

Eschatologischer Ausblick. Der Sieg am Ende

Die Erschaffung des Seins ist keine bloße, durch nichts begründete, göttliche Machtdemonstration (wie die Vorstellung, Gott schaffe »aus dem Nichts« nahelegen könnte). Wäre die Schöpfung ein bloßer Machterweis, so wären die Menschwerdung Gottes und der Kreuzestod des Gottessohnes nicht mehr sinnvoll zu verstehen. »Keine theologischen Klügeleien vermögen die Idee der grenzenlosen Allmacht Gottes mit der christlichen Idee des leidenden Gottes zu versöhnen, eines Gottes, der aus Liebe zur Welt zum freiwilligen Teilnehmer an der Tragödie des Weltlebens wurde« (RM 380). Die fortdauernde Erschaffung der Welt und ihre Erlösung sind in irdischer Vorstellungsweise zeitlich unterschieden; heilsökonomisch aber sind es »zwei Seiten eines umfassenden schöpferischen Aktes«, in dem Gott in seinem Wirken sich selbst an das Geschöpf mitteilt. Diese Mitteilung, in der Gott die Schöpfung an seinem eigenen Sein teilhaben läßt, vollendet sich in ihrer »Vergöttlichung«: In ihr wird die Schöpfung zum »Reich Gottes«. Es wäre ganz verfehlt, sich dieses »Reich« als eine paradiesische Enklave in der Welt vorzustellen; es ist die Welt selber, die dann – neu geschaffen und von Gottes Geist durchdrungen – »nur noch die äußere, körperliche Sphäre des göttlichen Seins selbst« ist (RM 389). Aber das Einbringen des göttlichen Geistes und Lichtes in die Schöpfung ist ein langselbst überbietet, dann kann, da dieses absolute Sein Geist ist, diese Selbstüberbietung nur in der Richtung auf den Geist hin geschehen«. Karl Rahner: Die Hominisation als theologische Frage, in: P. Overhage, K. Rahner, Das Problem der Hominisation, Freiburg 1961, S. 78.

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Eschatologischer Ausblick. Der Sieg am Ende

wieriger Prozeß, in dem es »keine Garantie für einen kontinuierlichen Fortschritt« gibt; in ihm sind durchaus auch »Mißlingen, Stillstand, Katastrophen und Momente von Niedergang und Rückschritt« zu beobachten. 7 Der sündige Wille setzt der Vollendung der Schöpfung Widerstand entgegen. Von Gottes Allmacht kann nur in dem Sinn gesprochen werden, daß Gott »die alles überwindende Kraft des schöpferischen Erstursprungs allen Seins ist«, die »nur eines fraglos garantiert: den Sieg am Ende« (ebd.). Das »Reich Gottes«, aus dem das Böse endgültig vertrieben ist, die Erlösung, ist keine verbesserte Verlängerung des Bisherigen, sondern gleichbedeutend mit einer neuen Schöpfung. Erst in einer solchen ist erreicht, wie es im 1. Korintherbrief (15:28) heißt, daß Gott »alles in allem« ist. Das Sein ist die »Selbstoffenbarung« und »Selbstverkörperung« Gottes. Auf den ersten Blick scheint die Schrift aus der Kriegszeit Das Licht in der Finsternis in Widerspruch zu der Gewißheit des Sieges zu stehen. Sie erscheint als ein Zeugnis des Pessimismus und des Verzagens. Dem Glauben, daß es einen »Fortschritt« gebe, der aus dem »Reich der Notwendigkeit« schließlich in ein irdisches »Reich der Freiheit« führen werde, ist durch die Schreckensereignisse des 20. Jahrhundert für alle Zukunft der Boden entzogen. Es ist nicht mehr denkbar, »daß die ›Macht der Finsternis‹ nur ein zufälliger, zeitlich begrenzter Zustand der Welt ist, und sie unaufhaltsam von der Macht des Lichtes verjagt und besiegt wird« (LidF 63). Vielmehr »verharrt die Welt hartnäckig im Bösen«, wie es schon das Johannesevangelium sagt. Darum ist, so Franks ernüchterndes Urteil, ein »endgültiger Sieg des Guten – innerhalb des irdischen Seins – unmöglich«. Der Kampf gegen die Finsternis »dauert in der Weltgeschichte ewig an« (LidF 65). Tatsächlich besteht der Grundton auch dieser Schrift in einem gläubigen Optimismus. Gerade in der Not des Kriegs ist es Franks Anliegen, bewußt zu machen: Der Kampf gegen das Böse kann mit Mut geführt werden, weil das »Licht« unbesiegbar in der Welt anweFrank hielt selbst die Zerstörung der ganzen menschlichen Zivilisation auf unserem Planeten nicht für ausgeschlossen. Sein Bedenken bekundet er mit einer Bemerkung Goethes. Frank bezieht sich hier auf ein Gespräch, das der alte Goethe mit Eckermann am 23. Oktober 1828 führte. Im Original lautet der Abschnitt: »Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr [der Menschheit] hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt.«

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Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

send ist. Denn der Sieg ist ungeachtet der ungeheuren Macht, welche das Böse in der Welt besitzt, jenseits der Zeit bereits errungen. Für unser gegenständliches Denken erfolgt die Vollendung am Ende der (nach den gewöhnlichen Zeitmaßen als unendlich vorgestellten) Zeit. In metaphysischer Hinsicht aber muß der Sieg als »überzeitlich seiend« gedacht werden. Das heißt, daß der Sieg kraft Gottes Allmacht »sich in den metaphysischen Tiefen des Seins bereits ereignet hat und nur noch auf der empirischen Ebene Frucht bringen und sich enthüllen muß«. Frank sieht diese Deutung durch das Johannesevangeliums bestätigt: »In der Welt werdet ihr in Bedrängnis sein; aber faßt Mut: Ich habe die Welt besiegt« (Joh. 16:33). In eschatologischer Perspektive ergibt sich angesichts der Greuel der Weltgeschichte aus der differenten Einheit Gottes mit der Schöpfung eine trostvolle Konsequenz: Wenngleich Gottes endgültiger Sieg über alle Widerstände erst »nach einem langen und schweren Kampf voller dramatischer Wendungen eintreten« wird, so geht doch der Schöpfergott selber diesen »schweren, leidvollen Weg« bis hin zu seinem endgültigen Triumph. Er nimmt teil »am Gang des Weltseins bis zur Vollendung durch tragisches Ringen. Zugleich aber ist es diese Anteilnahme, welche den Sieg am Ende garantiert«. Im Erschaffen der Welt und in ihrer Erlösung entäußert sich Gott und entwickelt sich auf geheimnisvolle Weise selbst. In welchen Schritten diese Entwicklung vor sich geht, wissen wir nicht; verbürgt ist nur ihr erfolgreiches Ende, weil »Gott der einzige Erstursprung und der einzige Urgrund allen Seins ist« (RM 390). Diese Zweiheit – der »tragische schöpferische Kampf« in der Zeit und auf der metaphysischen, überzeitlichen Ebene »die harmonisch-glückselige Ruhe des bereits erzielten Sieges« – ist auch in jedem Menschen anwesend und kann von ihm verstehend erlebt werden. Weil in Gott die Glückseligkeit auf unbegreifliche Weise eins ist mit der intimen Anteilnahme an menschlichen Schmerzen, kann der Mensch, ungeachtet der Schicksalsschläge doch gewiß sein, daß er in Gott geborgen ist. Für Frank ist die Annahme der Tragik des Daseins gerade der Weg, auf dem der Mensch zur selig-freudigen Geborgenheit bei Gott gelangt, weil es der Mitvollzug des Weges Gottes in der Welt ist. »Es ist dies eine großartige und geheimnisvolle Wechselbeziehung – die klarste Äußerung der transzendentalen Allmacht des heiligen Gottes, die alle unsere gewöhnlichen Vorstellungen übersteigt«. Die Tragik und die Zerrissenheit des menschlichen Daseins wären als solche gar nicht erfahrbar, wenn ihnen nicht das lebendige 236 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Eschatologischer Ausblick. Der Sieg am Ende

Wissen vorausläge, »im Schoß von Gottes Heiligkeit und Allmacht« gesichert zu sein. Das Elend des Menschen ist, wie Frank mit Pascal sagt, »misère d’un grand seigneur, d’un roi depossedé«, d. h. es besteht zusammen mit dem Bewußtsein seiner privilegierten »aristokratischen« Herkunft – und erweist gerade so, daß es nicht die letzte metaphysische Realität ist (RM 391 f.). Der Gedanke, der dem ontologischem Beweis zugrunde liegt, kehrt hier wieder: Gerade die Tragik des Lebens deckt, indem sie als Widerspruch zum eigentlichen Wesen des Menschen erfahren wird, den Zwiespalt zwischen den »blinden Weltkräften« und dem geistigen Prinzip im Menschen auf. Ihre Erfahrung kann deshalb, weil sie den Weg zur vertieften Wahrnehmung des Geistigen eröffnet, sogar als »Gnadengeschenk Gottes« bezeichnet werden. Die Erfahrung des Sterbens bildet hier keine Ausnahme. Auch der Tod hat zwei Gesichter: An ihm wird am nachdrücklichsten die Unvollkommenheit des Seins offenbar, zugleich aber ist er doch »das bewegende Mysterium des Übergangs«, das »ins ewige Leben« führt (RM 393.Vgl. auch XVI.2 über den »Sinn des Leidens«). Der letztlich unfaßbare Gedanke der christlichen Theologie, daß der göttliche Logos selbst den Kreuzestod Jesu mitstirbt und gerade dadurch den Tod und das Böse besiegt, hat in Franks ontologischer Eschatologie seinen Niederschlag gefunden. Dabei zeigt sich nochmals, daß die Inkarnation als die Aneignung der sterblichen menschlichen Natur durch den göttlichen Logos von Frank nicht als individuell beschränktes Ereignis in der Biographie Jesu von Nazareth verstanden wird, sondern (in der Tradition der patristischen Theologie) als das alle Zeit- und Raumbestimmungen übergreifende grundlegende ontologische Geschehen überhaupt. Dieses Verständnis der Inkarnation als Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur impliziert das Bekenntnis zur Dreifaltigkeit Gottes. »Gott der Schöpfer, Gott, der in die Welt herabsteigt, um durch die Großtat der Passion an dem tragischen Weg der Erlösung mitzuwirken, Gott, der sich der Welt einprägt und sie als Heiliger Geist – als Geist der Heiligkeit – von innen her in seinen Schoß zurücklenkt: Diese drei Personen Gottes, die in dem Dogma der Dreifaltigkeit zum Ausdruck kommen, sind gleichsam nur die äußeren Auswirkungen oder Aspekte des unzugänglichen Wesens Gottes selbst, seiner ›Wesenheit‹. Aber diese Wesenheit ist die Ruhe und Seligkeit der allumfassenden vollendeten Fülle, des Alpha und Omega des universalen Seins« (RM 394). 237 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Mensch und das Sein: Geschpf und Schpfer

Ein Modalismus, demzufolge Gott nur vom Menschen trinitarisch wahrgenommen wird, kann der Inkarnation, die auf die Erlösung der Welt ausgerichtet ist, nicht gerecht werden. 8 So wie die frühchristliche Irrlehre des Modalismus das christliche Gottesbild zerstört hätte, so findet in Franks Sicht auch in jüngster Zeit eine Auffassung Verbreitung, die Gott ganz den Bedingungen des weltlichen Seins unterwirft und die allein in docta ignorantia wißbare Koinzidenz von dynamischem Werden und ewiger Vollendung auflöst und behauptet, daß »die Zeit, der zeitliche Prozeß, der adäquate Ausdruck des absoluten Urwesens des Seins sei« und Gott »im schmerzhaften Prozeß der Weltentwicklung geboren werde und heranwachse«. Frank nennt keinen Namen eines Vertreters dieses, wie er sagt, »verheerenden Irrtums« – man könnte an den späten M. Scheler aber auch an die Seinsauffassung M. Heideggers denken. Die unauflösliche Zweiheit, welche die Selbsterfahrung des Menschen kennzeichnet – einerseits ist er Teil des Weltseins und als solcher mit »dramatischer schöpferischer Aktivität« ausgestattet und doch immer von Neuem Mißerfolgen und Niederlagen ausgesetzt, andererseits kann er die Erfahrung »unerschütterlicher seliger Ruhe in den letzten Tiefen seiner Seele« machen – hat ihren Grund im Wesen Gottes, dessen Abbild er ist. Auch Gott, der Urgrund alles Seins, ist, wie Frank am Ende seiner »Metaphysik des menschlichen Seins« nochmals umreißt, eine differente Einheit von Aktualität und Potentialität. Als Schöpfer und Erlöser ist Gottes Sein selber voller schöpferischer formender Aktivität »mit aller ihr eignenden Dramatik«. Zugleich ist »in ihm von Anbeginn, von Ewigkeit her, alles erreicht und verwirklicht, was er, in einem anderen Aspekt seines Seins, schöpferisch anstrebt. Frank fand dieses gläubige Vertrauen in Goethes Worten aus den Zahmen Xenien poetisch ausgedrückt (s. Kapitel XVIII, 5).

Frank verwirft in diesem Zusammenhang den »Sabellianismus«, eine antitrinitarische Irrlehre zu Beginn des dritten Jahrhunderts, die in Gott nicht die drei göttlichen Hypostasen unterschied, sondern lehrte, daß der eine Gott – eben der »Vater« – sich dem Menschen nur unterschiedlich zeige (modalistischer Monarchianismus), daß es folglich der eine Vatergott sei, der Mensch wurde und am Kreuz gelitten hat (RM 394).

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XIII. Gottmenschentum

Die differenzierte Einheit des menschlichen Selbstseins mit dem göttlichen Sein, um welche die bisherigen Überlegungen konzentriert waren, soll mit dem Stichwort »Gottmenschlichkeit« mit der ihr eigenen Problematik eigens zur Sprache kommen. Die bisher erörterte Anthropologie hatte gezeigt, daß der Mensch zwei Seinsbereichen angehört: Durch seinen Körper und sein psychisches Leben, soweit dieses durch körperliche Vorgänge bestimmt wird, ist er Teil der »objektiven« Weltwirklichkeit. Er kann sich jedoch über die Welt erheben, indem er wertend und urteilend Stellung zu ihr nimmt. Durch die urteilende Stellungnahme ragt er aus dem Naturgeschehen wesentlich heraus, denn die mit ihr vollzogene Unterscheidung zwischen »Subjekt« und »Objekt« konstituiert überhaupt erst den Begriff des »objektiv Wirklichen«. Im Vollzug seines Selbstbewußtseins distanziert er sich auch von sich selbst: Er selber ist für sich Erkennender und Erkannter, Bewertender und Bewerteter. Diese Befähigung, sich vom Gegebenen zu distanzieren, setzt die Befähigung zum Transzendieren voraus, die ihrerseits nur zu verstehen ist durch die Teilhabe an einer Realität, die wahrhaft vollendete Fülle ist. Der Mensch erfährt sein alle Grenzen transzendierendes Selbstsein jedoch zugleich als grundlos und erkennt damit die Notwendigkeit eines ihn stützenden in sich selbst ruhenden Grundes. Die Erfahrung des Noch-Nicht ist die Bedingung des Strebens auf die Fülle der Realität hin; zugleich ist die Überschreitung jeder Begrenzung möglich, weil die unbegrenzte Fülle als Strebeziel in ihm bereits gegenwärtig ist (vgl. RM 257 f.). Der Grund oder die Wurzel des Menschen reicht in Gott hinein. Diese Verbindung kann nicht etwas neben Gott sein, sie reicht in das Wesen Gottes selbst. Es bedarf der Klärung, wie Gottes Wesen und seine Beziehung zum Menschen in Gott selbst eine »unteilbare Einheit« bilden können, und weiter, wie diese Einheit mit der Transzen239 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

denz Gottes und mit seiner Personalität zusammengeht (RM 260; vgl. 255; DU 324).

1.

Die transzendentale Einheit. Immanenz und Transzendenz

Eine Hilfe, um die Verwurzelung des menschlichen Seins in Gott zu verstehen, bietet die Ich-Du-Beziehung. Indem das Selbstsein des Du in mein Sein eingeht, werden wir zur Einheit des Wir, in der Ich und Du doch eigenständige Realitäten bleiben, sich also nicht vermischen. Die Analogie stößt hier aber schon an ihre Grenze. Denn die Begegnung zwischen Menschen und ihre Wir-Einheit erfolgt von außen her und ist faktisch zufällig; sie bleibt deshalb immer der Möglichkeit zu scheitern ausgesetzt. Gott aber begegne ich als dem Grund meines eigenen Seins, der in meinem Ich schon immer anwesend ist. Die Beziehung zu ihm ist darum nicht eine unter den vielen Du-Beziehungen, die ein Mensch eingehen kann, sowenig Gott ein Seiendes unter anderen ist. Er ist vielmehr die »transzendentale Möglichkeitsbedingung der Seinsform Du«. Indem die Fülle der Realität – Gott – sich mir zuwendet, erweist sie sich selbst wesentlich als »Du«-Sein und begründet so überhaupt erst die Möglichkeit, eine Beziehung als Du-Beziehung einzugehen. Gott, der wesentlich Zuwendung, Offenbarung ist, ist so das Urbild oder die »Idee« des Du (vgl. DU 367 f.). Weil die Zuwendung Gottes zu mir mich erst zum vollen Ichsein erweckt, würde ich, sofern diese Zuwendung aufhören könnte, auch aufhören als selbstverantwortliches Subjekt zu existieren. Gott steht (rational gesprochen) meinem beschränkten Ich kraft seiner absoluten Objektivität oder Selbstbegründung gegenüber, ist mir transzendent – und lebt doch »zugleich in den Tiefen meines Ich« (RM 261). Weil die rationale Betrachtungsweise, in der Bestimmungen wie »außerhalb« und »innerhalb« in derselben Hinsicht einander ausschließen, auf die Beziehung Gottes zum Menschen nicht anwendbar ist, erscheint sie irrational. Dasselbe gilt für die Beziehung Gottes zum Sein. Als mir transzendente Instanz ist Gott »nicht nur zugleich ›außerhalb‹ und ›innerhalb‹ von mir«; »gerade als Wesen, das anders ist als ich selbst, erkenne ich ihn als den inneren Grund meines Seins« (RM 262). Unter der Rücksicht, unter der ich Gott als den erfahre, der mich vor meiner Grundlosigkeit bewahrt, ist er mir gerade nicht ähnlich, kein Du, sondern mir jenseitig und direkt entgegengesetzt. Aber auch hier waltet die schon aufgewiesene Dialektik: Wahr240 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die transzendentale Einheit. Immanenz und Transzendenz

haft sinngebender Grund kann für mich nur sein, was mir als Person verwandt ist. So wird Gottes Objektivität, durch die er sich von der grundlosen Subjektivität meines Ich zutiefst unterscheidet, »in der Erfahrung des Herzens als das mir Notwendige erkannt, gerade weil es der letzten Tiefe meines Ich als Person entspricht«. Weil der vom Menschen her gedachte Begriff der Person stets auch grundlose Subjektivität besagt, hat es in der neueren Geschichte des Denkens so viel Widerstand gegeben, den Personbegriff auf Gott anzuwenden. In Franks Verständnis ist Gott das Prinzip dessen, was im personalen Seinsprinzip positiv ist, zugleich aber ist er »allem fremd, was die ›Subjektivität‹ der Person als ein irgendwie mangelhaftes Sein ausmacht«. Gott ist die – in der Schöpfung unvorstellbare – Einheit von Personalität und absoluter Objektivität: »in personaler Gestalt das Gute, die Wahrheit selbst« (RM 262). Gott ist als Person keine objektivierbare Wirklichkeit für sich. Er ist als Erstursprung der Realität der Grund, der dem chaotischen subjektiven Selbstsein des Menschen Halt gibt – und somit das, was der Mensch nicht selbst besitzt, sondern wessen er bedarf. Das Personsein Gottes ist nur vom begrenzten menschlichen Personsein her zu verstehen. Gott ist darum gegenüber dem Menschen bleibend ein anderer, d. h. er ist als jenseitiger mit dem Menschen wesenseins. Die antinomische Beziehung zu Gott ist hiermit auf den Punkt gebracht: Gott ist eine jenseitige Instanz, zu der wir im Verhältnis einer numerisch und qualitativ anderen Realität stehen – doch zugleich erfahren wir dieses Verhältnis als zum inneren Wesen unseres eigenen Seins gehörig, als uns immanent. »Wenn wir also von unserem Ich in seinem Unterschied zu Gott sprechen, dann sprechen wir von einer Realität, die in sich selbst das Siegel dessen trägt, zu dem sie in Beziehung steht« (vgl. RM 264). Um die antinomische Beziehung Gottes zum Menschen zu verdeutlichen und vor Mißverständnissen zu bewahren, muß es genügen, den geistigen Blick aus immer verschiedenen Richtungen auf sie zu lenken und zum Nachvollzug der ihr zugrundeliegenden Erfahrung anzuleiten. Schon diese selbst enthält die Antinomie. – Wer trotz dieser von Frank vorgenommenen Klarstellungen den Vorwurf erhebt, sein Denken vermische Immanenz und Transzendenz, vertrete also einen Seinsmonismus, hätte in der Tat, wie Frank mit Bezug auf einige zeitgenössische Kritiker bemerkte, nicht begriffen, wovon die Rede ist (vgl. DU 414). 241 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

2.

Gott und Mensch – ineinander verschrnkte Begriffe

In der Geschichte des philosophischen und des theologischen Denkens sieht Frank immer wieder die Tendenz wirksam, den schmalen Mittelweg (der nichts mit einem Kompromiß zu tun hat) zwischen dem monistischen Pantheismus und dem rationalistisch als Zweiheit gedachten Verhältnis von Gott und Mensch zu verlassen und so auch den auf ihm gründenden Humanismus zu gefährden. Die Umgangssprache wie auch die gewöhnliche religiöse Sprache sprechen von »Gott« und vom »Menschen« wie von zwei verschiedenartigen und von einander unabhängigen Seinsinstanzen. Diese Sprechweise setzt dabei in der Regel unreflektiert voraus, daß jede ohne Bezug auf die andere bestimmt werden kann. Als abgeleitete ist diese Sprechweise, wie Frank zugesteht, durchaus berechtigt. Dem transzendentalen Denken aber zeigt sich, daß »die Zweieinheit der Gottmenschlichkeit logisch früher ist als die Begriffe Gott und Mensch«, Gott und Mensch also nicht außerhalb des Verhältnisses, in dem sie zueinander stehen, gedacht werden können. Mit anderen Worten: Es ist das transzendentale Verhältnis beider Wesenheiten, »das diese Begriffe selbst konstituiert« (RM 283). Will das philosophische Sprechen vom Menschen ebenso wie von Gott nicht in unentwirrbare Schwierigkeiten geraten, muß es berücksichtigen, daß die Immanenz Gottes im Menschen es nicht erlaubt, Gott und Mensch als Realitäten zu denken, deren Verschiedenheit logisch ihrer wechselseitigen Beziehung vorgeordnet wäre. Frank sieht die Neigung, Gott und Mensch als Realitäten zu denken, die keine ursprüngliche Beziehung zueinander haben, in zwei Auffassungen der frühchristlichen Theologiegeschichte wirksam, dem Augustinismus und Pelagianismus. Es handelt sich um Prototypen des Mißverständnisses, das in unterschiedlichem Gewand bis in die Gegenwart zu Unheil führt (Frank will nicht die Auffassung historischer Personen charakterisieren, sondern mit diesen Namen verbundene geschichtlich wirksam gewordene Tendenzen). Für den Augustinismus schließt die Sündhaftigkeit des menschlichen Willens ein wahrhaft gutes Handeln ohne ausdrückliche göttliche Gnadenhilfe aus (Augustinus: non posse non peccare), während für den Pelagianismus der menschliche Wille eine mit Gott gleichberechtigt zusammenwirkende schöpferische Kraft ist, die letztlich auch ohne Gott ihr Heil wirken kann. Frank sieht im Pelagianismus die Anlage zu jener Selbstvergottung des Menschen, die sich im areligiösen Hu242 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gott und Mensch – ineinander verschrnkte Begriffe

manismus der Neuzeit vollendete. Der Augustinismus, der den freien schöpferischen Willen des Menschen nicht angemessen anerkennt, tendiert dagegen dazu, den Wert der menschlichen Geschichte und Kultur zu negieren. Beide Formen versuchen, das Verhältnis von Gott und Mensch rational zu denken; sie verkennen Gottes Immanenz im Menschen und neigen zum Dualismus. Frank sieht ihn in der im Alten Testament vorherrschenden radikalen Überhöhung Gottes als des souveränen Schöpfers über das von ihm abhängige Geschöpf vorgebildet. In dieser Überhöhung kommt die Ähnlichkeit mit Gott, die den Menschen als sein Abbild auszeichnet, kaum mehr zur Geltung; dieser gleicht vielmehr einem bloßen Naturwesen, das von Gott verschieden ist und nur ein äußeres Verhältnis zu ihm hat (vgl. RM 284 ff.). Beide Formen haben das Verhältnis der Freiheit und Selbständigkeit des Menschen mit der totalen Abhängigkeit des geschöpflichen Seins nicht als überrationale Synthese zu denken vermocht. In einer solchen aber sind beide Momente miteinander verbunden und bestimmen sich gegenseitig, weil sie »sich in der letzten Tiefe auf eine gemeinsame, sie beide bestimmende Einheit stützen«. Gott und Mensch können nach Frank in ihrer Beziehung nur dann zutreffend verstanden werden, »wenn sie als ungetrennt-unvermischte Momente der Gottmenschlichkeit als des wahrhaft ursprünglichen Prinzips gedacht werden«. Sobald sie als unbedingt verschiedenartige Realitäten gedacht werden, erweisen sie sich als nicht realisierbare Abstraktionen (vgl. RM 289 f.). Die »Idee der Gottmenschlichkeit« bedeutet, daß die Beziehung zu Gott – den sich selbst behauptenden Grund der Realität – mit dem Selbstsein des Menschen eins ist und »das bestimmende Merkmal des Wesens des Menschen« ausmacht. Oder schärfer: »Das, was den Menschen zum Menschen macht, das Prinzip der Menschlichkeit im Menschen, ist seine Gott-Menschlichkeit« (RM 260). In Das Unergründliche schreibt Frank: »Erst in der Gottmenschlichkeit offenbart sich die wahre, konkrete Fülle sowohl der Menschlichkeit als auch der Gottheit«. Gott ist Selbstmitteilung, »ein fortwährend über den Rand ›seiner selbst‹ sich ergießender Strom – eine Realität, die immer schon mehr ist als nur ›sie selbst‹, die also auch mich, den von ihr Geschaffenen, jenseits ihrer selbst umfaßt« (DU 399). Dieser ewige »Strom« der Selbsthingabe ist nicht anders denn als »Liebe« zu verstehen. Gottes Liebe schließt den Menschen »gleichsam von Anfang an in sich ein« und zwar in »transrationaler 243 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

Einheit« mit seiner Göttlichkeit. So muß man sagen: Gerade in seiner reinen Göttlichkeit enthält Gott in sich »eine Potenz von ›Menschlichkeit‹«. »Gott ist eben nicht ›nur Gott und sonst nichts‹ sondern ganz wesentlich ›Gott und ich‹«. »Er ist wahrer Gott eben als Gottmensch« (DU 414). So ist auch der Mensch »überhaupt nur Mensch, menschliche Person mit der ganzen ihr eignenden Freiheit und Eigenständigkeit, sofern er mehr und anderes ist als nur Mensch, als ein begrenztes, in sich verschlossenes Naturphänomen. So ist er letzten Endes ›Mensch‹ nur, sofern sich in ihm Gottmenschlichkeit und Gottmenschentum realisiert, d. h. sofern er in Gott ist und Gott in sich hat«. Diese Aussagen sind selbstverständlich nicht als logische Identifizierung zu verstehen; als solche wären sie unerträglich. Sie sind sinnvoll, wenn sie in ihrer antinomischen Einheit verstanden werden, also der Satz, daß Gott in mir geboren wird, mit dem Satz, daß derselbe Gott »zugleich mein ewiger Vater und Schöpfer bleibt«, eine Einheit bildet (DU 412–414).

3.

Der Begriff »Gottmenschlichkeit«

In der Anthropologie Die Realität und der Mensch bezeichnet Frank die »untrennbare Verbindung der Idee des Menschen und der Idee Gottes«, die Gottmenschlichkeit (Bogocˇelovecˇnost’), als den »eigentlichen Sinn des christlichen Glaubens« und zugleich als das einzig mögliche Fundament des Humanismus (RM 125). Der Begriff »Gottmensch« ist kein biblischer Begriff; bezogen auf Jesus Christus findet er sich zuerst bei Origines (gest. 254) 1 ; dann in lateinischer Form bei Augustinus (354–430) 2 . In der weiteren frühchristlichen Theologie wurde dieser Begriff nur selten verwendet. Bei Frank taucht der Begriff »Gottmenschentum« [bogocˇelovecˇestvo] erstmals im Aufsatz Grundlinien einer Kulturphilosophie vom Dezember 1905 auf, hier noch unvermittelt und eher beiläufig neben der »moralischen Bedeutung« jedes Menschen, mit der Kant und Fichte die Einzigartigkeit

»Theanthropos«. Origines: Peri archo¯n, De principiis II, 6,3. Migne tom. XI (hier in der lateinischen Übersetzung des Rufinus v.Aquileia: deus homo). 2 Augustinus: De catechizandis rudibus, Cap. IV (»idem Dominus Jesus Christus, Deus homo«). 1

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Der Begriff »Gottmenschlichkeit«

jedes Menschen begründen. 3 Frank hatte, als er diesen Aufsatz abfaßte, sehr wahrscheinlich keine nähere Affinität zur Theologie. Er war jedoch mit der Philosophie Hegels bekannt. Dieser verwendete den Begriff »Gottmensch« in seiner Religionsphilosophie; Feuerbach und Stirner hatten ihn in kritischer Absicht aufgegriffen. Es ist nicht völlig auszuschließen, daß Frank auch von diesen Autoren angeregt worden war, in jenem frühen Aufsatz vom »Gottmenschentum« zu sprechen; auch die Bemerkung, letztes Ziel der Geschichte sei die Verwirklichung der Freiheit, verweist auf Hegel. Andererseits bildet der Begriff »Gottmenschentum« den Angelpunkt von W. Solowjows gesamtem Denken, während der Begriff »Gottmensch« bei den deutschen Autoren eher am Rande steht. Man kann davon ausgehen, daß Frank bereits in jener frühen Zeit aus dem von Solowjow mitgeprägten philosophischen russischen Sprachgebrauch den Begriff »Gottmenschentum« kannte (in Der Gegenstand des Wissens, 1915, verweist er in einer Fußnote auf Solowjows Vorlesungen über das Gottmenschentum). Für die Annahme, daß Solowjow diesen Begriff dem jungen Frank vermittelt hat, spricht auch die unpersönliche Form »Gottmenschentum«, die bei ihm geläufig ist, bei den deutschen Autoren aber nicht vorkommt (sie sprechen vom »Gottmenschen«). Die philosophische und religiöse Tiefe, die der Begriff in Franks späteren Werken gewinnt, ist nachhaltig auch durch Nikolaus von Kues beeinflußt, der vom Menschen als »unvollendetem« oder »geschaffenem Gott« spricht (deus occasionatus, deus creatus). Frank benutzt in seinem frühen Aufsatz die Wortform ideja bogocˇelovecˇestva (Idee des Gottemenschentums); in seinen Geistigen Grundlagen der Gesellschaft verwendet er sowohl bogocˇelovecˇestvo als auch bogocˇelovecˇnost’, ohne daß ein Unterschied in der Bedeutung zu erkennen wäre. In Das Unergründliche unterscheidet er Bogocˇelovecˇestvo und bogocˇelovecˇnost’: der erste Begriff (mit großem Anfangsbuchstaben) bezieht sich auf die Gottmenschheit des biblischen Gottessohnes, der zweite auf die Gottmenschlichkeit, die potentiell jedem Menschen eigen ist. In der gleichen Bedeutung spricht Frank in Die Realität und der Mensch von der Idee der Gottmenschlichkeit (ideja »Bogocˇelovecˇnosti«). (Solowjows Cˇtenija o bogocˇelovecˇestve sind in der Deutschen Gesamtausgabe als Vorlesungen über Vgl. P. Ehlen: Der Begriff des »Gottmenschentums« in der Philosophie V. S. Solov’evs und S. L. Franks. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 4. Jg. 2000, Heft 2, S. 41–74.

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Gottmenschentum

das Gottmenschentum übersetzt; später gebraucht Solowjow auch den Terminus bogocˇelovecˇnost’).

4.

Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma

Sichtlich ist Frank darum bemüht, zumal in seinen späten Schriften, den Leser zu überzeugen, daß seine These von der »untrennbaren Verbindung der Idee des Menschen und der Idee Gottes« (RM 125) die besondere Einheit von Gott und Mensch in der Person Christi nicht in Frage stellt. Offensichtlich hat er gerade in Hinblick auf die Mittlerschaft Christi Einwände von theologischer Seite vorausgesehen. Darum sollen die Kerngedanken seiner Christologie wenigstens knapp referiert werden; einige Wiederholungen sind dabei dennoch nicht zu vermeiden. Frank zeigt sich in der theologischen Literatur, die ihm unter den beschränkten Umständen von Emigration und Krieg zugänglich war, bewandert, doch hat er die theologischen Themen nicht als Berufstheologe behandelt. Sein Interesse richtet sich nicht auf die theologische Systematik als solche, sondern auf die tragfähige Begründung des Humanismus. Diese kann, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Brief an W. Iwanow geschrieben hatte 4, allein von der »Gottessohnschaft des Menschen« ausgehen: diese Würde aber gründet in der von Gott seit Ewigkeit gewollten Menschwerdung seines Logos. Da für Frank die Anthropologie nicht ohne Ontologie und diese nicht ohne die Anthropologie gedacht werden kann, verstand er die Inkarnation, durch die Gott sich mit der Schöpfung unlösbar verbindet, ähnlich wie schon Solowjow als Ur-Ereignis, das konstitutiv für das Sein schlechthin ist. Für das gegenständliche Verstehen sind die Erschaffung der Welt mit dem Menschen und die Inkarnation zwei unterschiedene, einander folgende Ereignisse; unter heilsökonomischer und ontologischer Rücksicht sind sie überzeitlich eins. Die gegenständliche Betrachtungsweise ist für die didaktische Vermittlung unerläßlich, doch führt sie zu Ungereimtheiten, sobald die zeitlich-geschichtliche Dimension als die einzige mögliche angesehen wird. Die Berufung des Menschen, am Wesen Gottes teilzunehmen, 4 Brief an Vjac ˇ eslav Ivanov vom 17. Juni 1947. In: S. L. Frank: Russkoe Mirovozzrenie. St. Petersburg 1996, S. 97.

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Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma

»Gottmensch« zu sein, erfüllt sich in seiner »Vergöttlichung«, der »Theosis«. Auf diese Erhebung des Menschen ist nach der Lehre der Kirche, zumal der griechischen Kirchenväter, die Menschwerdung Gottes gerichtet. Um überhaupt verstehen zu können, was »Vergöttlichung« bedeutet, muß dem Menschen ihre »Potenz von Anfang an eigen sein«. Frank verwendet, um diese Berufung des Menschen zu charakterisieren, auch die biblischen Begriffe »Kind« und »Sohn«, die für ihn eine Seinsbeziehung aussagen. Begründet ist sie, wie es unmißverständlich heißt, in der »untrennbaren« und doch »unvermischten« Einheit, in welche die menschliche Natur mit der göttlichen in der Person Christi aufgenommen ist. Der Mensch erlangt die »Kindschaft« oder »Sohnschaft« durch einen Mittler, der im Vollbesitz des göttlichen Wesens, also Gott selber ist. Frank schreibt: »Wir müssen das aktuelle und absolute Gottmenschentum Christi als Begründung unseres eigenen potentiellen Gottmenschentums erkennen«. »Die ganze Bedeutung von Christi Gestalt liegt darin, daß in ihm das, was potentiell unser eigenes Wesen ausmacht, als aktuell und absolut verwirklicht gedacht wird. Er ist der ›neue Adam‹, der neue und vollkommene Stammvater der wahren Natur des Menschen« (S nami Bog 315 5 ; vgl. Römerbrief 5:14). Darum ist jeder, der an der menschlichen Natur teilhat, also Mensch ist, berufen, auch an der göttlichen Natur teilzuhaben, »Kind« und »Sohn« Gottes und in diesem Sinne Gottmensch zu sein. Damit ist die Grundlage des christlichen Glaubens genannt, die auch das Fundament des christlichen Humanismus bildet. In Franks Formulierung lautet die entscheidende Frage: War Christus »nur ein ›gott-ähnliches‹ Wesen oder war in ihm wirklich das wahre Wesen Gottes gegenwärtig«? Die Auseinandersetzung darüber auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 ging nicht, wie Frank betont, »um eine leere Kleinigkeit, sondern um eine Frage, von deren Lösung abhing, ob unsere Seele den Frieden des wahren Wissens finden kann oder ob sie zur aussichtlosen Unruhe des Nichtwissens und Zweifelns verurteilt ist«. Jenes erste ökumenische Konzil der Christenheit markierte diese Frage durch die beiden Begriffe homoousios (wesensgleich) und homoiousios (wesensähnlich), – bei denen, wie Frank bemerkt, ein bloßer »Halbvokal«, das griechische Jota, den höchst wichtigen Bedeutungsunterschied anzeigte (S nami Bog 276). S. L. Frank: S nami Bog. Tri razmysˇlenija. In: S. L. Frank: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva. Moskau 1992, S. 217–404.

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Gottmenschentum

Schon in den Geistigen Grundlagen der Gesellschaft hatte Frank die Begriffe »unvermischt« und »ungetrennt« verwendet. Er nahm damit die Begriffe auf, mit denen das Konzil von Chalzedon im Jahre 451 das christologische Dogma definiert hatte: Christus ist wahrer Gott und zugleich wahrer Mensch – unvermischt und doch eine Einheit. Diese Einheit wurde in der theologischen Fachsprache als »hypostatische Union« bezeichnet (das Wort hypostasis meint den göttlichen Logos als den Grund oder Träger, mit dem die individuelle menschliche Natur Jesu vereint ist). Das Dogma wollte zwei irrige Auffassungen zurückweisen: die geläufige antike Vorstellung eines göttlich-menschlichen Mischwesens (deshalb »unvermischt«) ebenso wie die Vorstellung, die einzig wahre Natur Christi sei die göttliche, seine menschliche Natur sei bloßer Schein (deshalb: beide Naturen sind »ungetrennt«). Frank hat die christologische Terminologie zunächst verwendet, um das gottmenschliche Wesen jedes Menschen auszusagen: Er ist berufen, mit dem Wesen Gottes vereint zu werden (»ungetrennt«), zugleich aber bleibt er ein begrenztes Geschöpf (»unvermischt«). Auf die besondere Weise, in der die menschliche Natur Jesu Christi mit Gott eins und doch nicht mit ihm vermischt ist, geht Frank erst in seinen späteren Schriften ein. Als Erkenntnistheoretiker weiß Frank, daß die göttliche Natur Jesu Christi nicht als gegenständliches Faktum bewiesen werden kann. Kann ein phänomenaler Vergleich der Religionsstifter, die mit dem Anspruch auftraten, die Wahrheit über Gott zu verkünden, in gewisser Hinsicht die Besonderheit Jesu Christi erweisen? »Daß Christi Lehre und Persönlichkeit höher, reiner, schöner und überzeugender ist als die Lehre und Persönlichkeit von Moses, Mohammed oder Buddha«, ist als Ergebnis eines derartigen Vergleichs unbestreitbar. Daraus können wir entnehmen, »daß die göttliche Wahrheit in der Lehre und Gestalt Christi vollständiger, tiefgründiger, klarer, zutreffender ausgedrückt ist als irgendwo sonst«; sie wird bei ihm »als allumfassende, selbstvergessene Liebe« sichtbar. Der Vergleich läßt »mit voller Gewißheit« erkennen, »daß Christi Person und Lehre Gott zumindest unermeßlich näher steht als die Person Mohammeds und daß im Vergleich mit der übermenschlichen Vollkommenheit Christi Mohammed, auch wenn man in ihm einen wirklichen göttlichen Propheten sieht, nur ein unvollkommener, sündiger Sterblicher bleibt. Und selbst die erhabene Predigt Buddhas, der die Menschen lehrte, durch Verzicht auf irdische Wünsche die Seligkeit des Nirwana zu erreichen, steht ganz offensichtlich an Wahrheitsfül248 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma

le hinter der Predigt Christi zurück, die den Weg zum ewigen Leben und zur Seligkeit des himmlischen Reiches über Selbstentsagung und Nächstenliebe wies. Ebenso ist Buddhas Gestalt, eines Königssohns in der Jugend, der als alter Mann friedlich unter einem Baum verschied, bei all ihrer Schönheit unvergleichbar mit Christi Gestalt, dem obdachlosen Zimmermannssohn, dessen Herz unablässig vom göttlichen Licht der Liebe brannte und der die tödliche Qual des Kreuzes auf sich nahm, um die Welt von der Macht der Sünde zu erretten« (S nami Bog 227). Was rechtfertigt die Folgerung, daß das göttliche Licht der Wahrheit in der Person Christi »klarer leuchtet« als in irgendeiner anderen? Frank antwortet mit Spinozas berühmtem Wort, dem epistemologischen Prinzip seiner Philosophie: »Die Wahrheit ist das Maß ihrer selbst und des Irrtums«. Angewendet auf die gestellte Frage heißt das: »Von Gott und seiner Wahrheit zeugt letzten Endes nur Gott selbst«; eine äußere, gegenständliche Begründung zu suchen, wäre der gestellten Frage völlig unangemessen. Die Gewißheit, daß durch Jesus Gott selbst spricht, gründet in dem Licht, das bis heute von dieser Gestalt ausgeht: »Ich glaube an das Evangelium«, sagt Frank, »weil ich durch das darin bewahrte Bild Christi Gott selbst sehe und Wahrheiten erfahre, die solcherart sind, daß ich sie als Stimme Gottes wahrnehme. Ich verehre die Kirche, weil ich in den Worten und Taten ihrer großen Lehrmeister, Bekenner, Heiligen und Weisen mit Gewißheit die göttliche Wahrheit und Weisheit wahrnehme« (S nami Bog 228). (Das Argument, daß die Wahrheit in der Seele einen Widerhall auslöst, der auch seine Herkunft erfahren läßt, ist neuplatonisch. Frank hatte es bei Nikolaus von Kues finden können; s. u.). Erneut geht Frank in diesem Zusammenhang auf die Frage ein, welche die Mitte seiner eigenen Anthropologie ausmacht und die dann in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zunehmend den theologischen Diskurs beherrscht. Die Menschwerdung Gottes und damit auch »der Begriff des vollkommenen Gottmenschen« blieben unverständlich, »wenn das ursprüngliche Wesen [pervozdannoe susˇcˇestvo] des Menschen als solchen nicht von Ewigkeit her darauf angelegt und dazu prädestiniert wäre, dieses vollkommene gottmenschliche Wesen in sich zu verkörpern, wenn also nicht eine ewige, uranfängliche [iskonnogo] Verwandtschaft und Einheit von Mensch und Gott existierte. In diesem Sinne ist das Gottmenschentum eine allgemeine Idee, die sich auf den Menschen schlecht249 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

hin, auf die gesamte Menschheit erstreckt. Das Gottmenschentum Christi ist die Verwirklichung der Möglichkeit, die im Wesen des Menschen angelegt ist«. Das heißt, diese Möglichkeit ist der menschlichen Natur kraft des seit Ewigkeit bestehenden göttlichen Willens zur Inkarnation verliehen, anders gesagt, die menschliche Natur ist von Ewigkeit her dazu bestimmt und ermächtigt, in die Einheit mit Gott aufgenommen zu werden, weil die Gestalt Christi, des vollendeten Gottmenschen, von Ewigkeit her gewollt ist (S nami Bog 315). Ebenso betont Frank in Die Realität und der Mensch, daß die »allgemeine ›Gottmenschlichkeit‹« als »Konstitutionsprinzip« des menschlichen Wesens »notwendig« anzunehmen ist, will man die Inkarnation verstehen. »Die Erkenntnis der potentiellen Gottmenschlichkeit des Menschen als solchen eröffnet eine allgemeine metaphysische Perspektive, in der die vollkommene göttliche Inkarnation – ohne aufzuhören, ein Wunder zu sein – ihren willkürlichen Charakter verliert und mit dem allgemeinen Verständnis des Lebens und Wesens des Menschen übereinstimmt«. Unter dieser Voraussetzung wird die Inkarnation nicht mehr als ein Ereignis verstanden, das »von außen in die allgemeine Ordnung des Weltseins eindrang«, sondern, so kann ergänzt werden, als das höchste Moment eines im Wesen Gottes gründenden Heilsplans. Zu Recht bemerkt Frank, daß er in dieser Auffassung mit W. Solowjow übereinstimmt (RM 290– 291). Daß die unvermischte Einheit von Gott und Mensch in der »hypostatischen Union« anders verwirklicht ist als im Gottmenschentum irgendeines »Durchschnittsmenschen«, ist der unübersehbare Eckpunkt in Franks Lehre vom Gottmenschentum. Die »gesamte religionsgeschichtliche Erfahrung, zumal die Erfahrung mit allen mystischen Erhebungen«, weist es als »unsinnige und verderbliche Verirrung« aus, wenn ein Mensch sich mit Christus gleichsetzen und den »unermeßlichen Unterschied« ihm gegenüber verwischen würde. Daraus folgt aber nicht, »daß eine andere Form der Verbindung dieser beiden Prinzipien in der menschlichen Person unmöglich« wäre (RM 290). Die Göttlichkeit, die in Christus in ihrer ganzen Fülle aktualisiert ist (vgl. Kolosserbrief 1:19), bleibe in den anderen Menschen potentiell und beschränkt. Frank führt als theologischen Beweis für diese Möglichkeit die Lehre vom Heiligen Geist und von der Kirche als Leib Christi an, welche die Anwesenheit Gottes »wenigstens in der kollektiven Einheit der gläubigen Menschheit« vor250 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Christus, der Mittler des Heils – Das christologische Dogma

aussetzen. Das Bekenntnis des Paulus »Christus lebt in mir« (Galaterbrief 2:20) bringt die mystische Erfahrung zum Ausdruck, daß er »die reale Anwesenheit Gottes in der Tiefe seiner Seele« verspürte. Auch in der Aufforderung des Evangeliums, Christus nachzufolgen, sieht Frank die Möglichkeit vorausgesetzt, »sich ihm anzugleichen«, und dadurch »gewissermaßen die wahre Menschennatur zu verwirklichen« (RM 291). Auch die Verheißung Christi im Johannesevangelium zieht er zur Begründung heran, daß der Mensch berufen ist, »Gottmensch« zu werden: »Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen« (Joh. 14:12)« (S nami Bog 315). Frank geht es, wie er immer von neuem hervorhebt, um die Würde des Menschen. Im Christentum sieht er sie auf das einzig wirklich tragfähige Fundament gestellt: daß Gott selbst Mensch geworden ist. Das Christentum ist für ihn deshalb »die Religion der Menschlichkeit« oder »die Religion der menschlichen Person«, denn »es offenbart die Heiligkeit, den absoluten Wert der menschlichen Person«. »Heiligkeit oder absoluter Wert« aber sind nichts anderes als »das Attribut der Gottheit«. Weder der antike Grieche noch der alttestamentliche Jude kannte die göttliche Würde des Menschen; »er hatte nicht das Gefühl der Ehrfurcht vor dem absoluten Wert der Realität, der sich in jedem menschlichen Wesen offenbart – und zwar so, daß er unter keinen Umständen verloren gehen kann und deshalb auch im lasterhaftesten, niedrigstehenden und nichtswürdigsten Menschen präsent ist. Ungeachtet ihres Humanismus konnte die antike Welt glauben, daß ein Sklave und Barbar ein Wesen von grundsätzlich anderer Natur sei als ein Freier und Hellene. Der alttestamentliche Mensch konnte – wenigstens bis zu den religiösen Errungenschaften der großen Propheten – Fremde und Heiden als Wesen von anderem Rang auffassen als das auserwählte Volk Israel. Er konnte denken, daß die Seele des Sünders und Ruchlosen vernichtet wird«. Frank erkennt in den neuzeitlichen Greuel der Revolutionen, der Kriege und des Völkermords das »Wiederaufleben dieser primitiven Vorstellungen«. Aber, so fügt er hinzu, »all dies widerspricht dem christlichen Bewußtsein, welches die Heiligkeit der menschlichen Person, des menschlichen Wesens als solchen behauptet«. Wenn die christliche Predigt dem Menschen zugleich seine Sündhaftigkeit vor Augen hält, dann deshalb, um ihm den »widernatürlichen ›Fall‹ aus der Höhe, auf der zu stehen er berufen ist«, bewußt zu machen (ebd. 316). 251 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

Frank ist überzeugt, daß seine Lehre von der Gottmenschlichkeit des Menschen die allgemein-menschliche Bedeutung des christologischen Dogmas erschließt. Deshalb ist es für ihn bemerkenswert, daß bereits die frühchristliche Kirche die menschliche Natur Christi, des »neuen Adam«, gegen Irrlehren wie den Doketismus und Monophysitismus, welche die irdische Leiblichkeit Christi als bloßen Schein erklärten und nur seine Gottheit als seine eigentliche Natur gelten ließen, entschieden verteidigt hat (RM 292). Schon die Tatsache, daß Gott die menschliche Natur als geeignet ansieht, in die Einheit mit ihm aufgenommen zu werden, bezeugt eine gewisse Verwandtschaft des Menschen mit Gott und ist ein Beweis seiner übernatürlichen Würde. Beim Vergleich der Religionen macht Frank auf ein sonst kaum beachtetes Moment aufmerksam, das nochmals die Gottmenschlichkeit des Menschen zum Inhalt hat. Er erkennt zwischen der Wahrheit der christlichen Verkündigung und der Wahrheit, wie sie andere Religionen predigen, einen »prinzipiellen Unterschied«: Den nichtchristlichen Religionen geht es um die sittliche Vervollkommnung der Menschen. Sie sind darum »Gesetzesreligionen«, »deren moralischer Gehalt sich in bestimmten sittlichen Regeln und Lebensordnungen erschöpft.« Sieht man von der menschlichen Sündhaftigkeit ab, können die Gebote, »welche die alttestamentliche, mohammedanische, konfuzianische, zum Teil auch die buddhistische Religion vorschreiben, konsequent und vollständig verwirklicht werden«. Ihre Wahrheit ist darum eine »moralische«. Anders das Grundgebot der christlichen Botschaft, nämlich »vollkommen zu sein, ›gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist‹, mit anderen Worten, Gott vollständig gleich zu werden«. Dieses Ziel ist »mit menschlichen Anstrengungen durch eine bestimmte Verhaltens- und Lebensordnung allein nicht zu verwirklichen«. Darum ist die christliche Religion »keine Religion des ›Gesetzes‹, sondern der Gnade«, die dem Menschen seine Berufung zur Vergöttlichung bewußt macht. Ihre Wahrheit ist darum eine »absolute, göttliche Wahrheit« (S nami Bog 352 f.).

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Das Heil fr alle Menschen

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Das Heil fr alle Menschen

Schon der Vergleich der verschiedenen Religionen hatte die Frage aufgeworfen, wie der Bekenner einer nicht-christlichen Religion das Heil gewinnen könne. Der ewige Heilswille Gottes hat in der Inkarnation seinen unüberbietbaren Ausdruck gefunden. Weil es der jede Grenze übersteigende Gott ist, der sich in der Menschwerdung offenbart, hat sie universale Bedeutung. Wer in der Person Christi »den absoluten Ausdruck Gottes und seiner Wahrheit« erkannt hat, so beantwortet Frank diese heiß diskutierte Frage, weiß darum auch, »daß diese Wahrheit universal ist und daß ihr Widerhall für die menschliche Seele immer und überall zu hören war und ihren partiellen Ausdruck fand«. Die christliche Religion als die wahre anzuerkennen, heißt deshalb nicht »alle anderen als falsch zu verwerfen«, wohl aber, im Christentum »die Fülle der Wahrheit und deshalb das Maß für die relative Wahrheit der anderen Religionen zu sehen«. Die sinn- und lebengebende Erfahrung der Wahrheit Christi ist folglich auch dem möglich, der Christus nicht kennt, – nicht weil er aus seiner eigenen Kraft diese Wahrheit finden könnte, sondern weil »der Logos – das Wort oder die Vernunft Gottes [Slovo ili Razum Bozˇij] – auch außerhalb seiner Inkarnation in der Person Jesu Christi [i vne svoego voplosˇcˇenija v licˇnosti Iisusa Christa] ewig lebt und wirkt«. Es macht Gottes Wesen aus, so die Grundeinsicht Franks, sich zu offenbaren; er ist wesentlich ein »Strom der Liebe«, der das Heil auch dort wirkt, wo seine geschichtliche Menschwerdung nicht erkannt wird. Frank fährt fort: »Das eigentlich Wesentliche ist, daß die Fülle der göttlichen Wahrheit, die sich in Christus und seiner Offenbarung manifestiert hat, in den Seelen der Menschen faktisch leben und wirken kann ganz unabhängig davon, ob sie sich der Quelle der von ihnen bezeugten Wahrheit bewußt sind oder nicht« (ebd. 289). 6 Wo 6 Barbara Hallensleben gibt in ihrem Aufsatz Franks Worte i vne svoego voplos ˇcˇenija wieder: »… weil der Logos […] auch ohne seine Verkörperung in der Person Jesu Christi ewig lebt und wirkt« [kursiv von mir, P. E.] und bemerkt unmittelbar anschließend: »Darin steht Frank den Überlegungen Karl Rahners zum ›anonymen Christentum‹ inhaltlich und methodisch sehr nahe«. – Die korrekte Übersetzung des Zitats ist für das richtige Verständnis sehr folgenreich. Frank behauptet keineswegs, daß Gott »ohne« die Inkarnation das Heil der Menschen wirkt. Ebensowenig lehrt Rahner, daß ein NichtChrist das Heil »ohne« die Inkarnation gewinnen könne. Beide Autoren behaupten nur, daß eine gegenständliche Kenntnis der Inkarnation für das Heil nicht notwendig erforderlich ist. B. Hallensleben: Simon L. Frank (1877–1950). Sein religiös-philosophisches

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Gottmenschentum

die von Christus vermittelte Wahrheit faktisch bezeugt – und lebendig gewußt – wird, ist sie erlösend, auch wenn ihre Herkunft nicht explizit erkannt ist. So wichtig das adäquate Wissen ist, daß Gott in Christus auf unvergleichliche Weise anwesend ist, so ist es doch wichtiger, »daß wir die Fülle und Adäquatheit dieser Wahrheit de facto in unserer Seele leben, gleichviel, ob wir ihre Identität mit der Person Christi erkennen oder nicht«. Frank beruft sich auf das Wort der Schrift, daß »nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, in das Himmelreich kommen wird« (Matthäusevangelium 7:21), und auf das Beispiel des barmherzigen Samariters, der nicht dem orthodoxen Judentum angehörte und doch von Jesus als gerechtfertigt angesehen wird (ebd. 288). Für das christliche Selbstverständnis wird der Glaube an Gottes erlösende Zuwendung dem Einzelnen durch die Kirche vermittelt. Welche Rolle spielt diese Vermittlung unter Franks Voraussetzung? Die Bestätigung der Wahrheit, daß Gott sich dem Menschen zuwendet, finden wir nach Frank in der lebendigen Erfahrung seiner Anwesenheit im eigenen Selbstsein. Diese Erfahrung begründet die Gewißheit, daß Gott nicht etwas, sondern sich selbst gibt. Daraus ergibt sich, daß der letzte Grund, weshalb wir an Christus glauben, nicht die äußere Kenntnisnahme der Überlieferung und Lehre der Kirche sein kann. »Worauf könnte denn unser Vertrauen in diese Lehre beruhen?«, fragt Frank. Die Überzeugung, daß die Tradition und Lehre der Kirche (vermittelt durch Eltern, Lehrer, kirchliche Autoritäten) heilsbedeutsam ist, beruht darauf, daß Christus selber in ihr gehört wird. Wir machen uns die kirchliche Glaubenslehre zu eigen, sagt Frank, weil sie »die Wahrheit erklärt, die wir empirisch [opytno] in der Gestalt Christi erfahren haben; und diese Glaubenslehre ist eben insofern wahr, als sie dieser lebendigen empirischen [opytnoj] Wahrheit entspricht« (ebd. 288). Die Vermittlung durch die Kirche ist damit nicht überflüssig geworden, denn ihre Autorität ist »ein notwendiger Bestandteil der religiösen Erfahrung, ein Moment, durch das wir uns die fremde Erfahrung innerlich aneignen, durch das sie sozusagen eine unzerlegbare chemische Verbindung mit unserer eigenen Erfahrung eingeht und letzten Endes zu unserer persönlichen Erfahrung wird«. Der Glaube ist notwendig durch eine äußere Instanz vermittelt; sein Ursprung aber ist nicht der jeweilige Verkündiger, sonDenken anhand seines Werkes »Gott mit uns. Drei Überlegungen«, in: Freiburger Zeitschr. für Philosophie und Theologie. 54 (2007) 3, S. 560.

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Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung

dern die eigene lebendige Erfahrung des Inhalts der verkündeten Botschaft. Ermöglicht ist diese Erfahrung – das Hören und Vernehmen der Wahrheit – durch die ursprüngliche Gottmenschlichkeit des Menschen. Nur in psychologischer und pädagogischer Hinsicht unterscheidet sich die vermittelnde Autorität von der Erfahrung; »in der Wesensordnung ist sie nur ein indirekter Umweg, um unsere eigene religiöse Erfahrung zu erweitern, zu bereichern, zu vertiefen und zu verfeinern« (ebd. 284). Die eigene Erfahrung bedarf dieser »Erweiterung« und ist für sie offen. (Zum »Glauben als Erfahrung« siehe Kap. XI, 6. Zur »Kirche« siehe Kap. XIII).

6.

Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung

Nachdrücklich hebt Frank die geschichtliche »konkret-positive« Offenbarung, in der »das göttliche Du selber in das irdisch-zeitliche Sein eintritt«, von der »allgemeinen und ewigen Offenbarung« ab. Die Interpretation der ersten will Frank den Theologen vorbehalten, dagegen bedeutet Philosophieren in seinem Verständnis im wesentlichen nichts anderes als in der allgemeinen Offenbarung »sich orientieren durch geistiges Sichöffnen und Vertiefen in sich selbst durch potenziertes, transzendentales Denken«. Was Frank unter »allgemeiner« Offenbarung versteht, ist das grundsätzlich jedem Menschen zu jeder Zeit mögliche »lebendige Wissen«, daß Gott ist, sich ihm zuwendet und sein Heil will. Sie ist die Selbstmitteilung Gottes, die mit seinem ewigen Wesen identisch ist. Die Möglichkeit, sie zu vernehmen, ist dem Menschen mit seinem Selbstsein verliehen und gründet im universalen Heilswillen Gottes, der in der Schöpfung und in der Inkarnation seinen fundamentalen Ausdruck gefunden hat. Auch in der Schöpfung teilt Gott sich selbst mit. Frank insistiert darauf, daß auch in der allgemeinen Offenbarung »die unergründliche Gottheit sich deutlich offenbart, und zwar als ›Gott-mit-mir‹ (oder ›Gott-mit-uns‹), d. h. als ›Gott-mit-der-Welt‹. Sie nimmt auf gewisse Weise bereits konkrete Gestalt [oblik] an. In welchem Grad dieses ›Gestaltannehmen‹ [oblicˇenie], diese Konkretisierung sich der konkreten Offenbarung annähert (wenngleich sie diese nie erreichen und mit ihr zusammenfallen kann), vermag keineswegs von vornherein genau und eindeutig bestimmt zu werden« (DU 379). 255 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Gottmenschentum

Der Unterschied dieser ewigen und allgemeinen Offenbarung zur geschichtlichen Menschwerdung Gottes darf nicht als »absolut trennender logischer Unterschied« verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um einen »transrationalen Unterschied, in dem Trennung zugleich Verbindung und somit antinomische Einheit« bedeutet. Diese antinomische Einheit umfaßt selbstverständlich beide Seiten: »Wenn die allgemeine und ewige Offenbarung – die Offenbarung des Urgrundes der Realität als solcher – von der positiv-konkreten Offenbarung nicht getrennt werden kann, so ist letzte auch untrennbar von der ersten«. Das bedeutet, daß auch die Theologie – nicht anders als die Transzendentalphilosophie – die allgemeine ewige Offenbarung voraussetzen muß. »Denn jede konkrete Offenbarung setzt – um die Stimme und Erscheinung Gottes vernehmen zu können – unsere Empfänglichkeit für sie voraus, unser Vermögen, eine konkrete Einzeloffenbarung gerade als Offenbarung Gottes zu erkennen. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß die allgemeine Natur der Offenbarung – die Realität Gottes als Du in ihrem allgemeinen ewigen Wesen, worin ja die allgemeine ewige Offenbarung besteht – jeder besonderen konkreten Offenbarung logisch vorausgeht« (DU 378). Wer die positiv christliche Offenbarung »objektiv«, d. h. logisch spezifizieren wollte, müßte vorgängig dazu bereits wissen, was Offenbarung Gottes bedeutet. Gerade die Spekulationen, die wir bei den Kirchenvätern und Kirchenlehrern, aber auch bei späteren Meistern des geistlichen Lebens antreffen, so meint Frank, bezeugen die antinomische Einheit beider Offenbarungsweisen, denn auch in der Gottesbegegnung des christlichen Heiligen sind Elemente der allgemeinen Offenbarung der Realität enthalten. Es ist deshalb nicht möglich, die allgemeine oder philosophische Gotteserfahrung, die auf »die Realität in ihrem Urgrund« gerichtet ist, von der des Mystikers, der vom Heiligen Geist geleitet wird, »eindeutig« und »scharf« abzugrenzen. Denn mittels eines äußeren oder objektiven Kriteriums kann nicht gemessen werden, wie weit jeweils die Gestalt, in der Gott sich in der allgemeinen Offenbarung einem Individuum zu erkennen gibt, von der christlichen Offenbarung noch entfernt ist. Entschieden weist Frank die, wie er sagt, »weitverbreitete« Annahme zurück, daß »in einer bestimmten, in der Zeit sich ereignenden konkreten Einzeloffenbarung die Offenbarung als solche sich restlos erschöpfe«. Reicht doch – so wird man Frank verstehen müssen – der Gehalt der Offenbarung über die zeitliche Begrenzung des geschichtlichen Ereignisses hinaus. So kann und muß, was in den 256 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung

Sätzen der Hl. Schrift festgehalten ist, immer wieder lebendig werden, denn das begrentzte menschliche Leben reicht nicht aus, um die unendliche Bedeutung der geschichtlichen Menschwerdung Gottes in Christus einholen zu können. Frank nennt auch diesen Erkenntnisprozeß Offenbarung. Es sei darum geradezu »blasphemisch« anzunehmen, »daß die Offenbarung restlos in der mit Buchstaben niedergeschriebenen Offenbarung aufgehe und neue Offenbarungen überhaupt unmöglich seien« (vgl. auch Kap. V,3: Das Wort – das Medium der Offenbarung). Wie sehr es Frank darauf ankommt, auch seine christlichen Leser von dieser Möglichkeit zu überzeugen, zeigt seine theologische Begründung: Der von Christus verheißene Heilige Geist, »der weht, wo er will«, der »in die ganze Wahrheit einführt«, »der Gott ist als Gott mit mir und Gott in mir, ist gerade die ewig-untrennbare Verbindung der konkreten und allgemeinen Offenbarung« (DU 378 f., Übersetzung geändert; vgl. Joh. 3:8; 16:13). Die in der Geschichte anzutreffende Spannung zwischen Philosophen und Theologen führt Frank sowohl auf die Neigung der Philosophen zurück, die Bedeutung der allgemeinen Offenbarung auf Kosten der geschichtlichen hervorzuheben und diese, »wenn nicht sogar gänzlich zu beseitigen, so doch zu ›reinigen‹« und aufklärerisch auf einen allgemeinen Sinn zu reduzieren – als auch auf die umgekehrte Neigung der Theologen, die Bedeutung der positiven konkreten Offenbarung auf Kosten der allgemeinen und ewigen hervorzuheben, um sie nicht in der letzten aufzulösen und dem geistigen Blick entgleiten zu lassen. Franks Intention ist offensichtlich darauf gerichtet, vor dem christlich-gläubigen Menschen (als den er sich selber versteht) die Möglichkeit zu rechtfertigen, daß grundsätzlich jeder Mensch seine Berufung zum Heil erfahren kann. Für die Beurteilung von Franks Position sind die Bemerkungen am Ende seiner Ausführungen zur Offenbarung wichtig: Das Verhältnis der allgemeinen Gotteserkenntnis zur einzigartigen geschichtlichen Offenbarung in Jesus Christus ist rational nicht bestimmbar. Die wahre Beziehung ist nur dem »freien Schweben in der Sphäre einer höheren Einheit« zugänglich, die den »Widerstreit zwischen ihnen umfaßt und durchdringt«. Der Philosoph ist gehalten, wenn er wirklich »das belehrte Nichtwissen« erreichen will, demütig anzuerkennen, »daß in allen konkreten Formen der religiösen Erfahrung, wenn Gott selbst uns ergreift und uns die lebendige Offenbarung seiner selbst gibt, das Unergründliche ganz anders sichtbar, spürbar wird und uns nahe kommt als in der tiefsten phi257 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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losophischen Spekulation«. Aber auch der religiöse Mensch muß anerkennen, zumal wenn er die Realität der geschichtlichen Offenbarung verstanden hat, daß hinter ihr »die Horizonte einer fundamentalen allgemeinen ewigen Offenbarung sichtbar werden, welche der mystische Grund der intellektuellen Anschauung der Philosophie ist und mit Hilfe des philosophischen Denkens klarer ausgedrückt werden kann« (DU 381). Die allgemeine Offenbarung ist mit der Offenbarung Gottes, die im Glauben an Jesus Christus geschieht, im Sinne der Cusanischen coincidentia oppositorum vereint. In seiner Schrift Mit uns ist Gott macht Frank noch unter einer weiteren Rücksicht auf die innere Beziehung beider Offenbarungsweisen aufmerksam. Auch die positive, also biblische Offenbarung »ist für uns nur dann eine wirkliche Offenbarung, wenn sie als Wahrheit, als etwas innerlich Überzeugendes erlebt wird«. Das Kriterium dafür, daß Gott sich in ihr wirklich offenbart, liegt allein darin, daß wir »unmittelbar die Anwesenheit, die Realität Gottes und seiner Wahrheit« in der Person, die sie uns vermittelt, erfahren. Der Verkünder dieser Wahrheit, Christus, ist ihre Verkörperung. Er »unterscheidet sich von jeder anderen vermittelnden, religiösen Autorität dadurch, daß er als unfehlbare Instanz erlebt wird, das heißt als unmittelbarer Ausdruck [vyrazitel’] der reinen göttlichen Wahrheit, als Verkünder von Gottes Stimme – letztlich als Verkörperung und Erscheinung Gottes selbst, kraft dessen die Begegnung mit ihm für die menschliche Seele eine Begegnung mit Gott selbst, Gotteserscheinung, Theophanie ist«. Unter dieser Voraussetzung kann die Offenbarung »unfehlbar« genannt werden; denn von »Unfehlbarkeit« zu sprechen, ist nur dann sinnvoll, wenn sie »eine andere Bezeichnung für Evidenz, das heißt für die unmittelbare Schau der Realität selber« ist. Denn »hier wie überall ist die Wahrheit nicht das Urteil über die Realität, sondern ihre lebendige Anwesenheit selber für uns« (S nami Bog 286). Die »Fülle« der Wahrheit, die erst in der erfahrenen Begegnung mit Christus offenbar wird, ist die Fülle Gottes als »Strom der Liebe«, als »Vater«. Frank verweist hierfür auf das Johannesevangelium (Joh. 14: 7–11 u. a.). Wenn wir die volle Realität Gottes erfahren, erfahren wir sie »notwendig als Person oder nach Art einer Person« – als ein sich uns zuwendendes Du (ebd. 287). Deshalb kann Frank den Hegelschen Terminus aufgreifend sagen: Das Christentum ist gegenüber allen anderen Religionen nicht einfach eine »besondere«, »sondern die absolute Religion, das heißt das absolute, reinste Mu258 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die »allgemeine und ewige« und die »konkret-positive« Offenbarung

ster des Wesens der Religion schlechthin«. Was in den anderen Religionen »in latenter, unvollendeter Form, die Mißverständnisse und falsche Interpretationen zuläßt,« anzutreffen ist – die Figur eines Propheten oder Lehrers, der die Wahrheit über Gott verkündet –, das zeigt sich in der christlichen »in vollendeter, adäquater Form als unmittelbare Wahrnehmung der Göttlichkeit, der Verschmelzung der menschlichen Person des Lehrers mit Gott, der Anwesenheit Gottes selbst in ihr« (ebd.). Christus ist nicht nur der Verkünder, sondern der Mittler der Realität, die er verkündet, heißt es in Das Licht in der Finsternis, weil er ihre »lebendige Verkörperung« ist und so »auch die Kraft dieser Realität« besitzt. Diese Kraft hilft uns, »nicht einfach die Botschaft wahrzunehmen und zu hören, sondern ihr entgegenzugehen und den in ihr enthaltenen Aufruf getreu zu verwirklichen«. Soll die göttliche »Wahrheit« für den konkreten Menschen erlösend sein, muß sie, wie Frank in Das Licht in der Finsternis ausführt, mehr als eine bloße »Idee« sein; sie muß selbst »konkret« und »personal« sein (LidF 121). Auch für die Apostel wurde die Begegnung mit Jesus zur Offenbarung erst, als sie die Erfahrung machten, daß Jesus wesentlich mehr als ein gewöhnlicher Rabbi ist. Die Wahrheit ihrer Botschaft ist nur durch die Erfahrung, die sie mit ihm gemacht haben, garantiert. Ihr Zeugnis wie auch die späteren dogmatischen Formulierungen haben die vermittelnde Funktion, in ihren Hörern eine ähnliche Erfahrung zu wecken; sie sind keineswegs überflüssig. Wo ein Mensch das Zeugnis der Kirche innerlich annimmt, wird die Gotteserfahrung, die er in seinem Selbstsein machen konnte, auch ohne Christus begegnet zu sein, wesentlich vertieft. »Allein mit unserer persönlichen Erfahrung, ohne die Mitwirkung von Christi Offenbarung, könnten wir niemals die Fülle, Klarheit, Vollkommenheit erreichen, um das wahre Wesen Gottes, die wahre göttliche Wahrheit [istinnoj pravdy Bozˇiej] zu wissen« (ebd. 288). Die Menschwerdung Gottes in Bethlehem ist der Angelpunkt von Franks theologischer Reflexion. Sie ist von Ewigkeit her gewollt, um dem Menschen das Geschenk der Vergöttlichung zu machen. Daß kein Mensch von dieser Möglichkeit ausgeschlossen ist, hat seinen Grund in eben dieser Menschwerdung. Sie ist kein zusätzliches, eigentlich überflüssiges geschichtliches Ereignis, keine bloß äußere zeitliche Folge des ewigen Heilswillens Gottes, sondern bildet mit ihm eine Einheit. Deshalb kann auch die allgemeine Offenbarung eine Begegnung mit Gott selbst ermöglichen. Denn schon die Selbst259 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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mitteilung Gottes in der Schöpfung geschieht in Hinblick auf die Erhebung und Vergöttlichung des Menschen. Wer Gott ist, der sich in seinem Schaffen mitteilt, wird erst durch seine Menschwerdung und seine Passion ganz offenbar. Infolge ihrer Einheit gewinnt die allgemeine (transzendentale) Gotteserfahrung erst von der christlichen Offenbarung her ihren vollen Sinn gewinnt.

7.

Parallelen zur gegenwrtigen Theologie

Die theologisch relevanten Ausführungen S. L. Franks, insbesondere zum Transzendieren des menschlichen Geistes auf das Unergründliche und zur allgemeinen Offenbarung Gottes in der Transzendenzerfahrung, weisen in einigen Punkten eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Denken Karl Rahners (1904–1984) auf. Rahner hatte seine grundlegenden religionsphilosophischen Überlegungen bereits 1936 vorgelegt 7 , doch konnten sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg für die Theologie fruchtbar werden. Ich gebe nur einige Hinweise, um die gedanklichen Parallelen anzudeuten, und beschränke mich im wesentlichen auf das Werk Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums (1976), in dem Rahner seine theologische Position gedrängt zusammengefaßt hat (diese Hinweise sind sehr fragmentarisch und lassen Rahners theologische Begründungen außer acht). Rahners Denken ist ähnlich dem Franks von dem Leitmotiv bewegt, »das Dilemma einer ›Immanenz‹ oder ›Transzendenz‹ Gottes« zu überwinden, »ohne daß das eine oder das andere Anliegen geopfert wird«. 8 In der theologischen Lehre vom Menschen kann der Satz als Grundsatz angesehen werden, daß jeder Mensch »als Subjekt das Ereignis der ungeschuldeten Selbstmitteilung Gottes« ist. Rahner nennt diese Selbstmitteilung Gottes an den Menschen ein »übernatürliches Existential«. Dadurch ist der Mensch zu einer Erfahrung befähigt, die »transzendental« ist und »zu den notwendigen und unaufhebbaren Strukturen des erkennenden Subjekts selbst gehört«. 9 K. Rahner: Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin. Innsbruck/Leipzig 1936 (neubearbeitet von J. B. Metz, München 1957). 8 K. Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg (Herder) 1976, S. 94. 9 Ebd., S. 31. 7

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Parallelen zur gegenwrtigen Theologie

Die unbegrenzte Dynamik des menschlichen Geistes ist kraft dieser Selbstmitteilung, die als Gnade zu bezeichnen ist, auch im profanen Umgang mit den Alltagsdingen auf die transzendente Wirklichkeit Gottes gerichtet; Gott wird in dieser transzendentalen Erfahrung als »heiliges Geheimnis« erfahren. 10 Wo der Mensch »in den Abgrund seines Daseins fällt, der allein allem Grund gibt, und wo dieser Mensch dabei den Mut hat, in sich selbst hineinzublicken und in seiner Tiefe seine letzte Wahrheit zu finden, da kann er auch die Erfahrung machen, daß dieser Abgrund als die wahre vergebende Bergung ihn annimmt«. 11 Die gedankliche Vermittlung der Transzendenzerfahrung muß »nicht notwendig eine explizit-religiöse sein, und darum ist Heils- und Unheilsgeschichte nicht begrenzt auf die Geschichte des Wesens und des Unwesens der Religion streng als solcher«. Von dieser Einsicht ausgehend ist es folgerichtig, daß Rahner von einer »universalen Heilsgeschichte« spricht, »die als kategoriale Vermittlung der übernatürlichen Transzendentalität des Menschen mit der Weltgeschichte koexistiert«. Sie wird von Rahner ausdrücklich als »allgemeine übernatürliche Offenbarungsgeschichte« qualifiziert. So ergibt sich, »daß die Offenbarungsgeschichte als solche in der Menschheit koextensiv ist mit der Freiheitsgeschichte der Welt überhaupt«. In der Selbstmitteilung Gottes als Angebot an den Menschen ist, wie Rahner betont, »immer schon der Gott des übernatürlichen Heils und der Gnade am Werke, so daß der Mensch gar nie anfangen kann, etwas zu tun oder auf Gott hin zu gehen, ohne daß er darin schon getragen wäre durch die Gnade Gottes«. 12 »Ein besonderes ›Eingreifen‹ Gottes kann darum nur als geschichtliche Konkretheit der transzendentalen Selbstmitteilung Gottes verstanden werden, die der konkreten Welt immer schon innerlich ist«. 13 Ausdrücklich beruft sich Rahner auf den »allgemeinen Heilswillen Gottes« als Grund für die Folgerung, daß man christlicherseits »kein Recht [habe] das faktische Ereignis des Heils auf die alt- oder neutestamentliche explizite Heilsgeschichte zu begrenzen«. Die freie Annahme von Gottes Angebot muß vom Menschen freilich gewußt sein. Hierzu schreibt Rahner: Man darf nicht voraussetzen, »daß die einzige Art, in der etwas 10 11 12 13

Ebd., S. 136 f. und an zahlreichen anderen Stellen. Ebd., S. 138. Ebd., S. 150. Ebd., S. 94.

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wirklich und wahrhaft gewußt werden könne, jenes kategoriale wortund satzhaft-begrifflich objektivierte Wissen sei, von der wir gewöhnlich ausgehen, wenn wir von ›Wissen‹ sprechen«. 14 Die für Franks religiöses Bewußtsein grundlegende philosophische Annahme wird man darin sehen dürfen, daß im Sein, das mit seinem Urgrund eins und von ihm unterschieden ist, Gott selbst sich entäußert, so daß der Mensch als Subjekt des von Gott ausgehenden »Reichs der Geister« in seinem Selbstsein Gott begegnen kann (zu Franks Verständnis der Schöpfung s. XII,3). Auch hierin ist ihm der Theologe Rahner nahe. In der Schöpfung sieht Rahner ein »Teilmoment an jener Weltwerdung Gottes, in der faktisch, wenn auch frei, Gott sich selbst aussagt in seinem welt- und materiegewordenen Logos«. Er fährt fort: »Wir haben durchaus das Recht, Schöpfung und Menschwerdung nicht als zwei disparat nebeneinander liegende Taten Gottes ›nach außen‹ zu denken, die zwei getrennten Initiativen Gottes entspringen. Sondern wir dürfen uns Schöpfung und Menschwerdung, in der wirklichen Welt als zwei Momente und zwei Phasen eines – wenn auch eines innerlich differenzierten Vorgangs der Selbstentäußerung und Selbstäußerung Gottes denken«. 15 Franks Argument dafür, daß die »positive« Offenbarung keine letztlich entbehrliche Zugabe zur allgemeinen Offenbarung ist, sondern erst die volle Wahrheit über Gott mitteilt, gleicht dem Argument, das auch Rahner für die innere Notwendigkeit einer »kontingent geschichtlich ereignishaften« Offenbarung gibt. Beide Autoren gehen von der von Gott geschaffenen personalen und geschichtlichen Existenzweise des Menschen aus, dem die Zuwendung Gottes zuteil werden soll. Der Mensch kann sie in ihrer Fülle nur entgegennehmen, so Frank, wenn sie sein personales Wesen anspricht. »Die Wahrheit Gottes […] ist die lebendige Realität Gottes selbst. Sofern wir diese Realität notwendig als Person oder nach Analogie einer Person wahrnehmen, ist die Wahrheit unmittelbar in der Person gegeben und verkörpert« (S nami Bog 288). Ähnlich argumentiert Rahner: Gott hat den Menschen in die Zeit hinein geschaffen und ihm so eine geschichtliche Existenzweise gegeben. So liegt es nahe, daß auch Gottes Selbstmitteilung sich in geschichtlicher Gestalt vollendet. Schon früh hat Rahner den »Extrinsicismus« beklagt, mit dem in der katholischen Theologie die Beziehung von Natur und Gnade 14 15

Ebd., S. 152. Ebd., S. 197.

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betrachtet wurde. Parallel zu Frank betont auch Rahner, daß es nicht möglich ist, eine begrifflich scharfe Grenze zwischen der philosophisch zu erhebenden Natur des Menschen und dem »übernatürlichen Existential« zu ziehen, daß vielmehr das eine das andere durchdringt. 16 Aus der Tatsache, daß Gott als Schöpfer sich selbst äußert, ergibt sich für ihn, daß die menschliche Natur in Hinblick auf die Inkarnation und die Erlösung die »Potenz« erhält, die Zuwendung Gottes in Fülle aufnehmen zu können. Denn dazu, daß die Gnade die letztlich Gott selbst ist, ihm »sich schenken könne, ist er gedacht und ins Dasein gerufen«. Das »Existential«, d. h. die »Hinordnung« auf den Empfang der Gnade ist Rahner zufolge selbstverständlich dem Menschen gegenüber »ungeschuldet«. Frank hat zwar nicht ausdrücklich unterstrichen, daß der Mensch keinerlei Anspruch auf die Zuwendung Gottes hat; doch folgt aus seinem gesamtem Denken zweifelsfrei, daß Schöpfung und Erlösung als Akte göttlicher Liebe anzusehen sind, die so frei sind, wie Gott seinem eigenen Wesen gegenüber frei ist. Wenigstens am Rande soll Rahners Lehre von der »aktiven Selbsttranszendenz« oder »Selbstüberbietung« erwähnt werden. Rahner war der Überzeugung, daß die Einheit von potentia activa und passiva im Sein und damit der »metaphysische Werdebegriff« es erlaubt, die Evolution der Naturkräfte bis hin zum Menschen philosophisch zu verstehen. Rahner vermeidet damit die auch von Frank kritisierte Vorstellung eines Wirkens Gottes »neben« oder »zusätzlich« zu den weltlichen Ursachen. Auch Rahner geht es darum, die absolute Souveränität und Transzendenz Gottes gegenüber allem Geschaffenen zu sichern. Gott ermächtigt die Geschöpfe zu einem Wirken, das die Möglichkeiten eben dieses Geschöpfes überschreitet. Das Geschöpf gelangt so aus sich, vermöge der in ihm anwesenden göttlichen Seinsmacht, zu größerer Seinsfülle. 17 Auf die Frage, wie die 16 K. Rahner: Über das Verhältnis von Natur und Gnade. In: K. Rahner: Schriften zur Theologie. Band 1, (8. Auflage) 1967 (Benziger) Einsiedeln. S. 334; 338; 341. Erstveröffentlichung 1950 in der Zeitschrift »Orientierung«. 17 Nach Rahner geschieht diese Selbsttranszendenz »in der Kraft der absoluten Seinsfülle, die einerseits dem endlichen, nach seiner Vollendung hin sich bewegenden Seienden so innerlich zu denken ist, daß dieses Endliche zu einer wirklichen aktiven Selbsttranszendenz ermächtigt wird und es die neue Wirklichkeit nicht einfach nur als von Gott gewirkte passiv empfängt – und diese Kraft der Selbsttranszendenz ist anderseits gleichzeitig so von diesem endlichen Wirkenden unterschieden zu denken, daß sie nicht als Wesenskonstitutiv dieses Endlichen, sich selbst Wirkenden aufgefaßt werden darf, weil sonst, wenn die Wirksamkeit gewährende und zu ihr ermächtigende Absolutheit

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göttliche Wirkmacht in die Konstitution einer endlichen Ursache eingeht, ist auch hier zu antworten: Weder indem eine Vermischung noch eine Trennung erfolgt. 18

des Seins das Wesen des endlichen Wirkenden selbst wäre, dieses zu einem wirklichen Werden in Zeit und Geschichte gar nicht mehr fähig wäre, weil es die absolute Fülle des Seins schon als sein Eigenstes besäße«. K. Rahner, Die Christologie innerhalb einer evolutiven Weltanschauung, in: Schriften zur Theologie, Bd. V, Einsiedeln u. a. 1962, S. 191 f. 18 Zur jüngsten philosophischen Diskussion siehe B. Weissmahr: Selbstüberbietung und die Evolution des Kosmos auf Christus hin. In: H. Schöndorf (Hg.): Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners. Freiburg (Herder) 2005, S. 143–177. Ferner: B. Weissmahr: Kann Geist aus Materie entstehen? In: Zeitschrift für kath. Theologie 121 (1999), S. 1–24.

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XIV. Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

Da der Einheit die ontologische Priorität vor der Vielheit zukommt und diese erst ermöglicht, ergibt sich schon aus der Systematik von Franks Denken die Frage, ob der eine göttliche Urgrund in spezifisch gesellschaftlicher Weise in der gesellschaftlichen Vielheit anwesend ist. Frank beantwortet diese Frage in seiner Sozialphilosophie mit einem Kapitel über »›Kirche‹ und ›Welt‹«. Ihm geht es dabei nicht um die sozialwissenschaftlich zu beschreibende Kirche als empirisches Faktum. Seine Frage richtet sich auf die ontologische Realität der Kirche. Sie eröffnet sich dem Philosophen durch die phänomenologische Betrachtung der überindividuellen Wir-Einheit. Sie läßt diese Einheit »in ihrer lebendigen Tiefe als etwas Heiliges, als Ausdruck des übermenschlich-göttlichen Prinzips im menschlichen Leben« verstehen.

1.

Die »Wahrheit« des Wir als das »Heilige«

Ontologisch betrachtet ist jedes gesellschaftliche Wir ein spezifischer Vollzug der All-Einheit und damit Ausdruck jener »inneren Fülle und Freiheit des Lebens«, den Frank »Gemeinschaftlichkeit« [sobornost’] genannt hatte. Mit ihr ist »die göttliche Wahrheit in die Welt eingesenkt« (GGdG 194). Weil die göttliche Realität kein für sich abgeschlossener Bestand, sondern Leben ist, ist auch ihre Wahrheit keine definierbare Wahrheit. Das gilt auch für die Wir-Realität. Ihre Wahrheit ist die lebendige Einheit, in der jedes Glied als gleichberechtigter Träger seiner göttlichen Würde, eben als Du, anerkannt wird. Sie ist auf die Integration des Vereinzelten in die Ordnung der Freiheit und des gemeinschaftlichen Lebens gerichtet. Diese die Existenz jeder Gesellschaft begründende Dynamik bezeichnet Frank als die Achtung des Heiligen. 1 Dieses »Heilige« muß keine äußerliche 1

Vgl. Kapitel V »Das Transzendieren zum Du. Die Grundform der Offenbarung. Das

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Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

religiöse Gestalt haben, an der es als solches erkennbar wäre. Ein Beispiel dafür, daß das Individuum sich in profanen Umständen ganz unspektakulär aus seiner Vereinzelung in eine Wir-Einheit aufgenommen erfährt und dabei das unergründliche Moment ihrer Heiligkeit bejahend erlebt, ist die »brüderliche« Verbundenheit in einer Mahl- oder Trinkgemeinschaft. »Das Streben nach Wahrheit, das die menschliche ›allzumenschliche‹ Natur in ihrer empirischen Gegebenheit überwindet« und sie zu der ihr gemäßen Einheit führt, »ist jedem gesellschaftlichen Leben immanent, konstituiert dessen Wesen selbst« (GGdG 194). Keine Gesellschaft kann existieren, ohne daß das Teil wenigstens in minimalem Ausmaß sich als Glied dieses Ganzen fühlt und den Anderen gleichfalls als solches respektiert. Das gilt nicht minder für eine neutrale Geschäftsbeziehung oder ein Verbrechersyndikat als für eine Liebesgemeinschaft; es ist unabhängig davon, ob eine Gesellschaft demokratisch oder autoritär verfaßt ist. Der praktisch höchst wichtige Unterschied einer Liebesgemeinschaft zur Geschäftsbeziehung liegt darin, daß in letzterer die Gemeinschaftlichkeit ganz dem äußeren Zweck, einen individuellen Gewinn zu erzielen, untergeordnet ist und sie deshalb am Rande der Selbstauflösung existiert. Wer die »Wahrheit« des Wir als Anerkennung der göttlichen Wahrheit im Anderen lebendig erkennt, gelangt so zur »Wahrheit« der Kirche. Er ahnt, daß er auch »mit allen anderen Menschen in der primären Ungeteiltheit des Wir verbunden« ist. Frank illustriert diesen Zusammenhang mit einem Satz des alt-christlichen Mönchs Dorotheos von Gaza (gest. ca. 565): Wie die Punkte innerhalb eines Kreises sind auch die Menschen einander um so näher, je näher sie dem Mittelpunkt des Kreises – Gott – kommen. Formal-logisch ausgedrückt: »Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern eines Ganzen und der Zusammenhang der Glieder des Ganzen zur Einheit, die dem Ganzen zugrunde liegt und es konstituiert, sind nur korrelative Momente ein und derselben ontologischen Beziehung«. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen sind darum von einander nicht zu trennen (GGdG 193). Frank hat seine Einsicht zusammengefaßt: Allein kraft der in ihr wirksamen »Gemeinschaftlichkeit« als eines minimalen »Ausdrucks der Liebe« kann Gesellschaft überhaupt existieren. Anders gesagt: Sein ist Wir-Sein« und Kapitel XI »Das verstehende Erleben des Göttlichen und Heiligen«.

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Die Kirche – soziologisch, ontologisch, theologisch

»Die Gesellschaft in ihrem eigentlichen Wesen ist das Zutagetreten der gottmenschlichen Natur des Menschen«. Durch die Anerkennung des Heiligen als Bedingung des gesellschaftlichen Lebens verschmelzen die menschlichen Seelen auch »mit Gott« und werden zu einem »geistigen Organismus«. Hierin zeigt sich, »was man – im tiefsten und allgemeinsten Sinne – unter dem Namen Kirche versteht. […] Jeder Gesellschaft liegt notwendig die Kirche als Kern und lebenspendendes Prinzip zugrunde. Was wir als Gemeinschaftlichkeit erkannten, als primäre Einheit des Wir, enthüllt sich uns nun voller und tiefer als Kirche« (GGdG 196).

2.

Die Kirche – soziologisch, ontologisch, theologisch

Daß die von Frank so verstandene Kirche nicht mit einer soziologisch bestimmbaren Organisation identisch ist, ist offenkundig. Schwieriger ist die Abgrenzung zum theologischen Kirchenbegriff, dem er in einigen Aspekten sehr nahe steht. Mit seinem philosophischen Begriff will Frank die »mystische gottmenschliche Realität«, die für den Gläubigen in der Kirche seines Bekenntnisses empirisch greifbar ist, in ihrer ontologischen Seinsweise freilegen. Nicht alle Elemente die für den theologischen Begriff der Kirche als »Leib Christi« wesentlich sind, sind damit in ihn aufgenommen. Die Theologie liefert mit ihrer Unterscheidung der »sichtbaren« und »unsichtbaren« Kirche dem Philosophen ein begriffliches Hilfsmittel. Auch die ontologisch verstandene Kirche ist »unsichtbar«. Auch für die Zugehörigkeit zu ihr ist ein »Glaube« unverzichtbar. Er ist jedoch nicht identisch mit dem inhaltlich bestimmten Credo der sichtbaren christlichen Kirche (GGdG 197). Nach der theologischen Lehre der Kirche selber, schreibt Frank, reicht die »unsichtbare« Kirche, als die Gemeinschaft aller Erlösten, über die Grenzen der »sichtbaren« Kirche hinaus. Denn zu ihr gehören »außer ihren lebenden auch alle schon verstorbenen und noch nicht geborenen Glieder« 2 . In ihr sind die Trennwände zwischen den christlichen Konfessionen überwunden; zu ihr gehört auch und zwar »zuallererst die alttestamentliche Kirche, das von Gott erwählte Volk Israel, als dessen Fortsetzung und Vollendung sich die neutestamentliche Kirche Frank konnte mit dieser Behauptung an Paulus anknüpfen, der im Brief an die Epheser schreibt: »In ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt« (1:4).

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Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

versteht«. Auch die geistige Welt der Antike, die »Erzieher auf Christus hin« war 3, gehört in diesem weiteren Sinne zur unsichtbaren Kirche. Einen »Keim des Glaubens«, ungeachtet möglicher Verzerrungen und Verarmungen, erkennt die christliche Kirche sogar im Islam und im Buddhismus und letztendlich in allen heidnischen Religionen und »betrachtet sie deshalb mindestens potentiell als ihr zugehörig«. Von diesem »tief mystischen Begriff der Kirche«, den die christliche Theologie selber entwickelt hat, geht Frank zu seinem ontologischen Begriff über, »nach dem jede im Glauben verwurzelte Einheit des menschlichen Lebens Kirche ist, insofern sie – unabhängig vom dogmatischen Inhalt der Glaubensrichtungen, von menschlichen Gottesvorstellungen – gottmenschliches Leben ist, Anwesenheit des göttlichen Prinzips in der gesellschaftlichen Vereinigung der Menschen« (GGdG 197). Frank situiert diesen Begriff der Kirche »zwischen dem rein religiösen Begriff der einen wahren Kirche und dem empirischen Begriff«. Doch ist nicht zu übersehen, daß seine Beschreibung weitgehend mit jener der »›wahren Kirche‹ im religiös bekenntnishaften Sinn« übereinstimmt – mit der wichtigen Einschränkung, daß Franks ontologisch verstandene Kirche nicht eine in der Geschichte ins Leben gerufene sichtbare Einheit, sondern eine »ursprüngliche« und zwar »gottmenschliche Einheit [ist] – eine Einheit, die aus der Verwurzelung des menschlichen Lebens im Heiligen, in Gott rührt«, die »alle im Glauben gegründeten menschlichen Einheiten umfaßt, wie irrig dieser Glaube seinem Inhalt nach auch sein mag«. In »formaler« Hinsicht ist für Frank der ontologische mit dem »mystisch-dogmatischen« Kirchenbegriff eins: Denn auch für diesen gilt, daß die »vielgestaltigen Teilbekenntnisse des Glaubens und die auf ihnen gegründeten ›Kirchen‹ partikuläre, unvollkommene, häufig entstellte und sogar ganz korrupte Abspaltungen ihres Urgrunds [sind] – der einen wahren Kirche, als dem Gegründetsein des ganzen menschlichen Lebens mit allen Bereichen und Formen in dem einen wahren Gott. […] Jede Einheit von Menschen im Glauben, jede Übereinstimmung menschlicher Seelen im Heiligen, durch das sie leben – mag dieses Heilige auch noch so gespenstisch und trügerisch sein –, enthält neFrank greift hier eine Aussage der patristischen Literatur auf, vgl. Klemens von Alexandrien (gestorben 215), Stromateis (inbes. Buch VI, Kapitel XVII); vgl. auch Galaterbrief 3:24.

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Die »eigentlich mystische« und die »empirisch-reale Kirche«

ben dem rein menschlichen Prinzip ein übermenschliches Prinzip, einen Abglanz der Gottheit in den menschlichen Herzen, und sei er auch noch so schwach, entstellt und sogar völlig verkehrt« (GGdG 198). Frank beschwört hier das im Du aufscheinende »Heilige«, das als solches in einem Akt des »Glaubens« erkannt und anerkannt wird. So ergibt sich, daß die »Gemeinschaftlichkeit« [sobornost’] eine »Einheit des Glaubens, eine Einheit des Dienstes an der Wahrheit und am Gegründetsein in einem übermenschlichen Heiligen ist«. Das heißt aber, daß jeder konkreten Gesellschaft eine »ursprüngliche organische Wir-Einheit« »als Kirche zugrunde liegt« (GGdG 199 f.).

3.

Die »eigentlich mystische« und die »empirisch-reale Kirche«

Franks theologisch-spirituelle Schrift Mit uns ist Gott, verfaßt während des Zweiten Weltkriegs 4, enthält nicht nur ein ausführliches Kapitel über »Die Idee der Kirche und die Antinomie ihrer beiden Begriffe«; die ganze Schrift ist mittelbar der Frage nach dem Sinn der christlichen Kirche gewidmet und läßt erkennen, wie sehr ihren Verfasser diese Frage bewegte. Wieder geht es darum, die Kirche als absolute geistige Realität aufzuweisen. Die Argumentation ist überwiegend theologisch, doch benutzt Frank die ontologische Terminologie, um die Unterscheidung zur empirisch-realen Kirche zu erklären. Gott will sich nicht nur mit den Menschen als Individuen verbinden, sondern mit der kollektiven Einheit der Menschheit und, darüber hinaus, mit der Schöpfung als ganzer. Jeder Mensch ist zwar schon als Individuum Gottes Abbild und als solches von absolutem Wert. Aber als Person ist er auch Glied des »Reichs der Geister« und somit auf Gemeinschaft bezogen; seine »Stimme gewinnt erst Sinn, wenn sie am Chor der Stimmen teilhat, am Chor der Menschheit und der ganzen Schöpfung, durch den Gottes eigene Stimme erklingt«. »In dieser Wechselbeziehung« – zwischen Gott und dem »Chor« der ganzen Schöpfung – »besteht die Realität der Kirche« (S nami Bog 369). 5 Schon die Juden wußten, daß der Messias nicht nur viele Ein4 5

Das Manuskript schloß Frank im Dezember 1941 in Lavandou (Var), Frankreich ab. Frank scheint zu dieser bildhaften Formulierung durch Franz Rosenzweigs »Stern der

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Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

zelne, sondern das Volk Gottes erlösen werde. Die Propheten Israels erkannten, daß ihr Volk berufen war, das Samenkorn der allumfassenden Einheit der erlösten Menschheit zu sein. In ihrem Wesen ist die christliche Kirche »das ›neue Israel‹«, der »Keim« des »Reiches«, das die ganze Menschheit und schließlich die ganze Schöpfung umfaßt. Christus erlöst mich als Individuum, »indem er die ganze Welt erlöst«. Erlösung bedeutet darum »Wiedergeburt der Schöpfung, Verklärung der Welt, Eintreffen des Reiches Gottes als allumfassender Einheit des erleuchteten Seins, wenn Gott alles in allem sein wird« (S nami Bog 370; vgl. 1. Korintherbrief 15:28; Epheserbrief 1:23). Auch in seiner Spätschrift unterscheidet Frank in der einen Kirche, die der »Keim« des universalen Heils sein soll, zwei »Schichten«, die »empirisch-reale« und die »›eigentlich mystische‹«. Sie dürfen weder von einander getrennt, noch miteinander vermischt werden. Falsch wäre es, die mystische Kirche nur als »göttliche Grundlage« der empirischen kollektiven Realität zu verstehen. Noch irriger wäre es, allein die mystische Kirche als die wahre Kirche Christi anzusehen und ihre empirische Gestalt bestenfalls als unvollkommene Annäherung an sie. Die Kirche darf nicht auf das mystische Element eingeschränkt werden, weil zu ihr notwendig »die Verkörperung in einer konkreten empirischen menschlichen Realität« gehört. Das bedeutet auch, daß die »mystische Kirche« mehr als ein »abstraktes« Moment an der empirischen ist; sie ist selbst »eine ganz konkrete, substantielle Realität, wenngleich unsichtbar, eine Realität, deren Konturen und Grenzen weder durch sinnliche Wahrnehmung noch durch rationales Denken exakt festzulegen sind«. So ist zu verstehen, daß sie mit der »empirisch-realen« Kirche in einem »komplizierten Verhältnis« »der Solidarität, der Nähe, der teilweisen Identität und des ständigen Unterschieds und Widerstreits« steht. Diese Beziehung von Einheit und Unterschiedenheit freizulegen, ist Franks Anliegen (ebd. 371). Wieder geht es um die Grundfrage seiner Philosophie: die Zwei-Einheit von Sein und Seiendem, bezogen auf einen bestimmten Seinsaspekt. Die Kirche als Keimzelle der Erlösung geht auf Jesus Christus zurück, der, indem er seine »lebendige Kraft« in die Welt einsenkte, »den Anfang für das organische Wachsen und Heranreifen einer Realität in der Welt gelegt hat, welche die Welt verklärt und zur Erlösung« inspiriert. Er hatte dieses Buch in einer Rezension gewürdigt: Misticˇeskaja filosofija Rozencvejga, in: Put’, Januar 1926, No. 2, 139 ff.

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Die »eigentlich mystische« und die »empirisch-reale Kirche«

Verwirklichung des ›Reiches Gottes‹ führt«. Dabei ist zu sehen, daß Christus kein »Gesetzgeber« war, der eine Kirche in Gestalt einer »sozialen Organisation« gegründet hätte. Vielmehr müssen die Menschen, von Christi Kraft begleitet, in eigener Verantwortung die Bedingungen schaffen, damit die von ihm gelegte Saat reifen kann. Die Strukturen der empirisch-realen Kirche haben sich, so wird man Frank verstehen müssen, aus geschichts-immanenten Ursachen entwickelt; freilich »notwendig«, weil die Gnade durch die Strukturen der Welt, die sie verklären soll, wirken muß. Nur der geistigen oder »wesentlich-mystischen« Kirche, die das Wirken des Geistes Christi in der Welt ausmacht, kommen die Merkmale zu, welche im überlieferten Glaubensbekenntnis ausgesagt werden. Nur sie ist wahrhaft »›katholisch [kafolicˇna]‹, allumfassend«, weil zu ihr alle Menschen gehören, die sich vom Geist Christi leiten lassen. Das heißt, daß sie »überzeitlich« ist, weil die Realität des Erlösungsopfers, das Christus stellvertretend für alle Menschen dargebracht hat, über den geschichtlichen Zeitpunkt seines Todes hinausreicht und auch die Menschen, welche ihn nicht kennen, an dieser »Realität« teilhaben können. Die Katholizität der Kirche bedeutet folglich, daß die Kirche keine sichtbaren äußeren Grenzen hat. Sie ist auf die »Erneuerung und Erlösung der ganzen Schöpfung« ausgerichtet; sie ist »die Einheit der gesamten Menschheit, welche Erlösung sucht und somit auch erlöst wird«. Die Zugehörigkeit zu dieser Heilsgemeinschaft kann deshalb nicht von der »nach bestimmten Regeln« vollzogenen Taufe und vom formalen Bekenntnis des Glaubens abhängen. Entscheidend ist allein »die beharrliche Teilhabe der menschlichen Seele an Christi Wahrheit und Realität«. Sogar die Regeln der empirischen Kirche, bemerkt Frank, räumen die Möglichkeit ein, daß Menschen zur Kirche gehören, die nicht alle Merkmale besitzen, die zur formellen Aufnahme in die Kirche üblicherweise erforderlich sind (vgl. ebd. 373 f.). Zu den Merkmalen der Kirche, die im überlieferten Credo genannt werden, gehört außerdem die »Einheit«. Auch sie bezieht Frank auf die geistige Kirche. Die zahllosen Spaltungen, die sich in der Geschichte ereignet haben, »zerreißen Christi Gewand, nicht aber den lebendigen mystischen Leib Christi«. Auch ist diese Kirche »heilig«, denn sie ist nichts anderes als der in der Menschheit und in jedem Menschen anwesende Heilige Geist. Wie jeder Mensch, auch der verbrecherischste, eine »gottmenschliche Wurzel« hat, die ihn zum Träger unverlierbarer Würde macht, so besitzt auch die 271 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Menschheit als ganze eine »Tiefenschicht«, die sie »Gottmenschheit« sein läßt. Aus der »Heiligkeit« der Kirche ergibt sich tautologisch ihre »Unfehlbarkeit«, die von Frank in moralischem Sinn verstanden wird. Alle organisatorischen Funktionsunterschiede sind innerhalb der mystischen Kirche hinfällig; in ihr ist jeder, der auf Gott hört, berufen, Priester und Prophet zu sein. Dagegen ist die empirisch-reale Kirche ein Teil der geschichtlichen Wirklichkeit und unterliegt ihren Regeln. Sie erscheint so als das gerade Gegenteil der mystischen: Sie ist von Sünde gezeichnet, unheilig, zersplittert und auf den geschichtlichen Augenblick fixiert. Dennoch widersteht Frank der spiritualistischen Versuchung, die menschlich-organisatorische Seite der Kirche schlechthin als Übel zu verurteilen. Er erkennt sie als unverzichtbar an, denn die göttliche Gnade, welche die menschliche Welt verwandeln soll, bedarf »der planmäßigen menschlichen Gestaltung« in der Form von Organisation und Autorität, weil Freiheit nur durch Disziplin und Gehorsam fruchtbar werden kann. In ihr muß es deshalb auch, anders als in der mystischen Kirche, Macht und Recht geben. Die volle Jurisdiktionsgewalt eines Oberhauptes, wie sie dem Papst in der katholischen Kirche zukommt, sieht Frank als sinnvoll an; doch zugleich betont er, daß die Gehorsamspflicht dem Papst gegenüber nur auf dem ius humanum beruhen könne. Die durch das Papsttum gewährleistete »übernationale Einheit« der katholischen Kirche findet seine Bewunderung. Auf die strenge Durchsetzung dieser Einheit führt er es zurück, daß die katholische Kirche »mehr für die christliche Erziehung der Menschheit, für die Verankerung und Bewahrung christlicher Lebensgrundsätze getan hat als jedes andere christliche Bekenntnis«. Und er fügt hinzu: »In unseren verworrenen und schweren Tagen, in denen die Welt von neuem gegen das Christentum vorgeht, bleibt die einzige irdische Instanz, auf die man bei der Rettung der christlichen Kultur Hoffnungen setzen kann, die römisch-katholische Kirche in der strikten Festigkeit der in ihr geltenden Kirchendisziplin und Autorität« (ebd. 378). Die empirisch-menschliche Kirche als »Realität rein irdischer, menschlicher Ordnung« ist mit ihrem »inneren Grund«, welcher »der überweltlichen, gnadenhaften Ordnung entstammt«, zu einer »Zwei-Einheit« vereint (ebd. 376). Erst diese Einheit, welche die Entgegensetzung, ja den Widerstreit beider Elemente nicht aufhebt, macht »die Kirche als solche« aus. Frank betont nicht nur die »untrennbare Zusammengehörigkeit« des mystischen und empirisch272 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Einheit der beiden »Naturen« der Kirche

realen Elements, sondern bezeichnet sie als »innere organische Einheit«. Als konkrete ist sie die »immer unvollkommene Verkörperung der vollkommenen, idealen Gottmenschlichkeit Christi in der Sphäre des freien menschlichen kollektiven Seins. Die Kirche als geheimnisvoller gottmenschlicher Organismus oder als unsichtbarer organischer Prozeß des Aufkeimens von Gottes Reich in der Welt und die Kirche als vorsätzliche, rein menschliche, irdische Struktur und Organisation sind nur zwei Schichten derselben Kirche im vollen Sinne dieses Begriffs. Dabei bestehen der wahre Sinn und die Bestimmung der zweiten Schicht – der Kirche als empirisch-menschliche Realität – in ihrer Unterordnung unter die erste, in ihrer Funktion als Werkzeug und menschlicher Ausdruck der ersten Schicht, der eigentlichmystischen Kirche« (ebd. 380)

4.

Die Einheit der beiden »Naturen« der Kirche

Die »eine, heilige, katholische Kirche«, von der das Glaubensbekenntnis spricht, ist in der mystischen Kirche verwirklicht, die aus innerer Notwendigkeit einen sichtbaren Leib hat. Dieser aber ist gespalten, unheilig, begrenzt und »von rein irdischer, menschlicher Art« (ebd. 376). Nichtsdestoweniger macht nur die »untrennbare« und »unauflösbare« Einheit der »beiden Naturen der Kirche« die »Einheit der Kirche als solcher« aus. Diese innere Einheit aber ist zugleich voller Spannung bis hin zum »rational unüberwindlichen antinomischen Widerstreit«: »concordia discors«. Formal gilt für »das gottmenschliche Wesen der Kirche das gleiche«, was im Dogma über die unvermischte und ungetrennte Einheit der beiden Naturen in Christus ausgesagt ist – »allerdings mit dem äußerst wichtigen Unterschied, daß das ›Unvermischtsein‹ hier bis zum Widerstreit geht. Denn im Unterschied zur menschlichen Natur Christi ist die menschliche Natur der Kirche nicht ohne Sünde« (ebd. 378). Freilich, dieser »Widerstreit« vermag die Einheit nie zu zerstören; vielmehr »bezeugt er die Macht des göttlichen Prinzips der Gnade in der Kirche« (ebd. 379). Die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen in der christlichen Kirche ist deshalb anders zu denken als die in der Sozialphilosophie analysierte Einheit von Kirche und Gesellschaft. In dieser ging es um die Frage, wie eine menschliche Gesellschaft überhaupt existieren könne, ohne von den in ihr widerstreitenden 273 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

Kräften zerrissen zu werden. Frank hatte auf den »Dienst am Heiligen« verwiesen, der, wie beschränkt er auch ist, die Einheit des jeweiligen Wir stiftet. Er hatte diesen Dienst als das Wesenselement der Kirche gedeutet und war zu der Aussage gelangt: Die Kirche ist der Existenzgrund jeder sichtbaren menschlichen Gesellschaft. Diese aber kann ihren Grund oder ihre Seele verlieren und sich auflösen. Zur empirisch-realen Kirche gehören nur jene Menschen, die sich ausdrücklich zu ihr bekennen. Zur »mystische Kirche«, wie Frank sie in seiner Schrift Mit uns ist Gott konzipiert, gehören alle, die sich in ihrem Verhalten vom Heiligen Geist leiten lassen. Das kann, so muß man Frank wohl verstehen, beim selben Menschen in wechselnder Intensität geschehen. Daß die Achtung des Heiligen sich in der Anerkennung einer bestimmten Wir-Einheit realisiert, scheint nicht erforderlich. Ein sichtbares Merkmal, an dem die Zugehörigkeit zur »mystischen Kirche« abgelesen werden könnte, gibt es nicht; zu ihr können darum Angehörige der christlichen Kirchen und Gemeinschaften, aber auch nichtchristliche und religionslose Menschen gehören. Gott allein weiß, ob und in welcher Fülle der Geist Christi ein konkretes Verhalten lenkt, wie auch er allein die Grenze kennt, die zum bewußt Widerchristlichen und Bösen verläuft. Die »mystische Kirche« wird es geben, solange es die Menschheit gibt. Daß Frank das Bild der irdischen Kirche so düster zeichnet und ihre Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit derart betont, ist, so wird man vermuten dürfen, in seiner Erfahrung begründet. Doch stellt sich in systematischer Hinsicht die Frage, ob die »innere« und »organische« Einheit des Göttlichen und Menschlichen in der »Kirche als solcher« nicht zur Folge haben müßte, daß die »real-empirische« Kirche auch an der »mystischen« Realität – also an deren »Heiligkeit«, »Katholizität« und »Einheit« – teilhat. 6 Wäre die sichtbare Kirche tatsächlich »eine Realität rein irdischer menschlicher Ordnung«, bliebe sie der mystischen Kirche nur äußerlich angefügt. Es wäre kaum verständlich, wie sie »Wegbereiterin« und »menschliches Werkzeug« der mystischen Kirche sein kann. Frank selbst schreibt an einer Stelle, daß »ihr innerer Grund der überirdischen Gnadenordnung angehört« (ebd. 376). Damit ist die bloße Menschlichkeit der empirischen KirNicht ohne Konsequenz für das theologische Verständnis der Kirche ist, daß Frank die »Apostolizität« nicht unter den Merkmalen der Kirche aufführt. Mit der »Apostolizität« wäre ein geschichtlich-empirisches Element als konstitutiv für die »Kirche als solche« anerkannt.

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che überwunden. Gerade das philosophische Prinzip des »antinomischen Monodualismus« erlaubt, die Einheit von Geist und Leib und somit den Begriff der Kirche und des Sakramentes so zu denken, daß weder das Mystische seine Geistigkeit und Unsichtbarkeit einbüßt noch das Empirisch-Reale seine Beschränktheit verliert. 7 Franks Bemühen um die Idee »Kirche« ist von der quälenden Frage geleitet, wie die Spannung aufzulösen ist zwischen der absoluten und universalen Bedeutung Christi für das Heil jedes Menschen und der beschränkten geschichtlichen Reichweite der christlichen Kirche, wie also die so beschränkte Kirche dennoch der Keim des universalen Heils sein könne. Eine spiritualistische Vergeistigung und Entweltlichung der Kirche kommt für Frank aus philosophischen wie aus theologischen Gründen nicht in Frage. Der Angelpunkt seines Denkens, die Gottmenschlichkeit, die ihr Vorbild in der Gottmenschlichkeit Christi hat, besagt Unterschiedenheit in untrennObwohl Frank darauf beharrt, daß die wahre Kirche Christi nicht mit einer real bestehenden Kirche identifiziert werden könne, kommt seine »Idee der Kirche« in einigen Punkten dem Selbstverständnis der katholischen Kirche, wie es im Anschluß an das Zweite Vatikanische Konzil formuliert wurde, sehr nahe. In der Erklärung »Dominus Jesus« aus dem Jahr 2000 heißt es u. a., daß »sich das Heilswirken Jesu Christi mit und durch seinen Geist über die sichtbaren Grenzen der Kirche hinaus auf die ganze Menschheit [erstreckt]«. Das Anliegen, das Frank mit dem Begriff der »mystischen Kirche« verfolgt, ist aufgenommen, wenn festgestellt wird: »Die Lebensgemeinschaft im Geist« gilt »für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt« (n. 12). Weiter betont die »Erklärung«, daß die Kirche nicht mit dem »Reich Gottes« identisch ist, vielmehr seinen »Keim« und »Anfang« bildet. »Das Reich Gottes hat eine eschatologische Dimension: es ist eine in der Zeit gegenwärtige Wirklichkeit, aber seine volle Verwirklichung wird erst mit dem Ende bzw. der Erfüllung der Geschichte kommen«. Die Kirche ist »nicht selbst Ziel, da sie auf das Reich Gottes hingeordnet ist, dessen Wirklichkeit sie keimhaft und zeichenhaft darstellt und dessen Werkzeug sie ist« (n. 18). Franks Intention ist getroffen, wenn es heißt: »daß das Reich Gottes – auch wenn es in seiner geschichtlichen Phase betrachtet wird – nicht mit der Kirche in ihrer sichtbaren und gesellschaftlichen Wirklichkeit identisch ist. Es ist nämlich nicht richtig, wenn man das Werk Christi und des Geistes ›auf ihre [der Kirche] sichtbaren Grenzen einengt‹. Man muß deshalb auch berücksichtigen, daß ›das Reich alle einbezieht: die einzelnen, die Gesellschaft, die ganze Welt. Für das Reich wirken bedeutet Anerkennung und Förderung der göttlichen Dynamik, die in der Geschichte der Menschheit anwesend ist und sie umformt. Das Reich aufbauen bedeutet arbeiten zur Befreiung vom Übel in allen seinen Formen. Das Reich Gottes ist letztlich die Offenbarung und Verwirklichung seiner Heilsabsicht in ganzer Fülle‹« (n. 19). – Das Dekret des Konzils »Unitatis redintegratio« über den Ökumenismus beschreibt mit dem Ausdruck »Fülle« (plenitudo unitatis/plenitudo catholicitatis) die Paradoxie, daß das Heil in den Sakramenten der katholischen Kirche präsent ist und kraft dieser Präsenz auch außerhalb ihrer wirksam sein kann. 7

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Die Kirche – die gttliche All-Einheit in der Welt

barer Einheit. Deshalb kann auch »Kirche« für Frank nicht ohne sinnliche und geschichtliche Wirklichkeit sein. Nicht in jeder Hinsicht wird man seine Überlegungen für gelungen ansehen können. Auf jeden Fall machen die Ausführungen über die Kirche deutlich, wie wichtig es für den Philosophen Frank war, gegen die radikale Säkularisierung des neuzeitlichen Denkens die Grundvollzüge des christlichen Lebens als zum menschlichen Selbstsein gehörig auszuweisen. Er will zeigen, daß die mit den theologischen Begriffen gemeinte Wirklichkeit – Kirche, Heiliges, Gnade, Vergöttlichung – nicht als Produkt müßiger Spekulation abgetan werden kann, daß sie vielmehr die Vollendung eines philosophisch-phänomenologisch aufweisbaren Seinsgrundes ist. Gerade die Schriften aus Franks Spätzeit Mit uns ist Gott wie auch Das Licht in der Finsternis bezeugen eine gute Kenntnis des Neuen Testaments und ein tiefes Eindringen in die christliche Spiritualität (zur »Kirche« siehe auch Kap. XVII »Nikolaus von Kues – der Lehrer«).

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XV. mysterium iniquitatis

Die Philosophie der All-Einheit, in der Gott der Urgrund und Mittelpunkt allen Seins ist, scheint keine Möglichkeit zu bieten, das Böse in ihren Horizont aufzunehmen. Für Frank aber war das Böse eine unleugbare Tatsache. Eindrucksvoll bezeugt die Schrift Das Licht in der Finsternis die Gewißheit von dessen dunkler Macht; das ungeheure Leid, das Menschen im 20. Jahrhundert anderen Menschen zufügten, hatte diese Gewißheit unumstößlich gemacht. Viele der zeitgenössischen Philosophen aber vermochten hinter der Grausamkeit der Menschen nicht die geistige Macht des Bösen zu erkennen. In einem Brief vom Sommer 1942 an den Freund Ludwig Binswanger klagt Frank darüber, daß auch M. Heidegger »die wahre Quelle aller Tragik« verkenne. Heidegger »konzentriert sich ganz willkürlich nur auf das ›man‹, das Verlogen-alltäglich-ordinäre; dies ist aber nur eine, und vielleicht gar nicht die schlimmste Erscheinung des Bösen, des ›Teufels‹ als ›Vater der Lüge‹ ; der Hauptfeind, der zu überwinden ist, sind verblendende und verwirrende Leidenschaften (sinnliche und geistige), die in mir wüten, mich dem Grunde entziehen und jederzeit zu vernichten und zu entleeren suchen«. Hier wirkt »das Dämonische, Böse, das Chaotische, Zerstörende«, das, was die Bibel »Sünde« nennt. Dieses »Dämonische« ist »keine ›theologische‹, auch keine rein ›ethische‹ Idee, sondern der grundlegende ontologische Zug des menschlichen Daseins«. 1 Das eigentlich Schreckliche befindet sich, wie Frank in diesem privaten Brief schreibt, im Inneren jedes Menschen. Nachdrücklich hat Frank in seinen Werken sich mit der Macht des Bösen auseinandergesetzt: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Das Unergründliche. Dann in dem Buch Das Licht in der FinsterS. L. Frank am 24. 07. 1942 an L. Binswanger. Zitiert nach N. Plotnikow: Heidegger– Rezeption in Rußland: Semen L. Frank und Ludwig Binswanger. In: Daseinsanalyse. Zeittschr. f. phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie. 1994, H. 11. S. 123.

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mysterium iniquitatis

nis, dessen Niederschrift 1934 geplant und 1940 abgeschlossen wurde, aber nach dem Kriegsende im Rückblick auf die »dämonischen Kräfte«, welche die Kriegsfurie entfesselt hatte, nochmals »radikal« überarbeitet wurde 2. Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit dem Bösen auch in dem 1949 vollendeten Werk Die Realität und der Mensch ein, als allen vor Augen lag, welche Zerstörungen an Seele, Leben und Gütern der Krieg bewirkt hatte. Methodisch wählt Frank auch bei diesem Thema die phänomenologische Erschließung der eigenen Selbsterfahrung und des eigenen Selbstseins. Wer wissen will, was das Böse ist, muß sich dem Bösen in seinem eigenen Inneren zuwenden. Am Ende seiner Religionsphilosophie schreibt er: »Leicht und billig ist es, das Böse objektivierend als eine mir äußerliche und unverständliche Tatsache des weltlichen Seins zu betrachten, das unlösbare Theodizeeproblem zu stellen und, indem man die Position eines Richters über das Sein einnimmt, über die ganze Welt – selbst über Gott – das Urteil zu sprechen. […] Damit wäre der einzige Weg zur wirklichen Erfassung des unergründlichen Wesens des Bösen verstellt – der Weg in die eigene Tiefe, in der allein, indem ich meiner Schuld bewußt werde, das Unergründliche sichtbar wird« (DU 459 f., Übersetzung geändert).

1.

Der Widersinn des Bsen

Das »unergründliche« Wesen des Bösen verstehen zu wollen ist ausgeschlossen. Jeder Versuch dazu verstrickt sich in unauflösbare Aporien. Um etwas verstehen zu können, muß es der Vernunft zugänglich sein; in ihm selbst muß also etwas Vernünftiges enthalten sein. Wäre das Böse zu verstehen, gäbe es dafür auch einen einsehbaren Grund; es hätte dann seinen Platz im Sein. Das anzunehmen aber hieße, die Augen vor der unversöhnlichen zerstörerischen Negativität des Bösen zu verschließen. Nach einer auf Augustinus zurückgehenden philosophischen Tradition besitzt das Böse selber kein eigenes Sein, weil alles, was ist, insofern es ist, immer gut ist. Das Böse besteht gerade im Mangel an Vgl. die Angaben Franks in »Predsmertnoe. Vospominanaija i mysli. In: Russkoe mirovozrenie, St. Petersburg 1996, S. 58. Ferner Franks Angaben im »Vorwort« von Das Licht in der Finsternis.

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Der Widersinn des Bsen

Sein – und setzt es damit voraus. 3 Frank schließt sich dieser Auffassung an und beruft sich dafür auf Makarios den Großen (gest. etwa 390) in der griechischen und auf Thomas von Aquin 4 in der westlichen Welt (DU 444). Doch wer vom Bösen spricht, kann nicht umhin, vom Sein zu sprechen; er macht somit, nach einer von Frank zitierten Bemerkung Platons, eine »illegitime« oder »Bastard-Aussage«, indem er versucht, das nicht Sagbare dennoch mit Begriffen, die ihre Rechtfertigung im Sein haben, zu erfassen (DU 440). 5 Jeder Willensimpuls in seinem bloßen Seinsgehalt ist gut, selbst wenn er darauf gerichtet ist, nur um des Genusses willen zu zerstören oder zu töten. Es scheint kaum möglich, den Seinsgehalt von der bösen Zielsetzung zu unterscheiden. Schon wenn wir das Böse als Angriff auf das Sein bezeichnen, schreiben wir ihm gleichsam eine Kraft zu und behaupten es als ein Seiendes. Das geschieht sogar schon, wenn wir sagen: Es gibt das Böse. Wenn wir andererseits – zu Recht – darauf beharren, daß alles, was ist, unter Rücksicht seines Seins gut ist, scheint es, daß wir das Böse als solches zu bloßem Schein verflüchtigen. Gegen eine solche Konsequenz aber sträubt sich unser Empfinden und unser Verstand. Versucht man, über den Seinsgehalt des Trägers, der Umstände und Folgen einer bösen Tat hinaus, deren eigentlich Böses, das ontologisch kein Sein besitzt, zu bestimmen, stößt unser Denken an eine Grenze, wenngleich in ganz anderer Weise als angesichts der unergründlichen Realität Gottes. Diese Einsicht ist nicht leicht zu akzeptieren. Selbst die Philosophen, die am tiefsten in das Wesen des Bösen eingedrungen sind, J. Böhme und F. W. J. Schelling, haben, wie Frank meint, der Versuchung nicht widerstanden, das Böse erklären zu wollen, und haben es so in seiner radikalen Widersinnigkeit verflüchtigt. 6 G. W. F. Hegel habe es letztlich geleugnet, um den panAugustinus hatte das Böse einen »Raub an Gutem« genannt: Quid est autem aliud quod malum dicitur, nisi privatio boni? In: Enchiridion de fide, spe et caritate, Cl. 0295, cap. 3. – Mali enim nulla natura est; sed amissio boni mali nomen accepit. In: De civitate dei, 11, cap. 9 in fine. 4 Thomas von Aquin: Unde dico, quod id quod est malun non est aliquid; sed id cui accidit esse malum, est aliquid, in quantum malum privat nonnisi aliquod particulare bonum. In: De malo, qu. I, art. I. 5 Platon im »Timaios« 52b: logism† tini nj†w. 6 Nach Jakob Böhme ist die Negativität als das Prinzip der Unterscheidung von sich selbst auch Gott eigen; ohne dieses Prinzip hätte Gott kein Bewußtsein und wäre nicht Geist. Das Prinzip der Negativität als Prinzip des Geistes und des Lebens aber ist zugleich das Prinzip des Bösen. Das Licht bedarf, um offenbar zu sein, der Finsternis: »So 3

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theistischen Grundzug seiner Philosophie bewahren zu können. Das Böse ist das radikale Nein gegen das Sein und die Vernunft. Weil schlechthin widersinnig, besitzt es nie die Evidenz, die einer Wahrheit zukommt. Es ist die »Unwahrheit« selbst. Gegen Gott, der das Licht der Wahrheit oder die Evidenz selbst und so die Bedingung jeglicher Wahrheitserkenntnis ist, kann das Böse deshalb nie ein Argument sein. Es kann nicht verstanden, muß aber in seiner aufdringlichen Faktizität zur Kenntnis genommen werden. Es ist als solches »in gewissem Sinn die absolute Grenze jeder Philosophie« (DU 442). In Franks Deutung ist das Böse mehr als ein bloßes Nichts und besitzt doch nicht den Rang eines Seienden. Es ist ein »gewissermaßen seiendes Nichts«, »eine vom Sein abgefallene Realität«. Es gleicht einem »›Etwas‹, das sich als Realität gerade durch seine Loslösung von der wahren, begründeten und legitimen Realität konstituiert« (vgl. DU 441; RM 333). »Durch die harmonische, göttliche All-Einheit gehen tiefe Risse, klaffen Abgründe des Nichtseins – Abgründe des Bösen. Die All-Einheit, wie sie empirisch erscheint, ist eine geborstene Einheit« (DU 442; vgl. 467). Die philosophische Überzeugung, daß Gott der absolute Urgrund des Seins ist, hat Frank nicht preisgegeben; einem ontologischen Dualismus ist eine entschiedene Absage erteilt. Doch zugleich wird die widergöttliche »Finsternis« der »Welt« (nach dem Wort des Johannesevangeliums) in höchster Eindringlichkeit erfahren. Nicht übersehen werden darf Franks Einschränkung: Zerrissen ist die All-Einheit des Seins, wie sie uns »empirisch erscheint«.

2.

Das konstruktive und das zerstrerische Moment der Negation

Es bleibt die Frage, wie der »Abfall« von der »wahren Realität« möglich sein kann. Die Rolle der Negation bei der Konstitution der Allkeine Pein wäre, so wäre ihr die Freude nicht offenbar. Das Böse muß eine Ursache sein, daß das Gute ihm selber offenbar sei, und das Gute muß eine Ursache sein, daß ihm das Böse in seiner Arglistigkeit und Bosheit offenbar werde, auf daß alle Dinge in ihre Beschaulichkeit kämen«. In: Mysterium Magnum, c. XXVIII, § 68, 69. – Gerade weil die philosophische Intuition Böhmes jener des Cusanus und Franks ähnelt, ist sorgfältig auf den Unterschied zu achten. Ihnen zufolge ist alles, was Sein hat, in Gott »eingefaltet«, nicht aber das Böse, eben weil es als solches kein Sein besitzt. Ihnen erlaubt eine ausgearbeitete Ontologie, die bei Böhme fehlt, diese Unterscheidung.

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Das konstruktive und das zerstrerische Moment der Negation

Einheit erschließt die Struktur dieser Möglichkeit; doch ein Grund, weshalb der Abfall geschehen ist, ist damit nicht genannt. Wie schon ausgeführt wurde, ist jedes bestimmte Einzelne, was es ist, durch Abgrenzung vom anderen. Zugleich verbindet die Abtrennung mit dem, was jenseits ihrer liegt. Das heißt: Infolge seiner Abgrenzung ist alles mit allem anderen auch verbunden. Das Nicht der Negation setzt »zugleich und in einem Akt sowohl die Einheit als auch die Getrenntheit von allem – es setzt alles als ein jedes für sich« (DU 444). Als konstituierendes Prinzip bestimmt das Nicht das Einzelne nicht nur von außen, es kommt ihm auch innerlich zu. Indem es durch Abgrenzung für sich sein läßt, »bildet [es] das tiefste Moment dessen, was wir ›Freiheit‹ nennen«. Indem es abgrenzt und so über sich hinausweist, begründet es »die Fähigkeit, auch das zu haben oder zu sein, was das jeweilige Einzelne als solches actualiter nicht ist«. Das »Nicht« ist also sowohl die »Kraft, die unsere Individualität behauptet, als auch die Anziehungskraft zwischen uns und der All-Einheit«. Mit anderen Worten: Es ist konstitutiv für die gegliederte Einheit des Weltseins. So hat jedes Individuum seine Mitte in sich, aber »dieses ›Innere‹ hat seinen Mittel- oder Stützpunkt außer sich, in seinem Zusammenhang mit allem, mit dem All-Einen« (DU 445). Sobald Böses geschieht verändert sich die Funktion der Negation: Sie wird zu einem absolut isolierenden Nein. Sie verbindet nicht mehr, sondern grenzt nur noch ab. Das Einzelne löst sich damit aus dem »allgemeinen Seinszusammenhang« und verschließt sich in sich selbst. Es hält seinen Mittelpunkt, der ein solcher nur durch den Zusammenhang mit allem anderen ist, für den absoluten und einzigen Grund der Realität. Indem es das Andere als unwesentlich zurückweist, erhebt es sich selbst »zu einem Schein-Absoluten, zu einer Pseudo-Gottheit« (DU 446). Obwohl es Teil ist, erkennt es nur noch seinen eigenen Willen als maßgebliches Gesetz an. Doch die Absolutheit des isolierten Einzelnen ist angemaßt. Was sich zum Alles-Sein aufgebläht hat, bleibt dennoch auf alles andere seinsmäßig angewiesen. Die vorgebliche Absolutheit ist eine absolute Leere, die in unersättlicher Gier zum Ausdruck kommt, alles andere sich anzueignen und zu verschlingen. Mit der Selbstabsonderung im Bösen, die das andere zurückstößt und es doch als Stütze seines eigenen Seins braucht, ist eine unaufhörliche Selbstzerfleischung in das Sein oder die »Welt« gekommen. »Hier ist nicht nur homo homini lupus, hier in der metaphysischen Tiefe ist ens enti lupus«. Die Folge des Bösen ist, wie der tiefgründige Satz des Römer281 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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mysterium iniquitatis

briefs sagt, der Tod (5:12). Die Sünde hat die Schöpfung bis in den Grund hinein entstellt. 7

3.

Das Bse – eine Folge der Freiheit?

Die phänomenologische Beschreibung der Selbstverschließung und Selbstzerstörung im Bösen hat die Frage offen gelassen, warum es zum Bösen kommt. Niemand muß Böses tun oder sündigen; das Böse ist das schlechthin Nichtgesollte. Beruht das Tun des Bösen auf einer Entscheidung, in welcher der Mensch die ihm von Gott zum Tun des Guten geschenkte Freiheit mißbraucht? In der religiösen Unterweisung ist diese Vorstellung weit verbreitet. Frank aber hält die Annahme, wir könnten, wo es um das Wollen eines Ziels geht, zwischen bestimmten Möglichkeiten bewußt wählen, für eine »grobe intellektualistische Verzeichnung des tatsächlichen, irrationalen Gehalts des Willensprozesses«. Wo es nicht um die Auswahl von Mitteln, sondern um das Wollen selbst oder das Ziel selbst geht, »findet ein völlig irrationales Schwanken statt, eine gewisse Potentialität und Unbestimmtheit des dynamischen Prozesses des Strebens, des Schaffens, des Werdens«. Das Ziel, sagt Frank, der sich hier H. Bergson anschließt, »ist überhaupt nicht etwas, das dem Wollen vorausginge und es bestimmte. Das Ziel bildet sich erst im Prozeß des Strebens oder Wollens«. Die Willensfreiheit kann nicht auf die Wahlfreiheit zurückgeführt werden. Diese eher psychologische Feststellung wird von Frank (mit Thomas von Aquin und Hegel) durch den philosophischen Freiheitsbegriff als Selbstverwirklichung oder Bei-sich-selbstSein ergänzt. Wahre Freiheit ist nicht die Möglichkeit, alles Beliebige Auf ähnliche Weise beschreibt Schelling in seiner Freiheitsschrift den Selbstwiderspruch, in den der Sünder verfällt: Durch die Kraft der Mitte, die er in sich hat, ist der Mensch berufen, »über alle Dinge zu herrschen. Denn es bleibt auch dem aus dem Centro gewichenen immer noch das Gefühl, daß er all Dinge gewesen ist, nämlich in und mit Gott; darum strebt er wieder dahin, aber für sich, nicht wo er es sein könnte, nämlich in Gott. Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, Alles zu sein, ins Nichtsein fällt.« F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hamburg (Meiner) 1997, S. 62 (SW. VII, 390 f.).

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zu tun; sie ist mit Notwendigkeit vereinbar, ja, sie »ist innere Notwendigkeit als Bestimmtsein durch sich selbst« (RM 322 f.). Unter dieser Voraussetzung ist es nicht möglich, von einer wahrhaft freien Wahl des Bösen zu sprechen, – denn die Selbstverwirklichung des Menschen besteht in der Entfaltung seiner Gottmenschlichkeit. Die Sünde ist »nicht nur keine Selbstverwirklichung des Menschen; als Verrat an Gott ist sie auch ein Verrat an unserem wahren Selbst« (RM 323 8 ). Wie aber ist die Sünde möglich, wenn sie nicht aus unserer Freiheit hervorgeht? In Franks Antwort ist der Einfluß der paulinischen Anthropologie zu erkennen. Obwohl wir klar wissen, daß wir Böses tun, tun wir es, infolge der Schwäche unseres Willens, nicht auf Grund unserer Freiheit. Selbst wenn eine böse Tat vorsätzlich geschieht, kann der Täter seine wahre Freiheit bereits verloren haben und unter der Kontrolle seiner bösen Leidenschaften handeln, »unter der Herrschaft der Sünde« stehen und ihr Gefangener sein (vgl. Römerbrief 3:9; vgl. RM 324 f.). Doch ohne jede Freiheit oder Ursprünglichkeit in der Tiefe des Selbstseins ist der Begriff »Sünde« nicht denkbar (naturalistische Philosophen, die nur die »objektive Wirklichkeit« anerkennen, leugnen, wie Frank bemerkt, logisch konsequent den Begriff des sittlich Bösen). Frank versucht, einer Antwort näher zu kommen, indem er den Begriff der Freiheit differenziert: »Die Freiheit, die mit der Idee der Sünde vorausgesetzt wird, kann weder jene wahre Freiheit sein, welche in der Selbstverwirklichung der Person des Menschen besteht, noch jene abstrakt-ideale, praktisch machtlose ›Freiheit‹, die sich auf das Bewußtsein der Verantwortung, auf die sittliche Wertung reduziert. Sie muß […] eine solche Freiheit sein, die in einem anderen Sinne Unfreiheit ist«. Noch zugespitzter ausgedrückt: Es muß eine Freiheit sein, die »gleichzeitig ist und nicht ist«. Sie muß mehr sein als die bloße Fähigkeit, das Böse sittlich zu beurteilen (wie die Freiheit im augustinisch-kalvinistischen Verständnis); sie muß, in der Realität wurzelnd, selbst dynamisch sein können. Denn es darf nicht übersehen werden, daß Sollen und Sein, Ideales und Reales in der letzten Tiefe der Realität eins sind (RM 327 f.). Die Widersprüchlichkeit dieser Freiheit rührt daher, daß die Sünde, die aus ihr hervorgeht, als seiendes Nichts keinen Platz im 8 In Das Unergründliche gebraucht Frank das russische Wort zlo, das die Bedeutungen das Böse und das Übel umfaßt. In Die Realität und der Mensch verwendet Frank den eindeutigen Begriff grech, deutsch die Sünde.

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mysterium iniquitatis

Sein beanspruchen kann. Frank greift zur Erläuterung dieses Zwischenzustandes nochmals seine anthropologische Grundthese auf: Die wahre Freiheit des Menschen, der Gottes »Bild« ist, ist in abgeleiteter Weise die Freiheit Gottes: die Koinzidenz von Aktualität und Potentialität. Gott ist selber wesenhaft Freiheit, er ist die Fülle des Seins in der Einheit von Aktualität und Potentialität, d. h. er ist ewige Selbstverwirklichung und Selbsterschaffung, absolute schöpferische Dynamik, in der vollendetes Sein und schöpferisches Leben zusammenfallen (RM 329). Zur Freiheit gehört die Potentialität als das Seinkönnende. Im Menschen ist sie mit seiner konkreten Aktualität vereint, so daß aus ihr nicht willkürlich Beliebiges hervorgeht, sondern der Mensch seine Anlagen verwirklicht. Sobald er sich aber von der Fülle der Realität, von Gott abwendet, zerfällt in ihm die Einheit von Aktualität und Potentialität. Die Potentialität erweist sich in gewissem Ausmaß nur mehr »als bloße Potentialität, d. h. […] als bloßes Unvollendet sein, als Bereitschaft zu allem«. Jene besondere Freiheit, welche die Möglichkeitsbedingung der Sünde ist, besteht in der puren Formlosigkeit (RM 330). Frank nennt sie grundlose Spontaneität, die dem ähnelt, was bei J. Böhme der »Ungrund« heißt. Wo Böses geschieht, so Franks ontophänomenologische Beschreibung, trennt sich die Realität von der Aktualität ihres Erstursprungs, hört auf, die »göttliche Grundlage der Schöpfung« zu sein. Sie wird »als bloße formlose dynamische Potentialität« zu einer »dämonischen Elementarkraft«, die das innere Selbstsein mit ihrer Formlosigkeit überschwemmt (RM 333). Sie kommt ontologisch mit dem Bösen als einer »vom Sein abgefallenen Realität« überein. Sie ist Realität, keine Illusion, aber eine gleichsam gespenstische Pseudorealität. Sie ist »ein Chaos als reale und mächtige Kraft« (ebd.). Die Bibel beschreibt diesen Zwischenstand, indem es den Teufel einen von Gott abgefallenen Engel nennt, – freilich ohne damit das Unerklärliche zu erklären, wie Frank hinzufügt. Denn der »Ungrund« oder das »uranfängliche Chaos« ist für ihn, anders als für Böhme (und in seinem Gefolge Schelling und Berdjaew 9 ) nicht in das Wesen Gottes eingeschlossen, sondern besteht in der Loslösung von ihm.

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Vgl. N. Berdjaew: Die Philosophie des freien Geistes (1927).

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Verfhrung durch das Bse?

4.

Verfhrung durch das Bse?

Können wir eine Instanz oder Macht finden, die von außen kommend den Menschen zum Bösen verführt? Schon die biblische Erzählung vom Sündenfall führt zur Erklärung des Abfalls zum Bösen die Figur der Schlange ein. Aber Adams Versuch, mit dem Verweis auf die Verführung durch die Schlange sich der Verantwortung zu entziehen, wird von Gott nicht akzeptiert. Zweifellos ist der Mensch Einflüssen ausgesetzt, die ihn bedrängen und ihm vorgaukeln, er könne eine neue Stufe seiner »Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbehauptung« erreichen, wenn er der Verlockung seiner Willkür folgt. Daß dem Bösen ein betörender Glanz anhaftet, der den Menschen verführen kann, ist nicht zu bestreiten. Doch eine äußere Instanz, die für das Böse verantwortlich gemacht werden könnte, ist damit nicht gefunden. Die Behauptung, der Verführer sei für das Böse verwantwortlich, übersieht, daß das innere Selbstsein und die es verführenden Einflüsse keine eindeutig getrennten Seinsbereiche sind, die einander wie Wirkung und Ursache gegenüberstehen. Der verführerische dämonische Glanz der »Welt« kann dem Selbstsein »weder in der Zeit noch begrifflich entgegengesetzt« werden; vielmehr sind sie wie das Selbstsein und das geistige Sein eine kompakte Zwei-Einheit, in der eines ins andere überfließt und doch nicht konturlos in ihm aufgeht. Der »Fürst dieser Welt«, in der Sprache des Johannesevangeliums, ist die verführerische Macht dieses Weltseins, an dem ich teilhabe. Wenn dieser »Fürst« mich unterwerfen und gefangen nehmen kann, »so nur deshalb, weil ich selber ihn geboren und in mir großgezogen habe. Deshalb sind wir gleicherweise für das Böse verantwortlich« (DU 452). »Das ›Außen‹ selber befindet sich hier ›innen‹. Der äußere Feind ist hier der innere Feind«. Das Böse »bedrängt die Menschenseele nicht nur von außen, sondern verweilt potentiell, gleichsam schlummernd, in ihrer Tiefe«. So kann Frank in Anlehnung an den russischen Lyriker Fjodor Tjutschew sagen: In ihr selber regt sich das Chaos, auf dessen Stimme sie begierig lauscht (RM 334). Die All-Einheit, kraft derer jedes Teil nicht nur Teil ist, sondern auch das Ganze in sich trägt, bewahrt auch in der Seinsgestalt des Bösen, wenngleich pervertiert, ihre Geltung. Einerseits bin ich ein unscheinbarer Teil dieser Welt und als solcher den Einflüssen des Ganzen unterworfen, »zugleich bin ich Mittelpunkt des Weltganzen oder der unendliche Ort, an dem dieses zur Gänze anwesend ist«. Will man unter dieser Voraussetzung von Verantwortung sprechen, 285 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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mysterium iniquitatis

so »trägt die Verantwortung jener Seinspunkt – zugleich meines wie auch des mich überragenden Seins –, in dem ich mit ihm in ungetrennt-unvermischter Zwei-Einheit zusammenfalle« (DU 453). In jedem Mittäter und Mitläufer gelangt das Böse der »Welt« zur Wirkung, und auf seine Weise trägt er zum sittlichen Klima der Welt bei.

5.

Mein Sndenfall – der Sndenfall der Welt

Eine äußere Instanz, auf deren Einfluß die eigene Schuld abgewälzt werden könnte, ist nicht gefunden. Die Verführung durch die »Mächte des Bösen« und die eigene Verantwortung können nur im Sinne des »belehrten Nichtwissens« als antinomische Einheit begriffen werden. Jedes Seiende ist ja kraft seines Seins immer mehr als nur es selber: Ich bin, indem ich alles andere überschreite und umgreife. Deshalb befinde ich mich auch in unvermischter Einheit mit der Welt. Das menschliche Selbstsein befindet sich aber nicht nur in ZweiEinheit mit der Welt. Der Mensch, der je auf seine beschränkte Weise mit der Welt eins ist, ist auch »der Punkt, durch den die Welt mit Gott zusammenhängt«. Er ist das Mittelglied zwischen beiden – jener Kampfplatz, auf dem nach einem Wort Dostojewskis, das Frank zitiert, »Gott mit dem Teufel kämpft« (GGdG 169). Deshalb ist meine Absage an Gott zugleich die Absage der Welt. Mit Franks Worten: »Der ›Sündenfall der Welt‹ ist mein Sündenfall und dieser ist Sündenfall der ganzen Welt«. Die Revolte gegen das Sein, die in der bösen Tat geschieht, ist über das zeitlich und örtlich bestimmte Geschehen hinaus immer auch von universaler Bedeutung. Aus dieser Erwägung ergibt sich, daß ein Sündenfall, der sich als einzelnes Ereignis zu Beginn der Menschheitsgeschichte ereignet hätte und seither das menschliche Handeln verhängnisvoll lenkte, eine willkürliche und unbegründete Annahme ist, welche die Herkunft des Bösen und die letzte Verantwortung auf eine fremde Instanz überträgt – und damit nicht erklären kann. Der Sündenfall ist ein Geschehen, an dem ich »in der Tiefe meines eigenen Seins ununterbrochen beteiligt bin«. Das Böse ist alles durchdringende Gegenwart, dessen »Urquelle in allem liegt, folglich auch im Inneren meines eigenen Seins« (DU 452 f.). Verfehlt wäre es, die »Ursünde« schon in der kreatürlichen Endlichkeit des Seienden sehen zu wollen (das malum metaphysicum des 286 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Mein Sndenfall – der Sndenfall der Welt

Leibniz); denn das Endliche kann, wie Frank mit seiner ganzen Philosophie zeigt, in sich das Unendliche enthalten; der menschliche Geist ist ein Strahl, der von Gott ausgeht (RM 339). Ebenso entschieden weist Frank die Annahme zurück, die Urquelle des Bösen sei »in einem äußersten und tiefsten Sinn in den für uns unergründlichen Tiefen Gottes selber verborgen«. Diese Annahme, die von den Spekulationen Böhmes und Schellings nahegelegt wird, würde den Begriff Gottes selbst zerstören. »Die unendlichen Tiefen des Wesens Gottes sind etwas völlig anderes als die Grundlosigkeit des Elementes der bloßen, formlosen Potentialität« (DU 456; vgl. RM 333). Nicht die Ursache, aber doch die Bedingung dafür, daß es das Böse gibt, liegt in der Andersheit der Schöpfung gegenüber Gott. Wo sie beginnt, liegt die Möglichkeit beschlossen, die Einheit mit dem Urgrund aufzulösen. »Der Ort der grundlosen Urzeugung des Bösen ist jener Ort der Realität, wo sie aus Gott geboren und in Gott seiend aufhört, Gott zu sein«. Er ist jener »unsagbare Abgrund, der gewissermaßen genau auf der Schwelle zwischen Gott und NichtGott liegt«. Er ist mir in lebendiger Erfahrung als ich selber gegeben. Der »Ursprung« des Bösen liegt in jener »bodenlosen Tiefe, die mich mit Gott vereint und zugleich von ihm trennt« (DU 457, Übers. teilw. korrigiert). Mit anderen Worten: Der »Ort«, in dem das Böse gezeugt werden kann, ist der Mensch in seiner Gottmenschlichkeit. Warum der geschöpfliche Wille sich als böser Wille gegen seinen Schöpfer entscheidet, bleibt ein unergründliches Geheimnis. Die Sünde, so Franks einfühlsame Beschreibung, entspringt der Entartung der autonomen Person, die durch die Verbindung mit Gott konstituiert ist, zu einem grundlosen, vermeintlich seienden, eigenmächtigen Ich. »Die Ursünde ist der Stolz der Selbstbehauptung« (RM 336). Wenn es auch nicht möglich ist, die Ursache für das Böse zu bestimmen, so kann ich mich doch als verantwortlich für das Böse und somit als schuldig erfahren. Ursächlichkeit und Verantwortlichkeit dürfen nicht vermengt werden. »Nur in der ursprünglichen, logisch nicht mehr zerlegbaren Schulderfahrung erkenne ich transrational-lebendig das wahre Wesen des Bösen« (DU 458). Die Suche nach einem Grund für das Böse ist unfruchtbar: »Zu fragen, wie Gott mir diese Möglichkeit ontologischer Pervertierung ›geben‹ oder sie ›zulassen‹ konnte, würde bedeuten, daß man schon wieder die Tiefe und Ursprünglichkeit dessen verliert, was in der Erfahrung meiner Schuld gegeben ist, daß man vor der Verantwortung ausweicht und damit den einzig möglichen Weg des realen und lebendigen Erfassens 287 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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mysterium iniquitatis

des Bösen verläßt«. Doch nicht das Anstarren des Bösen in der eigenen Schuld läßt es begreifen: »Das einzig mögliche Begreifen des Bösen ist seine Überwindung und Tilgung durch das Bewußtsein, schuldig geworden zu sein« (DU 459 f.). Jeder Versuch, die »Ursünde« durch »Rückführung auf irgend etwas Primäres und Verständlicheres« zu erklären, scheitert. Es bleibt das mysterium iniquitatis. Wir müssen uns auf seine einfache Feststellung und Beschreibung beschränken. »Die Ursünde ist nicht von Gott vorausbestimmt, sondern wird in die positive, von Gott hervorgehende Realität eben als deren widernatürliche und widerrechtliche Entstellung hineingetragen« (RM 339). Der »Riß«, den die Sünde in dem von Gott durchdrungenen Sein verursacht hat, hat die All-Einheit verletzt, aber nicht zerstört. Durch die »Nabelschnur«, welche den Menschen mit Gott verbindet, fließt, wenngleich eingeschränkt, immer noch göttliche Lebenskraft; die Gottmenschlichkeit und damit die Befähigung des Menschen, Gottes Stimme zu hören, blieb geschwächt erhalten. Die infolge der Sünde im Menschen entstehende »Leere« wird vom sündigen Menschen als gesteigerte Eigenmächtigkeit mißverstanden; tatsächlich hat sie eine gesteigerte Labilität und Orientierungslosigkeit zur Folge. Die Sünde ist die Einbruchstelle der »vom Erstursprung des Seins abgesonderten Potentialität, der formlosen, chaotischen, dämonischen Kräfte« (RM 338) 10 . Die Tragik, welche die Geschichte der europäischen Menschheit seit der Epoche der »Aufklärung« im 18. Jahrhundert überschattet, sieht Frank darin begründet, daß sie »vollständig von einem einzigen dogmatischen Irrtum bestimmt war, nämlich von der Leugnung des Dogmas des Sündenfalls«. 11 Diese Verblendung ermöglichte die blutige Durchsetzung der Utopien der Französischen Revolution bis hin zu den Erlösungsideologien des Kommunismus und Nationalsozialismus.

Es ist bemerkenswert, daß diese Denkfigur – die »Potentialität«, die sich vom »Erstursprung des Seins« abgesondert hat und den »formlosen, chaotischen, dämonischen Kräften« Raum gibt – ein Vorbild bei Nikolaus von Kues hat. Im 3. Buch der Docta ignorantia schreibt er von der durch das Böse bewirkten Situation: Sie ist gekennzeichnet vom »finsteren Chaos bloßer Potentialität, wo es nichts Sicheres gibt« (III, cap. 10, n. 241). 11 S. L. Frank: S nami Bog, S. 276. 10

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XVI. Das Leid

Einen wichtigen Platz nimmt in Franks Denken – durch die eigene Lebenserfahrung bedingt – die Frage nach dem »Sinn des Leids« ein. Die Religionsphilosophie Das Unergründliche enthält ein eigenes Kapitel mit dieser Überschrift; die philosophische Anthropologie beschließt Frank mit Gedanken über das Leid und den Tod. Schon der Aufsatz über den »Sinn des Lebens«, geschrieben 1925 für die russische christliche Studentenschaft in der Emigration, ist in weiten Teilen dem Sinn von Leid und Tod gewidmet. Auch wo Frank sich phänomenologisch dem Leid zuwendet, geht es primär um die ontologische Frage: Was ist das Leid und was bedeutet es für das Menschsein.

1.

Das Leid – das Signum des Weltseins

Die vorangegangenen Ausführungen hatten gezeigt, daß als Folge des Sündenfalls ein »Riß« durch das geschaffene Sein geht, daß seine Einheit »geborsten« ist. Was nur Teil ist, bläht sich selbst zum Absoluten auf. Im Sein findet ein Verdrängungskampf statt, in dem das eine Realitätsmoment auf Kosten des anderen zu sein strebt. Dieser infolge der Sünde im Sein selbst liegende Widerspruch gegen die »Gemeinschaftlichkeit« (sobornost’) der All-Einheit gelangt im Leiden an die Oberfläche der Erfahrung. Das Leiden ist »Ausdruck« dieser innersten Zerstörung, so wie der seelische Zustand eines Menschen in seinen Gesichtszügen zum Ausdruck kommt. Es ist »das Schicksal der ganzen Welt, am Bösen teilzuhaben und an ihm zu leiden« (DU 447). Wie das Böse soll auch das Leid, worauf auch immer es konkret zurückgeht – auf eine moralisch böse Tat, auf eine Krankheit oder einen äußeren Unfall –, nicht sein. Das Leiden ist kein punktuelles Geschehen; es ist das Merkmal des Seins in der Welt. 289 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Leid

Der Zerfall des Seins in einander widerstreitende Elemente hat Einsamkeit zur Folge; sie ist die Grundweise des Leidens. In der Einsamkeit wird die Möglichkeit des Nichtsein erfahren. Schon das Kind, das mit seiner Not weinend zur Mutter läuft, sucht in erster Linie Geborgenheit und Trost in seiner Verlassenheit. Das Leid beim Verlust eines geliebten Menschen ist die erschreckende Erfahrung, verlassen zu sein. Die Einsamkeit wird am ausgeprägtesten in der eigenen Todesangst erfahren; die Not des Sterbenden besteht im wesentlichen im Erleben tiefster Hilflosigkeit und Einsamkeit. Die Einsamkeit ist über alle Einzelerfahrungen hinaus das Merkmal des menschlichen Selbstsein. Jeder Mensch ist einer unter vielen, zugleich ist er aber immer auch ein »absolut anderer, d. h. einziger«, der sich niemals restlos mitteilen kann und deshalb für sich bleibt. Frank bezieht Plotins Satz von der »Flucht des Einsamen zum Einsamen« (fug¼ to‰ mnou pro@ tn mnon 1 ) auf den Menschen, der, obwohl ihm die Sehnsucht nach dem anderen innewohnt, in ihm doch keine endgültige Heimat finden kann und sich deshalb nach der Fülle des Seins, nach Gott sehnt (vgl. DU 205 f.). Gerade in der Erfahrung von Verlassenheit und Einsamkeit bezeugt das Leid den Zerfall der Einheit des Seins. Frank sieht seine Auffassung im Satz des Apostels Paulus im Römerbrief bestätigt: »Der Sünde Sold ist der Tod« (Röm. 6:23). Der Tod, der als »Sold« oder »Zugabe« zur Sünde in die Welt gekommen ist und als Inbegriff alles Leids anzusehen ist, ist kein Geschehen, das in Gottes Schöpfung einen legitimen Platz beanspruchen könnte. Jedes Sterben ist letztlich erzwungen. Es ist »Ausdruck der Seinsverfassung als eines universalen, in die letzten Tiefen des Lebens reichenden Bürgerkriegs zwischen den Lebewesen«, die einander das Dasein streitig machen (DU 447; vgl. 461–462). (Nicht bestritten ist, daß der Schmerz im Dienst des Lebens stehen kann und der biologische Tod faktisch neues Leben ermöglicht. Es geht um die Erfahrung von Schmerz und Tod als widersinnig). Daß der »Zustand des kosmischen Seins« gestört ist, erkennt Frank am »Wesen der Zeit als irdischer Zeit«. Er deutet sie in seiner phänomenologisch-ontologischen Religionsphilosophie als Unruhe, die nie Befriedigung findet, als rastloses Jagen hinter einem immer entkommenden Irrlicht. Die Zeit erfahren heißt, ein sich unaufhörlich durchdringendes Sterben und Werden erfahren, in dem das 1

Plotin: Enneaden VI, 9, 11.

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Der Sinn im Leiden

Kommende das Gegenwärtige ins Nichts stößt, aber auch seinerseits vom Nachkommenden erbarmungslos ins Nichts gestoßen wird. Das Heranwachsende lebt auf Kosten des Verdrängten. Ein Reifen und Bewahren ist nicht möglich. »Dies ist der Zustand, der dem verschlossenen, gefallenen, nichtseienden Sein entspricht. Wie dies die Verfassung der vom Bösen besessenen menschlichen Seele ist, so auch die Verfassung des abgefallenen und zerfallenen weltlichen Seins« (DU 447 f.).

2.

Der Sinn im Leiden

Die Erwägungen zum Sinn des Leidens in Das Unergründliche hat Frank noch vor dem Zweiten Weltkrieg angestellt, also noch vor der Schoa im engeren Sinn. Doch auch schon 1939 reichte der Hintergrund, auf dem er die Phänomenologie des Leids entwarf, weit über die eigene individuelle und familiäre Leiderfahrung hinaus. Das Hinmorden unzähliger Menschen in seinem Heimatland während der Kollektivierung und der stalinistischen »Säuberungen« sowie die Verfolgungen und Morde, die er in seinem Exil in Deutschland vor Augen hatte, begründeten das Urteil: »Das Leiden, das aus dem Bösen hervorgeht, teilt mit ihm seine Unbegründetheit und Sinnlosigkeit und ist in diesem Sinne selbst ein Böses, das nie so ›erklärt‹ werden kann, daß es dadurch gerechtfertigt wäre« (DU 463). Als in den Jahren nach 1945 das unvorstellbare Ausmaß des Leidens, das Menschen einander zugefügt hatten, allbekannt geworden war, hat Frank noch nachdrücklicher die Einsicht entfaltet, daß eine Antwort auf die Frage nach seinem Sinn nur von Gott her gegeben werden kann. Die Bemerkungen gerade in Schriften der Nachkriegszeit über den »leidenden Gott« (s. u.) wird man deshalb auch mit dem Blick auf die Leiden in den Konzentrations- und Gefangenenlagern lesen dürfen. Frank versucht, auf die Frage Hiobs, die Frage des unmittelbar leidenden Menschen nach dem Sinn seines Leidens, eine Antwort zu geben. Allgemeine Bekundungen moralischer Betroffenheit angesichts der Greuel der jüngsten Geschichte hält er für unfruchtbar. Schon in Das Unergründliche bemerkt Frank: Wäre es von vornherein aussichtslos, auf die Frage nach dem Sinn des universalen Leids eine Antwort zu finden, »bliebe unser ganzes Sein sinnlos, trotz der Selbstevidenz seines göttlichen Urgrundes« (DU 462). Verzweiflung wäre die unausbleibliche Folge. Versucht man die Frage 291 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Leid

von Gott her zu beantworten, darf die Einsicht, daß unser Wissen von Gott ein »belehrtes Nichtwissen« ist, nicht preisgegeben werden. Unsere Vorstellung von Gott aber wäre »in gewissem Sinn wieder rationalisiert und folglich verengt und entstellt«, würden wir erwarten, unser Leben müsse, weil es aus der absoluten Vollkommenheit Gottes hervorgeht, glückselig sein. »Warum sind wir so sicher, daß das unerforschbare, namenlose oder allesgenannte Wesen dessen, den wir Gott nennen, sich in dem Merkmal erschöpft, welches wir uns als ungetrübte Glückseligkeit vorstellen?« (ebd.) In seiner unprätenziösen Sprache benennt Frank den Widerspruch, an dem das Denken scheitert. Das Leiden soll nicht sein, – aber es ist doch kein »Trugbild«, keine »Realität als Täuschung« wie das Böse. Seine Realität als nicht sein sollend steht dem Nichtsein des Bösen nahe. Ontologisch ist das Leid ein Zwischenzustand. Es ist eine »Bewegung« und zwar »zurück zur Realität«. Nietzsche, den Frank zitiert, hat diese Eigenart in Zarathustras »Nachtwandler-Lied« bündig ausgesprochen: »Weh spricht: Vergeh!« Das Leid erweist sich in dieser Bewegung zur Selbstaufhebung bereits als »wahre Realität oder Gutes« (DU 463). Dieses Weg von sich, dieses Streben, der eigenen Negativität zu entkommen, ist nicht von außen an das Phänomen herangetragen – etwa durch den Wunsch, ein Schmerz möge aufhören –, sondern liegt im Phänomen selbst. Die Erkenntnis, daß das Leid keine in sich ruhende Wirklichkeit ist, sondern ihm phänomenal die Tendenz zur Auflösung innewohnt, gilt ungeachtet der Beharrlichkeit, mit der seine physischen Voraussetzungen (seelische und körperliche Verletzungen) sich der Heilung und dem Verschwinden entgegenstemmen können. Der natürliche Mensch schleudert dem Leiden sein Nein entgegen. Wo es dennoch bestehen bleibt, wird es um so nachhaltiger in seiner Sinnlosigkeit empfunden. Der Sinn, der im Leiden liegen kann, erschließt sich nicht im Widerstand. Franks Antwort erfordert höchste Aufnahmebereitschaft: »Das reine Wesen des Leidens« und damit sein Sinn offenbart sich nur, wo es »geistig angenommen und erduldet wird«. Die Phänomenologie erweist das Leiden als Moment einer Bewegung, die aus der Nachbarschaft zum Nichts zurückführt zum Sein. Nur im freien Mitvollzug dieser Bewegung enthüllt sich der Sinn des Leidens. Er liegt in der Möglichkeit einer neuen und einzigartigen Realitätserfahrung. In Franks Vergleich: Wie eine glühende Sonde reinigt, so erweitert das frei angenommene Leiden unsere geistigen Atemwege und öffnet uns dadurch »den freien Zugang 292 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der Sinn im Leiden

zur beseligenden Tiefe der wahren Realität«. »Das schnellste Roß, das dich zur Vollendung trägt, ist das Leiden«. Dieser Satz des Meister Eckhart muß dem Philosophen viel bedeutet haben, denn er zitiert ihn sowohl in seiner Religionsphilosophie als auch in seiner Anthropologie. Auch hier wird die »Bewegung« betont, welche zur Vollendung führt. »Vollendung« bedeutet ungebrochene, vollkommene Einheit mit der Realität, die freilich niemals zur Auslöschung der lebendigen individuellen Unterschiede führt. Der Satz aus der Apostelgeschichte (14:22), daß wir »durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes gelangen müssen« (vgl. DU 464; hier sinnwidrig übersetzt), ist für Frank keine beiläufige Bemerkung, sondern Bestätigung eines wesentlichen Zusammenhangs. Er geht so weit zu sagen, daß ohne Erfahrung von Leid keine Seligkeit möglich ist. Das Wort der Bergpredigt, das die »Trauernden« selig preist und ihnen Trost verheißt, versteht er im Sinne einer Bedingung: Allein die Leidenden und Trauernden werden Trost erfahren. »Trost« ist hier nicht der Zustand, der sich einstellt, wenn das Leid erduldet und schließlich vorüber ist, also eine Art Belohnung der Standhaftigkeit. »Trost« bedeutet vielmehr die im Erdulden selbst gemachte Realitätserfahrung. Anders gesagt: In der freien Annahme des Leidens geschieht die »Rückkehr der Schöpfung zu Gott« – denn in der duldenden Annahme wird Gott, der Inbegriff der Realität, in seiner Fülle neu erkannt und anerkannt. Diese Erfahrung ist nicht mit einem einzelnen Willensakt abgeschlossen; die mit ihr angestoßene »Bewegung« führt in die unergründliche Tiefe der Realität Gottes. Sie führt damit in ein mysterium, das immer zugleich ein mysterium tremendum und fascinans ist, wie Frank in seiner Phänomenologie der Liebe ausführt. Der Gedanke, daß gerade im duldenden Leiden »der schwere Aufstieg zur himmlischen Seligkeit« seinen Anfang nimmt, daß in ihm eine wunderbare Teilnahme am »unzugänglichen Mysterium des göttlichen Lebens« geschieht, ist gewiß schwer zu verstehen. Frank sagt denn auch: Die Seele muß sich »in die Tiefe hinein« geöffnet haben, um das Gemeinte nachvollziehen zu können. Es ist, wie er betont, ein »notwendig antinomischer und antagonistischer Weg« auf dem uns Gott »den Triumph der wahren Realität« schenkt (DU 465). Indem der Mensch sein Leiden erträgt, offenbart Gott sich ihm in einer Tiefe, die ihm sonst verschlossen bleibt. Frank macht noch auf einen weiteren Aspekt der freien Annahme des eigenen Leids aufmerksam. In ihr geschieht eine Wiederher293 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Leid

stellung dessen, was durch die Sünde zerstört ist – durch die »Sünde als solche«, nicht allein durch die eigenen Verfehlungen. Die »allgemeine Sünde«, wie Frank sie auch nennt, besteht im Zerfall der All-Einheit des Seins, der sich, bildhaft gesprochen, im »Bürgerkrieg« äußert, in dem die Elemente sich gegenseitig verdrängen. Weil im frei erduldeten Leiden die Realität neu erfahren, und das heißt auch, als All-Einheit neu aktualisiert wird, wird der im Bösen geschehene »Abfall« vom Sein wiedergutgemacht (DU 464). Im Sinne Franks soll noch bemerkt werden, daß die »freie« Annahme des Leidens nichts zu tun hat mit einem Wunsch zu leiden. Ebensowenig ist das freie Erdulden des Leidens mit einem passiven Geschehenlassen identisch. Die duldende Annahme des eigenen Leids ist sehr wohl mit dem Kampf gegen Schmerz und Leid vereinbar.

3.

Der leidende Gott

Franks Phänomenologie des Leids geht über die Grenze dessen, was »allgemein« als Erkenntnis gewonnen werden kann und anerkannt wird, weit hinaus. Seine Deutung hat ein Gottesbild zur Voraussetzung, demzufolge Gott nicht nur von außen am Schicksal des Menschen interessiert ist, sondern an ihm selbst teilnimmt. Wie alles Positive gehört auch der Realitätsgehalt, der im Erdulden des Leidens liegt, zu Gott und vollendet sich in ihm. So ergibt sich für Frank die für sein Gottesbild gewichtige Aussage: Es ist ganz und gar abwegig zu glauben, »Gott verharre angesichts des Welt-Leidens im Zustand ungetrübter seliger Ruhe«. Man darf die »absolute Vollkommenheit und somit auch Seligkeit Gottes« nicht als »grenzenlosen Selbstgenuß, als Wohlbefinden und monoton unbewegliche Ruhe« denken. Sie »ist nur denkbar oder, genauer, erspürbar, als Fülle allumfassenden – und somit auch die Gegensätze umfassenden – unerforschlich tiefen und sinnerfüllten Lebens«. Wahr ist deshalb: Gott »ist ewig abgeschiedene, transzendente Ruhe« und »zugleich hat er doch Teil am Welt-Leiden, ›nimmt‹ es ›auf sich‹ und empfindet mit uns die ganze Tragödie des Weltseins. Gerade darin manifestiert er sein Wesen als sinngebender Urgrund und Ursprung jeglichen Seins«. Durch Leiden kehrt die Schöpfung zu Gott zurück; diese Rückkehr im Leiden vollendet sich »in Gott selbst« (DU 465–466). Damit ist nicht nur der Schöpfung und dem Menschen in ihr, sondern auch dem Schöp294 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Der leidende Gott

fergott selbst »ein schwerer, leidvoller Weg beschieden. Denn am Gang des Weltseins bis zur Vollendung durch tragisches Ringen nimmt Gott selbst teil. Zugleich aber ist es diese Anteilnahme, welche den Sieg am Ende verbürgt« (RM 390). Ist diese Erlösung auf der Ebene des zeitlichen Seins nur in unbestimmter Zukunft denkbar – »gleichsam unendlich weit von uns entfernt« – so muß sie doch »in metaphysischer Hinsicht als überzeitlich seiend gedacht werden«. In unserer Sprache, die der Kategorie der Zeitlichkeit unterworfen ist, kann das nur so ausgedrückt werden, »daß dieser Sieg sich in den metaphysischen Tiefen des Seins bereits ereignet hat und nur noch auf der empirischen Ebene Frucht bringen und sich enthüllen muß« (RM 390). In Das Unergründliche bemerkt Frank, die Einsicht, daß das eigene Leiden »infolge der All-Einheit des Seins ein Leiden für die allgemeine Sünde, für die Sünde als solche« und somit eine »Sühne« ist, durch welche die Schöpfung zu Gott zurückkehrt, sei als »allgemeine und ewige Offenbarung« anzusehen. Mit ihr sei »die allgemeine Idee des Opfers« ausgesprochen, die wir in fast allen Religionen antreffen. Sie sei als solche auch in der »konkret-positiven christlichen Offenbarung vom leidenden Gottmenschen, der sich als Sühneopfer für die Sünde der Welt darbringt«, enthalten (DU 464 f.). In seinen späteren Schriften hat Frank diese »allgemeine« Deutung des Sühneopfers nicht wiederholt. Zweifellos gibt es in vielen Religionen die Idee des Opfers und der Sühne. Daß aber Gott das Leben des Menschen als sein eigenes annimmt und dessen Sünde durch sein Lebensopfer sühnt, setzt den Glauben an die Menschwerdung Gottes voraus und bleibt ohne sie schlechthin unverständlich, ja widersinnig. Weder der Hinduismus noch der Buddhismus noch der Islam, geschweige denn irgendwelche Philosophie können mit einem Gott, der das Todesleiden des Menschen leibhaft mitleidet und ihn so zur Fülle der Realität führt, etwas anfangen. Diese Lehre ohne Rückgriff auf das christliche Evangelium von Tod und Auferstehung des Gottessohnes zu begründen, kann schlichtweg als ausgeschlossen gelten. Zu Recht betont Frank, daß »die letzte Einheit Gottes einigermaßen angemessen nur in der Einheit des Schöpfers mit der Schöpfung« erfaßt werden könne (DU 466). Unausgesprochen impliziert diese »Einheit« die Inkarnation, in der das Selbstsein und die Selbstverantwortung des Menschen Jesus nicht in Gott aufgelöst sind. Unter der Voraussetzung der Menschwerdung Gottes wird denkbar, worauf es Frank mit der »allgemeinen, ewigen Offenbarung« an295 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Leid

kommt, daß es auch außerhalb der expliziten Nachfolge des leidenden Christus möglich ist, das eigene Leiden anzunehmen und so mit der Realität in ihrer Fülle eins zu werden. Die Einheit Gottes mit der Schöpfung, die auch die Erfahrung des Leidens umfaßt, kann nur im »belehrten Nichtwissens« gedacht werden. »Gott ›an sich‹ ist weder das eine noch das andere, wie er überhaupt auch kein ›dieses oder jenes‹ ist. Nur in unserer menschlichen Annäherung ist er die antinomische Einheit des einen und anderen. Nur in dieser unergründlichen und unsagbaren Form ist er die absolute Vollkommenheit, in der wir die beseligende ewige Heimat finden – unseres ›Ich‹ und des Weltseins« (DU 466). Die Idee des »leidenden Gottes« hat eine alte christliche theologische Tradition. 2 Wjatscheslaw Iwanow (1866 – 1949), mit dem Frank in Verbindung stand, hat sie literarisch gestaltet.

4.

Shneopfer und stellvertretendes Opfer

Das Opfer ist aus der christlichen Spiritualität nicht wegzudenken. In ontophänomenologischer Hinsicht hatte bereits Das Unergründliche zum Sinn des Opfers Stellung genommen, indem es die freie Bejahung des Leidens als Rückkehr der Schöpfung zur Fülle der Realität bestimmte. In der Schrift aus der Kriegszeit Mit uns ist Gott 3 nimmt Frank nochmals die Frage nach dem Sinn von Opfer und Sühne auf. Er ist sich offenbar sehr bewußt, daß das menschliche Miteinander bis in die Wurzel vergiftet ist, wenn es keine Bereitschaft gibt, Schuld zu sühnen. Franks Gedanken, die sich hier ganz innerhalb der christlichen Spiritualität bewegen, sind auch ein Beitrag zur gegenwärtigen theologischen Diskussion um den Sinn des stellvertretenden Opfers im Neuen Testament. Das »moderne Bewußtsein« betrachtet den Opfergedanken, zumal in Bezug auf das Leiden und den Tod Papst Johannes II. bekräftigte in einem Brief im Jahre 534 (»Olim quidem«) an die Senatoren von Konstantinopel, daß die Redeweise, »Gott hat im Fleische gelitten«, rechtgläubig ist. In diesem Sinne warnt auch K. Rahner vor der irrigen Auffassung, das Leiden Christi am Kreuz sei nur das Leiden des irdischen Menschen Jesus: »Der ›unwandelbare Gott‹ hat zwar ›an sich selbst‹ kein Schicksal und so keinen Tod, aber er selbst (und nicht nur das andere) hat am anderen durch die Inkarnation ein Schicksal. […] Der Tod Jesu gehört zur Selbstaussage Gottes« (Grundkurs des Glaubens, S. 297 f.). 3 S. L. Frank: S nami Bog. Tri razmys ˇ lenija. In: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva. Moskau (Respublika) 1992. S. 217–404. 2

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Shneopfer und stellvertretendes Opfer

Christi, wie schon Frank bemerkte, als einen »Überrest primitiver, barbarischer religiöser Vorstellungen, die Gott als erbarmungslosen Tyrannen sehen, den man nur mit den furchtbaren Mitteln menschlicher Opfergaben gnädig stimmen kann«. Für das »›aufgeklärte‹ Bewußtsein ist die Idee des Opfers überhaupt das Erbe einer primitiven Religiosität, die wähnt, man könne […] die Gunst und Geneigtheit Gottes ebenso wie die eines Menschen verdienen, indem man ihm ein angenehmes Geschenk macht, einfacher gesagt, ihn besticht« (S nami Bog 340). Frank bleibt auch hier seinem methodischen Prinzip treu, indem er von der inneren, seelischen Erfahrung des Schuldigen ausgeht, der sich bewußt wird, etwas objektiv Heiliges willentlich verletzt, d. h. gesündigt zu haben. Ihre phänomenologische Analyse deckt den inneren Zusammenhang von Erlösung und Sühne auf. Zunächst geht es um die Sühne des Schuldigen angesichts der eigenen Tat und nicht um die Sühne, die der Unschuldige stellvertretend für den Schuldigen leistet. (Es geht auch nicht um die Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens, die selbstverständlich ist.) Der Schuldige, den das Gewissen ob seiner bösen Tat anklagt, sucht nach einer Beruhigung seines Gewissens; aber er findet keine entlastende Erklärung. Unerbittlich sagt ihm das Gewissen, daß er niemanden anderen für seine Tat verantwortlich machen kann, sondern selbst die Verantwortung trägt. Gerade sein Schuldbewußtsein sagt ihm unmißverständlich, daß er sich gegen den absoluten Wert des Guten und Heiligen versündigt hat. Indem er sich in seinem Gewissen schuldig spricht, »hat er zugleich das Bewußtsein, daß sich gerade in dieser immanenten Selbstverurteilung das Gericht Gottes vollzieht«. Die verurteilende Stimme des Gewissens wird als Stimme Gottes erkannt. »Nur in dieser immanenten Form ist die Theonomie, die Unterordnung des Menschen unter das Gericht und Gesetz Gottes, gerechtfertigt und notwendig. Die Theonomie vollzieht sich hier von innen durch die menschliche Autonomie, durch das […] Urteil des eigenen Gewissens«. Die Erkenntnis, selbst verantwortlich für die böse Tat zu sein, kann sie jedoch nicht ungeschehen machen; die Gewissensqual kann sich nicht selbst auflösen. Das »sittlich-religiöse Bewußtsein« erfährt dabei eine eigentümliche, rational nicht zu erklärende Dialektik. Einerseits bin ich von dem Gedanken erfüllt, daß die verurteilende Stimme meines Gewissens, die ich nicht zum Schweigen bringen kann, das Urteil Gottes selbst ist, also nicht einmal Gott mich befreien kann. Wenn ich dennoch auf Gottes Ver297 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Das Leid

gebung hoffe, muß ich einsehen, daß mir auch diese Vergebung nicht hilft, denn ich selber bin es ja, der mich verurteilt. Obwohl für den Verstand die Lage ausweglos ist, hofft der Mensch doch auf seine Befreiung, und gerade in dieser Situation »entsteht die für den Verstand unbegreifliche, für das sittliche Bewußtsein aber ganz evidente Idee einer Sühne der Schuld durch Leiden« (S nami Bog 342 f.). Dem Schuldigen wird bewußt, daß er nur durch die Annahme des Gewissensschmerzes sein Gewissen befreien kann. Der Gewissensschmerz wird, wenn er als gerechtfertigt angenommen wird, eben dadurch als läuternde und erlösende Strafe erfahren. Die Selbstverurteilung ist eo ipso auch die Anerkennung des Heiligen und Guten, das durch die Sünde verletzt worden war. In der auf die Selbstverurteilung folgende Annahme der Gewissensschmerzen »bringt der Mensch sich selbst dem Guten und Wahren zum Opfer, vor dem er schuldig geworden ist – das heißt Gott«. Entschieden weist Frank die Behauptung zurück, daß die Einsicht, für das verübte Böse leiden zu müssen, auf eine psychologische Introversion zurückgehe, in der die Erfahrung, daß eine Rechtsverletzung Strafe zur Folge habe, in das Innere der Seele verlagert werde. In dieser Behauptung geschehe eine petitio principii, denn es ist die moralische Selbstverurteilung, die überhaupt erst den juristischen Urteilsbegriff begründet, und nicht umgekehrt. Aber wichtig ist noch ein weiterer Aspekt. Das »wahrhaft erlösende Opfer« kann nicht darin bestehen, »finster und nahezu verbittert zwecklose Leiden auf sich zu nehmen«. Das Opfer, das Gott, der die Liebe ist, dargebracht wird, muß ein Opfer der Liebe sein. Im Vollzug dieser Einsicht wandelt sich, was zuvor als Strafe getragen wurde, »in eine freie Gabe. Gerade in dieser Umwandlung, in der Geisteshaltung der freien Hingabe und Selbstaufopferung, vollzieht sich die geheimnisvolle Erlösung, die geistige Wiedergeburt und Heilung des Menschen« (S nami Bog 344). Diese Überlegung geht davon aus, daß, wo sittliche Schuld vorliegt, nur der Schuldige selbst das Opfer sein kann, und zwar dem Guten und Wahren gegenüber, gegen das er sich versündigt hat. Wie ist unter dieser Voraussetzung das Sühneopfer Christi zu verstehen, das er, der Schuldlose, stellvertretend für die Schuldigen bringt? Um zeigen zu können, daß Jesu Opfer, mit dem er die »Sünde der Welt« stellvertretend sühnte, ein freies Opfer war, beantwortet Frank auch diese Frage ganz vom Bewußtsein Jesu her (ein »Sünden298 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Shneopfer und stellvertretendes Opfer

bock«, dem die Schuld aufgeladen wird, trägt sie unfreiwillig). Um dieses Bewußtsein verständlich zu machen, erinnert Frank zunächst daran, daß auch ein Kollektiv an einem Verbrechen (sei es durch Gleichgültigkeit oder Eigennutz) schuldig werden kann und für seine Schuld einstehen muß. Es gibt also einen den Einzelnen übergreifenden Verantwortungszusammenhang. Der alle Menschen umfassende »organische wechselseitige Zusammenhang der menschlichen Seelen und Leben« begründet einen universalen Verantwortungszusammenhang. Ein Mensch mit einem wachen sittlichen Bewußtsein wird darum jede böse Tat als eine erleben, für die nicht allein der aktuelle Täter verantwortlich ist, »sondern auch der, der sie zuläßt oder der durch seine Handlungen und Unterlassungen der Entstehung der sündigen Absicht des anderen Vorschub leistete« (S nami Bog 344). Bei einem empfindsamen sittlichen Menschen wird die Tiefe des Verantwortungsbewußtseins nicht vom Maß seiner objektiven persönlichen Teilnahme an der Sünde bestimmt werden, vielmehr wird sie ihr »umgekehrt proportional« sein. Sein Verantwortungsbewußtsein wird von der Fähigkeit abhängen, »fremde Schuld als eigene zu erleben und mit den Menschen mitzuleiden, die sich unter dem Joch der Sünde quälen«. Das Gefühl der Verantwortlichkeit kann dazu führen, daß jener Mensch selbst an der Sündhaftigkeit des Menschen leidet; es kann in ihm »den freien Wunsch« wecken, aus Liebe sich mit dem anderen zu solidarisieren, »das heißt, die Leiden zu tragen und das Opfer zur Sühne der fremden Schuld auf sich zu nehmen« (S nami Bog 345). Denn die Liebe überwindet die Grenze, die den einen Menschen moralisch vom anderen trennt; »sie überwindet eben damit auch die Individualität der Verantwortung und nimmt freiwillig die Last fremder Verantwortung auf sich. Dies ist der wahre, erhabene Sinn des stellvertretenden Opfers« (ebd.). Frank nennt Christi stellvertretendes Sühneopfer das »Unverständlichste und Rätselhafteste im christlichen Bewußtsein«. Denn in diesem Opfer ist Gott selbst vereint mit der Schöpfung den »Leidensweg« gegangen. In Christi Todesangst und in seinem Tod am Kreuz »hat Gott alles Leid der Welt auf sich genommen« und »sich selbst in Christi Gestalt [v Ego lice] auf geheimnisvolle Weise zum Sühneopfer [iskupitel’naja zˇertva] gebracht« (S nami Bog 345). Frank schließt seine Erwägungen mit der Bemerkung, daß der Zweifel Hiobs an der Gerechtigkeit Gottes und damit die Problematik der Theodizee allein im Leiden des Gottmenschen seine Antwort finden kann und gefunden hat. So unbegreiflich dieses »stellvertretende 299 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Opfer« auch erscheint, so ist doch »die Idee des in die Welt gekommenen, freiwillig leidenden, an den menschlichen weltlichen Leiden teilnehmenden Gottes – des leidenden Gottmenschen – die einzig mögliche Theodizee, die einzig überzeugende ›Rechtfertigung‹ Gottes«. In ihr liegt »die wahre Rettung der Welt«, weil durch sie »für immer« »die alles bezwingende Freude« darüber begründet ist, daß Gott und Welt in »liebender Gemeinschaft und Solidarität« vereint sind (S nami Bog 346).

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XVII. Nikolaus von Kues – der Lehrer 1

Nikolaus von Kues ist »in gewissem Sinne für mich der einzige Lehrer der Philosophie«, schreibt Frank in Das Unergründliche, und von seinem eigenen Buch sagt er, es wolle im Grunde nichts anderes, als auf neue Weise »eine systematische Entfaltung des Grundprinzips seiner Weltanschauung, seiner Art, die ökumenische christliche Wahrheit spekulativ auszudrücken« 2 . Frank war auf Nikolaus aufmerksam geworden, als er sich vor dem Ersten Weltkrieg in der Vorbereitung seiner Habilitationsschrift mit dem Neukantianismus auseinandersetzte. 3 Im Vorwort zu seinem Werk über den Gegenstand des Wissens schreibt er: »Die Rechtfertigung des Realismus ist nur durch die Einsicht in die Irrigkeit des Rationalismus möglich. Dieses gesamte Wechselverhältnis ist in den vortrefflichen, energischen und geistreichen Worten des Nikolaus von Kues ausgedrückt, in denen wir unsere allgemeine Weltauffassung zusammenfassen können: ›Es läßt sich nicht leugnen, daß ein Ding seiner Natur nach zuerst ist, bevor es erkennbar ist. Daher erreichen weder Sinne noch Vorstellungskraft noch Vernunft die Weise des Seins, liegt sie doch all dem voraus. … Also gibt es von der Weise des Seins kein Wissen; mag Zu den neuesten Publikationen über Nikolaus von Kues siehe M. Thurner: Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues. Berlin (Akademie-Verlag) 2001. M. Thurner (Herausg.): Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Berlin (Akademie-Verlag) 2002. J. Hoff: Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues. Freiburg (Alber) 2007. Teilweise sind die folgenden Ausführungen enthalten in: P. Ehlen: Nikolai Kuzanskij kak ucˇitel’ Semena Ljudvigovicˇa Franka. In: Nasledie Nikolaja Kuzsanskogo i tradicii evropejskogo filosofstvovanija. Verbum, Vypusk 9, St. Peterburg 2007. 2 Der Satz »In gewissem Sinne ist er für mich der einzige Lehrer der Philosophie« fehlt in der deutschen Ausgabe S. 24! 3 In seiner Abhandlung Spinozas Lehre von den Attributen in »Voprosy filosofii i psychologii«, September/Oktober 1912, erwähnt Frank Nikolaus von Kues nur einmal beiläufig zusammen mit Giordano Bruno. Der Schluß liegt nahe, daß Frank zu dieser Zeit noch keine nähere Kenntnis des Cusanischen Werkes hatte. 1

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Nikolaus von Kues – der Lehrer

auch mit höchster Gewißheit geschaut werden, daß es eine solche Weise gibt. Wir haben also eine geistige Schau, die den Blick auf das richtet, was vor aller Erkenntnis liegt‹«. Frank nennt Nikolaus hier »den Wegbereiter und Vorläufer der gesamten neuen Philosophie« (GdW 82; 84 4 ). Als Frank nach dem Zweiten Weltkrieg an seiner Anthropologie arbeitete, umriß er in einem Brief an den in Rom lebenden Philosophen und Schriftsteller Wjatscheslaw Iwanow das Anliegen, das er mit seinem Werk verfolgte; dabei unterstrich er auch die Bedeutung, die er Nikolaus zuerkannte: Die »Gottessohnschaft des Menschen ist die Grundlage jeglichen ›Humanismus‹«. Diese Erkenntnis aber ist in der kirchlichen Tradition weithin überdeckt, teils durch die alttestamentliche Betonung der Geschöpflichkeit des Menschen, teils durch den antiken Gedanken, daß der Mensch dem Kosmos untergeordnet sei. »In der geistigen Geschichte des Westens gab es nur einen kurzen Augenblick als im Schoß der Kirche selbst sich ein ›christlicher Humanismus‹ abzeichnete. Seinen tiefsten Ausdruck fand er im theologisch-philosophischen System eines gläubigen Katholiken, des Kardinals Nikolaus von Kues, eines der größten, bis jetzt nicht geschätzten Denkers – und für mich des hauptsächlichen Lehrmeisters […]« 5 . Ähnlich formuliert Frank in seiner Anthropologie (RM 274). Frank zeigt sich als guter Kenner des Cusanischen Denkens; besonders ist das in dem seiner Erkenntnislehre angefügten Exkurs zur »Geschichte des ontologischen Gottesbeweises« zu erkennen. Ausdrücklich erwähnt oder zitiert er die Schriften De docta ignorantia, De coniecturis, Idiota de sapientia, De dato patris luminum, De beryllo, De visione dei, De venatione sapientiae, De non aliud, das Compendium, den Trialogus de possest, De apice theoriae. Die Ausgabe, nach der er zitiert, ist der Pariser Druck von 1514. 6 Die Fragen, die durch die Auseinandersetzung mit Kant und Fichte angestoßen, aber nicht befriedigend beantwortet waren, fand Frank zitiert aus Nikolaus von Kues: Compendium, cap. 1 (vgl. die Übersetzung von B. Decker und K. Bormann; Hervorhebungen sind von mir). 5 Brief an Vjac ˇ eslav Ivanov vom 17. Juni 1947. In: S. L. Frank: Russkoe Mirovozzrenie. St. Petersburg 1996, S. 97. 6 Den Traktat »De non aliud« kannte Frank auch aus dem Anhang zum Buch »Die Gotteslehre des Nikolaus Cusanus«, das Johannes Uebinger 1888 veröffentlicht hatte. Eine deutsche Übersetzung der »Docta Ignorantia« von Alexander Schmid war 1919 bei Hegner erschienen; ob Frank sie herangezogen hat, ist nicht zu erkennen. 4

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Die Gewißheit des Absoluten

Frank bei Nikolaus von Kues aufgenommen. Gerade in methodischer Hinsicht wurde Cusanus, indem er die transzendentale Frage nach der Erkenntnis des Seins einer neuen Lösung zuführte, zu Franks Lehrer. Bei ihm fand Frank die argumentative Begründung einer real-idealistischen Ontologie und, darauf aufbauend, eines christlichen Humanismus. Frank hatte als Philosoph des 20. Jahrhunderts in Nikolaus auch deshalb seinen Lehrer finden können, weil dieser bereits wesentliche Anliegen des neuzeitlichen Denkens aufgenommen hatte, nicht zuletzt den Ausgang vom Erkenntnisstreben des Subjekts. Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, die geistige Verwandtschaft beider Denker im einzelnen aufzudecken. In diesem Kapitel sollen jedoch nur einige markante Gedanken des Cusanus hervorgehoben werden, die als mögliche Anregungen für Franks Philosophieren zu erkennen sind, um die Hochschätzung, die Frank ihm als seinem Lehrer entgegenbringt, verständlich zu machen.

1.

Die Gewißheit des Absoluten

Der Grundgedanke der Cusanischen Philosophie, schreibt Frank, besteht in der Lehre, daß Gott dem begrifflichen Wissen, das nur Begrenztes erfaßt, unzugänglich ist, daß Gott aber auf die besondere Weise des »belehrten Nichtwissens« gewußt wird. Sowohl in Franks Erkenntnislehre als auch im ersten Teil von Das Unergründliche spielt der Aufweis, daß unser Wissen durch Unterscheiden und Bestimmen gewonnen wird und deshalb die Fülle des Unbegrenzten zur notwendigen Voraussetzung hat, die zentrale Rolle. Deutlich ist an ihm das Cusanische Vorbild zu erkennen. Cognoscere enim mensurare est, heißt es lapidar bei Nikolaus. 7 Die Genauigkeit jeder Unterscheidung aber kann unaufhörlich verfeinert werden, so daß man sich in der endlosen Präzisierung des Gemessenen verlieren könnte. Soll überhaupt Messen und Unterscheiden möglich sein, muß den Unterscheidungen und Bestimmungen etwas wesentlich nicht Meßbares vorausliegen, das deshalb auch nicht wie ein gewöhnliches Maß an einen Gegenstand angelegt werden kann. Es kann, weil es selber nicht gegenständlich und begrenzt ist, auch nicht mit einem Begriff erfaßt und im gewöhnlichen Sinne »gewußt« Nicolaus Cusanus: De beryllo, cap. 39, n. 71. – Die opera rationis geschehen per discretionem: Nicolaus Cusanus: Idiota de sapientia I, n. 5.

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werden. 8 Die außerhalb jeden Vergleichs stehende Bedingung des Messens und Unterscheidens, das Nikolaus deshalb auch das non-aliud nennt, ist, wie Frank in seiner Erkenntnislehre bemerkt, das Prinzip, welches der Unterscheidung von idem und aliud und damit jeglicher Bestimmung vorausgeht und sie ermöglicht (GdW 289). Es muß, weil nicht mehr meßbar, absolut sein. Das begrifflich nicht wißbare absolute Sein – Nikolaus nennt es auch einfach die »Weisheit« (oder das Eine oder die Einheit) – ist in unserem Erkennen als Bedingung unseres Bestimmens anwesend; wir »wissen« es vor jeder Bestimmung in einer besonderen Weise der Erfahrung oder Anschauung. Nikolaus beruft sich auf die evidente Einsicht, daß das Meßbare, weil es das Zusammengesetzte ist, »von Natur aus später« ist als das Einfache. Die Überzeugung, die Nikolaus in seiner kleinen anschaulichen Schrift Der Laie über die Weisheit zum Ausdruck bringt, ist auch die Franks: In ihr bemerkt der wahrhaft wissende »Laie«, daß die »Weisheit« als das Eine und Einfache ungeachtet ihrer Verborgenheit doch zugleich so offenkundig ist, daß sie gleichsam »draußen auf den Straßen ruft«. Das Wissen von ihr ist kein Geheimwissen in der Art einer Gnosis, das nur wenigen Auserwählten zugänglich wäre. Im Gegenteil, das Absolute ist uns gewisser als die Vielzahl der Weltdinge. Mehrmals betont Nikolaus, und Frank folgt ihm hierin, daß dem Absoluten gegenüber, weil es die Bedingung jegliches Denkens ist, ein Zweifel widersinnig ist, denn er müßte (in einem performativen Widerspruch) voraussetzen, was er bezweifelt. 9 Es gibt nichts, durch das man dieses Eine ersetzen könnte, denn jedes »andere« wäre etwas Bestimmtes und Begrenztes. In seiner Erkenntnislehre bemerkt Frank, Nikolaus habe in seinem Traktat De possest »mit genialem Scharfblick und in schlichter Form« die Erkenntnis ausgesprochen, daß jede Negation immer ein Sein voraussetzt. »Das Sein, das sie voraussetzt, ist also vor der Verneinung […]; es ist vor dem Nichtsein« (GdW 195). 10 Was Frank hier unter erkenntnistheoretischer

»Das, wodurch, aufgrund wessen und worin alles Meßbare gemessen wird, ist durch kein Maß zu erreichen« [Id, per quod, ex quo et in quo omne mensurabile mensuratur, non est mensura attingibile]: Nicolaus Cusanus: Idiota de sapientia I, n. 6. Ferner: De docta ignorantia I, cap. 3; De coniecturis II, cap. 16, n. 164–167. 9 Nicolaus Cusanus: Idiota de sapientia II, n. 29+30. – Trialogus de possest, n. 67. – De beryllo, cap. 6, n. 7. – De visione dei, cap. 6, n. 21. 10 Nicolaus Cusanus: De possest, n. 66. 8

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Wissen als ungegenstndliche Erfahrung

Rücksicht sagt, wird in Das Unergründliche unter Rücksicht der philosophischen Gotteserkenntnis weitergeführt.

2.

Wissen als ungegenstndliche Erfahrung

Das Wissen des Absoluten auf die Weise des belehrten Nichtwissens hat den Charakter einer lebendigen Erfahrung. Auch die im Anschluß an Fichte von Frank schon früh gewonnene Einsicht, daß Philosophie »Lebensverstehen« sein soll, ist von Nikolaus aufgenommen und vertieft worden. Der Schrift Der Laie über die Weisheit hatte Frank den Satz entnommen, den er seiner Religionsphilosophie als Motto voranstellte: »das Unberührbare wird auf die Weise des Nichtberührens berührt« – attingitur inattingibile inattingibiliter. Um den lebendigen Charakter dieses Berührens zu unterstreichen, spricht Nikolaus mit dem Vokabular der Mystik auch vom »Schmekken« dessen, was auf verborgene Weise alles durchdringt. Die »Weisheit« – das lebendig erfahrene Sein – kann von unserem geistigen Geschmackssinn nicht objektiviert werden und ist nicht isoliert für sich allein zu schmecken. Doch »strahlt« sie in den vielen Dingen »wider« (in omnibus reluceat) und veranlaßt uns, nach ihrem Ursprung zu suchen. 11 Nikolaus vergleicht sie darum mit einer nicht unmittelbar zugänglichen Duftquelle. Sobald man deren Duft aufnimmt und schmeckt, hat man einen »unschmeckbaren Vorgeschmack« (praegustatio ingustabilis) von seiner Quelle und sucht nach dieser selbst. In seiner Schrift Über das Schauen Gottes sagt Nikolaus, daß Gott in einem »Vorgeschmack« in den Dingen erfahren wird. Denn wer den Weltdingen auf den Grund geht, vermag mit seiner mens (»Gemüt« 12 ) Gott »auf die Weise des Nicht-Schmekkens« zu »schmecken«. »Deine Lieblichkeit schmecken bedeutet, die 11 »Durch die Weisheit nämlich und aufgrund ihrer und in ihr ist alles innere Schmekken. Sie selbst aber, weil sie in den höchsten Höhen wohnt, ist in allem Geschmack nicht zu schmecken. Unschmeckbar also wird sie geschmeckt, weil sie höher ist als alles Schmeckbare, sei es sinnenfällig, verstandesmäßig oder vernunfthaft.« [Per sapientiam enim et ex ipsa et in ipsa est omne internum sapere. Ipsa autem, quia in altissimis habitat, non est omni sapore gustabilis. Ingustabiliter ergo gustatur, cum sit altior omni gustabili, sensibili, rationali et intellectuali]: Nicolaus Cusanus: Idiota de sapientia I, n. 10. Nikolaus verbindet sapientia mit sapere (schmecken, kosten) und bringt so zum Ausdruck, daß die Weisheit nicht begrifflich erkannt, sondern erfahren werden muß. 12 K. H. Volkmann-Schluck übersetzt »mens« als »Gemüt«: Nikolaus Cusanus. Frankfurt a. M. 1957, S. 68.

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Süße alles Guten in ihrem Ursprung erfahrungsmäßig (experimentali contactu) wahrnehmen, bedeutet, den Gehalt von allem, was überhaupt erstrebenswert ist, in deiner Weisheit berühren«. 13 Der Ausdruck »experimentalis contactus« unterstreicht nochmals, daß das »Berühren« des Unbegreiflichen (incomprehensibile) durch die »mens« ein Akt geistiger Erfahrung ist, vergleichbar dem inneren Angerührtwerden bei der Begegnung mit einer anderen Person. Die in De visione dei beschriebene geistige Erfahrung schildert den experimentalis contactus der menschlichen mens mit dem Angesicht, dem Du Gottes, dem »Ur-Bild« und der »Ur-Wahrheit« aller Angesichte. 14 Nikolaus benutzt häufig auch das Wort »sehen« (das mit dem Begriff der »Intuition« aufgenommen wird). 15 Doch wer die »ewige Weisheit oder den Ursprung des Erkennens sehen« will, muß bereit sein, sich einer »Brille« (eines »beryll«) zu bedienen. Er muß sich »belehren« lassen, damit er sieht, wie das, was nicht mehr größer sein kann, in eins fällt mit dem, was nicht mehr kleiner sein kann. Er »sieht« dann den unteilbaren »Ursprung«, der vor jeder Unterscheidung in Großes und Kleines liegt und durch den alles in Großes und Kleines unterschieden werden kann. 16 Diese »Brille« erlaubt es, das viele Verschiedene zur absoluten Einfachheit zu transzendieren, die über dem vielen Kleinen und Großen ist, – und nicht die bloße Summe oder ein Mittleres zwischen den vielen möglichen Erkenntnisgegenständen. Wenn das »Berühren« des Unberührbaren auch keine mystische Begnadung voraussetzt; so erfordert es doch das Eingeständnis, daß der menschliche Verstand diesen »contactus« nicht mit der ihm eigenen logischen Stringenz erzwingen kann. Es ist, wie Nikolaus sagt, »Denn deine Lieblichkeit zu schmecken bedeutet erfahrungsmäßig die Süße von allem Erfreulichen in seinem Ursprung wahrzunehmen, bedeutet, in deiner Weisheit den Gehalt von allem Ersehnbaren zu berühren. Den absoluten Gehalt sehen, welcher der Gehalt von allem ist, ist nichts anderes als mit dem Geist dich, Gott, zu schmecken, denn du selbst bist die Lieblichkeit des Seins, des Lebens und der Vernunft«. [Gustare enim ipsam dulcedinem tuam est apprehendere experimentali contactu suavitatem omnium delectabilium in suo principio, est rationem omnium desiderabilium attingere in tua sapientia. Videre igitur rationem absolutam, quae est omnium ratio, non est aliud quam mente te deum gustare, quoniam es ipsa suavitas esse, vitae et intellctus]: Nicolaus Cusanus: De visione dei, cap. 5, n. 13. – Vgl. cap. 6, n. 20. 14 Nicolaus Cusanus: De visione dei, cap. 6, n. 18. 15 Vgl. Nicolaus Cusanus: De beryllo, cap. 2, n. 3. 16 Nicolaus Cusanus: De beryllo, cap. 7, n. 8. 13

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Der menschliche Geist – das Bild des gttlichen Geistes

»etwas Großes«, auf das rationale Denken zu verzichten und das Unbegreifliche »auf nicht-begreifende Weise« im Zusammenfall der Gegensätze zu umfassen. Frank wird diesen Satz in seiner Religionsphilosophie zitieren (DU 180 17 ). Würde der Philosoph der Versuchung nachgeben, beim Erkennen des Unendlichen die vermeintliche Sicherheit des rationalen Schlußfolgerns zu suchen, bliebe er in einem sekundären Wissen gefangen, das niemals die Gewißheit erreichen kann, die dem »Sehen« (oder dem »lebendigen Wissen«, wie Frank sagt) des Absoluten eigen ist. Alle Argumente, die der Verstand zum Verstehen des Unbegreiflichen beibringen kann, bleiben »unsicher und dürftig« (instabiles atque exiles).

3.

Der menschliche Geist – das Bild des gttlichen Geistes

Die menschliche mens vermag im »belehrten Nichtwissen« das Absolute zu berühren, weil sie selbst »auf erhabene Weise Gott ähnlich ist« – alta dei similitudo. Die Cusanische Bildlehre erweist sich als Angelpunkt. Schon jedes Seiende nimmt, um sein zu können, am göttlichen Sein teil, ist so dessen Repräsentant. Im Menschen aber ist das göttliche Sein auf besondere, eben lebendiggeistige Weise »kontrahiert«. So kann der kundige »Laie« im Traktat Idiota de mente auf die Frage »Woher hat der Geist jene Einsicht?« antworten: »Er hat sie als Abbild des Urbildes von allem«, denn der menschliche Geist ist das »lebendige Bild« und die »lebendige Abschrift der ewigen und unendlichen Weisheit«. 18 Im Menschen »spiegelt« sich das Leben Gottes. Das »Wissen« von Gott findet er deshalb vorrangig in der lebendigen Erkenntnis seiner selbst. Weil die Vernunft abbildhaft alles enthält, was auch in Gott enthalten ist, enthält sie auch den lebendigen Selbstbezug, der das Wesen des göttlichen Seins ausmacht. 19 So hat der Mensch auch am schöpferischen Leben Gottes teil und besitzt die Macht, selber schöpferisch Leben hervorzubringen. Der menschliche Geist ist so in der Tat das »Maß aller Dinge«,

17 Magnum est, posse se stabiliter in coniunctione figere oppositorum. Nicolaus Cusanus: De beryllo, cap. 22, n. 32. Vgl. hierzu auch K. Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Frankfurt 1998. S. 196 ff., 315 ff. 18 Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 5. 19 Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 4. Vgl. dazu K. Flasch: a. a. O., S. 280.

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Nikolaus von Kues – der Lehrer

freilich nur deshalb, weil er selber das Maß vom »ungeschaffenen Geist« empfängt, dessen »erstes Bild« er ist. 20 Die Qualität, Bild Gottes zu sein, begründet auch die Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit des menschlichen Geistes. In gewisser Weise ergibt sich seine Unzerstörbarkeit schon daraus, daß er wesentlich sich selbst hervorbringendes und selbst bewegendes intellektuelles Leben ist. 21 Der letzte Grund für das ewige Leben des menschlichen Geistes aber liegt nach Nikolaus darin, daß er Abbild ist und deshalb sein Sein darin besteht, »Widerschein der unvergänglichen Wahrheit« zu sein – diese aber, »weil sie die absolute Güte ist«, »den mitgeteilten Widerschein« und damit das spezifische menschliche Sein niemals entziehen kann. 22 Frank argumentiert im Prinzip ähnlich: Ich bin auf transrationale Weise gewiß, »daß ›Ich‹ in der tiefsten Wurzel meines Seins die ewige und unzerstörbare Verbindung mit Gott bewahre – so daß, selbst wenn ich Gott verlasse, Gott mich nicht verläßt, d. h. daß sogar mein Sein ohne Gott immer als Sein Gottesmit-mir fortbesteht« (DU 373 23 ). So sehr Frank jede vergegenständlichende Vorstellung von Gott als den verderblichen Grundfehler des religiösen Lebens kritisiert, hält er das göttliche Sein dem Wissen doch nicht schlechthin für un»Es bleibt also unser Geist für jeden Verstand unmeßbar, unendlich und unbegrenzbar. Allein der unerschaffene Geist mißt, begrenzt und beendet ihn wie die Wahrheit ihr aus sich, in sich und durch sich erschaffenes lebendiges Bild«. [Manet igitur mens nostra omni ratione immensurabilis, infinibilis et interminabilis, quam sola mens increata mensurat, terminat et finit sicut veritas suam et ex se, in se et per se creatam vivam imaginem]: Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 15, n. 158, 14. Vgl. cap. 4, n. 73 und 74. 21 »Da der Geist geistiges Leben ist, das sich selbst bewegt, d. h. sein heigenesi Leben, welches im Erkennen besteht, hervorbringt, wie soll er nicht immer leben?« [Mens cum sit vita intellectualis se ipsam movens, hoc est vitam, quae est eius intelligere, exserens, quodmodo non semper vivit?]: Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 15, 157. 22 »Wie sollte das Bild vergehen, das der Widerschein der unvergänglichen Wahrheit ist, es sei denn, die Wahrheit zieht den mitgeteilten Widerschein zurück? Wie es also unmöglich ist, daß die unendliche Wahrheit den mitgeteilten Widerschein entzieht, da sie die absolute Güte ist, so ist es unmöglich, daß ihr Bild, das nichts ist als ihr mitgeteilter Widerschein, jemals schwindet«. [Quomodo periret imago, quae est relucentia incorruptibilis veritatis, nisi veritate communicatam relucentiam abolente? Sicut igitur impossibile est, quod infinita veritas communicatam relucentiam subtrahat, cum sit absoluta bonitas, ita est impossibile, quod eius imago, quae non est nisi communicata relucentia eius, umquam deficit]: Nicolaus Cusanus: Idiota de mente, cap. 15, 158–159. 23 Vgl. auch S. L. Frank: Mit uns ist Gott. 2. Kapitel. Frank spricht hier davon, daß die Erfahrung, mit Gott in einer »unlösbaren Einheit« verbunden zu sein, »das Wissen um die Ewigkeit unserer Seele« begründet. 20

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Der menschliche Geist – das Bild des gttlichen Geistes

zugänglich. Gott ist kein unerkennbares »Ding an sich«, das, weil seine Beziehung zur Weltwirklichkeit ungeklärt ist, auch bestritten werden könnte. Daß Frank dem subjektiven Idealismus widerstand, seinem Anliegen aber doch gerecht wurde, geht auch auf Nikolaus von Kues zurück, für den die »Weisheit« ein unergründliches Geheimnis war, der aber zugleich wußte, daß sie »auf den Straßen ruft«, also verstanden werden kann. Daß das Geschaffene Gott abbilden und so repräsentieren kann, hat seinen Grund darin, daß Gott als die »in sich selbst ruhende Washeit« [quiditas in se subsistens] der »unveränderliche Grundbestand aller Weltdinge« ist [omnium substantiarum invariabilis subsistentia]. Der Grad, in dem sie Gott repräsentieren, ist davon bestimmt, wie sie von Gott – der Entwicklungskraft schlechthin, dem posse ipsum – durchdrungen sind. Frank teilt diese wichtige und fruchtbare Einsicht in den Symbolcharakter des weltlichen Seins. In Der Gegenstand des Wissens zitiert er den Satz: »Das Gewordene ist die Repräsentation des ewigen Ungewordenen« (GdW 399) 24 . Wie die Bildlehre des Cusanus ist auch die Symbolphilosophie Franks ontologisch begründet. Die Weltdinge verdanken ihr Wirklichsein und ihre Erkennbarkeit der Teilhabe an der absoluten Realität – anders als bei seinem Zeitgenossen E. Cassirer, für den die symbolischen Formen, in denen uns die Realität zugänglich ist, ganz auf die Eigentümlichkeiten der menschlichen Erkenntniskraft zurückgehen. Weil die Teilhabe und dadurch das Wirklichsein der Weltdinge immer beschränkt ist und einen Übergang besagt, ist auch ihre Erkenntnis notwendig beschränkt, immer von »Nicht-Wissen« durchdrungen. Sie besteht in »Annäherungen«. Die weltlichen Dinge repräsentieren das Unendliche in »Andersheit«, wie Nikolaus in De coniecturis erläutert. Das heißt, das Urbild, dessen Symbol sie sind, ist in ihnen immer nur beschränkt zu erkennen; zugleich ist auch das Erkennen ihres eigenen Seins nur annäherungsweise möglich. Die eine Realität, die in jedem Einzelseienden anwest, macht es begreiflich; infolge seiner Herkunft aus dem Unergründlichen ist es aber zugleich auch unbegreiflich und verweist so auf das Unergründliche selbst. Frank spricht diese Einsicht so aus: »Jedes Ding und jedes Wesen in der Welt ist mehr und anderes als alles, was wir von ihm wissen und wofür wir es halten – und mehr noch: Es ist mehr und 24 Quod factum est, infactibilis aeterni est repraesentatio. Nicolaus Cusanus: De venatione sapientiae, cap. 38, n. 110.

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Nikolaus von Kues – der Lehrer

anderes als alles, was wir jemals von ihm erfahren können. Und was es eigentlich in all seiner Fülle und Tiefe ist, das bleibt für uns unfaßbar« (DU 68).

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»transcensus«

Nikolaus hat im Widmungsschreiben zu seinem Hauptwerk mit dem Begriff des »Überstiegs« [transcensus] die Methode charakterisiert, mit welcher der menschliche Geist das »Unbegreifliche auf nicht-begreifende Weise in belehrtem Nichtwissen« erreichen könne. 25 Zum »Transzendieren« des rationalen Erkennens anzuleiten ist das Anliegen von Franks Philosophie. Es verwirklicht sich im »transzendentalen Denken«. Der auf die Cusanische coincidentia oppositorum zurückgehende »antinomische Monodualismus« mit dem Prinzip der Koinzidenz erweist sich als das epistemologische und ontologische Herzstück von Franks Philosophie. 26 Um Gott jenseits des rational Faßbaren zu »sehen«, bedarf es eines besonderen »Schauen-Könnens des Geistes«. Es wird dort möglich, wo das intelligible Können an seine Grenze stößt und der Geist begreift, »daß er das posse ipsum wegen seiner Überragendheit nicht fassen kann« – dann »sieht er es in einer Schau, die seine Fähigkeit übersteigt«. 27 Er sieht dann auch, daß Gott kein Glied der Koinzidenz ist, sondern erst jenseits der Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia III, n. 263. Epistola auctoris. Auch auf Franks Zeitgenossen Pawel Florenski ist die Cusanische Koinzidenzlehre nicht ohne Einfluß geblieben. In seinem theologisch-philosophischen Hauptwerk Die Säule und Grundfeste der Wahrheit schreibt er, daß diskursive Beweise für sich genommen, weil die Beweisführung niemals abgeschlossen wäre, keine absolut vertrauenswürdige Wahrheit begründen können. Eine intuitive Gewißheit einer deratigen Wahrheit sei zwar möglich, aber ohne diskursive Begründung bliebe sie blind. Die letztgültige Wahrheit ist »eine Einheit des Gegensätzlichen, sie ist die coincidentia oppositorum«. Mit Cusanus und Frank ist Florenski sich darin einig, daß diese Wahrheit nicht Ergebnis einer Denkoperation sein kann. »Ein Wimpernschlag gibt die ganze Fülle des Wissens«, denn alle Antworten sind in ihr »zu einer von innen zusammengeschweißten Einheit verknüpft«. Mit einem Wort: Die Wahrheit kann nur sich selbst offenbarendes »Subjekt« sein, das sowohl »alle Gründe seiner Rationalität« als auch »seines Gegebenseins in sich hat«, also in beider Hinsicht »Grund seiner selbst« ist. Florenski denkt von der Wahrheit her: Als absolute kann sie nicht objektiv, sondern muß lebendig konkret sein. Frank geht vom menschlichen Subjekt aus und fragt nach der Weise, in der es die absolute Wahrheit »weiß« bzw. hat. Siehe: P. Florenskij: Stolp i utverzˇdenie istiny. Paris 1989 (Moskau 1914), S. 43. 27 Nicolaus Cusanus: De apice theoriae, 4, 3; 8, 1; vgl. 5, 15; 8, 15 ff.; quando igitur mens 25 26

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Die Gottmenschlichkeit

»Mauer« zu finden ist, die von unseren begrifflichen Unterscheidungen gebildet wird. 28 Frank konnte das »ontologische Argument«, das für ihn der einzig gangbare Weg zur Gotteserkenntnis ist, komprimiert in den Cusanischen Traktaten finden: Indem das Subjekt bei seinem wesenhaften Streben ins Unendliche sich als begrenzt erfährt, wird es gerade dadurch in den Stand versetzt, mit dem »Schauen-Können des Geistes« auf eine neue Weise das Ziel seines Strebens »von weitem zu sehen«. Es ist dazu imstande, weil in ihm »das posse ipsum sich in höchster Weise manifestiert«. 29

5.

Die Gottmenschlichkeit

Der Kerngedanke der theologischen Anthropologie des Cusanus besagt, daß Gott den Menschen an seiner Seinsmächtigkeit teilnehmen läßt, so daß der menschliche Geist in seinem Können in »erhabener Weise Gott ähnlich« ist – in geistlicher Hinsicht, daß Gott den Menschen zur »Sohnschaft« und so zur Teilhabe am »Gottsein« (deiformitas, theosis) erhebt. 30 Frank hat Nikolaus nicht nur als herausragendes Beispiel für die Möglichkeit erwähnt, auch im Zeitalter des in posse suo videt posse ipsum ob suam excellentiam capi non posse, tunc visu supra suam capacitatem videt … 10, 15. 28 »Sobald ich dich, Gott, im Paradies sehe, das diese Mauer des Zusammenfalls der Gegensätze umgibt, sehe ich dich weder trennend noch verbindend einfalten oder ausfalten. Trennung und Verbindung zugleich ist die Mauer des Zusammenfalls, jenseits ihrer bist du, losgelöst von allem, das gesagt oder gedacht werden kann«. [Quando video te deum in paradiso, quem hic murus coincidentiae oppositorum cingit, video te nec complicare nec explicare disiunctve vel copulative. Disiunctio enim pariter et coniunctio est murus coincidentiae, ultra quem exsistis absolutus ab omni eo, quod aut dici aut cogitari potest]: Nicolaus Cusanus: De visione dei, cap. 11. Vgl. auch: De non aliud, cap. 4. 29 Nicolaus Cusanus: De apice theoriae, cap. 11. 30 »Die Sohnschaft Gottes ist nichts anderes als die Vergöttlichung, griechisch Theosis. … Daß unser rationaler Geist in seinem Vernunftleben diese Fähigkeit besitzt, bedeutet die überaus wunderbare Teilhabe an der göttlichen Kraft; es ist so, daß die Vernunft ein göttlicher Same ist, dessen Kraft im Glauben so hoch emporzusteigen vermag, daß er zur Theosis selbst gelangt« [non aliud filiationem dei quam deificationem, quae et theosis graece dicitur, aestimandum iudico … Haec est superadmiranda divinae virtutis participatio, ut rationalis noster spiritus in sua vi intellectuali hanc habeat potestatem, quasi semen divinum sit intellectus ipse, cuius virtus in credente in tantum ascendere possit, ut pertingat ad theosim ipsam]. Nicolaus Cusanus: De filiatione dei, cap. I, 52– 53. Vgl. De coniecturis II, cap. 14, n. 144.

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Menschenkults der Renaissance einen »christlichen Humanismus« zu begründen; sein eigenes Werk zeigt sich in der Begründung des potentiellen Gottseins des Menschen, das auf die Vollendung in der Vergöttlichung gerichtet ist, dem Cusanischen Denken verpflichtet. Sowohl für Nikolaus als auch für Frank ist die differenzierte Einheit von Mensch und Gott der Angelpunkt ihres Denkens. Das Transzendieren auf Gott hin ist dem Selbstsein des Menschen, Frank zufolge, wesentlich, weil es Anteil an der Fülle des absoluten Seins hat. Nikolaus schreibt in De coniecturis, daß der Mensch »in menschlicher Weise zu allem vordringen kann«, sei es mit seinen Sinnen, mit seinem kalkulierenden Verstand oder mit seiner Vernunft – die berühmte Konsequenz lautet: »Der Mensch ist nämlich Gott, aber nicht absolut, denn er ist Mensch. Er ist also ein menschlicher Gott. Der Mensch ist auch die Welt, aber nicht auf eingeschränkte Weise das All, denn er ist Mensch. Er ist also ein Mikrokosmos oder eben eine menschliche Welt. Was also menschlich ist, umfaßt Gott und die ganze Welt in seiner menschlichen Potenz. Der Mensch kann ein menschlicher Gott sein und, wie auf menschliche Weise Gott, kann er auch ein menschlicher Engel, ein menschliches Tier, ein menschlicher Löwe oder Bär oder irgend etwas anderes sein. In der Potenz der Menschlichkeit existiert alles auf seine Weise«. 31 Für Nikolaus ist es dabei selbstverständlich, daß das »Gottsein« des Menschen seine personale Eigenständigkeit nicht mindert: Denn »unter den Seligen ist jeder, ohne die Wahrheit seines eigenen Seins zu verlieren, in Christus Jesus – Christus, und durch ihn in Gott – Gott« (Nikolaus betont ausdrücklich die Vermittlung durch den Gottmenschen Christus). 32 Das personalistische Element in der Cusanischen Ontologie und Theologie kam der Rezeption des philosophischen Personalismus durch Frank entgegen.

Nicolaus Cusanus: De coniecturis II, cap. 14, n. 143. Übersetzung in Anlehnung an W. Happ und J. Koch. 32 servata veritate sui proprii esse, sit in Christo Jesu Christus et per ipsum in deo deus. De docta ignorantia III, cap. 12, 260. Vgl. hierzu: U. Roth: Suchende Vernunft. Der Glaubensbegriff des Nicolaus Cusanus. Münster (Aschendorff) 2000. 31

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Das Sein als Koinzidenz von Aktualitt und Potentialitt

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Das Sein als Koinzidenz von Aktualitt und Potentialitt

Franks Begriff des Seins als lebendige dynamische Kraft ist zweifellos von der Cusanischen Seinsauffassung inspiriert. Für Frank gilt vom Sein [bytie], daß es »nicht nur ist. Es ereignet sich [delaetsja], es schafft sich gleichsam selber […], weil in seinem letzten Grund die Potentialität, das Vermögen liegt, zu werden, was es noch nicht ist« (DU 110). Es ist die »transrationale Einheit von Rationalität und Irrationalität, d. h. von Notwendigkeit und Freiheit«, des Begrenzten und seines unbegrenzten in ihm anwesenden Hintergrundes. Anregungen für das Denken des Seins als »schöpferisches Können« [tvorcˇeskaja mocˇ’] (DU 109) hatte Frank besonders in den Schriften De possest und De apice theoriae finden können. Nikolaus spricht hier vom objektiven Seienden, das aktuell niemals das ist, was es potentiell sein kann, weil es seine weiteren Möglichkeiten, was es also aktuell nicht ist, außer sich hat. Die Aktualität ist hier von der Potentialität geschieden. Damit aber das Begrenzte überhaupt sein und als solches über sich hinausstreben kann, muß es mit der unbegrenzten Fülle, dem Einen »zusammenfallen«. Würde das »Zusammenfallen« als Identifizierung mißverstanden, würde das Viele als solches zum Urgrund der Realität gehören; Gott selber würde mit Andersheit und Differenz (Nichtsein) behaftet, d. h. begrenzt sein. Aber für Nikolaus (ebenso wie für Frank) ist die Koinzidenz keine logische Kategorie wie die Identität. Gott ist die Fülle oder Koinzidenz von allem, aber nicht als Summe. Die Lösung, die Frank übernimmt, lautet: »Gott ist vor der Aktualität, die von der Potentialität unterschieden wird, und vor der Potentialität, die von der Aktualität unterschieden wird, der einfache Urgrund der Welt selbst. […] Da also Gott absolute Potentialität, Aktualität und beider Verknüpfung und somit alles mögliche Sein wirklich ist, ist er offensichtlich eingefaltet alles«. 33 Gottes philosophischer Name ist »das Können selbst«, das posse ipsum. 34 Er ist alles, was überhaupt ist und was sein kann, allerdings nicht so, daß er pantheistisch zur Vielzahl der Dinge würde, sondern so, daß er in einer höheren metalogischen Einheit alles ist als er selbst. 35 33 Nicolaus Cusanus: De possest, n. 7, 4–9; ferner n. 8, 17–22. Vgl. auch De docta ignorantia I, cap. 2, n. 5 und II, cap. 4–5. 34 Zum Beispiel: De apice theoriae, n. 28. – Vgl. hierzu Josef Stallmach: Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues. Münster (Aschendorff) 1989. Insbesondere S. 68–83. 35 Cum potentia et actus sint idem in deo, tunc deus omne id est actu, de quo posse esse

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Dieser Gedanke ist nicht nur im Sinne der »potentia activa« zu verstehen, so daß Gott alles bewirken kann, was möglich ist. Für Nikolaus ist im Können Gottes auch »eingefaltet« alles wirklich, was überhaupt werden kann. Die Welt kann sein; dieses ihr Können-sein ist als potentia passiva in Gott, ob sie aktuell geschaffen ist oder nicht ist. Gott ist die Urform alles überhaupt Formbaren; er enthält deshalb in der Weise der »complicatio« (Einfaltung oder Zusammenfaltung) sowohl das Geformte wie das Formbare in sich. Das heißt, daß die Welt in ihrem Können-sein von Ewigkeit her in Gott ist. Für Nikolaus wie für Frank bildet diese metalogische Einheit von Aktualität und Potentialität, wobei letztere auch die Formbarkeit einschließt, den »apex theoriae«, den »Gipfel der Einsicht«. Es ist ein überaus wichtiger Gedanke des Nikolaus als auch Franks, daß das Zusammenfallen des Begrenzten und Unbegrenzten als sich kontradiktorisch Ausschließenden nicht vom Intellekt via rationis kombiniert werden kann. 36 Der von Frank verwendete Ausdruck »Schweben über« unterstreicht, daß die »Mauer des Paradieses«, die aus den Begriffskombinationen gebildet wird, übersprungen werden muß, um den Urgrund »berühren« oder »schmecken« zu können. Die Koinzidenz des in unendlichem Abstand zu einander stehenden Gegensätzlichen kann nur »geschaut«, nicht mehr gedacht werden oder, wie Frank sagt, nur »verstehend erlebt« werden. Sowenig das Cusanische »Schauen« ein Betrachten von etwas ist, so wenig bietet sich dem Blick aus der Position des »Schwebens« eine Kombination ontologischer Realitäten. 37 Wer im Zusammenfallen die potest verificari. Nihil enim esse potest, quod deus actu non sit. Nicolaus Cusanus: Trialogus de possest, n. 8, 6. Vgl. J. Stallmach: S. 73. 36 Nikolaus schreibt: Über das Unvermögen, die Gegensätze mit ihrem unendlichen Abstand via rationis zu einer Einheit zu verbinden, schauen wir in nicht ergreifender Weise das unendlich Größte. [Hoc autem omnem nostrum intellectum transcendit, qui nequit contradictoria in suo principio combinare via rationis […] Supra omnem igitur rationis discursum incomprehensibiliter absolutam maximitatem videmus infinitam esse, cui nihil opponitur, cum qua minimum coincidit]. De docta ignorantia I, cap. 4, n. 12. 37 Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia I, cap. 4, n. 12, – In De visione dei (cap. 9; 37) betont Nikolaus, daß die Einsicht in die Notwendigkeit der Koinzidenz noch eine Verstandeseinsicht ist und deshalb noch nicht das »Paradies« öffnet. Der das Paradies bewachende spiritus altissimus rationis muß vollständig besiegt werden, soll der Mensch zur unverhüllten Schau gelangen: Et repperi locum in quo revelate reperieris, cinctum contradictoriorum coincidentia. Et iste est murus paradisi in quo habitas, cuius portam custodit spiritus altissimus rationis, qui nisi vincatur, non patebit ingressus.

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Opposita als solche verfolgen möchte, hätte die Koinzidenz als Kombination oder Synthese mißverstanden. Das Berühren des Unberührbaren auf die Weise des Nicht-Berührens geschieht in der Bewegung des Transzendierens jeder möglichen Bestimmung. Als das non aliud ist das Absolute jeder Beziehung, jedem Vergleich und jeder Bestimmung enthoben. 38 Durch seine Lehre von der Einheit von Aktualität und Potentialität in Gott ist Nikolaus auch hinsichtlich des Schöpfungsgedankens zu Franks Lehrer geworden. Zumal die Deutung, die Frank der »Erschaffung aus dem Nichts« und der »Erschaffung seit Ewigkeit« gegeben hat, findet bei Nikolaus ihr Vorbild. Gott »erschafft nicht aus einem anderen, sondern aus sich, weil er alles ist, was sein kann«, schreibt Nikolaus. In Gott kann es, wie gesagt wurde, kein Nicht-sein und damit keine wesenhafte Andersheit oder Unterscheidung geben, »weil er vor dem Nicht-sein ist«. Gott als »das Können selbst« wechselt in seiner dynamischen Aktualität nicht vom einen zum anderen. 39 Weil es in ihm die Andersheit des Nacheinander nicht gibt – er ist supra omnem oppositionem –, muß man »sehen«, schreibt Nikolaus, daß die Schöpfung in Gottes »unsichtbarer Kraft oder Macht von ewig her gewesen ist«. Was gemeinhin als das »Nichts« bezeichnet wird, aus dem Gott schafft, muß darum als die Fülle der Möglichkeiten verstanden werden, die in Gott er selber, d. h. seine Aktualität ist. In diesem Sinne ist Gott »alles, was sein kann«, denn er hat »in sich den Begriff und Wesensgrund aller formbaren Dinge«, denn er ist »die eigentliche Formal- oder Exemplarursache« von allem. 40 Das 38 Vgl. auch G. Schneider: Gott – das Nichtandere: Untersuchungen zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues. Münster (Aschendorff) 1970, S. 155–170. 39 Die Koinzidenz von Ruhe und Bewegung, Ewigkeit und Zeit illustriert Nikolaus mit einem Kinderspielzeug: Ein Kreisel, der mit einer raschen Handbewegung von einer Schnur abgezogen sich schnell um sich selbst dreht, scheint still zu stehen. Bei unendlicher Geschwindigkeit könnte sein Kreis nicht mehr unterschieden werden von fest fixierten Kreisen, die um ihn herum gezogen würden. So kann »gesehen« werden, daß es »kein Widerspruch ist, daß die Ewigkeit als ganze zugleich in jedem beliebigen Zeitpunkt und Gott, der Ursprung und das Ziel, als ganzer zugleich in allen Dingen ist«. Trialogus de possest, n. 18–20. Der Mensch, der sich Gott in seinem Schaffen annähert, nimmt auch an dessen ewiger Ruhe teil [et sic homo ad deiformitatem appropinquet, ubi cuncta aeterna pace quiescunt]. De coniecturis, cap. 14, n. 145. 40 »Es ist nämlich nicht möglich, die Schöpfung als vom Schöpfer ausgeflossen zu verstehen, wenn man nicht sieht, daß sie in seiner unsichtbaren Kraft oder Macht von ewig her gewesen ist. Alles Erschaffbare muß in seiner Möglichkeit wirklich sein, auf daß er selber aller Formen vollkommenste Form sei. Er selbst muß alles sein, was sein kann, damit er die wahrste formale oder urbildliche Ursache ist. Er muß in sich aller form-

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Wie des schöpferischen Hervorgangs des Vielen aus der unendlichen Einheit Gottes ist uns auch nach Nikolaus unbegreiflich. Gewiß ist, daß nicht nur alles, was irdisch-geschöpflich ist, sondern auch alles, was sein kann, in Gott aktual ist – so wie Gott in allem, sofern es ist, dessen seinsgebender Grund ist. Die absolute Möglichkeit zu allem – die materia im Verständnis der Aristoteliker – kann nicht als »etwas« neben oder außer Gott gedacht werden; wohl aber stammt sie aus Gott. 41 Das absolute Können ist deshalb nicht mit der materia prima als völlig bestimmungslose Möglichkeit gleichzusetzen. Sowohl für Frank wie für Cusanus ist die unbestimmte »absolute Möglichkeit« der »Ur-Materie« in der absoluten Aktualität – in Gott – aufgehoben. 42 Der Schöpfungsakt, in dem Gott als die »Form aller Formen« aus der Fülle der in ihm actu anwesenden Möglichkeiten dem Geschöpf eine endliche Form mitteilt, kann als kontingente Aktualisierung (oder Formung) dieser Fülle bezeichnet werden; es ist die »Ausfaltung« des in der aktualen Fülle Gottes als Potenz Gegebenen. 43 Entsprechendes gilt, wie Frank sagt, (abbildhaft) auch für das schöpferische Tun des Menschen (GdW 312 f.). (Zu Nikolaus von Kues siehe auch Kapitel IV, 4).

baren Dinge Begriff und Wesensgrund haben. Er muß über jedem Gegensatz sein. Denn in ihm kann es kein Anderssein geben, weil er vor dem Nichtsein ist. Wenn er nämlich nach dem Nichtsein wäre, wäre er nicht der Schöpfer, sondern aus dem Nichtsein hervorgebrachtes Geschöpf. In ihm ist also das Nichtsein alles, was sein kann. Daher erschafft er nicht aus einem anderen, sondern aus sich, weil er alles ist, was sein kann«. [Non est enim possibile creaturam intelligi emanasse a creatore, nisi videatur in invisibili virtute seu potestate eius ipsam aeternaliter fuisse. Oportet omnia creabilia actu in eius potestate esse, ut ipse sit formarum omnium perfectissima forma. Oportet ipsum omnia esse quae esse possunt, ut sit verissima formalis seu exemplaris causa. Oportet ipsum in se habere omnium formabilium conceptum et rationem. Oportet ipsum esse supra omnem oppositionem. Nam in ipso non potest esse alteritas, cum sit ante nonesse. Si enim post non-esse esset, non esset creator sed creatura de non-esse producta. In ipso igitur non-esse est omne quod esse potest. Ideo de nullo alio creat, sed ex se, cum sit omne quod esse potest.]: Nicolaus Cusanus: Trialogus de possest, n. 73. Vgl. auch n. 13. 41 Nikolaus Cusanus: De docta ignorantia II, cap. 8, n. 132, 19 und n. 136. 42 Zur Schöpfungslehre des Nikolaus von Kues vgl. J. Hoff, a. a. O. S. 352–359. 43 »Wer vermöchte zu begreifen, wie alles Bild jener einzigen unendlichen Form ist […]? Ist doch die unendliche Form nur in endlicher Weise aufgenommen, so daß jedes Geschöpf gleichsam eine endliche Unendlichkeit oder ein geschaffener Gott ist«. Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia II, cap. 2, n. 103 und 104.

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Die »Kirche« – die in der »Wahrheit« vereinte Menschheit

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Die »Kirche« – die in der »Wahrheit« vereinte Menschheit

Frank hat in seiner Religionsphilosophie die Absicht geäußert, die Weise, wie Nikolaus von Kues »die ökumenische christliche Wahrheit« spekulativ ausgedrückt hatte, philosophisch neu aufzunehmen (DU 24). Es stellt sich deshalb die Frage, ob er auch zur Entfaltung seines Begriffs der »Kirche« Anregungen von Nikolaus verarbeitet hat. Dessen Hauptwerk De docta ignorantia enthält im 3. Buch einen Abriß der Christologie, der mit einem Kapitel über die Kirche schließt. Obwohl Frank bei seinen Ausführungen über die Kirche den Kardinal nicht erwähnt, sind einige frappierende Ähnlichkeiten mit ihm (neben Unterschieden) nicht zu übersehen. Zur »Kirche« in Franks Verständnis gehören alle Menschen, die im »Dienst an der Wahrheit« leben. Diese »Wahrheit« ist, wie ausgeführt wurde, das Prinzip der gottmenschlichen »Gemeinschaftlichkeit« [sobornost’]: das »Heilige« oder »das göttliche Prinzip im menschlichen Leben«. Es muß wenigstens minimal anerkannt sein, soll eine menschliche Beziehung Bestand haben. Frank nennt die »Kirche« darum die »Seele« jeder Gesellschaft. Die Gottmenschlichkeit – die »Wahrheit« der »Kirche« – macht den Menschen zum Menschen; sie begründet die Würde des Menschen, die sittliche Pflicht, sich zu vervollkommnen, und zugleich das Gebot universaler Solidarität. Als die real-ideale Erscheinung der gottmenschlichen Gemeinschaftlichkeit vermittelt sie das Wir-sein, in dem jedes Individuum mit jedem anderen seinshaft verbunden ist. Die »Bestimmung« des Menschen ist es, diese ideal-reale »Wahrheit« immer stärker zum prägenden Prinzip des Lebens in der »Welt« zu machen, so daß, wie Frank in den Geistigen Grundlagen der Gesellschaft ausführt, die Menschheit als Ganze »Kirche« wird und zur Vergöttlichung gelangt (GGdG 202 f.). Gemäß Nikolaus von Kues ist es die »Bestimmung« des Menschen, sich in seiner Qualität als »lebendiges Bild« Gottes (viva imago) zu vervollkommnen, indem er Jesus Christus, dem »Bild« schlechthin, ähnlich d. h. »christusförmig« wird. 44 Nikolaus nennt es auch die »Sohnwerdung« [filiatio] des Menschen. Die Schöpfung ist von der Inkarnation her gedacht, der endgültigen und vollendeten Zuwendung Gottes zum Menschen. Der Mensch, das Abbild Christi,

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Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia III, cap. 11, n. 252 und 253.

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des Urbildes, ist dazu berufen, zur »Gottförmigkeit«, vermittelt als »Christusförmigkeit«, zu gelangen. Der Begriff »Wahrheit«, der im Kapitel De ecclesia in De docta ignorantia eine zentrale Stelle einnimmt, kommt in einigen bemerkenswerten Elementen mit Franks Wahrheitsbegriff überein. Nikolaus spricht davon, daß der Mensch, kraft der Intentionalität seiner Vernunft auf die Erkenntnis »unvergänglicher Wahrheit« [veritas incorruptibilis] gerichtet ist. Wahrheit ist aber nur dann wahrhaft unvergänglich, wenn das Göttlich-Ewige in ihr anwesend ist. Soweit die Vernunft diese Wahrheit erreicht, wandelt sie sich selbst in ihre Form: »So also ist die Fassungskraft der vernunfthaften Natur, daß sie ihrer Wandlungsfähigkeit entsprechend sich zu dem Leben wandelt, das sie in sich aufnimmt«. 45 Wo die Vernunft nach unvergänglicher Erkenntnis strebt, sucht sie den Logos und nimmt ihn in sich auf. Die Vernunft ist dazu fähig, weil sie als Bild Gottes selbst schon das Licht des Logos in sich trägt. Wieder wird die christologische Vermittlung deutlich: Der ewige Logos hat sich in der Person Christi mit der menschlichen Natur vereint. Diese hypostatische Einheit von Gott und Mensch, von ewigem göttlichem Licht und irdischer Vernunft, ist die Bedingung jeglicher Wahrheitserkenntnis und des Wissens überhaupt. 46 Nikolaus hat der im Platonismus geläufigen Einsicht, daß menschliche Wahrheitssuche und Wahrheitserkenntnis durch das Licht der ewigen Wahrheit ermöglicht werden, die christliche Konkretisierung gegeben. Die »Wahrheit«, mit der Jesus sich im Johannesevangelium identifiziert (»Ich bin die Wahrheit«), und das natürliche Wissen sind Nikolaus zufolge wie Bedingung und Ermöglichtes auf einander bezogen. Darum vollendet sich das unbedingte menschliche Streben nach »Wahrheit« in der »Liebe zu Christus«, dem Inbegriff aller göttlichen aber auch menschlichen Wahrheit. Das heißt aber, daß dieses Streben, weil die Wahrheit Person ist, praktisch-konkret sein muß. Weil es vom Logos geleitet und durch seine Einheit mit der menschlichen Natur in Christus vermittelt ist, ist es bedeutungsvoll für die Menschheit, all-menschlich. Das praktische Wahrheitsstreben baut den Leib Christi, die Kirche, auf. »Die Wahrheit unseres Leibes erfüllt sich in der Wahrheit des Leibes Christi und die Wahrheit unseres Geistes in der Wahrheit des Geistes Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia III, cap. 12, n. 259. Vgl. U. Roth: a. a. O., S. 260. 46 Vgl. De docta ignorantia III, cap. 11, n. 244. Vgl. U. Roth, a. a. O. S. 237; 149. 45

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Die »Kirche« – die in der »Wahrheit« vereinte Menschheit

Christi […], so daß ein jedes in ihm ist, auf daß ein Christus aus allen sei«. 47 Die menschliche Vernunft erfaßt die »unvergängliche Wahrheit« erst dann in ihrer ganzen Fülle, wenn sie »durch den Frieden in Christus Jesus zur Ruhe gekommen ist«. 48 Wie für Frank so ist schon für Nikolaus die Kirche das Urbild und Vorbild der All-Einheit; an ihrem Begriff der Kirche ist abzulesen, wie sie die Idee der All-Einheit verstehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Nikolaus die All-Einheit nicht in der »streitenden« irdischen Kirche, sondern in der »triumphierenden« Kirche, die als solche durch den »Triumph« der unvergänglichen Wahrheit ausgezeichnet ist, vollendet sieht. Erst in ihr ist das eine Menschsein, das urbildlich in Christus ist, in allen Menschen verwirklicht – una Christi humanitas in omnibus hominibus. In ihr sind Freiheit und Gemeinschaft harmonisch verbunden. »Diese Einung [unio] also ist die Kirche oder die Gemeinschaft der vielen im Einen, gleichwie die vielen Glieder an dem einen Körper sind, aber ein jedes an seiner Stelle; wo das eine nicht das andere ist, und doch ein jedes an dem einen Körper, durch den es mit jedem anderen vereint ist; wo keines ohne den Körper Leben und Bestand haben kann, auch wenn am Körper eines nicht das Ganze ist, es sei denn mittelbar durch den Körper«. 49 »Kirche besagt Einheit von vielen unter Wahrung der personalen Wirklichkeit eines jeden einzelnen ohne Verwischung der Einzelnaturen und der Stufen«. 50 Bei Nikolaus von Kues ist die Einheit der Menschheit und ihre schließliche Vergöttlichung christologisch vermittelt. Diese Vermittlung tritt in Franks philosophischen Hauptwerken Das Unergründliche und Die Realität und der Mensch zurück. Sie sind darauf gerichtet, auch den nicht-christlichen Lesern durch philosophische Argumentation das Gottmenschentum als das Fundament des Humanismus zu vermitteln. Der Eindruck, daß in Franks Sicht durch die Selbstmitteilung Gottes in der Schöpfung die Selbstoffenbarung bereits vollendet sei, wird durch die spirituellen Schriften Mit uns ist Gott und Das Licht in der Finsternis korrigiert. In ihnen ist deutlich zu sehen, daß Frank die vorzeitliche allgemeine Offenbarung in der ut sit unus Christus ex omnibus: De docta ignorantia III, cap. 12, n. 256. De docta ignorantia III, cap. 12, n. 259. 49 De docta ignorantia III, cap. 12, n. 256. 50 Nam ecclesia unitatem plurium salva cuiusque personali veritate dicit absque confusione naturarum et graduum: De docta ignorantia III, cap. 12, n. 261. Ich folge der Übersetzung von P. Wilpert und H. G. Senger. 47 48

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Nikolaus von Kues – der Lehrer

Schöpfung in Hinblick auf ihre Vollendung in der Inkarnation versteht – und diese als Vollendung des vorzeitlichen Heilsplans. Nichts wäre falscher, als die allgemeine Offenbarung zu isolieren und als Ereignis zu deuten, das eine geschichtliche Offenbarung überflüssig machen würde. Frank stand das Problem vor Augen, wie die zahlreichen Zeitgenossen, denen die christliche Kirche und ihre Verkündigung fremd bleibt, doch die »frohe Botschaft« des universalen, alle Menschen umfassenden göttlichen Heilswillen erfahren können. Hierauf eine Antwort zu finden, war der maßgebliche Beweggrund dafür, die These von der allgemeinen oder »natürlichen« Offenbarung zu entwickeln. Daß auch Nikolaus von Kues die bedrängende Frage, wie die Nichtchristen das durch die Menschwerdung Gottes geschenkte Heil gewinnen können, nicht fremd war, zeigt sein Traktat De pace fidei, in dem er die Vertreter verschiedener Religionen einen Disput über die Wahrheit des Glaubens führen läßt.

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XVIII. Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

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Kritische Rezeption

Die Rezeption Franks im allgemeinen philosophischen Diskurs steht noch am Anfang. Zur Sprachbarriere, welche die Kenntnisnahme russischer Werke außerhalb Rußlands ohnehin erschwert, kamen die außerordentlich ungünstigen Umstände der Veröffentlichung von Franks Schriften im Exil und ihre politisch-ideologisch motivierte Verhinderung in Rußland; die Anfertigung von Übersetzungen in westliche Sprachen kam nur schleppend in Gang. In inhaltlicher Hinsicht ist Franks Philosophie bisher im wesentlichen auf zwei Widerstände gestoßen. Für das nach dem Zweiten Weltkrieg vom logischen Positivismus beeinflußte Denken war das Bestreben, im Sinne Platons den »jenseits« des Wirklichen liegenden »Urgrund« des Seins zu erreichen, befremdlich. Bezeichnend ist hierfür die Bemerkung des britischen Philosophiehistorikers und Theologen Frederick C. Copleston in seinem Buch Philosophy in Russia, 1986. Eine Philosophie, so schrieb Copleston im Blick auf Frank, die sich, »die rationale Überwindung der Beschränktheit des rationalen Denkens« zur Aufgabe stellt (vgl. RM 179), would be unacceptable in most university departments of philosophy in English-speaking countries. 1 Die Lehre der All-Einheit, in der Gott und Welt sowohl unterschieden sind als auch von einander nicht getrennt werden können, ist für Copleston nicht immediately clear; auch Franks Deutung der Schöpfung findet er extremely obscure. In der Beurteilung des Bösen folge Frank, so meint Copleston (und mißversteht Frank gründlich), den deutschen F. C. Copleston: Philosophy in Russia. From Herzen to Lenin and Berdyaev. Search Press /University of Notre Dame, 1986, S. 356–362.

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

Philosophen J. Böhme und Schelling und behaupte wie sie, that the ultimate basis of evil must lie in God himself. Franks philosophische Aussagen über Gott kann Copleston mit seinen eigenen religiösen Vorstellungen nicht in Einklang bringen. Der Gott, der als »alles umfassendes Absolutes« gedacht werde, so wendet er ein, »hat wenig Ähnlichkeit mit dem Gott der Bibel«. Der biblische Gott ist personal, whereas the Absolute is impersonal or, if preferred, suprapersonal. In seinem Buch Russian religious philosophy 2, 1988, referiert Copleston Franks Auffassung des Gottmenschentums. Er verhehlt nicht sein Unbehagen, doch versucht er Frank gerecht zu werden. Seine Kritik beweist jedoch, wie sehr seine Kenntnisnahme an der Oberfläche geblieben ist. Er schließt mit der Bemerkung: Frank certainly developed and expounded a systematic metaphysics, a metaphysics in which N. O. Lossky discerned ›too great an approximation between God and the world‹. Hier begegnet der Einwand, der als cantus firmus die theologisch orientierten Stellungnahmen bisher durchzieht. Er entstammt einem rational-begrifflichen Denken, das in Franks Lösung des Transzendenz-Immanenz-Problems eine Verletzung der absoluten Überweltlichkeit Gottes sieht. Diese Stellungnahmen sollen ausführlicher zu Wort kommen, weil sie für die Mißverständnisse und Widerstände charakteristisch sind, die von einer gegenständlichen religiösen Vorstellungswelt herrühren. Der Theologe und Philosophiehistoriker W. W. Senkowski, seit 1926 Professor am orthodoxen St.-Sergius-Institut in Paris, hat in seiner zweibändigen Istorija russkoj filosofii, Paris 1950, als erster zu Franks Philosophie ausführlich Stellung genommen. Höchste Anerkennung des formalen Rangs von Franks Denken ist bei ihm mit rigoroser Ablehnung der All-Einheitsphilosophie verbunden. »Ohne Zögern« gelangt er zu dem Urteil, daß »Franks System das Bedeutendste und Tiefste ist, was wir in der Entwicklung der russischen Philosophie antreffen. Die bemerkenswerte Gabe, klar darzustellen, die Genauigkeit und Exaktheit seines Denkens bildet nur die formale Grundlage seiner philosophischen ›Leistungen‹. Wichtiger vor allem ist die bemerkenswerte Einheit von Franks Entwürfen. Angefangen von Der Gegenstand des Wissens bis zu Das Unergründliche und Das Licht in der Finsternis blieb Frank – ungeachtet der zweifelsfreiF. C. Copleston: Russian religious philosophy. Selected aspects. Search Press/University of Notre Dame, 1988, 65–78.

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en Entwicklung in der Formulierung und Vertiefung einzelner Strukturelemente – der Grundeinsicht treu, die in ihm herangereift war. Die Originalität Franks jedoch besteht nicht in der Metaphysik der All-Einheit, die er bei Solowjow, Plotin, Nikolaus von Kues fand und die neben ihm auch Karsawin, Florenski und Bulgakow entwickelten; die Originalität und philosophische Kraft Franks liegt in der Begründung dieser Metaphysik, die er in seinen Arbeiten entwickelt hat. Die logische Begründung der Transzendentalität des (logischen) Gegenstands des Wissens, die gnoseologischen Eingrenzung der transzendentalen Konstruktion der Welt (das ›abstrakte Wissen‹) und dazu die überzeugende Entfaltung des intuitiven Wissens, das tiefer als das gegenständliche reicht, die ganze Lehre von der ›ganzheitlichen Intuition‹, davon, daß jedes partikuläre Wissen ein ›partikuläres Wissen des Ganzen‹ ist, das alles gehört zu den unabänderlichen Gewinnen in der russischen Philosophie. Schließlich ist das alles mit einer derartigen Klarheit und Schlichtheit, in einer derartigen Knappheit gesagt (die manchmal sogar zu unnötiger Kürze wird), daß man Franks Bücher als vorbildlich ansehen kann – von ihnen sollten die russischen Philosophen lernen«. Verglichen mit den Leistungen Florenskis, Bulgakows, Karsawins tritt die Kraft der philosophischen Begabung Franks um so klarer hervor. 3 Senkowskis Urteil über den Rang der philosophischen Leistung Franks ist zuzustimmen. Die Tendenz, Franks Lehre vom Wissen als bewundernswerte Leistung anzuerkennen, seine Religionsphilosophie und Ontologie aber als inakzeptabel zurückzuweisen, ist bereits bei ihm anzutreffen. Sie übersieht freilich den strikten systematischen Zusammenhang, in dem Franks Epistemologie mit seiner Ontologie und Gotteslehre steht. Das Ergebnis seiner Wissenslehre, daß wir selbst »in das absolute Sein eingesenkt« sind, ist für Senkowski »eine willkürliche Interpretation« des »unstrittigen gnoseologischen Faktums im Lichte der Metaphysik der All-Einheit« (176). Die Intuition der All-Einheit ist gewissermaßen die »idée directrice« von Franks Denken, die von ihm wie von den anderen Anhängern dieser Ontologie als Voraussetzung jeder Erkenntnis angesehen wird, »das Absolute eingeschlossen«. Auch Gott könne, Frank zufolge, »nicht V. V. Zen’kovskij: Istorija russkoj filosofii, Paris 1950. Neudruck Leningrad 1991, in vier Teilbänden (ich zitiere nach dieser Ausgabe: II, 2, 177–178). Englische Übersetzung: A history of Russian philosophy. New York, Columbia University Press, 1953; Franzosische Übersetzung: Histoire de la philosophie russe. Paris, Gallimard, 1953–54.

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gedacht werden ohne Beziehung auf das, was seine ›Schöpfung‹ ist«. Den zurecht angenommenen metalogischen Grund »hinter der idealen Seinssphäre« verstehe Frank unbegründet als All-Einheit, »d. h. er stellt ›die ursprüngliche Einheit des Seins‹ dem Absoluten gleich [priravnjat’ Absolutu]« (165). Für Senkowski ist die All-Einheit deshalb »allesverschlingend«; sie ist eine »willkürliche Annahme« und »irrational« (160; 164; 165). So ist es nicht verwunderlich, daß Senkowski zu dem Schluß gelangt, in Franks Philosophie der All-Einheit bleibe von der Erschaffung der Welt durch Gott nur noch das bloße Wort übrig (168. Vgl. DU 427). Diese Sätze lassen deutlich das Anliegen des Kritikers erkennen: Gott und das Sein müssen einander streng gegenübergestellt werden. Frank aber behaupte mit seiner Lehre, daß »die ›gegenständliche‹ Welt (mit der Sphäre der Ideen) und die Welt des Selbstbewußtseins aus einem gemeinsamen Urquell hervorgehen«, »›einen metaphysischen Seinsmonismus‹« (167. Vgl. DU 304 f.). Zur Begründung zitiert Senkoswki einen Satzteil, der dieses Urteils mitnichten bestätigt. Frank charakterisiert in ihm einen »Glauben«, welcher, um Wahrheit beanspruchen zu können, dialektisch der Ergänzung bedarf. Die Wahrheit, so heißt es bei Frank, ist erst in der »ontologischen Position des antinomischen Monodualismus« erreicht, denn dieser erst erlaubt, die Wahrheit auch des Dualismus anzuerkennen. Diese Position fordert, wie Frank betont, »ebenso die Einsicht, daß dieser Dualismus mit dem Monismus vereinbar ist; sie fordert die Suche nach der Einheit in der Tiefe dieser Dualität selber und die Einsicht in diese Einheit« (DU 307). Senkowski erkennt nicht, daß die »Einheit«, welche die Unterscheidung von Monismus und Dualismus erst ermöglicht, über der Unterscheidung steht. Das Eine, das Frank zufolge allen Unterscheidungen vorausliegt (vgl. DU 338), ist nicht in numerischem Sinn zu verstehen. Senkowski bemerkt nicht, in welches merkwürdige Licht er sein eigenes Urteil über Frank als den besten russischen Philosophen überhaupt taucht, wenn er ihm zugleich eine Metaphysik attestiert, »die keinerlei überzeugende Kraft hat, außer der Tendenz zum Monismus«. Die hier zu erwartende philosophische Auseinandersetzung mit der Cusanisch-Frankschen Koinzidenzlehre unterbleibt. Von nicht unerheblichem Einfluß auf die Rezeption Franks in der angelsächsischen Welt war G. Florowskis Vorwort zur englischen Übersetzung Reality and man, 1967. Florowski, zu jener Zeit Professor der orthodoxen Theologie in Harvard, bezweifelt, daß Franks Phi324 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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losophie noch christlich sei. Persönlich sei Frank zwar ein gläubiger Christ gewesen, doch in Hinblick auf seine Philosophie stelle sich die Frage: Was he not rather inclined to adjust the Christian message to the ›exigencies‹ of the old Platonic philosophia perennis? Of course, he was not the first to do so. Frank habe nicht nur die Methode der traditionellen Theologie zurückgewiesen, his real disagreement is […] with the content itself. And he was fully aware of that. […] His reading of the New Testament was highly selective. The crucial message of the Gospel consisted, in his interpretation, in the final revelation of the Kingdom of God, that is of the ›eternal structure of reality‹ […]. He opposed categorically the interpretation of the Gospel in the terms of Redemption or Salvation. […] Indeed, the Cross, strangely enough did not belong to the Gospel, as Frank read it. The core of the Gospel is in the new assurance that Man actually does not belong to ›this world,‹ and that there is another ›better‹ world. […] Yet, he does not believe that victory is possible within ›this world,‹ on that level of existence, even for God himself. Hinsichtlich Franks Metaphysik übernimmt Florowski die Einwände, die N. O. Losski schon 1915 gegen Der Gegenstand des Wissens vorgebracht hatte: God and Cosmos – so versteht er Frank – are also continuously correlated. Their ›duality‹ is actually within a higher Unity, or even Oneness. […] God is essentially but a foundation of the Cosmos. Indeed, Frank is suspicious of the concept of Transcendence because it would endanger the continuity of Being. On the other hand, Lossky strongly contended that God stands, as it were, ›outside‹ the Cosmos and should not be included in the ›allembracing Unity‹. In fact, Frank was never clear on the ultimate ›relation‹ between God and the Cosmos. He was convinced that his idea of indefinite ›potentiality‹ of Being, as of the Might, could serve as a foundation of freedom. […] Yet all ›possibilities‹ are implied and contained in the ›all-embracing Unity‹, so that actually there is no room for any ›novelty‹. Strictly speaking, it is difficult to see, how, within the overarching scheme of Frank, any ultimate event, including the solution of casual predicaments, is possible. There is no room for any ›contingency‹ in the Being. The Universe of Frank is in continuous motion like an Ocean, but it does not move anywhere. 4 In: S. L. Frank: Reality and man. An essay in the metaphysics of human nature. Translated from the Russian by Natalie Duddington. With a foreword by Georges Florovsky. New York, Taplinger 1967 c. 1965. XVIII, 238 S. Zitate S. IX, X, XI, XIII.

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Florowski selber denkt das Verhältnis von Gott und Welt als ein Übereinander bzw. Untereinander, in dem Gott und Welt strikt von einander geschieden sind. Mit der Behauptung, in Franks Sein gebe es keinerlei »Kontingenz«, identifiziert er ohne Begründung das Seinsverständnis Spinozas mit dem Franks (und ignoriert dessen subtile Aufsätze zu Spinoza). Im Jahr 1954 gab W. Senkowski in München in russischer Sprache einen Band zum Andenken an den verstorbenen S. L. Frank heraus; er enthält persönliche Erinnerungen (u. a. von L. Binswanger) und Beiträge zu Franks Philosophie und literaturgeschichtlichen Aufsätzen. 5 W. N. Iljin schrieb über »Nikolaus von Kues und S. L. Frank«, S. A. Lewitzki über »Franks Ethik«; N. O. Losski nutzte die Gelegenheit, seine eigene Erkenntnislehre 6 mit dem Frankschen Werk von 1915 in Beziehung zu setzen. Dm. Tschizˇewskij schrieb anerkennend über Frank als Historiker der Philosophie und Literatur. Der Herausgeber steuerte einen Beitrag zu »S. L. Franks Lehre vom Menschen« bei, in dem die Anerkennung die Kritik überwiegt. Franks philosophische Lehre vom Menschen insgesamt sei »das Beste und Bedeutendste, was von den Vertretern des All-Einheits-Systems über den Menschen gesagt worden ist« (83 f.). G. Florowski verfaßte einen Beitrag über »Die religiöse Metaphysik S. L. Franks«. 7 Er bestätigt die »Kühnheit der Analyse«, die gerade Franks späte Werke auszeichne, doch, so meint er, »die ganze Analyse scheint in den Grenzen der ›Logik‹ zu verbleiben«. Seine teilweise groben Mißverständnisse der Frankschen Philosophie sind bereits hier anzutreffen. Die »alles-einschließende« All-Einheit des Seins ist »in der überzeitlichen Kreisbewegung ihrer Fülle verschlossen [zamknuto v sverchvremennom krugovrasˇcˇenii]«. »In der ›All-Einheit‹ ist nur die Aufeinanderfolge der Kreisbewegung [posledovatel’nost’ krugovrasˇcˇenii] möglich, nicht aber die Aufeinanderfolge von Handlungen [postupanija], denn in der ›All-Einheit‹ kann selber nichts wesentlich Neues ›geschehen‹ oder ›entstehen‹« (150). Auch hier behauptet Flo5 Sbornik pamjati Semena Ljudovigovic ˇ a Franka. Pod red. pr. o. V. Zen’kovskogo. (München) 1954. 193 S. 6 Vgl. Nikolai O. Losskij: Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine propädeutische Erkenntnistheorie. Halle a. d. S. 1908. Ders.: Personalistischer Idealrealismus. In: KantStudien Bd. 51 (1959/60), 387–409. 7 Prot. G. Florovskij: Religiosznaja Metafizika S. L. Franka. In: Sbornik pamjati Semena Ljudovigovicˇa Franka, S. 145–156. Florowski war zu dieser Zeit Dekan des orthodoxen St.Vladimir-Seminars in New York und Professor für dogmatische Theologie.

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rowski, Frank gehe »im wesentlichen nicht von der Botschaft des Evangeliums aus, sondern von der Lehre Platons, und das Evangelium selbst begreift er in den Kategorien des ›Platonismus‹. Deshalb nimmt er es, sozusagen, ›in Auswahl‹ zu Kenntnis und läßt außer acht, was in den Rahmen des ›Platonismus‹ nicht hineinpaßt«. »Vom Kreuz spricht Frank fast überhaupt nicht« (151). Der Autor entdeckt weiter, daß Franks Denken »mit dem Grundmotiv des deutschen Idealismus, insbesondere Hegels zusammenfällt«. Weil Frank die Freiheit Gottes gegenüber der Welt nicht anerkennen könne, sei auch eine »völlige Andersheit« Gottes nicht wahrhaft gegeben. »In den Grenzen des Seins, wie es Frank beschreibt, ist kein Platz für irgendeine ›Kontingenz‹«; es sei »statisch«, »nichts ›Neues‹ kann in ihm ›entstehen‹, nur das (noch) nicht Offenbare kommt (hier und jetzt) zum Vorschein« (154–155). Das philosophische Herangehen an religiöse Fragen ist den theologischen Kritikern offensichtlich nicht geheuer. Ihnen erscheint das religiöse Bewußtsein als ein Naturschutzgebiet, in dem Philosophen mit ihren Analysen nichts zu suchen haben. Bezeichnend ist die Bemerkung Senkowski: »Eine Philosophie der Religion ist nur auf dem Boden der Theologie möglich, aus dem einfachen Grund, weil man Religion nicht von außen, von der Metaphysik her, ›verstehen‹ kann«. Frank könne den religiösen Fragen nicht gerecht werden; er behandelt sie, wie Senkowski meint, »auf der Ebene des gegenständlichen, nicht des intuitiven Denkens«; in der Religiosität habe ihm »die Metaphysik das ›lebendige Wissen‹ versperrt«. 8 Wenigstens zu erwähnen sind die Dissertationen von R. Tannert: Zur Theorie des Wissens. Ein Neuansatz nach S. L. Frank 9 und R. Gläser Die Frage nach Gott in der Philosophie S. L. Franks. 10 Von ganz anderem Geist als die bisher referierten theologischen Bewertungen ist die Stellungnahme von Nelli Motroschilowa 11 , die über eine gute Kenntnis der neuzeitlichen Philosophie verfügt und Frank in den Zusammenhang mit den Philosophen seiner Zeit stellen kann, den deutschen, aber auch den russischen wie N. Losski, A. Wwedenski, L. Lopatin. Franks Gegenstand des Wissens gehört, V. V. Zen’kovskij, II, 2, S. 177. Dissertation Universität Gregoriana, Rom, 1971 (Frankfurt 1973). 10 Dissertation Universität Gregoriana, Rom 1974 (Würzburg 1975). Gläser behauptet einen Monismus und Pantheismus bei Frank. 11 N. V. Motros ˇ ilova: Mysliteli Rossii i filosofija zapada – V. Solov’ev, N. Berdjaev, S. Frank, L. Šestov. Moskau 2006. S. 322–380. 8 9

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wie sie feststellt, zu den besten Werken der philosophischen Weltliteratur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die den Vergleich mit den Schriften Cohens, Rickerts, Natorps, Husserls, Cassirers und anderer nicht zu scheuen braucht (328). Teils greift Frank die Erkenntnisse seiner philosophischen Zeitgenossen auf, teils nimmt er aber auch, was diese erst später vorbringen, vorweg (338). Von besonderem Interesse ist der Hinweis auf Franks Weiterführung von Husserls »Ideen zu einer reinen Phänomenologie« in Richtung auf die ontologische Begründung des Erkenntnisaktes (331). Ausführlich wird die Verbindung Franks zu Kant behandelt. Mit Kant geht Frank über Kant hinaus. Wichtig ist die Beobachtung, wie sehr Frank in seinem frühen Werk von Solowjows Denken abweicht (335 f.). In die Mitte ihrer eigenen Untersuchung stellt Motroschilowa die erkenntnistheoretische Begründung der Ontologie durch Frank. Weiterführende Diskussion verdienen die Anmerkungen zum ontologischen Status des »idealen Seins« (361). Das gesamte Franksche Werk dreht sich, wie Motroschilowa zu Recht bemerkt, um die Frage der Ontologie »Was ist eigentlich?«. In der Beantwortung dieser Frage hat Frank eine »originelle Variante der Philosophie des Lebens« geschaffen (325 f.). In der Analyse des Begriffs des »gesellschaftlichen Seins« zeigt Motroschilowa, daß Frank auch in seiner Sozialphilosophie konsequent die grundlegenden Prinzipien seiner »ganzheitlichen Philosophie des Lebens« anwendet (365–368). Zu den wichtigsten neueren Stellungnahmen gehört die Arbeit von Piama P. Gajdenko: Die Metaphysik der konkreten All-Einheit oder der Absolute Realismus S. L. Franks. 12 Bei aller Anerkennung, die sie Frank entgegenbringt, erhebt sie doch Einwände, die sich gegen den Kern seiner Philosophie richten und der Verurteilung, die schon Florowski ausgesprochen hatte, nicht nachstehen. Das Identitätsgesetz, das Aristoteles als höchstes Gesetz der Logik aufgestellt hatte, werde von Frank »durch das Gesetz der Identität der Widersprüche« ersetzt, so daß es ihm nicht mehr möglich sei, ein Seiendes als »es selber« zu denken, das sich von den anderen, mit denen es verbunden ist, unterscheidet. Der Begriff des all-einen Seins und damit verbunden das Prinzip des antinomischen Monodualismus wiP. P. Gajdenko: Metafizika konkretnogo vseedinstva ili Absoljutnyj realism S. L. Franka. In: P. P. Gajdenko: Vladimir Solov’ev i filosofija serebrjanogo veka. Moskau 2001. S. 242–300.

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derstreite der (aristotelischen) Substanzontologie. Das Sein sei in Franks Seinslehre konturlos, denn »die Substanz als Kategorie ist das ontologische Analogon des logischen Identitätsgesetzes« (269 f.). Infolgedessen verstehe Frank das Sein als »einen unendlichen Strom von Verbindungen und Beziehungen, wo es nichts Selbstidentisches gibt, wo jedes als das andere des anderen erscheint« (270). Frank, der die klare Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt nicht anerkenne, so Gajdenko, verstehe das Bewußtsein als »absolutes Sein«. »Um beweisen zu können, daß es außerhalb des Bewußtseins nichts gibt, postuliert er, daß der Gegenstand der Erkenntnis der Erkenntnis nicht äußerlich ist, sondern sich in ihr befindet« (260). »Der menschliche Geist ist, Frank zufolge, selber Sein, und deshalb gibt es zwischen ihm und der All-Einheit des Seins keinerlei Schranke« (263. Vgl. hierzu GdW 311–313). Die nach Gajdenkos Auffassung verfehlte Ontologie Franks habe Konsequenzen für dessen Gottes- und Schöpfungslehre. »Die Konzeption der All-Einheit, wie S. Frank sie vorstellt, ist unvereinbar mit der Idee der Schöpfung«, behauptet Gajdenko kategorisch. Denn das »Nichts«, aus dem nach der traditionellen Auslegung des Schöpfungsgedankens Gott schafft, sei mit Franks All-Einheitslehre unvereinbar. Weil Frank nicht den Substanzbegriff als das Grundprinzip der Ontologie ansetzt, sei alles Einzelne nur, sofern es mit etwas anderem verbunden ist und auf dieses andere verweist. »Unter diesem Gesichtspunkt ist die Welt ›das Andere‹ Gottes. Das heißt, daß Gott nicht existiert und nicht denkbar ist außerhalb seiner Beziehung zur Welt, so wie die Welt nicht außerhalb ihrer Beziehung zu Gott«. Die Welt als »das Andere Gottes« ist keineswegs dasselbe wie die »Schöpfung Gottes« (284, ähnlich 271). Franks »All-Einheit ist Absolute Realität, metalogische Einheit; in ihr gibt es weder zwischen den geschaffenen Substanzen, noch zwischen Geschöpf und Schöpfer eine Verschiedenheit« (271). Was das Verhältnis Gottes zur Welt betrifft, gehe Frank noch weiter als Solowjow, denn er sei bestrebt, die Grenze, die jener noch anerkannte, »zu beseitigen, indem er die Realität unserer Welt – und in der Tat die diesseitige – als die einzige behauptet« (272; Hervorh. v. Gajdenko 13 ). Das bedeutet (so wird man die 13 [utverz ˇ daja edinstvennuju – i v samom dele posjustoronnjuju – real’nost’ nasˇego mira]. Gajdenko folgt hier I. I. Evlampiev: Cˇelovek pered licom absoljutnogo bytija: misticˇeskij realizm Semena Franka. In: S. L. Frank: Predmet znanija/Dusˇa cˇeloveka. St. Pertersburg 1995, S. 5–34 (hier S. 15).

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Autorin wohl verstehen müssen), daß Frank, der den geläufigen Begriff der Transzendenz nicht anerkenne, das Sein Gottes mit dem weltlichen Sein identifiziere – so daß letztendlich ein naturalistischer Monismus als der wahre Gehalt seiner Philosophie sichtbar werde. In ähnlicher Weise urteilt Gajdenko über Franks Anthropologie. Weil der Mensch nicht das »Geschöpf des transzendenten Gottes« sei, halte Frank ihn für »unergründlich«, »und in diesem Sinne unterscheidet er sich durch nichts von der Absoluten Realität, von der metalogischen All-Einheit« (276). Franks Auffassung sei, wie Gajdenko folgert, ein »Panentheismus«, der »einen gewissen Unterschied (Dualismus) von Gott und Welt zu bewahren sich bemüht, zugleich aber auf ihrer uranfänglichen Ungeteiltheit beharrt«. In Franks System der All-Einheit sei es »unmöglich, Gott von der Welt zu lösen und seine wirkliche Transzendenz anzuerkennen. Nur eine dünne Grenzlinie scheidet Franks Panentheismus vom Pantheismus« (285). An anderer Stelle attestiert die Autorin Frank (verglichen mit Solowjow) unumwunden »eine Vertiefung des Pantheismus« (273). Zu Franks Mängeln gehöre, so faßt Gajdenko ihre Beurteilung zusammen, »in erster Linie das seinem Geiste nach pantheistische Zusammenfließen des transzendenten Gottes und der geschaffenen Welt zu einer grenzenlosen All-Einheit. In dessen Folge erweist sich die Welt letztlich als unergründlich, Gott aber erhält solche Merkmale wie Veränderlichkeit, Fließen, Zeitlichkeit, die, vom Standpunkt Franks, gerade seine metalogische Natur bezeugen. […] Die als metalogische All-Einheit verstandene Realität ist so nicht dem Identitätsgesetz unterworfen: Nur der Widerspruch und zwar das Zusammenfallen des Gegensätzlichen ist die adäquate Form des Ergründlich-Unergründlichen – das Schweben über den widersprüchlichen Behauptungen. Die absolute Realität, schreibt Frank, ›bleibt niemals ein und dieselbe, d. h. unveränderlich identisch mit sich selbst, sondern geht, im Gegenteil, über die Grenze jeder Identität hinaus und erweist sich deshalb in jedem Moment und in jeder konkreten Erscheinung als etwas absolut Neues, Einzigartiges und in seiner Weise Unwiederholbares‹. Wenn Frank über die absolute Realität spricht, hat er eben damit auch Gott im Blick. Auch Gott denkt er so, als wenn er zeitlich, veränderlich und in diesem Sinne nicht dem Gesetz der Identität unterworfen wäre« (297. Vgl. DU 199). Im Gegensatz zu Florowski, für den es keine Kontingenz im all-einen Sein gab, löst sich Gajdenko zufolge alles in kontingente Veränderung auf. 330 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Kritische Rezeption

Gajdenko sieht selbstverständlich die Beziehung Franks zur Cusanischen Philosophie; bei Nikolaus erkennt sie den Sündenfall des modernen Denkens, für das jedes Bestimmte, zumal die Person, seinen Selbstand verloren hat. Nikolaus habe den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf eingeebnet, indem er lehrte, daß »das Eine Alles« sei. Damit setzte er sich, wie sie meint, »nicht nur in Widerspruch zur christlichen Theologie, für die es prinzipiell einen Unterschied von Schöpfer und Schöpfung gibt, sondern auch zur Lehre Platons und der Neuplatoniker, die, aus anderen Gründen, nicht das ›Eine‹ und ›Alles‹ identifizierten« (286 f.). Gajdenkos Einwände ähneln im Prinzip den Einwänden, die bereits Johannes Wenck von Herrenberg, Professor der Theologie an der Universität Heidelberg, 1442/43 in seiner Schrift De ignota litteratura gegen die Docta ignorantia erhoben hatte. Wenck hatte in der Cusanischen Koinzidenzlehre eine Bestreitung der »Denkstrukturen des Aristotelismus« und damit einen Angriff auf die Alleinherrschaft der ratio und ihre logischen Gesetzen erkannt. Sein Vorwurf lief auf die Behauptung hinaus, »die Cusanische All-Einheits-Lehre hebe die Wesensgrenzen der Kreaturen auf, indem sie deren distinktes Sein verneine«. Darüber hinaus hatte Wenck Nikolaus vorgeworfen, er wiederhole die (kirchlich verurteilte pantheistische) Lehre Meister Eckharts, derzufolge Gott das Sein selbst ist und damit formaliter alles, was ist, so daß das Endliche wesentlich vergöttlicht wird. Nikolaus hatte in seiner Schrift Apologia doctae ignorantiae 1449 sich mit Wencks Angriffen auseinandergesetzt und sie als Fehldeutungen nachdrücklich zurückgewiesen. 14 Unter den Arbeiten, die in Rußland zu Frank erschienen sind, ist 14 Vgl. M. Enders, a. a. O. S. 430. Weiter schreibt Gajdenko: »Das Unbegrenzte, das in der Tradition Materie genannt und der Form und dem Einen als dem Prinzip jeglicher Formung gegenübergestellt wurde, wird bei Cusanus mit dem Einen identifiziert« (288). »Infolge seiner Ablehnung der Substanzontologie und seiner Kritik des Aristoteles, der als Grundprinzip der Erkenntnis das Identitätsprinzip und Nichtwiderspruchsprinzip aufgestellt hatte, betrachtet Cusanus alles Seiende unter dem Aspekt gegenseitiger Bezüglichkeit. Die Relation tritt an die Stelle der Substanz und die Relationalität tritt bei der Betrachtung der Welt im ganzen in den Vordergrund«. Die »neue Metaphysik« des Cusanus, so Gajdenko, »sei eine »Metaphysik universaler Relationalität: Jedes Seiende ist bezogen auf ein anderes und wird nur durch diese gegenseitige Bezüglichkeit gesehen – als das andere des anderen« (289 f.). – Gajdenko zeigt sich hier von Heinrich Rombach beeinflußt. Vgl. H. Rombach: Substanz, System, Struktur. Freiburg (Alber) 1965, Bd. I, insbesondere S. 212. 0 O. Nazarova: Ontologic ˇ eskoe obosnovanie intuitivizma v filosofii S. L. Franka. Mos-

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auch die erkenntnistheoretische Untersuchung zur »ontologischen Begründung des Intuitivismus« durch Frank von Oxana Nasarowa zu erwähnen. 15 Seine ontologische Erkenntnistheorie, so ihr Ergebnis, löse das Problem der Erkenntnis der transsubjektiven Wirklichkeit. Diese »erschließt sich nur, wenn das Erkennen auf die ganzheitliche Intuition des Seins in der Weise des ›lebendigen Wissens‹ gegründet ist«. Die ontologische Möglichkeitsbedingung dafür ist die »Verwurzelung« des individuellen Seins im Absoluten als AllEinheit (144). Dem Denken Franks angemessen ist auch die Arbeit von Attila Szombath Die antinomische Philosophie des Absoluten. 16 Die Beziehung Franks zu Heidegger und Binswanger referiert neben einer knappen Analyse einiger Kapitel aus Das Unergründliche Tatjana Kochetkova. 17 Zwei Aufsätze befassen sich kritisch mit Franks spirituell-theologischem Denken: Barbara Hallensleben vertritt in einem Beitrag zu Franks Schrift Mit uns ist Gott die auch schon bei Florowski anzutreffende Auffassung, daß Franks Ontologie die absolute Neuartigkeit des christlichen Evangeliums, zumal der Inkarnation, nicht mehr gelten lasse. Sie stellt bei Frank ein unangemessenes rationalistisches Denken fest und meint, daß der »Verdacht des Seinsmonismus entgegen der Absichtserklärung Franks doch nicht ganz auszuräumen« sei. Leider verzichtet sie darauf (wie auch die übrigen theologischen Kritiker), sich mit der Cusanisch-Frankschen Lösung des Transzendenz-Immanenz-Problems philosophisch auseinanderzusetzen. 18 kau 2003 (Mit einem Wiederabdruck von Franks Aufsatz »O krticˇeskom idealizme«, 1904). 16 A. Szombath: Die antinomische Philosophie des Absoluten. Ein Mitdenken mit S. L. Frank. München (H. Utz) 2004 (Dissertation. Hochschule für Philosophie, München 2004). 17 T. Kochetkova: The search for authentic spirituality in modern Russian philosophy. The perdurance of Solov’ëv’s ideal. Lewiston, N.Y. (Edwin Mellen Press) 2007. 18 B. Hallensleben: Simon L. Frank (1877–1950). Sein religiös-philosophisches Denken anhand seines Werkes »Gott mit uns. Drei Überlegungen«, in: Freiburger Zeitschr. für Philosophie und Theologie. 54 (2007) 3, S. 536–571; Zitat S. 568. 0 Ph. J. Swoboda: ›Spiritual Life‹ versus Life in Christ. S. L. Frank and the Patristic Doctrine of Deification. In: Russian Religious Thought, ed. by J. Deutsch Kornblatt and R. F. Gustafson. The University of Wisconsin Press 1996, 234–248. – Die intellektuelle Biographie habe Frank daran gehindert, sich das Christentum unvoreingenommen anzueignen: »Frank was a philosopher before he was a christian …«. Sein Bemühen, die patristische Lehre von der Theosis mit der Kategorie des »geistigen Lebens« verständlich zu machen, habe Frank mit einer »substantiellen« Veränderung der ursprünglichen patristischen Lehre bezahlt (237 f.). Die hypostatische Einheit der göttlichen und der

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Kritische Rezeption

Ph. J. Swoboda handelt über Frank and the Patristic Doctrine of Deification. Der Autor bestreitet, daß Franks Verständnis des Gottmenschentums mit der orthodoxen Lehre der Theosis verwandt sei. 19 Einen bemerkenswerten Schritt zur Rezeption des Frankschen Werks in Rußland markiert der Band »Das philosophische Erbe S. L. Franks und die Gegenwart«; er protokolliert eine Konferenz, die an der Universität Saratow vom 14.–16. Mai 2007 gehalten wurde, und enthält kurze Analysen zu Franks Lehre der Intuition, Ontologie, Anthropologie und Axiologie. 20 – Für die theologischen Interpreten ist die Koinzidenz, insbesondere in Hinblick auf die Beziehung von Schöpfer und Geschöpf der Stein des Anstoßes. Als Vermischung oder Identifizierung gedeutet, ist sie in der Tat sowohl philosophisch als auch theologisch inakzeptabel. Ohne das Prinzip des non-aliud ist der philosophische Gottesbegriff sowohl des Cusanus wie Franks nicht zu verstehen. Weder für Nikolaus noch für Frank ist Gott die Schöpfung in der Weise der Erscheinung. Die Lehre von der analogia entis versucht, die Ähnlichkeit der Schöpfung mit ihrem Schöpfer mit der immer noch größeren Unähnlichkeit zu vereinen und so die Ungereimtheiten eines abstrakten Dualismus als auch eines Monismus in der Beziehung von Gott und Schöpfung zu vermeiden; freilich muß auch sie die »Einheit« von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit als unergründlich stehen lassen. Es ist bemerkenswert, daß die Seinsanalogie in den kritischen Stellungnahmen keine Beachtung findet. Für Frank ist der Selbstand und damit die Würde der Person allein durch die Beziehung, die Gott mit dem Menschen eingeht, indem er ihn an seinem Wesen teilhaben läßt, begründet; sie zeigt sich als real, indem das eigene Selbstsein sich selbst in die gotterfüllte Tiefe der Realität transzendiert. Das Wesen des Menschen zeichnet sich durch lebendige Geistigkeit aus, zu deren Wesen die Relationalität gehört.

menschlichen Natur in Christus sei für Frank nothing but a preeminent exemplar of a union of divine and human being that is characteristic of man’s nature as such. Franks These, die potentielle Teilhabe an der göttlichen Natur müsse lebendig gewußt sein, soll sie als Offenbarung erkannt werden können, akzeptiert Swoboda nicht. Er repliziert: The logical priority belongs to the hypostatic union. For Frank, however, the relation is reversed (243). 20 Filosofskoe nasledie S. L. Franka i sovremennost’. Sbornik nauc ˇ nych statej. Saratov 2008. 227 S.

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

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Religionsphilosophie

In der russischen philosophischen Literatur sind die Bezeichnungen filosofija religii (»Philosophie der Religion« bzw. »Religionsphilosophie«) und religioznaja filosofija (»religiöse Philosophie«) gebräuchlich. Für N. Berdjaew ist religioznaja filosofija gleichbedeutend mit Theosophie, die meditativ gewonnene Einsichten assoziativ verknüpft; einer ihrer prominentesten Vertreter ist für ihn Jakob Böhme. Franks philosophisches Denken ist weit davon entfernt, in diesem Sinne »religiöse Philosophie« zu sein. »Das Unergründliche« trägt den Untertitel »Ontologische Einführung in die Religionsphilosophie« (v filosofiju religii); es fragt nach dem Sein Gottes, an dem der Mensch teilhat, und nach dem Sein des Menschen, dem Gott immanent ist. »Die Realität und der Mensch«, in dem der zweite Aspekt im Vordergrund steht, wird im Untertitel als »Metaphysik des menschlichen Seins« bezeichnet. Franks Philosophie ist philosophische Gotteslehre, die Gott nicht als Objekt sich gegenüberstellt, für die vielmehr Gott mit dem erkennenden Subjekt »ungetrennt und unvermischt« eins ist. Sie fragt nach den transzendentalen Bedingungen unseres Wissens von Gott. Sie reflektiert das Wissen, das von den Gegenständen der Religion, vom Bösen und der Schuld gewonnen werden kann, und den religiösen Sinn des Leidens und des Sterbens; sie befragt die subjektiven Voraussetzungen der eigenen Religiosität. Sie ist als solche kritisch argumentierende Religionsphilosophie.

3.

Russische Philosophie

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war das intellektuelle Leben in Rußland durch zwei – meist schroff sich von einander abgrenzende – Strömungen charakterisiert: die der Westler und der Slawophilen. Frank war in seiner persönlichen geistigen Einstellung ein Westler, der doch wesentliche Motive auch der Slawophilen in sein Denken integriert hat. Bei ihm begegnet die souveräne Vereinigung beider Denkrichtungen. Die Erklärung philosophischer Erkenntnisse aus dem Nationalcharakter, wie sie bei manchen Slawophilen anzutreffen war, lehnte er entschieden ab. Beispielhaft ist dafür die Auseinandersetzung, die er 1910 mit dem neu-slawophilen Wladimir Ern über 334 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Russische Philosophie

den »Nationalismus in der Philosophie« führte 21. Ern hatte in einem Aufsatz die Zeitschrift »Logos« scharf getadelt und den Redakteuren, S. Hessen und F. Stepun, vorgeworfen, sie würden, weil in einem rationalistischen Denken befangen, die wahre Bedeutung des »ganzheitlichen schöpferischen Logos« verkennen. Ern reklamierte diesen »Logos« für die russische Denk- und Lebensweise und behauptete, das »westliche« Denken, das sich nur von der Ratio leiten lasse, sei dem russischen intuitiven grundsätzlich unterlegen. Frank weist die Angriffe Erns nicht nur als sachlich falsch, sondern »eben deshalb auch [als] praktisch gefährlich« nachdrücklich zurück. Zugleich aber nimmt er Erns Anliegen ernst. Franks Absicht, zu versöhnen und den auch im Irrtum verborgenen Kern der Wahrheit freizulegen, findet hier (wie bei zahlreichen anderen Gelegenheiten) ihren Ausdruck. In Der Gegenstand des Wissens weist Frank die Bedeutung der Intuition gerade für das rationale Denken nach, denn jeder »Bestimmung« geht logisch notwendig das ungegenständliche Wissen »als Intuition der All-Einheit« voraus (z. B. GdW 296 ff.). Als Gewährsleute nennt Frank zeitgenössische Philosophen, darunter Husserl und Losski, und er unterstreicht die Bedeutung des Nikolaus von Kues (z. B. GdW 289). Auch im Exkurs über den ontologischen Beweis geht es u. a. darum, daß das intuitive Denken, rational gerechtfertigt, bei zahlreichen großen »westlichen« Philosophen anzutreffen ist. Die Kirche, die für Ern die Hüterin des wahren Logos ist, wird in Franks Denken eine zentrale Stelle einnehmen – freilich in einer Gestalt, die Erns Vorstellungen übersteigt. Ebenso wird von Frank die von slawophilen Denkern geforderte Anerkennung des personalen Moments berücksichtigt. Er überwindet die unfruchtbare Frontstellung gegenüber dem »Westen«, indem er zeigt, daß wesentliche Motive der russischen geistigen Tradition in anderer Gestalt und anderem Zusammenhang auch im »Westen« wirksam sind. Das gilt auch für die spirituellen Motive. Wenn Frank am Ende seines Schaffens feststellt, daß er neben der philosophischen auch der mystischen Literatur viel verdanke, so wird man in erster Linie an Meister Eckhart, an die deutsch-niederländische Mystik um die devotio moderna und an die 21 Vgl. hierzu A. A. Ermic ˇ ev: S. L. Frank, Filosof russkogo mirovozzrenija. Einführung zu S. L. Frank: Russkoe mirovozzrenie. St. Petersburg 1996, S. 11–14. – V. Ern hatte zu Beginn des Ersten Weltkriegs seine Abhandlung »Von Kant zu Krupp« veröffentlicht, in der er den Kantischen Rationalismus für den Kriegskurs des Deutschen Reiches verantwortlich machte (Russkaja mysl’, 1914, Nr. 12, 116–124).

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

französische und spanische Mystik um Franz von Sales, Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz denken dürfen (vgl. RM 126; 274; 293). Bis in die unmittelbare Gegenwart wird die Frage, ob es denn überhaupt eine eigenständige Philosophie in Rußland gebe, unter russischen Intellektuellen diskutiert. M. Soboleva schlägt in ihrer Untersuchung über die »russische Philosophie im Kontext der Interkulturalität« vor, diese Frage »aus philosophiegeschichtlicher Perspektive« zu beantworten. 22 Sie nennt drei Strömungen, welche die Gestalt russischen Philosophierens hauptsächlich beeinflußt haben: das griechische Erbe sowie westeuropäische und schließlich fernöstliche Einflüsse. 23 Zwar enthält Franks Lehre, daß nur die freie Annahme des Leidens zu einer vertieften Erfahrung der Realität und so zur inneren Ruhe führen und vom Leiden befreien könne, auch buddhistische Motive. Doch gibt es keine Hinweise, daß hier ein fernöstlicher Einfluß auf Frank gewirkt habe. Viel näher liegt die christliche Kreuzesmystik. Um so wichtiger sind die beiden erstgenannten Quellen. Hier aber zeigt sich sogleich die Besonderheit Franks, denn das neuplatonische Denken hat er anders als die slawophilen Philosophen primär nicht vermittelt durch die byzantinisch-christliche Spiritualität kennengelernt, sondern durch das unmittelbare Studium Plotins, der kein Christ war, und der bedeutendsten Vertreter neuplatonischen Denkens in der westlichen Christenheit, Augustinus und Nikolaus von Kues. Aufschlußreich ist dabei, daß Themen, die für das Philosophieren in Rußland als typisch angesehen werden, wie die Sophiologie (Solowjow, Florenski, Bulgakow) und die »Russische Idee« (Solowjow, Berdjaew) bei Frank fehlen. Die andere Stellung der »Weisheit« in Franks Denken scheint auch durch die nüchterne Art, mit der Nikolaus von Kues mit dem Begriff sapientia umging, beeinflußt. Die Weise, wie Frank das Thema des Gottmenschentums entfaltet – nach Berdjaew ein für die russische religiöse Philosophie typisches Thema –, steht dem Cusanischen Denken näher als dem Solowjows. Nicht gering einzuschätzen für Franks geistige Prägung ist Augustinus, ein lateinischer Vermittler der neuplatonischen Denkweise. Der starke Einfluß der neuzeitlichen westeuropäischen Philosophie, insbesondere der deutschen, auf Frank ist offensichtlich. M. Soboleva: Russische Philosophie im Kontext der Interkulturalität. Nordhausen 2007. S. 106. 23 Ebd., S. 107. 22

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Desiderate der Forschung

Kants transzendentale Frage wurde Franks methodisches Leitprinzip; Fichte wurde darüber hinaus auch durch sein Verständnis des Seins als Geist und Leben wichtig; auf die Bedeutung des Personalismus für Franks Philosophie wurde hingewiesen. Franks Persönlichkeit war reich genug, um sich die Schätze der europäischen Philosophie vorurteilsfrei zu eigen zu machen. Dabei steht es außer jedem Zweifel, daß sein Werk wesentlich mehr ist als nur eine »Entlehnung« und Kombination fremder philosophischer Stoffe, in der Boris Jakowenko (gest. 1949) das Merkmal russischen Philosophierens sah. Der unfruchtbare Streit darüber, ob es innerhalb des russischen philosophischen Denkens eine originelle philosophische Leistung gibt 24 , kann durch Frank endgültig als beendet angesehen werden. Frank fühlte sich als russischer Patriot, der die Wurzeln seines geistigen Seins im russischen »Boden« fand. Diese Herkunft hat sein Denken befruchtet, aber nicht beschränkt. Über die Benennung seiner Herkunft hinaus ist sein Denken nicht mehr in einem nationalen Sinn zu charakterisieren.

4.

Desiderate der Forschung

Eine eigene Untersuchung verdient die Verwurzelung Franks in der kulturellen Tradition Rußlands. Hier ginge es sowohl um die Bedeutung der russischen Literatur für Frank, aber auch auf die Beziehung zu russischen Philosophen. An erster Stelle wäre die Wirkung, die W. Solowjow auf Frank ausgeübt hat, zu untersuchen; Frank hat sie als ihm nicht »bewußt« charakterisiert und sie erst in seiner letzten Arbeit voll anerkannt (RM 125). Wichtiger als die Frage nach den biographischen Einflüssen ist die nach der Begründung der philosophischen Erkenntnis. Ein weites Feld fruchtbarer Forschung bietet in systematischer Hinsicht die durch Nikolaus von Kues vermittelte und von Frank mit der neuzeitlichen Phänomenologie und dem Personalismus verbundene neuplatonische Ontologie der All-Einheit. Es ist keineswegs belanglos, daß Frank den Philosophen und Theologen Nikolaus von Kues als seinen »gewissermaßen einzigen Lehrer« der Philosophie bezeichnet hat – und nicht Husserl, Bergson oder einen anderen Philosophen der Neuzeit, denen er gleichfalls Anregungen verdankte. Nikolaus ist 24

Vgl. M. Soboleva, S. 108 f.

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

nicht nur durch seine Erkenntnislehre und Ontologie wegweisend geworden, sondern nach Franks eigenem Bekunden auch durch seine Hochschätzung des Menschen und seine philosophisch-theologische Begründung eines christlichen Humanismus. Der Dreh- und Angelpunkt des Frankschen Systems ist die Frage nach der Immanzenz und Transzendenz von Gott und Mensch, bzw. Schöpfer und Geschöpf. Seine Lösung dieses wohl schwierigsten Problems der Metaphysik hat Frank mit der Cusanischen Koinzidenzlehre gegeben und damit den Widerspruch jener Theologen herausgefordert, die sein Werk bisher zur Kenntnis genommen haben. Diese Lösung, in der die Immanenz wie auch die Transzendenz nicht mehr logisch gegeneinander abgegrenzt werden können, befriedigt das gegenständliche Denken des »entweder–oder« nicht. Dem objektivierenden Verstehen Gottes muß das »belehrte Nichtwissen« in der Tat wie die Auflösung des zuvor sicheren intellektuellen Besitzes in ein flüchtiges Schemen und die »Koinzidenz« des göttlichen mit dem eigenen Sein als ein das christliche Gottesbild zerstörender Pantheismus erscheinen. Für Frank dagegen ist die »unvermischte« und »ungetrennte« Einheit des Göttlichen und Menschlichen überhaupt die Bedingung dafür, sich dem unbegreiflichen Gott selber nähern, d. h. ihm in seiner Offenbarung begegnen zu können. Die Scheidelinie zum Irrtum ist hier in der Tat »dünn«, wie P. Gajdenko festgestellt hat. Doch kommt es nicht darauf an, wie dick oder dünn sie ist, sondern darauf, daß sie vorhanden ist. Über dem rational unauflösbaren Widerspruch zu »schweben«, ist zweifelos unkomfortabel; der Wunsch, stattdessen auf einem »objektiven« Grund zu stehen, ist verständlich und kann zum Anlaß weiterer Forschung werden, die auch die Frage weiter verfolgt, wie die christliche Botschaft einem säkularisierten, intellektuell anspruchsvollen Publikum nahegebracht werden kann. Zu den aufgeworfenen Fragen, die weitere Diskussion verdienen, gehört die Eignung der transzendentalphilosophischen Methode für die Religionsphilosophie. Hier kann es zum tieferen Verstehen beitragen, die ideelle Nähe zu untersuchen, in der Frank zu der von dem belgischen Philosophen und Theologen Joseph Maréchal angestoßenen Denkrichtung steht, die das transzendentale Denken Kantischer Provenienz in Verbindung mit der thomistischen Metaphysik für die philosophische Gotteslehre fruchtbar machte. 25 Maréchal be25

J. Maréchal SJ: Le point de départ de la métaphysique. Löwen 1922–1947.

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Desiderate der Forschung

einflußte nachhaltig Philosophen und Theologen wie Karl Rahner, Johannes B. Lotz und Emerich Coreth. Auf die teilweise frappierende Übereinstimmung Franks mit der Religionsphilosophie K. Rahners wurde mehrmals hingewiesen. Ein äußerliches, aber doch bezeichnendes Indiz für die geistige Nähe beider Denker ist ihre gleichlautende Charakterisierung der neuzeitlichen atheistischen Zurückweisung des christlichen Glaubens. Frank hatte in Das Licht in der Finsternis diese Zurückweisung einen »bekümmerten Unglauben [skorbnoe neverie]« genannt. Rahner hat wenige Jahre später die gleiche Formulierung in seiner Analyse des neuzeitlichen Atheismus gebraucht. 26 Eng berühren sich beide Denker im Begriff der »Erfahrung«. Für Frank ist er, veranlaßt durch Fichtes Lebensbegriff, durch W. James und die personalistische Phänomenologie, in erkenntnistheoretischer, aber auch in religionsphänomenologischer Hinsicht zu einem zentralen Begriff seines Denkens geworden. Auch wenn Rahners Begriff der »transzendentalen« Erfahrung (der gleichfalls durch Fichte beeinflußt erscheint 27 ) bei ihm nicht begegnet, kennt er die Begriffe des »verstehenden Erlebens« und »lebendigen Wissens«, die diese Erfahrung einschließen. Nach Rahner gehört die transzendentale Erfahrung »zu den notwendigen und unaufhebbaren Strukturen des erkennenden Subjekts selbst« und besteht als transzendentale »gerade in dem Überstieg über eine bestimmte Gruppe von möglichen Gegenständen«. Sie ist das »subjekthafte, unthematische und in jedwedem geistigen Erkenntnisakt mitgegebene, notwendige und unaufhebbare Mitbewußtsein des erkennenden Subjekts und seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weise aller möglichen Wirklichkeit«; als solche ist sie die »Bedingung der Möglichkeit jedweder konkreten Erfahrung irgendeines beliebigen Gegenstandes«. Übereinstimmend mit Frank meint Rahner, daß die »ursprüngliche Gotteserkenntnis« nicht eine gegenständlichrationale ist; sie ist vielmehr »immer nur ein Verweis auf die transzendentale Erfahrung als solche, in der sich immer der, den wir ›Gott‹ nennen, schweigend dem Menschen zusagt – eben als das Absolute, Unübergreifbare, als das nicht eigentlich in das Koordinatensystem einrückbare Woraufhin dieser Transzendenz«. Mit der Erfah26 Im Artikel »Atheismus«, Lexikon für Theologie und Kirche, Band I, Freiburg 1957, und an anderen Stellen. 27 Vgl. L. Gruber: Transzendentalphilosophie und Theologie bei Johann Gottlieb Fichte und Karl Rahner. Frankfurt a. M. 1978.

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

rung dieser Transzendenz, die dem Menschen als Menschen wesentlich ist, ist Rahner zufolge »ein gleichsam anonymes und unthematisches Wissen von Gott gegeben«. Der Mensch ist darum – übereinstimmend mit Frank – »das Wesen der Transzendenz auf das heilige, absolut wirkliche Geheimnis«. 28 Schon diese wenigen Sätze über das zum Wesen des Menschen gehörende unthematische Transzendieren im Erkennen und Wollen auf den Horizont des Unendlichen zeigen, daß Rahner und Frank als Philosophen aus einem ähnlichen Prinzip denken. Beide bemühen sich zu zeigen, daß jeder Mensch, der im Dienst der »Wahrheit« lebt, das ewige Heil erlangen kann; beide betonen, daß die Heilstat Christi für die Menschen aller Zeiten gilt. Zu fragen wäre, in welchem Sinn das Transzendieren als Grundform religiöser Erfahrung angesehen werden kann. Franks phänomenologische Analyse (z. B. zur transzendentalen Erfahrung der Gemeinschaft, des Schönen u. a.) macht auf Unterscheidungen aufmerksam, die auch die Theologie befruchten können. Frank selber hat auf den Einfluß aufmerksam gemacht, den der christliche Glaube auf seine Lehre von der lebendig wißbaren Anwesenheit Gottes im Menschen hat: »Auf den ersten Blick und ihrer äußeren Form nach ist sie zwar Resultat einer philosophischen Überlegung und Rechenschaft über das persönliche Selbstverständnis […], in Wirklichkeit aber war sie nichts anderes als das Ergebnis der positiven Offenbarung Christi«. Er fährt fort: »Alles, worüber ich bisher gesprochen habe, wäre für das menschliche Denken ganz unerreichbar, wenn nicht ein Same darin angelegt wäre, der von Christus gesät und durch seine Offenbarung vermittelt worden wäre« (S nami Bog 29 ). Frank läßt keinen Zweifel daran, daß die Offenbarung Christi fundamental für die Gotteserkenntnis überhaupt ist – und damit auch für das Endziel seiner philosophischen Arbeit: »Mit unserer persönlichen Erfahrung allein, ohne die Mitwirkung von Christi Offenbarung, könnten wir niemals die Fülle, Klarheit, Vollkommenheit des Wissens vom wahren Wesen Gottes, der authentischen göttlichen Wahrheit erreichen« (ebd. 288). Frank hat nicht weiter reflektiert, wie weit sein Glaube seine K. Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg 1976, S. 31. 29 S. L. Frank: S nami Bog. Tri razmys ˇ lenija. In: Duchovnye osnovy obsˇcˇestva. Moskau 1992. S. 289 (Teil I am Ende). 28

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philosophische Erkenntnis insgesamt beeinflußt hat. Beschränkt sich sein Einfluß darauf, die Aufmerksamkeit auf Fragen zu lenken, die prinzipiell auch ohne ihn zu erkennen und zu beantworten sind, oder fließt der Glaube auch in den Beweisgrund ihrer Beantwortung ein? Zu den Feldern, von denen fruchtbare Anregungen für die Diskussion ausgehen können, gehört schließlich auch Franks provokante Stellungnahme zu den Menschenrechten. Herausfordernd für das aktuelle Verständnis ist seine These, daß die Pflicht, jedes Handlungsziel auf »die Waagschale der Wahrheit« zu legen und an diesem Maß zu messen, den Rechten des Menschen immer vorausliegt. Jedes Recht fließt letztlich aus »dem einzigen dem Menschen ›angeborenen‹ Recht: aus dem Recht zu fordern, daß ihm die Möglichkeit gegeben sei, seiner Pflicht zu genügen« (GGdG 221). Darum ist das einzige unantastbare Menschenrecht, das diese Bezeichnung verdient, das Recht das »wahrhaft Gesollte« zu suchen und ihm entsprechend handeln zu können. Mit dieser Pflicht innerlich verbunden ist die Freiheit des Gewissens und Glaubens. Der hohe Rang, den Frank der Freiheit zuerkennt, wird hier nochmals bestätigt. Diese Rangordnung kommt, wie Frank es nennt, in der »Dreieinheit der Prinzipien des Dienstes, der Solidarität und der Freiheit« zum Ausdruck, in welcher der Dienst an der Wahrheit die erste Stelle einnimmt (GGdG 219). Dieser Dienst aber kann nur ein freier sein; die Zuordnung der Freiheit zur Solidarität, hat nichts mit einer heteronomen Beschränkung durch einen Kollektivwillen zu tun, sondern bringt die in der »Gemeinschaftlichkeit« gründende Verantwortung jedes Einzelnen für die Gesellschaft zum Ausdruck.

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Franks entschiedene Absicht, die sich vom Aufsatz in den »Wegzeichen« [vechi] am Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zur »Metaphysik des menschlichen Seins«, 1949, verfolgen läßt, war darauf gerichtet, einen »Humanismus« zu begründen, der jenseits unverbindlicher Schwärmerei dem Menschen in einer orientierungslosen Gesellschaft geistigen Halt gibt. Der Rückblick nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Greuel der Revolutionen, der Vertreibungen, der Kriege und des Völkermords hat die Einsicht der frühen Jahre bestätigt, daß »die Hauptursache für die Verwirrung und Tragik« dieses Jahrhunderts in der pervertierten Selbsteinschätzung des 341 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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Menschen liegt. »Der Glaube an den Menschen« hatte sich vom »Glauben an Gott« gelöst und der Mensch sich selbst zum Gott erhoben. Diese »fatale Entzweiung« zu überwinden und zu zeigen, daß der Mensch seinen wahren Grund in der »untrennbaren Verbindung der Idee des Menschen und der Idee Gottes«, d. h. in seiner »›Gottmenschlichkeit‹« findet, ist das Ziel des philosophischen Werks Franks. Der »eigentliche Sinn des christlichen Glaubens«, wie Frank ihn sah, war damit zum Ausdruck gebracht (vgl. RM 125). Die Begründung des wahren menschlichen Ranges konnte nicht das Sondergut einer partikularen Religion sein. Es war eine befreiende Erkenntnis des jungen Frank, daß die christliche Offenbarung von der Menschwerdung Gottes eine Erhebung der menschlichen Natur bedeutet und das mit ihr gegebene Heil eine ontologische Dimension besitzt. Zu ihrer Explikation bedarf die universale Gottmenschlichkeit und der mit ihr grundgelegte Humanismus der Philosophie. Die überlieferte religiöse Begrifflichkeit – so war Frank überzeugt – ist weithin nicht mehr geeignet, der Mehrzahl der europäischen Zeitgenossen den wahren Sinn der Offenbarung zu vermitteln. In ihrem Kern ist Franks Philosophie eine philosophische Gotteslehre, deren methodische Besonderheit im konsequenten Ausgang vom personalen Selbstsein besteht. Das Streben – Transzendieren – des menschlichen Geistes zur Fülle der Realität hat die Erfahrung der Entbehrung der Fülle und zugleich die beschränkte Teilnahme an ihr zur Bedingung. Franks Philosophie ist in dieser Hinsicht eine Entfaltung des »ontologischen Arguments«, in dem Metaphysik und Erkenntnislehre vereint sind. Sie impliziert die Anerkennung der Seinsanalogie (vgl. DU 358–361) und leitet dazu an, den geistigen Blick auf die je verschiedene Anwesenheit Gottes in allem zu lenken. Nicht der Spekulation um ihrer selbst willen gilt Franks Interesse; seine Werke verdanken ihr Entstehen der praktischen Absicht, aufzuklären und zu erziehen. Schon das Projekt des »religiösen Humanismus«, das er in den »Wegzeichen« angekündigt hatte, war von ihr geleitet. Unter den Philosophen ähnelt die Leidenschaft, durch Belehrung zu erziehen, in gewisser Weise Fichte. Sie schloß die scharfe Kritik verderblicher Anschauungen nicht aus. Beispiele dafür sind die kritischen Stellungnahmen zur Zeitgeschichte wie etwa in dem Aufsatz Der Sturz der Idole [krusˇenie kumirov], 1923, mit seiner geistvollen und zugleich vernichtenden Kritik der sozialistischen und liberalen Fortschrittsideologie. Kritiker haben mit Recht bemerkt, Franks Philosophie enthalte 342 https://doi.org/10.5771/9783495860311 © Ver

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S. L. Frank – der Philosoph des christlichen Humanismus

nur wenige Gedanken, die er unter jeweils anderer Rücksicht immer wieder zur Sprache bringt (das beeinflußt auch ihre Rekonstruktion, die Wiederholungen nicht vermeiden kann). Dennoch ist eine gewisse Entwicklung zu beobachten; sie erfolgt kontinuierlich auf dem einmal gelegten Fundament ohne Brüche und totale Neuansätze. Dazu gehört eine zunehmend sich vertiefende Einsicht in die theologische Problematik der anthropologisch-ontologischen Grundeinsichten. Das bezeugen Die Realität und der Mensch und mehr noch die spirituellen Schriften der Spätzeit Das Licht in der Finsternis und Mit uns ist Gott. Frank selber spricht von seinem »philosophischen System«, das er in den vierzig Jahren seines Arbeitslebens geschaffen hat (vgl. RM 125). Sein Fundament ist in allen Hauptwerken die von Platon initiierte philosophia perennis. Sie hat dazu beigetragen, daß sein Werk eine innere Ruhe und Sicherheit ausstrahlt, die für das Selbstverständnis des 20. Jahrhundert ganz ungewöhnlich ist. Wichtiger aber als die neuplatonische Philosophie dürfte in dieser Hinsicht der im christlichen Evangelium fundierte Gottesglaube sein. Was Franks philosophisches Denken interessant macht, ist dennoch seine Modernität, die sich gerade in der Integration der Phänomenologie und des Personalismus in die Ontologie zeigt, und die damit verbundene Entwicklung eines für die Religionsphilosophie fruchtbaren Begriffs der Erfahrung. Es wäre eine Fehleinschätzung, daß es Frank einfach darum ginge, den Glauben der christlichen Kirche in philosophische Begriffe zu kleiden. Zwar ist sein Werk von biblischen, zumal paulinischen und johanneischen Gedanken durchtränkt; seine Bezugnahme auf das Neue Testament ist keineswegs highly selective, wie G. Florowski behauptete. Dessen ungeachtet hat Frank mehrmals seine ideelle Unabhängigkeit von theologischen Vorgaben betont. Ein nicht nur äußeres Indiz für die Weite des Horizonts, in den er die »Idee der Gottmenschlichkeit« gestellt hat und der die üblichen theologischen Assoziationen weit hinter sich läßt, ist das Zitat aus Goethes »Zahmen Xenien« in deutscher Sprache, mit dem er sein Lebenswerk beschloß (RM 395). Und alles Drängen, alles Ringen Ist ewige Ruh’ in Gott dem Herrn. 30 30 Frank illustriert mit diesen Versen seine Lehre des antinomischen Monodualismus; sie sind kein Bekenntnis zu einer monistischen Identitätsphilosophie.

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Kritische Rezeption – Abschließende Bemerkungen

Man würde der Bedeutung des Zitats nicht gerecht werden, sähe man in ihm nur den Wunsch des Autors, noch einmal seine Belesenheit zu beweisen. Nicht allein der Inhalt dieses Zweizeilers, der in kompakter poetischer Form die Koinzidenz des Widersprüchlichen in Gott zum Ausdruck bringt, ist bemerkenswert. Es ist eine versöhnende Geste an die deutsche Kultur, der er so viel verdankte, obwohl die Barbarei, die von Deutschland ausgegangen war, so viel zerstört und auch ihn selbst in Not und Lebensgefahr gebracht hatte. Nicht zuletzt erinnert es daran, daß das künstlerische Schöne – und seien es die Verse eines »großen Heiden« – selber ein Symbol des Göttlichen ist, so daß es in ihm auf die Weise des Nicht-Berührens berührt werden kann.

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Register

Personen Alston 217 Anselm von Canterbury 190–191 Aristoteles 73, 95–96, 124, 153, 170, 328, 331 Augustinus 84, 91, 189–190, 211, 220–221, 225, 242, 244, 336 Bachtin 11 Berdjaew 11, 18–19, 48–49, 77, 81, 284, 334, 336 Bergson 34, 49, 77–78, 81, 124, 144– 145, 186, 228, 282, 337 Binswanger 135–136, 277, 326 Bloch 81 Boethius 199 Böhme 80–81, 233, 279, 284, 287, 321, 334 Boobbyer 15 Brentano 53, 132 Bruno 56, 58 Buber 107, 209 Buddha 248–249 Bulgakow 323, 336 Carlyle 168 Cassirer 72, 110, 206, 309, 328 Chomjakow 115–116 Cohen 123, 327 Copleston 321 Coreth 339 Croce 206 Darwin 50

Descartes 56, 73, 90, 94–95, 106, 128, 149, 190–193 Dewey 51, 72 Dilthey 35, 49, 53, 87, 142, 206, 208 Dionysios Areopagita 197, 205, 220 Dorotheos von Gaza 266 Dostojewski 11, 146, 174, 196, 286 Ebner 107 Elija 212 Enders 98, 232, 331 Ermicˇev 335 Ern 334–335 Evlampiev 329 Feuerbach 107, 245 Fichte 21, 24–25, 30–34, 37, 41, 49, 53, 55, 76, 81, 105, 128–129, 140, 149, 190, 192, 244, 302, 305, 337, 339, 342 Fischer 17, 48 Flasch 307 Florenski 12, 310, 323, 336 Florowski 324–326, 343 Franz von Assisi 117, 209 Franz von Sales 221, 224, 336 Gagarin 116 Gajdenko 328, 338 Gläser 327 Goethe 21, 38, 44–45, 49, 54, 77, 93, 140, 143, 146, 162, 225, 235, 238, 343

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Register Gogol 11 Gregor d. Gr. 202 Gregor Palamas 114 Gregor von Nazianz 202 Hallensleben 253, 332 Hegel 30, 38, 53, 55, 82, 97, 105, 153, 191, 245, 258, 279, 282 Heidegger 72, 95, 100, 135–136, 145, 201, 238, 277 Heine 16 Heraklit 95 Hessen 335 Hick 218 Hoff 151, 316 Hugo von St.Victor 221 Hume 140 Husserl 17, 63, 85, 123, 132, 327, 335, 337 Iljin 326 Iwanow 12, 246, 296, 302 Jacobi 55, 77, 140 Jakim 116 Jakowenko 337 James 49–51, 85, 124 Jeremias 216 Johannes II. 296 Johannes vom Kreuz 202, 336 Kabbala 221 Kant 21, 24–25, 27–28, 31, 34, 37, 45, 52–53, 55, 57–59, 63, 65–66, 91, 122–127, 147, 160, 163, 166, 190, 219, 244, 302, 328, 337–338 Karsawin 19, 116, 323 Kierkegaard 92, 187 Kistjakowski 44 Klimowa 46 Kochetkova 332 Leibniz 122, 140, 190, 287 Leonardo da Vinci 143 Lewitzki 326 Lipps 107

Lopatin 327 Losew 12 Losski 325–327, 335 Lotz 128, 202, 339 Lotze 59 Lukács 182 Lurje 44 Makarios d.Gr. 279 Malebranche 190 Maréchal 338 Marx 15, 19, 21, 121 Maximus der Bekenner 224 Meister Eckhart 221, 223, 293, 331, 335 Mereshkowski 22 Mohammed 248 Moses 248 Motroschilowa 327 Nasarowa 331 Natorp 77, 327 Newman 20 Nietzsche 16, 21, 31, 34, 49, 292 Nikolaus von Kues 21, 58, 63, 72, 76– 78, 81–82, 98–99, 120, 140, 145, 147, 149–151, 158, 184, 190, 193, 201, 230–231, 245, 249, 258, 280, 288, 301, 315, 323, 335–337 Origines 244 Otto 211 Parmenides 190 Pascal 144, 237 Paulus 115, 145, 175–176, 180, 213, 216, 220, 251, 267, 290 Peirce 51 Pelagius 242 Platon 35, 74, 80, 149, 153, 188, 201, 279 Plotin 77–78, 81, 140, 190, 290, 323, 336 Plotnikow 135 Puschkin 146

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Register Rahner 196–198, 233, 253, 260–261, 263, 296, 339 Rehmke 123 Richard von St.Victor 221 Ricken 218 Rickert 35, 54, 59, 157, 327 Rilke 102, 146, 202 Rombach 331 Rosenzweig 107 Roth 312, 318 Samjatin 106 Sartre 108 Scheler 81, 85, 107, 134, 206, 238 Schelling 53, 55, 140, 279, 282, 284, 287, 321 Schestow 11, 77 Schiller 51 Schleiermacher 17, 47, 52 Schmidt, J. 196 Schneider 231, 315 Schopenhauer 38 Schpet 12 Schubert-Soldern 25 Schuppe 25, 123 Senkowski 11, 322, 326 Seraphim 114 Simmel 15–16, 24, 35, 50, 107, 144– 145 Soboleva 336 Solowjow 11, 24, 27, 33, 59, 103, 154, 206, 229, 245–246, 250, 323, 329– 330, 336–337

Solschenizyn 47 Spinoza 38, 47–48, 53, 56–58, 73, 122, 190, 249 Stallmach 313–314 Stammler 169 Stepun 18, 335 Stern 38, 41, 43, 55 Stirner 43, 245 Stolypin 46 Struwe 16, 22, 38–39, 106 Swoboda 332 Szombath 332 Tannert 327 Tertullian 220 Theresa von Avila 221, 336 Thomas von Aquin 195–197, 205, 225, 231, 279, 282, 338 Tillich 12 Tjutschew 95, 146, 285 Tolstoi 11, 146 Tönnies 116 Trendelenburg 56 Tschizˇewskij 17, 326 Turgenew 11, 174 Walter v. 116 Weissmahr 80, 231, 264 Wenck von Herrenberg 331 Windelband 17, 35–36, 39, 45, 59 Wwedenski 327 Zeller

17

Sachen actus purus 81 All-Einheit 17, 32, 46, 48, 54, 58, 62– 64, 73, 79, 82, 84, 90, 96–101, 105, 112, 117, 119–121, 156, 164, 169, 173–175, 193, 213, 228–229, 232, 265, 277, 280–281, 285, 288–289, 294–295, 319, 321, 323, 326, 328– 330, 332, 335, 337

alttestamentlich 221, 243, 251–252, 261, 267, 302 Analogie 111, 160, 197, 205, 225, 228–229, 240, 262, 333 Andersheit 215, 231, 313 antinomischer Monodualismus 324 Aufmerken 217 Augustinismus 242

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Register Aura 146 Ausdruck 206 Bewußtsein 21–22, 25–27, 29–30, 32, 34, 36, 39, 42, 46–48, 50–51, 53, 57, 60, 70–71, 74, 85–88, 95, 101, 106, 109, 118, 122, 124, 130, 132, 143, 145, 162, 167, 174, 180, 187, 191, 193–194, 199, 207, 209, 215– 216, 218, 226, 237, 251, 262, 279, 283, 288, 296–299, 327, 329 Bild 88, 99, 128, 183, 188–189, 233, 284, 307, 309, 317–318 Böse 97 Buddha 248 Buddhismus 268 Chalzedon 248 Chaos 284–285 Christus 115, 166, 174, 176, 181, 184, 210, 216, 220, 244, 246–254, 257– 259, 264, 267–268, 270–271, 273– 275, 296–299, 312, 317–319, 333, 340 coincidentia oppositorum 78, 111, 120, 150, 258, 310 Doketismus 252 Dreifaltigkeit 237 Emanation 224 Empirismus 50 Entfremdung 187 Erfahrung 51, 54, 63, 124, 186, 195, 202, 215, 217, 259, 304–305, 339, 343 Erleben 56, 131 Evidenz 39, 50, 53, 59, 73, 93, 106, 108, 110–111, 127, 150, 156–157, 159, 163–165, 191, 202, 206, 215, 258, 280 Evolution 232 Existenz 92, 94–95 Freiheit 32, 80, 168–169, 175, 180, 182, 223, 281–282, 285, 327, 341

Geheimnis 101, 112–114, 201, 261, 309, 340 Gehorsam 163 Geist 82, 155, 158 Geisterreich 99, 109, 112, 117, 121 Gerechtigkeit 43, 47, 61, 169–170, 173, 177, 182, 299 Gewalt 23, 177–178, 180, 182 Gewissen 61, 173, 297 Glaube 48, 214–215 Glückseligkeit 292 Gnade 93, 165–166, 175–178, 180– 183, 215, 221, 223, 252, 261–263, 271–273, 275–276 Gottheit 211 Gottmensch 244 Gottmenschentum 12, 23–24, 33, 36, 38, 58, 244, 246–247, 249–250, 319 Heilig 211, 267, 269 Heilige 22, 36, 265 Heiliges 265 Heimat 135, 187–188, 199 Hermeneutik 102 Herz 144, 203, 209, 211 Humanismus 11, 23, 41, 43–45, 58, 64–65, 90, 105, 121, 242–244, 246– 247, 251, 302–303, 312, 319, 338, 341–342 Idealismus 25, 55 Immanenz 41, 62, 64, 87, 160, 190, 212, 216, 218, 220–222, 225, 230– 232, 241–243, 260, 322, 332, 338 Immanenzphilosophie 25 Individualismus 23, 29 Inkarnation 237, 250, 253, 295, 320 Intuition 51, 78 Islam 268 Juden 181, 251 Kirche 183, 250, 254, 265–266, 317, 319, 335 Koinzidenz 310, 313, 315, 333 Kontingenz 327

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Register Kreuz 202, 237–238, 249, 296, 299, 327, 336 Kultur 22, 43 Kulturphilosophie 22, 24 Kunst 142, 225 Leben 28, 33, 37, 42, 49, 73, 78, 82, 87, 94, 129–130, 143, 145, 158, 164, 192, 318, 328 lebendiges Wissen 33, 72, 128, 131, 139–140, 143–144, 149, 193–194, 203, 208, 255, 327 Lebensverstehen 28 Licht 39, 49, 64, 83, 86–88, 93, 127– 128, 147, 149–150, 183, 191, 214, 249, 278–280, 318, 324 Liebe 100, 121, 136, 154, 169–171, 173–174, 182–183, 187, 243, 248, 263, 266, 298 Logos 17–18, 22, 40, 54, 115, 131, 175, 183, 233, 237, 246, 248, 253, 262, 318, 335 Marxismus 15 materia prima 73 Menschenrechte 341 Menschwerdung 246–247, 249, 256, 262, 295 Modalismus 238 Mohammed 248 Monodualismus 122, 148, 152, 275, 310, 324, 328, 343 Monophysitismus 252 Mystik 143 Nächstenliebe 171–172, 176, 183, 249 Naturrecht 166, 169, 177, 183 negative Theologie 202 Neukantianismus 55, 301 Nichts 230, 234, 280, 283 Nichtsein 102 Nichtwissen 58, 111, 145–148, 150, 158, 189, 198, 257, 292, 307, 310 Nihilismus 43

Nizäa 247 Notwendigkeit

82

Offenbarung 39, 110–111, 150, 159, 181, 198, 230, 255, 319, 340 Opfer 296 Pantheismus 46, 48, 56–57, 190, 242, 330 Pazifismus 170–171 Pelagianismus 242 Person 28, 31, 36, 41, 49, 60–61, 112, 134, 141, 160, 186–187, 196, 205, 212, 223, 227, 233, 241, 244, 250, 262, 318, 330, 333 Personalismus 41–43, 55, 90, 105, 142, 312, 337, 343 Pflicht 168, 170, 174–175 Pharisäismus 182 Poesie 114, 146 Potentialität 73, 77, 79–80, 82, 98, 100–101, 103, 153, 156, 165, 230, 233, 238, 282, 284, 287–288, 313– 315 Potenz 230, 247, 263 Pragmatismus 49 Realismus 57 Reich Gottes 176, 181–182, 213, 234, 270–271, 273, 275, 293 Schöne 206 Schöpfer 187 schöpferisch 42 Schöpfung 77, 82, 183, 220, 228, 255, 262, 269, 294, 315, 320, 323, 329, 331 Schuld 278, 298 Schweben 134, 148–149, 151, 198, 204, 257, 314, 330, 338 Seele 84, 95, 101, 152–153 Seinsmonismus 158, 190, 205, 241, 324, 332 Selbsttranszendenz 233, 263 Sinn 157, 187, 202–203, 292

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Register Sittengesetz 59, 124, 163, 166–167, 170–172, 175, 177–178 sittlich 60, 162 sobornost’ 115–116, 213, 265, 269, 289, 317 Solidarität 99, 116, 169, 270, 300, 317, 341 Sollen 164, 168 Substanz 27, 29–30, 57–58, 73, 89, 91, 121–122, 152, 231, 328, 331 Sühneopfer 295–296, 299 Sünde 136, 170–173, 176–177, 180, 249, 272–273, 277, 282–283, 287– 290, 294–295, 298 Sündenfall 286 Symbol 44, 125, 183, 205, 214, 309, 344 Tod 156, 237, 282, 290 Tolstojaner 170, 178 Tragik 47, 135, 172, 196, 199, 236, 277, 288, 341 transzendental 66, 102, 126, 128, 202, 213, 323 Transzendieren 95–96, 100, 112, 119, 121, 131, 139, 151, 153–155, 158, 160, 184, 187, 194, 208, 210, 227, 239, 260, 310, 312, 340 Ungrund 284 Universum 98 unmittelbares Selbstsein 84, 94, 119, 199

unsterblich 216, 224 Unsterblichkeit 57, 189, 308 unvermischt 54, 109, 248, 273, 334 Urgrund 150 Ursünde 287 Vater 214 Vechi 43 Verantwortung 168, 170–171, 173– 174, 271, 283, 285–287, 297, 299, 341 Vergöttlichung 225, 234, 247, 252, 259, 276, 311–312, 317, 319 Vollzugswissen 145 Wahlfreiheit 282 Wahrheit 25–26, 54, 149 Wert 30, 37, 43, 45, 65, 164 Wille 59, 163, 165, 216, 282 Willensfreiheit 282 Wir-Einheit 240, 266, 269 Wir-Realität 265 Wir-Sein 105, 118, 120, 135, 148, 210, 266 Wissen-Leben 52 Würde 60, 157, 246, 251–252, 265, 271, 317, 333 Zeit 77, 290 Zuruf 159 Zusammenfallen 100, 121, 199 Zweiheit 90, 93

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