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German Pages 1260 [792] Year 2019
Eric Hobsbawm Das Zeitalter der Extreme
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Eric Hobsbawm
Das Zeitalter der Extreme Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Aus dem Englischen von Yvonne Badal Mit einem Vorwort von Richard J. Evans, aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bertram
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Die englischsprachige Originalausgabe erschien bei Michael Joseph Ltd, London unter dem Titel „The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991“, © The Trustees of the Eric Hobsbawm Literary Estate, 1994 Bei der vorliegenden deutschen Ausgabe handelt es sich um einen Nachdruck der 1995 erstmals bei Carl Hanser, München erschienenen deutschsprachigen Ausgabe. Mit einem neuen Vorwort von Sir Richard J. Evans Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © der deutschen Ausgabe 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Gestaltung und Satz:Vollnhals Fotosatz, Neustadt an der Donau Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Einbandmotiv: Mussolini und Hitler bei einer Parade in München 1937; akg-images/De Agostini/Biblioteca Ambrosiana Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3894-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3965-2 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3966-9
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Das Zeitalter der Extreme Vorwort von Richard J. Evans Eric Hobsbawm (1917–2012) war und ist nach wie vor bestens bekannt für seine meisterhafte Geschichte des „langen 19. Jahrhunderts“ in drei Bänden, die 1962, 1975 und 1987 erschienen sind: The Age of Revolution,The Age of Capital und The Age of Empire (dt. Europäische Revolutionen 1789–1848, Die Blütezeit des Kapitals 1848– 1875, Das imperiale Zeitalter 1875–1914; unveränderter Nachdruck Darmstadt 2017). Alle drei Bände gehörten zu einer ehrgeizigen, 40-bändigen „History of Civilization“, deren Bände zunächst auf Englisch von Weidenfeld & Nicolson veröffentlicht, aber anschließend in viele andere Sprachen übersetzt wurden. Hobsbawm hatte die drei Bände nicht als zusammenhängendes Werk konzipiert, aber der Erfolg jedes einzelnen Bandes führte beinahe zwangsläufig dazu, dass der Verlag einen Folgeband in Auftrag gab. Im Einklang mit dem Gesamtcharakter der Reihe wurde jeder Band thematisch und nicht chronologisch strukturiert. Er behandelt nicht nur die politische Geschichte, sondern auch die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des jeweiligen Zeitraums. Die Absicht war nicht, eine allgemeine Globalgeschichte zu schreiben, vielmehr ging es Hobsbawm darum, die wachsenden und sich immer weiter verzweigenden Auswirkungen der „Doppelrevolution“ – der Industriellen Revolution in Großbritannien und der Französischen Revolution von 1789–94 – auf den Rest der Welt nachzuzeichnen. Bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von The Age of Empire / Das imperiale Zeitalter, das die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs abdeckt, trug Hobsbawm sich mit dem Gedanken an einen Folgeband, der das 20. Jahrhundert in gleicher Weise behandeln sollte. Hobsbawm, der im Wien der 1920er-Jahre aufgewachsen war und während seiner Schulzeit in Berlin Anfang der 1930er-Jahre Kommunist wurde, bevor seine Familie – allesamt britische Staatsbürger – nach Großbritannien ausreiste, machte sich von einem weitgehend marxistischen, wenn auch unorthodox-marxistischen Standpunkt an seine Aufgabe, Werke der allgemeinen Geschichte zu schreiben. Er
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begann mit den wirtschaftlichen Entwicklungen (im marxistischen Sinne grob gesagt die „Basis“, von der alles andere abhing) und widmete sich anschließend den politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen (dem „Überbau“). Im April 1988 legte er ein fer tiges Exposee vor, im Dezember unterschrieb er den Verlagsvertrag für den Band. Doch schon bald war er angesichts des Falls der Berliner Mauer im darauffolgenden Jahr und des anschließenden Zusammenbruchs des Kommunismus, der Auflösung der Sowjetunion und der Entstehung neuer unabhängiger Staaten überall in Osteuropa gezwungen, das gesamte Projekt zu überdenken. Hobsbawm war Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens geblieben, obwohl er nach der Niederschlagung der demokratischen Revolution in Ungarn 1956 durch die Rote Armee praktisch mit ihr gebrochen hatte. Und er hatte sich den Glauben daran bewahrt, dass trotz allem die Zukunft im kommunistischen Modell einer egalitären Gesellschaftsordnung auf der Grundlage des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln liege. Nun zwangen ihn die Ereignisse der Jahre 1989–90, seine früheren Überzeugungen und mit ihnen sein ursprüngliches Konzept für seine Geschichte des 20. Jahrhunderts auf den Prüfstand zu stellen. Der Untergang des Kommunismus bot ihm jetzt ein Enddatum, sodass der gesamte Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion als ein Ganzes gesehen werden konnte, dessen verbindendes Element bis zu einem gewissen Grad der Aufstieg und das Scheitern des kommunistischen Experiments war. Mit seiner gewohnten, beinahe unheimlichen Fähigkeit, neuartige Konzepte zu entwickeln, die der unausgeformten Masse historischer Strukturen und Entwicklungen eine gewisse Ordnung auferlegten, nannte er diesen Zeitraum „das Kurze 20. Jahrhundert“. Seine ursprüng liche Zweiteilung des Zeitraums – eine erste Hälfte im Zeichen von Gewalt, Chaos, Krieg und Völkermord, die 1945 endet, und eine zweite im Zeichen von Frieden und Wohlstand, welche die Jahre seitdem umfasst – ersetzte er durch eine dreigliedrige Struktur: ein „Zeitalter der Katastrophe“ von 1914 bis 1945, dann ein „goldenes Zeitalter“ vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Ölkrise und Konjunkturschwäche von 1973 und schließlich ein „Erdrutsch“ von 1973 bis 1991, als die Welt aus seiner Sicht „ihre Orientierung verlor“. Nach einem langen und manchmal schmerzhaften Prozess des Umschreibens beendete Hobsbawm das Buch 1993, im darauffol-
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genden Jahr erschien es auf Englisch. Es wurde sein erfolgreichstes Buch. Es stülpte einem chaotischen Jahrhundert ein Gefühl von Ordnung über und gab Lesern das geistige Rüstzeug an die Hand für den Versuch, es zu verstehen. Es wurde in dreißig Sprachen übersetzt und verkaufte sich weltweit millionenfach. In Brasilien beispielsweise stand es 1998 mit einer Viertelmillion verkaufter Exemplare an der Spitze der Bestsellerlisten. Die einzige Weltsprache, in der es nicht erschien, war Französisch. In Frankreich vereitelten antikommunistische Intellektuelle die Veröffentlichung, bis Hobsbawm und sein Agent einen kleinen belgischen Verlag fanden, der eine französische Übersetzung herausbrachte. Das Buch weist all das auf, was Hobsbawm als Historiker ausmachte – eine scheinbar mühelose Beherrschung der Fakten, interpretatorische Klarheit, begriffliche Schärfe, erhellende Beispiele sowie Anekdoten und Zitate, um die Argumente zu untermauern. Dazu kommt ein glänzender literarischer Stil, der die Lektüre zu einem unangestrengten und aufregenden Leseerlebnis macht. Natürlich stieß es aus einer Reihe von Gründen auf Kritik, wahrscheinlich vor allem wegen seines Eurozentrismus: Das „goldene Zeitalter“ der 1950er- und 1960er-Jahre mag in Europa golden gewesen sein, aber für China, Korea und Vietnam konnte man schwerlich dasselbe behaupten. Linke Autoren fanden das kommunistische Engagement des Verfassers ziemlich nichtssagend, seine offenkundige Abneigung gegen Aspekte modernistischer Kunst und Kultur borniert, seine Behandlung der amerikanischen Geschichte oberflächlich, seine Herangehensweise an Geschlechterfragen altmodisch, seinen Pessimismus hinsichtlich der Zukunft übertrieben. Man kann mit diesen Kritikpunkten allerdings auch ganz anders umgehen und sie sich als Diskussions- und Streitthemen vorstellen. Was Hobsbawm schrieb, war nie nichtssagend, und Das Zeitalter der Extreme lädt die Leser ein, die große Vielfalt an Informationen nicht bloß aufzunehmen, sondern auch darüber nachzudenken, worauf all das hinausläuft und wie das „Kurze 20. Jahrhundert“ am besten verstanden werden kann. Einig waren die Rezensenten sich alles in allem im Lob der vielen Vorzüge des Buches. Einhellig waren sie der Meinung, dass es ein Meisterwerk war. Was das Buch besonders faszinierend macht, ist mitzuerleben, wie sein Verfasser sich bemüht, „eine lebenslange Position zu überdenken“. Hobsbawm verteidigt das kommunistische Unterfangen nicht, sondern sucht in der Rückschau zu einer ausgewogenen Beurteilung zu kommen. Es wird gelegentlich behauptet, Geschichte
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werde von den Siegern geschrieben, aber im Zeitalter der Extreme wird Geschichte von einem ihrer Verlierer geschrieben, einem lebenslangen Kommunisten, der sich mit der epochalen Niederlage der Sache abgefunden hat, der er über so viele Jahrzehnte so viel von seiner Zeit und Energie gewidmet hat. Hobsbawm selbst erkannte diese Tatsache an, aber, so fügte er hinzu, „aus Verlierern werden die besten Historiker“.
Sir Richard J. Evans gilt als der britische Fachmann für deutsche und europäische Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur Professor an der Universität Cambridge, sondern leitete auch das renommierte Wolfson College von 2010 bis 2017. Er wurde u. a. mit dem Wolfson Literary Award for History ausgezeichnet. Im Februar 2019 erschien von ihm die Biographie „Eric Hobsbawm: A Life in History“.
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Stimmen zu Eric Hobsbawms Zeitalter der Extreme „Ein weites Panorama dieses Jahrhunderts, ein beeindruckend argumentierender Wurf, ein großes Pamphlet gegen das Vergessen“ Der Tagesspiegel „Weit und breit ist kein Rivale mit überlegener Kompetenz zu erkennen.“ Hans-Ulrich Wehler, Der Spiegel „einer der einflußreichsten Neuzeithistoriker“ Hans-Ulrich Wehler, Der Spiegel „Eines der besten und spannendsten Bücher überhaupt. Man muss es einfach gelesen haben.“ Jürgen Weber, versalia.de „Der Titel dieses Weltbestsellers wurde so geflügelt wie Hobsbawms Wort darin vom ‚kurzen 20. Jahrhundert‘.“ Die Zeit
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Inhalt
Vorwort. . ..... . ........................... .. . .. .....
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Das Jahrhundert aus der Vogelschau IJ Erster Teil Das Katastrophenzeitalter Erstes Kapitel: Das Zeitalter des totalen Krieges . . ~weites Kapitel: Die Weltrevolution . . . . . . . Drittes Kapitel: In den wirtschaftlichen Abgrund . Viertes Kapitel: Der Untergang des Liberalismus Fünftes Kapitel: Wider den gemeinsamen Feind: Die dreißiger und vierziger Jahre . . . Sechstes Kapitel: Die Künste 19 I 4- I94 5 . Siebentes Kapitel: Das Ende der Imperien
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Zweiter Teil Das Goldene Zeitalter Achtes Kapitel: Der Kalte Krieg . . . . . . . . . Neuntes Kapitel: Die GoldenenJahre . . . . . . Zehntes Kapitel: Die soziale Revolution I945-I990 Elftes Kapitel: Die kulturelle Revolution . . . . . . Zwölftes Kapitel: Die Dritte Welt . . . . . . . . . Dreizehntes Kapitel: Der »real existierende Sozialismus~
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Dritter Teil Der Erdrutsch Vierzehntes Kapitel: Die Krisenjahrzehnte . Fünfzehntes Kapitel: Dritte Welt und Revolution. Sechzehntes Kapitel: Das Ende des Sozialismus . Siebzehntes Kapitel: Der Tod der Avantgarde: Die Künste seit 1950. . . . . . . . . . . . Achtzehntes Kapitel: Zauberer und Lehrlinge: Die Naturwissenschaften . . . . . . . . . Neunzehntes Kapitel: Ein Jahrtausend geht zur Neige. Anhang Anmerkungen . Literatur . . . . Namenregister .
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Vorwort
Niemand kann heute die Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen wie die eines anderen Zeitalters; und sei es nur deshalb, weil kein Mensch die Ära seiner eigenen Lebenszeit so beschreiben kann (und darf), als sei sie Bestandteil einer Periode, die er nur als Außenstehender kennt, aus zweiter oder dritter Hand, aus zeitgenössischen Quellen oder de-n Werken nachgeborener Historiker. Meine Lebenszeit umfaßt beinahe den gesamten Zeitraum, mit dem sich dieses Buch beschäftigt und an dessen politischer und gesellschaftlicher Entwicklung ich von meinen Jugendjahren bis heute, also die längste Zeit meines Lebens, bewußt teilgenommen habe. Damit will ich sagen, daß sich meine Ansichten und Vorurteile eher durch mein Leben ah Zeitzeuge denn als Wissenschaftler geprägt haben. Deshalb habe ich auch während meiner ganzen Berufsjahre als Historiker zu vermeiden versucht, über die Ära seit 1914 zu schreiben, obgleich ich mich in anderer Eigenschaft durchaus darauf eingelassen habe. »Meine Periode(( ist, so meint die Zunft, das 19.Jahrhundert. Doch mittlerweile halte ich es durchaus fLir möglich, auch das »Kurze 20. Jahrhundert« - von 1914 bis zum Ende der Sowjetzeit- aus einer bestimmten historischen Perspektive zu betrachten. Ich selbst werde dies allerdings tun, ohne die gesamte wissenschaftliche Literatur gelesen oder mehr als nur einen winzigen Überblick über all die archivansehen Quellen zu haben, die die so überaus zahlreichen Historiker des 2o.Jahrhunderts aufgehäuft haben. Schlechterdings unmöglich ist es ftir einen einzelnen natürlich auch, die Geschichtsschreibung über das gegenwärtige Jahrhundert zu kennen, nicht einmal diejenige, die in einer einzigen ruhrenden Sprache niedergeschrieben worden ist - etwa so, wie der Historiker der klassischen Antike oder des Byzantinischen Reichs über alles Bescheid wissen kann, was während dieser und über diese langen Perioden geschrieben wurde. Nun: Mein eigenes Wissen über dieses Jahrhundert besteht, gerade an den Maßstäben historischer Gelehrsamkeit im Bereich der Zeitgeschichte gemessen, in einem zufällig entstandenen, bunten Mosaik. Das Äußerste, wozu ich fahig war, war, in die Literatur zu. besonders widerspenstigen und umstrittenen Problemen einzu-
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tauchen - beispielsweise zur Geschichte des Kalten Krieges oder der dreißiger Jahre -, bis ich schließlich die Gewißheit hatte, daß meine Ansichten, wie sie in diesem Buch dargelegt sind, auch dem Licht fachlicher Forschung standhalten würden. Vollkonunen konnte dieses Unterfangen natürlich nicht gelingen. Noch inuner bleibt eine Reihe von Fragen offen, die nicht nur meine Unkenntnis, sondern auch meine durchaus kontroversen Ansichten offenbaren werden. Dieses Buch ruht also auf merkwürdig schiefen Fundamenten. Abgesehen vom ausgiebigen Studium der unterschiedlichsten Literaturen während ziemlich vieler Jahre (ergänzt durch das, was zu lesen notwendig war, um Vorlesungen über die Geschichte des 20.Jahrhunderts vor den Graduiertenstudenten der New School for Social Research halten zu können), habe ich aus dem angesammelten Wissen, den Erinnerungen und Meinungen eines Menschen geschöpft, der das Kurze 20.Jahrhundert in recht zahlreichen Ländern als »teilnehmender Beobachter« erlebt hat, wie es die Sozialanthropologen nennen, oder auch einfach nur als Reisender mit offenen Augen oder als Kibbitzer, wie meine Vorfahren es genannt hätten. Der historische Wert solcher Erfahrungen hängt nicht davon ab, ob man Zeuge großer geschichtlicher Ereignisse war oder ob man über prominente Geschichtemacher und Staatsmänner Bescheid weiß und ihnen vielleicht sogar persönlich begegnet ist. Meine eigene Erfahrung als gelegentlicher Journalist bei Recherchen in diesem oder jenem Land- hauptsächlich in Lateinamerika - hat mich vielmehr gelehrt, daß Gespräche mit Staatspräsidenten oder anderen Entscheidungsträgern normalerweise nicht besonders lohnend sind, weil solche Personen im Grunde nur das sagen, was die Öffentlichkeit hören soll. Wirklich Erhellendes kommt fast immer nur von solchen Menschen, die frei sprechen können oder wollen, was vor allem dann der Fall ist, wenn sie keine besonders große öffentliche Verantwortung tragen. Dennoch hat es mir enorm geholfen, Schauplätze selbst gesehen und Menschen persönlich kennengelernt zu haben selbst dann, wenn deren unvermeidliche Parteilichkeit in die Irre fuhren mochte. Und allein schon Besuche in einer bestimmten Stadtetwa in Valencia oder Palermo- in einem Intervall von dreißig Jahren fuhrten einem vor Augen, mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sich die sozialen Strukturen im dritten Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts verändert haben. Allein schon eine verborgene und manchmal aus keinem ersichtlichen Grund gespeicherte Erinnerung an etwas, das lange zuvor in einem Gespräch gesagt wurde, konnte plötzlich ein Bild abrunden. Wenn ein Historiker aus diesem Jahrhundert überhaupt schon sinnvolle Schlüsse ziehen kann, dann
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zum gut Teil dank seiner Beobachtungen und seiner Fähigkeit zum Zuhören. Ich hoffe, es wird mir gelingen, dem Leser zu vermitteln, was ich auf diese Weise gelernt habe. Dieses Buch basiert natürlich auch auf Informationen, die ich von Kollegen, Studenten und alljenen erhalten habe, die ich während der Arbeit am Manuskript zu Rate gezogen habe. In einigen Fällen bin ich dabei durchaus methodisch vorgegangen. Das Kapitel über die Wissenschaften habe ich meinen Freunden Alan Mackay, der nicht nur Kristallograph, sondern auch Enzyklopädist ist, undJohn Maddox, dem Herausgeber der Zeitschrift Nature, vorgelegt. Einiges von dem, was ich über ökonomische Entwicklungen geschrieben habe, wurde von Lance Taylor gegengelesen, einem meiner Kollegen an der New School, ehemals Forscher am M.I.T. Der bei weitem größte Teil aber basiert auf dem Studium von Zeitungen und der Teilnahme an Diskussionen. Indem ich meine Ohren offenhielt, konnte ich vieles bei Konferenzen über die unterschiedlichsten makroökonomischen Probleme lernen, die im World Institute for Development and Economic Research an der UN-Universität (UNU/WIDER) in Helsinki stattfanden, das sich unter der Leitung von Dr. Lai Jayawardena zu einem bedeutenden internationalen Forschungs- und Diskussionszentrum verwandelt hat. Von unschätzbarem Wert waren auch die Sommer, die ich als McDonnell Douglas Visiting Scholar an diesem bewundernswerten Institut verbringen konnte. Vor allem konnte ich von der Tatsache profitieren, daß es der ehemaligen Sowjetunion so eng benachbart ist und sich intellektuell so stark mit ihr auseinandersetzte. Nicht immer habe ich die Ratschläge von Kollegen befolgt, und wenn, dann sind eventuell falsche Interpretationen und Schlußfolgerungen natürlich nicht Schuld des Ratgebers. Großen Nutzen zog ich auch aus Konferenzen und Kolloquien, bei denen Akademiker viel Zeit zubringen und Kollegen sich vor allem deshalb treffen, um sich mit intellektuellen Anleihen von anderen zu versorgen. Es ist mir unmöglich, alljene Kollegen aufzuzählen, die mich bei offiziellen und weniger offiziellen Gelegenheiten zu meinem Gewinn unterstützt oder korrigiert haben. Das gilt auch fur alljene Informationen, die ich ganz nebenbei ansammeln konnte, weil ich das Glück hatte, eine ganz besonders internationale Gruppe von Studenten an der New School for Social Research in New York zu unterrichten. Dennoch soll hervorgehoben sein, wieviel ich aus den Semesterarbeiten von Ferdan Ergut und AlexJulca über die türkische Revolution und über die Migration und Mobilität der Gesellschaften in der Dritten Welt gelernt habe. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meiner Studentin Margarita
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Giesecke und ihrer Dissertation über APRA und den Trujillo-AufStand 19]2.
Je näher ein Historiker des 20. Jahrhunderts der Gegenwart kommt, um so er Untergang des Liberalismus
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dem Vormarsch, und die Eruption der Barbarei in den Jahren 1914-18 schien diesen Fortschritt nur noch beschleunigt zu haben. Abgesehen von Sowjetrußland waren alle Regime, die aus dem Ersten Weltkrieg emportauchten oder wiedererstanden, gewählte, repräsentative parlamentarische Regierungen - selbst in der Türkei. 1920 bestand das gesamte Europa westlich der sowjetischen Grenzen aus derartigen Staaten. Und die Basisinstitution einer liberalen, konstitutionellen Regierung, nämlich Parlaments- und/ oder Präsidialwahlen, gehörte in dieser Zeit beinahe überall zur Welt der unabhängigen Staaten - obwohl wir in der Tat nicht vergessen sollten, daß die etwa fünfundsechzig unabhängigen Staaten der Zwischenkriegszeit primär ein europäisches und amerikanisches Phänomen waren, denn ein Drittel der Weltbevölkerung lebte unter einer Kolonialhemchaft. Die einzigen Staaten, in denen zwischen 1919 und 1947 keinerlei Wahlen stattgefunden haben, waren isolierte politische Fossile: Äthiopien, die Mongolei, Nepal, Saudi-Arabien und der Jemen. In fi.inf anderen Staaten fand während dieser Zeit nur eine Wahl statt, was nicht unbedingt fiir einen starken Hang zur liberalen Demokratie spricht: Afghanistan, Kuomintang-China, Guatemala, Paraguay und Thailand, damals noch Siam genannt. Die Tatsache, daß überhaupt eine Wahl abgehalten wurde, zeigt, daß dort zumindest theoretisch liberale politische Ideen Einzug gehalten hatten; doch der Hinweis auf die bloße Existenz des Wahlrechts oder die Häufigkeit von Wahlen besagt natürlich in der Tat nicht mehr, als daß diese Fakten bestanden. Der Iran, in dem seit 1930 sechs Wahlen, oder der. Irak, in dem drei Wahlen stattfanden, hätte selbst nach damaligen Kriterien kaum als Bollwerk der Demokratie gegolten. Repräsentative, gewählte Regime gab es also reichlich. Und doch befanden sich die liberalen politischen Institutionen in den zwanzig Jahren zwischen Mussolinis sogenanntem MarschaufRom (1922) und dem Höhepunkt des Erfolges der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg (1942) zunehmend und auf immer katastrophalere Weise auf dem Rückzug. 1918-20 wurden in zwei europäischen Staaten die Parlamente aufgelöst oder zur Bedeutungslosigkeit verdammt, 1920 in sechs weiteren Staaten, 1930 in neun weiteren; und während des Zweiten Weltkriegs konnte die deutsche Besatzung die konstitutionellen Kräfte von fiinf weiteren Staaten zerstören. Die einzigen europäischen Staaten mit adäquaten politischen Institutionen, die ohne Unterbrechung während der gesamten Zwischenkriegszeit funktionieren konnten, waren Großbritannien, Finnland (mit knapper Not), der Freistaat Irland, Schweden und die Schweiz.
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Das K.itastrophenzeitalter
Auf dem amerikanischen Kontinent- der zweiten Region unabhängiger Staaten - war das Bild zwar farbiger, konnte jedoch auch kaum den Eindruck nähren, daß demokratische Institutionen generell auf dem Vormarsch gewesen seien. Die Liste der ununterbrochen konstitutionellen und nichtautoritären Staaten in der westlichen Hemisphäre ist kurz: Kanada, Kolumbien, Costa Rica, die USA und jene mittlerweile in Vergessenheit geratene »Schweiz von Südamerika«, die einzig wirkliche Demokratie, nämlich Uruguay. Das Beste, was wir von dieser Region sagen können, ist, daß ihre Bewegungen zwischen dem Ende des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs manchmal nach rechts und manchmal nach links drifteten, während sich der Rest der Welt, der größtenteils aus Kolonien bestand und daher per definitionem undemok.ratisch war, eindeutig von liberalen Verfassungen abwandte - sofern überhaupt je eine bestanden hatte. In Japan machte die moderate liberale Regierung der Jahre 1930/JI einem nationalistisch-militaristischen Regime Platz. Thailand wagte ein paar Schritte hin zu einer konstitutionellen Regierung, und die Türkei wurde in den frühen zwanziger Jahren vom progressiven, militaristischen Modernisten Kemal Atatürk übernommen - kein Mann, der sich seinen Weg durch Wahlen verbauen ließ. Auf den drei Kontinenten Asien, Afrika und Ozeanien blieben nur Austraben und Neuseeland im Verlauf dieser ganzen Periode demokratisch, denn die Mehrheit der Südafrikaner war ja von der Verfassung des weißen Mannes strikt ausgeschlossen. Der politische Liberalismus befand sich, kurz gesagt, während des gesamten Zeitalters der Katastrophe auf dem Rückzug, was durch Hitlers Machtübernahme als Reichskanzler Deutschlands im Jahr 1933 nur noch beschleunigt wurde. Blickt man auf die ganze Welt, so hatte es 1920 insgesamt vielleicht funfunddreißig konstitutionelle und gewählte Regierungen gegeben, oder auch ein paar mehr (was davon abhängt, wo man einige der lateinamerikanischen Republiken ansiedelt). 1938 waren vielleicht noch siebzehn solcher Staaten und 1944 noch etwa zwölf von den weltweit funfundsechzig übriggeblieben. Der Trend auf der Welt schien eindeutig. Man sollte sich hier daran erinnern, daß die liberalen Institutionen dieser Zeit ausschließlich von der politischen Rechten bedroht wurden - denn in der Zeit von 1945 bis 1989 schien die Behauptung selbstverständlich, daß im wesentlichen die Kommunisten eine deranige Bedrohung dargestellt hätten. Sogar der Begriff •>Totalitarismus«, der ursprünglich als Beschreibung oder vielmehr Selbstdarstellung des italienischen Faschismus entstanden war, wurde in dieser Zeit fast ausschließlich auf kommunistische Regime angewandt. Das sowjetische
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Rußland (seit 1923 Sowjetunion) war jedoch isoliert und nach dem Aufstieg Stalins weder in der Lage noch willens, den Kommunismus zu verbreiten. Die soziale Revolution unter leninistischer (oder anderer) Führung kam völlig zum Erliegen, nachdem die erste Nachkriegswelle verebbt war. Die (marxistisch) sozialdemokratischen Bewegungen waren zu staatstragenden anstelle von subversiven Kräften geworden. Und ihre Verpflichtung auf die Demokratie war über jeden Zweifel erhaben. In den meisten Staaten waren Kommunisten in den Arbeiterorganisationen in der Minderheit, und wo sie stark waren, da wurden sie unterdrückt. Es sollte sich zwar erweisen, daß die Angst vor einer sozialen Revolution und der Rolle, die Kommunisten dabei spielen würden, bei der zweiten Revolutionswelle während und nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich realistisch war; doch in den zwanzig Jahren, in denen sich der Liberalismus auf dem Rückzug befand, hat die Linke nicht eine einzige Regierung zu Fall gebracht, welche zu Recht liberal und demokratisch genannt werden konnte. 1 Die Gefahr kam ausschließlich von rechts. Und diese Rechte war nicht nur eine Bedrohung für konstitutionelle und repräsentative Regierungen, sondern vor allem für die liberale Zivilisation an sich. Sie war eine potentielle weltweite Bewegung, für die das Etikett »Faschismus« unzureichend, aber auch nicht völlig unzutreffend war. Unzureichend war es, weil bei weitem nicht alle Kräfte, die liberale Regierungen stürzten, faschistisch waren. Zutreffend war es, weil der Faschismus - zuerst in seiner italienischen Originalversion und später in seiner deutschen Ausprägung als Nationalsozialismus- nicht nur andere illiberale Kräfte inspirieren konnte, sondern auch unterstützte und der internationalen Rechten eine Art von Geschichtsvertrauen vennittelte: denn in den dreißiger Jahren sah es so aus, als gehörte ihm die Zukunft. Ein Experte schrieb: »Es war kein Zufall, daß ... die königlichen Diktatoren Osteuropas, die Bürokraten und Offiziere, aber auch Franeo (in Spanien), den Faschismus nachahmten.>korporativ korrigierte Demokratie« in den Worten des ungarischen Ministerpräsidenten GrafBethlen 4) wurde damit ausnahmslos eingeschränkt oder ganz abgeschafft. Die vollkommensten Beispiele für derartige korporativistische Staaten waren in römisch-katholischen Ländern zu finden, besonders im Portugal von Professor Oliveira Salazar, dem langlebigsten aller illiberalen Regime der Rechten in Europa (1927-74) , aber auch in Österreich zwischen der Zerstörung der Demokratie und dem Überfall Hitlers (1934- 38), und in gewissem Sinne auch in FrancoSpanien. Obwohl die Ursprünge und Vorstellungen solcher reaktionären Regime älter und manchmal auch völlig anders geartet waren als der Faschismus, gab es keine klare Trennungslinie zwischen ihnen, denn beide hatten dieselben Feinde, wenn nicht sogar dieselben Ziele. So war die römisch-katholische Kirche in der Form, die das 1. Vatikanische Konzil 1870 konsekriert hatte, zwar zutiefst und unerschütterlich reaktionär, aber nicht faschistisch . Im Gegenteil, ihre Ablehnung von stark säkular ausgerichteten Staaten mit totalitären Bestrebungen machte sie sogar notwendigerweise zum Gegner des Faschismus. Und doch war die Doktrin des »korporativistischen Staates« am stärksten
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Das Katastrophenzeitalter
in katholischen Ländern vertreten und weitgehend von {italienischen) Faschistenkreisen ausgearbeitet worden, die sich natürlich unter anderem auf die Tradition des Katholizismus berufen konnten. Solche Regime wurden nicht umsonst auch »K.lerikalfaschisten« genannt. Manche Faschisten in katholischen Ländern hatten sich unmittelbar aus dem integrativen Katholizismus entwickeln können, wie beispielsweise die »Rex-Bewegung« des Belgiers Leon Degrelle. Die zwiespältige Haltung der Kirche gegenüber Hitlers Rassismus ist schon oft zur Kenntnis genommen worden; viel weniger häufig aber wird die beträchtliche Hilfe erwähnt, die Nazis oder Faschisten aller Art - darunter auch viele, denen schreckliche Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden - auf ihrer Flucht nach dem Krieg von Kirchenleuten in oft hohen Positionen erhielten. Was die Kirche nicht nur mit den Reaktionären alten Typs, sondern auch mit den Faschisten verband, war der gemeinsame Haß auf die Aufklärung des 18.Jahrhunderts, auf die Französische Revolution und auf alles, was aus ihnen entstanden war: Demokratie, Liberalismus und der »gottlose Kommunismus«, dem natürlich der stärkste Abscheu galt. Die faschistische Ära war in der Tat ein Wendepunkt in der Geschichte des Katholizismus, vor allem weil die Identifikation der Kirche mit der Rechten, deren international fuhrende Fahnenträger inzwischen Hitler und Mussolini geworden waren, schwerwiegende moralische Probleme bei den sozial gesinnten Katholiken aufwarf- gar nicht zu reden von den ernsten politischen Problemen, die sich fiir die zu einer antifaschistischen Haltung unfähigen Hierarchie ergaben, als sich der Faschismus geschlagen geben mußte. Andererseits aber verschaffte der Antifaschismus (vielleicht war es aber auch nur eine Art von patriotischem Widerstand gegen den fremden Eroberer) zum erstenmal einem demokratischen Katholizismus (Christdemokratie) innerhalb der Kirche Legitimität. Politische Parteien, die die römisch-katholischen Wähler fiir sich mobilisierten, hatten sich schon früher aus ganz pragmatischen Gründen in Ländern entwickelt, in denen Katholiken eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit bildeten, meist um die Interessen der Kirche gegen den säkularen Staat zu verteidigen, wie z. B. in Deutschland und den Niederlanden. In offiziell katholischen Staaten widersetzte sich die Kirche derartigen Konzessionen an die Politik der Demokratie und des Liberalismus, auch wenn sie 1891 so bestürzt über das Erwachen des gottlosen Sozialismus gewesen war, daß sie selbst eine radikale Innovation - eine Sozialpolitik formuliette, mit der sie den Arbeitern Rechte zusprach und gleichzeitig die Unversehrtheit der Familie und des Privateigentums festschrieb, aber nicht unbedingt
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Der Untergang des Liberalismus
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auch vom Kapitalismus als solchem. 5 Damit konnten zum erstenmal nicht nur sozial eingestellte Katholiken Tritt fassen, die bereit waren, in katholischen Gewerkschaften die Interessen der Arbeiter zu organisieren, sondern auch solche, die sich bei ihren Aktivitäten eher der liberaleren Seite des Katholizismus zuneigten. Die Ausnahme war Italien, wo Papst Benedikt XV. (1914-22) nach dem Ersten Weltkrieg die Gründung einer großen (katholischen) Volkspartei gestattet hatte, die kurz darauf von den Faschisten wieder zerschlagen wurde. Ansonsten blieben sozial und demokratisch gesinnte Katholiken politisch unbedeutende Minderheiten. Es war der Vormarsch des Faschismus in den dreißiger Jahren, der sie ans Licht brachte. Doch selbst in dieser Zeit waren Katholiken, die der Spanischen Republik ihre Unterstützung anboten, noch immer nur eine kleine, wenn auch intellektuell hervorragende Gruppe. Die Unterstützung der Katholiken galt in überwältigendem Maß dem Franco-Regime. Nur der Widerstand, den sie mehr mit patriotischen als ideologischen Gründen rechtfertigen konnten, hatte ihnen überhaupt erst eine andere Chance gegeben; und es war der Sieg, der ihnen dazu verhalf, diese Chance auch zu ergreifen. Doch die Siegeszüge der Christdemokratie in Europa und ein paar Jahrzehnte später auch in Teilen von Lateinamerika gehören einer späteren Periode an. In der Zeit, als der Liberalismus unterging, frohlockte die Kirche mit nur wenigen Ausnahmen über seinen Untergang.
2 Es bleiben noch die Bewegungen, die wirklich faschistisch genannt werden können. Zuerst gab es die italienische, die dem Phänomen auch seinen Namen gab 6 und die eine Schöpfung des Journalisten und abtrünnigen Sozialisten Benito Mussolini war, dessen Vorname ein Tribut an den antiklerikalen mexikanischen Präsidenten Benito Juarez war und das leidenschaftliche Antipapsttum seiner Heimatregion, der Romagna, symbolisieren sollte. Adolf Hitler zollte Mussolini auch dann noch seinen Respekt- und betonte, wieviel er ihm zu verdanken habe-, als er und das faschistische Italien im Zweiten Weltkrieg s.chon längst ihre Schwächen und lnkompetenzen offenbart hatten. Mussolini wiederum übernahm von Hitler den Antisemitismus -spät, aber doch-, der vor 1938 nicht nur seiner Bewegung, sondern auch der Geschichte Italiens seit seiner nationalen Einheit vollkommen fremd gewesen war.' Der italienische Faschismus allein konnte nicht viel internationale Anerkennung auf sich ziehen, obwohl er versuchte, ähnliche Bewe-
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gungen andernorts zu inspirieren und zu finanzieren, und auch manchmal an ganz unerwarteter Stelle Einfluß gewinnen konnte: etwa auf Vladimir Jabotinsky, den Gründer des zionistischen »Revisionismus«, welcher in den siebziger Jahren unter Menachem Begin die Regierung Israels dominieren sollte. Ohne den Triumph Hitlers in den frühen dreißiger Jahren in Deutschland wäre aus dem Faschismus wohl auch kaum eine größere Bewegung geworden. Tatsächlich wurden außerhalb Italiens alle faschistischen Bewegungen von Bedeutung erst nach Hitlers Machtergreifung gegründet: die ungarischen Pfeilkreuzler, die bei den ersten geheimen Wahlen, die bis dahinjemals in Ungarn stattgefunden hatten (1939), 25 Prozent der Stimmen für sich buchen konnten; und die Eiseme Garde in Rumänien, die sogar noch größeren Zulauf fand. Sogar Bewegungen, die vollständig von Mussolini finanziert wurden, wie die kroatischen »Ustascha«-Terroristen von Ante Pavelic, hatten nicht viel an Boden gewinnen können und wurden erst in den dreißiger Jahren, als sich einige von ihnen zur Unterstützung und Finanzierung nach Deutschland wandten, faschistisch ideologisiert. Ohne Hitlers Triumph in Deutschland hätte sich auch die Idee des Faschismus als universale Bewegung, als eine Art rechtsextremes Äquivalent zum internationalen Kommunismus, mit Berlin als seinem Moskau, nicht entwickeln können. Doch auch durch ihn konnte noch keine große Bewegung motiviert werden, höchstens ideologisch angepaßte Kollaborateure im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs. Denn just zu dieser Zeit verweigerten viele, vor allem in Frankreich, die der traditionell ultrarechten Seite angehörten und zutiefst reaktionär waren, den Faschisten die Gefolgschaft: Sie waren und blieben Nationalisten des eigenen Landes. Einige von ihnen schlossen sich sogar der Resistance an. Überdies hätte der Faschismus ohne den internationalen Status Deutschlands als offensichtlich erfolgreicher und im Aufstieg befindlicher Weltmacht auch außerhalb Europas kaum an Einfluß gewinnen können; ~;~nd die nichtfaschistischen reaktionären Herrscher hätten sich sonst wohl auch kaum bemüht, sich als Sympathisanten des Faschismus zu gerieren, wie Portugals Salazar, der 1940 behauptete, er sei mit Hitler •>durch dieselbe Ideologie verbunden«. 8 Was die verschiedenen Strömungen des Faschismus miteinander verband - die Überzeugung von der deutschen Vorrangstellung nach 1933 einmal beiseite gelassen -, ist nicht so einfach auszumachen. Theorie war nicht die Stärke von Bewegungen, die auf die Unzulänglichkeiten von Vernunft und Rationalität eingeschworen waren und sich dem Primat von Instinkt und Willen verschrieben hatten. In Län-
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dem mit einem aktiven konservativ-intellektuellen Leben konnte der Faschismus zwar alle möglichen Arten von reaktionären Theorien auf sich ziehen - wie ja ganz offensichtlich in Deutschland -, aber das gehörte eher zu seinen dekorativen als zu seinen strukturellen Elementen. Mussolini hätte ebensogut ohne seinen Hausphilosophen Giovanni Gentile auskommen können; und Hitler war die Unterstützung durch den Philosophen Heidegger wahrscheinlich völlig egal, wenn er überhaupt davon gewußt hat. Faschismus war auch nicht einer spezifischen Form von Staatsorganisation vergleichbar, wie beispielsweise dem korporativen Staat. Nazideutschland hatte schnell das Interesse an solchen Ideen verloren, vor allem weil sie mit der Vorstellung von einer einzigen, ungeteilten und totalen »Volksgemeinschaft« in Konflikt gerieten. Selbst ein so offensichtlich zentrales Element wie Rassismus hatte dem italienischen Faschismus urspri,i.nglich völlig gefehlt. Umgekehrt aber hatte der Faschismus natürlich mit nichtfaschistischen Elementen der Rechten einiges gemein, wie zum Beispiel den Nationalismus, Antikommunismus und Antiliberalismus. Und verschiedene nichtfaschistische reaktionäre Gruppen, vor allem in Frankreich, teilten wiederum mit den Faschisten die Vorliebe ftir eine Politik der Gewalt auf der Straße. Der wesentliche Unterschied zwischen der faschistischen und der nichtfaschistischen Rechten war, daß Faschismus existierte, weil er die Massen von unten mobilisierte. Er gehörte im wesentlichen der Ära demokratisch geprägter Politik an, deren Existenz von nationalkonservativen Reaktionären beklagt und von den Verfechtern des »konstitutionell-dirigistischen Staates« zu umgehen versucht wurde. Der Faschismus triumphierte, wenn es um die Mobilisierung der Massen ging. Sogar wo ihm die Machtübernahme bereits gelungen war, betonte er noch immer symbolisch seine Fähigkeit zur Massenmobilisierung, wie in einer Art öffentlichem Theater (und genauso wie die kommunistischen Bewegungen): Man denke an die Aufinärsche in Nümberg und an den Jubel der Massen auf der Piazza Venezia fur Mussolinis theatralische Gesten von seinem Balkon herab. Faschisten waren die Revolutionäre der Konterrevolution: in ihrer Rhetorik; mit ihrer Anziehungskraft aufjene, die sich als Opfer der Gesellschaft empfanden; bei ihrem Ruf nach totaler Transformation der Gesellschaft. Sie übernahmen sogar ganz bewußt Symbole und Begriffe der Sozialrevolutionäre: Hitlers Nationalsozialistische Arbeiterpartei, die (modifizierte} rote Fahne und den »roten« Tag der Arbeit, der am 1. Mai 1933 sofort als Staatsfeiertag übernommen wurde. Der Faschismus hatte sich zwar auf eine Rhetorik spezialisiert, die die Rückkehr zu den Traditionen der Vergangenheit forderte, und be-
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kam dabei viel Unterstützung aus den Reihen jener, die das vergangene Jahrhundert am liebsten ausgelöscht hätten. Aber er war nicht im wirklichen Sinn des Wortes eine traditionalistische Bewegung - wie etwa die Karlisten von Navarra, die zu den wichtigsten Sympathisantengruppen Francos im Bürgerkrieg gehörten, oder wie Gandhis Bewegung fiir die Rückkehr zu den Idealen der Handweber und des dörflichen Lebens. Er hat auch viele traditionelle J#rte betont, aber das ist eine andere Sache. Die Faschisten brandmarkten die liberale Emanzipation - Frauen sollten im Haus bleiben und recht viele Kinder bekommen - und mißtrauten dem zersetzenden Einfluß der modernen Kultur und vor allem der modernen Künste, die die Nationalsozialisten »kulturbolschewistisch« und »entartet« nannten. Die zentralen faschistischen Bewegungen - die italienische und die deutsche - beriefen sich aber nicht auf die historischen Wächter qer konservativen Ordnung, wie König und Kirche, sondern versuchten, im Gegenteil, diese durch ein der Tradition ganz und gar entgegenstehendes >>Führerprinzip« zu verdrängen, verkörpert durch Emporkömmlinge, die ihre Legitimation aus der Unterstützung durch die Massen und aus säkularen Ideologien und Kulten bezogen. Die Vergangenheit, auf die sie sich beriefen, war ein Kunstprodukt. Ihre Traditionen waren Erfindungen. Hitlers Rassismus hatte nichts mit dem gewissen Stolz auf eine ununterbrochene und unvennischte Abstammungslinie zu tun, wie ihn etwa Amerikaner empfinden mögen, wenn sie mit genealogischen Nachforschungen zu beweisen hoffen, daß sie von einer Bauernsippe aus dem Suffolk des J6.Jahrhunderts abstammen. Dieser Rassismus war vielmehr ein Konglomerat aus den spätdarwinistischen Behauptungen des 19.jahrhunderts und der Vorliebe flir eine neue Genetik (ftir die man in Deutschland leider sehr empfänglich war), oder genauer gesagt: flir jenen Zweig der angewandten Vererbungslehre (>>Eugenetik«), bei dem man davon träumte, durch Selektion des >>wertvollenNationalismus« war erst in diesem Jahrzehnt geprägt worden, um diese neuen Sprecher der Reaktion zu definieren. Die militante Mittel- bzw. untere Mittelschicht wandte sich vor allem in jenen Ländern der radikalen Rechten zu, in denen die Ideologien von
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Demokratie und Liberalismus nicht vorhemchten; und dieser Trend fand sich vor allem innerhalb solcher Gruppen, die sich mit diesen Ideologien nicht identifizierten, also hauptsächlich in Ländern, die von der Französischen Revolution oder einem Äquivalent nicht beeinflußt worden waren. Denn tatsächlich konnte die generelle Hegemonie von revolutionären Traditionen in den Kernländern des westlichen Liberalismus - Großbritannien, Frankreich, USA - die Entwicklung einer faschistischen Massenbewegung von Belang verhindern. Es wäre ein Fehler, den Rassismus der amerikanischen Populisten oder den Chauvinismus der französischen Republikaner mit dem prototypischen Faschismus zu verwechseln - denn diese Bewegungen entstammten der Linken. Das hieß nun nicht, daß dort, wo die Hegemonie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kein Hindernis mehr war, alte Instinkte nicht mit neuen polirischen Slogans verbrämt auftauchen konnten. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, daß sich die Hakenkreuzaktivisten in den Österreichischen Alpen zum großen Teil aus jenen provinziellen Berufsständen rekrutierten, die einst die regionalen Liberalen gebildet hatten - Tierärzte, Landvermesser, usw. -, also eine gebildete und emanzipierte Minderheit in einem Umfeld, das vom bäuerlichen Klerikalismus geprägt war. Dem vergleichbar ist, daß nach der Auflösung der klassischen proletarischen Arbeiterorganisationen und sozialistischen Bewegungen im späten 2o.jahrhundert dem instinktiven Chauvinismus und Rassismus vieler Arbeiter freies Spiel gegeben wurde. Bis dahin hatten sie einfach deshalb gezögert, ihre Ressentiments - gegen die sie ganz und gar nicht immun gewesen waren - öffentlich zu artikulieren, weil sie sich noch loyal gegenüber ihren Parteien verhielten, denen diese Bigotterie zutiefst zuwider war. Seit den sechziger Jahren sind Xenophobie und politischer Rassismus vor allem in der Arbeiterschicht verbreitet. Doch in den Jahrzehnten, in denen der Faschismus ausgebrütet wurde, waren solche Tendenzen hauptsächlich unter jenen zu finden, die sich bei der Arbeit nicht die Hände schmutzig machen mußten. Die Mittelschicht und das Kleinbürgertum bildeten während der ganzen Phase des faschistischen Aufstiegs das Rückgrat seiner Bewegungen. Das wird sogar von jenen Historikern nicht bestritten, die ansonsten bemüht sind, den Konsens »jeder Analyse über die Nazigefolgschaft, die zwischen 1930 und 1980 gemacht wurde« 11 zu revidieren. Um nur einen Fall unter den vielen Untersuchungen über die Gefolgschaft und Unterstützung von solchen Bewegungen herauszugreifen: Österreich in den Zwischenkriegsjahren. Unter den Nationalsozialisten, die bei den Gemeinderatswahlen 1932 in Wien gewählt
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wurden, waren 18 Prozent Selbständige, 56 Prozent Angestellte, Büroarbeiter und öffentlich Bedienstete und 14 Prozent Arbeiter. Unter den Nazis, die im selben Jahr in die Österreichischen Landtage gewählt wurden, waren 16 Prozent Selbständige und Bauern, 51 Prozent Angestellte und vergleichbare Berufe und 10 Prozent Arbeiter. Das heißt jedoch nicht, daß faschistische Bewegungen keine genuine Unterstützung bei der armen arbeitenden Bevölkerung gefunden hätten. Wie die Zusammensetzung der Kader in der rumänischen Eisernen Garde auch gewesen sein mag, diese wurde jedenfalls auch von der armen Landbevölkerung unterstützt. Die Wähler der ungarischen Pfeilkreuzler stammten weitgehend aus der Arbeiterklasse (die Konununistische Partei war illegal, und die Sozialdemokraten, inuner schon eine kleine Partei, zahlten den Preis ftir ihre Tolerierung durch das Horthy-Regime). Nach der Niederlage der Österreichischen Sozialdemokratie im Jahr 1934 wechselten Arbeiter, vor allem in der Provinz, in großer Zahl zu den Nationalsozialisten über. Im übrigen haben sich weit mehr sozialistische und kommunistische Arbeiter den Faschisten angeschlossen - als diese erst einmal zur legitimen Regierung geworden waren, wie in Italien und Deutschland-, als die Linke wahrhaben möchte. Dennoch setzte sich die eigentliche Wählerschaft der faschistischen Bewegungen aus der Mittelschicht zusanunen 12 - denn die traditionsbewußten Elemente der Landbevölkerung anzusprechen, hatten die Faschisten doch einige Mühe (es sei denn, sie erhielten Rückendeckung von bestimmten Organisationen, wie im Falle Kroatiens von der römisch-katholischen Kirche); hinzu kam, daß die Ideologien und Parteien der Arbeiterorganisationen dem Faschismus grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. Wie weit die Attraktivität des Faschismus ursprünglich in die Mittelschicht hineinwirkte, ist eine offene Frage. Sicher hatte er große Anziehungskraft auf die Mittelschichtsjugend. In den Jahren zwischen den Kriegen tendierten nämlich vor allem die Studenten des kontinentalen Europa notorisch zur Ultrarechten. 1921 (also noch vor dem »Marsch auf RomModernisten« stehen würden, waren bereits 1914 künstlerisch ausgereift und schöpferisch tätig oder berühmt. Darunter Matisse und Picasso, Schönberg und Strawinsky, Gropius und Mies van der Rohe, Marcel Proust, James Joyce, Thomas Mann und Franz Katka, Yeats, Ezra Pound, Alexander Blok und Anna Achmatowa. Sogar T. S. Eliot, dessen Dichtung erst seit 1917 veröffentlicht wurde, gehörte schon damals klar zur avantgardistischen Szene Londons (gemeinsam mit Pound, als Mitwirkender an Wyndham Lewis' Blast) . Diese Kinder der 188oer Jahre, oder noch früher geboren, waren vierzig Jahre später noch immer Ikonen der Modeme. Daß natürlich auch eine ganze Reihe von Männemund Frauen, die erst nach dem Krieg auftauchten, auf den Listen der bedeutendsten I)Modernisten« stehen wird 1, ist weit weniger überraschend als die Dominanz dieser älteren Generation. (Immerhin gehörten sogar noch Schönbergs Nachfolger Alban Berg und Anton Webern der; Generation von 1880 an.) Nach 1914 scheint es tatsächlich nur zwei wirkliche Innovationen in der Welt der ))etablierten« Avantgarde gegeben zu haben: den Dadaismus, der sich in der westlichen Hälfte Europas zum Surrealismus weiterentwickelte beziehungsweise diesen vorwegnahm; und im Osten den in Sowjetrußland geborenen Konstruktivismus. Der Konstruktivismus- eine Exkursion in die skelettierte, dreidimensionale und vorzugsweise bewegliche Konstruktion, deren nächstliegende Analogie im realen Leben Rummelplatzbauten waren (Riesenräder, Schiffschaukeln)- wurde bald von den im wesentlichen durch das Bauhaus geprägten Tendenzen in der Architektur und im Industriedesign aufgesogen (mehr dazu später). Seine gewagtesten Projekte, wie beispielsweise Tatlins berühmter sich drehender, schiefer Turm zu Ehren der Kommunistischen Internationale, wurden nie gebaut oder lebten ein dahinschwindendes Leben als Dekoration früher sowjetischer Staatsrituale. Der Konstruktivismus war zwar eine Neuigkeit, hat aber letztlich nicht mehr bewirkt, als das Repertoire des architektonischen Modemismus zu erweitern. Der Dadaismus hatte 1916 unter dem Einfluß einer bunten Exilantengruppe in Zürich Gestalt angenommen (wo auch eine andere, von Lenin angeflihrte Exilantengruppe auf die Revolution wartete). Er war ein von Angst getriebener, aber ironisch- nihilistischer Protest gegen den Weltkrieg und die Gesellschaft, die ihn ausgebrütet hatte, aber auch gegen deren Künste. Nachdem der Dadaismus die Kunst insgesamt ablehnte, konnte er auch keine formale Charakteristik entwickeln, obgleich er sich ein paar Tricks von der kubistischen und futuristischen Avantgarde aus der Zeit vor 1914 geborgt hatte, vor allem
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die Collage, das bunte Gemisch aus Schnipseln und Schnitzeln und Teilen von Bildern. Im Grunde wurde alles als Dada bezeichnet, womit konventionellen Kunstliebhabern ein Schlag versetzt werden konnte. Das Prinzip, das ihn zusammenhielt, hieß Skandal. Mit der Ausstellung eines öffentlichen Pissoirs als »Ready-made«-Kunst lag Marcel Duchamp (1887- 1968) 1917 in New York bereits völlig auf der Linie von Dada, dem er sich nach seiner Rückkehr aus den USA schließlich vollends zuwenden sollte; doch seine künftige stille Weigerung, noch irgendwas mit Kunst zu tun haben zu wollen (er zog es vor, Schach zu spielen), lag nicht auf dieser Linie. Denn an Dada war wahrlich nichts Stilles. Der Surrealismus, der ebenso leidenschaftlich alle bis dahin bekannten Kunstformen verwarf. sich dem öffentlichen Skandal mindestens mit gleicher Vehemenz verschrieben hatte und sich noch stärker zur sozialen Revolution hingezogen ftihlte, war jedoch mehr als nur ein negativistischer Protest- wie auch schwerlich anders von einer Bewegung zu erwarten, die ihren Mittelpunkt in Frankreich hatte, wo jede Modeströmung eine Theorie erfordert. Man kann also sagen, daß Dada mit der Ära von Krieg und Revolution (der er seine Geburt verdankte) erlahmte, wohingegen der Surrealismus aus dieser Ära überhaupt erst auftauchte. Er war ein »Plädoyer fiir die Wiederauferstehung der Imagination, die auf jenem Unbewußten basiert, das die Psychoanalyse offengelegt hatte, und die eine neue Emphase fiir Magie, Zufall, Irrationalität und fiir Symbole und Träume darstellte« (Wtllett, 1978). In mancher Hinsicht war der Surrealismus aber wohl eher eine Wiederbelebung der Romantik im Kostüm des 2o.Jahrhunderts (siehe Europäische Revolutionen 1789-1848, Kapitel 14), nur mit einem stärkeren Sinn fiir Absurdität und Witz. Im Gegensatz zur vorhernebenden Tendenz der »modernistischen>Modernismus«, weil er sich mit seinen Manifesten für eine Kulturrevolution bewußt von der diskreditierten Vorkriegswelt absetzen wollte. Schließlich brach die Avantgarde endgültig aus ihrem Gehege aus, nachdem sie es verstanden hatte, das moderne Ballett und seine einzigartigen Anziehungskräfte auf den Snob-Appeal, das Modebewußtsein, das Bedürfnis, en vogue zu sein (wozu auch die neue Illustrierte Vogue gehörte), und einen künstlerischen Elitestatus für sich zu nutzen. Dank Diaghilew, so schrieb ein typischer Vertreter des britischen Kulturjournalismus der zwanziger Jahre, »konnte das Volk Bühnenausstattungen von den besten, aber verspottersten lebenden Malern genießen. Er hat uns moderne Musik ohne Tränen und moderne Malerei ohne Gelächter ermöglicht« (Mortimer, 1925). Diaghilews Ballett war jedoch nur eines von vielen Medien für die Verbreitung der Avantgarde, die sowieso von einem Land zum nächsten variierte; denn überall in der westlichen Welt hatten sich die un-
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terschiedlichsten Ausprägungen von Avantgarde entwickelt. Obwohl Paris (das nach 1918 durch den Einfluß von amerikanischen Auswanderern aus der Generation von Hemingway und Scott Fitzgerald noch gestärkt wurde) über weite Regionen der Elitekultur noch immer vorherrschend war, gab es in der Alten Welt keine einheitliche Hochkultur mehr. In Europa konkurrierte Paris mit der Achse Berlin- Moskau, bis die Siege von Hitler und Stalin die deutsche und russische Avantgarde zum Schweigen oder Verschwinden brachten. Die Überreste des alten Habsburgischen und des Osmanischen Reichs gingen ihrer eigenen Wege in der Literatur, die durch Sprachbarrieren isoliert war, welche niemand ernsthaft oder systematisch zu überwinden versuchte, bis in den dreißiger Jahren die Zeit der antifaschistischen Diaspora anbrach. Die außerordentliche Blüte der spanischsprachigen Dichtung aufbeiden Seiten des Atlantiks war international nahezu unbekannt, bis der Spanische Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 das Interesse für sie weckte. Selbst die akustischen und visuellen Künste, die ja kaum vom babylonischen Sprachengewirr abhängig waren, fanden international weniger Anerkennung, als man annehmen müßte (wie beispielsweise am relativen Stellenwert von Hindemith in und über Deutschland hinaus oder von Poulenc in und über Frankreich hinaus deutlich wird). Es war durchaus möglich, daß gebildete englische Kunstliebhaber, die selbst mit den weniger bekannten Namen der Ecole de Paris aus der Zwischenkriegszeit vertraut waren, noch niemals etwas von deutschen Expressionisten vom Rang eines Emil Nolde oder Franz Mare gehört hatten . Nur zwei avantgardistische Künste wurden garantiert von allen Bannerträgern der künstlerischen Innovation in allen bedeutenden Ländern bewundert, wobei beide eher aus der Neuen als aus der Alten Welt stammten: Film und Jazz. Der Film war irgendwann während des Ersten Weltkriegs von der Avantgarde ftir sich entdeckt worden, nachdem sie ihn zuvor unerklärlicherweise völlig vernachlässigt hatte (siehe Das imperiale Zeitalter). Und sie hat ihn - vor allem seipe damals bedeutendste Persönlichkeit, Charlie Chaplin (auf den nur wenige moderne Dichter, die auf sich hielten, keine Eloge geschrieben haben) - nicht einfach nur bewundert; avantgardistische Künstler haben vielmehr selbst begonnen, sich mit dem Filmemachen zu befassen, vor allem in der deutschen Weimarer Republik und in Sowjetrußland, wo sie die Filmproduktion effektiv beherrschten. Das Verzeichnis der »Künstlerfilme«, die von schöngeistigen Filmfreaks während des gesamten Zeitalters des Kataklysmus rund um die Welt in speziellen kleinen Filmkunstkinos bewundert werden konnten, war von avantgardisti-
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sehen Schöpfungen behemcht. Sergej Eisensteins (I 898- I 948) Panzerkreuzer Poternkin aus dem Jahre I925 galt allgemein als unerreichtes Meisterwerk. Die Treppensequenz in Odessa, die niemand je vergessen wird, der diesen Film sah - wie der Autor in einem AvantgardeFilmtheater in den dreißiger Jahren -, wurde »die klassische Sequenz des Stummfilms und die wahrscheinlich einflußreichsten sechs Minuten in der Filmgeschichte« genannt (Manvell, I944. S. 47-48). Ab Mitte der dreißiger Jahre favorisierten die Intellektuellen dann die populistischen französischen Filme von Rene Clair, Jean Renoir (bezeichnenderweise Sohn des Malers), Marcel Carne, Prevert (ehedem Surrealist} und Auric (ehemals Mitglied des avantgardistischen Musikkartells Les Six). Diese Filme mögen zwar weniger vergnüglich gewesen sein, wie nichtintellektuelle Kritiker so gerne betont haben, aber künstlerisch waren sie zweifellos hochrangiger als das meiste, was die Hunderte Millionen (einschließlich der Intellektuellen) jede Woche in den immer gigantischeren und luxuriöseren Filmpalästen zu sehen bekamen- die Produkte aus Hollywood. Andererseits haben die nüchternen Vertreter des Showbusiness in Hollywood kaum weniger schnell als Diaghilew erkannt, wie profitabel Avantgarde sein konnte. »Uncle« Carl Laemmle, Chef der Universal-Studios und der vielleicht am wenigsten intellektuell ambitionierte Mogul Hollywoods, sicherte sich bei seinen jährlichen Besuchen in seinem Geburtsland Deutschland die jeweils neuesten Künstler und Ideen, was dazu fiihrte, daß das charakteristische Produkt seiner Studios, nämlich der Horrorfilm (Frankenstein, Dracula usw.), oft beinahe zur genauen Kopie des expressionistischen Vorbilds aus Deutschland geriet. Der Auswanderungsstrom mitteleuropäischer Regisseure nach Übersee, wie Lang, Lubitsch und Wilder, die praktisch alle als Schöngeister in ihrem angestammten Feld galten, sollte beträchtlichen Einfluß aufHollywood haben; gar nicht zu reden vom Einfluß solcher Techniker wie Karl Freund (I890- 1969} oder Eugen Schütftan (1893-1977). Auf die Entwicklung des Films und der populären Künste werden wir später näher eingehen. Der >~azz« des >~azz-Zeitalters>Sie führte eine Kampagne gegen die Häuptlinge und die Polizei; sie forderte Maßnahmen zum gesellschaftlichen Wiederaufbau; sie drängte nach Lösungen in der Sache der Arbeitslosen und der afrikanischen Farmer, die von der Wirtschaftskrise besonders betroffen waren« [Hodgkin, 1961, S.p].) Auch regionale nationalpolitische Führer, die von den Ideen des Black Movement in den USA oder von der Volksfront Frankreichs, von der Westafrikanischen Studentenunion in London und von der kommunistischen Bewegung beeinflußt waren, begannen bereits in Erscheinung zu treten.4 Und auch einige der künftigen Präsidenten der zukünftigen afrikanischen Republiken hatten die Szene bereits betreten, beispielsweise Kenias Jomo Kenyatta (1889-1978) und Dr. Nuamdi Azikiwe, der spätere Präsident von Nigeria. Doch nichts von alledem kostete irgendeinen Beamten in den europäischen Kolonialministerien schon schlaflose Nächte. War das weltweite Ende der Kolonialreiche 1939 also nicht nur vorhersehbar gewesen, sondern hatte auch bereits der Eindruck geherrscht, als stünde es unmittelbar bevor? Nicht, wenn die Erinnerung des Autors an eine »Schule« ftir kommunistische britische und »Kolo-
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nial«-Studenten in jenem Jahr als wegweisend gelten darf. Und wahrscheinlich hatte niemand zu jener Zeit höhere Erwartungen als die leidenschaftlichen und hoffnungsvollen jungen, militanten Marxisten. Was diese Situation dann total veränderte, war der Zweite Weltkrieg. Obwohl er weit mehr war als nur das, war er dennoch fraglos ein Krieg zwischen Imperialisten; und die großen Kolonialreiche standen bis 1943 auf der Verliererseite. Frankreich brach auf schmähliche Weise zusammen, aber viele seiner Kolonien überlebten dank der Achsenmächte. Die Japaner überrannten alle britischen, niederländischen und andere westliche Kolonien in Südostasien und im westlichen Pazifik. Selbst in Nordafrika besetzten die Deutschen alles, was sie zu kontrollieren wünschten, bis hin zu ein paar Meilen westlich von Alexandria (einmal haben die Briten tatsächlich ernsthaft erwogen, sich aus Ägypten zurückzuziehen). Nur das Afrika südlich der Wüsten blieb fest unter westlicher Kontrolle, und das italienische Imperium am Horn von Afrika konnten die Briten mit geringem Aufwand liquidieren. Was den alten Kolonialisten schließlich tödlichen Schaden zufügen sollte, war der Nachweis, daß der weiße Mann und seine Staaten schmählich und unehrenhaft besiegt werden konnten und daß die alten Kolonialmächte ganz offensichtlich sogar nach einem gewonnenen Krieg zu schwach waren, um ihre alten Positionen wiederherstellen zu können. Der Test fur die britische Hemchaft in Indien war nicht der Aufstand, der 1942 vom Kongreß unter dem Slogan »Quit India« organisiert worden war, denn der konnte noch ohne große Schwierigkeiten niedergeschlagen werden. Die Prüfung kam, als zum erstenmal 55 ooo indische Soldaten zum Feind überliefen, um eine »Indische Nationalarmee« unter dem linksgerichteten Kongreßfuhrer Subhas Chandra Bose zu bilden, der beschlossen hatte, Japan um Unterstützung fur die indische Unabhängigkeit zu bitten (Barghava/Singh Gill, 1988, S. ro; Sareen, 1988, S. 20-21). Die japanische Politik, möglicherweise unter dem Einfluß der Marine, die weltkluger war als die Infanterie, hat die Hautfarbe ihres Volkes ausgebeutet, um mit bemerkenswertem Erfolg die Meriten als Befreier der Kolonien fur sich in Anspruch zu nehmen (außer bei den Chinesen jenseits des Meeres und in Vietnam, wo Japan die französische Verwaltung beibehielt). In Tokio wurde 1943 sogar eine »Versammlung der Großostasiatischen Nationen>Korporativismus« angeprangert - ein Begriff, der halb vergessene und völlig irrelevante Assoziationen zum Faschismus der Zwischenkriegszeit hervorrief (siehe Seite 149-50) .
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Es war ein fiir alle Seiten akzeptabler Deal gewesen. Arbeitgeber, denen hohe Löhne während eines langen Booms mit hohen Profiten kaum etwas ausmachten, begrüßten die Berechenbarkeit, durch die jede Zukunftsplanung erleichtert wurde. Arbeitnehmer bekamen regelmäßig steigende Löhne, verbesserte Sozialleistungen und einen ständig erweiterten und immer großzügigeren Wohlfahrtsstaat. Regierungen erreichten ein Ausmaß an politischer Stabilität, das dazu beitrug, die kommunistischen Parteien (außer in Italien) zu schwächen und das makroökonomische Management, das nun alle Staaten praktizierten, vorhersagbaren Bedingungen zu unterwerfen. Und die Wirtschaften der kapitalistischen Industriestaaten funktionierten prächtig, weil zum erstenmal (außerhalb von Nordamerika und vielleicht auch noch von Ozeanien) eine Massenkonsumwirtschaft auf der Basis von Vollbeschäftigung und regelmäßig steigenden Realeinkommen entstanden war, gestützt von sozialer Sicherheit, die aus den wachsenden Staatseinnahmen bezahlt werden konnte. In der Euphorie der sechziger Jahre waren einige unvorsichtige Regierungen sogar so weit gegangen, den wenigen Arbeitslosen dieser Zeit 80 Prozent ihres letzten Einkommens zu garantieren. Bis in die späten sechziger Jahre hat auch die Politik des Goldenen Zeitalters diesen allgemeinen Zustand widergespiegelt. Dem Krieg waren überall stark refonnistisch orientierte Regierungen gefolgt: in den USA eine Regierung nach Roosevelts Muster und in wirklich allen ehemals kriegfuhrenden Staaten Westeuropas, außer in Westdeutschland (wo es bis 1949 weder einen Staat noch Wahlen gegeben hatte), sozialistisch oder sozialdemokratisch dominierte Regierungen. Sogar Kommunisten waren bis 1947 Regierungsmacht (siehe S. 300) . Der Radikalismus der Widerstandsjahre hatte sich sogar auf die auftauchenden konservativen Parteien ausgewirkt - die westdeutschen Christdemokraten glaubten noch 1949, daß der Kapitalismus schlecht ftir Deutschland wäre (Leaman, 1988) -. oder es war wenigstens schwerer geworden, gegen den Strom zu schwimmen. Die Konservative Partei Großbritanniens reklamierte sogar die Verdienste fiir die Reformen der Labour-Regierung aus dem Jahr 1945 fiir sich. Überraschenderweise sollte der Refonnismus bald zurückgenommen werden, nicht jedoch der Konsens. Der große Boom der fiinfziger Jahre fand beinahe überall unter der Ägide von gemäßigt konservativen Regierungen statt. In den USA (ab 1952), in Großbritannien (ab 1951), in Frankreich (abgesehen von den kurzen Perioden der Koalitionsregierungen), in Westdeutschland, in Italien und Japan war die Linke völlig von der Macht ausgeschlossen; nur Skandinavien war sozial-
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demokratisch geblieben, und in ein paar kleineren Staaten teilten sich sozialistische Parteien als Koalitionspartner die Macht. An der allgemeinen Rezession der Linken konnte kein Zweifel bestehen. Das war nicht darauf zurückzufuhren, daß man sich von sozialistischen oder kommunistischen Parteien massiv abgewandt hätte (in Frankreich und Italien waren sie noch immer die größten Parteien der Arbeiterklasse5); das war auch nicht dem Kalten Krieg zu verdanken, außer vielleicht in Deutschland, wo die Sozialdemokratische Partei hinsichtlich der Frage der deutschen Einheit als »unzuverlässig« galt, und in Italien, wo die Sozialdemokraten auch weiterhin mit den Kommunisten ein Bündnis bildeten. Jeder, die Kommunisten ausgenommen, vertrat eine verläßlich antirussische Einstellung. Die Stimmung des boomenden Jahrzehnts war gegen die Linke gerichtet. Dies war keine Zeit fur Veränderungen. In den sechziger Jahren bewegte sich dann der Schwerpunkt des Konsens wieder nach links, was vielleicht auch daran lag, daß der wirtschaftliche Liberalismus sogar in so antikollektivistischen Hochburgen wie Belgien und Westdeutschland dem keynesianischen Management Platz gemacht hat~e; aber es lag vermutlich auch daran, daß die betagten Herren, die über die Stabilisierung und Wiederbelebung des kapitalistischen Systems präsidiert hatten, die Bühne nun verließen - Dwight Eisenhower (geboren 1890) im Jahr 1960, Konrad Adenauer (geboren 1876) 1965, Harold Macmillan (geboren 1894) 1964 und 1969 schließlich sogar der große General de Gaulle (geboren 1890). Die Politik erlebte eine gewisse Verjüngung, und der Höhepunkt des Goldenen Zeitalters schien fur die gemäßigte Linke, die nun wieder in vielen westeuropäischen Staaten die Regierung bildete, in gleichem Maße zuträglich zu sein, wie die fiinfziger Jahre abträglich fur sie gewesen waren. Diese Drift nach links war natürlich auch einem Umdenken der Wählerschaft zu verdanken - wie in Westdeutschland, in Österreich und Schweden -, dem ein weiterer überraschender Umschwung in den siebzigerund frühen achtziger Jahren folgen sollte, der den französischen Sozialisten und italienischen Kommunisten die höchsten jemals erreichten Stimmenanteile verschaffte. Doch in Wirklichkeit war das Wählerverhalten relativ stabil geblieben. Die Wahlsysteme hatten letztlich nur einen relativ geringen Umschwung verstärkt. Deutliche Parallelen hemchten jedoch zwischen diesem Umschwung nach links und den sozialpolitischen Entwicklungen dieses Jahrzehnts: das Auftauchen von Wohlfahrtsstaaten im wahrsten Sinn des Wortes. Das heißt also von Staaten, in denen Sozialausgaben (wie Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsfursorge, Ausbildungsforderung
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und ähnliches mehr) zum größten Anteil des gesamten Staatshaushalts anwuchsen und in denen Menschen, die sich mit Sozialleistungen beschäftigten, den größten Anteil des öffentlichen Dienstes bildeten -Mitte der siebziger Jahre waren es beispielsweise 40 Prozent in Großbritannien und 47 Prozent in Schweden (Therborn, I983) . Die ersten Wohlfahrtsstaaten in diesem Sinne tauchten um I970 auf. Natürlich hat die Verringerung von Militärausgaben während der Entspannungsjahre automatisch den Anteil von Staatsausgaben fiir andere Bereiche erhöht, doch am Beispiel der USA ist zu sehen, daß darüber hinaus auch ein wirklicher Wandel stattgefunden hat. I970, als der Vietnamkrieg seinen Höhepunkt erreicht hatte, war die Anzahl der Lehrer in den USA zum erstenmal ersichtlich höher als die des ''militärischen und zivilen Verteidigungspersonals« (Statistical History, I976, S. I 102, I I04, 114I). Bis Ende der siebziger Jahre waren dann alle fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten zu solchen »Wohlfahrtsstaaten« geworden, wobei sechs von ihnen über 6o Prozent ihres gesamten Staatshaushalts fiir Sozialleistungen aufgewendet haben (Österreich, Belgien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Niederlande). Und genau das sollte nach dem Ende des Goldenen Zeitalters zu beträchtlichen Problemen fuhren. Mittlerweile schien sich die Politik der »entwickelten Marktwirtschaften« ruhig, wenn nicht schläfrig zu verhalten. Welchen Anlaß zu Aufregungen hätte es denn auch noch geben sollen, abgesehen vom Kommunismus, von den Gefahren eines Atomkrieges und von den Krisen, die von den letzten imperialen Aktivitäten im Ausland zurückwirkten (das Suez-Abenteuer von I956 auf Großbritannien, der Algerienkrieg von I954 -6I auf Frankreich und der Vietnamkrieg auf die USA)? Und aus genau diesem Grund hat der plötzliche und beinahe weltweite Ausbruch von studentischen Unruhen um das Jahr I968 die Politiker und älteren Intellektuellen auch so völlig überrascht. Das alles signalisierte, daß die Stabilität des Goldenen Zeitalters nicht andauern konnte. In wirtschaftlicher Hinsicht war sie davon abhängig, daß das Produktivitätswachstum mit den Einkommen in Einklang blieb und daher die Profite stabil blieben. Ein Rückgang der kontinuierlichen Produktivitätssteigerung und/oder im Mißverhältnis zu ihr stehende Lohnerhöhungen konnten nur eine Destabilisierung herbeifiihren. Die Stabilität war abhängig von der Parität zwischen Produktionssteigerung und den Möglichkeiten des Konsumenten, die Produkte auch kaufen zu können - von jener Situation also, die der Zwischenkriegszeit in so auffälliger Weise fremd gewesen war. Die Löhne mußten einerseits schnell genug steigen, um die Kaufkraft auf
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dem Markt zu erhalten, aber andererseits nicht so schnell, daß sie den Profit mindern konnten. Nur, wie sollte man in einer Zeit des Arbeitskräftemangels die Löhne und während einer außerordentlich boomenden Nachfrage die Preise noch kontrollieren? Mit anderen Worten, wie sollte man die Inflation in Schach oder zumindest in Grenzen halten? Dazu kommt, daß das Goldene Zeitalter überhaupt von der überwältigenden politischen und wirtschaftlichen Dominanz der USA abhing, die (manchmal ohne es zu wollen) als Stabilisator und Garant der Weltwirtschaft fungierten. Im Lauf der sechziger Jahre zeigten sich die ersten Anzeichen von Abnutzung. Die Hegemonie der USA verfiel, und während sie schwand, brach auch der Golddollar zusammen, auf dem das monetäre System beruhte. In mehreren Staaten gab es erste Hinweise auf eine Verlangsamung der Arbeitsproduktivität und bereits deutliche Anzeichen, daß das große Reservoir der Binnenwanderung, das den industriellen Boom gespeist hatte, nahezu erschöpft war. In zwanzigJahren war eine neue Generation aufgewachsen, fiir die die Geschehnisse der Zwischenkriegszeit- Massenarbeitslosigkeit, Unsicherheit, stabile oder fallende Preise - Geschichte und nicht mehr Teil der Lebenserfahrung waren. Ihre Erwartungen waren den einzigen Erfahrungen angepaßt, die ihre Altersgruppe kannte: Vollbeschäftigung und kontinuierliche Inflation (Friedman, 1968, S. 11). Was immer die »weltweite Lohnexplosion« am Ende der sechziger Jahre eigentlich auslöste (Arbeitskräftemangel; die Versuche der Arbeitgeber, den Anstieg der Reallöhne einzudämmen; oder die großen Studentenrebellionen, wie in Frankreich und Italien), eines ist sicher: Eine Generation von Arbeitern, die daran gewöhnt war, Arbeit zu haben oder zu bekommen, hatte entdeckt, daß die regelmäßigen und willkommenen Lohnerhöhungen, die ihre Gewerkschaften über so viele Jahre ausgehandelt hatten, in Wirklichkeit viel niedriger lagen, als es der Markt hergegeben hätte. Ob man nun diese Erkenntnis der Realitäten des Marktes als Rückkehr zum Klassenkampfbetrachtet (wie es viele »neue Linke« aus der 68er Generation getan haben) oder nicht, es gibt doch gar keinen Zweifel am schlagartigen Stimmungswechsel, der zwischen den maßvollen und ruhigen Tarifverhandlungen vor 1968 und den Verhandlungen entstanden war, die in den IetztenJahren des Goldenen Zeitalters stattfanden. Weil dieser Stimmungsumschwung bei den Arbeitern unmittelbar relevant fiir die Art und Weise war, in der die Wirtschaft funktionierte, war er auch viel bedeutsamer als der Ausbruch der großen Studentenunruhen im und um das Jahr 1968 (wenngleich die Studenten die Medien und Kommentatoren natürlich mit sehr viel dramatischerem
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Material fUttern konnten). Der Studentenaufstand war ein Phänomen jenseits von Wirtschaft und Politik. Er mobilisierte einen besonderen Minderheitensektor in der Bevölkerung, der bis dahin kaum als eigenständige Gruppe des öffentlichen Lebens erkannt worden und im großen und ganzen auch noch kein wirtschaftlicher Faktor gewesen war (es sei denn als Käufer von Rockplatten), da sich ja die meisten Gruppenmitglieder noch in der Ausbildung befanden. Der Studentenaufstand mobilisierte die Jugend (der Mittelschicht). Seine kulturelle Bedeutung war weit größer als seine politische, die sich letztlich als flüchtig erwies, im Unterschied zu den analogen Bewegungen in der Dritten Welt und in diktatorischen Staaten (siehe Seiten 417 und 551). Doch er diente als Warnung, als eine Art Memento mori fiir eine Generation, die fast zum Glauben neigte, daß sie die Probleme der westlichen Gesellschaft endgültig gelöst hätte. Alle wichtigen reformistischen Texte des Goldenen Zeitalters sind zwischen 1956 und 1960 geschrieben worden und basierten auf der Annahme, daß sich die Gesellschaft zunehmend harmonisiert und ein prinzipiell zufriedenstellendes, wenn auch verbesserungsfähiges Stadium erreicht habe; das heißt also, sie beruhten auf dem Vertrauen in die Ökonomie des organisierten sozialen Konsens: The Future of Socialism von Crosland; The A.ffluent Society vonJ. K. Galbraith; Beyond the Welfare State von Gunnar Myrdal und The End of Ideology von Dan.iel Bell. Doch dieser Konsens hat die sechziger Jahre nicht überlebt. 1968 war also weder ein Ende noch ein Anfang, dieses Jahr war nur ein Signal. Im Gegensatz zum Zusammenbruch des internationalen Bretton-Woods-Finanzsystems im Jahr 1971, im Gegensatz auch zum Rohstoffboom von 1972-73 und zur OPEC-Ölkrise von 1973, taucht »1968« in den Erklärungen, die Wirtschaftshistoriker fiir das Ende des Goldenen Zeitalters suchen, nicht als signifikantes Datum auf. Und dieses Ende war ja auch nicht völlig unerwartet gekommen. Die wirtschaftliche Expansion der frühen siebziger Jahre, die von einer rapide steigenden Inflation, einem massiven Anwachsen des Geldangebots und dem riesigen amerikanischen Defizit noch beschleunigt worden war, hatte zu großer Hektik gefiihrt. Im Jargon der Ökonomen sagt man, das System ist »überhitzt« worden. In den ersten zwölf Monaten nach dem Juli 1972 hatte sich das reale Bruttosozialprodukt der OECD-Staaten um 7,5 Prozent und die reale Industrieproduktion um 10 Prozent erhöht. Historiker, die nicht vergessen hatten, wie der große Boom in der Mitte des Viktorianischen Zeitalters geendet hatte, mochten sich wohl gefragt haben, ob das System nicht auf seinen Absturz zusteuerte. Sie hätten recht gehabt. Aber es ist kaum wahrscheinlich, daß
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irgendjemand den Niedergang von 1974 wirklich vorausgesehen oder tatsächlich als so ernst empfunden hatte, wie er sich dann schließlich herausstellen sollte. Denn obwohl das Bruttosozialprodukt der fortgeschrittenen Industriestaaten effektiv sank - was seit dem Krieg nicht geschehen war -, betrachteten die Menschen die Wirtschaftskrise noch inuner nur in den Perspektiven von 1929; außerdem schien es ja noch gar keine Anzeichen für eine solche Katastrophe zu geben. Wie gewöhnlich war es also die erste Reaktion der geschockten Zeitgenossen, nach den spezifischen Gründen für den Zusanunenbruch des vorangegangenen Booms zu forschen - so z. B. laut OECD »ein ungewöhnliches Zusanunentreffen von unglücklichen wirtschaftlichen Störungen, die sich kaum in gleichem Ausmaß wiederholen werden und deren Auswirkungen übrigens durch vermeidbare Fehler verstärkt worden waren« (McCracken, 1977, S. 14). Schlichtere Gemüter führten einfach alles auf die Gier der OPEC-Ölscheichs zurück. Aber jeder Historiker, der entscheidende Veränderungen in den Konfigurationen der Weltwirtschaft einfach auf Pech oder vermeidbare Unglücksfalle zurückfuhrt, sollte aufs neue nachzudenken beginnen. Denn dies war eine entscheidende Veränderung. Nach diesem Zusanunenbruch konnte die Weltwirtschaft nie wieder zu ihrer alten Gangart zurückfinden. Ein Zeitalter war zu Ende. 1973 sollte wieder einmal ein Krisenzeitalter einläuten. Das Goldene Zeitalter hat seinen Goldglanz verloren. Dennoch: Es hat die dramatischste, schnellste und tiefgreifendste Revolution in den menschlichen Beziehungen und im Verhalten des Menschen begonnen und weitgehend auch vollzogen, von der die Geschichte weiß. Ihr werden wir uns nun zuwenden.
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Zehntes Kapitel
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LILY: ROY:
Meine Großmutter hat uns Sachen über die Depression erzählt. Die kannst du auch lesen. Sie sagen immer, wir soßen froh sein, daß wir Essen und aU so was haben, weil die Menschen in den Dreißigern, das haben sie uns immer gesagt, gehungert hätten und keine Jobs hatten und aU das Zeug.
"'"'"' BUCKY: ROY: BUCKY:
Ich hatte noch nie eine Depression, also was kümmert's mich. Was man so hören kann, hättest du das Leben in dieser Zeit bestimmt gehaßt. Na und, ich leb' ja nicht in dieser Zeit. Studs Terkel, HardTimes (1970, S. 22-23)
Als [General de GauUe] die Macht übernahm, gab es eine Million Fernsehgeräte in Frankreich ... Als er ging, gab es zehn MiUionen . . . Der Staat war schon immer ein Showgeschäft. Aber der Theater-Staat von gestern war etwas ganz anderes als der TV-Staat, den es heute gibt. Regis Debray (1994, S. 34)
1 Wenn sich Menschen einer Situation ausgesetzt sehen, auf die sie nichts in der Vergangenheit vorbereitet hat, dann ringen sie nach Worten, um dem Unbekannten einen Namen zu geben, auch wenn sie es weder definieren noch verstehen können. Bei Betrachtung des dritten Viertels dieses Jahrhunderts können wir verfolgen, wie dieser Prozeß unter den Intellektuellen des Westens funktioniert hat. Das Schlüsselwort war die kleine Präposition ))nach«, fiir gewöhnlich in ihrer lateinischen Form »post«. Sie wurde als Präfix jedem jener zahlreichen Begriffe vorangestellt, die man schon lange verwendet hatte, um die geistige Landschaft des 2o.jahrhunderts abzustecken. Die Welt, sprich: ihre belangvollen Aspekte waren postindustriell, postimperialistisch, postmodern, poststrukturalistisch, postmarxistisch oder ähnliches mehr.
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Diese Vorsilbe war wie ein Begräbnis, die offizielle Todeserklärung, ohne das Einvernehmen oder die Gewißheit über ein Leben nach dem Tode zu bedeuten. In dieser Manier fand die größte und dramatischste, schnellste und universellste Transformation der Menschheitsgeschichte Eingang in die Reflexionen und das Bewußtsein derer, die sie erlebten. Mit dieser Transformation werden wir uns in diesem Kapitel beschäftigen. Neuartig an ihr waren die außergewöhnliche Geschwindigkeit ihres Ablaufs und ihre Universalität. Natürlich war die fortgeschrittene Welt, also der mittlere und westliche Teil Europas, Nordamerika und die dünne Schicht der kosmopolitischen Reichen und Mächtigen anderswo, schon lange eine Welt des konstanten Wandels, der technologischen Transformationen und kulturellen Innovationen gewesen. Für sie bedeutete die Revolution der globalen Gesellschaft daher auch nichts weiter als die Beschleunigung oder Intensivierung eines Fortschritts, an den sie sich im Prinzip bereits gewöhnt hatte. Immerhin hatten die New Yorker schon seit Mitte der dreißiger Jahre zu einem Wolkenkratzer aufgeblickt: zum Empire State Building (1934), dessen Höhe erst in den siebziger Jahren um nur bescheidene dreißig Meter übertroffen werden sollte. In diesen Teilen der Welt dauerte es daher auch eine ganze Weile, bis die Transformation von einem quantitativen materiellen Wachstum zu der qualitativen Umwälzung des gesamten Lebens registriert wurde; und noch länger dauerte es, bis man diese Transformation auch zu bewerten begann. Doch in fast allen anderen Teilen der Welt traten diese Veränderungen urplötzlich und erdbebenartig auf Für So Prozent der Menschheit hörte das Mittelalter in den fiinfziger Jahren mit einem Schlag auf; genauer gesagt, in den sechziger Jahren wurden sich die Leute dessen bewußt, daß es zu Ende war. In mancher Hinsicht begriffen viele, die diese Transformation leibhaftig miterlebten, ihre ganze Reichweite noch nicht, da die Veränderungen in ihrem Leben allmählich stattfanden oder doch nicht unbedingt sofort als permanente Revolution wahrgenommen wurden, deren dramatische Ausmaße augenblicklich erkennbar werden. Weshalb sollten beispielsweise die Leute aus dem Dorf ihre Entscheidung, in der Stadt nach Arbeit zu suchen, anders betrachten als ihre Einberufung in die Armee oder die Arbeit in der Industrie, die britische und deutsche Männer und Frauen in den Kriegswirtschaftsbetrieben während beider Weltkriege leisten mußten? Sie hatten nie vorgehabt, ihr Leben für immer zu verändern, es hatte sich nur herausgestellt, daß es kein Zurück mehr gab. Nur Außenstehende begreifen Gedenfalls wenn sie in regelmäßigen Abständen die Schauplätze solcher Transformationen besu-
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eben), wieviel sich tatsächlich verändert hat. So ging es dem Autor dieses Buches, als er in den achtziger Jahren zum erstenmal seit dreißigJahren wieder Valencia und die Gegend um diese Stadt besuchte: die Veränderungen waren enorm. Und so erging es auch einem sizilianischen Bauernjungen, einem Räuber, der in den funfziger Jahren für zwei Jahrzehnte hinter Gitter gebracht worden war und der sich nach seiner Entlassung ganz orientierungslos in der Umgebung von Palermo überhaupt nicht mehr zurechtfinden konnte: Die Immobilienspekulation hatte sie in der Zwischenzeit bis zur Unkenntlichkeit verändert. »Wo einst Weinberge waren, stehen jetzt palazzi)emanzipierteren« Nordamerika. Und nicht wenige der Frauen, die nun zum erstenmal Staaten und Regierungen fiihrten, hatten ihr Amt als eine Art Familienerbstück erworben: als Töchter, wie Indira Gandhi (Indien, 1966-77), Benazir Bhutto (Pakistan, 1988-90 und seit 1994) und Aung San Xi, die ohne das militärische Veto sicher den Staat Birma gefiihrt hätte; oder als Witwen, wie Sirimawo Bandaranaike (Sri Lanka, 1960-65 und 1970-77), Corazon Aquino (Philippi-
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nen, 1986-92) und Isabel Peron (Argentinien, 1974-76). Ihre Regierungsübernahmen waren nicht revolutionärer als die Erbansprüche von Maria Theresia auf den habsburgischen Thron oder die von Viktoria auf den Thron des britischen Königreichs. Der Kontrast zwischen diesen weiblichen RegierungschefS in Ländern wie Indien, Pakistan und den Philippinen und der gewaltigen Unterdrückung von Frauen in ihren Teilen der Welt zeigt, wie untypisch sie letztlich waren. Und doch wäre noch vor dem Zweiten Weltkrieg die Machrübernahme irgendeiner Frau in irgendeiner Republik unter jeglichen Umständen politisch völlig undenkbar gewesen. Erst nach 1945 wurde eine Frau in einer politischen Funktion überhaupt vorstellbar (Sirimawo Bandaranaike wurde 1960 zur ersten Ministerpräsidentin der Welt gewählt). In den neunziger Jahren waren Frauen, die als Karrierepolitikerinnen an die Spitze gelangt waren, schließlich zu einem zwar akzeptierten, aber noch immer ungewöhnlichen Bestandteil der politischen Landschaft geworden: als Ministerpräsidentinnen in Israel (1969), lsland (1980), Norwegen (1981), Großbritannien (1979), Litauen (1990) und Frankreich (1991); sogar als Vorsitzende der größten (sozialistischen) Oppositionspartei in Japan (1986), das dem Feminismus wahrlich nicht zugetan ist. Die politische Welt war tatsächlich in schneller Änderung begriffen. Doch im allgemeinen drückte sich die Anerkennung von Frauen (und sei es auch nur als politische Pressuregroup) selbst in vielen der »fortgeschrittensten« Länder gewöhnlich noch immer in symbolischer öffentlicher Repräsentanz aus. Letztlich hat es wenig Sinn, die Rolle von Frauen in der Öffentlichkeit und die Ambitionen der politischen Frauenbewegungen zu generalisieren. Denn die abhängige Welt, die entwickelte Welt und die sozialistische oder ehemals sozialistische Welt sind kaum miteinander vergleichbar. Wie einst im zaristischen Rußland blieb der großen Masse von schlecht ausgebildeten Frauen aus den unteren Schichten auch in der Dritten Welt der Zugang zu den öffentlichen Bereichen (im westlichen Sinne des Wortes) versperrt. Doch selbst in manchen dieser Drittweltstaaten hatte sich schon eine kleine Schicht außergewöhnlich emanzipierter und »fortschrittlicher« Frauen herausgebildet (oder war gerade dabei, sich zu entwickeln), die sich vor allem aus Ehefrauen, Töchtern oder anderen Verwandten der etablierten einheimischen Oberschicht und Bourgeoisie zusammensetzte, analog zur weiblichen Intelligenz und zu den Aktivistinnen im zaristischen Rußland. Im indischen Imperium hatte es sogar schon zu Kolonialzeiten jene Schicht gegeben, die sich auch in den weniger rigorosen islamischen Staaten bereits herausgebildet zu haben schien - vor allem in
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Ägypten, im Iran, im Libanon und im Maghreb -, bevor der moslemische Fundamentalismus sie wieder in die Dunkelheit zurückstieß. Für diese emanzipierte Minderheit existierte in den oberen sozialen Ebenen ihres jeweiligen Landes ein öffentlicher Raum, in dem sie ähnlich agieren und sich ebenso heimisch fühlen konnten wie ihre Schwestern in Europa und Nordamerika. Allerdings brauchten sie wahrscheinlich länger, um die geschlechtsspezifischen Konventionen und traditionellen familiären Obligationen ihrer Kulturen abzubauen, als zumindest die nichtkatholischen Frauen im Westen. 12 So gesehen waren die emanzipierten Frauen der »verwestlichten« abhängigen Staaten auch wesentlich besser situiert als ihre Schwestern im nichtsozialistischen Fernen Osten, wo das traditionelle Rollenverständnis und der Einfluß von Konventionen, denen selbst die Frauen der Elite unterlagen, noch ungeheuer groß und einengend waren. Gebildete japanische oder koreanische Frauen, die einige Jahre im emanzipierten Westen verbracht hatten, zögerten nicht selten, wieder in ihre eigenen Zivilisanonen zurückzukehren, wo bis heute nahezu ungebrochen die Überzeugung herrscht, daß der Frau eine untergeordnete Rolle zukommt. In der sozialistischen Welt war die Situation äußerst paradox. In Osteuropa gehörten praktisch alle Frauen dem Lohnarbeitsmarkt an, jedenfalls fast so viele Frauen (90 Prozent) wie Männer, also ein höherer Prozentsatz als irgendwo sonst auf der Welt. Die kommunistische Ideologie hatte sich in jeder Hinsicht leidenschaftlich der Gleichstellung und Befreiung der Frau verpflichtet, auch der sexuellen Befreiung, ungeachtet Lenins persönlicher Abneigung gegen sexuelle Promiskuität. 13 (Die Krupskaja und Lenin hatten ja immerhin zu den wenigen Revolutionären gehört, die ftir eine gerechte Aufteilung der Hausarbeit zwischen Männern und Frauen eintraten.) Außerdem hatte die ganze Revolutionsbewegung, von den Narodniki bis zu den Marxisten, schon immer mit Begeisterung Frauen in ihre Reihen aufgenommen, vor allem natürlich intellektuelle Frauen, und ihnen außergewöhnlich großen Spielraum geschaffen. Noch in den siebziger Jahren konnte man das an der unverhältnismäßig hohen Zahl von Frauen erkennen, die in den linken terroristischen Bewegungen vertreten waren. Dennoch, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (Rosa Luxemburg, Ruth Fischer, Ana Pauker, La Pasionaria, Federica Montseny), konnten Frauen auch hier nicht in die obersten politischen Ränge ihrer Parteien oder anderer Gremien aufsteigen. 14 In den neuen kommunistisch regierten Staaten sollten sie sogar immer unsichtbarer werden, bis sie aus den führenden politischen Positionen schließlich völlig verschwanden. Ein paar Staaten hatten ihnen zwar ungewöhnlich gute Zugangschancen
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zu öffentlichen Positionen und Hochschulbildung geboten, darunter vor allem Bulgarien und die Deutsche Demokratische Republik, doch insgesamt betrachtet war die Lage von Frauen in konununistischen Staaten nicht wesentlich anders als die der Frauen in den kapitalistischen Industriestaaten - und wo es Unterschiede gab, da waren sie nicht unbedingt auch zum Vorteil der Frauen. Denn wo sie sich in großer Zahl einem Beruf zugewandt hatten, der fiir sie zugänglich geworden war, da verlor dieser bald an Status und Einkommensniveau, wie zum Beispiel der weitgehend feminisierte Medizinerberuf in der Sowjetunion. Und ganz im Gegensatz zu den westlichen Feministinnen träumten die meisten verheirateten sowjetischen Frauen (die schon lange an ein Leben der Lohnarbeit gewöhnt waren) vom Luxus, zu Hause bleiben zu können und nur eine einzige Arbeit verrichten zu müssen. Der ursprüngliche revolutionäre Traum, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu verändern und die Umwandlung der Institutionen und Verhaltensweisen zu bewerkstelligen, die die alte männliche Dominanz verkörperten, ~tieß auf Granit- selbst in der jungen Sowjetunion, die diesen Traum, der in den neuen konununistischen Regimen Europas nach 1944 sehr viel weniger geträumt wurde, ernsthaft in die Realität umsetzen wollte. In rückständigen Ländern (und die meisten konununistischen Regime waren in solchen Ländern etabliert worden) wurde die Verwirklichung dieses Traumes vom passiven, unkooperativen Verhalten einer traditionsbewußten Bevölkerung blockiert, die sich darauf versteifte, daß Frauen grundsätzlich weniger Achtung verdienten als Männer, ganz egal was das Gesetz forderte. Aber die heroischen Kämpfe der Frauenemanzipation waren natürlich dennoch nicht völlig umsonst. Die Tatsache, daß Frauen schließlich die rechtliche und politische Gleichstellung und den Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten und zu bislang von Männern dominierten Arbeits- urid Verantwortungsbereichen durchsetzen konnten, daß sie sogar entschleiert wurden und es ihnen gestattet war, sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen, sind wahrhaftig keine geringfiigigen Veränderungen, was jeder bestätigen wird, der die Unterdrückung von Frauen in Ländern kennengelernt hat, die noch immer oder wieder von religiösen fundamentalistischen Gesetzen diktiert werden. Die Freiheit der persönlichen Entscheidung, auch die Freiheit der sexuellen Wahl, die das neue System den Frauen gewährleistete, war noch inuner unvergleichlich größer als jemals zuvor - selbst in jenen konununistischen Staaten, in denen die Lebenswirklichkeit von Frauen nach wie vor weit hinter der Theorie herhinkte, und selbst zu Zeiten, als Re-
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gierungen faktisch eine Konterrevolution durchfiihrten, indem sie versuchten, die Familie und die Rolle der Frau als Mutter wieder zum höchsten Wert zu erheben (wie in der Sowjetunion in den dreißiger Jahren). Die entscheidenden Freiheitsbeschränkungen waren letztlich nicht so sehr rechtlicher oder konventioneller als materieller Art, wie beispielsweise mangelnde Geburtenkontrollmaßnahmen, denen die Planwirtschaft ebenso geringe Aufinerksamkeit wie jedem anderen gynäkologischen Bedarf geschenkt hat. Was immer die Errungenschaften und Fehlschläge der sozialistischen Welt gewesen sein mögen, eine spezifisch feministische Bewegung hat sie jedenfalls nicht hervorgebracht - aber es war ihr wohl auch kaum möglich gewesen, wenn man bedenkt, daß politische Initiativen, die nicht von Staat und Partei gelenkt wurden, bis Mitte der achtziger Jahre effektiv unmöglich gewesen wären. Andererseits kann man sich aber auch kaum vorstellen, daß die Themen, mit denen sich die feministischen Bewegungen des Westens beschäftigten, in den kommunistischen Staaten vor dieser Zeit überhaupt ein großes Echo hätten finden können. Ursprünglich hatten sich diese Themen (die ja im Westen und vor allem in den USA den Feminismus erst wiederaufleben ließen) hauptsächlich um die Probleme der Mittelschichtsfrauen gedreht und waren auch auf deren spezifische Weise behandelt worden. Besonders deutlich wird dies, wenn man die USA und jene Berufe betrachtet, bei denen es durch feministischen Druck zu einem wirklichen Durchbruch kommen konnte, weshalb sie wahrscheinlich am ehesten als Beispiel fiir die Wirksamkeit solcher feministischen Bemühungen herangezogen werden können. Bis 1981 hatten Frauen die Mänr.er nicht nur aus allen Büro- und Angestelltenberufen verdrängt (die zwar meistens subaltern, aber durchaus angesehen waren), sondern es auch zu einem Anteil von beinahe 50 Prozent aller Grundstücks- und Börsenmakler und fast 40 Prozent aller Bankangestellten und Finanzberater gebracht. Sie hatten sich in großer, wenn auch noch immer inadäquater Zahl in den intellektuellen Berufen etabliert; und nur in den traditionellen Bereichen der Anwälte und Mediziner nahmen sie immer noch eine bescheidene BrückenkopffUnktion ein. Doch während mittlerweile 35 Prozent aller College- und Universitätslehrer, über ein Viertel aller Computerspezialisten und 22 Prozent der Naturwissenschaftler Frauen waren, war das männliche Monopol auf (erlernte wie ungelernte) körperliche Arbeit nahezu unangetastet geblieben: nur 2, 7 Prozent der Lastwagenfahrer, 1,6 Prozent der Elektriker und o,6 Prozent der Automechaniker waren Frauen. Der Widerstand gegen den Zustrom von
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Frauen in diesen Bereichen war zwar sicher nicht höher als bei den Ärzten und Rechtsanwälten, die mittlerweile fiir 14 Prozent Frauen Platz gemacht hatten; doch die Vermutung liegt nicht fern, daß Frauen fiir die· Eroberung dieser Bastionen der Männlichkeit etwas weniger Druck ausgeübt haben. Selbst bei flüchtigem Durchblättern der amerikanischen Streitschriften des neuen Feminismus aus den Sechziger Jahren läßt sich erkennen, daß die Probleme der Frauen im wesentlichen aus der Perspektive einer spezifischen Klasse betrachtet wurden (Friedan, 1963; Degler, 1987). Der Schwerpunkt lag nämlich auf der Frage: »Wie kann eine Frau Karriere oder Job mit Ehe und Familie vereinbaren?« Eine solche Frage konnte nur stellen, wer diese Wahl überhaupt hatte - das heißt, sie stellte sich von vomherein fiir die meisten Frauen in der Welt so gut wie nicht und überhaupt nicht fiir arme Frauen. Es ging hierbei zwar völlig zu Recht um die Gleichstellung von Mann und Frau, um ein Konzept also, das als entscheidende Grundlage ftir den rechtlichen und institutionellen Fortschritt der westlichen Frauen betrachtet wurde, seit das Wort »Geschlecht« (sex) 15- welches ursprünglich nur dazu verwendet worden war, rassische Diskriminierung zu verbieten - 1964 in den American Civil Rights Act aufgenonunen worden war. Aber »Gleichstellung«, oder vielmehr »Gleichbehandlung« und »gleiche Möglichkeiten«, geht von der Annahme aus, daß es keine wesentlichen Unterschiede sozialer oder anderer Art zwischen Männem und Frauen gibt. Für die meisten Frauen auf der Welt, vor allem fiir die armen, war jedoch völlig klar, daß sich ein bestimmter Teil der sozialen Unterlegenheit von Frauen auf die geschlechtlichen Unterschiede zu den Männem begründete und daß Frauen daher auch geschlechtsspezifischer Mittel zu ihrem Schutz bedurften: beispielsweise spezifischer Vorkehrungen fiir Schwangerschafts- und Mutterschaftsschutz oder eines besonderen Schutzes gegen Übergriffe durch das physisch stärkere und aggressivere Geschlecht. Doch der amerikanische Feminismus reagierte äußerst träge auf die vitalen Interessen der Arbeiterfrauen, zum Beispiel auf die Forderung nach Mutterschaftsurlaub. Und die Feministinnen lernten erst in einer späteren Phase, auf den Unterschieden und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu bestehen, obwohl die Umsetzung der liberalen Ideologie des abstrakten Individualismus oder Gesetze als Hilfsmittel zur Durchfiihrung der »Gleichberechtigung« nicht inuner mit der Überzeugung vereinbar waren, daß Frauen nicht wie Männer sind und auch nicht notwendigerweise sein sollten (und umgekehrt) . 16 Hinzu konunt, daß die Forderung der fiinfziger und Sechziger Jahre
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-die häusliche Sphäre verlassen und den Lohnarbeitsmarkt betreten zu können- nur die Ideologie der wohlhabenden, gebildeten, verheirateten Frauen der Mittelschicht widerspiegelte, deren Motivationen, anders als bei Frauen aus anderen Schicht~n. nur selten ökonomischer Art waren. Die Frauen unter den Amten oder Frauen mit geringem Einkommen hatten nach 1945 nur deshalb Lohnarbeit angenommen, weil diese ihren Kindem nicht mehr gestattet war. Und während Kinderarbeit im Westen beinahe vollständig verschwunden war, standen die Eltern, die ihren Kindem eine Ausbildung ermöglichen wollten, um ihnen bessere Zukunftschancen zu sichern, unter weit größerem und viellänger anhaltendem finanziellem Druck als zuvor. »ln der Vergangenheit mußten Kinder arbeiten, damit ihre Mütter im Haus bleiben und ihren Haushalts- und Fortpflanzungspflichten nachkommen konnten. Nunmehr müssen die Mütter anstelle ihrer Kinder arbeiten gehen, wenn die Familien zusätzliches Einkommen brauchen« (Tilly I Scott, 1987, S. 219). Dies wäre kaum möglich gewesen, wenn nicht weniger Kinder geboren worden wären und die Mechanisierung des Haushalts (vor allem die heimische Waschmaschine) sowie Fertig- und Tiefkühlgerichte eine Arbeit außer Haus erleichtert hätten. Für die verheiratete Frau der Mittelschicht, deren Ehemann ein dem Status angemessenes Einkommen hatte, brachte aber die Arbeit außer Haus nur selten eine wirkliche Aufbesserung des Familieneinkommens, denn in den Jobs, die ihr damals zur Verfugung standen, wurden Frauen sehr viel schlechter bezahlt als Männer. Und letztlich war das Nettoeinkommen der Familie kaum angestiegen, wenn erst einmal all die Hilfen fiir Haushalt und Kinder bezahlt worden waren, die ja nur deshalb notwendig wurden, damit der Ehefrau ein Beruf außer Haus überhaupt möglich war. Wenn es fiir verheiratete Frauen aus diesen Kreisen überhaupt einen Grund gab, außer Haus zu arbeiten, dann war es der Wunsch nach Freiheit und Autonomie - der Wunsch also, auch als verheiratete Frau eine selbständige Persönlichkeit zu sein und nicht nur das Anhängsel eines Ehemanns mit Haushalt; ein Mensch, der von der Welt als Individuum angesehen wird und nicht nur als Mitglied der Spezies •Nur-Hausfrau und Mutter«. Das Einkommen spielte dabei keine entscheidende Rolle, sondern wurde vielmehr als eine Art Zubrot betrachtet, das eine Frau ausgeben oder sparen konnte, ohne ihren Mann erst fragen zu müssen. Natürlich beruhte die Kalkulation des Familienbudgets eines Mittelschichtshaushalts im Laufe dieser Entwicklung bald schon auf dem Doppeleinkommen der Doppelverdiener. Und je normaler es wurde, Kindem der Mittelschicht eine Hochschulausbildung zu ermöglichen,
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Die soziale Revolution 1945- 1990
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und je mehr Eltern sich darauf einstellen mußten, ihre Kinder oft bis in ihre späten zwanziger Jahre oder sogar noch länger zu unterstü.tzen, um so deutlicher verlor die Lohnarbeit einer verheirateten Frau aus der Mittelschicht ihre Bedeutung als reine Unabhängigkeitserklärung und um so mehr wurde sie, was sie flir die Armen schon immer gewesen war: das notwendige Mittel zum Zweck. Dennoch ging bei dieser Entwicklung ein bewußt emanzipatorisches Element nicht verloren, was beispielsweise auch anband der zunehmenden Zahl von »PendlerEhen« festzustellen war. Der Preis (und nicht nur der finanzielle Preis), den Ehepaare zahlen mußten, wenn die Partner in oft weit voneinander entfernt liegenden Orten arbeiteten, war hoch; dennoch wurde es seit den siebziger Jahren vor allem unter Akademikern inuner üblicher und durch die Revolution im Transport- und Kommunikationswesen auch immer leichter möglich, solche Ehen zu fuhren. Früher waren die Ehefrauen der Mittelklasse (aber ab einem gewissen Alter nicht unbedingt auch deren Kinder) ihren Männern ganz selbstverständlich dorthin gefolgt, wohin sie ein neuer Job ft.ihrte ; nun war es zumindest in den Kreisen der intellektuellen Mittelschicht nahezu undenkbar geworden, die eigene Karriere der Ehefrau zu behindern und ihr das Recht abzusprechen, selbst zu entscheiden, an welchem Ort sie sie fortsetzen wollte. Endlich schien es, als würden sich Männer und Frauen wenigstens in dieser Hinsicht als gleichberechtigt behandeln. T7 Der Feminismus der Mittelschicht, die Bewegung der gebildeten und intellektuellen Frauen, ft.ihrte in den Industriestaaten allmählich zu einer Art Empfindung der ganzen Gattung daft.ir, daß die Zeit flir die Befreiung der Frau, zumindest aber fiir deren Selbstbestimmung gekommen war. Denn jener spezifische frühe Mittelschichtsfeminismus, der nicht immer auch fiir die Probleme der anderen Frauen im Westen relevant gewesen war, hatte schließlich Fragen aufgeworfen, mit denen sich alle Frauen identifizieren konnten. Und diese Fragen wurden immer drängender, da die soziale Revolution, die in diesem Kapitel umrissen wurde, zu einer tiefgreifenden und in vielerlei Hinsicht sehr plötzlich auftretenden moralischen und kulturellen Revolution gefiihrt hatte: zu einer dramatischen Transformation der Konventionen im sozialen und individuellen Verhalten. Und Frauen spielten bei dieser kulturellen Revolution eine entscheidende Rolle. Denn bei ihr ging es um die Veränderung der traditionellen Familie und der traditionellen Hausgemeinschaft, deren zentrales Element schon immer die Frau gewesen war. Diese Revolution werden wir nun betrachten.
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Elftes Kapitel
Die kulturelle Revolution
ln diesem Film spielt Cannen Maura einen Mann, der eine transsexuelle Operation hatte und wegen einer unglücklichen Liebesaffare mit seinem/ihrem Vater die Männer aufgab, um sich einer lesbischen Beziehung (nehme ich mal an) mit einer Frau zuzuwenden, die von einem berühmten Madrider Transvestiten gespielt wird. Filmrezension in Viilage Voice, Paul Bennan (1987, S. 572) Erfolgreiche Demonstrationen sind nicht unbedingt solche, die die größte Anzahl von Menschen mobilisieren, sondern solche, die das größte Interesse unter Journalisten hervorrufen. Man kann ohne große Übertreibung behaupten, daß fünfzig clevere Leute, die ein erfolgreiches »Happening• auf die Beine stellen und fünf Minuten im Fernsehen bekommen, genausoviel politischen Einfluß haben können wie eine halbe Million Demonstranten. Pierre Bourdieu (1994)
1 Der vielversprechendste Zugang zu dieser kulturellen Revolution fuhrt über die Familie und den Haushalt, also über die Beziehungsstrukturen zwischen den Geschlechtern und Generationen. In den meisten Gesellschaften hatten sich diese Strukturen auf eindrucksvolle Weise gegen plötzliche Veränderungen inunun gezeigt, aber das heißt nicht, daß sie statisch geblieben wären. Überdies glichen sich die Beziehungsmuster trotz bisweilen gegenteiligen Anscheins nahezu überall auf der Welt, zumindest aber haben sie in den meisten Regionen grundsätzliche Ähnlichkeiten aufgewiesen. Das gilt, auch wenn zwischen Eurasien (beide Seiten des Mittelmeers einbeschlossen) und Afrika die sozioökonomisch und technologisch bedingten Unterschiede gravierend gewesen sein mochten (Goody, 1990, XVII). Polygynie beispielsweise- von der man anninunt, daß sie außer unter bestimmten privilegierten Gruppen und in der arabischen Welt 1 nahezu vollständig von der eurasischen Bildfläche verschwunden ist - konnte in Mrika, wo noch über ein Viertel aller Ehen polygam sind (Goody, 1990, S. 379), bestens florieren.
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Doch die überwiegende Zahl der Menschen teilte über alle unterschiedlichen Varianten hinweg bestimmte gemeinsame Charakteristika: die Existenz der formalen Ehe mit privilegierten Geschlechtsbeziehungen zwischen den Partnern (wobei »Ehebruch« weltweit als Vergehen behandelt wird); die Vorrechte des Ehemannes gegenüber der Ehefrau (»Patriarchat«), der Eltern gegenüber den Kindern, der älteren gegenüber den jüngeren Generationen; Familienhaushalte, die aus mehreren Menschen bestehen, und ähnliches mehr. Wie immer Umfang und Komplexität des verwandtschaftlichen Netzes und der jeweiligen Rechte und Pflichten innerhalb dieses Netzwerks ausgesehen haben mögen, so war im allgemeinen selbst dann ein Nukleus (Ehepaar plus Kinder) in diesem Geflecht vorhanden, wenn die Zahl der Mitbewohner oder die zugehörige Gruppe und deren Haushalt sehr viel größer waren. Die Vorstellung, daß sich diese Kernfamilie, die zum Standardmodell der westlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts geworden war, im Zuge des heranwachsenden Bürgertums oder einer anderen Form von Individualismus auf gewisse Weise aus sehr viel größeren Familien- und Sippschaftsverbänden herausgebildet habe, basiert jedoch auf einem historischen Mißverständnis, nicht zuletzt hinsichtlich des Charakters von sozialen Kooperationen und deren Grundprinzipien in vorindustriellen Gesellschaften. Denn selbst in einer derart kommunistischen Institution wie der Zadruga, der Großfamilie der Slawen auf dem Balkan, »arbeitet jede Frau im engsten Sinne des Wortes nicht nur fl.ir ihre Familie, also fiir ihren Ehemann und ihre Kinder, sondern, wenn sie an der Reihe ist, auch fiir die unverheirateten Mitglieder der Gemeinschaft und die Waisenkinder« (Guidetti/Stahl, 1977, S. .58). Die Existenz eines solchen familiären und hauswirtschaftliehen Nukleus bedeutet aber natürlich nicht, daß sich die Sippschaftsgruppen oder Gemeinschaften, innerhalb deren die Kernfamilie gegründet wird, in einem anderen Zusammenhang ähnlich sein müssen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich diese grundlegenden und lang währenden Arrangements mit rasender Geschwindigkeit zu ändern begonnen, und zwar am dramatischsten in den »entwickelten« westlichen Ländern, aber auch dort nicht überall im gleichen Ausmaß. In England und Wales - zugegebenermaßen besonders drastische Beispiele- war im Jahr 1938 eine Ehescheidung auf achtundfiinfzig Eheschließungen gekommen (Mitchell, 197.5, S. 30- 32); Mitte der achtziger Jahren wurde aber bereits jede zweite Ehe (in exakten Zahlen: 2,2) geschieden (UN Statistical Yearbook, 1987) . Am schnellsten hatte sich dieser Trend in den freizügigen sechziger Jahren entwickelt. Ende der
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siebziger Jahre gab es über zehn Scheidungen von tausend Ehen in England und Wales, funfinal mehrals im Jahr 1961 (Social Trends, 1980, S. 84). Dieser Trend beschränkte sich jedoch ganz und gar nicht nur auf Großbritannien. Der spektakulärste Wandel fand in Staaten statt, die von stark einengenden traditionellen Moralvorstellungen geprägt waren, wie etwa in katholischen Ländern. In Belgien, Frankreich und den Niederlanden hat sich die Scheidungsrate (die jährliche Anzahl von Scheidungen pro tausend Einwohner) zwischen 1970 und 1985 ungefähr verdreifacht. Und selbst in den Staaten mit einer emanzipatorischen Tradition in diesen Dingen, wie Dänemark und Norwegen, haben sich die Scheidungsraten im gleichen Zeitraum nahezu verdoppelt. Also mußte doch etwas höchst Ungewöhnliches in den westlichen Ehen vor sich gegangen sein. Patientinnen einer gynäkologischen Klinik in Kalifomien , unter denen in den siebziger Jahren eine Umfrage gemacht wurde, zeigten »ein beträchtliches Desinteresse an formalen Eheschließungen, geringeren Wunsch nach Kindem . . . und eine neue Bereitschaft zur Akzeptanz von bisexuellen Beziehungen« (Esman, 1990, S. 67) . Es ist unwahrscheinlich, daß man derartige Einstellungen bei einem entsprechenden Querschnitt von Frauen irgendwo in der Zeit vor diesem Jahrzehnt hätte feststellen können - nicht einmal in Kalifomien. Auch die Anzahl alleinstehender Menschen (die also nicht mit einem Partner oder in einem größeren Familienverband lebten) begann sich drastisch zu erhöhen. In Großbritannien war der Anteil dieser Gruppe während des ersten Drittels des Jahrhunderts etwa bei 6 Prozent von allen Haushalten konstant geblieben und hatte sich danach nur sehr allmählich zu steigern begonnen. Doch zwischen 1960 und 1980 hat er sich plötzlich von 12 auf 22 Prozent nahezu verdoppelt, und bis 1991 sollte er sich auf über ein Viertel steigern (Abrams I Carr-Saunders, Social Trends, 1993, S. 26). In vielen westlichen Großstädten bildeten Alleinstehende nun die Hälfte aller Haushalte. Umgekehrt befand sich die klassische westliche Kernfamilie- das Ehepaar mit Kindem also - auf dem Rückzug. In den USA ging der Anteil dieser Familien in nur zwanzig Jahren (1960-80) von 44 Prozent aller Haushalte auf 29 Prozent zurück; in Schweden, wo Mitte der achtziger Jahre schon beinahe die Hälfte aller Neugeborenen unverheiratete Mütter hatten (Ecosoc, S. 21), fiel der Anteil von 37 auf 25 Prozent. Sogar in den Ländern, in denen die Kernfamilie 1960 noch immer die Hälfte oder über die Hälfte aller Haushalte gebildet hatte (Kanada, Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Großbritannien), war sie nun deutlich in die Minderheit geraten.
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In manchen Staaten war sie nicht einmal mehr nominell typisch. 1991 wurden beispielsweise 58 Prozent aller schwarzen Familien in den USA von einer alleinstehenden Frau versorgt, und 70 Prozent aller Neugeborenen hatten alleinstehende Mütter. 1940 waren nur IJ ,3 Prozent (und selbst in den Großstädten nur 12,4 Prozent) aller
»nichtweißen