188 78 45MB
German Pages 459 [472] Year 1917
O. Hoetzfch, Rußland.
Verlag Georg Reimer Berlin.
Rußland Eine Einführung auf Grund feiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg
von
Otto Äoetzsch
Zweite vollständig umgearbeitete Auflage Ulit 2 Karten
Berlin I9J7 Verlag von Georg Reimer
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.
Borwort zur zweiten Auflage. Die erste Auflage war im ersten Kriegsjahr vergriffen.
Zunächst
glaubten der Verlag und ich, für eine neue Bearbeitung das Ende des
Krieges abwarten zu müssen, so daß sich der Verlag, da die Nachfrage ununterbrochen weiter ging, mit einem zweimaligen anastatischen Neu druck behalf, der den bisherigen Text unverändert wiedergab und in dem
nur die Zeittafel bis zum Kriegsbeginn fortgeführt und statistische Bei
gaben angefügt wurden.
Dieser Behelf konnte aber auf die Dauer nicht
genügen, und so habe ich eine vollständige Umarbeitung vorgenommen, die
unter Fortführung der geschichtlichen Entwicklung bis zum Kriegsausbruch 1914 ein Bild Rußlands geben will, wie es zu Beginn des Weltkrieges war.
Natürlich spiegelt sich der Reflex des Krieges an manchen Stellen wieder, indes ist die direkte Bezugnahme auf den Krieg oder gar auf seine möglichen
Folgen grundsätzlich vermieden worden. Das Buch will das Verständnis der entfernteren und besonders der näheren Voraussetzungen (seit der Revo lution) für den Zustand Mitte 1914 vermitteln, ist doch nunmehr das
Jahrzehnt von 1904 bis 1914 eine eigene abgeschlossene Periode russischer
Geschichte geworden. Die Disposition brauchte nicht allzu stark verändert zu werden. Da
gegen konnte und mußte die Umarbeitung erheblich kürzen. Aus den Be sprechungen habe ich jede tatsächliche Verbesserung dankbarst verwendet. Für die Richtigstellung von Jrrtümem werde ich auch weiter immer dankbar
sein.
Ich darf darauf Hinweisen, daß Absicht und Sinn des Buches,
das auf der russischen und polnischen sowie der Literatur in den west
europäischen Sprachen und auf eigener Anschauung des russischen Staats
.uttb Volkes ruht, mit ganz geringen Ausnahmen überall verstanden worden
ist.
In Rußland selbst ist es von der Zensur verboten worden.
Die
iKriegsliteratur über Rußland ist verarbeitet, bot freilich im Verhältnis
W ihrem Umfang nicht allzuviel brauchbares.
Vorwort.
IV
In Sachen der Transkription habe ich mich überzeugen lassen, daß die Anwendung der wissenschaftlichen Übertragung russischer Schriftzeichen, wie sie die erste Auflage versuchte, in einem für die weitere Öffentlichkeit
bestimmten Werke doch nicht angängig ist. Daher ist die Wiedergabe in
den gewohnten Zeichen erfolgt. Alle Daten sind, wenn nicht Doppeldaten mitgeteilt sind, durchgängig nach neuem Stil gegeben. Für die Beigabe der beiden Karten werden die Leser mit mir dem Herrn Verleger besonders
dankbar sein.
Trotz des Krieges habe ich Politik und Wissenschaft nicht vermengt und mich bemüht, so objektiv zu sein wie irgend möglich.
An anderer
Stelle habe ich Gelegenheit, regelmäßig unsere politischen Gegensätze zu
Rußland zu erörtern und dazu Stellung zu nehmen. Hier war es meine Aufgabe, wie in der ersten Auflage, in das Verständnis der russischen
Gegenwart auf Grundlage der Geschichte und unter Ausschluß jeglicher politischen Stellungnahme einzuführen.
Gegen
die
erste
Auflage
ist
von
vielen
Seiten
der
Einwand
erhoben worden, daß die Darstellung allzu optimistisch sei und keine Vor stellung von der inneren Zersetzung und Gärung gäbe, die durch Rußland
gehe. Der Verlauf des Krieges hat bisher gezeigt, daß meine Auffassung
sich
gegenüber
Kriege
immer
einer in Deutschland
wiederholten
sonst
weit
BetrachMngsweise
verbreiteten und russischer
Dinge
im
als
richtig erwiesen hat. Um so höhere Bewunderung wird, wer sich der Auf fassung dieses Buches anschließt, der Genialität unserer Führung und der Tapferkeit unserer Truppen zollen, die inmitten einer Welt von Feinden
diesen Gegner so glänzend niederwarfen! Berlin, im Febmar 1917.
Otto Hoetzsch.
Inhaltsverzeichnis.
Seite Zeittafel................................................................................................................................ IX I.
Buch..........................................................................................................................
1
Das Erbteil der Vergangenheit...................................................
1
I. Das geographische Erbteil............................................................................
5
l. Kapitel.
II. Das ethnographische Erbteil..............................................................................13 III. Das Erbteil der Geschichte..............................................................................23
1. Die Staatenbildung.................................................................................23 2. Der Aufbau des Staates (Byzanz, Tatarenherrschaft, Euro
päisierung, Selbstherrschaft).................................................................27 3. Das Volk................................................................................................ 37 II. Kapitel.
Die Entstehung des modernen Rußlands und die Voraus
setzungen der Revolution von 1905
.....................................................
40
I. Die Reformen Alexanders II...........................................................................40 II. Die geistigen Voraussetzungen der Revolution bis zu Alexander II. 50 in. Das Regierungsshstem Alexanders HL und Nikolais II. bis 1904 .
60
IV. Wirtschaftspolitik, Frühkapitalismus und Sozialismus............................ 67 V. Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution............................................ 80
m. Kapitel. Der Krieg mit Japan und die Revolution bis zum Zu-
sammentritt der erstenDuma..........................................................................88 I. Der Krieg........................................................................................................... 88 II. Die Revolution.................................................................................................93 H. Buch...............................................................................................................................106
IV. Kapitel.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von
1906—1914
...............................................................................................
106
I. Parteibildungen...............................................................................................106 n. Die beiden ersten Dumm...............................................................................113
m. Die dritte und vierteDumabis 1914.............................................................. 122 V. Kapitel. Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik............................................... 138 I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Kerngebiets und der Grenz
marken hei Ausbruch des
Weltkrieges .
138
Inhaltsverzeichnis.
VI
Sette
n. Agrarftage und Agrarreform..........................................................................146
1. Bis zur Revolution...............................................................................146
2. Während und nach der Revolution.................................................... 165 HL Finanzen, Finanz- und Verkehrspolitik 1906—1914 ...........................
179
IV. Handel, Wirtschaft- und Sozialpolitik......................................................... 187
V. Entwicklung und Stand des Kapitalismus 1904—1914 ......................
191
VI. Kapitel. Verfassung, Verwaltung und Gericht................................................. 196
I. Die Verfassung...............................................................................................196 n. Die Verwaltung bis 1905 ...........................................................................
208
HL Gericht, Recht und Staatsdienst bis 1905............................................
217
IV. Veränderungen seit 1905 in Verwaltung und Gericht......................... 221 VH Kapitel.
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung und die
gesellschaftlichen Kräfte............................................................................... 229 VHL Kapitel. Die geistige Welt............................................................................... 242
I. Die orthodoxe Kirche.....................................................................................242 H. Die Schule......................................................................................................... 259
HL Presse und Literatur..........................................................................................272 IV. Die russische Seele..........................................................................................275 IX. Kapitel. Der Machtstaat.....................................................................................280 I. Wesen, Richtungen und Träger der Machtpolitik.................................... 280
H Die Machtmittel: Heer und Flotte.............................................................. 288
HL Kolonialpolitik.................................................................................................... 295
1. Inhalt und Ziel.................................................................................... 295 2. Verkehrspolitik......................................................................................... 297 3. Sibirien....................................................................................................301 4. Turkestan....................................................................................................309
5. Der Kaukasus......................................................................................... 316 IV. Die auswärtige Politik vom Frieden von Portsmouth bis zum Ausbruch des Weltkrieges......................................................................... 319 HL Buch. Die Nationalitätenfrage, Panflavismus und Nationalismus .
.
333
X. Kapitel. Die Grenzmarken.....................................................................................333
I. Die nationale Zusammensetzung desReiches.................................................. 333 2. Die Nationalitätenftage während derRevolution......................................... 336 3. Das Zartum Polen..........................................................................................338 4. Die Ostseeprovinzen (Deutsche, Letten und Esten); die Deutschen im ganzen Reiche.................................................................................................... 354
5. Bessarabien..........................................................................................................362
6. Der Kaukasus und die armenische Frage.......................................................... 363 7. Finnland............................................................................................................... 368
Inhaltsverzeichnis.
VII
Seite 385
XI. Kapitel. Die nationalen Probleme des Kerngebiets
1. Litauen und Weißrußland
385
2. Der jüdische Ansiedlungsrayon
392 ........................................... 398
3. Die ukrainische Frage
403
4. Mohammedaner und Tataren
XU. Kapitel. Nationalismus und Panslavismus
408
I. Der Nationalismus
408
II. Der Panslavismus
412
422
Schluß
...........................
Literaturangaben
Die
Hauptzeitungen
433
.......................... 435
Personenregister
Karte des russischen Reiches Nationalitätenkarte
425
vor dem Titel
............................................................................. am Schluß
Zeittafel. (Daten nach neuem Stil.) 1882. 30.-Mai: Begründung der Bauernagrarbank.
1885. 15. Juni: Begründung der Adelsagrarbank. 1887—1892. I. A. Whschnegradski Finanzminister.
1888. Dezember: Erste große Anleihe Rußlands bei Frankreich. 1889. 24. Juni: Gesetz betr. Errichtung des Amts der „Semskie Natschalniki". 1890. 24. Juni: Gesetz betr. die Semstwos (die heute geltende Ordnung). 1891. 30. März: Ukas für den Beginn des Baues der Sibirischen Bahn.
11. Juni: Erlaß eines neuen (Hochschutzzoll-)Zolltarifs (gültig ab 1./13. Juli). Erste allgemeine Hungersnot. 1892. 23. Juni: (Heute geltende) Städteordnung.
11. September: Ernennung S. I. Wittes zum Finanzminister. 1894. Erste größere Arbeiterunruhen; neues Erwachen der Narodnaja Wolja.
10. Februar: Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages (in Kraft getreten am 20. März); Aufhebung des Verbots (seit 1887) der Lombardierung russischer Wertpapiere bei der deutschen Reichsbank und Seehandlung. 14. März: Gesetz betr. die Fabrikinspektion. 18. Juni: Einführung des Branntweinmonopols (in Kraft getreten nach und
nach seit 1. Januar 1895).
1895. 9. Dezember: Umgestaltung der Bauernagrarbank.
1896. Streiks der Arbeiter und Studenten, von Petersburg aus. — Vertrag mit China über den Bau der chines. Ostbahn.
1897. 15. Januar: Allerhöchster Befehl betr. die Einführung der Goldwährung. (Dazu die Ukase vom 10. September und 26. November 1897.)
9. Februar: Erste allgemeine Volkszählung in Rußland. Hungersnot. — Gründung des jüdischen Arbeiterbundes im Zartum Polen und Litauen. — Wiedererscheinen der Sozialrevolutionäre. —
Zession Port Arthurs von China an Rußland. 1./2. Juni:
Revision des russisch-finnländischen Zolltarifs.
14. Juni: Gesetz betr. den Maximalarbeitstag. 10. September: Gesetz betr. Einführung der Goldwährung.
X
Zeittafel.
1898. Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.
15. März: Pachtung von Port Arthur. 24. August: Vorschlag des Zaren auf einen Friedenskongreß (dessen Tagung 18. Mai bis 29. Juli). 1899. 15. Februar: Manifest über die finnische Verfassung. 16. Februar bis 13. März: Beginn der eigentlichen Studentenbewegung in
Petersburg. 30. Juli: Gründung von Dalni; dessen Freihafenstellung. 23. September: Beginn des Studentenstreiks.
Preissturz der Aktienwerte; Dauer der Krisis bis 1902. — Subatowschtschina. 1900. Erstes Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China. 1901. Wiederbeginn des Terrors und Konstituierung der „sozial-revolutionären"
Partei. 27. Februar: Ermordung des Kultusministers Bogoljepow. 10. März: Veröffentlichung der Exkommunikation L. Tolstois.
17. März: Große Studentendemonstration (mit Arbeitern) vor der KasanMärz:
schen Kathedrale in Petersburg. Studentendemonstrationen und
-streiks in Petersburg, Moskau,
Kiew, Odessa, Charkow, Kasan, Tomsk und Dorpat.
4. April: Attentat auf Pobjedonoszew. 12. Juli: Finnische Wehrordnung; Auflösung des finnischen Heeres.
1902. 5. Februar und 4. März: Kommissionen zur Lösung der Agrarflüge eingesetzt. März: Erster allrussischer Studentenkongreß. 8. April: Zweites Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China. 15. April: Ermordung des Ministers des Innern Sipjagin; Nachfolger:
W. K. Plehwe. 5. Juni: Gründung der Semstwozentrale in Moskau. 14. Juli: Beginn des Erscheinens der „Oswoboschdenie" (erst in Stuttgart, dann in Paris) von P. Struve. Beschluß betr. die Bahnbauten Orenburg—Taschkent, Bologoje—Sjedlez,
Petersburg—Wjatka. — Vollendung der sibirischen Bahn. 1903. Sommer: Begründung des „Bundes des Befleiung", bis Oktober 1905. — Gründung des „Komitees für den fernen Osten". — Große Arbeiter
demonstrationen im Laufe des Jahres. 11. März: Manifest über Agrarreformen und religiöse Toleranz.
9. April: 15. Juni: 20. Juni:
Bobrikow Diktator in Helsingfors. Haftpflichtgesetz für die Industrie. Erlaß über das Russische als Verwaltungs- usw.-Sprache in
Finnland. Juli—August: 'Generalstreik in Südrußland und im Kaukasus.
August: Erster russ.-sozialdemokratischer Parteitag (im Auslande). 12. August: Beginn der Verhandlungen zwischen Japan und Rußland. 13. August: Ernennung Alexejews zum Statthalter des fernen Ostens.
Zeittafel.
XI
29. August: Wittes Rücktritt vom Finanzministerium und Ernennung zum Präsidenten des Ministerkomitees. November: Zweiter allrussischer Studentenkongretz (in Odessa).
1904. Seit 1904 Ausdehnung einer armenischen Sozialdemokratie.
21. Januar: Ukas betr. Reform der bäuerlichen Gesetzgebung. 6. Februar:
Abbruch der Verhandlungen zwischen Rußland und Japan
durch letzteres. /9. 8.
Februar: Angriff auf Port Arthur.
18. Februar: Ernennung Kokowzows zum Finanzminister. 21. Februar: Ernennung
Kuropatkins
zum
Oberkommandierenden
der
Armee in der Mandschurei. 25. März: Aufhebung der Solidarhaft der Gemeinde. 1. Mai: Übergang der Japaner über den Dalu. 30. Mai: Besetzung von Dalni durch Japan. 16. Juni:
Ermordung des Generalgouverneurs Bobrikow in Helsingfors.
I. Juli: Protest Tolstois gegen den Krieg in der „Times". 28. Juli:
28. Juli:
Ermordung Plehwes. Deutsch-russischer
(Zusatz-)Handelsvertrag
(in
Kraft
tretend
1. März 1906 und laufend bis 31. Dezember 1917). 12. August: Geburt des Thronfolgers Alexej. 24. August: Gnadenmanifest, (Abschaffung der Prügelstrafe für die bäuerliche Bevölkerung, füi Heer und Flotte; Steuererlasse usw.).
26. August bis 4. September: Schlacht bei Liaojan.
8. September: Ernennung Swjatopolk-Mirskis zum Minister des Innern. II. September. Ausfahrt Roschdestwenskis aus Kronstadt.
25. September: Eröffnung der Baikalsee-Ringbahn. 30. September und ff.: Konferenz der Oppositionsführer in Paris, erster Zusammenschluß dieser Art. 9.—19. Oktober: Schlacht am Schaho. 21./22. Oktober: Beschießung einer englischen Fischerflotte an der Dogger
bank (Einsetzung eines Schiedsgerichts darüber 25. November).
23. Oktober: Entsetzung Alexejews und Ernennung Kuropatkins zum Ober
kommandierenden der gesamten Landarmee in Ostasien. 19. —22. November: Erster Semstwokongreß in Petersburg.
11. Dezember: Straßenunruhen in Petersburg. 19. Dezember: Straßenunruhen in Moskau. 25. Dezember: Ukas an den Senat (bäuerliche Gesetzgebung, Glaubens- und
Pressefteiheit, Unabhängigkeit der Gerichte usw.). 27. Dezember: Manifest über die Selbstherrschaft. 1905. 15. Januar: Kapitulation von Port Arthur. — Enthebung des Großfürsten
Sergius von der Stellung als Generalgouverneur von Moskau. 17. -20. Januar:
Streiks in Petersburg.
19. Januar: Scharfe Schüsse beim Fest der Wasserweihe in Petersburg.
xn
Zeittafel. 22. Jänuar: Der „Rote" Sonntag in Petersburg. 24. Januar: Ernennung Trepows zum Generalgouverneur von Petersburg; Aufhebung der Stadthauptmannschaft von Petersburg. Uuruhen in Helsingfors. — Schließung sämtlicher Hochschulen des Reiches. — Matrosenunruhen in Sewastopol. 1. Februar: Rücktritt Swjatopolk-Mirskis und Ernennung Bulygins zum Minister des Innern. — Empfang einer Arbeiterdeputation durch den Zaren. 6. Februar: Belagerungszustand in Polen. 10. Februar: Beginn des Schulstreiks und -bohkotts sowie überhaupt von Streiks im Zartum Polen. 17. Februar: Ermordung des Großfürsten Sergius in Moskau. 19. Februar ff.: Beginn von Unruhen im Kaukasus. 24. Februar bis 9. März: Schlacht bei Mulden. 3. März: Reskript an Bulygin: Volksvertretung zur Teilnahme an der Ausarbeitung und Beratung der Gesetzentwürfe". — Ukas an den Senat: Petitionsrecht für die Reichsreform. — Manifest gegen den inneren und äußeren Feind und über die Erhaltung der Selbst herrschaft.
17. März: Ernennung von Linjewitsch an Stelle Kuropatkins. 19. März: Straßenunruhen in Riga. März: Gründung des ,Dundes russischer Männer". Ende März: Unruhen in der Krim. 29. März: Aufhebung des finnischen Wehrgesetzes vom Juli 1901. 12. April und 19. Mai: Einsetzung eines Zentralkomitees für die Agrarfrage. 30. April: Erlaß aller bis zum 27. November 1894 gemachten Vorschüsse für die Bauern. 30. April: Toleranzedikt für die Altgläubigen. Mai: Erster Bauernkongreß in Moskau. 14. Mai: Toleranzedikt für die Bekenner anderer Konfessionen. 14. Mai: Ukas betr. Gestattung des Unterrichts im Polnischen und Litau ischen im Westgebiet und des Landerwerbs durch Polen ebendort. 21. Mai: Erster Kongreß und Gründung des „Verbandes der Verbände". 27./2S. Mai: Seeschlacht bei Tsuschima. 5. Juni: Ernennung Trepows zum Gehilfen des Ministers des Innern. — Ukas über das Preßrecht. 6. Juni: Semstwokongreß und Beschluß einer Adresse an den Zaren. 6./8. Juni: Zweiter Kongreß des „Verbandes der Verbände". — Unruhen in Petersburg. 8. Juni: Anregung Roosevelts zum Frieden , an Japan und Rußland. 14. Juni: Meuterei auf dem Kreuzer „Potemkin". 19. Juni: Empfang von Deputierten des Semstwokongresses durch den Zaren; Anrede von Fürst Sergius Trubezkoi.
Zeittafel.
XIH
19. Juni: Zulassung der polnischen Sprache in Schule und Verwaltung des Zartums Polen.
21. Juni:
Begründung des Reichsverteidigungsrats.
21.-25. Juni: Sttaßenkämpfe in Lodz. 26. Juni: Aufhebung des „Komitees für den fernen Osten". 27. Juni: Unruhen in Odessa. 27.-29. Juni: Dritter Kongreß des „Verbandes der Verbände". 29. Juni: Toleranzedikt für die Juden.
30. Juni: Auflösung des finnischen Militärbezirks. I. Juli: Gestattung deutscher Privatschulen in den Ostseeprovinzen.
19./22. Juli:
Zweiter eigentlicher Semstwo- und Städtevertteterkongreß
in Moskau. 23./21. Juli: Zusammenkunft Wilhelms H und Nikolais II. auf der Höhe von Björkö.
13. /14. August: Zweiter allrussischer Bauernkongreß und Gründung des all russischen Bauernbundes m Moskau. 19. August: Verfassung und Wahlgesetz.
5. September: Frieden von Portsmouth mtf Japan.
8. September: Gewährung der Autonomie an die Universitäten. 14. —17 September: Allrussischer Studentenkongreß in Wiborg.
23.-28. September: Dritter
Semstwo-
und
Städtevertteterkongreß
in
Moskau. September: Unruhen in Baku. II. Oktober und ff.: Eisenbahnerstreik und Generalausstand.
14. Oktober:
Gestattung des Polnischen und Litauischen als Unterrichts
sprache in den Privatschulen des Zartums Polen. 25—31. Oktober: Gründung der Kadettenpartei. 27. Oktober: Ukas über das Versammlungsrecht. 28. Oktober: Generalstreik und Verhängung des
im
Kriegszustandes
Zartum Polen. 30. Oktober: Sog. Oktobermanifest. 31. Oktober: Unruhen in Petersburg. — Sttaßenkämpfe in Odessa. 1. November: Entlassung Pobjedonoszews. — Aufhebung der Zensur. —
Umgestaltung Ministerrat.
des
Ministerkomitees:
Ministerpräsidium
und
3. November: Ukas über Amnestie politischer Verbrecher. 4. November: Wiederherstellung der finnischen Verfassung.
6. November: Ernennung Wittes zum Ministerpräsidenten, DurnowoS zum
Minister des Innern. 8. November: Entlassung Trepows. — Meuterei in Kronstadt. 16. November:
Manifest bett, die Loskaufszahlungen, deren Herabsetzung
auf die Hälfte sür 1906 und völliger Erlaß für 1. Januar 1907. 16./20. November: Zweiter Generalstreik.
XIV
Zeittafel.
/27. 19.
November: 4. Kongreß der Semstwo- und Städtevertreter.
19./26. November: Dritter allrussischer Bauernkongreß.
24./29. November: Meuterei in Sewastopol. 30. November: Gründung des allrussischen Volksverbandes.
Oktober/November: Judenmassakers in Odessa und Kischinew. November: Ausbruch der Revolution in den Ostseeprovinzen.
29. November/10. Dezember:
Zweiter Eisenbahnerstreik (auch Post und
Telegraphie) und Versuch des Generalstreiks.
Dezember: Meutereien in zahlreichen Garnisonen. 7. Dezember: Aufhebung der Präventivzensur und Preßgesetz.
16. Dezember: Verhaftung und Auflösung des Arbeiterrats. 17. Dezember: Konstituierung des Oktoberverbandes. 20./31. Dezember: Ausstand und Revolution in Moskau. 24. Dezember:
Ukas über die Erweiterung des Wahlrechts.
1906. Januar: Judenverfolgung in Homel. 28. Januar bis 5. Februar: Kongreß der Mohammedaner in Petersburg.
4. März: Manifest und Ukas über den Reichsrat und die Duma. 17. März: Erlaß eines „temporären" Vereins- und Versammlungsgesetzes.
— Ukas bett. Einsetzung der Landorganisationskommissionen. 18.—30. März: Duma-Urwahlen.
21. März: Ukas betr. die Budgetregeln. 22. März: Festsetzung der dreijährigen Dienstzeit für die Infanterie. (Am 29. Juni veröffentlicht.)
10. April: Ermordung Gapons. 2. Mai: Gestattung des Deutschen, Lettischen und Estnischen als Unter richtssprache in den Ostseeprovinzen. 5. Mai: Verabschiedung Wittes und Durnowos. 6. Mai: Erlaß der Reichsgrundgesetze. 9. Mai: Aufhebung der Präventivzensur für Bücher. 10. Mai: Ernennung Goremykins zum Ministerpräsidenten, Stolypins zum Minister des Innern und Kokowzows zum Finanzminister.
10. Mai bis 21. Juli: Erste Duma. 12. Mai: Ernennung Iswolskis zum Minister des Auswärtigen. 17. Mai: Adreßannahme, Verlangen der Duma nach allgemeiner Amnestie.
26. Mai: Mißtrauensvotum gegen das Ministerium. 29. Mai bis 20. Juli: Beratung der Agrarfrage in der Duma.
14—18. Juni: Judenpogrom in Bialystok. Mitte Juni: Militärische Besetzung der Alandsinseln. 24. Juni: Meuterei des 1. Bataillons des Garderegiments Preobraschensk.
2. Juli:
Verlangen der Duma nych Ministerverantwortlichkeit und Ab
schaffung der Todesstrafe. 20. Juli: Neue Landtagsordnung und Wahlgesetz für Finnland. 21. Juli: Auflösung der Duma.
Zeittafel.
XV
22. Juli: Ernennung Stolypins zum Ministerpräsidenten. 23. Juli: Wiborger Aufruf der Kadetten.
31. Juli: Meuterei in Sweaborg.
August:
Zahlreiche Unruhen und Plünderungen im Reiche.
2. August: Meuterei in Kronstadt. 25. August: Erfolgloses Attentat auf Stolypin. 25. August und 9. September: Bestimmung von im ganzen 9 Mill. Dessj. Apanagen- und Kronsland zum Verkauf an die Bauern.
1. September: Einführung der Feldkriegsgerichte. 15. September: Tod Trepows.
2. Oktober: Ukas über Erschließung der Kabinettsländereien zur Ansiedlung
in Westsibiren. 18. Oktober: Ukas betr. die rechtliche Gleichstellung der Bauern.
Oktober/November: Begründung der „Deutschen Vereine" und Neubelebung des deutschen Schulwesens in den Ostseeprovinzen; politischer Zu
sammenschluß in der „Deutschen Gruppe" des Oktoberverbandes. — Gründung polnischer Schulen im Zartum Polen durch die „Macierz
Szkolna";
politischer
Zusammenschluß
der
Nationaldemokraten,
Ugodowzh und Fortschrittler. 30. Oktober: Ukas betr. Gestattung von Kirchengemeinden und -bau für Altgläubige und orthodoxe Sektierer.
18. November und 4. Dezember: Oktobristenkongreß: Msage an die Ka detten und die Rechte. 22. November: Ukas betr. Auflösung des Mir. 23. Dezember: Ermordung des Grafen Alexander Jgnatiew. Dezember: Terroristenkongreß in Luzern. 1907. 21. Januar bis 17. Februar: Dumawahlen.
28. Januar: Räumung der Mandschurei. 5. März bis 16. Juni: Zweite Duma.
15./16. März: Wahlen zum finnischen Landtag. 19. März: Stolypins Regierungsprogramm vor der Duma. 23. März: Tod Pobjedonoszews. 23. Mai: Rede Stolypins über.die Agrarfrage.
28. Mai: Ablehnung der Mißbilligung politischer
Verbrechen und des
Terrors durch die Duma. 14. Juni: Verweigerung der Ausschließung und Auslieferung von Mit gliedern zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Verschwörung gegen
den Zaren. 16. Juni: Auflösung der zweiten Duma und Erlaß eines
neuen Wahlgesetzes. 26. Juni: Semstwokongreß. 28. Juli: Handesvertrag mit Japan.
30. Juli: Vertrag mit Japan über China.
Zeittafel.
XVI
3./6. August: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais IL vor Swinemünde.
31. August:
Abkommen mit England über Persien.
14. September:
Beginn der Neuwahlen.
27. Oktober bis 1. November: Wahlen der Abgeordneten. 14. November 1907 bis 11. September 1912: Dritte Duma.
26. November: Annahme der Adresse. 29. November: Programmerklärung Stolypins. 18. Dezember: Auflösung der „Macierz Szkolna" in Polen.
1908. 5. Januar: Gesetz bett. Erhöhung der Offiziersgehälter. Januar: Das „große" Flottenprogramm. 20. Februar: Verurteilung des Generals Stössel.
4. April: Auflösung des finnischen Landtags.
9. April: Feierlicher Empfang des Fürsten von Montenegro durch den
Zaren. 15. April: Beschluß des Baus der Amurbahn. 23. April: Ostfeeabkommen mit Deutschland, Dänemark und Schweden.
18. Mai: Programmrede Stolypins in der Duma über Finnland.
Mai: Allflawischer Kongreß in Petersburg. 6. und 9. Juni: Angriff Gutschkows auf die „unverantwortlichen Stellen" in Heer und Flotte.
9./10. Juni: Zusammenkunft Eduards VII. mit Nikolai II. in Reval. 16. Juni: Beschluß des Baues eines zweiten Gleises der Sibirischen Bahn.
18. Juni: Gründung des allrussischen Nationalverbandes.
Juli: Allflawischer Kongreß in Prag. 1. Juli: Neuwahlen in Finnland.
16. Juli: Protest L. Tolstois („Ich kann nicht schweigen"). 27./2S. Juli: Zusammenkunft des Zaren mit dem französischen Präsidenten. 21. August: Aufhebung des Reichsverteidigungsrats.
13. September: Wiedereröffnung der Universität Warschau (seit 1905 ge
schloffen). 16. September: Beendigung des Kriegszustandes in den Ostseeprovinzen. September/Dezember: Senatorenrevisionen in Moskau und Turkestan.
1909. Januar/Februar: Angelegenheit Asew.
22. Februar:
Auflösung des finnischen Landtags.
April: Allflawischer Kongreß in Petersburg. 6. Juni: Gesetz bett. Schulbaudarlehnsfonds beim Ministerium für Volks aufklärung. 17./18. Juni: Zusammenkunft Wilhelms H und Nikolais IL vor Fredriks-
hamn. 23. Juni: Gesetz bett. Errichtung einer Universität in Saratow.
18. Juli: Poltawafeier. 25. Juli: Empfang von 120 Dumaabgeordneten durch Eduard VH
Zeittafel.
xvn
6. September: Verfügung des Ministerrats betr. Art. 96 der Reichsgrund gesetze. 22. September: Ukas über die Universitätsresorm.
Oktober: Reise von Stolypin und Kokowzow nach Sibirien. 23./25. Oktober: Besuch des Zaren beim König von Italien in Racconigi.
17./18. November: Militärkonflikt und Landtagsauflösung in Finnland.
15. Dezember: Annahme des Entwurfs über die bedingte Verurteilung und 29. Dezember: über die Reorganisation der Armee durch die^Duma.
1910. 9. Februar: Neuwahlen in Finnland. 23. Februar/3. März: Besuch des bulgarischen Königspaares und 22. März: des Königs von Serbien am russischen Hofe. 21. März: Dumapräsident Chomjakow (seit Anfang der 3. Duma) durch
Gutschkow ersetzt.
Seit April: Senatorenrevision in Warschau. 30. Mai: Annahme des Entwurfs über die Semstwos im Westgebiet in der Duma. 27. Juni: Gesetz über das Ausscheiden der Bauern aus der Gemeinde.
30. Juni: Gesetz betr. gemeinsame Gesetzgebung für Rußland und Finnland.
4. Juli: Abkommen mit Japan über die Mandschurei. 28. August: Ernennung des Königs von Montenegro zum russischen Feld
marschall.
28. September: Ernennung Sasonows zum Minister des Auswärtigen. 8. Oktober: Auflösung des finnischen Landtags.
4./5. November: Besuch des Zarm in Potsdam. 20. November: Tod L. Tolstois. 8. Dezember: Annahme des 100 Millionenfonds für die Volksschule in der Kommission der Duma.
1911. 12. Januar: Neuwahlen in Finnland. 6. Februar: Annahme des Volksschulgesetzes in der Duma.
27. März: Staatsstreich: Ukas betr. Einführung der Semstwos im West
gebiet. — Demission und Sieg Stolypins. — Niederlegung pes Dumapräsidiums durch Gutschkow. 2. April: Gesetz betr. das Urheberrecht.
19. Mai:
Potsdamer Abkommen mit Deutschland über Persien und die
Bagdadbahn. 27. Mai: Beginn des Konflikts mit Nordamerika in der Judenfrage.
11. Juni: Gesetz über die Landorganisation.
14. September: Attentat auf Stolypin in Kiew. 18. September: Tod Stolypins. 23. September: Ernennung Kokowzows zum Ministerpräsidenten.
23. September und 30. Oktober: Nationalisten. Hoetzsch, Rußland.
Zusammenschluß der Oktobristen und
Zeittafel.
XVIII 18. November:
Kündigung des russ.-amerikan. Handelsvertrages durch die
Vereinigten Staaten (in Kraft bis 18. November 1912).
29. November: Annahme der Vorlage gegen die Trunksucht in der Duma.
1912. 1. Januar: Gesetz betr. die Verstaatlichung der Warschau—Wiener Bahn.
23. Januar: Gesetz betr. den finnischen Reichswehrbeitrag. 2. Februar: Gesetz betr. Rechtsgleichheit russischer Untertanen in Finnland. 24. März: Gesetz betr. die Sekte der Mariawiten. 23. Mai:
Gesetz betr. Verbesserung der materiellen Lage der Gymnasial
lehrer.
8. Juni:
Gesetz über die höheren Elementarschulen.
18. Juni: Ablehnung des Volksschulgesetzes im Reichsrat. 22. Juni: Gesetz betr. Einführung der Semstwos in den Gouvernements Astrachan, Orenburg und Stawropol.
22. Juni: Schluß der Duma. 28. Juni: Gesetz betr. Umwandlung des lokalen Gerichts. 2. Juli: Annahme des Flotten-Quinquennats durch die Duma (sog. kleines
Flottenprogramm). 4.-6. Juli: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. in Baltischpori. 6. Juli: Gesetz betr. Bildung des Gouvernements Cholm und betr. Abände
rung des Statuts über die Wehrpflicht. — Die vier Arbeiterversiche rungsgesetze. 9. Juli: Gesetz betr. Gründung einer Staatsbank für den Semstwo- und
Kommunalkredit. 11. September: Auflösung der Duma. Vom 25. September ab Neuwahlen.
3. November: Vertrag mit dem Chutuchtu der Mongolei. 12. November: Abschluß der Urheberkonvention mit Frankreich. 28. November: Zusammentritt der vierten Duma. 6. Dezember: Abordnung aus der Mongolei in Petersburg. 1913. 16. Januar: Großfürst Michael Alexandrowitsch verliert die Rechte auf die
Thronfolge wegen seiner Mesalliance. 22. Januar: Ablehnung der Vorlage über Einführung des Semstwos für
das Gouvern. Archangel im Reichsrat. — Erinnerungsstreiks an den „Roten Sonntag". 1. Februar: Ernennung des General Dschunkowski
zum Gehilfen des
Ministers des Innern. 3. Februar: Minister Maklakow zieht alle Toleranzvorlagen aus der Duma zurück. 18. Februar: Abkommen mit der Mongolei zur Organisation der mongo
lischen Armee. 27. Februar:
Der Ministerrat erklärt Jnitativanträge der Duma über
Unverletzlichkeit der Person, über Vereine und Versammlungen und
Änderung des Dumawahlrechts fiir unannehmbar.
Zeittafel.
XIX
28. Februar: Abschluß der deutsch-russischen Literarkouvention (veröffentlicht
19. April).
5. März: Nichtbestätigung des Fürsten G. E. Lwow als Moskauer Stadt haupt. 6. März: Romanow-Jubiläum. 24. März: Delcassö in Petersburg.
31. März: Konferenz der Balkandelegierten in Petersburg; Aufläuse wegen des Falles von Adrianopel.
7. April: Allslawische Straßendemonstration in Petersburg.
11. April: Regierungserklärung zur Balkanfrage. 17. April: Streiks wegen der Lena-Vorfälle. 24. Mai: Hochzeit der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen in An wesenheit des Zaren.
13. Juni: Ministerrat lehnh Dumabesuch infolge Rede des Abg. Markow II. ab. 5. Juli: Annahme des Gesetzes betr. Gouv. Cholnr in der Duma.
21. Juli: Offizielle Erklärung betr. Bulgarien und Türkei. 3. August: Französische Militärmission unter Joffre in Petersburg. 10. August: Neuwahlen des finnischen Landtags.
14. August: Die deutsch-russische Literarkonvention tritt in Kraft. 13. September: Probemobilmachung in Witebsk und Livland. September: Besuche eines russischen Geschwaders in Portland und Brest. 7. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung itt den zentralasiatischcu Besitzungen. 8. Oktober bis 10. November: Beilis-Prozeß in Kiew.
18. Oktober: Einweihung des Romanowkanals in Turkestan. 20. Oktober: Offizielle Bekanntmachung der Absicht, den aktiven Heeres
dienst um 2 Monate zu verlängern. 23. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung im Gebiet Samarkand.
28. Oktober: Beginn der 2. Session der 4. Duma. 30. Oktober: Erinnerungsstreiks in Petersburg für das Oktobermanifesl. 5. November: Vertrag zwischen China und Rußland über die Mongolei. 17. -20. November: Kokowzow in Berlin. 10. Dezember: Ablehnung des Gebrauchs der polllischen Sprache in der Städteordnung für Polen im Reichsrat. 15. Dezember: Ausscheiden von 14 linken Oktobristen,
18. Dezember: von weiteren 28 aus der Fraktion. 19. Dezember: Eröffnung eines Teils der Amurbahn.
29. Dezember bis 3. März 1914: Hochverratsprozeß in Marmaros-Szigeth;
Graf Bobrinski als Zeuge. 1914. 21. Januar bis 4. Februar:
50jährige Jubelfeier der Einführung der
Semstwos. 8. Februar: Leo Mechelin f. — Ukas betr. Übungen der gesamten Reichs wehr I. Aufgebots, außer in Polen, im Jahre 1914.
XX
Zeittafel. 13. Februar: Rücktritt Kokowzows, Ernennung von Goremykin zum Ministerpräsidenten und von Bark zum Finanzminister. 14. Februar: Generalgouverneur von Polen Skalon t18. Februar: Verordnung über den Verschluß bestimntter Häfen für fremde Kriegsschiffe. 3. März: Artikel der „Kölnischen Zeitung" über Kriegsvorbereüungen Rußlands. 9. März: 100. Geburtstag des ukrainischen Dichters T. Schewtschenko. 13. März: Artikel der „Birschewhja Wjedomosti" (Rußland ist fertig). 13. März: Erklärungen der „Rossija" und der „Nordd. Allgem. Zeitung" über die deutsch-russischen Beziehungen. 19. März: Reskript des Zaren an Goremykin. 1. Mai: Zusammenstoß zwischen Duma und Justizmnuster über die Rechte des Senats. 7. Mai: Sturmszenen in der Duma. 9. Mai: Annahme des Gesetzentwurfs betr. Verzollung ausländischen Ge treides im Reichsrat. 25. Mai: Ablehnung der Vorlage über die Städteordnung des Zartums Polen im Reichsrat. 29. Mai: Wlehnung der Wolostlandschast im Reichsrat. 12. Juni: Artikel der „Birschewhja Wjedomosti". 13. Juni: Zusammentteffen des Zaren mit dem König von Rumänien in Constanza. 15. Juni: Annahme des Gesetzes betr. Zoll auf ausländisches Getreide für Finnland in der Duma, am 22. Juni im Reichsrat. 10. Juli: Russischer Gesandter Hartwig f in Belgrad. 20. Juli: Besuch PoincarLs in Petersburg. 25. Juli: Russische Erklärung, im Konflikt zwischen Österreich und Serbien nicht unmteresstert bleiben zu können. 29./31. Juli: Mobilmachung des russischen Heeres. 31. Juli: Ultimatum Deutschlands an Rußland. 31. Juli/1. August: Russische militärische Angriffe auf deutsches Gebiet ohne Kriegserklärung. 31. Juli: Ukas bett. Aufhebung des staatlichen Branntweinmonopols. 8. August: Kriegssttzungen des Reichsrats und der Duma.
I. Buch. I. Kapitel.
Das Erbteil der Vergangenheit. „Das griechisch-slawische Prinzip trat in Rußland mächtiger hervor, als es jemals in der Weltgeschichte geschehen; die europäischen Formen, die
es annahm, waren weit entfernt, dies ursprüngliche Element zu erdrücken; sie durchdrangen es vielmehr, belebten es und riefen seine Kraft erst hervor" — mit diesen Worten von unnachahmlicher Knappheit und Fülle weist
Leopold Ranke Rußland den Platz in seinen „Großen Mächten" an. Er sagt so, ohne die geographischen und ethnographischen Faktoren darin
auch
nur
Problem.
prozeß
zu berühren,
bereits
das
Entscheidende über
das
russische
Gliedert man danach die russische Geschichte als den Werde
eines
europäischen
Staates,
so
reicht
das
Altertum
bis
zu
Wladimir I. (980—1015). Sein Mittelalter endet nicht, wie gewöhnliche
Annahme ist, mit Peter dem Großen, sondern entweder mit Iwan IV. dem
Gestrengen
(f
1584)
oder
mit
der
Thronbesteigung
Michael
Romanows (1613) — denn der Absolutismus und die Rezeption west licher Staats- und Lebensformen, die in Rußland am offensichtlichsten die Neuzeit heraufführen, setzen nicht erst mit Peter ein, der kein Anfänger,
sondern der gewaltigste Fortsetzer und teilweise Vollender war. Wenn ein
Historiker aber die „Anfänge des zeitgenössischen Rußlands" schreiben will, so hat er mit dem Krimkrieg und den Reformen Alexanders II.
einzusetzen; damit beginnt das Rußland der neuesten Zeit. Diese teilt sich in zwei Perioden, beide eingeleitet und in der letzten
Wirkung ausgelöst durch zwei unglückliche Kriege, den Krimkrieg und
den Krieg mit Japan.
Beide Male haben die Folgen der auswärtigen
Politik die innere Entwicklung auf das stärkste beeinflußt. Der Fehlschlag Hoetzsch, Rußland.
1
I. Kapitel.
2 des
Krimkrieges
führte
zu
den
Reformen
II.,
Alexanders
der
des
japanischen Krieges zur Revolution von 1905. Aber die Voraussetzungen
dafür, daß diese Gewaltbewegung von unten her dem Selbstherrscher ihren
Willen wenigstens zum Teil aufzwingen konnte, liegen weiter zurück als in den Niederlagen des japanischen Krieges. Wenn das Neue auch erst in und mit der Revolution zu voller Wirkung und weiterer Beachtung in Europa kam, so ist es doch schon seit den letzten achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Die Zuspitzung der Agrarfrage zur
chronischen Agrarkrisis, — der Ausbau des Eisenbahnnetzes, — die erste Jndustrialisiemng, damit die Entstehung eines Früh-Kapitalismus und städtischen
Arbeiterproletariats,
—
die
Goldwährung
und
Staats
verschuldung — die Verbindung der in Nihilismus und Sozialdemokratie ausmündenden
geistigen
Bewegung
der
Intelligenz
eben
mit
jenem
städtischen Proletariat, — das sind die Elemente, aus denen das Rußland
der Gegenwart mit seiner Revolution herausgewachsen ist. Seit den 90er Jahren haben sie sich immer fühlbarer gemacht, bis sie, durch den aber maligen Fehlschlag der großen Politik entfesselt, den Staat mit revolu
tionären Mitteln in einem gewaltigen Ruck vorwärts schieben konnten. Ein Ruck, der trotz aller späteren Abschwächung eine neue Zeit ein
leitet, wie die ersten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, und nicht wieder ganz illusorisch gemacht werden kann. Aber selbstverständlich konnte damit
das Erbe der Vergangenheit nicht einfach ausgestrichen werden. Je mehr
sich vielmehr der Staat nach den ersten Erschütterungen, die ihn in Stücke zu reißen drohten, wieder auf seine alten Kräfte und deren Wurzeln besann, um so wichtiger wurde seine Aufgabe, Vergangenes, aber noch Lebensfähiges mit unaufhaltsam hereindringendem Neuen organisch zu
verbinden.
Vor den Augen Europas begann sich so in schweren Kämpfen sein
Übergang vom absolutistischen zum monarchisch-konstitutionellen Staats wesen zu vollziehen, und seit der Entstehung der Verfassung der Ber einigten Staaten von Amerika hat die Verfassungsgeschichte keine Ent wicklung dieses Maßstabes und dieses Interesses auf — verfassungs
geschichtlich angesehen — Neuland vor sich gehen sehen wie diese russische.
Dahinter stand die Frage, inwieweit der äußeren Europäisierung, die der Inhalt der russischen Staatsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert ist, mpi auch die innere Aufnahme und Verarbeitung westeuropäischer, intellektueller
Das Erbteil der Vergangenheit.
3
und ethischer, Ideen und Normen entsprochen habe und entspreche. Damit verbindet sich zuletzt, auch noch für die Gegenwart, die Zentralfrage, die bis heute weder in der russischen noch außerrussischen Wissenschaft und Welt
schon als entschieden gilt, ob sich die russische Entwicklung nach der Art ihres Volkstums überhaupt in den gleichen Bahnen wie die West
europas bewegt und bewegen kann, ob nach dem Worte I. Samarins der Unterschied zwischen Rußland und Europa in dem Grade oder im
Wesm seiner Zivilisation liegt? — Der Geograph beginnt Osteuropa wohl erst mit der bisherigen Ost
grenze des Deutschen Reiches, für die politisch-geographische und vollends die historisch-politische Betrachtung aber stellt Osteuropa eine
dar von der Elbe bis an den Ural.
Einheit
Durch Karparthen und unteren
Donaulauf gegen Südosteuropa abgegrenzt, ist es ein gewaltiger, sehr
wenig gegliederter Kontinent ohne natürliche Grenzen in sich, mit einer
entweder sehr kurzen oder für den Weltverkehr nicht geeigneten Meeres küste.
Die politische Gliederung dieses Gebietes hat nicht die Natur ge
geben, sondern diese schufen die verschiedenen
indogermanischen Volks-
tümer, die auf ihm siedeln, in ihren Kämpfen der Staatenbildung. Auf
diesem großen Raume, der bis heute in ferner ganzen Ausdehnung noch Westeuropa gegenüber den kolonialen Charakter an sich trägt, kämpften
Deutsche, Polen und Russen um die Vorherrschaft, d. h. um . in möglichst großes Stück der baltischen Küste und um die zu ihr führenden Flußläufe.
Denn erst dies, Küste und Meer im Norden, machte den Anschluß an den alten west- und mitteleuropäischen Kulturkreis möglich und damit die Bahn
zur Aufwärtsentwicklung frei.
Die entsprechende Verbindung im Süden
(Küste des Schwarzen Meeres und Anschluß an das Kulturgebiet des Mittelländischen Meeres) war ja durch die von Osten, aus Asien, ein
strömenden andersrassigen Stämme jahrhundertelang versperrt.
In diesem Ringen, dessen bestimmende Ideen für alle drei Völker spätestens im 10. Jahrhundert dauernd feststehen, war das ostslawische
Volkstum, dessen politische Idee im Worte Ruß, im Staate Wladimirs I., seit der Wende des 9. und 10. Jahrhunderts gegeben war, von vomherein
in der ungünstigsten Lage. Denn es entstand und gründete seinen Staat am weitesten von Europa und seinem damaligen Kultur-Zentmm nach Osten genickt. Ja, seine mittelalterliche Geschichte warf es danach noch Wetter von dieser Stellung zurück.
Denn die Geschichte Rußlands hat ja nicht mtt 1*
I. Kapitel.
1
Moskau begonnen, um in Petersburg weitergeführt zu luerbeit, sondern seine erste Staatenbildung lag weiter westlich, am Dujepr: der Kiewer
Staat steht ant Anfang seiner Geschichte. Als dieser rettungslos zusammengebrocheit war, flutete das aus verschiedenen ostslawischen Stammelt im
Dujeprtal und seinen Nebenflüssen bis zu bett Karpathen eben entstehende
Volkstum nach dem Nordosteu ab. Und hier, in den Bassins der Wolga,
Oka und Kama, int Süden der russischen Waldregiott, ist das groß russische Volkstunt und der russische Staat erwachsen, — gegen Westen
abgesperrt durch Pölen-Litaum und beit Staat des Deutschens Ordens, gegen Süden durch die Steppe, die es vom Meere und von Byzanz
trennte, gegen Osten und Südosteu durch Asiaten und durch Hemmnisse
der Natur, die man erst vom 16. Jahrhundert an überwand. Die Wirkung dieser Verschiebung und Absperrung, die „Lage int
Schatten" ist ein dauerndes Erbteil der russischen Vergangenheit geblieben. Sie isolierte auf ein halbes Jahrtausend dieses Volkstum gegen Europa,
sie zerriß seine Gemeinschaft mit der abeudländischeit Christenheit und zer störte das Gememsamkeitsgefühl mit ihr, die beide vorher lebendig da gewesen waren.
Das Volkstum des Moskauer Staates war kein Glied
der christlich-abendländischen Kulturgemeinschaft des Mittelalters, sondern
entwickelte
ein
selbständiges,
ausschließendes
osteuropäisches
religiös
nationales Selbstbewußtsein. Für das Abendland aber wurde damit dieses
Osteuropa Orient, ja Asien, und blieb es auch nach seinen Nezeptioneu ans Europa, nach der bewußt vollzogeueu Wendung zu Europa.
Darin
fühlt Westeuropa bis heute das Wesensfremde im Nussentum, die Halb
oder Mischkultur, die es sich noch nicht kongenial empfindet, ohne sich ba rüber zumeist klarer Rechenschaft zu geben, als mit dem banalen, aber int Grunde treffenden Worte, daß Rußland nicht Asien, aber nicht auch
Europa, daß Rußland eben Rußland sei. Auf dieses Empfinden stützt sich dann die zweifelnde Frage, ob Rußlands historischer Beruf und kulturelle
Mission sei, Vorposten der europäischen Menschheit gegen das Asiateutum
oder dessen Führer gegen Europa zu sein.
Und wenn man sieht, wie
ein altes europäisches Volkstum eine bis heute ununterbrochene jugendliche
Kolonialentwicklung in europäischen Formen, aber in einer den asiatischen Nachbargebieten gleichartigen Natur und Lebensweise vollzieht, so weiß
Europa nicht, ob es Rußland zu den Vereinigten Staaten und Kanada oder zu China und Japan in Parallele setzen soll oder — zu beiden.
Das Erbteil der Vergangenheit.
5
I. Das geographische Erbteil.
Die politisch-geographische Anschauung des heutigen Rußlands kann turnt Kiewer Zeitalter absehen; sie hat die Stadt und den Staat Moskau
au den Anfang zu stellen. Von dieser Stadt an der kleinen Mosktva, die beide, Fluß und Stadt, so merkwürdig Berlin unb der Spree in unserer
Geschichte vergleichbar sind, nimmt die russische Geschichte oder, was das
selbe ist, die Expansion des Volkstums, das sich diesen Staat schuf, ihren eigentlichen Ausgang. Eine Expansion, die von Iwan III. an bis heute etwas Unheimliches, weil so ungeheuer Folgerichtiges, an sich trägt.
Diese Folgerichtigkeit war das Ergebnis des Zwanges der Lage. Denn die
Vielgestaltigkeit politischer Betätigung, die einem Lande mit rcichgegliedertcr Küste oder gar mit Jnselcharaktcr in die Wiege gelegt ist, war dem russischen Volke von vornherein versagt.
Seitdem der Ausgang feiner
Staatsbildung in die Gegend, wo heute Moskau liegt, zurückgeworfcn war, hatte diese mir die Alternative: entweder sich überall nach Küsten
und eisfreien Häfen hinznarbeiten oder in der Unfruchtbarkeit eines kleinen, asiatischen
Kontinentalstaates
zu
versinken.
Diese
Notwendigkeit,
die
gerade hier leicht zur nackten Eroberertendcnz und zur Mißachtung jedes
Maßstabes verführte, ist in der russischen Geschichte sehr früh erkannt
worden. Sie gibt ihr besonders im Gepräge mächtiger Einzelpersönlich
keiten — Iwans III., Wassilis IV., Iwans IV. des Gestrengen, Peters des Großen, Katharinas II., der Zaren des 19. Jahrhunderts — die
Wucht uud zugleich die Einförmigkeit, die sie auszeichnet. Als der Weltkrieg ausbrach, stand Rußland da als ein Reich von 21,8 Millionen Quadratkilometern FlächenraumJ
Es umfaßte so ein
Sechstel der ganzen Erde, an Größe nur vom britischen Weltreich über troffen, zu dem es sich tvie 1:1,3 verhielt, fast doppelt so groß wie das Chinesische Reich, über doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten von
Amerika, siebenmal so groß wie Deutschland einschließlich seiner Kolonien, dreinndvierzigmal so groß tvie das Deutsche Reich in Europa.
Seine
9 Dies die amtliche russische Zahl (19,15 Millionen Quadratwcrst ä 1,138 Quadratkilometer).
Die Zahl von 22,28 Millionen Quadratkilometer rechnet das
Asowsche und Kaspische Meer rind den Aralsee, die Zahl von 22,55 Millionen Quadratkilometer Chiwa und Buchara mit ein.
1. Kapitel.
6
Grenze war 69000 Kilometer lang, davon 49 000 Kilometer Meeres
grenze, die Grenze gegen Europa 11200 Kilometer lang.
Es erstreckt
sich über 43 Breiten- und 187 Längengrade, und es vermag alles zu
produzieren außer den Produkten der tropischen Aquatorialzone.
Aber
in diesem gewaltigen, politisch zu einem Reiche organisierten Raume über trifft die landwirtschaftlich nutzbare Fläche die des Deutschen Reiches nur
um das 9—lOfache, ist von der Meeresgrenze verschwindend wenig für
den Weltverkehr brauchbar und läuft von der Landgrenze ein ungeheurer Teil durch Steppe, Wüste und Gebirge.
Die Lage zu den Straßen des
Weltverkehrs ist für eine Einbeziehung in diesen und damit in den west-
europäisch-amerikanischen Kulturkreis so ungünstig wie möglich, die Idee des Abschlusses nach außen und des wirtschaftlichen Selbstgenügens drängte
sich diesem Weltreich schon durch das Ergebnis seiner Raumgeschichte und seine geographische Lage und Gestaltung auf. Versucht man diese Masse etwas in sich zu gliedern, so wird eine spätere Zeit wohl den europäischen Reichsteil und Westsibirien trotz des
Ural als eine Einheit, ein Gebiet für sich, vielleicht als besonderen Kultur kreis zu erfassen haben.
Heute ist das noch nicht möglich. So muß die
alte Scheidung in europäisches und asiatisches Rußland noch stattfinden, die, soweit die — wenig gegliederte, aber schmale und nicht sehr hohe — Kette des Urals als Grenze dient, erkennbar getrennt sind, dann aber in der Steppe zwischen Orenburg und dem Kaspischen Meere ineinander über
gehen, ohne durch den nun als Grenze geltenden Uralfluß wirklich ge
schieden zu sein.
Dann stehen den 16 Millionen Quadratkilometern des
asiatischen Teils (Sibirien 12,5, mittelasiatische Gebiete und sog. Steppen gouvernements 3,5 Millionen Quadratkilometern) nur 5,7 Millionen des
europäischen (immer noch etwas über das Zehnfache des deutschen Reichs
gebiets in Europa) gegenüber. Von letzterem sind die sog. „Grenzmarken" abzugliedern: Finnland
(326 000 Quadratkilometer)2), die Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Esthland, obwohl sie amtlich in die 502) Gouvernements des europäischen Rußlands einbezogen werden (93 000 Quadratkilometer), das Zartum *) Mit den inneren Gewässern.
s) Das 1918 gebildete Gouvernement Cholin hatte noch keine eigene Existenz
gewonnen und erschien noch nicht in der uns zugänglichen Statistik, so daß wir an der Zähl der 50 Gouvernements durchgängig sesthalten.
Dos Erbteil der Vergangenheit.
7
Polen (127 000 Quadratkilometer) Bessarabien (44 000 Quadratkilometers
und der Kaukasus (469 000 Quadratkilometer)*), im ganzen rund eine
Million Quadratkilometer. Damit bleiben rund 4,7 Millionen Quadrat kilometer übrig, die zwar auch noch keine völlige ethnographische, wirtschaft
liche und historische Einheit, aber gegenüber den Grenzmarken das Kern gebiet bilden.
Um den Kem Großrußlands, um Stadt und Gouvernement Moskau
(33 000 Quadratkilometer) sind drei konzentrische Kreise gelagert, von denen der äußerste in seinem westlichen und südlichen Teile starke nationale
Besonderheiten auftoeist2). Die Gliederung nach Gouvernements in ihnen spiegelt zwar einigermaßen die historisch-ethnographischen Grenzen wieder und läßt namentlich in dieser Anordnung das Wachstum des Moskauer Staates in seinem, historischen Gange erkennen. Aber da die Gouverne
mentseinteilung Peters des Großen auf die natürlichen, wirtschaftlichen
und nationalen Einheiten keine Rücksicht nahm, sind die in der folgenden Einteilung gegebenen Grenzen z. T. doch etwas gewaltsam.
Vor allem
müssen dabei Kursk, Woronesch und Astrachan, obwohl sie z. T. klein russisch sind, ganz zu Großrußland gerechnet werden, ebenso das beinahe zur Hälfte weiß-russische Smolensk, während Charkow mit % Groß russen ganz zu Kleinrußland genommen ist usw. Aber die Gouvernements
einteilung gibt allein einen bestimmten Rahmen und die Möglichkeit deutlicher Vorstellung.
Der äußerste Kreis wird gebildet von 1. Litauen (Gouv. Kowno,
Grodno, Wilna) mit 121000 Quadratkilometer und Minsk mit 90 000 Quadratkilometer. 2. Kleinrußland (Gouv. Wolhynien, Podolien, Kiew, Cherson, Tschernigow, Poltawa, Jekaterinoslaw, Charkow) mit 455 000 Quadratkilometer.
kilometer.
3. Gouv. Taurien (Krim) mit 60000 Quadrat
4. Wolgagebiet (Gouv. Kasan, Simbirsk, Pensa, Samara,
Saratow, Astrachan, Gebiet der Donschen Kosaken, dazu Ufa und Orm*) Dabei ist Transkaukasien, das Rußland sonst zu seinem asiatischen Besitze
zählt, eingerechnet. - *) Litauen, Weiß- und Westkleinrußland werden oft als Westgebiet zusammen
gefaßt, d. h. die 9 Gouvernements von der kurischen bis zur rumänischen Grenze
(zwischen dem Zartum Polen und Dnjepr und Düna). — Neurußland umfaßt die Gouvernements Jekaterinoslow, Cherson, Taurien, Bessarabien, manchmal auch das Gebiet der Don-Kosaken und Stawropol. Der Name existiert amtlich nicht
mehr und Wird besser überhaupt vermieden.
8
I. Kapitel.
bürg) mit 1,1 Millionen Quadratkilometer und 5. Nordostgebiet (Gouv.
Olonez, Wologda, Wjatka, Perm, Archangelsk) mit 1,86 Millionen. Der zweite Kreis umfaßt die Gouvernements Nowgorod, Peters
burg, Pskow, Witebsk, Mogilew, Smolensk, Orel, Kursk, Woronesch, Tambow, Nischni-Nowgorod, Kostroma und Jaroslawl mit 750 000
Quadratkilometer, der innerste die Gouvernements Twer, Wladimir, Rjasan, Tula, Kaluga und Moskau — 250 000 Quadratkilometer.
So
steht 1 Million Quadratkilometer in 19 Gouvernements der beiden inneren
Kreise den 726 000 Quadrakilometer in 13 Gouvernements des äußeren,
den 1,86 Millionen in den 5 Gouvernements des Nordostgebiets und den 1,1 Million des Wolgagebiets gegenüber.
Im innersten Kreise liegen
die kleinsten Gouvernements des eigentlichen Rußlands, Tula und Kaluga mit je 31 000, Moskau mit 33 000 Quadratkilometer.
Diese drei konzentrischen Kreise stellen das Kerngebiet des russischen Reiches dar, in das Bessarabien eigentlich einzurechnen wäre und das
trotz der nationalen Eigenheiten im Westen und Süden als eine Einheit
zu fassen ist.
Das Weichselland, der baltische Schild und die finnische
Landbrücke stehen für sich, sind ihm aber, wie die geographische Be
trachtung zeigt, für die Verbindung mit Europa uotwendig. Dieses Kern gebiet ist ungefähr so groß wie alle anderen europäischen Staaten zu
sammen und trägt, geologisch wie orographisch vom Westen getrennt,
ganz kontinentalen, binnenländischen Charakters — 650 Kilometer ist Moskau vom Meere entfernt und die Ostsee und das Schwarze Meer sind
nur Binnenmeere, durch die Rußland wie „durch Flaschenhälse" auf das
freie Meer hinaussieht.
Es ist ein gewaltiges, einförmiges und von
niedrigen Höhenzügen (von 2—300 Meter Höhe) nur gelegentlich durch zogenes, durch sie uicht gegliedertes Tafelland, dem nur die Krim wie
eine Insel vorgelagert ist. Danach kann sein Klima nicht anders als halb
oder ganz kontinental sein. Es bewegt sich in extremen Wechseln der Jahres zeiten und schwankt, wenn die meteorologischen Beobachtungen den Gesamt
schluß schon gestatten, in Cyklen schlechter und guter Jahre. Vornehmlich der Mangel an Feuchtigkeit rückt das Land den benachbarten asiatischen 0 Auf
die
geographische
Charakteristik
in
Kljutschewskis
russischer Geschichte, (Moskau 1908) P, S. 43—97 sei besonders
gemacht.
Kurs
aufmerksam
9
Das Erbteil der Vergangenheit.
Gebieten näher als denen Westeuropas. Reich ist Kernrußland an schiff baren Strömen, unter denen „Mütterchen Wolga" mit ihren» 3700 Kilo meter langen Laufe der größte Strom Europas ist und 38% des ganzen
russischen Wasserverkehrs trägt.
Mit ihrem geringen Gefälle sind die
Ströme dieses Kerngebiets Lebensadern des Wirtschaftsverkehrs, aber sic
sind fast die Hälfte des Jahres, weil zugefroren, wirtschaftlich wertlos und schließen mit ihren Mündungen ihr Land nicht an den Weltverkehr ent,
für den auch das nördliche Eisntcer oder gar das Kaspische Meer un brauchbar sind.
Unter diesen Verhältnissen konnte das Russentum auch
nie eine tüchtige Seebevölkerung stellen. Relativ arm ist Kernrußland an Schätzen des Bodens: Erze finden
sich am Donez, im Knie des Dnjepr und im Ural, Kohlen in den Vorbergen des Ural und vornehmlich im Donezbassin.
Aber wenigstens
zu einem Teile hat das Land fruchtbarsten Ackerboden.
Bis zum 60.
Breitengrade ist Getreidebau möglich, daneben der Anbau von Flachs und Hanf, selbst von Tabak und Wein. Aber alles leidet unter der Kürze
der Vegetationsperiode, und um so mehr, je weiter nach Osten der Anbau
betrieben wird. Die Art des Bodenreichtums bestimmte das ganze Gebiet
vornehmlich zu Ackerbau und Getreideausftthr, im Norden zur Wald
wirtschaft, im Süden zur Viehzucht; autochthon wuchs bis heute allein die
Textilindustrie empor. Wer durch dieses Gebiet eine Nacht gefahren ist, glaubt am anderen Morgen, nicht von der Stelle gekommen zu sein, so gleichmäßig präsentiert sich die Gegend dem AugeJ. Diese wohl von allen Reisenden empfundene
Gleichförmigkeit ist viel größer als auf entsprechenden Strecken des euro päischen Westens, und sie hat eine ebenso große Gleichförmigkeit der Lebensbedingungen, der Lebensweise und damit der Kultur mit sich ge
bracht. Es gibt keinen Lokalpatriotismus, keinen provinziellen Partikularismus und, soweit das Russische in Frage kommt, keine tiefen Dialekt
unterschiede.
Diese Gleichförmigkeit hat auch bis heute ununterbrochene
Wanderungen begünstigt. Noch heute ist das russische Volk, das keine Aus wanderung lertnt2), im Innern wie Triebsand und hat die größte Binnen*) Ein Wort Lcroh-Beaulieus. 3) Die Zahl der über europäische Häfen auswandernden russischen Unter tanen (Juden, Letten, Litauer, Deutsche usw.) bezeichnet ja nicht die Auswanderung russischen Volkstums.
I. Kapitel.
10
Wanderung der Gegenwart, noch heute verläßt, wie am Anfang der mittel
alterlichen Geschichte seines Volkes und wie der nordamerikanische Farmer, der russische Bauer leicht seine Scholle. Seine Hütte (Jsba), mit der er
schon darum niemals verwächst, weil der leichte Holzbau fortwährend abbrennt, ist ebenso rasch und gut an einem Punkte 100 Werst weiter
wieder aufgebaut, und Art wie Aussehen des Landes ruft ihm überall die Heimat ins Gedächtnis, in der er geboren ist1).
Diese gleichförmig ihn
umgebende Natur hat ihm, so wenig starke Reize sie ausübt, doch eine
tiefe Liebe zu ihr eingeflößt.
Aber ihre meteorologischen Eigenschaften
wiL ihre Maße haben ihn bisher noch nicht völlig zu ihrem Herrn werden lassen, er blickt zu ihr auf wie zu einer höheren Macht und nimmt sich,
weil sie doch stärker sei als er, daraus oft das Recht zu lveniger intensiver Arbeit.
Aber so gleichförmig dieses große Gebiet ist und so nivellierend es deshalb auf die, die es besiedelten, wirkte, ganz ohne Gliederung und Differenzierung ist es doch nicht.
Schon der aufmerksame Reisende, der
mit ein wenig Liebe in die Landschaft schaut, empfindet jenes Aperyu Leroy-Beaulieus
als
oberflächlich.
Er
bemerkt
den
Unterschied
der
Landschaft, wenn er von Petersburg nach Moskau, von Charkow nach
Melitopol oder von Kursk nach Kiew fährt, und er wird noch weniger das in jener Beobachtung anklingende Gefühl haben, daß diese gleich-
förmige Landschaft darum etwas Langweiliges haben müsse.
Der stille
freundliche Zauber der birkenbestandenen Landschaft des Nordens und der Mitte, wie der eigenartige melancholische Reiz der unübersehbaren Steppe im Süden ist oft genug von der landschaftmalenden russischen Poesie ge schildert worden und wird auch von dem empfunden, der sie durchfährt.
Und die Züge der Landschaft gewinnen um so stärkeren Reiz, je mehr der Beschauer sie dann in den Zügen des Volkstums und seiner Stämme wiedersindet. Die natürliche Gliederung des Kerngebiets, das nach und nach
an Moskau politisch herangezogen wurde, wie es physikalisch-geographisch
daraufhin gravitierte, ergibt folgende Teile: 1. Die Tundra, der mit Moos
*) S. Gogols meisterhafte Schilderung der russischen Erde im 11 Kapitel der „Toten Seelen".
Das Erbteil der Vergangenheit.
11
bedeckte Moorboden im äußersten Norden, nötig wegen der Verbindung zur
Meeresküste hin, so wenig wertvoll diese ist, und selbst, niemals völlig auf
tauend, volkswirtschaftlich fast ohne Nutzen.
2. Das Waldgebiet und 3.
das waldlose Gebiet, nicht scharf voneinander geschieden, sondern inein ander übergehend, aber doch die grosse Cäsur der russischen Landschaft,
Wirtschaftsweise und Stammesunterschiede bezeichnend.
Im Waldgebiet
ist die Birke charakteristisch für den russischen Wald wie kein anderer
Baum, hier sind auch heute noch die gewaltigen Reservoirs, die eine un
entwickelte Forstwirtschaft verwüstend ausbeutet, so den an sich schon be
scheidenen Boden austrocknend und in seiner Ertragsfähigkeit gefährdend.
Nach Süden schließt sich baran1) das waldlose oder Steppen-Gebiet an.
Zunächst das Land der berühmten schwarzen Erde (Tschemosem), deren schwarz blinkender humusreicher Lößboden von größter, gleichfalls für
unerschöpflich
gehaltener
Fruchtbarkeit
ist,
ein
Gckiet,
das
von
der
Wolga — in Orenburg und Ufa über sie hinausgreifend — südlich der
Linie etwa Kasan-Tula (über Orel-Kursk herunter nach Charkow) in das Gebiet von Tschernigow und Kiew hineinstreicht und in seinen Aus läufern Wolhynien und Podolien, sowie das östliche Galizien wirtschastsgeographisch einbezieht.
Von der schwarzen Erde leitet die eigentliche
Steppe zur Küste des Schwarzen Meeres und in die Kaspische Senkung über, zum Teil, wie in dieser, reine Wüste, zum Test Grassteppe. Diese
Steppe ist jahrhundertelang das Durchzugsgebiet der asiatischen Völker schaften gewesen, die aus der großen Völkerpforte zwischen dem Südende des Ural und dem Kaspischen Meere hereinfluteten und diesem Süden
immer wieder die Keime des Lebens zertraten.
Diese Gliederung des Kerngebietes spiegelt sich in der Geschichte Rußlands ebenso wieder, wie in seiner heutigen Volkswirtschaft. Waldgebiet und Steppenregion sind ebenso voneinander unterschieden und gehen doch
ineinander über, wie Groß- und Kleinrussentum, die vornehmlich auf dem einen oder dem anderen ihre Sitze haben.
Aber diese natürliche
Gegensätzlichkeit ist geringer als die Einheit, die die verschiedenen Zonen miteinander verbindet. Man hat versucht, — so Haxthausen und manche nach ihm — mehrere selbständige wirtschaftsgeographische Einheiten gegen» *) S. die gute Bodenzonenkarte bei Kraßnow, Rußland, (Men 1907) S. 156.
I. Kapitel
12
einander zu stellen, mindestens die sog. Ufraina1) als eine eigene Einheit
schon geographisch herauszuheben. Aber so selbständig die Steppenrcgion geologisch, klimatisch und sonst sein mag, sie bildet mit dem Norden
zusammen eine naturgegebene Einheit.
Schon die nordsüdlich ziehenden
Wasserstraßen, die das Land wohl gliedern, aber deren Scheiden so leicht zu überwinden sind, halten dies Kerngebiet zusammen, in dem nach
Leroy-Beaulieus richtigem Wort zudem Ebene und Klima, die beiden großen
Genieinsamkeiten, eine isolierte Existenz beider Teile nicht möglich machen.
Wer alle Beobachtungen vom Weißen Meer und der Newamündnng bis zur Schwarzen-Meer-Küste, vom Ural bis zur Ostgrenze des Zartums Polen zusammennimmt, sammt zu dem Ergebnis, daß diese einzelnen
Teile von der Natur zu einer Einheit bestimmt sind.
Moltke klassisch ausgedrückt'):
Das hat schon
„Dian hat gesagt, daß bei zunehmender
Bevölkerung das unermeßliche Reich in sich zerfallen müßte.
Aber kein
Teil kann ohne den anderen bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne
den kornreichen Süden, die industrielle Mitte nicht ohne beide, das Binnen
land nicht ohne die Küste, nicht ohne die gemeinsame große Wasserstraße der 400 Meilen schiffbaren Wolga." Diese Einheit wirkt in der Gegenwart mit innner stärkerer Gewalt, und so sehr sich das Reich gedehnt hat,
Moskau ist das Herz dieses Gebietes geblieben und wurde es immer mehr, je fester die einzelnen Teile auch durch Verkehrsmittel miteinander in
Verbindung gebracht wurden.
Und um so wichtiger und notwendiger
wurde dann dieser Einheit die Küste im Norden und im Süden, auf die sich darum der
Druck der Staatsorganisation immer stärker richtete.
*) Ufraina bedeutet Grcnzlaud, Grenzmark, nämlich des polnischen und des Moskauer Staates gegen die Tataren des Südens. Das Wort ist kein bestimmter historisch-politischer und auch kein klar zn umgrenzender geographischer Begriff. Es kommt schon in den allrussischen Chroniken vor, tvird später lokalisiert aus die Gebiete der sog. Hetmanschtschina — Teile von Podolicn, Kietv, Tschernigow, Jekatcrinoslaw und Cherson, sowie ganz Poltawa —, ist aber niemals eine offizielle Bezeichnung gewesen. Die Begrenzung des Begriffs etwa aus die Gouver nements Poltawa, Tschernigotv, Charkow, Kiew, Wolhynien, Podolicn, Jekatcrinos law, Cherson, Tanricn und die Flächenbercchnung auf 500000 Quadratkilometer oder ähnlich ist willkürlich. Die an sich gute Landeskunde von St. Rudnickyj, Ufraina, Land und Volk (Wien 1916) wird in ihrem wissenschaftlichen Wert durch die nationalistische Tendenz sehr herabgesetzt, die Ukraine in dieser Weise als eine geographische Einheit darzustellen, was sie nicht ist. 2) In den 1856 geschriebenen „Briefen aus Rußland". (1877.)
13
Dos Erbteil der Aergangenheit.
II. Das ethnographische Erbteil. Diese Einheit bildet den natürlichen Untergrund für die russische
Geschichtsschreibung, die daher in patriotischem Stolze gern Großrussen mit der Bevölkerung Rußlands und Russisches Weltreich mit diesem Kerngebiet gleichsetzt, die Einheitlichkeit und in der Zarengewalt gipfelnde Geschlossenheit
betonend,
wie das
schon
das
erste
Werk
wissenschaft
licher russischer Geschichtsschreibung, Karamsins Geschichte des russischen Staats in klassischer Weise tut. Da der Staat dieser offiziellen Auffassung
bis in die Gegentvart in Schule und Presse die fast ausschließliche Herr
schaft erhalten konnte, hat sie auch int Auslande gewirkt. Dabei tritt in den Hintergrund einmal, daß dieses Kerngebiet zwar eine natürliche Einheit
darstcllt, aber in sich nicht von einem völlig einheitlichen Bolkstnme bewohnt wird.
Ferner wird die Tatsache leicht übersetzen, daß die Er
hebung jener staatlichen Einheit mit Moskau an der Spitze zu einem europäischen Staate nur durch die gewaltsame Angliederung von Grenz
marken möglich wurde, die ethnographisch dem Kerngebiet fremd sind:
Finnland, die Ostfeeprovinzen, Polen, Bessarabien, der Kaukasus
int
Westen und die mohammedanischen Gebietsteile im Osteit, die zur großen
Stellung in Asien überleiten.
Daß die Expansion nach Asien herein die
Bölkcrkarte des daditrch zum Weltreich tverdenden Staates dann ttoch
bunter machte, lag allerdings auch für den flüchtigen Beschauer auf der
Hand. Diese dreifach komplizierte nationale Mischung bestimmt das Bild der russischen Bevölkerung.
Tie Bevölkerung des rnssischen Reiches zahlte am 1. Januar 1913: 174 099 600 Seelen, ohne die beiden Vasallenstaaten Chiwa und Buchara, die aber wegen ihrer Lage und politischen Stellung mit eingerechnet werden
müssen; dann waren es 176% Million*). Das ist etwa ein Zehntel der *) Der Zustand der russischen Statistik ist so, daß auch bei sorgfältigster Ver wendung stets nur mit Annäherungszahlen gerechnet werden darf. Es existiert ein ungeheures Material, herausgcgeben vor altem vom „Zentralstatistischen Komitee" des Ministeriums des Innern, von den anderen Ministerien, den Semstwos usw. Aber es wird an den verschiedenen Stellen unter verschiedenen Gesichtspunkten gesammelt und verarbeitet und ist von der lokalen Polizei verwaltung abhängig, die wiederum ihre-Informationen auf dem Lande bei den Wolostschreibern und darunter den Dorffchulzen einholt. Trotz dieses gewaltigen
I. Kapitel.
14
Gesamtbevölkerung der Erde, zwei Fünftel der des britischen Weltreiches,
das l,8fache der der Bereinigten Staaten und das 2,6fache der reiche deutschen Bevölkerung.
Auf einer Quadratwerst wohnen im russischen
Weltreich 8,9 Menschen, in Deutschland 139,9 (123 auf ein Quadrat kilometer), Rußland ist also 43mal größer und 16mal dünner bevölkert als Deutschland.
Zum gewaltigen Raum die noch sehr dünne Be-
völkerung — das weist Rußland weiterhin inr Imperialismus der Gegentvart seine besondere Stellung an.
Im asiatischen Teile wohnten danach 20,7 Millionen, davon in Sibirien 9,7 (0,9)**) und in Zentralasien und den Steppengouvernements 10,9 Mill. (3,4).
Scheiden wir von den für den europäischen Teil
bleibenden 153,3 Millionen (29,8) die Grenzmarken, so fallen 32,7 Milli onen weg. In Finnland wohnten 3,1 (10,9), in den Ostseeprovinzen 2,7
(33,3) in Polen 11,9*) (114,5), im Kaukasus 12,5 (29,8), in Bessarabien 2,5 (65,1). Dann beträgt die Bevölkerung des Kerngebiets 120,6 Milli onen mit einer Dichtigkeit von zirka 28 auf die Quadratwerst.
Im ganzen Reiche waren am 1. Januar 1912 von 171 Millionen
85,7 Millionen Männer und 85,3 Millionen Frauen. Auf 100 Männer
kommen in Sibirien 80,6 in Zentralasien 84,6 im europäischen Teile (einschl. der Ostseeprovinzen) 93,6, im Kaukasus 79,1, in Polen 96,6 und in Finnland 110,1 Frauen.
Auf 1000 Einwohner wurden geboren starben heirateten Bevölkerungszunahnic
1901/05 (i. Durchschn.) 47,6
31,5
—
16,1 “/ 00
1907
.............................
46,6
28,1
8,8
18,5°/oo(2Mill.),
1908
.............................
44,3
28,0
7,9
16,3°/°° (1,85 „),
1909
.............................
44,0
28,9
7,9
15,1°/°° (1,74 „).
Diese Zahlen geben die große Geburtenzahl wie die hohe Sterblichkeits
ziffer und die große Zahl der (in sehr frühem Alter stattfindenden) EheMaterials hat Rußland keine periodischen Volkszählungen, keine Berufs- und Gewerbestatistik in unserem Sinne und keine völlig genügende Agrarstatistik. Die
erste und bisher letzte allgemeine Volkszählung hat am 9. Februar 1897 statt gefunden; eine zweite war für 1915 in Vorbereitung. *) Zahl in Klammern die Dichtigkeit der Bevölkerung auf die Quadratwerst.
a) Die Abnahme gegen 12,4 Mill, am 1. Januar 1912 erklärt sich durch die Ablösimg des Gouvernements Tholm, das dem Kerngebiet zugezählt wmde.
Das Erbteil der Vergangenheit.
schließungen
zur
Genüge
15
wieder; tiefer eindringende Vergleichsstudien
kämpfen so gut wie hoffnungslos mit dem unzureichenden Rohmaterial.
Das russische Volk ist langlebig. Die hohe Sterblichkeitszisfer, die aber im letzten halben Jahrhundert von 35,8 auf obige Zahl gesunken ist, bedeutet
vor allem Kindersterblichkeit (im Durchschnitt 1901/05 auf das 1000:263), demnächst Erwachsenensterblichkeit vor dem Greisenalter infolge der hygie nischen Mängel aller Art.
Nach alledem ist die jährliche Geburtenver
mehrung der russischen Bevölkerung in der Gegenwart auf mindestens 2 bis 2% Millionen Köpfe anzusetzen.
Rußland zählte 1725:13, 1762: 19,1796: 36,1800: 37,5,1825: 53,5, 1855: 72,7, 1870: 86,2, 1880: 99,7, 1890: 121,3, 1897: 128,8 und 1913: 174 Millionen Einwohner.
Diese gewaltige Vermehrung
verführt zu Berechnungen, — 400 Millionen nach einem halben Jahr
hundert u. ä. —, die phantastisch sind, weil sie nur rechnen, oft die Zu nahme durch Eroberung vergessen und von allen anderen die Bevölkerungs
vermehrung beeinflussenden Momenten ganz absehen.
Wenn man die
aus Nordamerika bekannte Lehre vom Bevölkerungszentrum auf Rußland anwendet, so lag dieses 1897 im Gouvernement Tambow (südöstlich von
Koslow) und rückt seitdem immer weiter nach Osten, mit einer Neigung nach Süden vor.
den
dünner
Das zeigt schon, daß sich ein Ausgleich zwischen
und dichter bevölkerten Gegenden
vollzieht.
In diesem
agrarischen Lande werden nicht die dichter bevölkerten Stellen dichter und die dünneren dünner, sondern der Prozeß geht aus naheliegenden Gründen
umgekehrt und wird durch die Agrarreform und die Übersiedelungs
bewegung nach Sibirien vom Staate stark gefördert, durch die Industriali sierung heute noch kaum aufgehalten.
Auf absehbare Zeit reicht das
Land zur Aufnahme des Geburtenüberschusses aus, an dem, was sehr zu bemerken ist, die griechisch-orthodoxen Untertanen des Zaren den größten
Anteil haben: auf je 10 000 werden jährlich 292 Protestanten, 307 Juden, 315 römische Katholiken, 439 Jslambekenner, 511 Rechtgläubige
geboren.
Die
stärkste
physische
Kraft
liegt
also
in den Bekennern
der griechischen Kirche, d. h. im eigentlichen Russentume.
Diese hat
so gut wie ohne Einwanderung, aus sich heraus — wenn von der
durch
Eroberung
hinzugeschlagenen
Bevölkerung
die starke Bevölkerungszunahme bewirkt.
abgesehen
wird
—
Wesentliche Anzeichen der Er
schlaffung sind trotz der sinkenden Geburtenziffer noch nicht vorhanden,
I. Kapitel.
16
obwohl der Philosoph Solowjew schon 1897 behauptete, daß die damalige Zählung das Aufhören der Zunahme des russischen Stammvolkes feststelle. Aber trotz seines Niesengebietes stellen die natürlichen und wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands der Aussicht eine unübersteigliche Schranke ent gegen, daß es eine Bevölkerung int Stile Indiens oder Chinas erhielte; es wird sogar nicht einmal mit der Zunahme der Vereinigten Staaten oder Südamerikas Schritt halten können. 1912 wohnten von 171 Millionen in den Städten 23,8 Millionen - 13,9%; 1724: 3, 1796: 3,1, 1851: 7,8, 1878: 9,2 und 1897: 13%. Von 100 Menschen wohnten 1912: in Städten in Sibirien............................ ............................ 11,6 Kaukasus....................... ................................. 13,1 Europ. Reichsteil (einschl. Ostseeprovinzen) . 13,2 Zentralasieit . . . . ................................. 13,6 Finnland....................... ................................. 15,1 ................................. 23,3 Polen............................
auf dem Lande 88,4 86,9 86,8 86,4 84,9 76,7
Die Zahlen der Berufs- oder besser Standesstatistik sind ungenügend, rechnen Finnland nicht ein (was das Bild nicht wesentlich verschiebt) und stammen vor allem aus der Zählung von 1897. Es gab damals:
1. Adel: erblicher. ................................... persönlicher und Beamte.......................
1,2 Mill. = = 0,6 „
1,0% 0,5%
9 Erbliche Ehrenbürger*) (— Bourgeoisie) Kaufleute (— Bourgeoisie) ....
0,3 „ 0,28 „
1,5% 0,3% 0,2%
9 U. Kleinbürger*).............................................. 13,3 4. Bauern......................................................... 96,9
5. 6. 7. 8.
Geistlichkeit .............................................. Kosaken ................................................... Fremdstämmige-)........................................ Andere................................................... . *) S. Kapitel VII. 2) S. Kapitel X.
„ „ 0,58 „ 2,9 „ 8,2 „
= =
0,5% = 10,7% = 77,1% = 0,5% = 2,3% — 6,5% - 0,9%
17
Das Erbteil der Vergangenheit.
Die Fabrikarbeiter (damals 2,39 Mill.) stecken in den Gruppen
8, 3 und vor ollem 4, die Intelligenz in Gruppe 8. Diese zählte*) 0,35
Mill.; es gab 119 000 Arzte (1 auf 1000), 12000 Advokaten (1 auf 10 000), 201000 Lehrkräfte (1 auf 625) und 31000 der Wissenschaft und Literatur Anghörende (1 auf 4000).
In Prozenten der Bevölkerung stellt sich der Anteil der einzelnen Klassen in den verschiedenen Reichsteilen so: Adel
Bour Klein geoisie bürger
Bau ern
Geist lichkeil
Ko saken
Fremd-
stämm.
andere
1. Asiat. Rußland
0,8
0,3
5,6
70,9')
0,3
4,5
14,6
3,0
0,4
0,1
2,0
5,04j
—
3,3
88,9
0,3
a) Polen................. b) Kerngebiet (ein-
1,9
0,1
23,5
73,0
0,1
0,1
schl.Ostseeprovinzen) c) Kaukasus....
1,5 2,4
0,6
10,6
84,1
0,5
1,6
0,5
0,6
0,4
8,1
74,8
0,6
10,4
1,5
1,8
Sibirien................. Zentralasien .... 2. Europ. Rußland
1,3
So unvollkommen diese Zahlen sind, so geben sie doch ein Bild der sozialen Struktur, wobei zu beachten ist, daß in den Bauern — der
Begriff dieser Statistik ist ja der Bauer im ständischen, nicht im wirt schaftlichen Sinne — zumeist noch die Arbeiter jeder Art stecken, anderer seits aber die Kosaken und die Fremdvölker ihren Erwerb ganz überwiegend
in der Landwirtschaft haben.
Lesen und schreiben konnten am 1. Januar 1913 im ganzen Reiche (ohne Finnland): 21%, in Polen 30,5%, im übrigen europäischen Ruß
land 22,9%, im Kaukasus 12,4%, in Sibirien 12,3%, in Zentralasien 5,3%. Auf 100 männliche Personen konnten weibliche lesen und schreiben:
im ganzen Reich 45, in Polen 77, in Sibirien 26.
Die Konfessionsstatistik zählte Rechtgläubige (Griech.-Kathol.) 69,9, Römisch-Katholische 8,9, Protestanten 4,85, Juden 4,0, Mohammedaner 10,8, andere christliche Kulte (fast nur die Armeno-Gregorianer) 0,96,
andere nichtchristliche Kulte 0,5. Danach hätte Rußland — gleiche Ver mehrung der Konfessionen, was nicht ganz zutrifft, vorausgesetzt — eine 0 Die °/o-Sätze haben sich kaum verändert.
’) Russische Bauern, sog. Übersiedler. Hoetzsch, Rußland.
I. Kapitel.
18
Christenbevölkerung von rund 147 Mill., der rund 18,8 Mill. Mohamme daner, 6,9 Mill. Juden und 0,9 Mill. Heiden gegenüberstünden.
Schließlich die Nationalitätenfrage*). Die amtliche russische Statistik unterscheidet folgende nationale Gruppen, deren Prozentverhältnis für das
ganze Reich nach der Zählung von 1897, da neuere Zahlen nicht existieren, mitgeteilt werden muß: Russen 65,5, Turko-Tataren 10,6, Polen 6,2,
Finnen (im Reich und in Finnland zusammen) 4,5, Juden 3,9, Litauer und Letten 2,4, „Germancy" (Deutsche und Schweden) 1,6, karthwelische
Gruppe 1,1, kaukasische Bergbewohner 0,9, Armenier 0,9, Mongolen 0,4,
andere 2,0. Das sind, diese Berhälmisse für die Gegenwart zugrunde gelegt,
von 174 Millionen ungefähr: 114 Mill. Russen, 11 Mill. Polen, 6,7 M.ll. Juden, 4 Mill. Litauer, VA Mill. Deutsche, VA Mill. Finnen und 28% Mill, andere Nationalitäten. Diese Zahlen, so wenig exakt sie sind, geben einen ersten Anhalt. Das
Weltreich umschließt (nach der Zählung von 1897), ohne die „anderen
Nationalitäten" und mancherlei Nüancen zu rechnen, 48 verschiedene Volks stämme. Auf dieser Musterkarte sind die slawischen Elemente mit fast 72% im ganzen die Mehrheit. Die Völker altaischen Stammes mit 11%
und die kaukasischen Stämme mit 3% können als unterworfene indigene Kolonialbevölkemng gelten. Dann wären für die Nationalitätenfrage des Reiches, da die 4% Juden für sich stehen, nur die finnischen, litauischen
und germanischen Elemente, 8%%
der Gesamtbevölkerung, von Be
deutung. Es stünde mithin ein Block von mindestens 125 Millionen, als
national einen slawischen Einheitsstaat wagend und beherrschend, einer Kolonialbevölkerung von 28 bis 29 Millionen und einer andersrassigen, aber der beherrschenden sonst gleichstehenden von 13% Millionen gegen
über, in der weder die Germanen noch die Letto-Litauer eine bedrohliche
Einheit darstellen.
Dem Slawenblock von 125 Millionen dürfen indes die 11—12 Mill. Polen nicht zugerechnet werden. Ist nun der Rest, die 113—114 Mill. Russen, eine in sich geschlossene volkliche Einheit? Die amtliche Statistik
schied sie 1897 nach der Muttersprache in Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen, und wies damals für die Kleinrussen 22,4, für die Weißrussen 5,8 Millionen aus. Genaue Zahlen für die Gegenwart fehlen. Die
*) Genaueres in den Kapiteln X und XI.
Das Erbteil der Vergangenheit.
19
ukrainische Bewegung berechnet die Kleinrussen in Rußland aus 29 % bis 33 Millionen, der sorgfältige Semstwostatistiker A. Russow auf 27,5 im
Jähre 1911. Die Verteilung dürfte lingefähr das richtige treffen, die von
dm 113—114 Millionen Russen im Jahre 1913 den Großrussen rund 80 Millionen, den Kleinrussen rund 28 Millionen zuweist; der Rest von
etwa 6 Millionen fällt auf die Weißrussen. Letztere sitzen in den Gouvernements Minsk, Mogilew, Mtebsk und
Smolensk, sowie auch im eigentlichen Litauen. Die Hauptsitze der Klein russen^) sind die Gouvernements Poltawa, Tschernigow und Charkow
links und Kiew, Wolhynien und Podolien rechts des Dnjepr, demnächst
in Jekaterinoslaw und Cherson, wo sie überall eine starke Mehrheit von 50—100% ausmachcn; am reinsten kleinmssisch sind Poltawa mit 98 und Tschernigow mit 86%.
Die Kleinmssen erreichen ferner etwas den
Don und Kuban,, in einzelnen Siedlungen auch Sibirien und erstrecken ihre Sitze über die Reichsgrenze hinaus, da Ostgalizien bis zum San
ethnographisch dazu gehört: die Ruthenm Galiziens, Nordostungams und
der Bukowina sind eines Stammes und einer Sprache mit den Klein russen des Zarenreiches.
Das Großmssentum sitzt so östlich von den
Weißrussen und nördlich und östlich, aber auch südlich und südöstlich von
den Kleinrussen. Was der Unterschied zwischen groß- und kleinmssisch wirklich be
deutet, ethnographisch und linguistisch, historisch und politisch — darüber existieren begründete, doch auch nicht einheitliche Vorstellungen nur in dem
kleinen Kreise, der sich wissenschaftlich mit der sog. ukrainischen Frage be
schäftigt.
Eine lebhafte Agitation für diese hat dagegen die grundsätzlichen
Gesichtspunkte eher verwirrt, ja oft verfälscht.
Die von Österreich aus
gegangene ukrainische Bewegung erhebt den Anspmch, daß die Kleinrussen
eine selbständige slawische Nation mit eigener Sprache, wie die Tschechen
oder Serben seien.
Sie verwendet deshalb ausschließlich den modemen
und nicht historischen Namen Ukrainers für sie, mit dem die anderen Namen: Kleinmssen, Ruthenen synonym ftrtb*2), und lehnt jede Gemein
samkeit mit dem Großmssentum ab. *) Die beste und vorsichtigste Karte findet sich in Hruschewskijs Grundriß. 2) Der Großrusse nennt dm Kleinrussm mit Spitznamen „Chochol" (Haar schopf) und wird dafür von ihm „Kazap" (Bocksbart) genannt.
I. Kapitel.
20
Ter richtige Standpunkt - ist nicht allzuschwer jit gewinnen, wenn
man von der Entstehung des russischen Volkstums durch die Kolonisation ausgeht.
Von den Ursitzen der ostslawischen Stämme (Karpathen und
östliches Vorgelände bis Kiew und nach Norden in die heutigen Sitze der Weißrussen) strömt nach dem Zusammenbnich des Kiewer Staats (end
gültig mit der Eroberung von Kiew 1169 durch Andrei Bogoljubski) in einer der Kolonisation unseres Ostens durchaus vergleichbaren Bewegung
die Bevölkerung nach Nordosten, nach der Wolga und Oka und darüber hinaus.
Im Kampfe und in der Assimilation mit den Vorgefundenen
finnischen, also asiatischen Elementen verschmelzen diese Jndogermonen zu
einer neuen Einheit. Aus diesem Prozeß, der, immer höher hinauf nach
Nordosten reichend, in der Gegenwart noch nicht zum Stillstand gekommen
ist, ist das Großrussentum erwachsen, das den Moskauer, den petrinischen Staat und das russische Weltreich geschaffen Hot, ein Kolonialvolk wie
die Preußen der Mark und des deutschen Ostens, das, wie diese, den auf mutterländischem Boden zerfallenden Staat wieder aufrichtete und ihm
seine Züge unbedingt und dauernd aufdrückte.
und russische Sprache sind großrussischer Natur.
Russischer Staatsgedanke
Was auf dem mutter
ländischen Boden zurückblieb und dort jahrhundertelang unter den von Osten kommenden Asiaten unb der von Westen kommenden polnischen Expansion zu leiden hatte, wurde das heute kleinrussisch genannte Element des russischen BolksMms. Dieses ist zwar auch nicht vollständig rein ge
blieben, sondern hat sich mit turko-tatarischem, auch jüdischem Blute
gemischt, hat aber seinen Volkscharakter reiner erhalten, als die Groß russen, die durch die finnische Blutzufuhr stark verändert worden sind.
Es greift siedelnd nach Süden, in die eigentliche Steppe aus erst wieder leiser mit dem 14., dann stärker seit Mitte des 16. Jahrhunderts, seitdem,
besonders nach den Eroberungen Katharinas II., dorthin und nach Süd
osten, aber immer stärker mit dem Großrussentum gemischt. Von beiden Elementen
getragen
wird
sodann
die
britte
große
Kolonisation,
die
Sibiriens, seit dem 19. Jahrhundert. So sind am reinsten slawisch die Weißrussen, die in den alten Sitzen zurückgeblieben und dort degenerierten. Sie bilden zum großen Teil
den Untergrund der litauischen Geschichte und waren so in das Gewirr
der litauisch-polnischen und moskauischen Kämpfe einbezogen, wie sie auch
in der Gegenwart in den Bereich der litauischen Frage, Bewegung, Hoff-
Das Erbteil der Vergangenheit.
21
nung oder wie man das undeutliche, aber im ganzen nicht (Groß-)Ruß-
landfreundliche Gewirr der Probleme des Nordwestgebiets nennen will,
hereingehören. Etwas mehr mit anderen Volkselementen vermischt haben sich die Kleinrussen, am stärksten aber ist der fremde Einschlag im groß
russischen Stamme. Dessen Charakter vor allem ist durch die Wanderungs
geschichte hart geworden, so daß er sich nicht und nirgends entnationälisieren läßt und stark genug ist, andere, auch Angehörige sog. höher stehender
Volkstümer, sich völlig zu assimilieren. Vornehmlich die Völkerinselu des Nordostens und Ostens erobert dieses Russentum in langsamer und
sicherer Assimilierung, während es im fernen Osten dem reinen Mon
golentum nicht gewachsen ist.
Diese Blutmischung hat im Norden den
gewaltigen staatenbildenden Sinn hervorgebracht, durch den das Großrussentum zur ersten politischen Macht aller Slawen geworden ist. Da
gegen ist, wie es scheint, gerade ihre geringere Vermischung und größere
Reinheit des Volkscharakters den Kleinrussen immer hinderlich gewesen, zu
einem eigenen Staat zu kommen. Der anthropologische Unterschied zwischen beiden Elenrenten ist auch
heute noch zu erkennen. Es hat nichts genützt, daß die russische Regierung sogar die Existenz eines kleinrussischen Dialekts negierte, indem sie den Gebrauch dieses Dialektes einfach verbot. Wenn der flüchtige Reisende in Südrußland, in der Gegend von Poltawa oder Charkow, nichts vom klein
russischen merkte, so war dieses doch vorhanden, und wer einigermaßen scharf zusieht, erkennt den ethnographischen Unterschied zwischen den Groß
russen, deren beste Typen man etwa in Wladimir oder Nischni-Nowgorod sieht, und den Kleinrussen leicht. Wallace schon bemerkt, daß es sich
um zwei verschiedene Nationalitäten handle, die sich schärfer unterscheiden als Engländer und Schotten.
Indes
zur Stabilierung einer eigenen
Nation reichen diese anthropologischen Unterschiede, die sich aus der ver schiedenen Blutmischnng erklären, nicht aus; ethnographisch ist der Gegensatz nicht größer als der ztvischen zwei Stämmen gleichen Volkstums und ge ringer als der gemeinsame Unterschied gegen andere slawische Volkstümcr.
Freilich sind die Entwicklungen beider Stämme lange genug neben einander hergegangen, so daß erhebliche Besonderheiten entstehen konnten.
Die Bauernhütte zeigt Unterschiede zwischen der großrussischen „Jsba" und der kleinrussischen „Chata". Die Siedlung des Südens kennt die agrarische Ztvangsgenossenschaft des Mir nicht oder nicht mehr. Im Norden hat alle
22
1. Kapitel.
staatliche Tradition an das Moskauer Zarentum angeknüpft, im Süden an
die
—
kleinrussische
ganz
—
Kosakenromantik.
BolksdichMng, nach Jagiö der schönsten und
In
seiner
reichsten der siawischen
Stämme, in seinen „Dump" und Kosakendichtungen zeigt das Kleinrussen-
tum stärkere poetische und Phantasiebegabung, als das realistischere Großrussentum.
Jenes ist individualistischer, dieses associativer, jenes weicher,
dieses härter, jenes melancholischer, sentimentaler, sinnender, dieses heiterer,
praktischer, positiver, jenes mehr Kind des Südens, darum den Süd slawen
näherstehend,
dieses
Kind
des
Nordens.
Demokratisch,
nach
ahmungsbegabt, rezeptions- und kulturfähig sind sie beide.
Auch in der Sprache sind sie geschieden. Das kleinrussische war ein früh selbständig entwickelter Dialekt. Während der Tatarenherrschaft, die
die südrussische von der nörd- und östlichen Gruppe trennte, und durch die Zugehörigkeit zu einem andereil (dem polnischen) Staatswesen wurde es
immer
selbständiger,
bis
die
Intelligenz
daraus eine eigene Schriftsprache schuf.
im
19.
Jahrhundert
Mer trotzdem blieb der gemein
same Grundcharakter. Freilich stößt, auch wer die russische Schriftsprache,
das
großrussische,
Schwierigkeiten.
gut
beherrscht,
dem
lleinrussischen
gegenüber
auf
Die Unterschiede beschränken sich indes wesentlich auf
Aussprache und Orthographie*), sowie auf fremdes Sprachgut, und recht fertigen schwerlich die wissenschaftliche Charakteristik des lleinrussischen als einer eigenen Sprache; großrussisch und lleinrussisch stehen einander
gegenüber >vie hochdeutsch und niederdeutsch oder tschechisch und slowakisch. Alle diese Besonderheiten sind von dem unterwerfenden Großrussentuln doch als so stark, das darauf sich gründende und erhaltende Bewußtsein des nationalen Gegensatzes so sehr als separatistisch-gefährlich empfunden
worden, daß es die Kleinrussen barbarisch unterdrückt hat, bis zur vollen
Entwicklung der Leibeigenschaft unter Katharina II. und bis zur offiziellen Unterdrückllng der lleinrussischen Sprache 1876. Dagegen hat eine freiheit liche Bewegung, die jedenfalls durch sich schon die lleinrussisch-lckrainische
Sonderart bewies, reagiert, und ist, vom literarischen durch die Unter-
*) Die Großrussen schreiben die alle Orthographie, die Kleinrussen ver wenden eine phonetische Orthographie, die den Unterschied beider Idiome un
berechtigt groß erscheinen läßt.
Das Erbteil der Vergangmheit.
23
drückung zum politischen Selbstbewußtsein gesteigert, in Betonung der
eigenen geschichtlichen Überlieferungen zu einem gewissen politischen Sepa ratismus, doch nicht zu mehr, gediehen. Aber trotz alledem wirkt schon die
einheitliche Art
des Landes
zwischen beiden Stämmen
assimilierend.
Sprache und vor allem Religion ziehen wie die Geographie die Kleinrussen auf die großrussische Seite. Nach Süden und Südosten gehen beide Stämme
ineinander über; auf dem ganzen kleinrussischen Gebiet sind der große Besitz, die Städte und ein großer Teil der Intelligenz großrussisch, und im
Lande der Donschen Kosaken, der Krim und des Gouvernements Jekaterinoslaw schneiden die Großrussen die Kleinrussen stark vöm Meere ab. Jedenfalls
erlaubt
weder die
Ethnographie noch
die Linguistik, die
„Ukrainer" als eine eigene Nation den Polen und „Moskowitern" gegen überzustellen.
III. Das Erbte« der Geschichte. 1. Die Staatenbildung. Die Hauptdaten der Staatenbildung sind: 862 (als offizielles Grün
dungsjahr angenommen) die Begründung durch Rurik — 989 der Über tritt Wladimirs I. von Kiew zum Christentum in seiner griechischen Form
— bis 1015 Begründung des Kiewer Staates als der ersten Staatsbildung des Ostslawentums — 1169 endgültige Verschiebung des Schwerpunktes
(nach den Zeiten der Zersplitterung im Teilfürstenzeitalter) nach Nordosten an Wolga und Oka — 1224 Schlacht an der Kalka und Beginn der
Tatarenherrschaft — 1328—1340 Iwan I., Abschluß der Begründung des Moskauer Staates — 1480 Abschüttelung des Tatarenjoches.
Die Tatsachen der Expansion sind dann diese: 1479 Eroberung von
Nowgorod; 1552 von Kasan; 1554 von Astrachan; 1584 Gründung
von Archangelsk; 1654 Vertrag von Perejaslawl; 1667 Frieden von
Andrussow und 1686 von Moskau,, durch die die Ukraine links des Dnjepr
gewonnen wurde. Von dieser Basis aus beginnt mit Peter denl Großen die Erweiterung,
die zu den» Ergebnis der Neuzeit geführt hat: 1721 Friede von Nystad,
I. Kapitel.
24
durch den der größte Teil der Ostseeprovinzen russisch wurde — 1772, 98 und 95 die Teilungen Polens — 1795 Angliederung von Kurland — 1809 Friede von Fredrikshamn, durch den Finnland ganz zu Rußland
geschlagen wurde, — die Reihe der Friedensschlüsse (1774, 1792, 1812,
1856, 1878), durch die die Grenze Rußlands gegenüber der Türkei ver schoben wurde.
Durch diesen Prozeß, der den Hauptinhalt der äußeren Geschichte fett
Peter dem Großen ausmacht, dehnte sich das ursprüngliche Kerngebiet nach
allen Richtungen. Es erreichte im Norden das Weiße Meer, den Finnischen Meerbusen und die Ostsee, es stieß im Westm keilförmig weit nach Mittel europa hervor. Es erreichte nach Südwesten den Pruth und gewann die Hälfte der Küste des Schwarzen Meeres. Es hatte nach Osten die Wolga
grenze bis zu ihrer Mündung nicht nur erreicht, sondern überschritten; schon unter Iwan IV. ziehen die Kosaken Jermaks über den Ural und
beginnen die Eroberung Sibiriens (1582).
Es umfaßte den Kaukasus,
den es sich im 19. Jahrhundert (abgeschlossen 1856) erobert hat und von dem aus es im kleinasiatischen Teile der Türkei Fuß faßte. Dazu gewinnt
es sich im 19. Jahrhundert ein asiatisches Kolonialgebiet, das in der Mitte das Pamirplateau beinahe erreichte und es zum unmittelbaren Nachbam Chinas und zum Küstenstaate des Stillen Ozeans machte.
Die erste russische Staatsbildung, der von den germanischen Warägern
geschaffene Kiewer Staat, viel günstiger zu Europa gelegen als das spätere Moskau, brach zusammen. Mit der Kolonisation des Nordostens „wen deten nun diese Ostftawen Europa den Rücken zu", und ein eigenartiger, gar nicht heroischer und skrupelloser Zweig des Rurikgeschlechts, die sich
merkwürdig gleichenden Danilowitschi, verstand es, um Moskau hemm die Zersplittemng zu überwinden, den Gmnd zum Weltstaat zu legen
und den Widerstand der Bojaren zu besiegen. So entstand er als typischer Kolon'ialstaat, nicht, wie die Vereinigten Staaten, durch das Volk, das sich von der Siedelungsarbeit aus in freier Zusammenarbeit feinen
Staat aufbaute, sondern durch die Dynastie, die durch Kirche, Adel und
Heer dem Volke die Staatsorganisation aufdrückte. Moskau „sammelte", nach dem treffenden Ausdruck der mssischen Geschichtsschreibung, genau so
wie ein sonst in Europa entstehender Gesamtstaat, Territorien um sich, durch kriegerische Unterwerfung und durch Angliederung, die zunächst auch
die innere Selbständigkeit, die Autonomie des angegliederten Teiles bestehen
Das Erbteil der Vergangenheit.
ließ*).
25
Die Ukraine, die Ostseeprovinzen, Finnland, im gewissen Sinne
auch Bessarabien uttb Polen treten zu dem von Moskau neu gesammelten Staat prinzipiell ebenso, wie Preußen oder Cleve zu Brandenburg. Durch Rezeß und Privileg, Gnadenbrief des Herrschers und Huldigung der
Unterworfenen wird hier die Unterordnung unter den entstehenden Gesamt
staat geradeso begründet, die innere Freiheit der neuen Staatsglieder ebenso garantiert, wie in gleichen Prozessen des Westens.
Für die Ostseepro
vinzen (Privilegien von 1710, 1712, 1731, 1801) liegt das ebenso auf der Hand wie für Finnland (1809 Manifest von Borgä), für das aber
die Verhältnisse anders werden, als (1869) sein Landtag, zum modernen
ParlameM wird, als sein Verhältnis als ständischer Staat zum absoluten Herrscher auf die Grundlage des Gesetzes, der Volksvertretung gestellt wird.
Auch die Ukraine ist so zu Moskau gekommen. Zwischen 1169 und dem
Kosakentum des 16. Jahrhunderts ohne selbständiges, politisches Leben,
wird sie durch die Verträge von 1654 und 1667 Moskau unterworfen, be hält in ihnen aber ihre Autonomie und Privilegien garantiert.
Damit
war der Kiewer Staat mit dem Moskauer vereint, die beide ja aus einer Wurzel stammen. Denn der Kiewer Staat ist dem ganzen Russentum ge meinsam; ihn selbständig dem Moskauer gegenüberzustellen und von einer
eigenen ukrainischen Staatsidee zu sprechen, ist historisch unmöglich — es hieße dasselbe, als wenn sich Bayern und Preußen gegenseitig das
Königtum der Karolinger streitig machen wollten. Kleinrußland entsteht eigentlich erst in den Kämpfen der Kosaken gegen Polen und zieht in
diesen den Anschluß an Moskau vor, das mit dieser Unterwerfung der Steppe den ersten Schritt zum Großstaat tut. Die Schlacht bei Poltawa
(1709) entscheidet sodann über eine nochmalige selbständige Reaktion Klein rußlands, dem danach Peter der Große und Katharina II. seine Besonder
heiten, wie erwähnt, in brutalster Unterdrückung nehmen. Wenn der russische Staat dann ebenso auch die sonst gewährten Autonomien
antastet,
so
ist
auch
das
der
gleiche
Prozeß
wie
im
Westen, daß sich über dem dualistischen Ständestaat der Absolutismus *) S. die ausgezeichnete Arbeit von Baron B. Nolde, Einheit und Unteil
barkeit Rußlands in seinen: Otscherki russk. goaeudaretv. prawa (Petersburg
1911) S. 228 bis 554; der auf die Ukraine bez. Teil (S. 287 bis 831) ist ins französische übersetzt (L'Ukralne sous le protectorat niese, Paris 1015) und
wurde von der ukrainischen Bewegung verbreitet.
26
I. Kapitel.
erhebt. Weder Peter noch Katharina II. sind Russifikatoren int Sinne Pob-
jedonoszews und Mexmrders HI., aber sie haben beide schon bewußt unt) mit Unterdrückung der Autonomie zu russifizieren, d. h. den zentralisierten
Staat, wie Friedrich Wilhelm I. in Preußen, herzustellen gesucht, der seine Einheit zunächst nur im Herrscher fand. So löst sich — rein wissenschaftlich
betrachtet — der scharfe Gegensatz zwischen Karamsins Geschichtsauf fassung, die die Einheit des Staates betont und ihr Werden allein schildert,
und der etwa Kostomarows, der ähnlich wie Alexander Herzen den Födera lismus als das natürliche Prinzip des Slawentums betrachtet, die russische Geschichte als Prozeß der Vergewaltigung föderalistischer Selbständigkeiten
durch die roh zentralisierende Moskauer Gewalt auffaßt. Im Zeitalter des Absolutismus erweüerte Rußland, in paralleler Entwicklung mit den
westlichen Staaten, seine Machtstellung außerordentlich und steigerte seine wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeit gewaltig. Und dieses Ergebnis war
eine große Leistung politischer Kraft; an staatenbildender Fähigkeit und
Kraft hat es, wie die Geschichte lehrt, dem Großrussentum nicht gefehlt.' Aber es fehlte an etwas anderem und daher darf diese Parallele nicht
über die Formen der Verfassung hinaus getrieben werden. Diese Staaten
bildung verband wohl zur natürlichen Einheit, zur wirtschaftlichen Er gänzung bestimmte Zonen und konnte aus diesen Gründen Zusammenhalt und inneren Zusammenhang schaffen. Aber national hingen weder Finn
land noch die Osffeeprovinzen, weder Litauen noch Polen, weder die Krim
noch der Kaukasus, weder die von mohammedanischen Völkerschaften be wohnten Ufer der Wolga noch gar Sibirien und Zentralasien mit dem
Kerngebiet ihres Reiches zusammen. Und dieser Staat vermochte nicht, die innere Verschmelzung dieser Teile zu einer höheren Einheit herzustellen, wie es etwa den Hohenzollern nach der äußeren Staatsbildung so glänzend ge lang. Das Großrussentum hat es verstanden, über alle von ihm unter
worfenen Völkerschaften ein einheitliches Verwaltungs- und Militärnetz zu legen; es hat sich ihnen allen polittsch-militärisch weit überlegen gezeigt. Aber es hat sich diese Völkerschaften nirgends assimiliert, hat dies an den meisten Stellen gar nicht gewollt und da, wo es das wollte, nicht gekonnt.
Im Wesen war diese Expansion zunächst nichts anderes als die anderer Staaten und ihre Motive waren die gleichen. Oft genug sind sie genannt worden: der Zug nach dem Westen und das Streben nach der natürlichen
Grenze, vor allem zu den eisfreien Häfen und Zugängen der Weltmeeres,
27
Das Erbteil der Bergangenheu.
in dern das Verlangen nach der am leichtesten erreichbaren, dem Herzen des Staates und seinen natürlichen Reichtümern am nächsten liegenden Passage, der des Bosporus und der Dardanellen, am stärksten war. Gerade wegen
seines binnenländischen Charakters ist dieser Zug des russischen Staates zum Meere elementar, er fühlte früh, daß ihm mit dem Zugang zunr
offenen Meere die Freiheit der Bewegung fehlte, und wegen seiner un
günstigen geographischen Lage wird der Drang zum Meer fast Mittel punkt seiner Machtpolitik. Im 19. Jahrhundert kam dann der wirtschaft-
liche Gesichtspunkt seiner Ausfuhr, besonders seiner Getreideausfuhr im Süden dazu. Diese Staatsbildung hat nun auch ein immer stärkeres und aggressiver
werdmdes Nationalbewußffein in ihrem Volke geschaffen.
Ihre Expan
sionsidee ist im 19. Jahrhundert gewiß auch gedanklich vertieft, ja mystisch verklärt toorben; man denke an Dostojewskis Opfer- und Befreiungsidee,
die er der Machtpolitik seines Staates als sittliche Mission zugrunde legte, an den ideologischen national-religiösen Untergrund des Panslawismus,
auch der Ostasienpolitik*). Trotzdem aber empfindet Europa diese Staats geschichte als noch hohl, ja negativ, weil ihr noch zu wenig originaler Kulturgehalt entspricht, den freilich auch die ähnliche Expansion der Ver einigten Staaten nicht einmal schaffen konnte, obwohl ihre Siedler mit
dem Kulturreichtum Europas an ihre Küsten kamen, während Rußland dieser Zustrom fehlte.
2. Der Ausbau des Staates. (Byzanz, Tatarenherrschaft,
Europäisierung,
S e l b st h e r r s ch a f t.)
Die itngeheure Arbeit, deren es bedurfte, um auch nur diesen ziel
bewußten Prozeß tiott sechs Jahrhunderten zum bisherigen Erfolg zu führen, war nur durch ebenso ungeheure Steigerung der Staatsmacht zu
leisten. Auch bei stärksten Einzelpersönlichkeiten wäre sie indes ohne Ein flüsse rind Kraftquellen von außen nicht durchzusetzen gewesen. *) S. das Schlutzkapitel.
I. Kapitel.
28
Zuerst hat das Christentum die zarische Gewalt außerordentlich ge hoben. Es war in seiner griechischen Fassung angenommen worden; als
Byzanz fiel, ging das Patronat seiner Kirche auf den Moskauer Staat über. In seiner Heirat mit der Verwandten des letzten Paläologenkaisers (1472) und der Aufnahme des byzantinischen Adlers in das Moskauer
Wappen dokumentierte Iwan III. Wassiljewitsch (1462—1505) auch,
daß er sich der Tragweite dieses Zusammenhanges bewußt war.
Damit
wurde der byzantinische Zäsaropapismus auf das russische Volk übertragen. Es ist zunächst gleichgültig, daß in diesem kirchenpoliüschen System die
weltliche Macht des Zaren und die geistliche der Patriarchen noch mit
einander um die Herrschaft ringen. In jedem Falle kam die im Worte selbst ausgedrückte engste Verbindung der Kirche mit dem Staate der
Fürstengewalt gegen Gesellschaft und Volk zu einer großen Steigerung ihrer Verfügungsfreiheit über Leben und Geist der Untertanen zu Hilfe,
und sie umgab den Zaren mit einer fast göttlichen Glorie, die ihn seinen Untertanen geradezu entrückte.
In gleicher Richtung wirkte die Herrschaft der Tataren (1224—1480). Zuerst vermochte auch die wieder gefestigte großfürstliche Gewalt ihr Volk
nicht zu schützen, zwei Jahrhunderte lang lastete das Joch der Tataren, merkwürdig unheroisch ertragen, auf Staat und Volk Moskaus. Da diese
Tatarenherrschast nicht eine ins einzelne dringende Herrschaft an Ort und
Stelle war, sondern der Chan der Goldenen Horde, der bei Zarizyn an der Wolga residierte, sich mit der Entrichtung des Jahrestributs begnügte, sich dafür aber an die Person des Großfürsten hielt, wurde dieser der lokale Repräsentant der tatarischen Oberherrschaft für sein eigenes Volk. Wie er vor dem Chan zittern mußte, dessen Schiedsspruch auch in den Thronstreitigkeiten der großfürstlichen Familie angerufen wurde, so mußte
sein Volk vor ihm zittern, der ihm gegenüber der Vertreter der Fremd herrschaft war. Und da das Verhättnis zwischen Großfürst und Tataren
chan gar nicht ethisch, sondem nur auf Gewalt und roher Abhängigkeit begründet war,
so werden auch die Beziehungen
zwischen Großfürst
und Volk nicht versittlicht. Das hob die fürstliche Gctvalt ihren Untertanen
gegenüber, brutalisierte aber die Beziehungen zwischen Fürst und Volk und beraubte sie alles gemütlichen Inhalts, wie nirgends sonst in einem indogermanischen Volke. Dieser Druck hat zwei Jahrhunderte angedauert,
während außerdem noch seine Lage diesem Staatswesen die Vorstellungen
Dos Erbteil der Vergangenheit.
29
des asiatischen Despotismus näher rückte als dem Westen, korrigierende und
mildernde Vorstellungen aus dem Christentume heraus aber hier unendlich
viel schwächer wirkten. Dagegen darf die allgemeine Wirkung der Tatarenherrschaft nicht so,
wie es gewöhnlich geschieht, überschätzt werden. Von einem rassenmäßigen Einfluß ist nur bei einem klemm Teile des Dienstadels zu reden. Sonst
hat ein „connubium" zwischen Russen und Tataren nicht bestanden; was man heute als tatarisch
am Großrussentum bezeichnet, sind die
Folgen seiner finnisch-ugrischen Blutmischung in der Kolonisationszeit.
In das Private oder religiöse Leben der Unterworfenen hat sich die Tataren herrschaft nicht eingemischt.
Dagegen hat sie auf das stärkste die Aus
bildung der absoluten Fürstengewalt und der Finanzverwaltung und das Ethos der Unterworfenen beeinflußt. Die kulturelle Nachwirkung konnte nicht anders als sehr gering sein, die Herrschaft eines so niedrig stehenden
Eroberervolkes aber nur korrumpierend wirken.
Ist schon die fatalistische
Art, in der sie ertragen wurde, einzigartig, nur mit der Türkenherrschaft auf dem Balkan zu vergleichen, so ist kein Wunder, daß die sittlichen Vor stellungen in Rußland heute noch (z. B. in der Nichtachtung der Persön lichkeit, dem Mangel an Wahrheitsliebe und an Achtung vor dem öffent
lichen Eigentum) die Folgen der Tatarenzeit an sich tragen.
Vor allem
aber zog sie die Kluft gegen Europa noch weiter und tiefer. Darum wurde der Sprung nach Europa, als er von Peter getan
wurde, auch als so gewaltsam empfunden, obwohl sich das Gesicht Mos kaus schon längst Europa zugewandt hatte. Die Voraussetzungen für eine
schrankenlose Staatsgewalt, die in der mittelalterlichen Geschichte Moskaus gegeben waren, haben zu unerhörter und in Europa sonst nicht erreichter
Höhe gesteigert Peter der Große und Katharina II. Die Mittel dazu fanden sie beide in dem, was man die Europäisierung ihres Staatswesens genannt hat.
Der Widerspruch zwischen indogermanischem Volkscharakter und
asiatischer Umgebung, ja Herrschaft hat die Zaren Moskaus frühzeitig auf die technische und militärische Überlegenheit des Westens hingewiesen. Der
Gedanke, die Einrichtungen dieses Westens anzunehmen, um die Tataren herrschaft abwerfen und die Expansion zum Meere hin weiterführen zu
können, ist daher schon von ihnen energisch gedacht worden.
Nur eine
graduelle Steigerung ist es, wenn Peter der Große aus gleichen politischen Motiven heraus die technisch-militärisch-politischen Mittel des damaligen
I. Kapitel.
30
Europas in vollem Umfange übernimmt.
Er hat das ganze System des
absolutistisch-merkantilistischen Staatslebens seiner Zeit mit gewaltigster Kraftanstrengung und erstaunlichem Erfolge auf seinen Staat übertragen. Denn er sah allein darin die Möglichkeit, ihn vom Moskauer Territorial
staat zum europäischen Großstaat zu erhebm. Wenn er damit auch europäische Zivilisation in breitem Strom hereinführte, so hat er dies nur als Mittel zu jenem realistisch gesehenen und gewollten Zweck seines
Lebens benutzt.
Er hat die Frage ignoriert oder gar nicht gesehen, ob die
Entwicklung seines Volkes prinzipiell in derselben Bähn gehen werde und
müsse, wie die der europäischen Völker, und ob deshalb eine unbedingte Nachahmung und Einführung europäischer Kulturelemente ohne weiteres gestattet sei.
Deshalb schwankt bis heute noch die Beurteilung seines
Lebenswerks in der russischen Geschichtsschreibung und kaum etwas ist
für die Zwiespältigkeit im mssischen Wesen charakteristischer als die Tat
sache, daß die Nation noch heute keine übereinstimmende Anschauung von ihrem größten Herrscher hat.
Genau in seinen Bahnen ist Katharina II. weiter gegangen.
Sie
hat auch Elemente der geistigen Kultur Europas, der sie als deutsche Prinzessin und französisch gebildete Dame angehörte, gefördert; wesentlich
war das aber für sie als Herrfcherin nicht.
Die zarische- Staatsgewalt
wollte und konnte nur einen europäischen Staatsbau schaffen, der ihr die
Mittel zur Erreichung ihrer großen politischen Zwecke gab, in Stellung
des Fürsten, Beamtentum, Finanzen, Heer, und das gelang in vollem Maße.
Es war das Wesen des Staates, der seit 1904 nach dem Willen
der Revolutionäre zugrunde gehen oder nach dem der Liberalen von Gmnd
aus umgestaltet werden sollte, daß er autokratisch war. Das war auch die hauptsächlichste Vorstellung, die Europa von Rußland hatte, und die von
dort aus bewußt und geschickt genährt worden ist, daß dieses riesengroße Reich dem Willen eines einzigen Mannes gehorchen müsse, dessen -Herrscher gewalt nicht die geringsten Schranken gesetzt seien, und der sich zur Durch
setzung seines Willens eines ungeheuren, vor keinem Verbrechen zurück
scheuenden
Beamtenorganismus
haltenes Volk bediene.
gegen
ein
in
Sklavengehorsam
ge
Die Vorstellung war allgemein, daß das Leben
in Rußland einer im Dunkeln schleichenden grenzenlosen Willkür preis gegeben sei und jede Oppositton gegen den in die Einzelheiten des Lebens eindringenden zarischen Willen mit der Verschickung nach Sibirien bestraft
Das Erbteil der Vergangenheit.
31
werde. Durch eine bewußte Abschließungspolitik, die den Verkehr mit dem Auslande am liebsten überhaupt verhindert hätte, tat auch das herrschende System, vor allem unter Nikolai I. und Alexander III., alles, um sich
diese Vorstellung in Europa so sehr wie möglich festsetzen zu lassen.
Sie
schreckte von der Erforschung Rußlands ab und ließ demgemäß das Urteil
über seine wirkliche Lebenskraft, vor allem seine militärische und politische Schlagfertigkeit in einem höchst erwünschten, unbestimmten Dunkel.
In
diesem Dunkel steigerte sich die Vorstellung von der großen Macht Rußlands ins Ungemessene. Sie wurde zwar regelmäßig durch die in bestimmten Ab
ständen wiederkehrenden schlimmen Erfahrungen eines Krieges — so
1858/55, 1877/78, 1904/05 — erheblich ernüchtert und herabgestimmt, kehrte aber in den folgenden Friedenszeiten ebenso regelmäßig wieder
zurück.
Richtig war in diesen unbestimmten Urteilen, die zwischen über
und Unterschätzung unsicher hin- und herschwankten, daß die fürstliche Gewalt in Rußland eine Steigerung erfahren hatte, wie nirgends in der indogermanischen Welt.
So sehr, daß der Begriff der Selbstherrschaft
(Samoderschawie/), mit dem die russische Sprache den Absolutismus be
zeichnet, von der slawophilen Anschauung als einer der drei Grundsteine,
auf denen Rußland ruht, betrachtet wurde, deren Erschüttemng oder Beränderung die russische Zukunft gefährden soll.
Wer fragt, was der
Konstitutionalismus in Rußland heute bedeuten kann, muß sich vor
allem das Wesen dieser zarischen Gewalt klar machen. Ihre geschichtlichen Wurzeln liegen in der Zeit der Moskauer Zaren. Das russische Volk hat nicht von Anbeginn seiner Geschichte an ein abso
lutes Herrschertum hervorgebracht und ertragen.
Im Gegenteil zeigte
der Kiewer Staat wie der Freistaat Groß-Nowgorod eine erstaunlich hohe
Bedeutung des Volkes neben dem Staate.
Und die Schwächung der
fürstlichen Gewalt durch die Zersplitterung des Kiewer Reiches in Teil fürstentümer und die Unsicherheit der großfürstlichen Gewalt trug auch
nicht dazu bei, eine starke Staatsgewalt zu schaffen.
Diese ist erst auf
dem Boden des Moskauer Staates erstanden, und in den großen Zaren des 15. und 16. Jahrhunderts, Iwan III., Wassili IV., Iwan IV., zur
Vollendung gebracht worden. Die persönlichen Fähigkeiten der Herrscher*) Die Wortübersetzung der byzantinischen Autokratie.
I. Kapitel.
32
reihe, dir den Vtoskauer Staat geschaffen hat, fandm Bundesgenossen im Charakter des Volkstums, das sich mit dieser Staatsbildung selbst erst ganz
äusbildete, und in jenen von außen wirkenden Momenten. So liegen die Wurzeln des Absolutismus weder im Altertum (die Selbstherrschaft ist nicht, wie manche Slawophilen wollen, dem russischen Volke ureigen) noch
in der Neuzeit (sie ist nicht erst von Peter dem Großen geschaffen), sondern in seinem Mittelalter. Als die Tatarenherrschaft beseitigt war (1480), war die zarische Ge walt fertig. Sie war die patriarchalische Eigentümerin des ganzen Reiches
— die Vorstellung, daß das Reich im Grunde nur Privateigen der kaiser
lichen Familie sei, ist bis in die Gegenwart lebendig geblieben — und hatte sich auch ihre Organe zur Durchsetzung ihres Willens im Inneren
und zur Führung ihrer Politik nach außen geschaffen.
Formal, im
System von Verfassung und Verwaltung, Finanzen und Heer, ist später
von Peter dem Großen bis zu Alexander I. ein völliger Neubau errichtet
worden. Dagegen sind dabei materiell die Beziehungen zwischen Zar und Gesellschaft nur äußerlich verändert worden. Es sei daher das Gebier for
maler Arbeit und das Erbteil der Vergangenheit daraus später lediglich für die Neuzeit festgestellt. Aus dem Mittelalter aber wurde, wenigstens
in
seinen
dauernden
Wirkungen,
zweierlei
herübergenommen:
das
„Mjestnitschestwo" und die „Kormlenie".
Das merkwürdige System des- MjesMitschestwo, das einem Manne
verbot, im Staatsdienst eine niedrigere Stellung gegenüber einem anderen einzunehmen, als ihre beiderseitigen Vorfahren zueinander eingenommen
hatten, ist allerdings unter Feodor Alexejewitsch (1676—1682) aufgehoben worden. An seine Stelle hat Peter der Große die noch heute im wesentlichen geltende Hierarchie der Rang-*)Tabelle von 1714 gesetzt.
Trotzdem sind
die Wirkungen aus dem Mittelalter nicht beseitigt worden; sie lebten, wenn auch in anderer Form, gerade in der neuen Ordnung Peters fort. Denn
in beiden Systemen ist das 'Entscheidende, daß ausschließlich die Stellung
zur Person des Zaren die ganze Hierarchie bestimmt. Wort und Begriff des „Dienstes" (Sluschba), so, wie sie noch für das heutige Rußland so
charakteristisch sind, sind hier erwachsen, in dem Satz gipfelnd:
„Groß
*) Russisch: Tschin. — Die Tabelle ist, wie sie heute gilt; abgedruckt z. B.
bei Palme, Die ruff. Verfassung, S. 110 s.
Das Erbteil der Vergangenheit.
33
und klein lebt man (nur) durch die Gnade des Zaren."
Dieses Ver
hältnis war aber nicht durch sittliche Beziehungen geadelt, wie persönliche
Hingabe an den Fürsten oder Begeisterung für die Idee des Staates,
sondern wurde durch die zarische Gewalt erzwungen und durch die Furcht vor ihr erhalten.
Aus den Beziehungen des Großfürsten zu den Tataren entstand erst in vollem Umfange das Beamten- und Finanzwesen des Moskauer Staates. Und wenn im Verhältnis zu den Tataren die Ethik keine Stelle hatte, so kamen auch in das Ämter- und Finanzsystem Ethik und Pflicht nicht herein.
Wie der Großfürst sich kein Gewissen daraus machte, den Tataren zu Über vorteilen, so auch seine Beamten nicht gegenüber dem Volke in der Er
hebung der Steuer, aus der der Tribut bezahlt wurde.
Erpressung und
Unterschleif sind dämm im russischen Mittelalter schon typisch und wurzeln
um so fester, als die Sittenlehre der Kirche einen Halt dagegen nicht ge währte, eine Sittenlehre des Staatslebens nicht vorhanden war.
So ist
der für Rußland so charakteristische Begriff und Gmndsatz der Kormlenie, der „Emährung" im Wortsinne entstanden, daß nämlich Amt und Dienst
nicht Vergütung für pflichtgemäße Erfüllung des Amtes sind, sondern Mittel, sich als Glied der dienenden Klasse zu erhalten, daß Amt und Vaterland für den Träger des Amts nach einem Worte des Satirikers
Saltykow-Schtschedrin nur „ein süßer Knödel" sind, nur zur Emähmng
und zum Genuß für den Beamten da sind. Und so erklärt es sich, wamm die Kormption von Anfang an geradezu ein Fundamentälprinzip im
Staatskörper geworden ist. Der Absolutismus nach europäischem Muster, den Peter ver Große
einführte und Katharina II. abschloß, ist danach nicht etwas grundsätzlich Neues. Er steigerte vielmehr nur bereits vorhandene Einrichtungen oder
besser, da das prinzipiell nicht möglich war, er stellte die größeren Mittel des europäischen Absolutismus für den Dienst der Zarengewalt bereit.
Die Europäisiemng ist in diesem Sinne nichts als die übemahme der Verwaltungs- und Heereseinrichtungen Europas. An die Stelle der alten
Verwaltung tritt das System, das Peter begründete und Alexander I.
1802 abschloß: die Zentralbehörden als: Senat (1711 errichtet), Reichsrat
(1802 geschaffen), Ministerkomitee und Ministerien begründet),
dazu
yoetzsch, Rußland.
der
„Allerheiligste
Synod"
(1721
(gleichfalls begründet), 3
1802
als
1. Kapitel.
34
Organ des -arischen.Willens in Kirchenangelegenheilen, da der Kampf
zwischen Zar und Patriarch mit dem vollständigen Siege der weltlichen
Spitze in der Kirche geendet hat. Darunter das System der Gouverne
ments- und KreisverwalMng und daneben das stehende Heer, das Peter an die Stelle des wertlos gewordenen allgemeinen Aufgebots und der
überlebten Ritterorganisation gesetzt hatte.
Auf allen Gebieten wird der
Dienst für den Staat und, da Staat und Zar zusammenfallen, der Dienst
für den Zaren das alles in Anspruch nehmende und alles regulierende Prinzip des Lebens,
überall reichen die Wurzeln in das Mittelalter
zurück, aber überall hat die absolutistische Neuzeit frühere Anfänge zur Vollendung geführt und gesteigert. Das gilt namentlich für zweierlei.
Die Staatsdienstpflicht des Adels war schon im Mittelalter ohne
Einschränkung durchgesetzt worden, mochten diese Adligen auf freiem Erbe oder auf Lehnsgut sitzen; es gab, als Peter der Große sein Werk begann, grundsätzlich in seinem Staate keinen von der Pflicht des Staatsdienstes freien adligen Mann.
Trotzdem hätte eine Grundaristokratie wie in
England oder Preußen vorhanden sein können.
Aber der russische Adel
ist nur eine bevorzugte Schicht der Gesellschaft geworden, in erster Linie zum Dienst mit der Waffe verpflichtet, wofür der Landbesitz Belohnung,
nicht aber Basis einer eigenen selbständigen Lebensführung ist1), eine be vorrechtete Klasse, die wie jeder andere Russe.
aber
vor dem Zaren
brochen, indem er jene Rangtabelle einführte.
nur
wie
eine
genau so rechtlos war,
Peter hat ihr dann vollends das Rückgrat ge
Hofrangordnung,
aber
sie
ist
Zunächst erscheint diese
mehr.
Sie
stellt
die
Hierarchie eines Beamtentums dar, dessen Glieder stets den ihrem Amte
entsprechenden Rang haben sollten, und in die der Adel dadurch voll ständig einbezogen oder durch die er dadurch vollständig aufgelöst wurde,
daß mit einer bestimmten Stelle der persönliche und mit einer bestimmten
— höheren — Stelle der erbliche Adel von selbst „erdient" (Wysluga) wird. Damit wurde eine unabhängige Aristokratie als Stand unmöglich,
und, was im 15. und 16. Jahrhundert vorbereitet war, abgeschlossen: die Entstehung einer großen Beamtenklasse, die der Zar zur Durchsetzung
*) Der russische Adel ist nie mit dem Boden wirklich verwachsen, er hat Frei-
Teilbarkeit seines Besitzes und sträubte sich immer gegen Majorat und Fideikommiß. Der russische Adlige heißt auch nicht nach seinem Gute,
35
Das Erbteil der"Vergangenheit.
fernes Willens braucht, die von ihm unbedingt abhängig, mit ihm aus
Gedeih und Verderb verbunden ist, und die dem Volk überall, auch im
kleinsten und untersten Beamten, als der Zar in Person mit aller feiner unbegrenzten Machtfülle gegenübertritt, sich vom Volk durch eine weite Kluft getrennt fühlt. Der neuzeitliche Absolutisrnus hat aber auch hier nichts getan, um
in die Beziehungen seiner Beamten zu ihm imb der Beamten zum Volk einigermaßen sittlichen Inhalt hereinzutragen. Was Friedrich Wilhelm I. aus genau dem gleichen Absolutismus heraus erzieherisch für sein Be
amtentum leistete, fehlt in der russischen Geschichte völlig. Dieses Beamten
tum, das im Absolutismus erwuchs, übernahm aus dem Mittelalter den alten Begriff der Dienstpflicht und ihrer Ausnutzung, der Kormlenie, und
stabilierte damit die Korrupüon weiterhin wie ein leitendes Prinzip des
Verwaltungsrechts.
Auch Rußland hat in der Neuzeit sehr viele sitt
lich unanfechtbare VerwalMngsbeamte gehabt, die ihrem Staat aus Hin gabe an die Pflicht oder aus Begeisterung für die Idee des Vaterlandes
oder aus persönlicher Anhängigkeit an Zar und Dynastie dienten. Aber
dergleichen ist nicht aus dem staatlichen Verwaltungsrecht und Beamtentum selbst entstanden, sondern durch Erziehung oder Berührung der Individuen
mit west-europäischem Denken ausgenommen worden.
So war das Erbteil der Vergangenheit zu Beginn der Revolution
formal: ein gewaltiger staatlicher Mechanismus, der, nach dem Vorbilde Westeuropas aufgebaut, den Staatsdienstbegriff bis aus das Äußerste ge steigert hatte, dessen Funktionieren aber dadurch sehr erschwert wurde, daß
Zahl und Bildungsniveau seines Beamtentums in einem schreienden Miß
verhältnis zu dem ungeheuren Raume und seinen Riesenbedürfnissen stand. An der Weitmaschigkeit des Verwaltungssystems, dem Mangel an
Verkehrsmitteln und den Eigenschaften der Bureaukratie fand die Willkür des Staatsbeamtentums und die Machtvollkommenheit des Zaren eine
oft unübersteigbare Schranke. Tatsächlich genoß das russische Volk und
genossen auch die anderen Nationalitäten im Reich eine viel größere
Freiheit, als man in Europa annahm. Freilich in den Beziehungen, auf die es dem Staate ankam, zog er die
einzelnen sehr ausgiebig heran.
Es lag ihm nicht so sehr daran, das
BiLungsniveau seiner Untertanen zu heben, und es bekümmerte ihn wenig,
wenn daher das Schulwesen auf sehr niedriger Stufe stehen blieb. Aber für
3*
I. Kapitel.
36
seine Machtansprüche verstand dieser Staat die Untertanen aufs äußerste jit
fassen. Im Innern, insofern als ein außerordentlich ausgebildetes Polizei-
fystem Ruhe und Ordnung auftechterhielt — letztere in ganz mechanischem Sinne, den in höchster Ausprägung Nikolai I. vertrat —, wenn auch die
Staatsgewalt
zu
keiner
Zeit
stark
genug
gewesen
ist,
revolutionäre
Zuckungen des Volkskörpers ganz zu verhindern oder den verbotenen Ver
kehr mit den Ideen des Auslandes völlig abzuschließen. Für die Macht
ansprüche nach außen aber brauchte der Staat ein großes Heer und in weiterem Abstande eine Flotte und die dafür notwendigen finanziellen Mittel. Mit seinem Ukas von 1699 über die Pflicht der Rekrutengestellung und der ersten „Revision" (d. h. Zählung zu Aushebungs- und Steuer
zwecken) 1718/19 hat Peter der Große auch hierfür die Grundlinien gezogen und die Dienstverpflichtung für die Masse des Volkes abgeschlossen.
Das Dorf haftete solidarisch für die Zahl der Rekruten, die es zu stellen hatte, und für den Anteil an der — 1722 eingeführten — Kopfsteuer,
der auf es fiel1). Diese Anteile wurden nach der Zahlung der „Seelen" (der männlichen kopfsteuerpslichtigen Bauern), deren Revision alle zehn
Jahre stattfinden sollte1), bestimmt; in der Zwischenzeit fand die natürliche Bevölkerungsveränderung keinen Reflex in der Seelenzahl — ein Mißver
hältnis, auf dem Gogols Tfchitschikow in den „Toten Seelen" sein geniales
Schwindelmanöver aufbaut. Damit war auch die bäuerliche Masse ganz in den Dienst des Staates gestellt, der Mechanismus war fertig, wie im friderizianischen Staat.
Denn ebenso waren die — viel getingelten — Schichten der Kaufleute und Gewerbetreibenden in ihren Pflichten genau reglementiert; sie hingen ja
auch vor allem von den Aufträgen und Bedürfnissen des Staates ab. Während aber das sonst ebenso aufgebaute Preußen Friedrichs des Großen
unter allen Umständen den einzelnen erfaßte, erreichte hier der Staat seine Zwecke zum großen Teile mittelbar.
Die Dorfgemeinde
war für den
Anteil der Rekruten und Steuern solidarisch haftbar. Wie sie aber diesen *) Die Solidarhaftung (krugowaja Poruka) für die Steuer ist gesetzlich erst durch das Manifest von 1811 festgestellt worden, aber schon seit der Moskauer Zeit in Übung gewesen. ■ 3) Die erste derartige Revision hat 1718/19, die letzte (10,) 1856 bis 1858 stattgefunden.
Das Erbteil der Vergangenheit.
37
Anteil unter sich verteilte, wie sie ihre Angelegenheiten sonst — und diese waren sehr umfassend — regelte, das blieb ihr überlassen. Die Bauem-
gemeinde, die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes, hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart einer Autonomie erstellt, von der man sich in Westeuropa niemals eine richtige Vorstellung gemacht hat.
Man sah
nicht, daß zwischen den Bauern und dem Zaren nicht nur der Grundherr, sondern auch die Dorfgemeinde als die herrschende Macht des einzelnen
Lebens stand. Das aber führt zu der Frage nach dem Erbteile der Ver gangenheit für das Volk.
3. Das Volk ging in die Zeit der Reformen gebunden herein.
Ge
bunden war es zunächst materiell durch seine agrarische Organisation, und zwar trug es — wenigstens in seiner überwiegenden Mehrheit —
sowohl die Gebundenheit der „Großfamilie", die sich bei fast allen slawischen
Vollem findet, wie die Gebundenheit der Dorffeldgemeinschaft, die wir aus der allgemeinen Agrargeschichte kennen, an sich. Diese Feldgemeinschaft (Mir)*), die den einzelnen an die Verfügungs
gewalt der Gemeinde über das Land band und die in immer wiederholten Umteilungen des Landes nach den Veränderungen der Zahl der Dorf
bewohner ein individuelles Verhältnis des einzelnen zu seiner Scholle nie
mals aufkommen ließ, die so ohne weiteres erklärt, warum der Abso lutismus die Solidarhaftung einführen konnte, wurde durch die guts-
herrlich-bäuerlichen Verhältnisse, die Leibeigenschaft ergänzt und in ihrer Wirkung abgeschlossen. Ist die Feldgemeinschaft schon in frühesten Zeiten
der russischen Geschichte vorhanden, so entsteht die Leibeigenschaft erst in ihrem Mittelalter.
Sie ist am Ende dieses Mittelalters, durch den Ukas
von 1597 zum Abschluß gekommen, der im Interesse der kleineren Dienst mannen die Freizügigkeit der Bauern verbot. Dem Wesen nach entstanden mit Mir und Leibeigenschaft bäuerliche Verhältnisse, wie sie in West
europa, insonderheit Deutschland ebenso vorhanden waren.
Nur einen
Gradunterschied bedeutet die schärfere Anspannung der Abhängigkeitsver
hältnisse, die bis zum Verkauf von Leibeigenen ohne Land, also bis zur
reinen Sklaverei und zu barbarischen Mißhandlungen führte.
*) Näheres s. Kapilel V.
I. Kapitel.
38
Diese dreifache Bindung — durch die Dorfgemeinde, den Grund herrn und den Staat — wurde nun durch den weltlichen Absolutismus
des Zaren, dessen psychologische Wirkungen noch einmal betont werden müssen, und den geistlichen der Kirche noch außerordentlich verstärkt. Die Tatarenherrschast hatte in die kirchlichen Verhältnisse nicht ein
gegriffen, und so zog die Kirche in ihrem Bunde mit dem ZarenMm auch für sich aus der Stärkung der großfürstlichen Gewalt Vorteil, um so mehr,
als ihre Führung noch lange in den Händen der Griechen, also volks fremder Elemente, lag. Nur flüchtig sei hier schon darauf hingewiesen^, was es für Rußland gegenüber Westeuropa bedeutet, daß es das griechische
Christentum annahm. Die griechische Kirche, die Wladimir I. einführte,
war aber auch schon innerlich erstarrt und hat an lebendigen Kräften wenig
in das Volksleben hereingeleitet, wenn auch gerade die Tatarenherrschaft,
die Anhänglichkeit an die Kirche vertiefend, die Gleichsetzung von Religion und Vaterland begründete, aus der der tief im Volksgemüt verankerte Be griff des „heiligen Rußland" hervorwuchs. An Bildungselementen und sittlicher Erziehung vermochte sie verzweifelt wenig zu bieten, weshalb sie auch bis heute die Reste des HeideMums nicht ganz hat überwinden können.
Das Wesentlichste ist doch an ihr ihre Verbindung mit dem Zarentum.
Dadurch vermochte sie, das Fürstentum durch die Erfüllung mit dem religiös verklärten byzaMinischen Staatsgedanken noch hebend und steigernd,
die Gemüter zu binden und zu beherrschen, das ganze Volk von der höchsten
Spitze bis zum letzten Bauern an sich zu fesseln, es ihrem Dogma und noch mehr ihrem Ritus in einer Weise zu unterwerfen, die über ihre
innere lebendige Kraft oft täuscht. Ein Kampf gegen die Kirche war daher
bis zur Gegenwart, wie die Geschichte aller sektiererischen Bewegungen in Rußland lehrt, ein Kampf gegen den Staat, also Revolution.
Eine
Abkehr von ihr geschieht bis heute nur, indem sich der Russe innerlich
von ihr frei macht, ohne aber den Entschluß zu einem entschlossenen Atheismus oder zum Übertritt zu einer anderen Konfession zu finden. Die Bindung der Geister, die die orthodoxe Kirche herbeizuführen ver
standen hat und die heute in der Masse noch ungehindert in Macht ist, kann Psychologisch gar nicht hoch genug angeschlagen werden.
*) Weiteres s. Kapitel VIII.
Das Erbteil der Vergangenheit.
39
So war also dies das Erbteil der Vergangenheit für das 19. Jahr
hundert: ein dreifach, durch die lokale Organisation (Familie, Gemeinde, Gutsherr), durch die Staatsgewalt, durch die Kirche gebundenes Volk, eine ins äußerste gesteigerte fürstliche Gewalt mit einem gewaltigen Orga
nismus, der ihren Zwecken dienstbar war und das ganze Volk für ihre Zwecke dienstbar machte, ein Staat, der nach seiner äußeren Entfaltung das volle Recht, als europäischer Großstaat betrachtet zu werden, erworben
hatte und nachdrücklich geltend machte. Er hatte die dafür in ihm liegenden Ansätze durch BestuchMng mit europäischen Gedanken und Einrichtungen
außerordentlich und einseitig ausgebildet und zu einem großen System ent wickelt, das in der slawophilen Anschauung seine theoretische Begründung
fand. Ihre drei Schlagworte: Selbstherrschaft, orthodoxe Kirche und (groß russisches) Volkstum (Samoderschawie, Prawoslawie, Narodnost), sprechen
in einer geläufigen Formel diese historische Anschauung und zugleich ein politisches Programm aus, wobei freilich gern vergessen wird, daß erst die Befruchtung mit dem aus Westeuropa (Polen, Holland, Deutschland,
Frankreich) Gekommenen diese Entwicklung vorhandener Ansätze ennöglicht
hat, daß erst durch die aus Europa hereingeholten Steine diese drei Funda
mente des mssischen Staates zu dem gewaltigen Bau von heute ausgebaul werden konnten. Auf Kolonialland, aus indogermanischem Grundstock und finnischem Einschlag hatte der großrussische Volkscharakter sich gebildet.
Zwar war
er Asien zugewandt, aber der Mensch war stärker in ihm als das Land
und Europa stärker als Asien. Realistisch-positiv war er in dieser Natur geworden, mit starkem natürlichen Verstand und tief-religiöser Anlage, an passungsfähig (mit der „russischen Akzeptivität", wie A. Herzen sagt),
wenig originell, oft rätselhaft in seinen Instinkten, harmlos kindlich und
weich (mit dem „russischen Mitleid" Dostojewskis), aber auch bestialisch-wild und roh, groß vor allem in passiver Widerstandsfähigkeit und Tapferkeit,
schwach in aktivem Wollen und Ausdauern.
Unter allem Druck, der
schwerer auf ihm lastete als je auf einem europäischen Volke, wahrte sich
dies VolksMm doch eine naturwüchsig starke sittliche Kraft. Anziehend und abstoßend zugleich war sein,Charakter geworden, nicht völlig rätselhaft,
aber schwer zu begreifen. Seine Psychologie haben weder das neue Rußland
seit 1855 noch das neueste seit 1905 wesentlich geändert.
II. Kapitel.
Die Entstehung des modernen Rntzlauds nnd die Voraussetzungen der Revolution von 1905. I. Die Reformen Alexanders II. Der Entwicklung des Staates zum europäischen Großstaat und der
äußeren Europäisierung seines Aufbaues und der Gesellschaft hatte eine Durchdringung mit der westlichen Kultur noch nicht in gleichem Maße
entsprochen.
Dieser
Widerspruch
wurde
schon
im
18.
Jahrhundert
empfunden; man fühlte, daß das, was dieser Staat beanspruche und dar stelle, nicht dem entspreche, was er für sein Volk und was dieses Volk wieder
um für die Menschheit leiste. Und ebenso früh empfand man den Wider
sinn, daß die bestehende Staatsorganisation auch nur die Erörterung dieser Fragen, die Diskussion eines stärkeren Anschlusses an die europäische
Ideenwelt nicht dulden zu können glaubte.
Daher konnte die geistige
Bewegung, die diesen Widerspruch zu lösen strebte und forderte, so wichtig sie ist, bis zur neuesten Zeit nur einen kleinen Teil des Volkes erfassen.
Sie mußte sich auf die sog. Intelligenz*) und einen Teil des Adels, des Beamtentums und Offizierkorps beschränken, da der Versuch, den der
Nihilismus in den 70er Jahren machte, die Bauern zu gewinnen, voll*) Dieser Begriff ist in allen slawischen Ländern sehr beliebt und in seinem Umfange klar. Eigentlich alle umfassend, die lesen und schreiben können (gramotnhe), bezeichnet er vornehmlich die liberalen Berufe (Anwälte, Arzte, Lehrer, Schriftsteller u. dgl.). Er überläht es dem Beamtentum, wieweit es sich selbst zu dieser sozialen Gruppe rechnen will, die bewußt den Fortschritt, ja den Radikalismus vertritt und überall da eine große Rolle spielt, wo eine starke Aristokratie oder Bourgeoisie noch fehlt. Das ist in Kernrußland der Fall, während in Polen und seinem fertigen sozialen Bau, ebenso wie in den Ostseeprovinzen, diese Kreise heute bereits die richtige Stelle und Bedeutung haben.
41
Die Entstehung des modernen Rußlands.
ständig scheiterte. Von einer die bestehenden Zustände ernstlich bedrohenden geistigen Bewegung ist daher erst zu reden, seitdem ein industrielles
Proletariat die Verbindung mit der Intelligenz fand.
Deshalb ist hier
zunächst wichtiger als die geistige Bewegung, die mehr Vorbereitung der
Gegenwart ist, die große Arbett der staatlichen Reformen, die sich mit dem Namen Alexanders II. verbindet).
Das System der ausschließlich auf die Zwecke des Staats eingestellten
politischen und sozialen Ordnung war schon vor Alexander II. in einem wesentlichen Zuge verändert worden.
Peter III. hatte 1762 die Dienst
pflicht des Adels, die ohne Unterschied bestand und zu einem großen Teile Voraussetzung und Bedingung seines Landbesitzes bildete,
aufgehoben.
Dieser Schritt war an sich ebenso notwendig gewesen, wie die Modifizierung
der Lehen in Westeuropa, da das auch in Rußland eingeführte moderne Heerwesen den Lehnsritterstand hier ebenso überflüssig gemacht hatte wie im
Westen. Dann aber war an dieser Stelle das Band zwischen Gesellschaft und Staat zerschnitten; der Adel besaß seitdem sein Land zu freiem Eigen
tum und hatte nur noch eine moralische Verpflichtung zum Dienst gegen den Staat, die hier freilich besonders stark weiterwirkte. Es gelang ja nicht,
wie in Preußen, im Adel ein richtiges Verhältnis zwischen dem unab hängigen Grundbesitzer und dem Offizier oder Staatsdiener herzustellen.
Der Adel bedeutete als Stand nichts mehr, auch die korporative Verfassung
Katharinas II. für ihn änderte daran nichts; an seiner Statt stand als
geschlossene Klasse der neue Beamtenstand der „Tschinowniki", in der Adel und Nichtadel ineinander aufgingen.
Die organische Ergänzung der Dienstverpflichtung des Adels war im absoluten Rußland die Abhängigkeit, die Leibeigenschaft der Bauern
gewesen, deren Aufhebung die logische Folge der Aufhebung der staatlichen Dienstpflicht für den Gutsbesitzer gewesen wäre. Gegen die Leibeigenschaft
ist seit Ende des 18. Jahrhunderts Sturm gelaufen worden; tatsächlich wurde an ihr nichts geändert, obwohl sich Katharina II. wie Alexander I. und auch Nikolai L. lebhaft damit beschäftigt haben.
Am Ende der Regierung Nikolais I. aber, der noch einmal und mit imponierender Kraft das alte Rußland verkörperte, zeigte sich, daß dieses System absoluter Staatsgewalt und unbedingter Zentralisation, das die
*) Eine auch nur.entfernt genügende deutsche Darstellung dieser Reformen fehlt völlig; russische Werke s. im Literaturverzeichnis.
IL Kapitel.
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individuelle Freiheit und die Verbindung mit Gedanken Westeuropas grundsätzlich ausschloß, nicht einmal seine Aufgaben für die politischen Zwecke erfüllte, für die es da war und in denen es seine Rechtfertigung
fand.
Diese Erkenntnis verbreitet und vor allem in den maßgebenden
Kreisen durchgesetzt zu haben, ist die große Bedeutung des Krimkrieges. Mit der Überzeugung, daß es mit diesem System nicht weitergehen könne,
weil es sich in der großen Probe des Kampfes gegen England und Frank reich nicht bewährt hatte, setzt die Einleitung zu der Geschichte des neuen
Rußlands ein. Der Grundgedanke für die Arbeit, die nun beginnen sollte, ist wenigstens in den Karsten Köpfen der Reformzeit der gewesen, die be
stehende Staatsorganisation umzubilden und dadurch zu ergänzen, daß die Kräfte der Gesellschaft zu freier Mitarbeit am Staate entbunden
würden. Dafür hatte die — immer illegale — geistige Bewegung unab hängig vom Staate auf das stärkste vorgearbeitet.
Ihre Phasen waren
gewesen: die Berührung mit den Ideen von 1789, die durch den Aufent
halt der russischen Armee auf französischem Boden gewonnen worden
war und im Aufstande der Dekabristen schon ihre Früchte getragen hatte, — der Aufschwung der schönen Literatur seit Puschkin und Ler montow —, die Arbeit der „Männer der 40er Jahre", — der geistige
Kampf der Slawophilen und „Westler". Noch einmal aber muß unter strichen werden, daß diese geistige Bewegung nur auf die oberen Schichten
beschränkt blieb, daß sie nicht revolutionierend wirken konnte, weil sie an das Volk gar nicht herankam, und weil sie auch in den gebildeten Schichten fortwährend durch Staat und Polizei gehemmt und unterbunden wurde.
Daher fehlt in Rußland eine allgemeine geistige VorbereiMng, wie sie die
Reformzeit in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorfand. Tie
Formeln für die Reformen sind im Kampf der Geister geprägt worden bis zu der letzten Konsequenz, der Forderung einer Verfassung, aber das
Werk selbst, die Durchführung der Reform, ist ausschließlich Arbeit und Verdienst des Staates, d. h. des Zaren und seiner Diener gewesen.
Das Urteil über Alexander II. lautet gemeinhin in dieser Beziehung ungünstig, weil er die Reformarbeit in der zweiten, längeren Periode seiner
Regierung aufgegeben hat. Aber trotzdem steht er am Beginn der neu
zeitlichen Geschichte Rußlands, und ist dieser Beginn sein persönlickes Verdienst.
Ein Verdienst weniger der Einsicht — denn daß es anders
Die Entstehung des Modernen Rußlands.
48
werden müsse, war allgemeine Überzeugung geworden, und wie es anders werden sollte, darüber war auch genug diskutiert und geschrieben worden —
als des Willens und der Tatkraft, die den Widerstand der konservativen
Tendenzen in der eigenen Familie, am Hofe, im Adel und Beamtentum überwanden und in sehr kurzer Zeit die Grundsteine für den Neubau legten.
Sicherlich war Alexander dabei insofern im Vorteil, als Rußland die
Vorbilder der westeuropäischen Staaten für diese Arbeit vor sich batte. Daß
diese,
insonderheit
das preußische, das
Werk der
Reform
sehr
stark beeinflußt haben, ist keine Frage, wenn es auch in der russischen
Geschichtsschreibung wenig zum Ausdmck kommt.
Und weiter konnte
Alexander sein Volk mit der ganzen traditionellen, durch nichts gehemmten
Macht des Zarentums in diese Bahnen leiten; der Widerstand, den er fand, ist dem, der sich in Preußen den Reformen entgegenstellte, nicht zu
vergleichen. Aber schon darin lag auch eine Schwäche. Alle Verantwortung legte sich auf die Schultern eines Mannes, zugleich mit der lähmenden
Frage, auf die das Zarentum bis heute keine es selbst befriedigende und be freiende Antwort gefunden hat: ob nicht diese Umbildung des eigenen Staates und Volkes in die Bahn des westeuropäischen Individualismus
und Konstitutionalismus hinein mit der grundlegenden Veränderung des
bestehenden Systems auch die Stellung der Dynastie, die innere Geschlossen
heit des Einheitsstaats und seine Stellung nach außen gefährlich erschüttere. In dem Zweifel, den diese Frage aufrührte, besonders als die Einwirkungen
des Aufstandes in Polen dazukamen, liegt schon die psychologische Er klärung dafür, warum den ersten frohen Jahren der Erwartung und
Reform so schnell die Enttäuschung unt) Kritik, die Reaktion und eine schnell immer schärfer werdende Opposition folgten. Mit der Reformgesetzgebung hat der Ukas von: 19. Februar/3. März 1861 über die Auflösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeitsver
hältnisse begonnen. Die Bauernbefreiung ist dabei in beit Bahnen ähnlicher Gesetzgebungen Westeuropas vor sich gegangen, ist aber auf halbem Wege stehen geblieben. Denn sie hat lediglich die Gebundenheit des Bauern an seinen Grundherrn aufgelöst, den sie durch vom Bauern an ihn zu ent
richtende Loskaufszahlung und Abtretung von Land entschädigte. Sie hat so, radikaler und sofort durchgreifender als in Preußen, das Band zwischen
Herrn und Bauer mit einem Male zerrissen, aber sie setzte für den Bauern
an die Stelle der Abhängigkeit von: Herrn nun die Abhängigkeit von der
44
n. Kapitel.
Gemeinde. Denn sie hat nicht die Gebundenheit des Bauern an diese, an die agrarische Zwangsgemeinschast des Mir, und an seine Großfamilie beseitigt, und hat damit eine Quelle größter Mißstände und sozialer Krankheiten er
halten.
Diese zweite notwendige Hälfte der Bauernbefreiungsgesetzgebung
hat dämm erst unter dem Dmcke der Revolution in der Gegenwart nach geholt werden müssen. Aber trotz dieses schweren Fehlers wurde mit der
Reform ein gewaltiger Schritt vorwärts getan.
Es ist die größte soziale
Bewegung seit der französischen Revolution und eine Bewegung, die ohne Bürgerkrieg, nur durch die Tatkraft eines einsichtigen Autokraten durchgeführt worden ist.
Mit ihr erst konnte der Kapitalismus ein
dringen, durch sie erst die im Lande noch fast völlig fchlende Bourgeosie entstehen, wie sie auch die Entwicklung eines ländlichen Proletariats nicht nur nicht verhindert, sondem sogar gefördert hat.
Die Bauern
befreiung bedeutete noch keine unbedingte Mobilisierung des Eigentums am Land und ebenso nicht der freien Arbeit, die Voraussetzung des modernen Industrialismus und Kapitalismus ist. Aber ein weiter Schritt
in dieser Richwng wurde getan, der Grund zu einer kapitalistischen Volks wirtschaft gelegt, deren von vomherein noch zwiespältiger Charakter freilich
damit gleich gegeben war.
Die Bauembefreiung hat maßgebend auch auf die Lage des Adels eingewirkt, der ebensowenig wie das Bauerntum auf diesen jähen Über
gang in die kapitalistische Wirtschaft vorbereitet war. Denn er wurde mit einem Male auf die Basis freier Arbeit gestellt und vom Getreideexport ins
Ausland abhängig gemacht. Es ist dämm nicht verwunderlich, daß dieser ganz unvermittelte Umschwung nicht nur vom Bauernstande, sondern auch
vom Adel teuer bezahlt werden mußte.
Der nächste Schritt war die Reform der Justiz (2. Dez. 1864). Man
schuf die Organisation der Gerichtsbehörden und die Zivilprozeßordnung, die in der Hauptsache heute noch gelten, und wollte bewußt die europäische
Form dieser Ordnungen auf russischen Boden übertragen.
Das war
nach zwei Richtungen von epochaler Bedeutung. Die Trennung der Justiz
von der Verwaltung löste die Rechtsbeziehungen aus der bisherigen Ver
quickung mit der Verwaltung heraus und vermochte die Rechtsprechung selbst im Sinne einer für alle gleichen und unbestechlich richtenden Justiz
zu modernisieren.
Dieser große Fortschritt konnte selbstverständlich nicht
in kurzer Zeit praküsch werden. Denn auch der Richterstand trug dieselben
Die Entstehung des modernen Rußlands.
45
Züge an sich wie das ganze Beamtentum, und fomtte, aus denselben Wurzeln wie dieses erwachsen und nachdem er sich ebenso als eine vom
Zaren abhängige, ihr Amt als Nährquelle ausnutzende Beamtenklasse wie
alle anderen betätigt hatte, nicht in wenigen Jahren zu einer gebildeten und unbestechlichen „Noblesse de Robe" werden. Hier mußte die Wirkung der Zeit abgewartet werden, wenn nur der Wille des Staates, die Reform weiterzuführen, ununterbrochen derselbe blieb. Bedenklicher war es, daß auch hier die Arbeit, entsprechend der
Bauernbefreiung, auf halbem Wege stehen blieb.
Indem man die Dorf
gemeindeverfassung nicht auflöste, beseitigte man auch nicht ihre Gerichts
autonomie und die ständige Absonderung der Bauern vom übrigen Volke. Es beeinträchtigt den
sozial-geschichtlichen
Wert der
Rechts-Reformen
Alexanders H. und daher ihre Bedeutung für die Neugestaltung Rußlands
außerordentlich, daß sie sich in der Gerichtsorganisation nur auf die nicht bäuerliche Minderheit des Volkes beschränkten und für die bäuerliche Mehrheit nur Polizei- und Kontrollmaßregeln brachten. Infolgedessen ist jener Fortschritt nur der Minorität zugute gekommen und stand die Gegen
wart, die unter dem Drucke der Revolution das gleichfalls nachholen sollte, nicht nur vor der Aufgabe, die bäuerliche Mehrheit des Volkes auch hier mit
dem übrigen Volksteil zu verbinden und die Rechtsprechung für sie zu modernisieren, sondern für sie überhaupt erst ein bürgerliches Recht zu
schaffen. Von größter Wichtigkeit aber war, daß dieses Justizreformgesetz für
alle Gebiete, in denen die neuen Gerichtsordnungen eingeführt wurden, die
Kabinettsjustiz gmndsätzlich aufhob: der absolute Zar band sich freiwillig,
indem er der unmittelbaren Ausübung der richterlichen Gewalt entsagte. Freilich ist die Unabsetzbarkeit der Richter als unumgängliche Voraus
setzung einer unabhängigen Justiz später nicht gewahrt worden. Daß ferner die Amtsverbrechen vom Geschworenengericht eximiert und politische Ver
brechen Sondergerichtshöfen ohne Geschworene zugewiesen waren, minderte
den Wert dieser Reform herab und ließ bis zur Gegenwart der Verwaltung
nach wie vor einen großen Einfluß auf die Rechtsprechung. Aber der grundsätzliche Fortschritt war groß und er führte naturgemäß die Reformwünsche
weiter zu der Idee, das so in seiner rechtlichen Existenz sichergestellte Boll nun auch unmittelbar an der Bestimmung der Geschicke des Staates
zu beteiligen.
11. Kapitel.
46
Daß der Gedanke einer Verfassung in diesen Jahren von vorn herein gehegt wurde, lag zu sehr im Gange der Reform, und dafür sonnte auch an freilich vergessene Erinnerungen der Vergangenheit ange
knüpft werden. Vorher aber faßte Alexander die Frage von einer anderen Seite an.
Man konnte das Volk, die Gesellschaft zur Mitarbeit an den
Aufgaben des Staates heranziehen entweder in einer Verfassung, durch
Parlament und
Wahlrecht, oder durch die
Verwaltung, durch
eine
Organisierung der Gesellschaftsgruppen und Übertragung staatlicher Ver
waltungsausgaben an sie.
Der letztere Gedanke mußte im russischen Staate
naheliegen, wo die Gesellschaft schon vollständig durch den Staat organisiert worden war. Katharina II. hatte im Jahre 1785 eine Städteordnung
verliehen und 1775 die Organisation des Adels geschaffen, die heute noch besteht, die zunächst nur für die Standesinteressen des Adels bestimmt,
organisch mit der Staatsgewalt verbunden ist: an der GouvernementsverwalMng und ihren Untergliedern hat der Adel sehr starken Anteil und
Einfluß. Für die bäuerliche Welt bestand schließlich seit alters die Auto
nomie der Dorfgemeinde, die nach unten und im Innern ihre Angelegen heiten in staunenswerter Selbständigkeit ordnete. So war der Gedanke der Selbstverwaltung im Zusammenhang der alexandrinischen Reformen nicht so revolutionär und neu, wie er zuerst
erschien. Für die weitere Ausbildung aber fand der Zar innerhalb seines Reiches, in den Ostseeprovinzen, ein trefflich arbeitendes Vorbild, das schon
für die Bestrebungen Katharinas auf diesem Gebiete benutzt worden ist.
Denn wenn auch für die 1864 begründete Landschaftsorganisation (die sog. Semstwos) wohl die preußischen Einrichtungen mit als Anregung benutzt wurden, so hat doch namentlich die ritterschaftliche Selbstverwaltung der deutsch regierten baltischen Provinzen als Vorbild gedient. Jedenfalls führte
das Gesetz vom 13. Januar 1864 in den „Semstwos"^) eine Organisation
der SelbstverwalMng ein, die von beinahe gleicher Bedeutung werden
konnte, wie die Befreiung der Bauern. Ausgesprochenermaßen war die
Absicht, wie es in der Denkschrift zum Entwurf heißt, „nach Möglichkeit die volle und folgerichtige Entwicklung des Prinzips der lokalen Selbst
verwaltung". Mit diesen Kreis- und Gouvernementssemstwos, mit ihren
Kreis- und Gouvernementsämtern (Uprawa) wurde ein Element in den *) Das Wort wird Wohl am besten mit Landschaft wiedergegeben.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
47
russischen Staatskörper eingeführt, das der preußischen Selbstverwaltung durchaus entspricht, und oberflächlich ist das Semstwo in Kreis und Gou-
vernement damit charakterisiert, wenn nlan sich seine Tätigkeit, wie die von Kreistag und Kreisausschuß, von Provinziallandtag und Provinzialausschuß in Preußen vorstellig.
Damit und mit der neuen Städteordnung von 1870, die den Ge danken kommunaler Selbstverwaltung in weitem Ausmaß verwirklichte, trat nun aber doch ein neues Prinzip in das Staatsleben ein. Rußland hatte jetzt die Möglichkeit, die aktiven Kräfte eines Liberalismus, der durch
die geistige Bewegung entstanden war, in der Selbswerwaltung zu wirklich konstitutionellem
Denken, zum
Gefühl staatsmännischer
Verantwort
lichkeit zu erziehen. Wer die Reihe der politischen Führer in der Gegenwart überblickt, sieht auch, wie segensreich diese Semstwoeinrichtung geworden
wäre, wenn man sie sich ungestört hätte betätigen lassen. Man ist in und
außerhalb Rußlands im Urteil über diese Reform geneigt, die Leistungen der Semstwos entweder zu überschätzen oder sie zu gering zu bewerten.
Wo sie auf dem Gebiete der Volkswohlfahrt und des Schulwesens etwas leisten konnten, haben sie ungemein segensreich gewirkt. Daß sie öfter ver
sucht haben, ihre — nicht Kar bezeichneten — Grenzen zu überschreiten, und daß ihre Finanzwirtschaft nicht überall musterhaft war, ist gleichfalls
richtig.
Aber ohne Zweifel sind die Elemente, die die Entwicklung
Rußlands ruhig und organisch weiterführen wollen und ein Augenmaß für das politisch Mögliche haben, beinahe durchgängig aus der Schule der Semstwoverwaltung
gekommen.
Wenn
trotzdem aus
dieser Reform
nicht die Voraussetzung für ein gesundes konstitutionelles Leben, die daraus hätte entstehen können, geworden ist, so lag die Schuld zunächst daran, daß
man die nötige verwalMngsrechtliche Lösung, die Teilung der Gewalten
zwischen Staats- und Selbstverwaltungsbehörden, nicht gefunden und so
den Konflikt zwischen Selbstverwaltung und Staatsverwaltung, in dem die Bureaukratie natürlich im Vorteil war, verewigt hat. Später wurde der Charakter des SelbstverwalMngsorgans im Semstwo auch bewußt und durch gesetzgeberische Maßregeln immer mehr eingeengt und auf die
Stufe eines staatlichen Beratungsorgans heruntergedrückt. Auch hier blieb
die Reform stehen, gewissermaßen am zweiten Drittel ihres Weges, der l) Näheres s. Kap. VII.
48
II. Kapitel.
dann ein ganzes Teil wieder zurückgegongen wurde. Dadurch wurde die
Bedeutung der Einrichtung für die Zukunft gelähmt und die Elemente der Gesellschaft, die dafür in Frage kamen, in den Radikalismus herein
getrieben. Bei seiner Begründung wurde das Semstwo vor allem deshalb mit
großer Begeisterung ausgenommen, weil es Anfang und Voraussetzung für eine Konstitution zu sein schien, wie auch der Moskauer Adel gleich damals bat, das ganze Werk durch die Bemfung einer allgemeinen Versammlung
von „aus dem russischen Volk gewählten Leuten" zu krönen. Es kamen da Vergangenheit und Gegenwart merkwürdig zusammen.
Obwohl die
Reichstage (semskie Sobory) der Moskauer Zeit seit Mitte des 17. Jahr hunderts verschwunden waren*), lebte die Erinnerung daran, daß selbst
in diesem Lande eines schrankenlosen Absolutismus früher auch das Volk in seiner damaligen ständischen Gliederung an den Aufgaben des Staates
mitgewirkt hatte, noch fort, wie sie auch 1904 sofort wieder neu belebt worden ist. Andererseits lag, wenn einmal das Zarentum gewisse Gebiete
der staatlichen Verwaltung an die Selbstverwaltung abgab, der Gedanke nahe genug, die Organisation der Semstwos durch ein Reichssemstwo
abzuschließen. Wollte man eine Rechtfertigung dafür auch aus der Geschichte der Romanows selbst, so lagen die Verfassungsentwürfe vor, die Speranski
1809 und Nowossilzow zwischen 1819 und 1821 für Alexander I. gemacht
haben. Aber Alexander II. konnte sich zu diesem letzten Schritt nicht ent schließen. Er hat auch nicht das Gefühl gehabt, daß er gerade mit seinen Reformen Kräfte entfesselte, die zu diesem Abschluß drängen mußten, und
daß es staatsklug gewesen wäre, die Entwicklung selbst fest in die Hand zu
nehmen und weiterzuführen. Besonders unter dem Eindrücke der Atten tate auf ihn — das erste, von dem die Schwenkung des Zaren datiert, ist
das Karakosows am 15. April 1866 gewesen — hat Alexander diese Ver fassungspläne bis kurz vor seinem Ende liegen gelassen. Es liegt eine un
geheure Tragik nicht nur für Alexander als Menschen, sondern für die Ge
schichte des neuzeitlichen Rußlands überhaupt darin, daß, als Alexander II.
am 13. März 1881 von dem tödlichen Bombenwürfe getroffen wurde, wenigstens der Ansatz zu einer Verfassung in seinem Kabinett unter schrieben vorlag: die sogenannte Konstitution des Grafen Loris-Melikow").
*) Die Einrichtung ist in Europa ganz unbekannt geblieben. 2) Seit 18. August 1880 Minister des Innern.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
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Sie hätte zunächst die Wünsche der konstitutionellen Semstwomänner
wenigstens
einigermaßen
befriedigt,
indem
sie
eine
Kommission
aus
Semstwo- und Städtevertretern und ernannten (auch Regierungs-)Mitgliedern zur Ausarbeitung dringender Gesetze, also eine , Art von Volks
vertretung in Aussicht nahm. Wie anders wäre die Entwicklung Rußlands verlaufen, wenn das Reformwerk der sechziger Jahre früh genug in dieser Weise gekrönt worden wäre! —
Es war schließlich noch nach zwei Richtungen ergänzt wordm. Zu
nächst mußte die beginnmde Befreiung des Individuums von einer um fassenden Reform des Unterrichtswesens begleitet sein. Freilich haben das
UniversitätsstaMt von 1863 und die neue Ordnung für die Mittelschulen
bei weitem nicht das getan, was geschehen mußte, und die Reaktion hat nicht einmal diese Keime zur Entwicklung kommen lassen. Vor allem auf dem
Gebiete des Volksschulwesens geschah zu wenig, reichte, was geschah, nicht
entfernt an das Notwendige heran; dem Gedanken der allgemeinen Schul pflicht, der so eng mit diesen Reformideen zusammenhing, blieb man ganz fern.
Was wirklich geschah, geschah durch die Semstwos; sonst blieb die
ungeheure Arbeit auf diesem Gebiete vollständig dem Rußland seit 1904 überlassen. Diesen Überblick schließt die Armeereform sinngemäß ab. Das Gesetz
von 1874, das Werk Dmitri Miljutins (f 1912), führte die allgemeine Wehrpflicht ein und setzte die aktive Dienstzeit, die ursprünglich volle 25
Jahre gedauert hatte, aber schon früher auf 12 und 10 Jahre herabgesetzt worden war, auf 5 fest. Bei der Lage des Volksbildungswesens bedeutete der
Dienst in der Armee, durch den nun jeder gehen mußte und der freilich
in diesem am Anfang des Kapitalismus stehenden Lande die jungen männ
lichen Kräfte 5 Jahre der Erwerbszeit fern hielt, einen wichtigen Teil der Erziehung; für die Europäisierung des Bauern ist die allgemeine Wehr
pflicht fast wichtiger geworden als alle anderen Reformen zusammen.
So ist ein gewaltiges Stück Arbeit in den wenigen Jahren von 1861 bis 1864 geleistet worden, in denen sich der Gedanke einer Umgestaltung
Rußlands frei entfalten konnte. Wenn auch die Sympathien der Bureau kratie rasch erschöpft waren und sich eine erfolgreiche Reaktion aus Hof,
Adel und Beamtenschaft gegen jede Reform bald sammelte, so war doch eine soziale Entwicklung durch die Autokratie begonnen worden, über deren
Bedeutung sich diese selbst kaum klar war. Hoetzsch, Rußland.
Halbheft und Mangel an 4
50
II. Kapitel.
Konsequenz werden mit Recht den Reformm Alexanders II. vorgeworfen,
aber ohne sie wäre Rußland entweder in völlige Stagnation versunken
oder durch eine Revolution erschüttert worden, gegen die die Bewegung der Gegenwart ein Kinderspiel gewesen wäre.
n. Die geistigen Voraussetzungen der Revolution bis z« Mexander II. Aller geistigen Vorbereitung zur Revolutton hat der Absolutismus des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Voraussetzung immer unterbunden: die Freiheit nicht nur der Organisation, sondern auch die der legalen
Rede und Erörtemng. Daher die beiden Charakterzüge der geistigen Be wegung im 19. Jahrhundert: sie vollzieht sich illegal, oft geheim und revolutionär, verschleiert häufig durch die Formen der schönen Literatur,
die dadurch einen ganz tendenziösen Charakter erhält.
Und sie geht, im
engsten Zusammenhang zwischen Philosophie, LiteraMr, Religion und Politik, ohne zureichende erkenntnistheoretische Gmndlegung und mit großer Vorliebe für ethische Fragen, fast ausnahmslos die Bahnen völlig ab strakten, extrem-doktrinären Denkens, in einer Intelligenz, von der man
treffend gesagt hat, daß der russische Bauer ihr Vater und Frankreich ihre
Mutter sei, für die besonders das geistreiche Wort eines Russen gilt: „Vielleicht liegt es an der Kraft des jungfräulichen russischen Bodens, daß
jegliches darauffallende Samenkom sich bis zu den äußersten Grenzm der
Möglichkeit auswächst."
Im 19. Jahrhundert sind als vorbereitend für die Revolutton und zugleich politisch-parteibildend zu unterscheiden: die geheimen Gesellschaften
und die Dekabristen unter Mexander I., — die literarische Bewegung der 40er Jahre •—, die Slawophilen und die sog. Westler, — Nihilisten und
Sozialrevolutionäre —, die Richtungen unter Nikolai II. bis 19041). Zwischen den ersten vier zusammen und der fünften besteht der grund
sätzliche Unterschied, daß jene nur Bewegungen der Intelligenz sind, obwohl der Nihilismus versucht hat, die Bauern, und die Sozialrevolutionäre sich
*) Der Raum gestattet nicht die Angabe von vielen Zahlen und Titeln; dafür sei auf die im Literaturanhang zitierten Werke von Kropotkin, Masarhk und Wolkonski verwiesen.
Die Entstehung des niodernen Rußlands.
51
bemüht haben, die Arbeiter mobil zu machen. Aber erst in der Gegenwart
erhalten diese geistigen Strömungen ein breiteres und tieferes Bett, indem erste
Streiks^),
die
Anfänge
sozialdemokratischer
Parteibildung,
Be
rührungen zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft, politische Gärungen
im Bauemstande entstehen. Alles das fehlte den älteren Richtungen, deren große Bedeutung in ihrem Einfluß auf die Geister, auf das Denken der
Führer liegt und deren Gedanken alle noch in der geistigen Struktur des politischen Russen der Gegenwart nachleben.
Wenn man von den Freimaurerbünden unter Katharina II. ab sieht, ist der wesentlichste Anstoß für die Entwicklung der politischen Ideen der schon erwähnte Aufenthalt der russischen Armee aus französischem
Boden während der Befreiungskriege gewesen.
Er brachte das Offizier
korps in Berührung mit den Ideen von 1789, überhaupt mit der euro
päischen Gedankenwelt, und führte in ihm und den ihm nahestehenden
Kreisen zu einer Revision der herrschenden Anschauungen, die bald über diese Hinaustrieb. den
sie
alle in
Gleich diese erste Bewegung zeigt den typischen Gang, Rußland seitdem
eingeschlagen
haben:' man nimmt
neue — philosophische, politische, volkswirtschaftliche — Ideen rasch an und
läßt aus ihnen ein Streben gleich nach den äußersten Reformen erwachsen,
das an den bestehenden Gewalten scheitert und erstaunlich schnell erst theoretisch, dann praktisch zu Gedanken an gewaltsamen Umsturz führt.
Die Anhänger dieser Offizierbewegung sind die Träger der ersten großen politischen Reformbewegung in Rußland. Sie haben die Grundsätze
einer Verfassung diskutiert und erscheinen mit ihren Grundforderungen als
erster Ansatz zu einer politischen liberalen Partei.
Freilich ergab sich der
Widerstreit zweier Richtungen unter ihnen aus der Lage der russischen
Verhältnisse schon von selbst.
Den einen, Pestel an der Spitze, lag die
gewaltsame Durchsetzung ihrer Wünsche näher, während die anderen ihre
Ziele und Wege mehr auf der Seite der Reform suchten: Nikolai Turgenjew
kann als ihr Typus gelten, der sich auf der Universität Göttingen und im Verkehr mit dem Freiherrn vom Stein seine tiefgreifenden Reform
gedanken über Steuer- und Zollwesen und namentlich über die Bauern
befreiung schuf. Die Richtung Pestels überwog: im Dezember 1825 brach *) 1896 der berühmte erste Versuch eines gewerkschaftlichm Massenkampfes in Petersburg.
H. Kupilci.
52
die als Dekabristenverschwörung bekannte Militärrevolte aus, für die der Boden in Geheimgesellschaften vorbereitet wordm war. Parallel mit ihnen
und sie stützend ging die allgemeine Opposition am Hof und in der Gesell schaft, die sich, da eine andere Form politischer Meinungsäußerung un
möglich war, der schönen Literatur bediente.
Puschkins und Rylejews
Verse, Gribojedows berühmte Komödie „Verstand bringt Leiden" geben diese Stimmung wieder. Ihre von nun an typischen Elemente: oppositio
nelle Literatur und politische Verschwörung, der alte absolutistische Druck
und die schärfste Ablehnung des Staates durch eine Gesellschaft, die doch noch ganz in seinen Dienst gepreßt war, geben dem Staatsleben des 19.
Jahrhunderts das Dumpfe und Ungesunde und entsittlichen in ihrem
Gegensatz sowohl die Träger der alten Ordnung wie die Verfechter der Umgestaltung. Ohne Mühe wurde der Dekabristenaufstand niedergeworfen. Es be gann das 30jährige Regiment Nikolais I., das die Beherrschung der Ge müter durch den Absolutismus bis in die äußersten Konsequenzen durch
geführt hat. Die fortarbeitende Umbildung der Geister in Opposition und
Negation hat es gleichwohl nicht aufhalten können. Jetzi erst gewinnt die Belletristik ihre ungeheure Bedeutung für die politischen und sozialen Betvegungen. Der Druck der Zmsur führte dabei zu höchster Ausbildung der Geschicklichkeit, den Leser in einer nur andeutenden oder doppelsinnigen
Ausdrucksweise das „zwischen den Zeilen lesen zu lassen", wie man es technisch nannte, was man aus Angst vor der Polizei offen nicht sagen
konnte. Kunst und Dichtung galten als mächtigste soziale Hebel, — diese Anschauung hat am schärfsten und erfolgreichsten der Schöpfer der litera-
risch-publizistischen Kritik, Rußlands größter Kritiker, W. G. Bjelinski (1811—1848) vertreten. „Es erschien nicht seltsam, ein Schauspiel für die
Verteidigung des Freihandels oder ein Gedicht zum Lobe einer gewissen Art von Steuern zu schreiben, noch daß man in einer Erzählung seine
staatlichen Ansichten darlegte, während der Gegner in einem Lustspiele dagegen stritt." Darum kann man die Phasen des politischen und sozialen
Denkens leicht an den Männerthpen und Helden der großen Dichter ver folgens: Puschkins Eugen Onjegin, Lermontows Petschorin, Gontscharows *) Am wichtigsten sind Turgenjews Romane, in der Reihenfolge, wie sie der
Dichter selbst gelesen wünscht: Dmitri Rudin (1855), Das Adelsnest (1859), Am
Vorabend (1860), Väter und Söhne (1862), Dunst (1867), Neuland (1876).
Die Entstehung des modernen Rußlands.
53
Oblomow, Herzens Beltow, Turgenjews Basarow, desselben Neschdanow
und Solomin (in „Neulands, Dostojewskis Stawrogin (in den „Dä
monen^ und die Tolstoischen Gestalten. Nimmt man dazu noch ein Meister werk der so wichtigen Satire, Gogols Werke oder Saltykow-Schtschedrins „Herren Golowlew", dann Aksakows und Chomjakows Schriften, Katkows Lebenswerk und Bjelinskis Kritik, dann ist mit diesen Werken der schönen
Literatur schon fast der ganze politisch-soziale Gedankenkreis beschrieben, der bis an die Schwelle der Gegenwart geherrscht hat. Was klingt darin immer wieder? Die Opposition gegen den Staat, in dem man lebt, die ^Begeisterung für die Freiheit und die Ideale des
Liberalismus, später des Sozialismus, der Drang nach Reformen auf allen Gebieten, der Kampf um die Weltanschauung und die Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des Westens, die Gefühle der Enttäuschung,
des Verzagens, der Resignation, des Pessimismus, des Weltschmerzes und der Weltverachtung, bis zur wildesten Verzweiflung an sich und an der Zukunft, religiös-mystische, manchmal an den Wahnsinn streifende
Verzückung, unendlich viel Reflexion und Zerfaserung des eigenen Fühlens und Denkens, unendlich wenig Wollen. Dabei bleibt bei allen, auch bei den Sozialisten, die Grundlage ein starker Glaube an das eigene Volk, eine rührende Vaterlandsliebe, die, manchmal phantastisch-religiös ge
steigert, zu seltsam grotesker Überschätzung der Bedeutung und Rolle Rußlands im Weltgeschehen führt.
Es ist eine ungemein reiche geistige
Welt, zu einem großen Teile nicht gesund und ohne reale Fundamente,
oft ohne geistige Disziplin, nur verständlich im Zusammenhang mit ihrer politisch-sozialen Umgebung, auf die sie unbedingt wirken will, aber nur
sehr gehindert wirken kann. Schon vor 1840 waren die Körner gesät worden, aus denen die über haupt wichtigste gedankliche Weiterentwicklung aufging.
An der Uni
versität Moskau hatte sich damals ein Kreis zusammen gefunden, dem nach und nach angehörten: Aksakow, Chomjakow, Katkow, Bjelinski, Bakunin, Herzen und Ogarjew. Das sind vornehmlich die „Männer der vierziger Jahre", deren geistiges Schaffen für das Wissen Westeuropas
von Rußland noch längst nicht ausgeschöpst ist, Männer von Generationen dauernder Wirkung auf das geistige Leben ihres Vaterlandes, seine eigentlich
selbständigen Denker, und daher die Führer aller kommenden geistigen Richtungen, die die Zeit Alexander II. erfüllen: Slawophilen, Panflawisten,
II. Kapitel.
54
Liberale, Sozialisten, Anarchisten.
Sie stehen unter dem stärksten Ein
flüsse des Auslandes, vor allem der deutschen Philosophie, demnächst der Naturwissenschaft und des Sozialismus von Marx und Engels, sie regten die Schwingen besonders, als mit Alexander II. eine neue und freiere Zeit
beginnen wollte. Bis 1863 hin gehen diese Jahre der Erwartung, die langsam trotz
aller Reformen zur Enttäuschung wird. In ihnen bildet sich der durch die Dekabristen und „Männer der vierziger Jahre" begründete Liberalismus
zu einem demokratischen Radikalismus um, der sozialistisch angehaucht
ist und auch schon Verbindungen mit revolutionären Gedanken des Aus landes, Mazzinis, Garibaldis u. a. findet.
Er trat in Widerspruch gegen
den aristokratischen Snobismus, der seinen typischen, schlagwortmäßigen Ausdruck in Gontscharows 1858 erschienenem „Oblomow" hatte.
Im
leidenschaftlichen Kampf gegen dies Oblomowtum, das überall ins Leere führte und jegliches Wollen lähmte, wird der Liberalismus radikaler, aktiver, befaßt er sich entschlossener mit konstitutionellen und volkswirtschaft
lichen Gedanken. Das ist im ganzen die Geistesrichtung der sog. „Westler", so genannt, weil sie die Übertragung der politischen und sozialen Vor
stellungen des Westens auf Rußland sans phrase fordern, dabei ohne weiteres annehmend, daß die russische Entwicklung nur zeitlich hinter der
Westeuropas zurück sei, aber der Art nach dieselben Bahnen gehe, gehen müsse, solle Rußland überhaupt aus Mittelalter und asiatischer Gebunden
heit emporsteigen.
Diese „Westler" der vierziger, fünfziger und ersten
sechziger Jahre — N. Turgenjew, Bjelinski, Stankewitsch, Granowski,
Tschitscherin, zuletzt der Dichter Iwan Turgenjew — sind in Welt- und Staatsanschauung die geistigen Väter der heutigen „Kadetten". Noch nicht von ihnen scharf zu trennen war im Anfang die slawophile
und die Richmng Alexander Herzens. Die Begründer der Slawophilie sind
Kirjejewski, ihr stärkster philosophischer Kopf, Aksakow und Chomjakow; Juri Samarin, Katkow, Dostojewski führen sie weiter. Sie wurzelt in der Romantik, entstand unter Nikolai I. aus der Reaktion gegen die geistige
Vorherrschaft Europas über Rußland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und arbeitete, obwohl immer aufs stärkste westlich gebildet und beeinflußt,
mit Liebe die nationale und religiöse Sonderart des Slawentums und dcs
Russentums, beide Begriffe oft und besonders im Anfänge zusammen werfend, heraus. Deshalb betonte sie den grundlegenden Unterschied zweür
Die Entstehung des modernen Rußlands.
55
wesensverschiedener Kulturentwicklungen zwischen dem alten „heiligen"
Rußland und dem „faulenden" Westen, glorifizierte das Prinzip der Theokratie und Autokratie, verherrlichte Mir und Artjel als die nationalen Organisationsformen der Volkswirtschaft und gab der Vaterlandsliebe eine
besondere anspruchsvolle Nüance im Sinne etwa des Kawelinschen Wortes: „Wir sind das Volk der Zukunft. Nicht umsonst ist Jwanuschka der Narr
der Lieblingsheld der großrussischen Märchen. In der europäischen Völker
familie sind wir Jwanuschka der Narr, aber denken wir daran, es wird
eine Zeit kommen, wo dieser Narr seine klugen Brüder überlisten wird." Oder tiefer und mystischer in dem messianischen Glauben des durchaus slawophilen Dostojewski, daß der Westen krank sei und am russischen Wesen
die Welt genesen solle. Auf diesem Boden erwuchsen später, nach 1863, nach der Niederwerfung des polnischen Aufstandes, die praktischen Forde rungen des aggressiven Nationalismus, d. h. die Russifizierung, dann, be
sonders in den 70er Jahren, der politische Panslawismus und die Forde rung auch des wirtschaftlichen Abschlusses nach außen, der wirtschaftlichen
Autarkie, die sich
in
entschiedener
Schutzzollpolitik
ausdrückte.
Das
Reaktionäre, das allem Konstitutionalismus und aller Reform Feindliche lag jedoch nicht von vornherein in dieser Gedankenwelt.
Selbst Katkow
(1820—1887), der später zum extremen Führer der konservativen Richtung wurde, der größte, wenn auch nicht charaktervollste Publizist, den Rußland hervorgebracht hat, hat konstitutionelle Gedanken erörtert.
Und 'wenn
manche Slawophilen gegen eine Konstitution waren, so waren doch alle für die Emanzipation der Bauern.
Liberal war zuerst auch der Grundcharakter der Anschauung und
Tätigkeit Alexander Herzens (1812—1870), dessen, auch vom Zaren
gelesene, Zeitschrift „Kolokol" (Glocke) seit 1857, obwohl verboten, die öffentliche Meinung Rußlands jahrelang verkörperte, mindestens beherrschte. Ihm lag zunächst die Bauernbefreiung im Sinn; er ist nicht von vornherein
antizarisch
gewesen.
Aber er wurde bald
philosophisch wie politisch
radikaler, als ihm die Reformen nicht schnell genug gingen und durch
den Einfluß des viel mehr der kommunistisch-anarchistischen Bewegung
Westeuropas als der geistigen Bewegung Rußlands angehörendm Bakunin
(1814—1876). Wie schnell die Stimmung umschlug, zeigt schon 5 Jahre nach ter Thronbesteigung Alexanders IL eine Stelle aus Tschernhschewskis
offenem Brief an Herzen vom 1. März 1860: „Nur das Beil und nichts
56
H Kapitel.
/
anderes kann Rußland helfen. Deshalb soll die Glocke nicht zur Messe, sondern zum Sturm läuten." Wenn diese Ansicht so rasch um sich griff, so war daran nicht nur schuld,
daß die Ungeduld und die Neigung für das Extreme in Rußland besonders
groß war, sondern auch, daß sich die Regierung zu einer Gewährung der geistigen Freihest nicht entschließen konnte.
Namentlich wirkte die den
Universitäten gegenüber befolgte Politik aufreizend, geradezu revolutio nierend.
Auf den Universitäten mit ihren polizeilichen Beschränkungen
des akademischen Lebens, mit ihrem Proletariat, mit der zum Abstrakten
und zur Überschätzung des Wissens neigenden geistigen Disposition ihrer Schüler und auch ihrer Lehrer wurde darum der Boden für die den Libera lismus vornehmlich*) ablösende, übertrumpfende Stimmung des Nihilis
mus Bereitet.
Begriff und Name des Nihilismus stammen bekanntlich von Iwan Turgenjew, der ihn in „Väter und Söhne" so meisterhaft geschildert hat,
daß man sein Porträt der Wirllichkeit in Rußland als Zerrbild empfand.
Gegen den übernommenen Despotismus aller Art, so definiert der Anarchist
Kropotkin (1842 geb.) den Nihilismus, konnte „nur eine starke gesellschaft liche Bewegung, die der Wurzel des Übels selbst einen Schlag versetzt
hätte, alles umbilden.
Und in Rußland nahm diese Bewegung, der
Kampf für die Jndividualstät, einen noch stärkeren Charakter an und wurde noch schonungsloser in ihrer Negation, als irgendwo anders".
Darum ist dieser Nihilismus keineswegs von vornherein Terrorismus und Anarchismus, er ist dem Sozialismus innerlich gerade entgegengesetzt, indem er einen ins äußerste Extrem getriebenen Individualismus und Sub
jektivismus darstellt, der erst allmählich als geistige Struktur der mit den
alexandrinischen Reformen eingeleiteten neuen Zeit entstehen und sich durch kämpfen mußte und in diesen Anfängen allen Halt verlor, weil jede
rechtliche und sittliche, politische und soziale Norm ins Wanken gekommen war. Erst durch den Dmck von oben und außen ist diese geistige Strö mung in die „Propaganda der Tat", durch die sie dem Frühsozialismus nur ähnlich, aber nicht gleich wurde, gedrängt worden: fest 1868 wurde sie populäre Propaganda, seit 1877 zum Terrorismus. *) Zum kleineren Teile ging er, wie nachher zu zeigen ist, direkt zum Sozialismus über; dieser Übergang stellt sich am besten in der Erscheinung
Tschernhschewskis dar.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
57
So lassen sich in den Anfängen Alexanders II. diese Ansätze zu politischer Parteiung unterscheiden: der gemäßigt liberale Adel — die liberal-radikale Schicht der Intelligenz, die schon ins Sozialistische einlenkte,
— der Nihilismus der noch Jüngeren, der zuerst mehr mit dem Wort als mit der Tat revolutionär war, — die Slawophilie als Ansatz einer konservativen Partei. Für das weitere waren entscheidend) der polnische Aufstand 1863 und dann das Attentat Karakosows' auf
Alexander II., Erfahrungen, die dem Zaren zeigten, wie weit die radikale Stimmung schon ins Revoluüonäre ging. Der namentlich in Herzen und Bakunin zutage tretende Zusammenhang mit den revolutionären Ten
denzen Westeuropas verstärkte den Eindruck, daß man mit den Reformen Geister gerufen habe, die man vielleicht nicht mehr bändigen konnte.
So trat seit 1866 em voller Rückschlag in der Politik Alexanders ein, der Zartum und liberale Ideen von nun an unversöhnbar trennte. Die Geister schieden sich: Herzens Stellung in der öffentlichen Meinung, die seine dem Polenaufstand freundliche Haltung vernichtet hatte, nahm Katkow (in den „Moskauer Nachrichten") als Wortführer eines auf der
Slawophilie sich aufbauenden Nationalismus ein, und auf der anderen Seite ging Bakunin ganz zum internationalen Sozialismus über.
Schon seit 1862 arbeiteten auf der geistigen Gmndlage des Nihilismus
geheime Gesellschaften mit der Parole: Land und Freiheit (Semlja i Wolja) gegen die Regierung. Durch die Strafverschickungen ihrer Anhänger in kleine Städte gab die Regierung dieser Bewegung.ungewollt selbst eine Ver
breitung über die Zentren hinaus auf das Land. Allmählich, von 1869 bss 1872, dringt nun neben dem Nihilismus der Sozialismus ein.
Noch nicht im Marxschen Sinne sozialistisch waren die „Historischen Briefe", die Peter Lawrow 1868/69, gerade in bemerkenswertem Gegensatz
zu Karl Marx, schrieb: noch erscheinen Schule und Genossenschaft, Bildung und Artjel als die Rezepte zur Heilung der sozialen Krankheiten Rußlands.
Aber schon war die Tätigkeit Bakunins und noch mehr die Netschajews
(seit 1869) rein revoluüonär, auf gewaltsamen Umsturz gerichtet, und bildete sie den Nihilismus völlig um. Bon 1872 bis 1875 wird die Pro paganda immer sozialistischer, bis 1878 wird daraus eine revolutionäre Agitation und ihre Durchsetzung durch den Terror. Nachdem schon 1862
das kommunistische Manifest ms russische übersetzt wordm war, folgte seit 1872 auch der 1. Band des „Kapitals" von Karl Marx. An dieser Quelle
II. Kapitel.
58
des internationalen Sozialismus hatten längst die Elemente getrunken,
die ins Ausland gegangen waren und die Schweizer Universitäten, nament
lich Zürich, besuchten.
Sorgte doch die Regierung selbst immer wieder
für Nachschub in diese aufgeregte Jugend durch Schließung der Univer
sitäten und die Behandlung der akademischen Welt daheim. In dieser Ent wicklung aber macht Epoche das Verbot, die Universität Zürich weiter zu besuchen, 1873. Während die Zusammenhanglosigkeit und Stagnation der Reformen die pessimistische und opposittonelle Stimmung steigerten und die Semstwos in Tatlosigkeit versinken mußten, strömte eine Menge
junges Volk in die Heimat zurück, das mit sozialistischen Ideen durch
tränkt war. Noch war es nicht gleich durchaus revolutionär. Theoretisch stritten noch Lawrow und Bakunin miteinander: der zweite für Putsch, und
gewaltsamen Umsturz, der erste für die Fordemng, sich und das Volk zur Erringung der Macht erst reif zu machen. Und praktisch begann man zuerst in Lawrows Sinne zu handeln, in dem sog. Narodnitschestwo, dem
„Gehen ins Volk", — ein Ausdruck und eine Aufforderung (Gehet ins Volk!), die aus einer Bakuninschen Proklamation stammen.
Geschildert
ist diese Phase des Nihilismus wundervoll im letzten Roman Iwan
Turgenjews, in „Neuland" (erschienen 1876). Etwa von 1872 bis 1874 ist ihre Blütezeit: gebildete junge Leute beiderlei Geschlechts gingen ins
Bauerntum hinein, dieses zu gewinnen, für moderne Gedanken reif zu machen, zu bilden und zu erziehen. Es ist viel echter Idealismus in dieser
planlos friedlichen Propaganda über das Land hin, aber auch viel Unklar
heit, mancherlei Segen und mancherlei Keime zum Guten hat sie aus gestreut. Die Bauen: zu gewinnen aber vermochte sie niemals; sie hat
nur Mißtrauen bei ihnen gefunden und nur Unruhe und Verwirrung
gestiftet. Seit 1874 suchte die Regierung diese Propaganda mit zunehmender Härte zu unterdrücken. Damit beginnt bte letzte Phase im Nihilismus, der vom schrankenlosen Individualismus über den Sozialismus und eine
friedlich-aufklärende Propaganda jetzt zur Negation der bestehenden Gewalt durch Wieder-Gewalt wird.
Die Demonstrationen auf dem Platz vor
der Kasanschen Kathedrale in Petersburg 1876 und das Attentat der Wera Saffulitsch 1878 (5. Februar) auf den General Trepow leiteten
diese Phase ein.
Sie verzichtet auf die auf den Bauernstand als aktiven
revoluttonären Faktor gesetzten Hoffnungen, sie zentralisiert die Organi-
Die Entstehung des modernen Rußlands.
59
sation und konzentriert die Taktik auf ein Mittel (das Dynamit) und auf Einzel-Ziele, von denen die Ermordung des Zaren schließlich das letzte
Ziel wird
Die Apathie der Gesellschaft ging mit dem Türkenkrieg von 1877/78 zu Ende. Die konstillltionellen Hoffnungen belebten sich, als die Regierung
den
Bulgaren
eine
Verfassung
erwirkte,
und
die
national-russische
Stimmung stieg durch die Sympathie für die Balkanslawen und die Miß stimmung gegen Deutschland nach dem Berliner Kongreß: die Slawo-
philie setzte sich in den Panslawismus um.
Aus den Männern der
Semstwos war schon in den siebziger Jahren eine konstitutionelle Be wegung gemäßigter und klarer, aber natürlich entschieden oppositioneller
Richtung entstanden, ein Semstwobund (Semski Sojus). Er suchte, ge
schart besonders um I. I. Petrunkjewitsch, Verbindung mit allen, auch
den radikalen Strömungen, die auf eine Verfassung hingingen.
Z. T.
suchte er auch die vom Absolutismus am Boden gehaltenen, durch eine Verfassung naturnotwendig in die Höhe kommenden Nationalitätengegen
sätze durch die Idee einer Föderativverfassung Rußlands an Stelle der Zentralisation zu lösen1).
Für die Terroristen aber war es wesentlich,
daß die vage Hoffnung auf größere Freiheit doch trog, die Regierung sich
auch
zu krönen.
tischen
jetzt nicht entschloß, die Reformen durch
eine Verfassung
Immer mehr wird das Attentat zur Form ihres poli
Kampfes,
immer
kleiner,
straffer
ihre
Organisation,
immer
raffinierter ihre Anschläge; seit 1879 ist der Kaisermord der Mittel punkt ihrer Pläne.
Im August 1879 trennt sich die Partei, wenn
man die revolutionäre Gruppe „Selmja i Wolja" schon so nennen will,
in die Partei der „Narodnaja Wolja" und die der schwarzen Umteilung (Tscherny Peredjel), d. h. in eine politisch-terroristische und eine sozia-
listisch-agitatorische Gruppe. Auf der zweiten hat sich später Plechanows Arbeit für eine russische Sozialdemokratie aufgebaut, die erstere, die Jünger
schaft Bakunins und die Grundlage für die heutigen Gruppen der Sozial
revolutionäre, kennt nur noch die Jagd auf den Zaren: am 13. März
1881 erreichte sie mit der Ermordung Alexanders II. ihr Ziel. *) Ein Weg, den der russische Liberalismus in der Gegenwart ablehnt.
S. Kapitel IV und XU.
n. Kapitel.
60
III. Das Regierungssystem Alexanders III. und Nikolais II. bis 1904. Alexander III. ist unter den Romanows seit dem Tode der Elisabeth Petrowna der erste bewußt und durchaus russische Zar. In ihm gehen der Absolutismus und der russische Nationalgedanke zu einer bewußt
empfundenen Einheit zusammen — ein geistiger Prozeß, auf den allgemein
europäische Strömungen so gut wie die zum Nationalismus gewordene
Slawophilie, besonders aber der tiefe Eindruck der polnischen Erhebung von 1863 eingewirkt haben.
Aus den starken Erschüttemngen seines
Staates, die er miterlebt hatte, hatte Alexander die Überzeugung, vor allem unter dem Einflüsse seines Erziehers Pobjedonoszew und Katkows,
in sich gefestigt, daß das Heilmittel nur in der unbedingten Erhaltung der bestehenden Ordnung auf national-russischer Grundlage liege, gemäß jener
Dreiheit des flawophilen Programms, in der ihm die Selbstherrschaft das wichtigste war. Gewissenhaft, sittlich ernst und tüchtig als Soldat, war
er früh zum Mann geworden und ergriff nun die Zügel in der Auf fassung
seines
Amts wie ein sehr strenger,
aber sehr gewissenhafter
Familienvater. Als eine in sich geschlossene Herrschematur, die er aller dings mehr zu sein schien, als tatsächlich war, war er imstande, jenes sehr
einfache
politische Programm, das
ihm unerschütterlich feststand, mit
größter Folgerichtigkeit und Wirkung durchzuführen. Nachdem sich die Erregung der nihilistischen Agitation im Attentat
gegen Alexander II. entladen hatte, trat ein Rückschlag in Abspannung und
Lethargie
ein,
in
dem
Auf
und
Ab der
Empfindungen
und
Stimmungen, das für das russische Volk so charakteristisch ist. Dadurch war die Gesellschaft, als sich die schwere Hand Alexanders III. auf sie legte, psychologisch vorbereitet, in eine Zeit der Reaktion und eines bleiernen Dmckes herüberzugleiten, in der Europa nur aus den ab und zu vor
kommenden Anschlägen gegen den Zaren merkte, daß diese Ruhe eben
nur die Folge eines ungeheuren Druckes war und unter ihm die alte Unzufriedenheit weiter schwelte. Zuerst erfolgte die entschiedene Mehr von den konstitutionellen Ge
danken des Vaters, so wenig entschlossen diese gewesen waren. Die trei bende und entscheidende Kraft dafiir war Pobjedonoszew; er arbeitete
mit Hilfe Katkows ein Manifest für den Zaren aus, das dessen Beifall
Die Eiiistehittift des inoderne» Rußlands.
fand und am 11. Mai 1881 veröffentlicht wurde.
01
Darin war gesagt,
daß Alexander die Absicht habe, „im Gehorsam gegen die Stimme Gottes die Zügel fest zu fassen, im Glauben an die Kraft und Wahrheit der selbst
herrschenden Gewalt, die zum Heile des Volkes zu befestigen und vor
allen Anfechtungen zu bewahren er berufen sei". Damit begann das Zeit alter Pobjedonoszews, das die Regicrungszeit Alexanders HL überdauerte,
und das Grundprinzip der neuen Regierung war gegeben. Nach 13 Jahren hat, wie verbürgt erzählt wird, Alexander HI. in Liwadia auf dem Sterbe
bette feinem Sohne Nikolai das Versprechen abgenommen, unerschüttert die gleiche Bahn weiterzugehen. Alexander HI. wollte so zum Regierungs
system Nikolais I. zurückkehren und in der Praxis ähnelt seine Regierungs
zeit auch der des Großvaters. zweierlei,
Aber er unterschied sich vom Ahnen in
was seiner Regierung
ein
ganz
anderes
Gepräge
als der
Nikolais I. gibt.
Nikolai war in erster Linie Monarch, Mitglied und Führer der großen europäischen Fürstenfamilie, die in ihm den Hort der Legitimität
verehren sollte. Bewußt als Russe und im Gegensatz zu anderen Natio
nalitäten seines Reiches und Europas hat er sich nicht gefühlt; der nationale Gedanke lag ihm fern.
Wenn er die Autonomie der Polen unterdrückte,
so war das die Strafe für den Aufstand von 1830; den loyalen Balten und Finnen hat er ihre Selbständigkeit nicht angetastet. Das ist bei seinem
Enkel
gmndfätzlich
anders.
Dieser
war
nicht
nur
national-russisch,
sondern schon nationalistisch; er wurde so der erste Zar einer bewußten, vom extrem nationalen Gedanken getragenen Russisizierung. Ferner ver
änderte sich unter ihm Rußlands Stellung nach außen.
Die herzlichen
Beziehungen der Dynastien Romanow und Hohenzollern, die der Zeit bis 1881 das Gepräge gegeben hatten, wurden schwächer, wenn der Zar
die orientalische Frage unter national-russischen Gesichtspunkten ansah, und die aus dem Nationalismus erwachsende Abneigung gegen das deutsche
Wesen von den deutschfeindlichen Kreisen ausnutzen ließ, in die er auch durch seine Gemahlin, die dänische Prinzessin Dagmar, einbezogen wurde. Doch hinderte ihn seine unbedingte Friedensliebe — er ist der einzige Zar aus
der Dynastie Romanow, der keinen großen Krieg geführt hat — daran,
daß dieser neue Charakter der russischen Politik in die WeltverhälMisse
eingriff. Dagegen trat das Aggressive seines Absolutismus in der inneren
Politik stark hervor.
II. Kapitel. Seme nächsten Diener formulierten diese Gedanken und führten sie
auf den einzelnen Gebieten des Staatslebens durch: Ignatjew, Pobjedonoszew, Graf Dmitri Tolstoi und Katkow, vier Männer von sehr ver
schiedenem Geiste und Gehalt, aber alle einig im Programm ihres Zaren.
Mit Ignatjew, der eine kurze Zeit Minister des Innern war, kam
schon ein Haupt der Panslawisten zu Einfluß auf die inneren Geschicke Rußlands.
In seiner Richtung hatte der Panslawismus die Wendung
genommen, die ursprünglich nicht in der slawophilen Theorie lag, die aber
dem Regierungssystem Alexanders III. entsprach: die grundsätzliche Ver bindung mit der Idee der Selbstherrschaft und damit die ebenso grundsätz
liche Feindschaft gegen alle Reformen und Verfassungspläne, — was
übrigens diese Richtung niemals hinderte, demokratische Empfindungen
innerhalb und außerhalb des Reiches zu begünstigen. Ignatjews Bedeutung liegt in der Ausbreitung dieses panslawistischen Gedankens, für den er schon unter Alexander II. durch seine Agitation unter den Balkanslawen gearbeitet hatte und nach seiner Ministerzeit unter Alexander III. als Präsident der
„Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft" weiter erfolgreich tätig geblieben ist. Viel bedeutender als er ist K. P. Pobjedonoszew (1827—1907). Von
Haus aus Jurist, Professor in Moskau und einer der besten Kenner des russischen Zivilrechts, über das er ein viel benutztes Lehrbuch geschrieben
hat, wurde er 1860 Lehrer der kaiserlichen Prinzen, unter denen der spätere Zar war, 1868 Mitglied des Senats, 1872 des Reichsrats und
1880 Oberprokuror des „Allerheiligsten Synods", welches Amt er bis zum
1. November
1905 bekleidet hat.
Eine kühle, reflexive Natur,
äußerlich mehr den Eindruck eines Gelehrten als eines Staatsmannes
machend, persönlich selbstlos und seinem Amte völlig hingegeben, wirkte er durch die unerbittliche Logik seiner Anschauungen, durch seinen kaltleiden schaftlichen Patriotismus und die Energie seines Willens zunächst auf seinen Schüler, dann auf Kirche und Staat und schließlich auch auf den
Sohn seines Schülers, der in von ihm stark beeinflußten Anschauungen den Thron bestieg.
In Pobjedonoszews politischen Anschauungen ist wenig Originelles und Neues.
Denn sie sind alle schon im Kreise der Männer der 40er
Jahre erörtert worden. Das Neue liegt bei ihm vielmehr in 8er Praxis,
in der Anwendung auf das Staatsleben, in der Steigerung dieser Gedankm zu einem Programm aktiver und aggressiver innerer Politik. Ihm
63
Die Entstehung des modernen Rußlands.
sind die orthodoxe Kirche und die Selbstherrschaft die einzigen zuverlässigen,
von Gott gewollten und geschichtlich begründeten Fundamente des russischen
Staates.
Rußland ist ihm das Bollwerk Europas gegen Osten und hat
darin seine historische Mission. Die Kraft dazu findet es in seiner Nationalität und seiner orthodoxen Kirche, die beide auf das engste miteinander verbunden sind, und von denen die Staatskirche nicht angegriffen werden
kann, ohne daß auch der nationale Gedanke, der zugleich die Selbstherrschaft
umschließt, erschüttert wird. Darum mußten ihm freilich die fremden Natio nalitäten und Kirchen im Staate als Fremdkörper, ja als Gefahr erscheinen, und von ihnen betrachtete er die evangelische Kirche und das diese tragende und von ihr zusammengehaltene Deutschtum als besonders staatsgefährlich.
Seine Art der Deutschfeindlichkeit zeigt ein Satz von ihm, wie dieser: „Die
Majorität der deutschen Kulturträger" blickt auf uns bis jetzt noch immer wie auf halbe Barbaren herab, sie sieht in unserer Religion einen
Stillstand und den ertötendm Geist des Byzantinismus, in unseren Patrioten Demagogen, im einfachen Volk einen einfachen, wenig ent
wicklungsfähigen
Charakter,
der
von
dem
Geschick
dazu
ausersehen
ist, von den Deutschen exploitiert zu werden." Im Gefühl, daß in einem föderativen Charakter des Staates eine große Gefahr liegen könne, und in der Überzeugung, daß seine Kirche und seine Nationalität auch wirklich die höherstehenden seien, fand Pobjedonoszew weiter die berechtigenden Gründe für die Russifiziemng, für eine Politik, die die innere Verbindung der nichtorthodoxen und nicht-großrussischen Reichs
teile durch gewaltsame Einführung der russischen Sprache und Schule, Rechtsprechung, Verwaltung und Kirche herbeiführen und sicherstellen
wollte. So ist er vor anderen der geistige Urheber und Träger der Russi
fiziemng geworden. Er hat die Slawophilie zu einem Programm gewalt samer und intoleranter Russifikation umgestaltet, auch gegen slawische
Bestandteile des Reiches, wie die Polen und die Kleinrussen.
Er weicht
dabei von der Auffassungsweise Ignatjews insofern ab, als es ihm aus
schließlich darauf ankommt, den g r o tz - mssischen Gedanken zum Siege zu führen, womit er in einen unlösbaren Widerspmch zum Panslawismus
trat — diesen hat er wohl überhaupt nicht als erfolgversprechende Idee und als Realüät betrachtet.
Indem er so die älteren Gedanken mit seiner
modernen Bildung ftmdierte und in einer brutalen Praxis und mit Fana
tismus ins Staatslebm einführte, hat er das Regiemngssystem Alexan-
64
TI. Kapitel.
ders III. dogmotisiert und außerordentlich gehärtet. Er hat ferner diesem
System durch die Verbindung mit der Kirche auf Leben und Tod auch das geringste Paktieren mit anderen Gedanken fast unmöglich gemacht.
Wie
er als das Kirche und Staat verbindende weltliche Mitglied der höchsten
Kirchenbehörde Rußlands, des „Synods", diese Kirche selbst in einer knechtischen Abhängigkeit vom Staate hielt, damit einen von Peter dem Großen begonnenen, von Alexander I. fortgesetzten Prozeß zum Abschluß
brachte und jedes eigene Leben in dieser Kirche ertötete, so hat er auch
den Staat und das Zarentum, in deren Dienst er die Kirche stellte, wiedemm von ihr und von der unlösbaren Verbindung mit ihr abhängig gemacht. Die Macht über die Kirche, die er so als letzter Faktor in einem
Jahrhunderte währenden Kampfe dem ZarenMm verlieh, kehrte sich damit
wiederum gegen dieses selbst, indem sie ihm Fesseln anlegte, die jede Aner kennung moderner Gedanken ausschlossen. In dieser Kombination lag die gewaltige Stärke Pobjedonoszews, die er niemals für sich persönlich aus
genutzt hat, und lag der Gmnd zu den schweren Konflikten, die der Zar in
sich durchfechten mußte, als seit 1904 doch neue Gedanken unwiderstehlich an ihn und seinen Staat herandrängten. Pobjedonoszew war daher auch der einzige Staatsmann, für den auch nur ein Verhandeln mit diesen ganz ausgeschlossen war; er ist deshalb am 1. November 1905 aus seinem
Amte geschieden. Kurze Zeit darauf, am 23. März 1907, ist er gestorben.
Neben ihm, auf dem die historische Verantwortung für die Katholiken- und Uniatenverfolgungen in Polen und Litauen, wie für die Russifizierung der Ostseeprovinzen ruht, stehen Tolstoi und Katkow. Der be deutende Aristokrat aus altem moskauischen Adel, aber mit westeuropäischer
klassischer Bildung, Graf Dmitri Tolstoi hatte schon als Unterrichtsminister unter Alexander II. die gleiche überzeugte Rechtgläubigkeit, seine gwßrussisch-nationale Staatsgesinnung und seine von reaktionären Zügen nicht freie konservative Überzeugung mit großer Energie dem Staatsdienst dienst
bar gemacht. Sein Ideal war der Kampf gegen den Nihilismus, der in die
Zeit Nikolais I. zurückführen sollte, und er hat sich zuerst als Unterrichts minister durch die Gestaltung des Jugendunterrichts bemüht, die geistige
Vorbereitung der nächsten Generation dafür in die Hand zu bekommen.
Dazu erschien ihm das Studium der klassischen Sprachen als vortreff lichstes Mittel, der Jugend Disziplin beizubringen und sie zu guten Staats bürgern und Gegnern des Nihilismus zu erziehen.
Vom erzieherishen
65
Die Entstehung des modernen Rußlands.
Werte des Klassizismus für Kultur- und Staatsleben durchdrungen, ver
mochte er diesem Prinzip nur durch ein entsetzlich formalistisches Unter richtssystem Leben zu geben, weil er den in der russischen Kulturgeschichte liegenden Widerspruch nicht überwinden konnte, — fehlt doch Rußland
ganz die Lateinschule des Mittelalters und seiner KulMr die Gmndlage
1882 ist er dann als Nachfolger Ignatjews Minister des
der Antike.
Innern geworden (bis 1889). Positive Leistungen konnten nicht gut von ihm erwartet werden.
Denn die Möglichkeit dazu lag gar nicht in dem
System der inneren Politik Alexanders III. Was er überhaupt durchführtc:
die temporären Regeln über die Juden und die Presse vom Jahre 1882,
— das Universitätsstatut von 1884 und die Förderung der Kirchen
schulen, — die Errichtung des Instituts der Landhauptleute (semskie Natschalniki) 1889, — die Änderungen in der Gerichtsverfassung, besonders im Geschworenengericht, und die fast völlige Beseitigung der gewählten Friedensrichter vom selben Jahre, — das den Begriff der Selbstverwaltung so gut wie aufhebende Gesetz über die Semstwos 1890, — die Städte
ordnung vom Jahre 1892 endlich, alles zielte nur auf Festigung und
Steigerung der absoluten Staatsgewalt und aus eine maßlose Zentralisation der Verwaltung hin. Damit verband er die rücksichtslose Verfolgung jeder
Opposition, die Unterstützung der Russifikation im Geiste Pobjedonoszews,
die weitgehendste Überwachung alles Lebens durch Polizei und Zensur und den Abschluß gegen Europa, die Erschwerung des Verkehrs aus
Rußland heraus und in das Land hinein. Und alle diese Maßnahmen, alle Ideen, aus denen sie flössen, ver
kündete als das Sprachrohr der Regierung Katkow in seinen „Moskauer Nachrichten". Durch ihn wurden die Begriffe slawophil und reaktionär ganz identisch,
er
predigte
den
Klassizismus,
die
Russifizierung,
er
war vor allem aber der Herold einer neuen Orientierung Rußlands auch
in der
äußeren Politik.
Von seinem berühmten Artikel vom
31. Juli 1886 mit den Fragen: „Ist die Freundschaft zwischen Deutsch land
und
Rußland
mehr
eine
Notwendigkeit
für
Deutschland
als
ein Vorteil für Rußland? Wozu diese Bündnisse? Welche Bedürfnisse hat Rußland, den europäischen Frieden zu sichern?" kann die bewußt ge
wordene Abkehr von der bisherigen Politik datiert werden, die durch
die Differenzen in der orientalischen Frage und die Mißstimmung über den Berliner Kongreß vorbereitet war. Hoc-sch, Rußland.
Und wenn er auch fortfuhr: 5
II. Kapitel.
66
„Wir sind überzeugt, daß man in unseren Worten eine Anspielung auf
eine französisch-russische Allianz sehen wird, aber wir protestierm gegen eine ähnliche Überlegung", so ist Katkow doch gerade einer der ersten und erfolgreichsten Wegbahner dieser neuen politischen Verbindung für sein
Vaterland gewesen. Mit dem Kriegsminister Wannowski und Obrutschew, der als Chef des Generalstabs vor allem den Gedanken des Bündnisses mit Frankreich
vertrat, ist dies der nächste Kreis der Staatsdiener, mit denen Alexander III. seine
Politik
machte.
Ihm
gelang
tismus unerschüttert zu erhalten.
es,
die
Stellung
des
Absolu
Das bedeutete in.der Verwaltung
die ungehinderte Herrschaft der Bureaukratie, die, unkontrolliert wie sie war
und nur auf das Weiterklappern der Verwaltungsmaschine angewiesen, M Leistungen und Integrität immer schlechter wurde, zur Verzweiflung des
Zaren selbst, der das sah und dessen persönlicher Ehrenhaftigkeit alle Korruption ein Greuel war, der aber gegen das System auch machtlos blieb.
Und, wo diese Politik, wie in den Grenzmarken, an andersartige
Einrichtungen und Anschauungen stieß, an "die baltische oder polnische oder
finnische oder litauische Besonderheit, konnte sie nirgends innerlich das
erreichen, was sie anstrebte.
Später zeigte sich, daß sie nur zerstört, den
Boden für revolutionäre Erhebung geradezu vorbereitet hatte.
Nach außen aber erschien diese von einem großen Selbstbewußtsein
getragene Regierung von Jahr zu Jahr stärker.
Da kriegerische Ver
wicklungen vermieden wurden, vergaß Europa bald die Schwächen, die der
Feldzug von 1877 und 78 im russischen Heer gezeigt hatte. Durch die Per sönlichkeit Alexanders III. absichtlich gefördert, stieg die Vorstellung Europas von der Macht Rußlands immer mehr, weil es sah, wie sich der alte Ab solutismus aufrecht erhielt, seine Stellung in Europa durch die Verbindung
mit Frankreich noch hob und zugleich eine grandiose Politik erst in Zentral
asien, dann in Ostasien führte und beinahe vollendete.
Ein begründetes
Urteil über die lebendigen Kräfte dieses Staatswesens hatten in West
europa nur sehr wenige, wenn man auch ahnte, daß die Ruhe im Innen: zum Teil die des Kirchhofs war, und auch sah, daß ein gut Stück des großen Prestiges nur auf der nicht zu.erschütternden Friedensliebe des
Zaren beruhte.
So wurde die Zeit Mexanders UI. eine Periode der höchsten Macht nach außen, während im Innern von einer positiven Politik nicht gesprochen
Die Entstehung des modernen Rußlands.
67
werden konnte, die Kulturarbeit des Staates fast gleich Null war, das Land zurückging, die Bevölkerung, wie in den letzten Jahren Alexanders III. auch Europa schon bemerkte, immer ärmer wurde.
Und diejes System,
das sich über die Schwäche seiner eigenen Basis von Jahr zu Jahr immer unklarer wurde, hat Nikolai II. in vollem Umfange übernommen. Nach
feinem Wesen anders, weicher und zarter als der Vater, konnte er sich, selbst wenn er gewollt hätte, aus dem System Alexanders III. und
Pobjedonoszews allein gar nicht freimachen. Man spürte zwar, daß die
Hand, die die Zügel des Ganzen hielt, leichter war, als die des Vaters, aber das Regime im ganzen änderte sich nicht. Der Einfluß Pobjedonoszews dauerte ungeschwächt fort, der jeden Hinweis auf eine Änderung mit den
Worten abwies: „C’est ainsi qu’on faisait du temps du feu Ozar." Das System erweichte sich an manchen Stellen, aber es blieb in den Prinzipien dasselbe und steigerte höchstens noch die Herrschaft der Polizei, der Spionage und des Denunziantentums.
Regimes
änderten
daran
nichts,
weder
Auch die neuen Züge des
die
imperialistische
Politik,
der sich der Zar unter dem Einflüsse seines Jugendfreundes, des Fürsten E. E. Uchtomski*) entschieden zuwandte, noch die Finanz- und Wirtschafts
politik, die Witte feit 1892 inaugurierte. Das Prestige nach außen wurde
fast noch erhöht: durch den Abschluß des französischen Bündnisses, durch die Fertigstellung der sibirischen Bahn und durch die große ostasiatische Politik, die mit steigender Wucht betrieben wurde. Aber gerade aus ihr kam der
Anstoß, der den Staat Alexanders III. und Nikolais II. auf das stärkste
erschütterte und das Ventil für eine Opposition öffnete, von deren Umfang und Kraft Europa keine und die herrschenden Kreise Rußlands nur eine
schwache Vorstellung hatten. IV.
Wirtschaftspolitik, Frühkapitalismus und Sozialismus.
Die Revolution von 1905 ist nicht zu verstehen, wenn man nur aus die bisher charakterisierten Voraussetzungen blickt und die wirtschaftlich sozialen und sozialistischen Vorbedingungen außer Acht läßt.
In dieser
*) Er hatte Nikolai 1890/91 auf der Reise begleitet, die diesen als den ersten
Zaren nach dem fernen Osten geführt hat. S. darüber Uchtomskis Buch, das ein
wichtiges
Werk
zur
russischen
Ostasienpolitik ist':
8. A. 1 le CSsarevitch. 2 Bde. Paris 1893/98.
Voyage
en
Orient
de
II. Kapitel.
68
Beziehung war sie zum Teil Bauernunruhe, deren tiefere Gründe und
elementar-zusammenhangsloser Charakter später geschildert werdens, zum
Teil Arbeiterbewegung, geführt von der Intelligenz und bestimmt vom Sozialismus, der mit dem fortschreitendem Kapitalismus Boden und
Klärung gewann.
Diese Voraussetzungen entstehen zwischen dem Tode
Alexanders III. und 1904.
In einem Lande, in dem der Staat so ein und alles war, wie hier, nmßte auch die Wirtschaftsentwicklung und die sich aus ihr ergebende soziale Gliederung die Spuren des Staatswillens aus das stärkste an sich trogen.
Indes ist auch dies nicht eine Besonderheit des russischen Absolutismus,
sondern die gleiche Erscheinung, wie sonst in der neuzeitlichen Geschichte: der wirtschaftspolitische Ausdruck des Absolutismus ist die merkantilistische
Wirtschaftspolitik, die Politik, die Handel und Industrie, überhaupt die
Wirtschaftskraft des Volkes zu allererst zur Konsolidierung des Staats wesens entwickelt und in seinen Dienst stellt. Diesen Zusammenhang hatte
Peter der Große voll erfaßt, und darum bildete er seine Wirtschaftspolitik in jeder Weise dem westeuropäischen Merkantilismus nach.
Das Be
sondere für Rußland aber ist, daß dieser Charakter der Wirtschaftspolitik
ununterbrochen bis heute erhalten geblieben ist.
Rußland hat keine Zeit
des freien Handels gehabt, um dann erneut zu Schutzzoll und Neumerkanti lismus zurückzukehren, sondern ist immer und bis heute von merkantili
stischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen. Das zeigt seine spezielle Handels
politik und ihre Geschichte, in der trotz mancherlei Schwankungen in den Tarifen der Schutzzoll bis zur Ausschließung fremden Imports immer
festgehalten worden ist.
Noch wesentlicher ist, daß die Förderung des
Handels und Industrie bisher niemals Selbstzweck war, sondem zuerst
dazu dienen sollte, das steigende Geldbedürfnis des Staates zu befriedigen. Aus dieser Abhängigkeit von staatsfinanziellen Gesichtspunkten hat sich die russische Handels- und Weltwirtschaftspolitik bisher nicht freimachen
können. Sie waren, wie überall sonst, das erste und drängendste, sie sind
es im Unterschied zu anderen Ländern aber auch geblieben, weil die Auf gabe der Bildung und Konzentrierung des Staates noch nicht gelöst ist.
Das gibt der russischen Betätigung auf diesem Gebiete eine große Ge schlossenheit, aber auch Einseitigkeit, die immer in Gefahr ist und meist
auch dahin wirkt, die Kraft des Volkes übermäßig für die Aufgaben des ') S. Kap. IV und V.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
Staates anzuspannen.
69
So ist die Geschichte der staatlichen Fürsorge für
die Wirtschaft und auch des Kapitalismus hier in erster Linie die Ge
schichte seiner Finanzpolitik und seiner Finanzminister. AIs die Reformen Alexanders II. die Entstehung des modernen Ruß lands einzuleiten begannen, war dieses ein so gut wie ungewerbliches Land. Eine Volkswirtschaft gab es nicht. In jeder Weise war die Landwirtschaft
die Grundlage aller Wirtschaft.
Millionen Einzelwirtschaften standen,
ihren Bedarf fast allein deckend, wie Atome nebeneinander, nur lose ver
bunden durch lokale Märkte, Jahrmärkte (vor allem die Messe in Nischni-
Nowgorod), und ein bescheidenes Wandergewerbe in der nationalen Form des Artjel.
Ohne handwerkliche Tätigkeit war der Bauer freilich nicht.
Im Gegenteil hatten die lange Winterzeit und die manuelle Geschicklichkeit des Volkes ein Handwerk (Kustar) von einem Umfang, einer Vielfältigkeit
und Kunstfertigkeit entstehen lassen, wie in kaum einem Lande der Welt.
Noch heute ist dies Kustarhandwerk des Bauerntums die nationale Be triebsform des Handwerks, die ein städtisches Handwerk als beinahe über
flüssig erscheinen ließ; „der Kleinbürger (Mjeschtschanin) und der Hand-
tvcrker waren nur der Muschik der Städte". Eine Art Bürgertum über
ihnen bildeten die Kaufleute, jene „breit angelegten Naturen" der „Kupzy", die Ostrowskis Komödien so anscharilich schildern.
Verkehrsmittel, freie
Lohnarbeit, Industriekapital fehlten fast ganz. Anfänge der Industrie gab
es, aber wie überall unter dem Absolutisnius, vom Staat für die Be dürfnisse des Heeres und der Flotte geschaffen: Tuch und Eisengerät
brauchte der Staat.
Er hatte durch Privilegien, Bestellungen, ht§ Land
gezogene Ausländer eine Textil- und eine Eiseumanufaktur geschaffen, von denen erstere an die Kustarweberei und -Spinnerei anknüpfte. Die Eisen
industrie erwuchs ganz aus den Bestellungen des Staates; sie stützte sich auf die seit Anfang des 18. Jahrhunderts betriebene Roheisenproduktion des Ural, die aber seit Anfang des 19. Jahrhtinderts ununterbrochen zurückging. Für Heer, Adel, Hof arbeitete diese Manufaktur allein, deren
Produktionswert 1854 auf 160 Millionen Rubel in rund 10 000 Fabriken mit 460000 Arbeitern geschätzt wurde.
Die überwiegende Mehrheit des
Volkes brauchte sie überhaupt nicht, die Slawophilie war teilweise geradezu
kapitalfeindlich und freute sich, im Mir einen Schutz gegen den Einbruch des Kapitals zu habens. *) S. Kapitel V.
n. Kapitel.
70
Viel anders war — von Kongreßpolen abgesehen — das Bild beim
Tode Alexanders II. auch noch nicht, wo man den Produktionswert der Industrie auf 998 Millionen Rubel in 31 000 Fabriken mit 770 000
Arbeitern schätzte. Krimkrieg wie türkischer Krieg hatten dazu die Wirtschaft
furchtbar überanstrengt und zurückgeworfen. Aber zwei wesentliche Voraussetzungen des Kapitalismus hatte diese Regierungszeit eingeführt: die Eisenbahnen und die freie Lohnarbeit, letztere wenigstens zum Teil. Der
Krimkrieg hatte gezeigt, wie schlecht die einzelnen Reichsteile miteinander
verbunden waren.
Deshalb übersprang, wie man gesagt hat,
Ruß
land das Zeitalter der Chausseen und konzentrierte alle Verkehrspolitik darauf, sich ein Eisenbahnnetz zu schaffen. Dieser Entschluß revolutionierte
hier stärker als irgendwo sonst, weil der Ausbau sehr rasch erfolgte und mit der Bauembefreiung zusammentraf.
Damit wirkte der Anreiz zur
industriellm Produktion außerordentlich stark und umgestaltend.
Das
Kapital aber, mit dem dieses Eisenbahnsystem gebaut wurde und mit dem eine einheimische Eisenindustrie erst wirllich entstand, wurde aus dem Auslande hereingezogen, in Form der Staatsanleihe oder der Anlage
ausländischen Kapitals in Privatunternehmungen: 1860 wurde durch den
Engländer I. Hughes die Gesellschaft „Neurußland" gegründet und damit
das Fundament zur südrussischen Montanindustrie gelegt, für die mit der „Donez-Eisenbahn" in den 70er Jahren auch der schon 1839 begonnene
Steinkohlenabbau im Donezbassin einen großen Aufschwung nahm. Das gleiche galt von der älteren, organischer erwachsenen Textilindustrie.
Sie
brachte es mit dem freien Arbeiter und durch fremde Hilfe rasch zu einer be
deutenden Entwicklung, die auch ein Ausländer, der Bremer Ludwig
Knoop (1894 f), seit 1856 vor allem gefördert hat. Sie schuf einen großen Textilindustrierahon, den mittelrussischen Jndustriebezirk, dessen Mittel
punkte Moskau, Wladimir und Kostroma geworden sind und der zum
Teil die Organisationsformen vom Kustardorf zum städtischm Fabrik zentrum schon durchlaufen hat, zum Teil die Zwischenstadien noch aufwcist. Schließlich lag die Bedeutung der Eisenbahnen für die entstehende Bollswirtschaft darin, daß erst sie den Absatz von Getreide ermöglichten und damit die Verbindung mit der Weltwirtschaft herstellten, der sie das
Getreide über die Seehäfen, besonders Odessa, zuführten.
Auf den euro
päischen Märkten fand es' bei den geringen Getreidezöllen und der Konkurrenzlosigkeit der sonstigen Getrcideproduktion in den 60er urib 70er
Die Entstehung des modernen Rußlands.
71
Jahren auch guten Absatz, was angenehme Wirkungen für die Zahlungs
bilanz des Staates mit sich brachte.
So sahen die 60er und 70er Jahre doch eine Mobilisierung der Arbeitskraft und eine Steigerung der Jndustriealisierung, die hier das
Vorspiel
zum
Frühkapitalismus
darstellen;
die
Motoren
waren die
Bauernbefreiung, der Eisenbahnbau, eine etwas freiheitlichere Tendenz der Zollpolitik und die Heranziehung westeuropäischen Kapitals.
Im letzten
Jahrzehnt Alexanders III. kamen nun zusammen die kritisch werdende Lage
der Landwirtschaft (aus inneren Gründens und infolge des Sinkens der
Weltgetreidepreise — auch die deutsche Schutzzollpolitik wirkte mit —) und die finanziellen Staatsbedürfnisse, denen ein ungeordnetes Steuersystem,
eine schwankende Währung und ein chronisches Defizit im Reichsbudget
gegenüberstanden.
So gewann in dieser schwierigen Lage der merkantili
stische Geist vollends die Oberhand in der Wirtschaftspclitik, was auch der
nationalistischen Tendenz Alexanders HI. und seiner Ratgeber entsprach:
man strebte durch den Hochschutzzoll, eine nationale Industrie zu entwickeln, damit Rußland sich womöglich wirtschaftlich selbst genügen könne. I. A. Wyschnegradski, hot, von 1887 bis 1892 Finanzminister,
bereits diese mit Unrecht als spezifisch Wittesches System bezeichnete neumerkantilistische, große und — waghalsige Wirtschafts- und Finanz politik energisch und einseitig verfolgt. Er begann die Verstaatlichung der Eisenbahnen und strebte die Sicherung der Währung an, die Wieder
herstellung der Metallzirkulation oder wenigstens Wertes des Kreditrubels.
sein
schon
in
der
Vorgänger
Reichsbank
als
eine
Fixiemng des
Doch kam er darin nicht weiter, als — wie
Bunge
getan
Grundlage
einen
Goldvorrat
anzusammeln.
Außerdem
hatte,
dafür
—
suchte er fremdes Kapital durch Anleihen hereinzuziehen. Da der deutsche Markt infolge des Verbots der Lombardierung russischer Werte bei der
Reichsbank und Seehandlung — es
hat von
1887,—1894
gegolten
— verschlossen war, hat schon Wyschnegradski den Blick nach Paris gerichtet: die erste große Anleihe Rußlands auf dem französischen Kapital markt (125 Millionen Rubel) ist unter ihm, sehr mit Unterstützung all
gemein politischer Motive auf beiden Seiten, im Dezember 1888 ab geschlossen worden. Mit diesen Prinzipien rückte die Sorge um die Handels-
*) S. Kap. V.
n. Kapitel.
72
und Zahlungsbilanz bald immer ausschließlicher in den Mittelpunkt der
Finanzpolitik, da die Entstehung einer nationalen Industrie so schnell nicht ging und man durch die Kapitaleinfuhr für sie und für die Staats
bedürfnisse gerade vom Auslande abhängiger wurde. Je kapitalistischer man werden wollte, um so mehr kam es zunächst auf den internationalen Krevit an. Dieser aber War nur durch wirkliche Aktiva zu sichem, und das wesent
lichste Aktivum blieb noch allein die Landwirtschaft, deren Lage jedoch,gerade
sie nicht mehr als ausreichende Quelle für die Staatssinanzen erscheinen
ließ. Gleichwohl wußte schon Wyschnegradski, der darum ebenso wie Witte mit der Opposition des Großgrundbesitzes zu kämpfen hatte, nichts anderes,
als die Landwirtschaft weiter als allein tragendes Fundament der ganzen
Staatswirtschaft auszunutzen, ohne der sich ankündigenden Agrar-Krisis entgegenzuarbeiten. Die Aufgabe war für Wyschncgradskis Nachfolger, Witte, 1892 prin
zipiell llar: die Politische Europäisierung des Staates durch die finanzielle und wirtschaftliche zu ergänzen und zu beenden, damit jene dauernd zu
sichern rind die Grundlage für die kulturelle Europäisierung zu legen.
Praktisch hieß das nichts weiter, als für die ununterbrochen steigenden Aus
gaben an politische Zwecke Geld zu schaffen, die Finanzen zu konsolidieren,
um das Verträum des Auslandes zu gewinnen, und dann, wenn es noch möglich war, die Schäden der Volkswirtschaft zu heilen. Nur die Maß
stäbe und die Sorgen waren für Witte viel größer, als für seine Vor gänger: Hungersnot als chronische Krankheit des Bauernstandes und asiatische Expansion — das waren die Probleme, an denen sich seine
Finanzkunst und Wirtschaftspolitik bewähren sollten.
S. I. Witte (1849—1915) stammte aus einer russischen (nicht
adligen) Beamtenfamilie, hatte aber von Vatersseite germanisches Blut in
seinen Adern. Diese Herkunft hat ihm wesentliche Charakterzüge vermittelt, aber auch verschuldet, daß er bis zum Ende seiner glänzenden Laufbahn weder in der Beamtenhierarchie noch am Hofe eine feste, von dauerndem
Vertrauen getragene Stellung hat gewinnen können, weil er nicht un bedingt zum Nationalrussentum gerechnet wurde und auch innerlich nicht
dazu gehörte. Er begann seine Karriere in der Verwaltung der damals
privaten Südwestbahn und erwarb sich dort feine vorzügliche Kenntnis des Eisenbahnwesens; das noch heute geltende „Eisenbahnreglement" hat
er entworfen. 1888 wurde er, als die Verstaatlichung der Eisenbahnen
Die Entstehung des modernen Rußlands.
einsetzte, in den Staatseisenbahndienst gezogen.
73
Dort bewies
er seine
großen finanztechnischen Gaben; binnen 4 Jahren wurde er Verkehrs minister (Februar 1892). Am 11. September desselben Jahres wurde er
zum Finanzminister ernannt und ist das bis zum 29. August 1903 ge blieben?)
Witte war in seinen wirtschaftspolitischen Anschauungen ein Anhänger der Ideen Friedrich Lists und der Bismarckschen Zollpolitik.
Damit
forderte er nichts Neues für die Wirtschaftspolitik seines Vaterlandes, aber
ihr Geist und ihre Tendenz sind allerdings vor ihm niemals mit solcher theoretischen Klarheit ausgesprochen und mit so umfassender praktischer Ent
schiedenheit vertreten worden, über Wittes rein Politische Tätigkeit schwankt das Urteil heute noch, aber über seine finanzpolitischen und finanztechnischen
Leistungen steht es fest.
Denn auf diesen Gebieten hat er sich glänzend
bewährt. Er hat zunächst das Branntweinmonopol durchgeführt. Das Gesetz, vom 18. Juni 1894, galt (bis zum 3. August 1914, an dem der Zar
es ohne Einschränkung aufhob), überall außer in Turkestan, Trans
kaukasien
und
dem
sogenannten
Kamtschatkas und Sachalins).
Küsten-(Amur)-Gebiet
(einschließlich
Der Gesichtspunkt, unter dem Witte die
Verstaatlichung des Branntweinhandels — denn das Monopol war kein Produktions-, sondern nur ein Handelsmonopol — durchgeführt hat, war
in erster Linie fiskalisch.
Er hat sich zwar dagegen verwahrt, daß der
Staat die Trunksucht fördere und das wegen der.hohen Erträge aus dem
Monopol tun müsse.
Gewiß hatte er auch sozialpolitische Gesichtspunkte
im Auge: er wollte durch die Verstaatlichung des Handels wenigstens garantieren, daß dem Volke, wenn es nun einmal ohne den Wodka nicht
auskommt, reiner Stoff geliefert werde, und dem entsetzlichen Wucher der Branntweinschenkwirte ein Ende machen.
Aber die Hauptsache war das
fiskalische Interesse, die Eröffnung einer neuen Einnahmequelle für den Staat. Unzweifechaft hat es dadurch schädlich gewirkt, vor allem, weil sich
der Finanzminister an diese Einnahmequelle gewöhnte, die 600—800 Millionen Rubel, gleich einem Viertel oder Fünftel des ganzen Budgets,
*) Seme spätere Lauftiahn s. Kap. IV.
Seit 5. Mai 1906 war er ver
abschiedet, Mitglied des Reichsrats; ohne je wieder eine wesentliche Rolle gespielt
zu haben, ist er am 13. März 1915 gestorben.
II. Kapitel.
74
ausmachte, und aller Agitation in der Duma und im Volle gegen die Trunksucht nur achselzuckend erwidern konnte, daß erst andere Steuer
quellen erschlossen werden müßten. Wittes zweites finanztechnisches Verdienst war die Durchführung der
(Gesetz vom
Währungsreform
10.
Sept.
1897).
Ihm
gelang,
worum seine Vorgänger erfolglos gerungen hatten, die russische Währung auf die feste Basis des Goldrubels (— 2,16 Mk.) zu stellen und damit die
Rubelspekulation und Kursschwankungen, die eine Stabilität der wirt schaftlichen Verhältnisse unmöglich machten, zu beseitigen.
Die Maß
nahme war ein verschleierter teilweiser Staatsbankrott, weil der Gold rubel nur auf Grmü> des Wertes von zwei Drittel des Nominalwertes
gesichert wurde. Aber damit kam Rußland aus der Kreditrubelwirtschaft heraus — die konsolidierte Währung war die notwendige Voraussetzung zur weiteren Kapitalisierung der Volkswirtschaft, und diese hat Witte Ihre schwache Seite, blieb freilich, daß sie nicht aus eigener
geschossen.
Kraft durchgeführt und sichergestellt werden konnte, sondern mit fremdem
Golde, mit dem Witte den Goldvorrat der Reichsbank verstärkte und aus dem er die Zinsen der Anleihen im Auslande bezahlte.
Denn das war sein drittes und größtes Verdienst, daß er ftemdes
Kapital
in
Gestalt
von
Staatsanleihen
und
ausländischen
Unter
nehmungen in einem Maße hereinzog, wie es noch keinem seiner Vorgänger
gelungen war.
Die Verschuldung
Rußands ist unter ihm von 5,3
Milliarden Rubel (Anfang 1892) auf 6,6 Milliarden Rubel (Anfang 1904)
auf
gestiegen.
das
stand,
im
schärfste
In
früheren
angegriffen
Auslande
Jahren
worden,
fortwährend
zu
ist
das
dieses
letzten
borgen
und
System
Endes
die
Witte
darin
be
Zinsen dieser
Schulden aus Schulden beim Auslande selbst wieder zu bezahlen. Man
glaubte nicht einmal an das Vorhandensein des berühmten „freien Be
standes" der Reichsrentei (der Zentralreichskasse), mit dem man die
Defizits rechnungsmäßig ausglich.
Mindestens
aber prophezeite
man
diesem System einen vollständigen Zusammenbruch, wenn einmal das Vertrauen des ausländischen Kapitals erschüttert würde, der Abfluß der
mühsam aufgestapelten Goldreserve der Reichsbank nicht mehr aufzu
halten sei und so die Goldwährung zusammenbräche. Wer trotz der großen Krisen seit Wittes Rücktritt als Finanzminffter hat der Zinsmdienst niemals gestockt, ist das Vertrauen des ausländischen Kapitals nicht ins
Die Entstehung des modernen Rußlands.
Wanken gekommen.
75
Gegen die Erwartungen des Auslandes hat sich
Wittes Werk glänzend bewährt, sowohl die schwarzen Jahre der inneren Wirtschastskrisis
(1900—1903),
wie
die
große
Probe
des
russisch-
japanischen Krieges und die unsichere Zeit der Revolution überstanden.
Die Konsolidierung der Staatsfinanzen wurde noch durch den Ab schluß der Konversionen erhöht, durch den neben dem Zinsgewinn Kapital
im Lande für die Industrie frei wurde, und der Eisenbahnverstaatlichung, durch die der Staat Unternehmer und Herr des weitaus wichtigsten Teiles
des
ganzen Bahnnetzes geworden
ist.
Alle diese Maßnahmen, mit
Ausnahme des Branntweinmonopols, waren schon von seinem Vorgänger
vorbereitet.
Aber das schmälert Wittes Verdienste nicht.
Denn er ist
schneller und entschiedener und mit größeren Maßstäben auf dieser Bahn
vorangegangen und hat die Reformen gegen dm einflußreichen Groß grundbesitz, der in Sipjagin und dann in Plehwe seine Vertreter in der Regierung hatte, durchzusetzen vermocht. Er hatte sich so zum Herm des Geldverkehrs im Lande gemacht, er war, zumal er auch das Ministerium
für Handel und Industrie mit wahrnahm, die Verkörperung der Wirt schaftspolitik, er war der Mann des Vertrauens für das ausländische
Kapital, und übertriebene Bewunderung konnte ihn als einen Peter den Großm
für die finanzielle und wirtschaftliche Europäisierung seines
Vaterlandes feiern. Die Steigerung der Macht des Finanzministers war
natürlich zugleich eine solche der Staatsmacht überhaupt; ganz, richtig hat
Fürst Meschtscherski von Witte gesagt: „Kaum ein Minister dürfte soviel
zur Stärkung staatlicher Macht beigetragen haben wie Witte." Die Bilanz des Reichsbudgets stieg unter ihm von 965 Millionen Rubel in 1892
auf 2 Milliarden in 1903 (von 1883—1892 von 778 auf 965 Millionen, von 1903—1913 von 2 Milliarden auf 3% Milliarden).
Und Wittes
Verdienst war es unbestritten, daß Rußland 1905 während der Friedens verhandlungen mit Japan noch eine Gesamtgoldreserve von über einer
Milliarde Rubel einzusetzen hatte, während Japan pekuniär am Ende war. Er hat eine, ost geschmacklose, unbedingte Bewundemng gefunden, wie eine scharfe, oft weit übertriebene, weil mit zu kleinen Maßstäben rechnende
und kurzsichtige Kritik des Auslandes*). Heute wird man das Verdienst *) Diese hatte sehr oft rein polittsche Mottve.
Obwohl Witte kaum im
eigentlichen Sinne deutschfreundlich war, vertrat er zum mindesten bett Stand-
II. Kapitel.
76
dieses Ministers um die Finanzen und damit die politische Geltung seines Staates sehr hoch werten müssen; ein Charlatan war dieser Staatsmann nicht.
Aber freilich kamen, wenn er das Einnahme-Budget von ein auf
zwei Milliarden steigerte, also mehr als verdoppelte, davon nicht weniger als 659 Millionen Rubel, d. h. drei Fünftel auf Anleihen im Auslande,
und vom übrigen erheblich mehr aus der fiskalischen Anspannung des Steuerdruckes, besonders durch das Branntweinmonopol, und die
ge
steigerten Umsätze der Staatsunternehmungen überhaupt als aus der absolut gestiegenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Volkes.
Hier lag
nun aber die Kardinalfrage.
Auf die Dauer war ein solches System nur möglich, wenn mit ihm die produktiven Kräfte des Landes weiter entwickelt wurden.
auch Wittes Gedanke, den er so ausgedrückt hat:
Das war
„Das Schutzzollsystem
ist eine Schule für die Industrie, deren Kosten auf allen Bevölkerungs
schichten
lasten.
werden.
Die Befreiung davon kann durch Hcreinziehung ausländischer
Wir
müssen
daher
sehen,
wie
wir
diese
Last
los
Kapitalien nach Rußland erreicht werden. Wir haben keine eigenen Kapi talien; wo aber solche vorhanden sind, da sind sie unbeweglich.
Durch
Heranziehung ausländischer Kapitalien wird die Schule des Schutzzoll
systems billiger. Gewiß ist zuzugeben, daß mit dem Zuflusse ausländischer Kapitalien für uns Opfer verbunden sind.
Ist es nun besser, daß wir
ausländische Erzeugnisse für Hunderte von Millionen einführen, oder daß
wir mit Hilfe fremder Kapitalien, die im Lande bleiben, eine eigene
russische
Industrie
schaffen?
Ein
ausgedehnter Zufluß
ausländischer
Kapitalien nach Rußland ist nach Möglichkeit zu fördern." Diesen Motor
hat er auch in großem Maße hereingeführt. Er hat fremdes Kapital nicht
nur in Gestalt von Staatsanleihen herangezogen, für die er den Pariser Markt voll eröffnete und den Berliner beibehielt (seit 1894 wieder eröffnet). Er hat es auch zu Anlagen in privaten Unternehmungen ins Land
gelockt und ist so der Vater der eigentlichen Industrialisierung Rußlands
geworden, die er durch Herabsetzung der Eisenbahn-Personentarifc, durch
die Differentialtarife für Getreide und — als erster russischer Handels
punkt, daß die deutschen und die russischen Wirtschaftsinteresscn aufeinander an-
gewiesen seien.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
77
minister — durch Handelsverträge mit Tarifbindung und ermäßigten Zollsätzen weiter förderte').
Der Beginn prinzipiell-kapitalistischer Entwicklung liegt für Ruß
land etwa ein Jahrfünft vor Wittes Amtsantritt. Will man ein Jahr angeben, fo kann man 1887 als Ausgangspunkt nennen.
Die Förde
rung der modernen Industrie galt schon damals als das wesentliche,
geradezu
als eine patriotische Tat.
Aber unter Witte nimmt dieser
Übergang Rußlands vom „Agrikultur"- zum Agrikulturmanufakturstaat"
ein rapides Tempo an. Bis 1897 steigt das ununterbrochen an, um vom
Winter 1899 an durch eine lange Krise, besonders 1901/02, abgelöst zu werden, die erst von 1903 an überwunden war und in der Hunderte
von Millionen an französischem und belgischem Kapital verloren wurden. Die Hausse ist auch durch Krieg und Revolution nicht wesentlich unter brochen worden; nur vorsichtiger ist man seitdem geworden als in jenen
90er Jahren der eigentlichen Gründerzeit. Denn das war sie im verwegenen
Sinne des Wortes. Und der Staat ging vor allem auf dem Gebiete des Eisenbahnbaues unternehmend und Produktionsanreizend voran: 1892 hatte Rußland 31000 Kilometer, 1902 über das Doppelte (64 200 Kilo meter) an Eisenbahnen. Deshalb wurde auch die Eisen- und Kohlen'ndustrie
in erster Linie von dem Gründungsfieber und dem Jndustriefanatismus ergriffen. Die Katharinenbahn (Bau beschlossen 1880) hatte Kohle
und Eisen des Südens zusammengebracht. Jetzt entstanden dort Berg
werke, Hütten und Hochöfen mit größter Schnelligkeit.
Die Produktion
in Eisen und Stahl betrug 1893: 945 000, 1902: 1870 000 Tonnen. Die anderen Zweige, besonders die Textilindustrie, folgten langsamer, aber
sie folgten auch. 1897 zählte man 34154 Betriebe mit 2499,5 Millionen
Rubel Umsatz.
1902 gab es schon 302 industrielle Großbetriebe mit
über 1000 (im ganzen 710000) Arbeitern. Typus und Rythmus der Kapitalisierung wurden namentlich in den ausgehenden 90er Jahren des
Jahrhunderts als amerikanisch empfunden und gefeiert.
Dem entsprach
auch die Konzentration: 1903 schossen die Syndikate nur so aus dem
Boden, in der Eisen- und Stahlproduktion erreichte die Syndizierung schon die Züge Westeuropas.
Den Grad der Verschiebung zeigte die Berufs
statistik, die zum ersten Male 1897 ausgenommen wurde und freilich immer noch ergab: *) Deutsch-russischer Handelsvertrag vom 10. Februar 1894.
II. Kapitel.
78 als beschäftigt in:
Millionen
Prozent der Bevölker
.
.
93,7
.
.
.
12,2
...................................
.
.
4,9
4
Verkehrswesen.......................
.
.
1,9
1,5
....
.
.
2,1
1,6
.
.
5,7
4,8
Landwirtschaft....................... Bergbau, Industrie usw. .
Handel
Beamte, Militär
Private Dienstleistungen .
.
75,5 9,7
Im ganzen bot sich so das typische Bild des Frühkapitalismus, d. h. einer Stufe, auf der noch keine große und geschlossene Klasse ernst
haft am Kapitalismus beteiligt und interessiert ist, also den Staat auch noch nicht entscheidend im kapitalistischen Interesse beeinflussen und be
stimmen kann. Witte meinte in vollem Ernst, durch eine derartige Groß industrie nach europäischem Vorbild die produktive Kraft des Landes zu wecken und seine Volkswirtschaft vollkommen zu einer solchen aus zugestalten.
Man konnte auch nicht von einer „künstlichen" russischen
Großindustrie
schlechthin reden, wem:
man diesen
Import
fremden
Kapitals, technischen Geistes und Unternehmertums im Auge hatte. Denn
die realen Vorbedingungen für eine Großindustrie waren und sind in
Rußland ja vorhanden. Die Besonderheit liegt darin, daß hier die Ver bindung von Kapital und Technik mit Rohmaterial allein durch die Regierungspolitik hervorgerufen ist (mit Ausnahme der von dem Schweden
R. Nobel seit 1874 in Baku begründeten Naphthaindustrie), und daß sie bisher nicht von einem inländischen Bürgertum geschaffen und getragen
wird, sondern das Ausland und die Ausländer noch stark beteiligt bleiben: nicht die natürlichen, sondern die sozialen Voraussetzungen fehlten.
Freilich war Witte nicht volkswirtschaftlich geschult genug, um zu
wissen, inwieweit eine kapitalistische Großindustrie rein nach europäischem Muster im Lande eingeführt werden konnte.
Um eine Anknüpfung an
einheimische Ansätze kümmerte er sich nicht, wie auch der Kustar trotz
aller Modefürsorge vernachlässigt wurde. Am bedenklichsten aber war, daß sich dieses Finanz- und Jndustriesystem schließlich doch allein auf Kosten des Bauem auswirkte.
Witte hat den verhängnisvollen Zirkel nicht ge
schaffen, in dem sich sein Vaterland bewegte, daß ein an vielen Stellen chronisch
an
Hungersnot
leidendes
Land
einen gewaltigen
Getreide
export aufrechterhalten mußte. Aber er hat auch nichts getan, um das
Die Entstehung des modernen Rußlands. Volk aus diesem Zirkel herauszuführen.
79
Er hat gehofft, daß der Bauer
noch eine Zeitlang diese Anspannung aushalten würde, weil er eine be
rechtigt große Vorstellung von der Fähigkeit seines Volkes, Not zu leiden, hatte, und er glaubte, daß Rußland Zeit genug haben würde, um sich von diesem Zustande ausländischer Kapitaleinfuhr und auf Kosten des
Bauem zu bezahlender Verschuldung an das Ausland zur gereiften boden
ständigen Volkswirtschaft zu entwickeln. Es ist auch nicht erlaubt, über sein
System in dieser Beziehung einfach verurteilend abzusprechen. Gewiß war die agrarische Not sehr groß, aber denkbar war es, die wirtschaftliche Kraft
des Volkes zunächst auf dem von Witte eingeschlagenen Wege so weit zu
festigen, daß dann an eine agrarische Reform gegangen werden konnte. Nur war dafür die Voraussetzung, deren Notwendigkeit Witte auch immer ein
gesehen hat, daß Rußland eine längere Zeit friedlicher Entwicklung beschieden
war.
Witte erkannte die Notwendigkeit der Expansion nach dem fernen
Osten an, aber sie durfte nach ihm nur friedlich sein. Von jeder kriegerischen
Verwicklung mußte er befürchten, daß sein finanztechnisches Lebenswerk dadurch erschüttert
würde' und daß Millionen
volkswirtschaftlich
un
produktiv weggeworfen werden müßten. Daher gehörte er zu den Gegnern
der Kriegspolitik, die aber über ihn hinweg ging und siegreich blieb.
Er wurde 1903 gestürzt, indem die jahrelangen Wirkungen der industriellen
Krise, die Gegenarbeit der agrarischen Gegner und die seinem System Schuld gegebenen revolutionären Bewegungen übermächtig gegen ihn zu-
sammenflossen. Nun hatte aber weder der Krieg noch die aus ihm hervor gehende Revolution die befürchteten finanziellen Folgen.
Deshalb ist
dieses sog. System Witte auch nicht im ganzen zusammengebrochen. Nur insoweit hat diese Krisis gewirkt, als die Vernachlässigung der Agrarfrage
zugunsten anderer Zweige von nun an schlechterdings nicht mehr erlaubt
war. Die einseitige Förderung einer Großindustrie um jeden Preis wurde aufgegeben und die Agrarreform begonnen.
Sonst aber ist die spätere
Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz auf den Bahnen Wittes weiter gegangen.
Für die Revolution von 1904 aber schuf die Wittesche Jndustrie-
polittk unmittelbar eine Voraussetzung durch das Arbeiterproletariat, das sie mit sich brachte.
l) Lositzki.
Ein Statistikers rechnete, daß zu Beginn des 20.
80
II. Kapitel.
Jahrhunderts fast K (22%) der russischen Bevölkerung proletorisiert waren. Aber weder das agrarische noch das Lumpenproletariat der Städte (der sog. 5. Stand Gorkis) waren zu einer Revolution allein im Stande,
sondem dazu mußten sich mit ihnen die Jndustriearbeiterzentren verbinden,
die im modernen Sinn erst jetzt entstanden. 1879 zählte man 685286, 1890:. 868 844, 1897: 1487 019 Arbeiter; die Zahlen der offiziellen Gewerbezählung von 1897 sind noch höher: 2,39 Millionen in Industrie, Bergbau und Bauwesen, davon 2 Millionen männlicher Arbeiter. Diese Verschiebung machte sich durch Streiks uitb- Lohnbewegungen, vor allem durch eine Sozialdemokratie fühlbar, und das ergab für die ältere nihilistisch revolutionäre Bewegung eine ganz neue Aussicht.
V. Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution.
Als der Nihilismus auch mit dem Zarenmord von 1881 den Um sturz des Staates nicht herbeizuführen vermochte, haben seine zerstörenden
Kräfte unter der Oberfläche weiter gearbeitet. Die Partei der „Narodnaja
Wolja" blieb bestehen und versuchte in weiteren Attentaten auf den Zaren und seine Diener doch noch zu ihrem letzten Ziel zu kommen. sie erfaßte weitere Kreise nicht mehr, weil diese einsahen,
Aber
daß die
Staatsorganisation die stärkere blieb und ihren Druck auf das öffentliche
Leben deshalb höchstens steigerte. Dafür ging die zerstörende Arbeit geistig im Verborgenen unaufhaltsam weiter. Der prinzipielle Anarchismus, in
den der Nihilismus schließlich ausgemündet war und dessen Haupwertrcrer P. Kropotkins ist, sammelte in den 20 Jahren bis zum Beginn der
Revolution nicht übermäßig viele tatbercite Anhänger. Um so stärker wirkte er auf die Geister mit seinen radikalen Lösungen, die dem russischen Geiste so besonders nahe lagen, und wurde darin durch die schöne Literatur
unterstützt. Erst in diesen zwei Jahrzehnten ist Dostojewski (gest. 1881) zu seiner vollen destruktiven Wirkung gekommen. Da er wie die russische moderne
Dichtung überhaupt aufs stärkste in fremde Sprachen übersetzt wurde, ge wann diese Richtung eine große Bundesgenossenschaft, indem durch ihre
Schilderungen des russischen Lebens die öffentliche Meinung Westeuropas *) S. bessert Memoiren eines Revolutionärs. Stuttgart 1900 f.
81
Die Entstehung des modernen Rußlands.
stark beeinflußt wurde. Dieses Moment tritt im Urteil über den Einfluß
der Russen auf die westeuropäische, besonders die deutsche Literatur der 90er Jahre zu sehr zurück.
Man nahm sie in erster Linie als Potenzen
der allgemeinen geistigen Bewegung in der Literatur. Man staunte über die unerhörte realistische Kühnheit, mit der sie vor keiner Schattenseite des
Lebens zurückschreckten, und über die so noch nirgends erreichte Sensibilität, mit der die psychologische Analyse, die Schilderung seelischer Stimmungen und Schwingungen eine ungeahnte Höhe erklomm. Uber dieser allgemeinen
Wirkung ist immer übersehen worden, daß diese Literatur voll bestimmter
Tendenzen zugleich auch russisches Leben schilderte und der russischen Un zufriedenheit ein auf diese Weise gewaltig erweitertes Feld der Äußerung gab.
Kaum haben sich die russische Regierung und die maßgebenden
Kreise des Landes überlegt, was diese einseitigen und tendenziösen, aber oft von Meisterhand und mit
elementarer Kraft gezeichneten
Bilder des
russischen Lebens für die Bewertung Rußlands in Europa f > Deutet haben.
Was sich so vorbereitet hatte, hat dann Leo Tolstoi
1828—1910)
zu einer Höhe gesteigert, die nicht Überboten werden konnte.
Aus dem
großen Romancier war in der Mitte der 70er Jahre ein Religions
philosoph geworden, der sich in die Sittenlehre des Urchristentums ver tiefte und immer mehr den schreienden Widerspruch empfand, in dem diese zu dem Rußland seiner Gegenwart, insonderheit zu der Lage der
Bauern stand. Man war zuerst geneigt, die Art, in der Tolstoi aus seinen
neuen Überzeugungen die praktischen Konsequenzen für sein eigenes Leben zog, als Narrheiten eines Sonderlings zu beurteilen und darüber zu
übersehen, wie destruktiv es wirken mußte, daß dieser Mann in seiner
Lehre und in seinem Leben entschlossen auch vor den Autoritäten des Staates und der Kirche nicht Halt machte, mit denen er sich in Wider spruch fühlte. Die Leute, die in den 70er Jahren „in das Volk gingen",
haben den Bauer nicht zu gewinnen vermocht, aber Tolstoi, der ein Volks
schriftsteller ersten Ranges war und dessen kleine volkspädagogische Schriften ungeheuer verbreitet wurden, hat das gekonnt. Und der theoretische Komnin-
nismus, mit dem er endete, war um so wirksamer, als er an Urvor stellungen im Bauerntum anknüpfte, die noch sehr lebendig waren. Mil
seiner Lehre hat Tolstoi so den Nihilismus zwar geistig überwunden, indem er, von einer starken religiösen Gmndlage pantheistischer Färbung aus
gehend, eine umfassende Sittenlehre predigte. Aber er hat die auf ZerHoeßsch, Rußland.
6
II. Kapitel.
82
stömng des bestehenden Staates gerichtete Lendmz dieser geistigen Be wegung abgeschlossen, indem er mit seiner Lehre die bestehende staatliche
und kirchliche Ordnung einfach auflöste.
Dadurch, daß diese Ideen von
einem Meister der Literatur mit größter geistiger Kraft, mit aller Schön
heit der Sprache ausgesprochen wurden, waren sie ihrer Wirkung auf die Intelligenz immer sicher und fanden sie im Auslande Verbreitung und
Beifall. Durch ihre Wendung zum Praktischen aber, die zur Aufforderung zur Steuerverweigerung und Verweigerung des Militärdienstes führte,
gewannen sie Kreise, an die bis dahin die Agitation niemals herangekommen
war. So ist Tolstoi in den zwei Jahrzehnten vor 1904 einer der stärksten Wegbereiter der Revolution gewesen, ein Feind des bestehenden Staates
und der bestehenden Kirche, den diese beiden Mächte der Autorität in sich
nicht mehr dulden konnten. Die Kirche hat dämm, von ihrem Stand punkt aus mit Recht, die Konsequenz gezogm, indem sie ihn exkommuni zierte (März 1901)1).
Jedoch .ms diesen beiden Quellen, dem Nihilismus letzter Phase und dieser destrm'tto
wirkenden Literatur, hätte nicht der
Strom
werden
können, der 1905 mit so großer Wucht gegen das Gebäude des Zaren tums heranbrauste. Es war für den Staat wohl schädlich und verhängnis voll, daß seine gebildeten Kreise vielfach dieser geistigen Anarchie ver fielen und daß die vorhandene Unzuftiedenheit der Bauern in der Lehre Tolstois einen praktischen Ausdmck und ein Ziel fand. Aber die Revolution
wurde, obwohl es manchmal so schien, nicht eine Agrarrevolution über das ganze Land hin, weil dieses Bauemtum nicht reif genug dazu war
und des Klassenzusammenhangs mtbehrte. Vielmehr ist die agrarische Unzufriedenheit, die allerdings dann nach Lage der Bedürfnisse des Landes'
in der Duma eine sehr große Rolle spielte, benutzt und vorgespannt worden von einer anderen Bewegung, die die Dinge zum Ausbmch trieb.
Schon in den ersten Jahren Alexanders Hl. hatte ein begabter Kopf des damaligen Nihilismus, selbst ein Mitglied der „Narodnaja Wolja", eingesehen, daß man auf diesem Wege geistig so gut wie praktisch
zu nichts kam.
Und er fand den Weg aus diesen im Kreise gehenden
*) Tolstoi hat darauf eine „Antwort an den Heiligen Synod" (vom 17. April
1901) veröffentlicht, die bei aller sie durchwehenden religiösen Kraft die hier auf gezeigte Kluft auch nicht zu überbrücken vermochte.
Die Entstehung des niodernen Rußlands.
88
Gedanken durch den vollständigen Anschluß an die Lehrm des westeuropäischen Sozialismus.
G. Plechanow schrieb 1883 „Der Sozialismus
und der Politische Kampf" und 1885 „Unsere Meinungsverschiedenheiten" (in der Partei der „Narodnaja Wolja" nämlich) und stellte damit die
Verknüpfung mit dem westeuropäischen, insonderheit dem deutschen Sozia
lismus in der Fassung von Karl Marx erst endgültig her. Jetzt wurde aus der einfachen Herübernahme sozialistischer Ideen ihre Anpassung an die
Forderungen des russischen Lebens: Rußland sängt an, ein kapitalistischer Staat zu werden, erhält also ein Proletariat. Deshalb braucht die gegen
das Zarentum gerichtete revolutionäre Bewegung nicht mehr auf die Bauem zu hoffen, sondern kann sich auf die Industriearbeiter stützen. So
kam es darauf an, einmal die nihilistische Intelligenz in immer stärkerem
Maße mit den Gedanken des westlichen internationalen Sozialismus zu
erfüllen; Zusammenhänge, die längst bestanden, erhielten eine neue BedeuMng. Femer mußte diese Plechanowsche Anschauung die soziale Schicht
finden, auf die sie sich stützen konnte, und danach doch auch an dir
für das Gelingen einer Revolution in Rußland unbedingt notwendige Schicht, die Bauern, heranzukommen suchen.
Das letztere ist in einer
Agitation angestrebt worden, die mit Geschick an die vorhandenen kommu nistischen Vorstellungen anknüpfte. Sie hätte trotzdem dasselbe Schicksal
gehabt, wie die Bewegung des „Jns-Bolk-Gehens" in den 70er Jahren, wenn ihr nicht die gewaltige, seitdem entstandene Unzufriedenheit der
Bauem
entgegengekommen wäre, und wenn sie nicht eben die Ver
stärkung gefunden hätte, die jener früheren geistigen Bewegung gefehlt hatte, ein industrielles Proletariat, Zusammenballungen von Arbeitern
in den großen städtischen Zentren. Der geistige Kampf um diese Fragen, zwischen den Bertretem der
letzten Phase des Nihilismus und des Marxismus, erfüllt die achtziger, noch mehr die neunziger Jahre.
Die Namen: Plechanow, Axelrod,
Struve, Tugan-Baranowski, Wera Sassulitsch, Lenin, Martow führen schon in die GegenwaA herein.
Sie zeigen zugleich auch die enge Ver
bindung mit der deutschen marxistischen Sozialdemokratie, die namentlich
durch Plechanow und Axelrod hergestellt war.
In ihnen belebte dieser
russische Marxismus der 90er Jahre die Jntelligmz von neuem, indem
er sie aus den extremen Phantasien des letzten Nihilismus auf den festen Bodm der wirtschaftlichen und sozialm Verhältnisse und des Klassen-
6*
II. Kapitel.
84 kampfes stellte.
Die Führer der Arbeiter übernehmen unter Nikolai II.
die Rolle der Dekabristen unter Alexander I., und auf diese
Weise
wurde, wie man es ausgedrückt hat, zunächst theoretisch der bisherige bäuerlich-ethische Sozialismus zum Ausdruck des Klassenkampses zwischen
Bourgeosie und industriellem Proletariat. Das Leben paßte freilich nicht
ganz zu dieser Theorie: die Ansätze des industriellen Proletariats hängen noch fest mit dem Dorfe zusammen, und die Bourgeosie ist bis zur Gegen wart keine geschlossene soziale Klasse geworden, sondern zahlenmäßig schwach
und vom Staate abhängig geblieben.
Gleichwohl veränderte sich
Charakter der dem Staate feindlichen
Schichten, die Voraussetzungen
der
einer revolutionären Umgestaltung wurden breiter und gefährlicher. Das
war in Streiks und in den Anfängen der politischen Arbeiterorganisation zu
erkennen.
Nachdem die überhaupt ersten eigentlichen Streiks im Jahre
1885 vorgekommen waren, fallen die ersten wirklich bedeutungsvollen Streiks in die Jahre 1894, 1895, vor allem 1896:. der große Streik
der Textilarbeiter.
Ebenfalls in die 80er Jahre reichen die Versuche der
Organisation zurück.
Die Plechanowsche Gruppe der „Befreiung der
Arbeit" von 1883 ist, im Auslande organisiert, der Ausgang der russischen
Sozialdemokratie; die erste sozialdemokratische Organisation in Rußland selbst ist 1895 entstanden.
Erst in den 90er Jahren, unter der Wirkung
der Jndustriepolitik, ging die Organisation mehr in die Breite: 1895
entstand
ein
Verband
zur „Befreiung der Arbeiterklasse",
1897 der
allgemeinjüdische Arbeiterbund von Rußland und Polen, der auch russisch
sog. „Bund", 1898 verwandeln sich die sog. „Kampfverbände" in den
Provinzen in „Komitees der russisch-sozialdemokratischen Partei".
Seit
dem war eine russische Sozialdemokratie und auch eine solche der Grenz marken vorhanden. Ebenso war die „Narodnaja Wolja" wieder aufgclcbt
(1894), die 1902 zur Partei der Sozialrevolutionäre wurde, und bald waren verschiedene einander befehdende Richtungen da, in denen sich der
Geist Bakunins und der von Karl Marx bekämpften.
Die Bedeutung
dieser neuen sozialen Bewegung wurde noch offenbarer, als sie den An
fang
einer
Sozialpolitik
erzwang
(1897
Fabrikinspektion
und
Gesetz
über den Maximalarbeitstag) und die Regierung seit 1899 eine Gegen propaganda durch Organisierung staatstreuer Arbeiter versuchte (durch
den Moskauer nannt).
Polizeimeister
Subatow,
daher
Subatowschtschina
ge
Die Entstehung des modernen Rußlands.
85
Der Ring all dieser Voraussetzungen zur Revolution wurde geschlossen, als — im Jahre 1901 zum ersten Male — in den Studentenunruhen, die damals die Universitäten bewegten, sich die Intelligenz mit dem Proletariat
verbündete und nun gemeinsam die Revolutionierung des Bauerntums in die Hand nahm. Das vor allem gefährdete den Staat, da die geschilderte
geistige Entwicklung aus dem Studentenleben in das Beamtentum über
tragen wurde, und das gleiche, aus den Offizierbildungsinstituten heraus,
in den Offizierkorps wenigstens der Spezialwaffen und der Flotte, zum Teil aber auch der Linieninsanterie, geschah. Nimmt man hinzu, daß sich
diese ganze Entwicklung in den nichtrussischen Teilen des Staates, wenn
auch mit Unterschieden, gleichfalls vollzog, daß in den Ostseeprovinzen, in Polen und Finnland auch ein industrielles Proletariat entstanden war, und daß in diesen drei Grenzmarken und in der Ukraine zu all dem
noch der nationale alte Gegensatz und neue Haß hinzukam, den die Rüssi-
fizierung geschaffen hatte, so sind die historischen Voraussetzungen für die Revolution vollständig gegeben.
Und es bedurfte nur eines verhältnis
mäßig geringen Anstoßes von außen, um den so aufgehäuften Zündstoff in hellen Flammen emporschlagen zu lassen.
Wie weit war, als die Revolution losbräch, die Europäisierung
Rußlands gediehen?
Das Herrscherhaus ist ein Glied der europäischen
KulMrgemeinschaft geworden, aber dadurch, daß es die blutmäßige Ver
bindung mit dem eigenen Volke aufgegeben hat. Ist doch seit Peter III., dessen Mutter, die Gemahlin eines Holstein-Gottorper Herzogs, noch eine
Romanow (die Tochter Peter des Großen) war, kein russisches Blut in diese Herrscherfamilie gekommen*). Vom Herrscherhause aus wird die innerliche Europäisierung immer schwächer, je weiter die einzelnen Kreise von diesem Mittelpunkte entfernt
sind. Unfraglich ist in den Kreisen der Beamten und Offiziere ein sehr erheblicher Prozentsatz auch innerlich, geistig wie sittlich, europäisch Ge
bildeter vorhanden.
Aber keineswegs alle Glieder dieser Schicht und des
Adels überhaupt haben den Widerspruch in sich überwunden, den Peter, Elisabeth und Katharina damit schufen, daß sie erst deutsch-holländische und bann französische Kultur in das russische Wesen eingeführt haben.
*) Trotz aller dagegen sprechenden Momente ist Paul als Sohn Peters TU und Katharinas, nicht Katharinas und SallykowS anzusehen.
n. Kapitel.
86
Die Französierung des russischm Adels, die im 18. Jahrhundert dadurch
erreicht war,
ist freilich durch die bewußt national-russische Haltung
Alexander HL wieder rückgängig gemacht worden. Aber auch damit sind in der Oberschicht die verschiedenen Elemente ihrer Kultur noch nicht aus geglichen worden, sondem lagert die fremde, oft nur äußerlich angenommene
Kultur noch unvermittelt neben dem Wesen des eigenen Volkes, mit dem rin enger Zusammenhang für große Kreise des Adels auch heute noch
besteht.
So ist wohl ein großer Abstand zwischen der dünnen Oberschicht
des Besitzes und der Zivilisation und der davon ausgeschlossenen großen
Masse
entstanden,
aber
dieser
Gegensatz
erscheint
für den flüchtigen
Blick stärker, als ihn die Abneigung des Volkes gegen Klassengeist und
-Vorurteile
und
der
allen eigene demokratische Zug tatsächlich haben
werden lassen. Auch die Intelligenz hat sich innerlich in vielen ihrer Glieder euro-
päisiert. Selbst die Führer des Nationalismus in der Gegenwart arbeiten, wenn auch nicht immer bewußt, mit dem Kapital, das sie dem geistigen
Anschlüsse an Europa verdanken. Aber diese Intelligenz bedeutet bei der
Lage des Schulwesens und ihrer eigenen geringen Zahl auch heute noch nicht allzuviel, besonders da die gesamte Intelligenz geistlichen Berufs
ganz ausfällt. Dasselbe gilt für die zahlenmäßig gleichfalls nicht große Schicht der Kaufmannschaft und Gewerbetreibenden, um so mehr, als in dieser sehr viele nichtrussische Elemente tätig sind und andererseits sich gerade im
Kaufmannsstande das Altrussentum, oft in Verbindung mit dem „alt
gläubigen" Wesen, noch sehr lebendig erhält). Aus seiner früheren Ge schichte hat ja das russische Volk auch das als Erbteil in die neueste Zeit hereingenommen, daß seiner sozialen Struktur ein dritter Stand im west europäischen Sinne fehlte.
Auch heute noch ist es bis zu vier Fünftel
seiner Bevölkerung ein Bauemvoll.
Und dieses Bauernvolk trägt das
geschilderte — autochthone — Erbteil der Vergangenheit mindestens geistig noch in vollem Umfange mit sich. Das Zeitalter des Individualismus ist bisher noch nicht erreicht, für diese Stufe der Europäisierung schlt auch
heute noch die soziale Grundlage. *) Es sei
erinnert.
an dm heute noch
Dagegen sind die im Volkscharakter sehr
geläusigen Begriff des
„MoSkwiffch"
Die Entstehung des modemen Rußlands.
87
und in der geographischen Lage liegenden Bedingungen für eine Konser vierung mittelalterlichen Wesens und psychischer Gebundenheit durch die
politische Geschichte noch gewaltig gesteigert worden: in seiner wirtschaft lichen, sozialen und geistigen Entwicklung hat sich das russische Volk
jahrhundertelang sehr langsam vorwärts bewegt, während seine politische Organisation mit ihren Bedürfnissen in großer Wucht und Schnelligkeit
wuchs.
UI. Kapitel.
Der Krieg mit Japan nnd die Revolnlion bis zum Zusammentritt der ersten Duma.
i. Die asiatische Kolonialpolitik hatte Rußland immer tiefer in die
Probleme des fernen Ostens verstrickt, die mit dem Kriege zwischen Japan und China (1894) ins Rollen gekommen waren. Getragen wurde diese Politik von dem „Departement des fernen Ostens"
in seinem
Ministerium des Äußeren, dann seit 1903 von dem selbständig daneben
gestellten „Komitee für den fernen Osten", das 1905 nach dem großen Fehlschlage des Krieges wieder aufgehoben worden ist.
Das Korea-Abkommen 1897, das russische Geschwader in Port
Arthur Dezember 1897, der Pachtvertrag mit China über Port Arthur März 1898, die Begründung der russisch-chinesischen Bank 1896, die
wieder die ostchinesische Eisenbahngesellschaft begründete, der Bau dieser ostchinesischen Bahn seit 1898, die Befestigung von Port Arthur und die
Anlage eines „asiatischen San Franziskos" (Dalni) in demselben Jahre schienen Etappen einer ebenso glücklichen Expansion im fernen Osten
zu sein, wie diese es im Kaukasus, in Turkestan und Mestsibirien gewesen war. Ihr Ziel war die Nordmandschurei und durch sie hindurch eine Ver
bindung (Charbin—Port Arthur) der großen sibirischen Bahn mit dem Stillen Ozean an einer günstigeren Stelle, als in dem zu weit nördlich ge legenen Wladiwostok, und an einer Stelle, die eine bessere Möglichkeit des
Einflusses auf die chinesische Frage bot.
Manchen, als deren Führer der
Fürst Uchtomski galt, standen dahinter noch höhere Ziele der russischen Herrschaft in Asien, für die Uchtomski sogar eine Verschmelzung von Slawen und Mongolen propagierte.
Seit seiner Reise im fernen Osten
stand auch der Zar im Banne dieser weit fliegenden Gedanken, die die
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
89
russische Politik von Europa ablenkten und der Kulturmission Rußlands so sehr zu entsprechen schienen, und ihn umgaben Diener, die zur Er
reichung dieser Ziele vor nichts zurückschreckten. So ging wenigstens eine bestimmte Richtung, die freilich die Verantwortlichen Minister des Zaren
in
auswärtigen
Dingen
(Graf Murawjew,
Graf
Lambsdorff),
nur
ungern mitmachten, darauf aus, so viel wie möglich vom nördlichen China
unter russische Botmäßigkeit
zu
bringen.
1903
wurde schon
eine eigene Verwaltungsstelle eingerichtet, die Statthalterschaft „Dalni Wostok", d. h. ferner Osten, in deren Bereich (Transbaikalien, Amur-
und Küstengebiet, Kwantung und Sachalin) auch das Gebiet an der chinesischen
Ostbahn
und die
„an
die
Statthalterschaft
angrenzenden
jenseits der Grenze liegenden russischen Besitzungen", d. h. die Mand schurei einbezogen wurden. Jenes besondere selbständige Komitee für den
fernen Osten unter Leitung eines Staatssekretärs (Minister ohne Porte feuille) Besobrasow hatte in Petersburg diese Politik zu treiben und mit
ihm hatte, unabhängig von der verantwortlichen Führung der auswärtigen Geschäfte, der Statthalter des fernen Ostens, F. G. Alexejew, zu arbeiten.
Diese Politik trug ohne Zweifel einen großen Zug. Sie war logisch,
indem sie eine seit Jahrhunderten nach dem Osten vordringende Expansion abrunden und günstigere Verbindungen mit dem Stillen Ozean anstreben wollte, als Rußland bisher hatte. Eher konnte auch das Werk des Grafen Murawjew-Amurski nicht als vollendet gellen. Diese Politik war Impe
rialismus, der auch in Rußland jetzt bewußt als Programm ausgenommen wurde, nicht nur das Werk einer egoistischen Klique von Holz- und
Minenspekulanten in Korea. Aber sie hotte in ihrem über ein Jahrzehnt fast ungehindert vorangehendem Vorwärtsdrängen das Augenmaß für das verloren, was sie gegen Japan durchsetzen konnte.
Hingewiesen worden ist die russische Politik auf dieses Hindernis
durch die aus Japan kommenden Proteste, durch die Berichte ihres Vertreters in Tokio, des Barons Rosen, und schließlich durch den Besuch des führenden japanischen Staatsmannes Ito int Dezember 1901 in
Petersburg.
Weitblickender als Rußland, ließ Japan damals seinem
Nachbarn und Rivalen die friedliche Auseinandersetzung in Ostasien an
bieten, zu der sich Rußland schließlich 1910 und endgültig erst im Welt kriege verstanden hat.
Aber die damalige russische Staatsknnst glaubte,
den Gegner verachten zu können, Ito wurde abgewiesen, und schon am
HI. Aapttel.
90
30. Januar 1902 schloß England sein Bündnis mit Japan.
Seitdem
war ein Krieg zwischen Rußland und Japan sicher. Die Gefahren, die er Rußland bringen konnte, sah die Partei
am Hofe, die sich um Witte, den Grafen Lambsdorff und den Kriegs minister (seit 1898 Kuropatkin) gruppierte — auch der nächste Vertraute
des Zaren, der Hofminister Baron Fredericks, gehörte dazu — gar wohl.
Auf der anderen Seite stand die Gruppe, die Rußland in leichtsinniger Unterschätzung des Gegners in den Krieg hereingetrieben hat: vornehmlich
Besobrasow und Alexejew; auch Plehwe, der Minister des Innern, war auf ihrer Seite.
Der Zar war friedlich gesinnt, aber erfüllt von
jener großen Mission Rußlands in Asien und ließ, sich daher immer
tiefer in den drohenden Konflikt hereinziehen, obwohl die öffentliche Mei
nung von einer Angriffspolitik in Ostasien nichts wissen wollte.
Denn
die asiatische Politik ist der russischen Gesellschaft immer unsympathisch oder
gleichgültig gewesen; für sie bleibt die orientalische Frage im alten Sinne
die Zentralfrage.
Von vornherein mußte daher ein Krieg mit Japan
damit rechnen, höchst unpopulär zu sein.
Witte hat sich trotzdem den
Kriegstreibern nicht mit aller Kraft entgegengestellt und ist rühmlos ge
wichen. Er wurde am 29. August 1903 entlasten, nachdem am 13. August Alexejew ernannt worden war. Gereizt durch die Verschleppung der Verhandlungen, brach Japan
diese am 5. Febmar 1904 ab und begann den Krieg. Von vornherein waren die Aussichten für Rußland ungünstiger.
An Ort und Stelle
reichten die verfügbaren Truppen bei weitem nicht aus, langwierige Transporte mußten sie erst verstärken. Der Krieg mußte ferner bei der
Lage Japans zu einem wichtigen Teile Seekrieg sein, in dem Rußlands Stärke niemals gelegen hat und in dem es auch insofern die schwächere
Position hatte, als der Verschluß der Meerengen seiner Schtvarzmeer-
flotte die Ausfahrt und Teilnahme am Kampf unmöglich machte. Die Lage seiner Finanzen schien auch nicht zu dem Kriege zu ermutigen, waren doch schon seit einigen-Jahren in Europa Zweifel an ihrer Solidität laut
geworden und drohten Fehlschläge namentlich das französische Kapital ge fährlich mißtrauisch zu machen. Und die internationale Sicherung reichte
nicht aus, weil das Bündnis mit Frankreich, obwohl auf den fernen
Osten auch ausgedehnt, durch die Vorbereitung zur Entente Frankreichs
mit England in seiner BedeuMng geschwächt war und England, auch
Der Krieg mit Japan und die Revolution. Wenn
91
eS später militärisch nicht in dm Krieg eintrat, so Frankreich
fesselte. Für einen russischen Erfolg sprach nur die alte Ausdauer und
Tapferkeit der Landarmee, die sich dann auch glänzend bewährt hat, die
unerschöpfliche militärische Reserve und die Haltung Deutschlands, das
Aber alles in allem genommen,
Rußland die europäische Flanke deckte.
begann im Februar 1904 ein Krieg unter so ungünstigen Umständen wie noch niemals in der russischen Geschichte.
Man hat die Gründe für
die Niederlage Rußlands ganz richtig so formuliert, daß mit Japan über
Rußland Moltke über Napoleon gesiegt habe.
Diese Verschiedenheit der
Strategie und Taktik war aber in einem tiefen Unterschied zwischen beiden Völkem begründet, der bei rein militärischer Betrachtung nicht hervortritt.
Man kritisierte die mssischen Heerführer, Stackelberg, Grippenberg, Kuropatkin besonders, der sich in Turkestan seine Sporen verdient hatte, seit
Jahren als kommender Mann galt und nun versagte, und man pries die an Moltke erinnernden Züge der japanischen Heerführer Ojama und
Nogi. Aber noch wichtiger als diese Überlegenheit in der Tmppenfühmng war, daß die modeme Taktik im russischen Heere längst nicht so zur
Geltung kommen konnte wie im japanischen, einfach weil den russischen
Soldaten die Vorbildung, die persönliche, intellektuelle und moralische Eignung dazu fehlte. Der Grundgedanke einer modernen Schlachtanlage, die Auflösung in Schützenschwärme, die sich mit größer Selbständigkeit der
Unterführer und des einzelnen Mannes in individueller Feuertaktik und der Arbeit
mit dem
Spaten
an
den
Feind heranarbeiten,
war
in
einem Heere nicht denkbar, das noch ganz auf die alte Kolonnen- und Stoßtaktik erzogen war und dessen Offiziere und Soldaten in ihrer seelischen
Struktur, in ihrer Erziehung und Bildung für die selbständige Tätigkeit des Einzelnen in der modernen Riesenschlacht nichts mitbrachten. Daher
zwar die alt-russische Tapferkeit im geschlossenen Kampf, die das „graue Tierchen" — nach Dragomirows Koseausdruck für den mssischen Soldaten
— auch diesmal zeigte, daher aber auch der Mangel an Verständnis für das moderne Feuergefecht, für Aufllärung und Sicherung, daher oft die völlige Kopflosigkeit in unerwarteten Lagen.
Dazu wirkten Einflüsse auch aus
Petersburg auf die Fühmng störend ein. Jeder Schwung fehlte und jede
moralische Unterstützung aus dem Patriotismus der Heimat, überall stieß man auf Mißtrauen in der Armee, und diese litt unter den alten
92
HL Kapitel.
Organisationsfehlem, den Erfahmngen in Ausrüstung und Versorgung,
die Rußland in jedem modemen Kriege (mit Ausnahme deS Weltkrieges)
gemacht hat und die bei den ungeheuren Entfemungen doppelt und drei fach wirkten. Bewunderswert war nur, wie es gelang, mit dem einen Geleife der sibirischen Bahn den Nachschub
zu bewältigen, besonders
da die Verbindung dieser Bahnlinie mit der Heimat über die Wolga
an einer einzigen Brücke hing, der Alexanderbrücke bei Batraki, un
weit Sysran, deren Zerstömng durch die Revolutionäre fortwährend be fürchtet werden mußte. Erst allmählich machte sich für Rußland geltend, daß der Gegner
in diesem Kriege ein strategisches Ziel nicht haben konnte. Zwar gewann er die Herrschaft zur See durch den Sieg von Tsushima und eroberte Korea
und Port Arthur.
Da aber Rußland trotzdem stark genug blieb, den
Krieg fortzusetzen, stieß auch die höchste Feldherrnkunst und der todes mutigste Opfermut der Japaner ebenso ins Leere wie Napoleon 18:12. Zum Staunen Europas trat zudem die erwartete Erschüttemng der
russischen Finanzen nicht ein, Rußland war nicht gezwungen, den Krieg
aus Geldmangel vorzeitig zu beenden, während gerade der Dmck des fremden Kapitals, das Japan weitere Mittel nicht zur Verfügung stellte,
dieses zu Friedensverhandlungen zwang. Am 5. September 1905 wurde unter Vermittlung der Vereinigten Staaten der Friede von Portsmouth geschlossen.
Der russische Unter
händler war Witte, der, nachdem die Gegenpartei gründlich Schiffbruch ge
litten hatte, wieder aufgetaucht war. Mit dem Ruhme, seinem Vaterlande
den Frieden gebracht zu haben, obwohl sein tatsächliches Verdienst ziemlich gering war, ist er in die Heimat zurückgekehrt, um dort wieder der
Retter des Vaterlandes zu werden.
Rußland verlor Port Arthur und
Dalni, verzichtete auf Korea und den südlichen Teil der ostchinesischen Bahn, sowie die Südhälfte von Sachalin. Dagegen vermochte es mit Erfolg
die Verpflichtung zu einer Kriegsentschädigung abzuwenden.
Im ganzen
ist so seine Stellung in Ostasien durch den Krieg, so schwer er sein Prestige geschädigt hat, nicht wesentlich erschüttert worden; aus größerer Distanz gesehen war er ein ungeheuer kostspieliges Kolonialabenteuer, aber
nicht mehr.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
93
n. Freilich erschütterten die Niederlagen den Staat viel schwerer als je
ein früherer Fehlschlag, und war daher ihre Wirkung auf die inner
russische Entwicklung von größter Bedeutung. Der Krieg war nicht nur höchst unpopulär, seine Niederlagen wurden sogar daheim von Liberalen
und Revolutionären mit Freuden begrüßt, weil man von ihnen eine Schwächung der absoluten Gewalt erhoffte — so stark war damals
der Widerspruch zwischen der Weltpolitik des Staates und den Wünschen
des Volkes geworden.
Als die Niederlagen nun erwiesen, daß der Staat
nicht einmal auf seinem eigensten Gebiet seine Aufgabe zu erfüllen ver
mochte, brach die seit einem Menschenalter aufgesammelte Unzufriedenheit mit elementarer Kraft gegen ihn los. Semstwokreise, Arbeiter und Bauern,
Studenten und Intelligenz gerieten in eine von Monat zu Monat wachsende Unruhe. Allerlei Reformen und Zugeständnisse, die schon seit dem Jahre 1902 gewährt worden waren, zeigten, daß den regierenden Schichten bereits vor
Ausbruch des Krieges schwül geworden war.
Das war die Wirkung
des Zusammengehens von Proletariat und Intelligenz, das in den ersten
Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkt wurde.
Das Jahr 1901 kann
mit dem blutigen Streik in den Obuchowwerken, dem über 100 Streiks
im Reiche folgten, und seinen Studentenunruhen als Epoche dafür fest
gehalten werden. Attentatsversuche gegen hohe Würdenträger zeigten dazu, daß diese vereinigte Freiheitsbewegung das ihrem neuen Charakter ent
sprechende Kampfmittel des Streiks und die alten Mittel des Nihilismus wirksam verband.
Am 15.
April
1902 war der Minister des Innern Sipjagin
ermordet worden. Sein Nachfolger wurde W. K. Plehwe (1846—1904), einer der entschlossensten Anhänger des alten Systems und ein Mann von
stärkster Willenskraft. Gleichsam als Antwort auf seine Ernennung schufen sich die Liberalen neue wirksame
Organe für ■ ihre
Bewegung.
Bei
der Krönung des Zaren in Moskau 1896 hatten die Semstwokreise erneut
Beziehungen unter sich hergestellt, die im Juni 1902 zur Begründung
der Zentrale für Semstwoangelegenheiten in Moskau führten. Damit be gründeten die Semstwos von sich aus eine Art Reichsvertretung, die die Staatsgewalt ihnen nicht hatte gewähren wollen. Und vom Auslande her arbeitete und minierte die Zeitung Oswoboschdenie'(Die Befreiung), die
111. Kapitel.
94
Peter Struwe seit Juli 1902 herausgab, — em Preßorgan, das an
Herzens „Kolokol" erinnernd, ihn weit übertraf und, obwohl selbstver ständlich verboten, in Rußland stark verbreitet und gelesen, ein Heerruser
der revolutionären Bewegung wurde.
Alles das, die
amtlichen Konzessionen, die Semstwozentrale
und
Stmwes Blatt, zeigten wie Fanale, daß jene geistigen und materiellen
Voraussetzungen der Revolution, die die neunziger Jahre gebracht hatten, jetzt der Öffentlichkeit zu Bewußtsein gekommen waren. Auf diese wirkten die Niederlage im Osten, die Blamage, die sich das bestehende System
dort holte, die furchtbaren Eindrücke dieses
ersten modernen Krieges
rasch so sehr ein, daß die Opposition und revolutionäre Stimmung zur Siedehitze stiegen.
Von heute auf morgen war der Absolutismus freilich nicht zu stürzen, dämm richtete sich die revolutionäre Bewegung zuerst gegen die zu allem entschlossenen und zuverlässigen Träger des bisherigen Systems, die den
Zaren umgaben. In der Ermordung Plehwes, der am 28. Juli 1904
durch einen Bombenwurf getötet wurde, glaubte sie, dieses System ent
scheidend zu treffen. Denn e r galt ihr als seine Verkörperung in all seiner harten Willkür und Skmpellosigkeit, und ihn persönlich traf der un geheure Haß, den Intelligenz und Proletariat gegen ihren Staat an gesammelt hatten.
Tatsächlich geht auch mit diesem Attentat das alte
absolutistische Rußland zu
Ende und beginnt die Revolution.
Wäre
Rußland nicht in einem unglücklichen Kriege gewesen, so wäre dieser Mord einer der vielen gewesen, mit denen der Nihilismus die Bureau kratie erschreckte.
Jetzt aber äußerte sich nach diesem Attentat allgemein
die Überzeugung auch in der Beamtenschaft und in den Kreisen des Hofes mit unwiderstehlicher Kraft genau so wie am Ende des Krimkrieges, daß
es so wie bisher nicht weiter gehen könne.
Diese Kraft war aber nicht
nur wie damals die Unzufriedenheit liberaler Führerschichten, sondern die
der gesamten Intelligenz, der Fabrikarbeiterschaft und der Studentenschaft.
Sofort zu Beginn der Bewegung trat die Regierung so auf, wie sie es bis zur Emennung Stolypins in dieser Krisis tat: man sah die Not wendigkeit, Zugeständnisse zu machen, nicht ein und glaubte die Unruhe
durch halbe und Scheinkonzessionen zu beschwichtigen, die regelmäßig, wenn als Gnade des Zaren gewährt, als ungenügende Abschlagszahlung
zurückgewiesen wurden, so daß sie immer über sich selbst hinausführend,
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
95
den Staat, ehe er es sich versah, in den Strudel der Wahlkämpfe und der Verhandlungen in der ersten Duma Hineinrissen. Da die Revolution
zu keiner Zeit, auch im Winter 1905/06 nicht, das ganze Land ergriff,
sondern bei Teilaufständen und lokalen Unruhen in den großen Zentren blieb, so hätte die herrschende Gewalt, zumal sie nach dem Friedensschlüsse
im September 1905 auch die Armee wieder frei bekam, wenn sie die Lage entschlossen erfaßt hätte, die Krisis viel ruhiger und ohne große De
mütigungen bestehen können. Freilich zeigte schon die erste Lockerung des bisherigen Druckes — als diese wurde die Ernennung des Fürsten Swjatopolk-Mirski (8. Sept.
1904) zu Plehwes Nachfolger aufgefaßt, auf den im Herbst 1904 große
Hoffnungen gesetzt wurden —, wie vorbereitet in Programm und Or ganisation die Freiheitsbewegung schon war.
Zuerst traten die Semstwomänner
auf den Plan.
Rund
100
Semstwomitglieder hielten in Petersburg vom 19. bis 22. November 1904 den ersten der Semstwokongresse ab, die, später durch Städtevertreter er
gänzt, in der ganzen Bewegung so wichtig wurden.
Das war bereits
das Reichssemstwo, ein Vorparlament, das halb erlaubt und halb ver
boten tagen konnte, obwohl die Semstwos damit zweifellos ihre Befugnisse
überschritten.
Die „elf Forderungen" dieses Kongresses, in der Haupt
sache die bekannten Grundrechte, stellten als Programm das Mindestmaß
dessen auf, was nach Meinung dieser Gesellschaftskreise vom Staat gewährt werden mußte. Es war noch in keiner Weise revolutionär, es veränderte zwar den bisherigen Staatsbau, weil alles eine VolksvertreMng forderte,
aber das Parlamentsregime und die Souveränität des Volkes wollte man keineswegs.
Die politisch reifsten Elemente der Freiheitsbewegung hatten damit gesprochen. Aber dem Zaren und dem Teil seiner Umgebung, der unbedingt
am alten System festhielt, muteten sie doch den entscheidenden Verzicht auf die Selbstherrschaft zu.
Da in diesen November- und Dezemberwochen
am Hofe kaum jemand ein Urteil über die Stärke der nach oben drängenden unterirdischen Kräfte hatte, kämpften die verschiedenen Gruppen erbittert um die Person des Zaren, während die verantwortliche Regierung der Erregung ratlos gegenüberstand. Eine allbeherrschende Persönlichkeit fehlte
in der Regierung wie am Hofe, auch Witte war das nicht, wollte oder konnte es nicht sein, und so entschloß man sich weder zur Repression noch
111. Kapitel.
96
zu Konzessionen. Kein Wunder, daß die freiheitliche Bewegung rasch an
schwoll und auf Banketten und Kongressen der verschiedenen Berufszweige, in Stadtverwaltungen und Semstwoverhandlungen die elf Forderungen leidenschaftlich diskutierte. Aber noch beschränkte sie sich auf die Gebildeten
und Besitzenden, in den drei Richtungen der Semstwomänner, des Ver
bandes der Verbände und des Bundes der Befreiung, dessen Organ das Siruwesche Blatt war. Gewissermaßen als Antwort auf die Forderungen dieser Kreise ge
währte der Zar die ersten realen Zugeständnisse, in einem Ukas vom
25. Dezember
1904:
Maßnahmen
zur
rechtlichen
Gleichstellung
der
Bauern und zur Erweitemng der Selbstverwaltung, Unabhängigkeit der
Gerichte, kirchliche Toleranz, Preßfreiheit und staatliche Versicherung. Aber
in diesem Ukas „zur Vervollkommnung der Staatsordnung" war der
Hauptwunsch, die Berufung eines Parlamentes, mit keinem Wort er wähnt.
So wurden diese Zugeständnisse geradezu als Hohn der leitenden
Kreise auf die bitter ernst gemeinten Reformwünsche der Liberalen auf gefaßt.
Und
nun
meldeten
sich
zu
den
direkt revolutionären ungestüm zum Wort.
Studentendemonstrationen, die
schon
liberalen
Elementen
die
Auf Straßenunruhen und
vorgekommen
waren,
rote Sonntag in Petersburg am 22. Januar 1905.
folgte
der
Die Masse, die
der jugendliche und verkommene Priester Gapon an diesem Tage den Newskiprospekt herauf nach dem Winterpalast führte, damit sie dem Zaren
die Wünsche des Volkes überbringe, war ebenso bunt zusammengesetzt, wie
ihre
Anschauungen
und Wünsche
konfus waren.
Arbeiter und
Studenten, Großstadtgesindel und Frauen, Neugierige, wie die zahllosen Droschkenkutscher der russischen Großstadt, alles das hatte sich unter der Führung dieses Priesters, der mit dem Kreuz in der Hand dem Zug
voranging, vereinigt, um vom Zaren die Menschenrechte, die Konstitution und den sofortigen Friedensschluß zu fordern.
Zum ersten Male in der
russischen Geschichte stand die Masse gegen den Zaren selbst auf, werm
auch ohne Waffen, und soweit sie überhaupt wußte, was sie wollte,
nicht in der Absicht, Gewalt anzuwenden.
Aber sie war durch Bcr-
schwörergruppen, die es über das ganze Reich hin gab, „Befreier", Sozial revolutionäre, Sozialdemokraten, zusammengehetzt, die Demonstration sollte
in der Erwartung, daß Blut fließen würde, die nicht revolutionsbcreiten Massen zu Gewalttaten hinreißen. Im blutigen Straßenkampf wurde sie
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
97
durch Militär auseinander gejagt, die Führer hatten sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen gewußt.
So wenig dieser Straßenputsch den Staat über den Haufen werfen konnte, so sehr hatte er eine Bereitschaft der revolutionären Elemente ge
zeigt, die man nicht geahnt hatte. einen ungeheuren Eindruck.
Deshalb machte er auch im Auslande
Daß aber diese Bewegung nicht nur auf
Petersburg beschränkt war, zeigten nun die Nachrichten von überall her:
aus Moskau, aus Polen, aus dem Kaukasus und so fort. Überall dasselbe Bild: der Untergrund die Arbetterbewegung, von stärkster revolutionärer
und sozialdemokratischer Agitation aufgehetzt, im Bunde mit der jugendlichm Intelligenz — schon Ende Januar hatten sämtliche Hochschulen des Reiches geschlossen werden müssen. Die Intelligenz in Amt und Würden
aber sah der Bewegung mindestens billigend und zustimmend zu ; sie nahm den Effekt gern an, daß alles dies zu einer Erschütterung der Selbst herrschaft führen müsse.
Gefährlicher noch war, daß der wirtschaftliche
Streik jetzt auch angewandt wurde, um die Verkehrsanstalten des Landes
lahm zu legen und dadurch die Träger der Regierung, ihres Zusammen hanges beraubt, zu isolieren und zu Zugeständnissen zu zwingen.. Dazu kam vollends der Ausbruch von Bauernrevolten, die im Febmar 1905,
von den Gouvernements Orel und Kursk ausgehend, nach und nach das ganze Reich ergriffen.
Und daß auch die auf Beseitigung der maß
gebenden Persönlichkeiten gerichteten Bemühungen rastlos weiter gingen, zeigte sich am 17. Februar 1905, als der Großfürst Sergius, einer der
einflußreichsten Träger der Reaktion, der bis zum 15. Januar General
gouverneur von Moskau gewesen war, auf der Fahrt durch den Kreml durch ein Bombenattentat getötet wurde. In dieser Zeit, vom 22. Januar bis zum Dezemberaufstand 1905 in Moskau, kann allein von einer Revolution in Rußland gesprochen werden. Und unter den Eindrücken der
Februarwochen, während draußen die Riesenschlacht bei Mukden tobte,
überzeugte sich der Zar von der Notwendigkeit mtscheidender Zugeständnisse. Am 3. März 1905 gewährte ein Ukas an den Senat das allgemeine
Recht zu Petitionen um die Reform des Staates und ein Reskript an
den Minister des Innern (seit 1. Februar A. G. Bulygin) nun wirklich
eine Volksvertretung.
Aber auch jetzt wollte der Zar dieser nur eine
beratende Stimme zugestehen,
also einen semski Sobor^), nicht mehr
*) S. oben S. 48.
Hoetzsch, Rußland.
7
HL Kapitel.
98
und nicht weniger. Damm kam auch dieses Zugeständnis zu spät. Am 4. März rief der Priester Gapon zur offenen Revolution auf und diese
nahm immer gefährlichere Formen an. Straßenkämpfe durchtobten War
schau, Petersburg, Odessa, Nischni-Nowgorod, Riga, Lodz; ebenso waren Finnland,' die Krim und der Kaukasus in Bewegung. Die Nachricht von der
furchtbaren Niederlage bei Tsushima (27./2S. Mai) beflügelte die Oppo
sition weiter. Man verlachte die Zugeständnisse des Staates und rüstete
sich zur Volkserhebung in einer Organisation, die erstaunlich schnell olle Kreise erfaßte. Der Bund mssischer Mmmer bildete sich und (Mai1905) der
„Verband der Verbände", ein Bauemkongreß trat in Moskau zusammen
und ein Bauernbund entstand. Vor allem aber traten die Semstwomänmer wieder in die Front: im Juli trat der zweite Semstwokongreß zusammen.
Die Überzeugung, daß nur eine wirklich demokratische Volksvertretung Rußland aus der Revolution retten könne, ein Parlament als Constituante,
wurde allgemein und drängte die konservativ gerichtete Gmppe der Schipow, Stachowitsch, Graf Heyden, d. h. der Semstwomänner alten Schlages, zurück.
Man wollte die Regiemng des Volkes durch das Parlament
und fragte nicht, ob die Voraussetzungen dafür schon vorhanden wären,
ob sich diese Verfassungsform mit den Bedürfnissen des Staates vereinen ließe, und ob man damit nicht soziale Kräfte wie nationale Ansprüche wachriefe, die den Staat auseinander reißen könnten. Dabei wurden in der
Provinz sehr rasch Programme laut, in denen sich äußerste demo
kratische Fordemngen mit weitgehenden wirtschaftlichen Ansprüchen und
nationalen Autonomiewünschen verbanden und mit denen die Freiheits
bewegung über die Wünsche der Semstwovertreter weit hinausging. Je mäher indes die Beendigung des Krieges rückte, um so mehr
konnte die Regiemng sich davon überzeugen, daß die revolutionäre Be
wegung trotz allen Lärmes, aller Unordnung und Unsicherheit nirgends auch nur vorübergehend das Heft in die Hand bekam. Der Zar konnte
es deshalb als
ein erhebliches Zugeständnis betrachten, als
er am
19. August die versprochene Verfassung tatsächlich gewährtes. Den Ent wurf hatte der Minister des Innern Bulygin ausgearbeitet, ebenso das sehr
demokratische Wahlrecht. Aber immer noch hielt der Zar daran fest, daß *) Schon am 30. April war das sog. Toleranzedikt ergangen, das den Grund
satz religiöser Duldung verkündete. S. Kap. VUL
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
99
das Parlament nur beratende Stimme haben sollte unb darum trat das
Gegenteil dessen ein, was er von diesem Geschenk erwartete. Der nächste, dritte, durch Städtevertreter erweiterte, Kongreß der Semstwomänner (23.-28. September) verlangte denn auch unbedingt einen wirklich gesetz
gebenden, beschließenden Reichstag. Was an Opposition hier noch einiger
maßen gemäßigt zu Worte kam, vergröberte sich auf den allrussischen Bauern- und Studentenkongressen, auf denen die extremste Demokratie das Wort führte. Daran mußten Zar und Hof mitsamt den regierenden Kreisen
erkennen, daß die Unzufriedenheit viel tiefer saß, als man gedacht hatte.
Denn zu den Putschen und Straßenkämpfm in den Städten waren jetzt im
gmzen Kerngebiete Bauemunmhen hinzugekommen. Die Intelligenz und
die Arbeiterschaft hatten die Verbindung mit den Bauernmassen gefunden, die durch die Agrarnot zu einer Beteiligung an revolutionärer Unzu friedenheit vorbereitet war.
Mit den Unruhen in den Städten und den
Bauernrevolten, die elementar und sinnlos zerstörend überall aufflammten, verbanden sich im Herbst 1905 in immer größerem Maßstabe Streiks,
besonders der Berkehrsanstalten.
Im Oktober war durch den wochen
langen Streik der Eisenbahn- und Telegraphenbeamten der Verkehr fast
im ganzen Reiche lahm gelegt. Aridere Streiks schlossen sich an: Fabrik arbeiter und Setzer, Apotheker und Anwälte, Lehrer und Gymnasiasten,
sogar die Ärzte, alles streikte — das öffentliche und wirtschaftliche Leben stand einfach still.
Am gefährlichsten aber war, und erst das hat der Regierung den
Emst ganz klar gemacht, daß die Revolution auch das Heer ergriffen hatte. Schon im Juni hatte das eine Meuterei auf dem Kreuzer „Fürst Potemkin"
in Odessa bewiesen; überall, wo Matrosen und Marinetruppen lagen, in Kronstadt wie in Reval, in Odessa wie in Sewastopol folgten einander die Meutereien. Noch erschüttemder war, daß gleiche Symptome jetzt auch
im Landheer hervorbrachen. Der Krieg hatte die Disziplin gelockert, und, als der Friede geschlossen war, strömten die Reservisten in die Heimat zurück, wo sie, weil das wirtschaftliche Leben daniederlag, überall die Unzufriedenheit
und die revoluttonäre Bewegung verstärkten. Diese hatte es auch vermocht,
in die Kasemen einzudringen und durch eine ganz krause Verkoppelung mili tärischer, wirtschaftlicher und polttischer Wünsche eine Unmhe hervorgemfen, die im Herbst an zahlreichen Stellen in offener Meuterei ausbrach. Die
Offizierkorps aber standen dem bis in ihre höchsten Spitzen nicht geschlossen 7*
in. Kapitel.
100
gegenüber, zahlreiche unsichere Elemente waren in ihnen, und die schwierige
wirtschaftliche Lage, vor allem der Offizierkorps der Linien-Jnfanterie, die nach dem Kriege besonders drückend wurde, vermehrte die Unzuver
lässigkeit weiter.
Erst dadurch wurde der Zar zur Einsicht gezwungen,
daß die Grundlagen seines Staates ins Wanken gekommen waren, daß
um die Sicherheit der Dynastie gesorgt werden mußte. Witte, dessen An sehen wieder gestiegen war, je mehr man sah, daß seine Ansicht über die
asiatische Politik richtig gewesen war, hat den Ausschlag für den ent scheidenden Schritt gegeben, für das Manifest vom 30. Oktober, das auf
Grundlage seiner Denkschrift vom 25. Oktober erlassen wurde.
Das
Manifest lautete: „Die Wirren und Aufregungen in den Hauptstädten und in vielen
Gegenden unseres Reiches erfüllen unser Herz außerordentlich mit großem und schwerem Leid. Das Wohl des russischen Zaren ist untrennbar von dem Wohle des Volkes und die Trauer des Volkes ist seine Trauer. Aus
den jetzt entstandenen Erregungen kann eine tiefe Unordnung im Volke und eine Bedrohung der Einheit des Allrussischen Reiches hervorgehen.
Das große Gelübde des Zarenamtes gebietet uns, mit allen Kräften des Verstandes und der Macht nach der schnellsten Beendigung dieser
für das Reich so gefährlichen Wirrsal zu streben.
kompetenten
Behörden befohlen
haben,
Nachdem wir den
Maßnahmen
zur
Beseitigung
direkter Erscheinungen der Unordnung, der Schlechtigkeiten und Gewalt tätigkeiten zu ergreifen zum Schutze der friedlichen Leute, die der ruhigen
Erfüllung der einem jeden obliegenden Pflicht nachstreben, haben wir
zur erfolgreicheren Ausführung der allgemeinen, von uns zur Befriedung des Staatslebens beabsichtigten Maßnahmen für notwendig erachtet, die
Tätigkeit der obersten Regiemng zu vereinheitlichen. Der Regiemng legen wir als Pflicht die Erfüllung unseres uner
schütterlichen Willens auf:
1. der Bevölkerung unerschütterliche Gmndlagm der bürgerlichen Freiheit nach den Gmndsätzen wirklicher Unantastbarkeit der Person- der Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und der Vereine
zu geben.
2. Ohne die angeordneten Wahlen zur Reichs-Duma aufzuhaltm, jetzt zur Teilnahme an der Duma, soweit das bei der Kürze der bis zur Bemfung der Duma bleibenden Zeit möglich ist, die Klassm der
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
101
Bevölkerung heranzuziehen, die jetzt völlig des Wahlrechts beraubt sind,
indem dabei die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts der neueingeführten gesetzgeberischen Ordnung anheimgestellt bleibt, und
3. als unerschütterliche Regel festzustellen, daß kein Gesetz ohne Ge nehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann, und daß den vom
Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teilnahme an der Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von uns eingesetzten Behörden ge sichert ist. Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen
das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe, und
Ordnung und des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen."
Mit großem Jubel wurde dieses erlösende Wort begrüßt, erweiterte es doch die Zusagen vom 19. August auf die Gewährung einer wirllichcn
Konstitution, versprach es doch das allgemeine Wahlrecht und die Grundrechte. Es wurde auch gleich durch die Schaffung eines Ministerkabinetts (1. November), durch die Aufhebung der Zensur (1. November), durch über das Vrrsammlungsrecht (25.
einen Ukas
Oktober)
und einen
Amnestie-Erlaß (3. November) ergänzt. Alles das wurde zusammen am 4. November veröffentlicht und dem Volk als ein Bukett kaiserlicher
Gnaden dargebracht.
Gleichzeitig traten Pobjedonoszew, Bulygin und
etwas später Trepow zurück. Minister des Jnnem wurde allerdings ein harter Konservativer, Durnowo, aber an die Spitze des zum Staats ministerium umgestalteten Ministerrats trat als Ministerpräsident Witte.
Darin sah man das Versprechen, daß jetzt liberal regiert werden solle, man erlebte
zunächst eine kurze Zeit
der Freude und froher
Er
wartung.
Denn dieses Oktober-Manifest war nun wirklich eine ganze
Maßregel.
Mit Recht wird es noch heute als die Magna Carta Ruß
lands betrachtet und auf dieses Manifest hin haben sich aus den politischen
Strömungen geschlossene Parteien herauskristallisiert. Aber es sollte noch geraume Zeit bauern, ehe Rußland zum Frieden kam. Obwohl die bisherigen Konzessionen noch durch das Manifest vom
16. November, das den Bauern die Loskaufszahlungen erließ, ergänzt wurden, brach im selben Monat in Petersburg ein zweiter Generalstreik,
im Dezember ein abermaliger Eisenbahnerstreik aus.
überall im Reich
HI. Kapitel.
102
tobten Matrosenaufstände und Militärrevolten, Streiks und Pogroms (die blutigen Erhebungm des Volkes gegen die Juden) und vor allem
die Agrarunruhen, die unter Führung des Bauernbundes jetzt in ein
Flammenmeer der Agrarrevolution zusammen zu fließen schienen.
Am
Ende des Jahres herrschte in Moskau die offene Rebellion, überall war das „Chaos" an der Arbeit, die Grenzmarken drohten abzufallen, Finn
land mußten seine Rechte zurückgegeben werden, Polen war in Em pörung und in den Ostfeeprovinzen befriedigte die Urbevölkemng der Letten und Eschen ihren alten Haß gegen die deuffche Herrschaft in einer schreck
lichen sozialistisch-demokratffchen und nationalen Erhebung.
Und überall
erhob der entschiedene Republikanismus sein Haupt gegen das Zarentum.
Wenn er sich dazu in den Ostseeprovinzen und in Litauen, in Polen, Finnland und der Ukraine mit nationalen Autonomieforderungen verband,
enthüllte sich die ungeheure Gefahr ganz, die in dieser Revolution für den Bestand des Reiches lag.
Denn dmm rief sie überall die zentrifugalen
Kräfte wach, deren Ideen mit dem bestehenden russischen Staate schlechthin
unvereinbar waren.
Sah man von der unmittelbaren Umgebung des
Zaren ab und vom deutschen Elemente der Ostseeprovinzen, das sich auch
in der schwersten Zeit nicht in seiner Kaiser- und Staatstreue erschüttern ließ, so hatte der Zar an der Wende 1905/06 niemanden, keine Klasse, keine Schicht, kein Organ, auf das er sich unbedingt verlassen konnte.
Heer und Marine waren im Wanken, Arbeiterschaft und Bauemtum
in heller Empörung und die Intelligenz negierte theoretisch und praktisch
den Staat überhaupt. Und alle diese Bewegungen wurden durch das — wiederum unter dem Druck der Revolution — abgepreßte Wahlgesetz vom
24. Dezember 1905 geradezu organisiert, ihre Wünsche auszudrückm, an deren Ende nichts anderes stand, als die Beseitigung des Hauses Romanow
und die Auflösung des Staates Peters des Großen in einen losen Ver
band nationaler und demokratischer Republiken.
Denn dieses Wahlgesetz
dehnte das Wahlrecht auf alle Wohnungsmieter in den Städten aus, so
daß zu den Bauern und Jmmobilienbesitzem des Bulyginschen Ent wurfes nun auch die unbemittelte Intelligenz und die Arbeiterschcft als wahlberechtigt hinzukamen.
Damit war die kommende Dumah der
radikalen Opposition von vornherein preisgegeben. In den Wähler vom
0 Diese Bezeichnung für einen Reichstag wurde in Analogie von Brjarenduma, Stadtduma u. ä. gebildet und bürgerte sich sehr rasch ein.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
103
Febmar bis April 1906 wurden denn auch mindestens zur Hälfte DumaAbgeordnete gewählt, die in offener Feindschaft gegen ihren Staat standen. Aber schon vor den Wochen, in denen durch die Wahlen die Bewegung noch einmal zu hellen Flammen entfacht tourbe, sah die Regierung, daß sie stärker war, als sie selbst geglaubt hatte, daß die unabsehbare Zahl
von Revolten, Brandstiftungen, Mordtaten eine Revolution im eigent lichen Sinne des Wortes doch nicht war, daß hinter der Zügellosigkeit der Presse nicht die reale Macht stand, die man fürchtete, und daß es sich nicht,
wie auch dem Auslande eine größtenteils tendenziöse und voreingenommene Berichterstattung erzählt hatte, um eine einheitliche Revolutions-Bewegung handelte.
Ganz war das Heer durch die sozialistische Agitation nicht zu
zerwühlen und zwischen den Hoffnungen und Zielen der Intelligenz und Arbeiterschaft einerseits und des Bauerntums andererseits blieb nach wie
vor
ein
klaffender Gegensatz.
Nach dem
Höhepunkte
der
Moskauer
Dezembertage erlahmte denn auch die Revolution und konnte eine Reaktion
sich anbahnen. Schon die Ausfühmng des Oktobermanifestes zeigte, daß sich die Am 4. März 1906 erging die Ver
Regierung wieder sicherer fühlte.
ordnung, die den Reichsrat entsprechend der Zusage des Zaren aus einer
teilt beratenden Versammlung hoher Würdenträger zur ersten Kammer umgestaltete (zur Hälfte vom Zaren ernannt, zur Hälfte von verschiedenen Organisation des Volkes gewählt).
die
Duma
gestellt
und
ein
Damit wurde ein Oberhaus neben
Hort
konservativer
den Reichstag eines höchst demokratischen Wahlrechts.
Tendenzen
neben
Am 17. März
folgte ein temporäres Vereins- und Versammlungsgesetz, das die Zügel wieder straffer zog, und die Einfetzung des „Komitees der Landorgani sation" beim Landwirtschaftsministerium, sowie der dazu gehörigen Gou
vernements-
und
Kreiskommissionen,
durch
welche
Maßnahme
die
Regierung schon vor Zusammentritt der Duma die entschiedene Initiative
in der Hauptftage, der Agrarreform, ergriff. Am 21. März erschienen die „Regeln über dm Modus der Prüfung des Reichsbudgets", durch die die Regierung das neue Budgetrecht einseitig schuf, und schließlich am 6. Mai
die Reichsgmndgesetze, in denen unmfttelbar vor Zusammentritt der Duma die Verfassung oktroyiert wurde. Im Verlauf der Kämpfe um diese Kundgebungen mußte Witte, nachdem er noch eine Milliardenanleihe in Paris zustande gebracht hatte,
HL Kapitel
104 vom Schauplatz weichen.
Je sicherer die bisherigen Gewalten wieder
wurden, um so stärker war seine Position ins Wanken gekommen, gegen die die konservativen und agrarisch-großbesitzlichen Jnteresien kämpften.
Wenig feierlich und rühmlich erfolgte sein Rücktritt am 5. Mai 190(1;
sein Nachfolger wurde sein entschiedener Gegner Goremykin, neben den als Minister des Innern P. A. Stolypin und als Finanzminister W. N.
Kokowzow, die beiden kommenden Männer, traten.
Witte hat in der großen Krisis, in der er über ein halbes Jahr lang an der Spitze des Staates stand, nicht geleistet, was man von ihm
erwartete.
Die Widerstände am Hofe und in der Bureaukratie waren
zu groß, man traute ihm weder auf der Rechten noch auf der Linken der
Parteien und Gruppen, die um den Staat kämpften, und in seiner Per sönlichkeit reichten Kraft und Willensstärke nicht aus.
Wer dadurch,
daß er in dieser Zeit an der Spitze stand, hat er, der Vertrauensmann des
ausländischen Kapitals, seinem Vaterlande den großen Dienst geleistet, daß es ohne finanzielle Erschüttemng durch diese Kämpfe hindurchgehcn
konnte. Einen Tag nach seiner Verabschiedung wurden die Reichsgrund
gesetze publiziert, mit Absicht vier Tage vor dem Zusammentritt der Duma, als Verordnung, als freier Willensakt des Zaren.
Sie sind aus dem
Staatsrecht des absoluten Rußlands und dem neuen Staatsrecht des
Oktobermanifestes — sehr rasch — zusammengearbeitet, sie sind die Ver
fassung, aus freiwilligem Entschluß des Zaren ergangen, oktroyiert wie die
Verfassung
Preußens.
Danach
war
rechtlich
kein
Zweifel, daß der
Reichstag, der nun zusammentrat, nicht eine konstituierende Versammlung
sein sollte, und damit eröffnete sich von vornherein die Aussicht schwerer Konflikte mit dieser Duma, deren Mchrheit sich gerade in dieser Wsicht und mit festen Entschluß dazu hatte wählen lassen.
Mit dem 10. Mai
1906, an dem der erste russische Reichstag zusammentratt), war die
Revolution, so sehr Unordnung und Unsicherheit noch herrschten, zu Ende. Sie hat weder die Volkswirtschaft Rußlands noch den überkommenen Bau des absoluten Staates zettrümmern können. Namentlich zu Anfang ist sie
*) Die Duma tagt im Taurischen Palais, das, weitab vom Zentrum der Stadt gelegen, von Katharina H ihrem Günstling Potemkin geschenkt wordm war, der Reichsrat im Marienpalast am Platze dieses Namens mitten in der Stadt.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
105
öfter mit der großen französischen Revolution verglichen worden. Heute
liegt das Unzutreffende dieses Vergleichs auf der Hand. Eher konnte man an die deutsche Revolution von 1848 denken, erinnerten doch auch die
Kadetten in ihrer geistigen Verfassung und Stimmung ganz an den deutschen Liberalismus jener Zeit. Der große Unterschied gegen 1789 ist, daß hinter diesem ersten Gliede, dem Liberalismus, in Rußland nichts
weiter stand als das Proletariat der Städte. Der proletarische Charakter
der revolutionsähnlichen Erhebungen 1905/06 war nicht zu bestreiten, aber zur Erschütterung des Reiches war er nicht stark genug. Denn die Hoff nung auf die Bauem wie auf die — aus Bauern bestehende Armee —
trog schließlich doch, so daß die Revolution eine, nicht einmal einheitlich und sicher geleitete, unzusammenhängende Stadtrevolution bleiben mußte.
In Intelligenz und Arbeiterschaft stand der herrschenden Gewalt eine uneinheitliche, zahlenmäßig schwache Gegnerschaft gegenüber, wenn es jener
gelang, das mit beiden zeitweilig
zusammengehende
Bauerntum
von
ihnen los zu sprengen. In der Unvollständigkeit der sozialen Struktur liegt
also vor allem die Erklämng dafür, daß die mssische Revolution der Gegenwart nicht mit der von 1789 verglichen werden konnte: das zahl reiche, unabhängige und selbstbewußte Bürgertum fehlte. Aber diese anderthalb wirrenreichen und gefährlichen Jahre hatten doch ausgereicht, das Staatswesen organisch zu verändern, wenn auch das
Erkämpfte und Erreichte zunächst nur formale Bedeutung hatte.
Was
1906 der Selbstherrschaft abgetrotzt war, bekam ja nur einen Sinn,
wenn es die Bahn zu durchgreifenden Reformen im Agrarwesen und in der Volksbildung, in der Verwaltung und in der Volkswirtschaft er
öffnete. Was ist davon im Jahrzehnt bis zum Weltkrieg erreicht worden?
II. Buch.
IV. Kapitel.
Jrmerpolttisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906-1914* i. Es war keine ungegliederte Masse, die am 10. Mai 1906 in der
Zahl von 450—500 Abgeordneten zur Eröffnung des ersten russischen Reichstags zusammenströmte, und ihre politischen Anschauungen waren
schon weit stärker differenziert, als daß die Duma lediglich in radikale und konservative, in staatsfeindliche und staatserhaltende Elemente zerfallen wäre.
Am ersten waren im Kerngebiet wie in den Grenzmarken die revo
lutionären Elemente mit ihren Programmen und Organisationen fertig.
Seit
18831)
gab
es
eine
russische
System von Karl Marx fußte;
Sozialdemokratie,
die
auf
dem
1898 hatte sie ihren ersten, 1903
ihren zweiten Parteitag abgchalten. Daneben waren (1897) der jüdische
„Bund" und die sozialdemokratischen Organisationen der Polen (P. P. S.)
und Letten getreten. Im theoretischen Kampfe mit dem revolutionären Nihilismus letzter Phase hatte die marxistische Sozialdemokratie gesiegt.
Aber auch sie geriet in die Kämpfe zwischen der marxistischen Ortho doxie und einem Revisionismus, die sie 1903 in zwei große Gruppen aus
einandertrieben: die „Bolschewik!" unter Lenin und die „Menschewiki" unter Martow. Wollten und wollen — der Gegensatz besteht heute noch — die
ersteren das „mehr", wie der Name sagt, also die Revolution im stramm sozialistischen Sinne, so begnügten sich die zweiten mit dem „weniger" der Organisation und Agitaüon auf eine Umgestaltung hin, die ja doch kommen
*) S. oben S. 84.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
müsse.
107
Beider Programm ist ganz marxistisch, politisch für eine demo
kratische Republik
Rußland.
Ihr Agrarprogramm war- mangelhaft;
für die Expropriation des Großgrundbesitzes, die dann das Hauptschlagwort wurde, hat sich zuerst Plechanow ausgesprochen.
Geschieden von diesen Sozialdemokraten blieben die alte Richtung
der „Narodnaja Wolja", die seit 1901 wieder auflebte und die sog. sozial revolutionäre Partei begründete, und die „Kampforganisation" (Bojewaja
Organisazhja), von der die Attentate der Revolutionszeit ausgingen. Auch sie zerfielen in zwei Gruppen, die Maximalisten und die Minimalisten,
die leicht mit den entsprechenden Flügeln der Sozialdemokratie verwechselt werden, weil sie ihnen im Programm nahekommen.
Doch bleibt der
Unterschied prinzipell bestehen: die Sozialdemokraten sind auf die In
dustriearbeiter gerichtete Marxisten, die Sozialrevolutionäre halten die Bauern für die gegebene Schicht und das Werkzeug der Revolution, erstere sind die Modernen, letztere die Altmodischen.
Als besondere Strömung gab cs daneben einen reinen Anarchismus,
der sich im Auslande namentlich um den alten Kropotkin sammelte und den geistigen Anarchismus Tolstois auf sich wirken ließ, aber für Rußland
nicht mehr bedeutet als für irgend ein anderes Land Europas und keine Partei von Einfluß darstellt. Für'den bürgerlichen Liberalismus hatte, nach den ersten Ansätzen
der siebziger Jahre um I. I. Petrunkjewitsch und den Vorbereitungen von 1894, seit 1902 das Zentralbureau für die Semstwofragm, der Keim
des „Reichssemstwos" in Moskau, den eisten Kern für eine Partei ge bildet, der Kreis aus Schipow, Stachowitsch, PetrNnkjewitsch, Golownin,
Kokoschkin. Als Fürst Swjatopolk-Mirski Minister wurde, konnte ein lebhafterer Meinungsaustausch politischer Gedanken und eine politische Organisation
beginnen. Radikalere-Zeitungen konnten erscheinen; die schon vorhandene juristisch-polttische Wochenschrift „Prawo" (Das Recht), herausgegeben von
den Gebrüdern Hessen,'konnte sich freier bewegen. Um sie hatte sich der Kreis gesammelt, aus dem zusammen mtt den eigentlichen „Oswoboschdenzy" — den (im 1903 von Petrunkjewitsch gegründeten „Bund der Be
freiung" vereinigten) Anhängern der Zeitschrift „Oswoboschdenie" — und den sog. Semstwo-Konstitutionalisten im Spätherbst 1905 die Partei
IV. Kapitel.
108
der Kadetten*) hervorging — Männer tote Fürst Eugen Trubezkoi, die Brüder Hessen und namentlich der spätere Führer der Kadetten, der
Historiker P. N. Miljukows, dem Stande nach überwiegend Professoren, Anwälte, Arzte, Journalisten, während die Semstwomänner dem Stande
nach mehr Gutsbesitzer, Adelsmarschälle und dergleichen warm.
Dieser
Kreis bezeichnete sich selbst als nationalliberal im deutschen Sinne. Doch entsprechen die Kadetten nach ihrem Verhältnis zum Staatsgedanken und
ihrem Staatsbegriff eher dem deutschen Freisinn: sie wollen eine liberale Vermittlungspartei sein, oppositionell, aber nicht revolutionär.
So waren schon drei Hauptrichtungen vorhanden: die Umstürzler verschiedener Nüancen — die Liberalen der Intelligenz, für die die große
politische Forderung (Verfassung und Wahlrecht) die Hauptsache war, —
die Semstwomänner, die mehr Gewicht auf die Reform und die organische Fortbildung legten.
Diese drei Richtungen verfügten bald über Organe
und Klubs, bekämpften sich gegenseitig und förderten so das politische
Denken, fortwährend gequält von der Polizei, da die für den politischen Kampf nötigen Freiheiten noch nicht recht gewährt wurden.
Dagegen waren die Kräfte auf der Gegenseite noch nicht gesammelt. Männer wie Fürst Meschtscherski, Fürst Schtscherbatow, der Oberst Komarow (Herausgeber des panslawistischen „Swjet") konnten als die
Führer der auf der rechten Seite vorhandenen verschiedenen Richtungen
betrachtet werden, der „Graschdanin" des Fürsten Meschtscherski und der „Swjet", auch die „Nowoje Wremja" Suworins°) als ihre Organe.
Vor allem blieben die alten Katkowschen „Moskowskija Wjedomosti"
das
Sprachrohr der streng konservativen Tendenzen
xanders
HL,
seit
1895
redigiert
von
dem
(von
im Sinne Ale deutschen
Eltern
stammenden) W. A. Gringmuth, der der erste entschiedene Führer einer konterrevolutionären Bewegung und Organisation wurde. *) Die Partei, gegründet am 31. Oktober 1905, nennt sich „Partei der
Volksfreiheit", konstitusionell-demokratische Partei; nach diesen beiden Anfangs
buchstaben K und D kam der Spitzname Kadetten auf, der sich erhalten hat. 2) 1859 geboren, früher
akademischer
Lehrer,
heute
nut
Politiker
und
Publizist, der maßgebende Kopf der Kadetten und ihrer Zeitung Rjetsch.
s) Alexej Suworin (1834 bis 1912) war der russische Scherl und Reclam zugleich, nur politisch prononcierter als beide, ein glänzender Geschäftsmann, dmch den die (1876 von ihm gegründete) „Nowoje Wremja" zum weitaus ersten, freilich
nicht charaktervollsten Blatte Rußlands wurde. Seit seinem Tode gehört es einer Aktiengesellschaft, die zum größten Teil in den Händen von Oktobristen ist.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
109
Diese politischen Strömungen und Kreise tonnten sich sofort zu poli
tischen Parteien umbilden, wenn sie Versammlungs- und Redefreiheit er
hielten. Und mehr oder weniger kamen sie doch alle auf das eine hinaus, daß zur Herbeiführung gesünderer Zustände die Krönung der Reformen Alexanders EL durch eine Verfassung notwendig sei. Man betrachtete das
einfach als Axiom; lediglich die Kreise der „Moskowskija Wjedomosti"
lehnten die Erörterung überhaupt ab, ob Rußland eine Verfassung brauche und welche — für sie war das absolute Rußland mit Zarentum und
Orthodoxie das einzig mögliche politische Programm. Nun kommen diese Ansätze der Parteibildung, die sich bisher nur
unter dem Druck von Polizei und Zensur, nur im Geheimen und Verbotenen
oder
im
Ausland
hatten
borbereiten
können,
in
rasche
Bewegung, als die Revolution begann. Die Überraschung war in Europa nicht gering, als, nachdem einmal die Schranken gefallen waren, in
Rußland sofort eine große politische Presse und ein weit vorgeschrittenes
politisches Parteiwesen erschienen. Man war mit Recht erstaunt, daß dieses Volk gleich in seiner ersten Duma eine Fülle ausgezeichneter politischer Redner aufwies und Diskussionen dort gehört wurden, die alles andere
waren, als das kindliche Stammeln eines eben zum politischen Leben er-
wachmden Volkes.
Denn alles war fix und fertig da, was man zur
Technik eines parlamentarischen Lebens brauchte, und auch dessen äußere
Formen wurden überraschend schnell ausgebildet und gehandhabt. Noch merkwürdiger war das plötzliche Entstehen einer großen poli
tischen Presse.
Neben die zwei, drei Zeitungen, die bis dahin überhaupt
etwas bedeuteten, traten zahlreiche neue Zeitungen und Jouruale von denen freilich viele nur ein kurzes Leben gehabt habens, und in ihnen wurde mit großer Virtuosität und formaler Reife politisch diskutiert. Jetzt
zeigte sich, welche Wirkungen Polizei und Zensur für die russische Sprache gehabt hatten. Die Notwendigkeit, alles darauf zu prüfen, ob es vor den Augen der Zensur bestehen könne, und das Bestreben, trotzdem alles Ver
botene auszusprechen und zwischen den Zeilen lesen zu lassen, hatte die natürliche Biegsamkeit der russischen Sprache so gesteigert, daß sie sich, als die politische Erörterung freigegeben wurde, sofort als ein im höchsten
Maße brauchbares Werkzeug erwies.
*) S. die Übersicht im Anhang.
IV. Kapitel.
110
Im Winter 1905/06 wurde das Ventil geöffnet, und nun brauste die entfesselte Flut politischer Wünsche und Hoffnungen über die öffentliche Meinung
hin.
Zu
den
bisherigen
Gruppen
traten
neue
hinzu,
die Extremen, die entschlossen auf die Republik und die ^Beseitigung des Zaren hinarbeiteten, und Gruppen, die sich im Verborgenen auch schon
vorbereitet hatten, jetzt aber zu allgemeiner Überraschung auf den Plan traten, wie die Föderalisten und Autonomisten, d. h. die Führer der nicht großrussischen Untertanen des Reiches, die mit den demokratisch-freiheitlichen
Ideen die nationale Autonomie, die Auflösung des Reiches in seine national
selbständigen Teile und eines durch das andere erreichen wollten. Die Wahlbewegung, aus der die erste Dun'.a hervorging, zeigte folgende politische Parteien oder Ansätze dazu:
1. Liberale oder Demo
kraten, in den drei, von 1 bis 3 zunehmend radikaler werdenden Kreisen: 1. Zentrum und linker Flügel der Semstwomänner. 2. „Verband der
Verbände" (Sojus Sojusow, 21. Mai 1905 begründet), eine von Miljukow angeregte Zusammenfassung von Berufsorganisationen vornehmlich libe
raler Berufe, die in der ersten Zeit der Unruhe unter Benutzung der wenigstens tatsächlich zugestandenen Koalitionsfreiheit außerordentlich um sich griff, aber nur im Sommer 1905 von Bedeutung war und bald
wieder verschwand. Und 3. jene „Befreier". Diesen Richtungen war das
Grundideal einer möglichst demokratischen Verfassung gemeinsam.
Die
Stellung zum nationalen Problem, zur Föderationsidee, blieb noch unklar,
da man sich mit den demselben demokratischen Ideal zustrebenden nichtgroßrussischen Untertanen des Reiches zunächst noch ganz eines Sinnes fühlte.
Erst als der den Staat direkt negierende Föderalismus deutlicher wurde, wurde der großrussische Liberalismus zentralistisch, ja geradezu nationali
stisch. Aus diesen Gruppen zusammen ewstand die Partei der „Kadetten". Links davon standen die Revolutionäre, die sich in 1. Sozialrevo
lutionäre, 2. russische Sozialdemokraten, 3. Agrarkommunisten, 4. Anar
chisten und Terroristen schieden. Gemeinsam war ihnen das rücksichtslos
ausgedrückte entschiedene Bekenntnis zum gewaltsamen Umsturz. Rechts von den liberalen Gruppen begannen sich die konservativen Elemente erst zusammenzufinden.
Sie waren ebenso wie die Regierung
von der Wirkung der Niederlagen des Krieges überrascht worden und konnten sich daher erst im Laufe des Jahres 1905 sammeln.
Durch
Gringmuth entstand im November 1905 der „Verband des allrussischen
Innenpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
m
Volkes", als erster der großen Verbände, in denen, ohne bestimmte Partei
färbung und -organisation, Aristokraten, Geistliche, Beamte und Agitatoren
die Masse im konservativ-reaktionären Sinn organisierten. Zwischen diesen Konservativen und den liberalen Parteien trat gleich
zeitig eine Gruppe hervor, die in einer ehrlichen Versöhnung des russischen
Staatsgedankens mit der konstiMtionellen Idee ihr Programm sah.
Sie
kam aus den Semstwokreisen, die nicht in den Kadetten ausgingen, aus dm sog. Semstwo-KonstiMtionalisten, denen die Partei der Bolksfreiheit zu radikal wurde, und fand ihr Programm im Manifest vom 30. Oktober
1905. So entstand — am 17. Dezember 1905 begründet — der „Verband vom 17./30. Oktober", die Partei der Oktobristen. Ihr Programm war ganz präzis: das Oktobermanifest des Zaren — nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr — die monarchische Grundlage wollten die Oktobristen
unbedingt gewahrt wissen. Aber auch nicht weniger: man betrachtete die Zusagen der Grundrechte und einer Konstitution als unabänderlich, hinter die zurückzugehen die innere Lage Rußlands schlechterdings nicht erlaube.
Damit war auch nach rechts eine Grenze gegen die Elemente gezogen,
vie entweder bewußt auf die Zurücknahme der Zusagen des Zaren hin arbeiteten, oder die zwar äußerlich den Konstitutionalismus bestehen lassen,
ihn aber Schritt für Schritt auf dem Wege der VerwalMng unwirksam
machen wollten.
Die Oktobristen waren so von vomherein eine Mittelpartei und haben an sich die Schicksale einer solchen reichlich erfahren. An ihrer Spitze
standen damals die besten politischen Köpfe, die Rußland überhaupt hatte. Vor allem Alexander Gutschkows, ein hochbegabter Mann, der geborme Führer einer. Mittelpartei, ohne freilich, wie sich später herausstellte, die seinen Geistesgaben mtsprechende Energie und Konsequenz zu besitzen.
Neben ihm standen als Begründer des Verbandes noch der Adelsmarschall
von Orel,
Stachowitsch
(1861
geboren),
Schipow
(heute
Mitglied
des Neichsrats) und Graf Heyden aus Pskow (1845 bis 1907). Dazu
trat später
Baron
Alexander Meyendorff,' ein Livländer^), der,
der
höchsten mssischen und baltischen Aristokratie zugleich angehörend, durch *) 1862 geb.; sein Vater war ein altgläubiger Kaufmann, seine Mutter Französin, er selbst ist deutsch gebildet. *) Geb. 1869, Großneffe des russischen Vertreters am Berliner Hof von 1840 bis IM, Barons Peter Meyendorff.
IV. Kapitel.
112
seinen Bildungsgang deutsches und russisches Wesen gleich gut kannte und mit glänzender Rednergabe und parlamentarischer Sicherheit eine
in der Duma einzig dastehende, juristische Schulung und Kenntnis verband. In der Wahlbewegung wurde nur um die extremen Schlagworte ge
fochten, und da riß die demokratische Welle zunächst jeden Widerstand nieder.
In ihr tauchten noch jme Autonomisten auf, in zahlreichen
Gruppen: 1. Polen, als Allpolen — Versöhnler (Ugodowzy) — National
demokraten — Sozialdemokraten (als P. P. S., d. h. Polnisch-sozialdemokratische Partei), S. D. P. L. (d. h. Sozialdemokratie von Polen und Litauen) und „Bund" d. h. Verband jüdischer Sozialdemokraten.
2.
Kleinrussen oder Ukrainer.
3. die lettisch-estnischen Autonomisten.
4. die Kaukasier verschiedener Richtungen, Mohammedaner — Anfang 1906 hatte in Petersburg ein politischer Mohammedanerkongreß statt
gefunden — usw. Die Deutschen der Ostseeprovinzen sammelten sich nicht
in einer besonderen, Autonomie fordernden, Gruppe, sondern schlossen sich dem Oktoberverband an.
Am 10. Mai 1906 trat der erste Reichstag Rußlands zusammen, vom Zaren selbst im Georgssaal des Winterpalais mit einer Ansprache**)
eröffnet, bei deren schönen, aber allgemeinen Worten sich die Parteien das
Verschiedenste denken konnten. Die im ganzen 524 Abgeordneten, — die aber niemals vollzählig wurden, da die aus den entferntesten Reichsteilen ge wählten erst in Petersburg eintrafen, als die Duma schon wieder aufgelöst war, — gliederten sich in nicht weniger als 26 politische und 16 nationale
Gruppen. Die hauptsächlichsten warm Mitte Juni: die konstitutionellen
Demokraten, ungefähr 177. Nach links schloß sich an die 102 Mitglieder zählende Linke, die sog. Arbeitsgruppe*), die Sozialdemokraten, Sozial-
revoluttonäre, Anarchisten und Radikale sowie den 29 Mitglieder zählenden (sozialrevolutionärm und kommunistischen) Bauernbund umfassend. Nach rechts folgten die Parteien der demokratischen Reform (4—8), der Ver band vom 30. Oktober (13) — die Handels- und Jndustriepartei (l)ä) *) Die Eröffnungsreden sind bei Sawitsch, Nowy gossudarstw. stroj
Rossij (Petersburg 1907) S. 132 ff. abgedruckt. 2) Die „Trudowiki", eine radikale, aber nicht ausgesprochen sozialdemokratische
Arbeiter-Partei, die zwischen Sozialdemokraten und Kadetten steht. •) Eine Vertretung der Bourgeoisie unter Leitung des Vorsitzenden des
Moskauer Börsenkomitees G. A. Krestownikow.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. — die Partei der Rechtsordnung (4) — die Monarchisten.
H3
Daneben
standen „Gemäßigte", Parteilose (50—100) und — politisch zur Linken gehörend — die verschiedenen Autonomistenklubs: die Parteien des König reichs Polen — die polnisch-litauische Partei — der ukrainische Klub
(3ft—40) — die Litauer, Letten usw. (über 60 im ganzen).
Nach nationalen Gruppen gegliedert zählte die Duma 265 Groß russen, 62 Kleinrussen, 12 Weißrussen, 51 Polen, je 6 Litauer und Letten,
je 4 Deutsche und Eschen, 8 Tataren, 4 Baschkiren, je 2 Mordwinen und Wotjaken, je 1 Bulgaren, Kirgisen, Tschuwaschen, Tschetschenzen, Moldauer
Und Kalmücken, und 13 Juden.
Man hatte ja die Verfassung nicht
nur dem Kerngebiet, sondern auch dem kaukasischen und dem asiatischen
Reichsteile gewährt. Politisch waren diese „Fremdstämmigen" fast durch
aus .Sozialrevolutionäre.
339 waren griechisch-orthodox und 63 römisch-katholisch, je 14 Luthe raner und Mohammedaner, 13 Juden, 4 Altgläubige, je 1 Baptist, Budd
hist und Freireligiöser.
Dem Stande (im Rechtssinne) nach waren:
204 Bauern, 164 Adlige, 24 Kleinbürger, 14 Geistliche, 12 Kosaken, 11
Kaufleute, 9 erbliche Ehrenbürger. Dem Berufe nach gehörten: zur Land wirtschaft 276 (42 zum großen, 72 zum mittleren, 162 zum Kleinbesitz),
zu Industrie und Handel 51 (2 Industrielle, 24 Kaufleute, 25 Arbeiter).
Staats- und Kommunalbeamte waren 76 (davon 15 Staatsbeamte), zur
sog. Intelligenz zählten 105 (davon 14 Professoren und 38 Anwälte). Eine höhere Bildung hatten genossen 189, die Mittelschule besucht 62, die Volksschule 111.
Als Autodidakten bezeichneten sich 84, Anal-
phabeten sollten nur 2 unter den Abgeordneten sein.
n. Die Wahlen waren über alle wahlpolitischen Berechnungen der Re-
giemng hinweggegangen und hatten eine rein opposiüonelle Duma er geben. Diese beherrschten Politisch die Kadetten und Sozialisten gemeinsam, wirtschaftspolitisch die revolutionären Bauern, und die Welt erlebte das
Schauspiel, daß der Hort des Absolutismus, die konsequenteste Verkörpe
rung der monarchischen Gewalt, die bis dahin der russische Staat dar gestellt hatte, ein Parlament sah, in dem der Radikalismus das Wort führte und von Sieg zu Sieg zu schreiten schien.
Hoetzfch,
Rußland.
8
114
IV. Kapitel. Die Thronrede hatte ein Programm nicht geboten, auch kamen keine
Anträge und Vorlagen von der Regiemng — so ging die Duma selbst vor. Die Adresse, die sie an den Zaren richtete, war so unehrerbietig, selbstbewußt und radikal, daß der Zar die Annahme verweigerte.
Politisch gingen
ihre Forderungen auf das allgemeine Wahlrecht und die Ministerverant
wortlichkeit, auf Befeitigung des Reichsrats und der Todesstrafe, auf die Grundrechte, auf Agrar- und Sozialreform, vor allem aber auf eine un
eingeschränkte politische Amnestie.
So begannen die Debatten sogleich in scharfer Gegensätzlichkeit. Bon
einer ernsthaften Zusammenarbeit zwischen Regiemng und Parlament zu
positivem gesetzgeberischen Schaffen war von vomherein nicht die Rede. Wie
sollte auch eine Bureaukratie, die bis dahin hoch über dem Volke gethront und, nur von ihresgleichen kontrolliert, ihres Amts gewaltet hatte, mit einem Male sich der Kontrolle eines Parlaments unterwerfen, zumal die
Grenzen zwischen Legislative und Exekutive noch im Unklaren waren? Und die Duma, die sich als KonstiMante fühlte, sah in ihrem Sieges bewußtsein, als erstes mssisches Parlament dem Selbstherrscher abgetrotzt, überhaupt keine Grenzen ihrer Macht.
Es war keine Situation, die
dauern konnte, um so mehr als die Agrardebatten und -Programme der Duma revolutionär an den Gmndlagen der Wirtschafts- und Gesellschafts ordnung rüttelten.
Das A und O war ja die Agrarfrage und die Agramot. Zwar war
die politische Reife und Organisation der Sauern noch nicht entwickelt genug, als daß sie eine eigene Agrarpartei hätte bilden können.
Wie
die Namen der Parteien zeigen, hatten zumeist erst die allgemeinen Formeln der politischen Doktrinen parteibildend und namengebend gewirkt.
Aber
hinter diesen allgemeinen Debatten um die radikalen politischen Fordemngen
trat immer mehr die materielle Frage der Agrarreform hervor, und diese
radikale und sogar sozialfftische Dumamehrheit war auch in der Agrar frage sehr geneigt, sich die weitgehendsten Fordemngen zu eigen zu machen.
Vor allem forderte sie die Krons-, Kabinetts-, Kloster- und Kirchen ländereien und die Zwangsenteignung des Großgrundbesitzes als Mittel
zur Befriedigung der Landnot, in der man allein das Wesen der Agrar krisis sah.
Das w.ar bei den Bauem begreiflich. Nicht gleich begreiflich
aber war, daß auch die Kadetten sich diese Forderung zu eigm machten. Ihre Führer hatten jedoch in dem allgemeinen Wirrwarr kein Urteil mehr
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
H5
über die innere Kraft der revolutionären Bewegung und überschätzten sie
im Überschwang dieser Monate, die so rasch die zarische Gewalt gedemütigt hatten.
Um nun von der radikalen Welle nicht selbst verschlungen zu
werden und an der Spitze der Freiheitsbewegung zu bleiben, forderte die
Kadettenpartei, die grundsätzlich gerade den Individualismus vertrat, in
ihrem Agrarprogramm die Expropriation des gutsherrlichen und staat lichen Gmnd und Bodens für die Bauern.
Wie gefährlich das für sie selbst war, konnte sie gleich sehen, als die ihr sonst verwandte liberale Bewegung Polens dabei nicht mit ihr ging.
Die Polen stimmten sonst natürlich allen liberalen Forderungen zu, von
denen sie ja für ihre nationale Bewegungsfreiheit den größten Vorteil hatten. Aber sie sahen, daß eine derartige Verbindung mit dem revolutio
nären Agrarkommunismus für sie ein Wahnsinn war, und machten daher den Sturm gegen den großen Besitz nicht mit.
An der Agrarfrage kam es zur Entscheidung. Die Regiemng hatte — nach anfänglichem eigenen Schwanken — wie der Zar die Unverletz
lichkeit des Privateigentums ausdrücklich proklamiert. Trotzdem arbeitete
die Duma ein Gesetz auf der entgegengesetzten Grundlage aus und wendete
sich mit einer Erklärung an das Volk. Für die Regiemng wurde es so, je zügelloser die Debatten in chrm politischen und wirtschaftlichen Fordemngcn wurden, klar, daß sie mit ihrm Zugeständnissen zu wett gegangen war.
Dieses parlamentarische Leben löste den Staat einfach auf und drohte, ihn mit seiner Begünstigung sozialistischer Massenwünsche und nationaler Autonomiefordemngen^) in ein allgemeines Chaos zu reißen. Man sah
zudem, daß man des Heeres in der Hauptsache doch sicher geblieben war,
und wurde durch die vor allem im Großgmndbesitz vertretenen konser vativen Elemente gestützt, die sich immer mchr sammelten, weil sie sich
in ihrer Existenz bedroht sahm. Damm faßte die Regiemng — Stolypin *) Zu diesem Punkte hatte bereits die Adresse der Duma folgendes gesagt: „Die Duma hält es für nötig, unter ihren unaufschiebbaren Aufgaben die Entscheidung der Frage über die Befriedigung längst reifer Fordemngen der einzelnen
Nationalitäten zu nennen.
Rußland stellt einen von zahlreichen Stämmen und
Völkerschaften bewohnten Siaat dar. Die geistige Einheit aller dieser Stämme und
Völkerschaften ist nur möglich bei Befriedigung der Bedürfnisse eines jeden von ihnen, indem die Eigenatt der einzelnen Seiten ihres Lebens dabei entwickelt wird.
Die Duma wird für weitgehende Befriedigung dieser berechtigten Bedürfnisse sorgen." 8«
IV. Kapitel.
116
gab in Peterhof am 21. Juli den Ausschlag — den unter diesen Um ständen mutigen, aber notwendigen Entschluß, die erste Duma nach ihrer 38. Sitzung — sie hat 72 Tage gesessen — aufzulösen; die Berufung
der neuen Duma wurde auf den 5. Mai 1907 festgesetzt. Am 22. Juli
wurde der bisherige Minister des Innern, P. A. Stolypin, zum Minister präsidenten ernannt. Die Kadetten begaben sich — am 23. Juli — in größter Erregung nach Wiborg, auf finnischen Boden, der der russischen Polizei entzogen war, und wandten sich von hier in einem flammenden Aufruf an das
Volk, die Regierungsmaßnahme mit der Steuerverweigerung und der Ver weigerung
des Militärdienstes zu
beantworten.
Die Intelligenz des
Landes proklamierte somit den Bürgerkrieg, und des Landes selbst be mächtigte sich die revolutionäre Erregung von
neuem.
Streiks
und
Revolten flammten in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 wieder auf,
Mordtaten, Plünderungen und Brandstiftungen nahmen überhand, oft mit einer Frechheit ausgeführt, die ebenso in Erstaunen setzte wie die
Kopflosigkeit, die die lokalen Behörden und die Polizei dabei häufig be wiesen.
Auch jetzt war es keine eigentliche Revolution, nur an wenigen
Stellen geriet die Staatsgewalt in die Hände der ,^ramola", aber die
öffentliche Unsicherheit stieg auf das höchste, die Verwaltung funktionierte an vielen Orten nicht mehr, die Steuern wurden nicht erhoben, die Schulen nicht besucht, die Zensur wurde nicht ausgeübt, die Straßenpolizei
war wirkungslos, der Eisenbahnverkehr gestört. Und abermals schlug die Erregung in dos Heer und die Marine über. Im Juli fand eine Meuterei
in Sweaborg, im August eine solche in Kronstadt statt, und was von der Unzufriedenheit im Heere bekannt wurde, die sich ganz naiv in großen
Offiziermeetings zu Wort meldete, war schlimm genug, um in diesen der Dumaauflösung folgenden Monaten bis tief in den Herbst hinein die
Situation wiederum als höchst gefährlich erscheinen zu lassen.
Es ist das Verdienst des neuen Ministerpräsidenten Stolypin ge wesen, in diesem Wirrwarr zunächst einmal einen festen Standpunkt ein
genommen zu haben und ihm dann mit Erfolg entgegengetreten zu fein1). *) P. A. Stolypin, geb. 14. April 1862, aus wohlhabendem Landadel, Adels marschall in Kowno, Gouvernem in Grodno und (seit 1903) in Saratow, 10. Mai 1906 Minister des Innern, 22. Juli 1906 Minister-Präsident, 18. September 1911 in Kiew ermordet.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
117
Die Geschichte wird Stolypin schwerlich zu den größten Staatsmännern
zählen; der Vergleich mit dem Freihcrrn von Stein, der gelegentlich laut geworden ist, ist übertrieben. Denn zu einem wirklich großen Staatsmanne
fehlte ihm die Freiheit des Geistes, die Weite des staatsmännischen Blickes, der Reichtum an neuen Gesichtspunkten.
Dafür hatte er die in dieser
Lage noch wesentlichere Eigenschaft eines festen und sicheren Willens auf einem durchaus schwankenden Boden.
Umgeben von täglich sein Leben
bedrohenden Gefahren, — am 25. August 1906 wurden bei einem Atten tat in seinem Hause auf der Apothekerinsel nicht weniger als 27 Personen
getötet und seine Tochter schwer verletzt —, keineswegs gestützt von den Fraktionen des Hofes, eigentlich nur getragen von dem Vertrauen seines
Kaisers, hat Stolypin zwei große Verdienste von dauernder Bedeutung.
Er hat der zügellosen Unordnung, in die sich alles Leben in Rußland auf löste, mit Erfolg gesteuert. Dieses negative Verdienst ergänzte er durch
ein positives, indem er der Vater der Agrarreform geworden ist.
Der
Ukas vom 22. November 1906 über die Auflösung des Mir trägt den Namen dieses Ministers, der ihn durchsetzte, dem es dadurch gelang, eine Intelligenz und Bauerntum schließlich
auseinandertreibende Spaltung
anzubahnen, und der so die wirkliche Gefahr der Revolution beseitigte.
Er regierte zunächst ohne Duma, auf Grund des berühmt gewordenen Notverordnungsparagraphen 87 der Reichsgrundgesetze, der dem noch be
rühmteren Paragraphen 14 der österreichischen Verfassung nachgebildet ist. Rücksichtslos drängte er die Revolution mit Hilfe sog. Feldkriegsgerichte zurück — es war eine Erweiterung und Verkürzung der Militärgerichts
barkeit, der Kriegszustand gegen das eigene Volk. Als Stolypin auf diese Weise fest zufaßte, erwies sich die bestehende Ordnung fester, als man
geglaubt hatte.
Jener Aufruf der Kadetten verpuffte völlig; sobald die
Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war, gingen die Steuern ein und stellten sich die Rekmten.
Die Neuwahlen fanden erst zu Beginn der Jahres 1907 statt. Bis dahin setzte sich auch im Streit der Partei eine wesentliche Klärung
durch. Die Kadettm blieben nach wie vor auf dem Standpunkte, daß der
Staat nur durch entschiedene Reformarbeit die Revolutton überwinden und nur so die Mitarbeit der Liberalen gewinnen könne.
Dieser Auf
fassung, die praktisch auf ein Paktieren mit der Revolution hinauslicf, traten die Oktobristen unter Führung Gutschkows entgegen: erst sei Ruhe
IV. Kapitel.
118
und Ordnung herzustellen, ehe der Staat auf der Bahn der Reformen —
das war auch für die Oktobristen eine sehr wesentliche Fordemng —
weiterginge.
Auf ihren Kongressen im November und Dezember 1906
sagten die Oktobristen so nach rechts und links, den Kadetten wie den
Monarchisten ab. In Praxi bedeutete die Auffassung der Oktobristen die
Unterstützung der Stolhpinschen Politik.
Sie traten damit vom Boden
der großen prinzipiellen Auseinandersetzungen auf den der Kompromisse und
haben die Folgen davon in den nächstm Jahren
an sich
er
fahren. Aber nur so war, während die Anschauungen der Kadetten und
Stolypins in unvereinbarem Widerspmch, dm nur die stärkere Macht ent scheiden konnte, standen, eine Versöhnung zwischen Absolutismus und konstitutionellem Programm wenigstens denkbar; das Land hat dem auch
die Ordnung und ein ruhiges Arbeiten der dritten Duma verdankt. Inzwischen nahm nicht nur die Befriedigung des Landes durch die
Energie des Premierministers ihren Fortgang, sondern auch die positive Arbeit des Staates.
Am 22. November erwirkte Stolypin jenen Ukas
über die Auflösung des SJeir1).
Den Altgläubigen wurden Rechte und
Freiheiten verliehen, in den nichtrussischen Grenzmarken ließ man die durch die Revolution erkämpstm Freiheiten vorläufig bestehen; so konnten
in den Ostseeprovinzen deutsche, im Zartum Polen polnische Schulen
entstehen usw. Die Preßfreiheit wurde nicht wesentlich eingeschränkt, wenn auch eine so zügellose Freiheit des Wortes wie im Winter vorher nicht
mehr erlaubt ward. Stolypin war auch nicht gewillt, die konstitutionellen Zugeständnisse rückgängig zu machen. Daß die revolutionäre Bewegung
zwar fortdauerte, zeigte ihm die Ermordung des Grasen Ignatjew am 23. Dezember 1906, in dem die Revolution den nach Pobjedonoszew und Plehwe bedeutendsten Träger der Reaktion tödlich traf. Aber trotzdem und
trotz der bösen Erfahrungen mit Wahlrecht und Duma fanden die Neu
wahlen nach demselben Wahlrecht im Februar 1907 statt; am 5. Marz 1907 trat die zweite Duma zusammen.
Die Parteien zeigten dieselben Verhältnisse wie in der ersten Duma, aber in schärferer Abgrenzung. bandes
des russischen
Volkes"
Rechts standen die Gruppen des „Ver
(unter Führung
von
Purischkjewitsch,
Dubrowin u. a.), der Monarchisten und der Rechtsordnung, unter der Darüber s. Kapitel V,
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1806—1914.
Führung namentlich
Gringnmths.
Dann
folgte
119
der Verband vom
30. Oktober, von dem sich die Gruppen der „friedlichen Erneuerung" (die
späteren Progressisten) und der „demokratischen Reform" losgelöst hatten (Schipow, Graf Heyden, Fürst Trubezkoi und Fürst Lwow.) Nach links
kamen weiter die Kadetten, Arbeitsparteiler, Sozialdemokraten, Sozialrevo lutionäre^ und Anarchisten. Mit dieser Linken, aber selbständig bleibend,
ging der allmssische Bauernbund zusammen, der keine politische Partei, nur eine soziale Einheit zu taktischen Zwecken war.
Die Ukrainer, unter
ihrem Frührer Schräg aus Tschernigow, und die beiden polnischen Gruppen, das „Kolo Polskie" aus dem Zartum und die polnisch-litauische
Partei, standen wie in der ersten Duma für sich. Im ganzen war die zweite Duma genau so radikal und revolutionär wie die erste, da die Linke an 400 Mitglieder (von 524) zählte. Stolypin erklärte vor ihr am 19. März, daß sich Rußland in einen Rechtsstaat verwandeln müsse, und
entrollte ein großes Programm
seiner gesetzgeberischen Absichten, das auch die Grundlage für die Arbeit der nächsten Jahre geworden ist2). Aber die Duma war für die Regierung
nicht arbeüsfähig. Sie hat nur vom 5. März bis zum 16. Juni getagt
und Spuren ihrer Tätigkeit nicht hinterlassen. Als die Regierung die Aus schließung von 55 sozialdemokratischen Mitgliedern, die der Verschwörung
gegen Staat und Zaren beschuldigt waren, forderte und die Duma ihr nicht rasch genug zu Willen war, wurde auch sie aufgelöst; die neue Duma sollte am 13. November zusammentreten.
Im Lande machte diese Auflösung gar keinen Eindmck. Inzwischen aber war die Regierung wieder stark genug geworden, um noch einen Schritt weiter wagen zu können. Am Tage der Dumaauflösung wurde ein neues Wahlrecht oktroyiert, das sehr rasch vom Gehilfen Stolypins im Mini
sterium des Innern, Krhschanowski, ausgearbeitet worden war.
Mit dieser Maßnahme, also im Juni 1906, beginnt die Kontrerevolution, die bis zum Kriege immer stärker arbeitete, von 1911 ab durch den Nationalismus eine besondere Note erhielt, wohl die Verfassung und *) Die Arbeiterschaft hatte 1906 eine sehr straffe revolutionäre Leitung in
einem „Arbeiterrat" unter G. Nossar-Chrustalew gehabt, der im Dezember 1906
verhaftet und dadurch beseitigt worden war. h Die sehr lange Rede ist abgedruckt bei Schlesinger, Rutzland im 20. Jahrhundert (Berlin 1908) S. 311 ff.
IV. Kapitel.
120
die Dumarechte beschnitt und verletzte, aber zu ihrer Beseitigung nicht stark
genug geworden ist. Schon die Oktroyierung des neuen Wahlrechts war ein glatter Rechtsbruch, da die Gesetzgebung über das Wahlrecht ausdrücklich
vom § 87 der Reichsgrundgesetze ausgenommen ist.
Daß sich Kadetten
und alles, was links von ihnen stand, dem in erbitterter Opposition ent
gegenstellten, war selbstverständlich. Aber sie konnten nichts daran ändern und haben auch nicht die praktischen Konsequenzen daraus gezogen, nämlich
die Maßnahme für ungesetzlich zu erklären und sich deshalb der Beteili gung an den Wahlen und an der neuen Duma zu enthalten.
Bei aller
grundsätzlichen Gegnerschaft haben sie sich vielmehr auf den Boden des
neuen Staatsrechts gestellt und auch in einer unter ganz anderen Ver hältnisfen gewählten Duma ihren Platz eingenommen.
So blieb den
Oktobristen auch nichts anderes übrig, als, zum Teil mit schwerem Herzen,
den Staatsstreich zwar als solchen zu verurteilen, aber hinzunehmcn und auf der neuen Basis die neue Arbeit zu beginnen.
Das ist geschehen,
aber von vornherein mit Mißtrauen gegen die Reichsregierung. Das neue Wahlrecht war so angelegt, daß es die Besitzenden vor den
Nichtbesitzenden und innerhalb der Besitzenden das großrussische Element vor den Nichtrussen begünstigte.
Ersteres Motiv sprach der Ukas nicht
aus, dagegen sagte er, schon den kommenden aggressiv-großmssischen Geist der Regierung andeutend, über das Zweite sehr offen:
„Die Reichsduma
die zur Festigung des russischen Reiches geschaffen ist, muß auch ihrem Geist nach russisch sein.
Die anderen Völkerschaften, die zu unserem Reich
gehören, sollen in der Reichsduma Vertreter ihrer Bedürfnisse haben,
aber sie sollen und werden nicht in einer Zahl erscheinen, die ihnen die
Möglichkeit gibt, in rein russischen Fragen ausschlaggebend zu. sein. In
den Grenzmarken des Reiches aber, in denen die Bevölkerung noch nicht die genügende staatsbürgerliche Entwicklung erlangt hat, müssen die Reichs dumawahlen zeitweilig sistiert werden." Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 442 heruntergesetzt, in der Hauptsache auf Kosten der nichtrussischen Nationalitäten.
Das Zartum
Polen kam von 36 auf 121), der Kaukasus von 29 auf 9, Sibirien von 21 auf 14, Zentralasien von 23 auf 1 Vertreter herunter. Das war eine
Gesamtverminderung von 109 auf 36, durch die die Grenzmarken und *) Im ganzen 14, aber 2 müssen Russen sein.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
Fremdstämmigen
eines wirklichen
121
Einflusses in der Duma beraubt
würden; so wurde sie wirklich ein russischer Reichstag.
Das Wahlrecht blieb indirekt, der Zensus wurde nicht erhöht. Auch
wurde nach wie vor in Kurien gewählt: für Grundbesitzer, Bauern, Städter und Fabrikarbeiter.
Aber die Verteilung der Wahlmänner und
damit der Abgeordneten auf die Kurien wurde so geändert, daß rund
50 Bauernabgeordnete ausfielen und dafür Großgrundbesitzer eintraten. Auf 100 Wahlmänner kamen: auf
nach dem bis herigen Wahlrecht
42
1. Bauern 2. Arbeiter
4
3. Mielssteuerzahlende (also Städter — Beamte und Intelligenz
4. Großgrundbesitzer
68
22
nach dem neuen
22 2
36
12
32
5. Größere städtische Eigentümers
Von 6034 Wahlmännern (aus dem Reiche ohne Kaukasus, Zartum
Polen und Sibirien) für die erste und zweite Duma wählten die Bauem: 2529, die Städter 1336, die Gutsbesitzer 1963, die Arbeiter 208. Von 5163 Wahlmännern für die dritte Duma (desselben Gebiets) wählen die
Bauern 1168, die Städter 258, die Gutsbesitzer 2644, die Arbeiter 114.
Außerdem sind Wahlmännergruppen und Zensus so kompliziert — das Wahlrecht kann bis 4-stufig sein, indem der Bauer Wolostvertreter wählt,
diese Bevollmächtigte, diese Wahlmänner und diese erst den Dumaab geordneten wählen —, daß die Wahlen sehr stark beeinflußt werden können.
An sich haben in 28 Gouvemements Kemmßlands die Wahlmänner des Großbesitzes schon die absolute Mehrheit, in den anderen, wenn sie mit
den „größeren städtischen Eigentümern" zusammengehen. Das Wahlrecht ist also durchaus plutokratisch und hält die besitzlose Intelligenz in sehr
großem Maße, die Revolutionäre fast ganz von der Duma fem. Der Erfolg sprach für die Regierung. Die Maßnahme erfuhr zwar heftigsten Widerspruch, aber sie hat zu bewaffneter Erhebung nicht einmal
in den polnischen Gebieten geführt, geschweige denn im Kerngebiet, wo das Bauerntum sich an der Agrarreformarbeit zu beruhigen und das Inter esse für die liberale Agitation und sozialistische Hetze zu verlieren begann. *) Diese Kurie wurde 1907 neu eingeführt.
Die 5 großen Städte wählen
16 Abgeordnete direkt, davon die Kurien Nr. 8 und 5 je die Hälfte.
IV. Kapitel.
122
Die Erstarkung der Staatsgewalt, die Tatsache, daß Wahlrecht und Zensus an sich nicht verändert waren, die Wirkung der begonnenen Reformen und
schließlich auch der Volkscharakter, alles ermöglichte Stolypin einen vollen
Erfolg: diese auf Grund des neuen Wahlrechts gewählte Duma hat ihre verfassungsmäßige Zeit (1907—1912) vollkommen erfüllt und Rußland zum ersten Male ein ruhiges Parlamentsarbeiten gezeigt.
m.
Die Parteien der dritten Duma waren fast dieselben, wie die bis
herigen, aber zahlenmäßig war ihr Verhältnis ganz anders geworden. Waren die beiden ersten Dumm kadettisch, so ist die dritte Duma bis 1911
oktobristisch gewesen; danach wurde der ausschlaggebende Einfluß der Oktobristen durch das Hervortreten der nationalistischen Richtung ge
schwächt.
In der 1. Session gab es 11 Fraktionen: 1. die Rechte 51, — die Nationalisten 26, — die gemäßigten Rechten 70, im ganzen eine Rechte
von 127 Mitgliedem. Dann 2. die Oktobristen (154), einschließlich der gemäßigten Reformer und Balten. 3. die Kadetten 54, mit 28 von ihnen nicht wesentlich verschiedenen Progressisten — 82 Mitglieder. 4. die Linke:
Arbeitsgruppe 14 und 19 Sozialdemokraten — 33.
Das waren 127
Rechte gegen 115 Linke und 154 Mittelparteiler. Dazu 5. die Autono
misten, d. h. 11 Polen, 7 polnisch-litauisch-weißrussische Gruppe, 8 Mo
hammedaner.
Die Ukrainer waren als besondere Gmppe vollständig
verschwunden, die Gesamtzahl der Autonomisten so gering geworden, daß sie in der Mehrheitsbildung keine Rolle mehr spielten. So standen sich in
der Duma 4 politische Anschauungen gegenüber: die äußerste Rechte und die äußerste Linke, die die Verfassung nicht anerkennen, sondem sie ent weder zurück in den Absolutismus oder vorwärts in die Republik ver-
ändem wollten. Von ihnen war die äußerste Linke ohne Einfluß, während
die äußerste Rechte zunehmend wichtiger wurde. Aber in jenen Zahlen geht eine Anzahl Duma-Mitglieder nicht auf: Parteilose, und zwar parteilose Rechte, die zwischen der reaktionären und der reformerischen
Rechten standen. Aus ihnen und sich absplitternden Oktobristen bildete sich im Verlauf der 5 Dumajahre eine immer stärker werdende nationalistische
Partei, die freilich zu einem vollständigen Parteiabschluß noch nicht kam,
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
123
aber mit der äußersten Rechten zusammen den beherrschendm Einfluß der
Oktobristen brach. Danach zeigte die letzte Session folgendes Bild: Rechte
52 — Nationalisten 93 — Rechts-Oktobristen 11, im ganzen 156; Oktobristen 121; Kadetten 53 und Progressisten 37 — 90; Arbeitsgruppe 11 und Sozialdemokraten 13 = 24; Parteilose 23. Das ergab eine Rechte
von 179, eine Linke von 114 und eine Mittelpartei von 121 Mitgliedern**). Der Sieg der Oktobristen über die Linke wird noch klarer, wenn man
die Berufsgliederung der Abgeordneten betrachtet. Im Gegensatz zu den
beiden ersten Dumen, die eine große Zahl proletarischer Existenzen auf
wiesen, hatte die dritte Duma 230 akademisch Gebildete.
134 hatten
Mittelschul-, 86 Volksschulbildung genossen; als Autodidakten gingen 35.
Noch deutlicher redete die Standesgliederung: 220 erbliche Adlige,
94 Bauem und Arbeiter, 46 Priester (davon ein römisch-katholischer), 42 Kaufleute, 12 Kleinbürger, 15 Kosaken.
Für die Intelligenz bleibt
allerdings nicht nur der Rest, sondern zahlreiche Glieder der Intelligenz ge hören zu den 220 Adligen, von denm nur 195 Gutsbesitzer (darunter
29 Adelsmarschälle) waren. 173 Mitglieder hatten aktiven Anteil an der lokalen Selbstverwaltung*).
Das war eine Duma, die für konservativ
gelten konnte, wenn, wie es der Fall war, die Bauern auf der rechten Seite gehalten werden konnten.
Trotz der erheblichen Verstärkung der
rechtsstehenden Elemente verfügten diese indes nicht über die Mehrheit. Gelang es nicht, eine Arbeitsmehrheit zu schaffen, einen Block, dessen
Kern die Oktobristen darstellten, so war es auch jetzt der Regierung nicht leicht gemacht. Drei Momente wirkten nun auf die Umgestaltung der Parteiverhälmisse ein.
Zunächst kamen die grundsätzlichen Erörtemngen um die
Verfassung nicht,zur Ruhe. Dabei traute ein Teil der Duma dem andern nicht und traute sie im ganzen der Regierung nicht. Stolypin war zwar
*) Die Autonomistengruppen unverändert. *) Der Nationalität nach waren in der 3. Duma 377 Großrussen, 28 Klein russen, 12 Weißrussen, 22 Polen, 13 Deutsche, 5 Litauer, je 4 Armenier, Baschkiren, Juden, Letten und Tataren, je 2 Moldauer, Grusinier, Griechen und Eschen, je 1 Lesghiner, Türke, Shrjane und Abchasier, — der Konfession nach 414 Recht gläubige, 27 römische Katholiken, 20 Lutheraner, 10 Mohammedaner, 6 Alt gläubige, je 2 Armeno-Gregorianer und Armeno-Katholiken usw. Danach war eine überwältigende großrussisch-rechtgläubige Mehrheit vorhanden.
124
IV. Kapitel.
von der Notwendigkeit der monarchisch-konstitutionellen Staatsform für Rußland ehrlich überzeugt, aber der Zwang, die Staatsautorität wieder herzustellen, führte ihn zuerst oft dazu, die verfassungsmäßigen Kompe tenzen mindestens zu berühren, wenn nicht zu überschreiten; er hatte dafür
auch eine unbedingte Stütze am Hofe und am Zaren.
Darüber hinaus
legte der verhältnismäßig rasche Sieg über die Revolution den einfluß reichen Gruppen am Hofe den Gedanken nahe, auch die gegebenen Zu geständnisse rückwärts zu revidieren, und mit der leidenschaftlichen Be
tonung der „Samoderschawie", die trotz allem erhalten sei, wurden immer
wieder — unterstützt durch die zweideutigen Eingangsworte des 4. Ver
fassungsartikels — Vorstöße in dieser Richtung gemacht.
Der Einzel
kampf zwischen Verwaltung und Parlament, der damit begann, erschwerte
den Oktobristen ihre Stellung als Mittelpartei immer mehr.
War es
doch leichter, von rechts und links seinen Standpunkt in prinzipieller Klarheit auszusprechen, als in der Mitte Kompromisse durchzuführen, an deren Haltbarkeit häufig keineswegs die ganze Partei glaubte. Sie ist darüber auch nicht zu einer wirklich festen und einigen Fraktion geworden.
Ferner wurden die polttischen Parteigegensätze fortwährend durch die agrarische Frage durchkreuzt. Zu einer eigentlichen Bauernpartei kam
es nicht, vielmehr fanden sich in den agrarischen Fragen die an ihnen
Interessierten aus allen Parteien zusammen und schoben so die politischen
Gegensätze zurück. Das aber hinderte wieder die Ausbildung scharf gegen einander abgegrenzter und geschlossener politischer Parteien.
Schließlich aber bildete der Nationalismus die Parteiverhältnisse um, zu dem Stolypin im Frühjahr 1911 die volle Schwenkung vollzog, als er
in einem erneuten Staatsstreich die Verordnung über die Einführung der Semstwos im Westgebiet mit dem Paragraphen 87 durchsetzte. Für seine
Politik, die für die Grenzmarken die Errungenschaften" der Revolution
illusorisch machen wollte und immer mehr nationalistisch-aggressiv wurde,
suchte er daher seine Stütze in der gemäßigten und extremen Rechten, die ihm eine Gruppe von fast 200 Mitgliedern in der Duma zur Verfügung
stellte. Die Legislaturperiode ging freilich zu Ende, ehe diese Entwicklung
zu einer vollständig neuen Parteigruppiemng führte, zumal sich die
Oktobristen im Oktober 1911 mit den Nationalisten, wenigstens für die Wahltaktik, zusammenschlossen. Sie haben dadurch ihre Stellung auch in der vierten Duma in der Hauptsache behauptet, aber das Wesen ihrer
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
125
Partei insofern verändert, als die nationalistische Politik, der sie nun mitdienen mußten und wollten, mit dem liberalen Inhalt ihres Pro
gramms grundsätzlich nicht vereinbar ist. Arbeitsfähig ist die Duma infolge des Staatsstreichs wenigstens ge worden; in den 5 Jahren ist auch außerordentlich viel in ihr gearbeitet
worden. Das fällt, abgesehen von jenen großen prinzipiellen Widerständen,
um so mehr ins Gewicht, als die Summe dessen, was zu tun war,
ungeheuer war. Denn eine Fülle von verwickelten Reformarbeiten forderte nun Erledigung. Und dafür war die Zahl der zur Einzelarbeit geeigneten und willigen Kräfte unter den Abgeordneten relativ geringer, als in irgend
einem anderen Parlament. Aber — nach 5 Jahren lag diese Erfahrung vor — Rußland hat derartige Kräfte in der Duma gehabt. Bei ihrem Beginn stand die große Reformarbeit erst noch weniger
im Vordergrund als die Eingewöhnung in die Technik des parlamen
tarischen Lebens überhaupt.
Diese hat sich leichter und schneller bei den
Abgeordneten vollzogen als bei den Regierungsvertretem; jene haben sich
sehr rasch in die parlamentarische Routine nach dem europäischen Vorbild gefunden.
Das Präsidium und die zweite Vizepräsidentenstelle blieben
immer in den Händen der Oktobristen, während die Rechte die erste Vize
präsidentenstelle besetzte; erst 1913 wurde auch diese mit einem Oktobristen besetzt.
Präsidenten waren N. A. Chomjakow (der Sohn des bekannten
Slawophilen) bis 1910, A. Gutschkow bis März 1911, seit dem M. W. Rodsjanko, der auch Präsident der vierten Duma tourbe1).
Unter den
Vizepräsidenten sind Fürst W. M. Wolkonskij und namentlich Baron A. Meyendorff zu nennen. Die Linke, auch die Kadettenpartei, blieb von der Leitung der Dumageschäfte ausgeschlossen, was sich aus der Mehrheit
und dem Mißtrauen der konservativen Kreise gegen die Kadetten wegen ihrer Haltung in der Revolution ergab. Die Kadetten haben das geschickt
ausgenutzt.
Sie hatten dadurch den Vorteil geschlosseneren Auftretens in
der Duma, wobei sie durch ihre große Zahl bedeutender Köpfe unter
stützt
wurden;
besonders
trat
unter
ihnen
Miljukow
immer
mehr
als der unbestrittene Führer hervor, der vorzüglichste Kenner der aus-
j 1859 geboren, adliger Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw. *) 1868 geboren, Gutsbesitzer und Welsmarschall aus dem Gouvernement
Tambow, im Kriege Gchilfe im Ministerium des Innern geworden.
IV. Kapitel.
126
wärtigen, namentlich Balkanpolitik, der darin gelegentlich, wie in den Aus einandersetzungen mit Iswolski, geradezu Wortführer der gesamten Duma war.
Sonst Has infolge dieser Minoritätsstellung die positive Mitarbeit
der Kadetten an den großen Reformprojekten, vor allem der Agrarstage,
gefehlt.
Dafür nahm ihre Bedeumng im Lande immer mehr zu.
Da
das Vertrauen zur Regierung, namentlich zur Ehrlichkeit ihrer konstitutio nellen Gesinnung sank, stieg der Kredit der Oppositionsparteien im Lande, und je mehr die nationalistische Richtung der Regierungspolitik hervortrat
und je unsicherer die Stellung der Oktobristen dazu wurde, um so schärfer und erfolgreicher konnte die Opposition der Kadetten werden. Diese Dinge wurden aber erst im dritten und vierten Fünftel der
LegislaMrperiode klarer. ordnungschaffende
Politik
Zunächst ging man, während im Lande die des
Premierministers
immer
erfolgreicher
voranschritt, mit voller Kraft und auch Lust an die Erledigung der Ge
schäfte. Die Arbeit wurde dadurch erleichtert, daß die öffentliche Meinung immer weniger in sie hereinredete; die Duma war eben keine vollkommene
Vertretung des Volkes, sondern nur eine solche der besitzenden Klassen, in
der die besitzlose Opposition ungenügend zu Wort kam.
Andererseits
aber stand der Wille, zu arbeiten, vor großen Schwierigkeiten.
Die
Verfassung enthielt Unklarheiten genug über die Kompetmzstagen. Deshalb suchte man im ersten Übereifer so viel wie möglich an sich heranzuziehen
und die Regierung unterstützte hi kluger Berechnung das: je mehr sich das Parlament in Einzelheiten vergrub, um so mehr blieb die Staats
gewalt in der Hand der Regiemng. Gleich die erste große Aufgabe der Budgetkntik zeigte alle diese
Klippen. Es drehte sich um ein Riesenbudget, das zwar seit Jahrzehnten,
seit 1863, veröffentlicht wurde, aber höchst unübersichtlich und vornehm lich unter dem Gesichtspunkt angelegt war, dem Auslande einen recht
günstigen Abschluß zu präsentieren.
Die Spezialisierung der einzelnen
Titel war möglichst vermieden, zahlreiche Mißbräuche und Schiebungen fanden sich in diesem Reichshaushalte. Technisch kam noch die Schwierig
keit hinzu, daß das Budgetjahr unpraktischerweise mit dem 1. Januar beginnt, so daß, weil die Duma nicht eher als im Oktober berufen werden
kann, die Zeit zur gründlichen Etatberatung regelmäßig sehr kurz war. Die Duma hatte indes das Glück, vor allem in dem Oktobristen M. M.
Aleksjejenko einen ausgezeichneten Präsidentm chrer Budgetkommission zu
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und'Staatsmänner von 1906—1914.
127
finden, unter dessen Leitung die Behandlung und Kritik des Budgets rasch in feste Bahnen gekommen ist; 1910 wurden nur 29, 1911 nur 17, 1912:
30 Sitzungstage gebraucht, um das Budget zum Abschluß zu bringen. Die Regierung erleichterte diese Arbeit ganz und gar nicht. Ihr Stand
punkt zum Budgetrecht der Duma war keineswegs klar und entgegen kommend.
Das Budgetrecht an sich wurde ja nicht ernstlich bestritten,
aber seine Grenzen waren sehr unsicher. Zudem lag eine besondere Haupt schwierigkeit in der Stellung zum Zaren. Das absolute Rußland hat eine
Scheidung zwischen Schatulle und Staatsfinanzen nicht ausreichend durch
geführt; die Vorstellung blieb herrschend, daß der Staat mit seinen Ein nahmen und Gütern nichts als das Dominium des Zaren sei. aber richteten
sich
Dann
alle Erörterungen um das Budgetrecht gegen die
Person des Zaren selbst.
Und dieses Verhältnis wurde noch peinlicher,
weil die Budgetkritik die Tätigkeit von Mitgliedern der Zarenfamilie direkt berühren mußte. Eine ganze Anzahl höchster Staatsstellungen war in den
Händen von Großfürsten und unter der Leitung dieser großfürstlichen Chefs warm die betreffenden Ressorts keineswegs Musteranstalten ge
worden.
Weil traditionell Mitglieder der Zarenfamilie an die Spitze
wichtiger Verwaltungszweige gestellt wurden, denen Sachkenntnis, Über
sicht, oft auch guter Wille fehlte, war in wichtigen Ressorts Korruption und Unordnung eingerissen, die sich im Kriege schwer gerächt hatten.
Schließlich hatten die Reichsgrundgesetze geradezu eine Mauer aufgerichtet,
über die die konstitutionelle Budgetkritik überhaupt nicht hinwegsteigen konnte, in den sogen, gepanzerten Krediten, Teilen des Etats, die der Er
örterung und Bewilligung der Duma von vornherein entgegen1) und
trotz des
Bemühens der Duma, darauf Einfluß
zu
gewinnen, em
unklares Gebiet geblieben sind. Das Problem, Budgetrecht und zarische
Prägorative in den Finanzen zu versöhnen und Reibungen auszuschalten, ist noch nicht gelöst worden.
Bei Eröffnung der Duma wurde in der Presse folgmdes Reform programm aufgestellt: neben den Budgetfragen die Ordnung und Dezen tralisation in der Verwaltung, die Agrarreform, die Verbesserung der
Lebenshaltung der Offiziere und Soldaten in der Landarmee, der Neubau der Flotte, die Reform und der Ausbau des Eisenbahnsystems, die Bolks*) Siche Kapitel VI.
128
IV. Kapitel.
bildung, die Reform der Lokalverwaltung, und des Lokalgerichts, dazu die Folgerungen aus dem Toleranzedikt für das gesamte Kirchenrecht und
die Fragen der Unantastbarkeit der Person, der Preßfreiheit und Zensur, die unmittelbar aus dem Wesen des Verfassungsstaates folgten, schließlich Besserung allgemeiner Schäden des Staatslebens, wie der Lage der In
dustriearbeiter oder der von mehrenen Abgeordneten leidenschaftlich be
kämpften Trunksucht. Im ganzen ein Riesenprogramm, an das man häufig in der glücklichen Naivität heranging, zu glauben, daß schon die gesetzliche
Maßnahme die Reform sei. Zu all den Aufgaben traten später die ver wickelten Gesetzentwürfe hinzu, die die Schwenkung der Regierung zum Nationalismus mit sich brachte und die die Duma in große, zum Teil sehr
unfruchtbare Kämpfe Hereinrissen. Sie haben auch seit ihrer dritten Session
die Reformarbeit immer ergebnisloser gemacht. Daß diese nicht so vorankam, wie es möglich und nötig war, hing ferner mit der Stellung der Regierung zur Duma und mit der der ersten zur zweiten Kammer zusammen. Je mehr sich die Staatsgewalt wieder
festigte, um so mehr verbreitete sich ja die Überzeugung, daß die Zugeständ
nisse des Oktobermanifests zu weit gegangen seien.
Sie offen zurück
zunehmen, dazu fühlte sich die Staatsgewalt auch jetzt nicht stark genug.
Aber sie versuchte, die Kontrolle des Parlaments und die Beschränkung der selbstherrlichen Gewalt in möglichst engen Grenzen zu halten. Und wenn auch die Duma immer mehr ein organischer Faktor des Staats
lebens wurde, so wußte Stolypin, daß sie nach Zusammensetzung und Wahlrecht eine grundsätzliche Opposiüon gegen die Regierung gar nicht machen konnte, wenn sie nicht ihre eigene Existenz gefährden wollte. Die
Probe auf dieses Exempel machte er, als er vom beruhigenden, konstitu tionellen, reformierenden Staatsmann zum nationalistisch-konservativen Minister wurde. Diese Entwicklung ging parallel, beeinflußte und wurde ihrerseits beeinflußt durch die Erstarkung der nationalistischen Richtung in
der Duma, die sich von 1909 an vollzog. Als die dritte Duma zusammentrat, war vom Nationalismus noch
keine Rede. Die Adresse an den Zaren berührte nationale Fragen nicht, sprach nur von der Koirsolidierung der Größe und Macht des „unteil baren" Rußlands, und das Arbeitsprogramm, mit dem Stolypin am 29. November 1907 vor die Duma trat, erwähnte die nationalen Fragen gleichfalls nicht. Aber daß sie von Bedeutung werden mußten, lag auf der
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
129
Hand; das große Problem, wie die konstitutionellen Forderungen mit dem
russischen Nationalitätenstaat zu vereinen seien, trat im Laufe des Jahres 1909 an Duma und Regierung heran. Dafür war nun sehr wesentlich,
daß nach der sozialen Struktur Rußlands die sich konsolidierende Rechte
der Duma nicht konservativ-aristokratisch*) sein konnte, sondern demo kratisch-agrarisch ist und sich als solche in einem großrussischen, chau vinistisch auftretenden Nationalismus fand, der geistig recht sehr aus Pob-
jedonoszews und Katkows Ideen schöpfte. Dagegen hatten in dieser Zentral frage weder die Oktobristen, noch ein großer Teil der Linken einen ent
sprechend einheitlichen Standpunkt. Diese Veränderung in den Parteiver
hältnissen wirkte auch auf den leitenden Staatsmann ein, der, je mhiger das Land wurde, immer mehr das Nationalitätenproblem aufnahm, so mit der
Gesetzgebung gegen Finnland, mit dem Gesetz über die Einführung der
Semstwos im Westgebiet und mit der Vorlage gegen die deutschen Kolo nisten.
Im Kampf um die zweite Vorlage kam es im Frühjahr 1911
zur größten Krisis, die zu einem Staatsstreich Stolypins, zu erbitterter Opposition in beiden Kammern und zu einem Rücktrittsgesuch Stolypins führte.
Sie endete aber mit seinem vollen Siege, weil der Zar, auch
wenn er Stolypin hätte preisgeben wollen, ihn schlechterdings nicht ent
behren konnte. Die Arbeit der Duma wurde sodann durch den Neichsrat erschwert.
Dieser stand, wenn nicht unbedingt auf der Seite Stolypins, so doch ent schieden auf der Seite der Regierung, des Bestehenden überhaupt.
Er
war in eine erste Kammer verwandelt worden und bestehl nun halb aus ernannten, halb aus gewählten Mitgliedern.
Die ernannten Mitglieder
blieben derselben Art wie bisher: pensionierte Generale und Minister, die aktiven Minister und andere hohe Würdenträger.
Von den 98 zu
wählenden Mitgliedern sind 43 von den Semstwos, 18 von den Adels
korporationen, 13 vom Großgrundbesitz in den Gouvernements ohne Semstwos (namentlich im Westgebiet und den Ostseeprovinzen), davon
6 vom Großgrundbesitz des Königreichs Polen, 6 von der Geistlich keit, 6 von den Universitäten und von der Akademie der Wissenschaften und 12 von Handel und Industrie zu wählen.
Diese Zusammensetzung
*) Konservativ-aristokratische Elemente der Duma sind daher mit wenigen
persönlichen Ausnahmen merkwürdigerweise lediglich die Vertreter der Großindustrie (der Börsenkomitees).
Hoetzsch, Rußland.
9
IV. Kapitel.
130
sichert den bureaukratisch-konservativm Elementen weitaus die Mehrheit;
die wenigen Liberalen, die die Universitäten oder Handel und Industrie
stellen können, spielen keine Rolle.
Es waren daher nur verschiedene
Nüancen der konservativen Grundgesinnung, wenn sich auch im Reichs
rat Parteien bildeten. Diese sind (ernannte und gewählte Mitglieder zu gleich umfassend) folgendes: die äußerste Rechte 70 Mitglieder, darunter
die meisten früheren Minister usw., geführt von P. N. Durnowo; das — nationalistische
— rechte
Zentrum
(19,
geführt von
Stolypins
Schwager Neidhardt), das für „ein Zusammenarbeiten des Reichsrats und
der Reichsduma" arbeitende Zentmm (60, dabei die Balten und Polen, unter Fühmng A. A. Sabmrows), die Linke (12, unter Fühmng des Professors Grimm, dabei die Vertreter der Universitäten) Parteilose (22). Für sich steht die Gruppe der aktiven Minister (13). Die Führung und mit der Neidhardt-Gmppe die absolute Mehrheit hatte die reaktionäre
Rechte unter Durnowo").
Unter ihrem maßgebenden Einfluß sah der Reichsrat von Anfang an
seine Aufgabe geradezu darin, die gesetzgeberische Tätigkeit der Duma un möglich zu machen; es ist vor allem seine Schuld, wenn aus der Fülle von Reformgesetzmtwürfen, die die dritte Duma behandelt hat, verhältnis mäßig wenig Gesetz und Recht geworden ist. Sicherlich hatte sich in den 5 Jahren der dritten Duma die kon
stitutionelle Staatsreform noch nicht ganz eingelebt. Aber die Duma hatte
Lebens- und Arbeitsfähigkeit gezeigt, auch Positive Arbeit reichlich ge
leistet.
Daß die Verfassung im Volke als notwendig empfunden wurde,
zeigte die Wahlbewegung für die vierte Duma.
Trotz stärkster Beein
flussung durch die Regierung und trotz der Unterstützung der Kirche, die
beide eine Dumamehrheit im Regiemngssinne, d. h. eine nationalistischkonservattve erstrebten, ging die gesamte Rechte eher geschwächt daraus hervor.
Die Stärke der Parteien betrug im Dezember 1912, als die vierte Duma ihre Arbett begann: Rechte 64, Nationalisten 88, Gemäßigte Rechte
(oder Zentmm) 33 — 185; Oktobristen 99; Kadettm 58, Progressisten 47, Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten usw. 14 — im ganzen 129. Dazu *) Die Zahlen nach dem Stande von Februar 1914. *) 1844 bis 1916, Nov. 1905 bis Mai 1906 Minister des Innern.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
131
kamen 15 Polen, Litauer und Weißrussen, 6 Mohammedaner und 5 Parteilose.
Daneben gibt es, die immer noch schwankenden Parteiunter
schiede durchbrechend, unpolitische Gruppen: je eine Bauern-, Kosaken-, städtische und Semstwo-Gruppe.
Die großrussisch-orthodoxe Mehrheit wurde nicht verändert: über
380 Orthodoxe stehen rund 60 Andersgläubigen gegenüber.
366 sind
Großrussen, 19 Polen, je 9 Deutsche und Kleinrusscn, je 5 Litauer und
Tataren, je 4 Weißrussen und Armenier, je 3 Juden und Moldauer, je 2 Eschen, Letten, Griechen, Grusinier usw.
Hochschulbildung hatten 217, Mittelschulbildung 118, Volksschul
bildung 75 und.häusliche Bildung 29 Abgeordnete.
Dem Bemfe nach
gehörten 95 zur Intelligenz, 45 zur Geistlichkeit; 41 Adelsmarschälle und 10 Arbeiter waren gewählt worden. Nach diesen Parteizahlen hatte auch die vierte Duma kein festes Arbeitszentrum.
Für die Arbeitsmöglichkeit kam es darauf an, ob die
Rechte eine geschlossene Gruppe bildete und wie sich die Oktobristen stellen und entwickeln würden.
Die Rechte ist überhaupt keine geschlossene Partei, auch nicht in den nationalen Fragen, sondern
umfaßt die eigentlichen Rechten, die auf
Grund der (groß-)russischen Staatsidee nationalistisch sind, und die Natio nalisten, die das auf Grund der slawischen Rassenidee, also Panslawisten
sind. Sie ist, wie erwähnt, demokratisch-agrarisch, — sind doch auch ihre Führer vor allem Bureaukraten, Bauern und Geistliche. Immer deutlicher ist das beim Werben der Parteien um das Volk geworden, d. h. um die
Bauemmassen, die in den großen monarchistischen Verbänden (Verband des
russischen Volkes, der russischen Leute, des Erzengels St. Michael) organi siert sind und das Rückgrat der Rechten bilden, aber auch der Agitation von links zugänglich sind, jedenfalls nicht von
panstawistisch sind.
Haus aus nationalistisch-
Das gibt dem parlamentarischen Leben Rußlands
seinen besonderen Zug, daß ihm eine konservative Partei aus Adel und
Bürgertum fehlt, und daß sich vornehmlich nur (von der Geistlichkeit beein
flußtes) Bauemtum und Intelligenz, deren Parteien (Kadetten und Pro-
gressisten) auch heute noch nicht „legalisiert" sind, sondem nur ungesetzlich existieren, gegenüberstehen. Darin liegt eine Sicherung gegen alle wirklich
tief greifendm reaktionären, d. h. auf Beseitigung der Verfassung gerichteten Tendenzen, jedoch eine geringe Sicherheit für ein ruhiges konstitutionelles 9*
IV. Kapitel.
132
Leben und eine noch geringere Sicherheit dafür, daß diese politische Ver
tretung sich auch der Kulturaufgaben annimmt. Die Rechte hält die Ver fassung gegen die Linke und, wenn nötig, gegen die Regierung, nutzt sie
aber in ihrem engen, wesentlich von Bauemtum und Klerus bestimmten Interesse aus.
Nun diente der Nationalismus und die nationalistische Bewegung vor
allem dazu, die verschiedenen Gruppen der Rechten immer mehr einander näher zu führen, während sie sich an der reaktionären Politik der Regierung
viel weniger stießen als die Linke. Jnnerpolitisch war der Nationalismus jetzt am besten in der großen Erklärung Kokowzows vor der Duma am 19. Dezember 1912 formuliert: „Auf diesem festen Boden (der bestehmden
Staatsordnung) sind die Negierungsinstitutionen zum unbeirrten Schutz der von altersher zur Gmndlage des russischen Staatslebens dienenden
und durch ihre Geschichte geheiligten Einheit und Unteilbarkeit des Reichs, der Vorherrschaft der russischen Nationalität in ihm und des orthodoxen
Glaubens berufen, unter dessen wohltätigem Einfluß das russische Land entstanden und gefestigt ist und lebt." Auf dem Boden dieses Programms, das sie aktiver faßte als der Ministerpräsident, stand die Rechte ohne Einschränkung.
Seit 1908 aber — dem Jahre, in dem die Wendung
vom fernen zum nahen Osten bewußt erfaßt und ausgenommen wurde — belebte sich der Nationalismus durch den Neopanflawismus, durch die
Krisen der Balkanhalbinsel und die mehrfachen Kriegsgefahren außer ordentlich. Das kam den Rechten vornehmlich zugute, und das nutzten sie auch aus: sie blieben nationalistisch und sie wurden panslawistisch.
Letztere Strömung ergriff aber auch die Oktobristen, deren Führer Gutschkow
besonders
sich
immer
leidenschaftlicher
in
sie
hineinwarf.
Anderseits stellte die nationalistische Regierungspolitik namentlich in der
finnischen Frage und die steigende Reaktion diese Partei vor die Frage,
ob nicht ihr im Grund liberales Programm die Opposition gegen die
Regierung fordere. Auf Kongressen und im Hauptblatt der Oktobristen, dem Golos Moskwy, machte sich Gutschkow zum Wortführer auch der
regierungsfeindlichen Richtung. Aber er brachte diese sonderbare Synthese zwischen panflawistisch und oppositionell nicht zustande.
Den schärfer
werdenden Parteigegensätzen fiel diese Mittelpartei zum Opfer; nach der
Parteikonferenz im November 1913 brach sie auseinander: eine Gruppe
von Linksoktobristen (Schidlowski, auch Mehendorff), eine zentrale der
Jrmerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
1ZZ
sog. Landschaftsoktobristen und eine der Rechtsoktobristen entstand. Gutsch kow, der seine Führerstellung darüber einbüßte, zog sich immer mehr vom
innerpolitischen Leben zurück und gab sich ausschließlich der immer fessel
loser flutenden panslawistischen und deutschfeindlichen Welle hin.
Seine
Partei verlor darüber bis zum Kriege an Bedeutung und gewann sie auch
im Kriege nicht zurück.
Durch dieses Heruntersinken der Oktobristen gewann der Liberalismus aber nicht so viel, wie man annehmen mochte. Der reaktionären Politik stand er freilich in scharfer Opposition gegenüber, in der Miljukow nach
wie vor führte. Aber es fehlte ihm schon das feste Programm und die soziale Grundlage, um die Massen gewinnen zu können, und er fand auch keinen
festen Standpunkt zum Nationalismus.
Außerpolitisch stand Miljukow,
der Vorkämpfer russischer Orientpolitik, gar nicht anders als Gutschkow, ruhiger zwar, dafür orientierter und folgerichtiger.
Und im Innern
wurde der Liberalismus immer großrussischer, besonders unter dem Ein fluß P. Struves, der die Einheit des russischen Staats und das Ideal des „großen Rußlands" vertrat. Weder die sinnische noch die polnische Frage, weder die Klagen der Deutschen noch die der Kleinmssen haben in
diesen Jahren bei den Kadetten wesentlich Gehör gefunden.
Sie sind
zentralistisch, großrussisch, ja chauvinistisch geworden und verfochten die Angriffspolitik nach außen — als Oppositionspartei brauchte sie trotz
großer Reden keine Regiemng zu fürchten.
Noch weniger hatte sie von Sozialdemokraten und Sozialrevolutio nären zu besorgen.. Deren Parteien verfielen, hatten weder innere Kraft
noch Organisation.
Auch die Streikbewegung, die in der ersten Hälfte
1914 sehr anschwoll — Juli 1914 zählte man 951 Streiks mit 322 000
Streikenden — schien nur politisch zu werden, sie machte die Arbeiterparteien der Regierung nicht gefährlich.
Die Parteigruppierung war bei Ausbruch des Krieges diese: Rechte 59, Nationalisten 86, Zentrum 33, Rechtsoktobristen 23 — 201; Land schaftsoktobristen 64, Linksoktobristen 20; Kadetten 55, Progressisten 44,
Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten 14 — im ganzen 123; 9 Parteilose
und 20 Nichtrussen.
Eine feste Mehrheit war danach noch weniger als
zu Anfang vorhanden.
Am 14. September 1911 war Stolypin durch ein Attentat in Kiew ermordet worden; sein Nachfolger wurde W. N. Kokowzow, der das
134
IV. Kapitel.
Portefeuille des Finanzministers beibehielt2). Kokowzow, der bedeutendste Schüler Wittes, hat dessen Werk in bett gleichen Bahnen und, unterstützt
durch die guten Ernten, mit gleichem Erfolge fortgeführt. Als Minister präsident wollte er2) auf der
Grundlage des Oktobermanifestes in einem
monarchisch-konstitutionellen Staatswesen unter entschiedener Wahrung
seiner historischen und politischen Einheit eine gewälüge Summe von Einzelreformen durchführen.
Aber, selbst weder reaktionär noch extrem
nationalistisch noch gar Kriegshetzer — von der Notwendigkeit friedlicher
Politik war er so tief überzeugt wie Witte —, hat er diesen drei Tendenzen
in der Leitung des Staates nicht erfolgreich Widerstand leisten können. Die unaufhaltsam stärker werdende Strömung gegen die Verfassung und die
Duma, in seinem Kabinett durch die Minister des Innern Makarow und Maklakow, den Justizminister Schtscheglowitow und den Oberprokuror
Sabler vertreten, hemmte die Reformarbeit immer mehr und zwang Kokowzow zu Kompromiß und Nachgiebigkeit, die ihn trotz seiner großen
Gewandheit schließlich doch nicht hielten. Man konnte nicht zugleich Ver fassungsminister und Reaktionär, Nationalist und europäischer Reformer
sein — an der Unmöglichkeit, diese Gegensätze auszugleichen, da er nicht entschlossen und stark meiner Richtung zu gehen vermochte, ist Kokow zow gescheitert. Am 13. Febmar 1914, wurde er, mit dem Grafentitel, unerwartet verabschiedet, sehr erfolgreich als Finanzminister und ohne
wesentlichen Ertrag seiner Arbeit als Ministerpräsident. Sein Nachfolger als
Finanzminister
wurde
P. Bark2),
als
Ministerpräsident I. W.
GoremhkinJ. Die Reskripte des Zaren an beide, vom 13. Februar an Bark und
vom 19. März an Goremhkin, schienen durch den Herrscher selbst neue
Richtlinien für eine Politik anzugeben, die aus der Stagnation heraus*) 1853 geb., 1890 Gehilfe des Staatssekretärs des Reichsrats, 1896 Adjunkt
Wittes, 10. Mai 1906 Finanzminister, 23. Sept. 1911 auch Ministerpräsident, 13. Februar 1914 verabschiedet.
*) Vgl. seine Erklärung vor der Duma am 19. Dezember 1912.
’) 1869
geb.,
unter
Wyschnegradski
ins
Finanzministerium
eingetreten,
Sekretär Wittes, in der Reichsbank und in der Wolga-Kama-Bank tätig, zuletzt Gehilfe im Handelsministerium. *) 1839 geb., Vizegouverneur von Plock u. Kjelce, 1891 Gehilfe des Justiz
ministers, 1895 bis 1899 Minister des Innern, 10. Mai bis 21. Juli 1906 Ministerpräsident.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
135
führen sollte. Bark wurden „radikale Reformen in der Verwaltung der
Staatsfinanzen und der wirtschaftlichen Aufgaben des Landes" aufge tragen; der Zar nahm dabei auf persönliche Eindrücke von den schlechten
wirtschaftlichen Zuständen im Lande bezug. Ausgeführt davon wurde bis zum Ausbruche des Weltkrieges nichts. legenden
finanz-politischen
Erst dieser gab zu einer grund
Änderung
Veranlassung
mit
der
Auf
hebung des Branntweinmonopols, um dessen Reform sich die Debatte
vor und nach Kokowzows Rücktritt gedreht hatte.
Das Reskript an
Goremhkin klang zwar den Gedanken jenes Witteschen Berichts, der das
Oktobermanifest 1905 veranlaßt hatte'), in manchem ähnlich, war aber unklar und unbestimmt, positiv nur in seinem entschieden nationalistischen
Zuge. Die Weisung eines „Einvernehmens zwischen der Regiemng und den gesetzgebenden Institutionen" wurde zudem durch die Persönlichkeit
des Adressaten von vornherein hinfällig.
Deim Goremhkin, entschieden
konservativ und großrussisch-nationalistisch, legte vor allem Gewicht darauf,
daß die Bauernmasse im richtigen Verhältnis zu ihrem Staate stehe; dem Liberalismus war er entschlossen feindlich, und er rührte, in dem
Bestreben, die Rechte der „Selbstherrschaft" unbedingt zu erhalten, in
der Praxis auch an unzweifelhafte Rechte der Verfassung. Damit wurde der latente Konflikt zwischen Berfassungsparteien und Reaktion, der in der Kontrerevolution seit 1908 immer mehr zugenommen hatte und den
Kokowzow nicht hatte lösen
können, akut.
Es
kam in der Duma
zu Szenen, die an die stürmischen Tage von 1906 erinnerten, zu leiden schaftlichen Angriffen auf die Minister, auf Rasputin") u. a., zu Skan dalen und Obstruktion gegen den greisen Ministerpräsidenten. Auf Seiten
der Regierung, die vom Reichsrat unbedingt unterstützt wurde, war aber nicht der geringste gute Wille zu erkennen, mit der Duma zu arbeiten. Die
Hoffnung, organische Reformen durchzubringen, schwand ganz, weder
') S. oben S. 100. -) Gregor Rasputin, ein in den fünfziger Jahren stehender, ungebildeter, aber begabter sibirischer Bauer, der, halb Charlatan, halb Gläubiger, als religiöser Kurpfuscher und Gesundbeter auf den Zaren und seine Familie großen Einfluß gewann. Am 11. Mai 1914 sagte Miljukow von ihm in der Duma, daß Rasputin 1913 über Krieg und Frieden entschieden habe: „So liegt die Kirche in den Händen der Hierarchie, die Hierarchie ist Gefangene des Staates und der Staat ist Gefangener eines — Landstreichers."
IV. Kapitel.
136
Regierung noch Reichsrat schienen solche auch nur zu wollen, und ihr
Programm schien die Auflösung dieser Duma, die von Haus aus gar nicht oppositionell war, vielleicht noch mehr: die Suspension oder wenigstens die Revision der Verfassung im reaktionären Sinne zu sein.
Diese Politik
steigerte und verstärkte die Opposition in der Duma, der sich auch der
größte Teil der Oktobristen anschloß.
Die Unzufriedenheit wurde so be
drohlich, daß Menschikow, der bekannte Mitarbeiter der Nowoje Wremja,
schrieb, es „rieche nach 1905", und man fand, die Haltung der Bureau kratie erinnere an ihr Auftreten unter Plehwe. Aber der Zar, auf den die trotz allem sehr patriotische Haltung der Duma in den Landesverteidi
gungsfragen wirkte*), war nicht geneigt, den Bogen Überspannen zu lassen.
Im Juli mehrten sich die Anzeichen eines Kurswechsels: der bedeutendste Kopf im Kabinett, der Landwirtschastsminister A. W. Kriwoscheins
hatte dem Zaren ein großes Reformprogramm einreichen können und galt als Goremykins Nachfolger im Sinne der Forderungen der Gesellschaft.
Der Kriegsausbmch durchschnitt das alles.
In der ersten Kriegssitzung
der Duma am 8. August 1914 wurden die schweren Kämpfe der ersten
Jahreshälfte beiseite geschoben, die Duma trat fast geschlossen an die Seite
der Regierung. Man hat vermutet, daß die Regierung den Krieg als Blitzableiter für eine innere Krisis benutzt habe, deren sie nicht mehr Herr werden
konnte. Richtig ist wohl, daß dem Zaren die Vorstellung erweckt wurde, das Land stehe vor einer Revolutton. Die innere Lage wurde als hoff
nungslos empfunden und dargestellt, Sensationsprozesse förderten die all
gemeine Spannung und die innerpolitische Atmosphäre schien einer Ent-,
ladung gegen die Reaktion und Willkür der Regiemng und Verwaltung zuzutreiben. Aber das galt nur für die großen Städte, die sog. Gesellschaft
und die Arbeiterschaft; „100 Werst im Umkreis von den Zentren, sagte
Kokowzow, gehe die Unzufriedenheit, nicht weiter." Die Provinz war still,
die Grenzmarken auch.
Das Bauemtum stand der Polstik wieder ganz
fern, war mit der Agrarreform, die in eiliger Arbeit einen individuell
wirtschaftenden Bauemstand schaffen wollte, beschäftigt, und in der Armee rüstete man auf den Krieg. Ohne Bauem und ohne Armee aber war an
9 S. Kapitel IX. 6 1859 geboren, 1908 bis 1915 (8. November) Landwirtschaftsminister.
Innenpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.
137
keine Revolution zu denken, verpuffte die Aufregung des politischen
Treibms in Petersburg und Moskau und konnte sich die Gämng der Arbeiterschaft nicht über Streikdemonstrationen hinaus erheben. —
Die Jahre 1904 bis 1906 warm eine Zeit revolutionärer Hoch spannung, die zeitweilig den größten Teil des Volkes mitriß. folgte eine Depression etwa bis 1910 und die Gegenrevolution.
Ihnen
Diese
verband sich von Jahr zu Jahr mehr mit bet! aggressiv-patriotischen und nationalistischen Stimmung, die auch die gebildeten oppositionellen Kreise ergriff und ihren Widerstand gegen die Reaktion schwächte. Aber
die Duma und Verfassung zu beseitigen hat diese nicht gewagt.
Das
politische Leben des Jahrzehnts von 1904—1914 schloß damit ab, daß
Rußland als monarchisch-konstitutioneller Staat in den Weltkrieg herein
ging.
V. Kapitel.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik. I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Krrngebietes und der Grenzmarken bei Ausbmch des Weltkrieges. Mit wenigen Strichen ist ein vorläufiges Bild von der Volkswirt schaft Rußlands zu entwerfen, damit sich auf diesem Hintergmnd die
Agrarfrage, die Finanz- und Wirtschaftspolitik und der kapitalistische
Stand der Gegenwart richtig abhebe. Das Reich ist überwiegend Agrar
land und steht in der Frühzeit des Kapitalismus, der nur in den Grenz marken schon zur Reife gekommen ist.
Kernrußland ist noch in den
Anfängen einer Volkswirtschaft, aber durch die Bedürfnisse seines Staates, die zu starkem Getreideexport zwingen, schon fest an die Weltwirtschaft geknüpft. Der asiatische Reichsteil, einschließlich des Kaukasus, ist wirt schaftlich, außer einigen Ansätzen in der westsibirischen Landwirtschaft und
in der Baumwollkultur Turkestans, noch nicht organisch, mit dem euro
päischen verbunden"). So ist in diesem Wirtschaftsleben vieles rudimentär
und vieles Symptom einer Übergangszeit, in der der unfertige Charakter der Volkswirtschaft und ihre trotzdem enge Verbindung mit der Welt wirtschaft für das Volk im ganzen noch recht unerfreuliche Folgen mit sich
bringen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der, auch wirtschaftlich mit dem
Ganzen organisch zusammenhängendm, Grenzmarken, d. h. Finnlands, der Ostseeprovinzen und Polens"), sind ausgeglichener und reifer als die des Zentmms, und zwar in dieser Stufenfolge nach aufwärts: Ostsee
provinzen, Finnland, Polen. ") Die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gebiete als der Kolonien werden
daher in Kapitel IX behandelt. *) Bessarabien unterscheidet sich wirtschaftlich kaum vom Kerngebiet.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
139
Die Ostseeprovinzen sind ein agrarisches Gebiet, in dem die Bauernbefreiung so gut wie restlos durchgeführt ist. Dadurch hat sich ein selb ständiger und wohlhabender (lettischer und esthnischer) Bauernstand ent wickelt, der zu dem vomehmlich in deutschen Händen befiMichen Groß
grundbesitz nur noch in wirtschaftlicher Beziehung steht. Der Prozeß des Übergangs des bäuerlich bestellten Landes in bäuerliches Eigentum ist nahezu
vollendet.
Aber
obwohl damit die Vorbedingungen
für den
Kapitalismus auch in der baltischen Landwirtschaft gegeben waren und diese in der Hauptsache auch kapitalistisch arbeitet, hat der Kapitalismus
nicht bauernlandvermindernd wirken können, weil durch den in Geltung
gebliebenen sog. „roten Strich" das eigentliche Bauernland für Legungs
tendenzen unangreifbar blieb.
Daher ist bei aller Kompliziertheit der
Besitzverhältnisse ein gesundes VerhälMis der Besitzverteilung zwischen großem, mittlerem und kleinem Besitz entstanden. Und deshalb war für
die Revolution, die 1905/06 gerade diese Gebiete mit besonderer Heftigkeit
ergriff, ein wirtschaftlicher Grund nicht vorhanden.
Die wirtschaftlichen
Verhältnisse waren im GegeMeil gesund und gut, von Ausbeutung und
Knechtung der Bauern durch die deutschen Barone schon deshalb keine Rede, weil dazu
alle wirtschaftlichen und rechtlichen Vorbedingungen
fehlten. Wirtschaftlich hatte die Revolution die Folge, daß sie einen großen Teil des Wohlstandes im Großgrundbesitz vernichtete oder erschütterte,
und daß der Großgrundbesitz daraufhin zu einem Teile begann, die alten wirtschaftlichen Beziehungen zur bäuerlichen Bevölkemng zu lösen.
Er
bestrebte sich, an Stelle der lettischen und esthnischen Landarbeiter und Pächter Deutsche als Arbeiterkolonisten anzusiedeln, russische Untertanen aus den Wolgagegenden oder aus Wolhynien, die durch den Nationalismus
oder andere Motive von ihrer Scholle gelockert wurden. Neben diesen landwirtschaftlichen VerhälMissen steht ein alter, in den deutschen Städten domizilierender Ostseehandel und eine erst in der
Gegenwart stärker mtwickelte Industrie. Der Handel zieht in denselben Bahnen, wie sie vor Jahrhunderten
von der Hansa zuerst befahren wurden, und hat auch an seinem Teile
unter der ZurücDrängung des gesamten Ostseehandels in der Weltwirtschaft
zu leiden gehabt. Dazu kam, daß die wirtschaftlichen Vorteile der baltischen Häfen: Libau, Riga und Reval, nicht ausgenutzt wurden, weil das natur
gegebene Hinterland des Reiches, das an dieser Stelle die jahrhundertelang
V. Kapitel.
140
umkämpfte Verbindung mit dem Meere gefunden hat, verkehrspolitisch
nicht fest genug an die baltische Grenzmark gekettet wurde; nationalistische Abneigung gegen die im wesentlichen noch deutsch bestimmten Ostsee provinzen und die Rivalität der innerrussischen Handels- und Industrie kreise,
namentlich
Moskaus
verhinderten
ausreichende
Eisenbahnver
bindungen. Deshalb konnten die Ostseeprovinzen nicht die Stellung in der
Volkswirtschaft des Reiches, die ihnen nach ihrer geographischen Lage und
wirtschaftlichen Struktur zukam, gewinnen. Erst in der neuesten Zeit, unter Witte, sind industrielle Unter
nehmungen in größerem Maßstabe entstanden, in Libau, Reval und namentlich in Riga, das ein Industriezentrum ersten Ranges geworden
ist.
Diese Unternehmungen sind zumeist nicht in national-russischen,
sondem in deutschen Händen oder stehen unter dem Einfluß ausländischen Kapitals.
Sie haben eine breite kapitalistische Bourgeoisie noch nicht
schaffen können; wirtschaftlich und sozial ist vielmehr im ganzen Gebiete der Großgrundbesitz der bestimmende Faktor gMeben.
Aber sie haben in
diesen Städten eine Arbeiterbevölkerung und damit eine Sozialdemokratie entstehen lassen.
Ein Stufe kapitalistischer ist Finnland, dessen Zusammenhang mit der Volkswirtschaft des Reiches noch lockerer ist, als der der baltischen Provinzm — es war ja auch ein selbständiges Wirtschafts- und Zollgebiet
innerhalb des Reiches. Das Land ist gleichfalls wesentlich agrarisch, aber Waldwirtschaft und Viehzucht stehen dem Getreidebau an Bedeutung
voran. Daneben geht ein beträchtlicher Handel mit dem Reich, Deutschland, England, Skandinavien einher. Die Industrie hat sich erst in der Gegen
wart mehr ausgedehnt, vor allem in der Holzverarbeitung und in der Ausbmtung der Mineralbodenschätze. Die soziale Stmktur ist demokratischer als in den baltischen Provinzen,
da der Adel zahlenmäßig und wirtschaftlich schwach ist.
Das Land
hat einen gesunden und selbstbewußtm Bauernstand und ein ebensolches
Bürgertum und Intelligenz — das sind die führenden und bestimmenden Schichten.
Abermals eine Stufe höher steht das wirtschaftliche Leben im Zartum Polen. Hier sind rechtliche und wirtschaftliche Vorbedingungen zusammen
gekommen, um in einem Menschenalter (seit 1863) einen vollständig reifen
Kapitalismus und eine dementsprechende soziale Gliederung zu schaffen.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
141
Nachdem im Aufstande von 1863 die Hoffnungen auf die Wieder herstellung Polens zu Boden geschlagen waren, setzte eine friedliche Er
neuerung ein. In der Bauernbefreiung, die nun, von 1864 an, nachdem 1807
der code Napoleon die persönliche Freiheit der Bauern ausgesprochen
hatte, vollständig durchgeführt wurde, begünstigte die mssische Regierung die Bauern sehr stark gegen den Adel, um sie sich ergeben zu machen.
So konnte sich, unterstützt durch den guten Boden, in Polen gleichfalls ein kräftiger Bauernstand entwickeln, und damit sind auch hier gesunde agrarische Verhältnisse entstanden.
Der Großgrundbesitz ist zum Teil
durch die mssische Politik zerrieben worden, zum Teil hat er sich in die neue
kapitalistische Betriebsweise gut gefunden und sich dadurch neu fundiert. Mit der Bauernbefreiung wurden sodann Hände zur Ausbeutung der
großen industriellen Möglichkeiten in diesem Lande frei. Diese ist mit der
Arbeitskraft des polnischen Volkes und mit der Technik und dem Kapital des Auslandes, d. h. Deutschlands und Frankreichs geschehen.
Diese
Faktoren aus dem Auslande haben die Textilindustrie vor allem in Lodz
und Lyrardow, die Maschinen- und Zuckerindustrie in und um Warschau geschaffen und die Ausbeutung der Bodenschätze an Steinkohle, Eisen-
und Zinkerzen im Süden um Dombrowa, in der Fortsetzung des ober schlesischen Kohlenreviers, begonnen.
Durch die Schutzzollpolitik wurden
diese günstigen Vorbedingungen weiter unterstützt.
Dazu hatte sich seit
1851, mit der Aufhebung der Zollgrenze zwischen Polen und dem eigent
lichen Rußland, für den polnischen Gewerbefteitz ein ungeheures Absatz gebiet neu aufgetan und kamen in den neunziger Jahren als wefteres kapitalistisches Motiv die aus Deutschland fließenden Löhne der Saison-
arbeiterwanderung hinzu. Aus diesen Gründen erklärte sich die amerikanisch rasche Entwicklung des Landes, die etwa im Steigen der Einwohnerzahl
von Lodz am augenfälligsten erschien. Für die Gegenwart ergab das folgende Struktur. Zu dem starken Bauernstand trat eine Großindustrie und damit eine Bourgeoisie hinzu,
in der das Polentum stark genug gewesen ist, die fremden (deutschen,
französischen und jüdischen) Elemente sich zu assimilieren.
Die Ent
wicklung hat so weit geführt, daß der Wert der Industrieproduktion*) bei weitem den der landwirtschaftlichen übersteigt, und daß diese frühere
*) 1880 erreichte er zuerst den der landwirtschaftlichen Produktion.
V. Kapitel.
142
Kornkammer Europas heute den eigenen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht
mehr aus sich selbst deckt.
Dadurch hat Polen zu seinem Bauem- und
Bürgertum und dem Teile des Adels, der der neuen Verhältnisse Herr
geworden ist, eine gewaltige Jndustriearbeiterschaft erhalten. Dieser ganz reife polnische Kapitalismus, der eine eigene polnische Volkswirtschaft und einen Aufbau der Gesellschaft, wie ihn das selbständige Polen niemals
gehabt hat, entstehen ließ, verknüpfte andererseits das Zartum viel enger mit dem russischen Reiche, als es vor 1863 der Fall war.
Es brauchte
die Nahrungsmittelzufuhr aus dem Reichsinnern und gab dafür seine
industriellen Produkte ab, insonderheit die der Textilindustrie, die in einem
lebhaften Konkurrenzkämpfe mit der Moskauer Textilindustrie steht.
Als
Techniker, Ingenieure und ähnliche Pioniere eines nwdernen wirtschaftlichen Lebens haben sich die Polen zudem überallhin über das weite Reich
verbreitet, während die Tätigkeit des polnischen Kapitals im Innern eben erst begann. Ganz anders sehen die wirtschaftlichen Verhältnisse in Kem-Rußland
aus. Dieses Gebiet, in der Hauptsache noch agrarisch, lebt mit einer reichen
Natur und einer armen Bevölkerung, in einer rückständigen, kapitalarmen Technik und Organisation des landwirtschaftlichen Betriebes*), und mit
einer Organisation des Getreidehandels, die trotz der großen BÄeutung des Getreideexports für Staat, und Volkswirtschaft unvollkommen und un
rationell geblieben ist. In der Landwirtschaft drängt die außerordentlich kurze — je weiter
nach Osten, um so kürzere — Bestellungs- und Vegetationsperiode die
Arbeit sehr zusammen. Der Bauer hat also hier viel mchr unbeschäftigte
Zeit, als der polnische oder lettische oder gar der westeuropäische Bauer. Diese freie Zeit wird heute noch zu einem großen Teile volkswirtschaftlich
nutzlos vertan, ist aber auch die Voraussetzung für zwei wichtige wirt
schaftliche Erscheinungen. An Ort und Stelle wird sie fett alter Zeit zum Hauswerk (Kustar) genutzt, das infolgedessen und bei der großen manuellen Geschicklichkeit
*) Doch gibt es eine sehr bedeutende Zuckerrübenindustrie (mit dem Mittel
punkte Kiew) und ein landwirtschaftliches Brennereigewerbe, das % des gesamten Branntweinquantums liefert (mittlerer Schwarzerderayon, dann erst das Nordwest gebiet, das Weichselgebiet, auch die Ostseeprovinzen).
143
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
des Volkes entwickelt worden ist, wie an nur wenig Stellen außer halb Rußlands8*).* * *Dieses * Hauswerk führt dem Bauerntum schätzungs weise über % Milliarde Rubel jährlichen Verdienstes zu und hat zudem
in seiner Weise die Verbindung mit der Weltwirtschaft gefunden, indem seine Produkte über die Grenze gehen und im Auslande lebhaft gefragt
werden. Auf das Hauswerk hat sich dann weiter eine Industrie aufgebaut,
indem sich das Hauswerk an manchen Stellen sehr differenzierte und in weitgeführter Arbeitsteilung Produkte herstellt, die man sich sonst nur
in fabrikmäßiger Produktion hergestellt denken kann.
Z. B. wurde bis
in die Gegenwart der gewaltige Bedarf an Samowaren durch diese Organi sation des Hauswerks gedeckt.
So entsteht, indem zum Hausfleiß ein
Zwischenmeister- und Kleinunternehmertum Hinzutritt, bereits eine be sondere Form der Industrie.
Die freie Zeit des Bauern wird weiter wirtschaftlich genutzt, indem der Bauer aus seinem Dorf auswandert, sich anderswo Arbeit sucht und nur zu der kurzen Bestellungs- und Emtezeit heimkehrt.
Diese Binnen
wanderungen schaffen zu einem Teil die Möglichkeit großindustrieller Pro duktion, aber sie sind auch eine gewaltige Verschwendung von Zeit und Kraft und so ein Organisationsfehler in der Volkswirtschaft.
Von den Motiven der Entstehung einer Großindustrie, nämlich den Bedürfnissen des Verkehrs und der Bauernbefreiung-), wurde schon ge sprochen. Sie schufm vornehmlich die Eisen- und Textilindustrie, jene im
südrussischen Montanbezirk (seit 1860), diese im Textilindustrierayon von Moskau, Wladimir und Kostroma.
Die natürlichen Voraussetzungen
waren in den Erzlagern des Südens (am Donez und um Kriwoi Rog
im Knie des Dnjepr zwischen Krementschug und Cherson) und des SüdUrals gegeben, während die Bodenschätze des Kaukasus, Turkestans und
Sibiriens dafür noch kaum erst herangezogen sind.
Die Textilindustrie
deckt ihrm Bedarf an Baumwolle schon zur Hälfte mit einheimischem Roh*) Kustar ist die russische Form des (nach der Terminologie Büchers) so
genannte» Hauswerks, der gewerblichen Bearbeitung selbsterzeugter Rohstoffe zunächst für den Hausbedarf, dann für den Markt (2. Stufe), die auch in die Hausindrstrie (bei der ein Unternehmer Arbeiter in ihren Wohnungen beschäftigt)
übergcht.
8) S. oben S. 70.
V. Kapitel.
144
material, aus Turkestan. Kohle ist namentlich in den Becken des Donez und von Dombrowa vorhanden; beide zusammen deckten 1913: 95%
der ganzen 30,7 Millionen Tonnen betragenden Kohlenförderung*), das von Dombrowa mit fast 6 Millionen Tonnm
V*—% der Gesamt
förderung. Die Kohlenvorräte sind sehr ungleich verteilt und stehen nicht im Verhältnis zur Ausdehnung des Reiches. Die Standorte der Industrie sind außer im Donezbecken (und in Polen) nicht von der Natur gegeben;
am auffälligsten ist das bei der um Wladimir zusammengeballten Textil
industrie, die gleichweit vom Meer und vom Heizmaterial entfernt ist. Auch die Eisenindustrie ist durch die Entfernung zwischen den Erz- und
Kohlenlagern behindert.
Die Wärmeversorgung sonst wird durch den
Holzvorrat erleichtert: der Norden heizt mit Holz, auch auf den Eisen bahnen, die sich im Süden neben Kohle auch mit Masut (dem Rück
stände der Naphtha) behelfen.
Für das Kerngebiet ergibt sich somit im großen folgende wirtschaftliche
Gliederung.
Zwischen
Schwarzerde
liegen
dem
nördlichen
die gewerblichen
Waldgebiet
und der südlichen
Ubergangsgouvernements in
den
Becken der oberen Wolga und Oka und zwischen beidm Flüssen, während das gewaltige Industriezentrum Petersburg für sich steht.
Das West
gebiet ist agrarisch und nur durch die landwirtschaftlichen Nebengewerbe mit der Industrie verbunden. Die Steppe im Süden wird durch die süd
russische Montan- und Kohlenindustrie zwischen Dnjepr einerseits und Don und Donez andererseits unterbrochen; Jusowka, das den Namen
jenes Engländers Hughes^) festhält, liegt, nordwestlich von Taganrog, ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Linien.
Im Osten, d. h.
im mittleren und Südteile des Südurals (südlich Jekaterinburgs) schließen
die Bergwerke und Hütten diese Gruppierung ab, in der der alte historische Mittelpunkt Moskau auch das modern-wirtschaftliche Zentrum geblieben ist und bleibt. Zwei besondere Züge trägt diese Großindustrie noch heute an sich:
daß sie vornehmlich durch Willen und Interesse des Staates geschaffen ist und von beiden abhängig bleibt, und daß sie in der Hauptsache mit
l) Damit steht Rußland an siebenter Stelle unter dm kohlenfördernden
Staaten, nm wenig höher als Belgien. ’) S. oben S. 144.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
fremdem Kapital entstand.
145
Sie wurde unvermittelt auf die vorhandene
unfertige Wirtschaftsorganisation aufgesetzt und ist an der Entfaltung zu
ganz kapitalistischen Formen neben allem anderen durch die Sicherheft der staatlichen Preise und durch die Schutzzollpolitik behindert. Aber im
letzten Jahrzehnt vor dem Kriege deckte der Staat doch durchschnittlich 94% des jährlichen Eisenkonsums durch die heimische Produktion*).
Im Handel stehen uralter Messehandel und modemer Handel noch nebeneinander. Die Bedeutung, namentlich der Messe von Nischni-Nowgorod
ist heute erschüttert, aber keineswegs erloschen: sie ist längst nicht
mehr so wichtig für den Fernhandel mit Asien — darin lag der Grund
ihrer Entstehung wie ihre frühere Bedeutung —, dafür aber immer
wichttger für den Binnenhandel des Reiches geworden.
Da kommen
immer noch alljährlich ungeheure Massen von Waren aus allen Teilen des Reiches zusammen, und zwar in Natur. Denn es wird nicht nach
Proben gehandelt, sondern der Messecharakter ist heute noch völlig erhalten,
wie die Typen der Kaufleute, die in uralten Formen, mit dem Rechenbrett und ohne moderne Buchführung, Millionengeschäfte machen. Daneben steht
der moderne Großhandel, am wichttgsten der Großgetreidehandel. Aber der
Umfang dieses Großhandels, in dem zudem das ausländische Element besonders wichtig ist, hat bisher ebensowenig wie der der Industrie für den
sozialen Aufbau Kernrußlands ausgereicht, eine Bourgeoisie und einen
Mittelstand zu schaffen. Die Eigenart der weltwirtschaftlichen Beziehungen, die sich so er
geben hat, ist die, daß das russische Reich nach dem (europäischen) Westen
Getreide und nach dem (asiattschen) Osten industrielle Produkte exportiert, und daß es aus jenem Westen industrielle Produkte und aus diesem Osten
solche der Urproduktion importiert. Schwierigketten schafft die Verbindung über See, nach Nordwesten, wo nur der südlichste der Ostseehäfen, Libau,
das ganze Jahr eisfrei ist, Kronstadt 163, Helsingfors 139, Baltischport 33 Tage zugefroren sind, während im Südwesten der Verschluß der Meer-
engett nach dem Mittelländischen Meere auch im Frieden drohte, so in den Ballankriegen, da die Türkei sie auch für den neutralen, also damals auch den russischen Handel schloß. *) Der Eisenkonsum betrug auf den Kopf der Bevölkerung im gleichen Durch-
schnitt jährlich 1,13 Pud (in Deutschland 11,47 Pud).
Haetzsch, Rußland.
10
V. Kapitel.
146
Vom Handwerk ist eigentlich nur im Zusammenhang mit der Land
wirtschaft die Rede: der wichtigste Teil ist auch heute noch das Hauswerk
in seiner — quantitativ, wie nach der Differenzierung seiner Zweige — gewaltigen Ausdehnung. Das selbständige Stadthandwerk ist größtenteils nicht organisch entstanden, sondern durch sremden Import, in dem sich
Handwerk und Künstlertum oft eigenartig mischten. Spuren davon sind
in den Organisationen der Kaufteute und Handwerker heute noch erhallen,
neben denen die nationale Organisationsform des Artjels stehti). Alles das ergibt heute dieses Bild: eine agrarisch wirtschaftende und
lebende Masse, die noch tief in der Naturalwirtschaft steckt, aber durch den Getreideexport bereits von den Schwankungen der Weltkonjunktur abhängig ist — ein zahlenmäßig schwaches Unternehmer- und BürgerMm, dessen
in der Hauptsache nicht russische Entstehung noch zu erkennen ist und das sich viel stärker, als diese soziale Gruppe es sonst tut und wünscht, an den Staat anlehnt —, eine Arbeiterschaft, die, durch Not vom Lande in die Fabrik getrieben, den Zusammenhang mit dem Lande eben erst zu ver lieren beginnt, wenn sie auch tatsächlich schon proletarisch ist. Kernrußland
ist so von einer Summe von Einzelwirtschaften besetzt, die erst zu einer Volkswirtschaft zusammenzuwachsen ansangen.
n. Agrarfrage und Agrarreform. 1. Bis zur Revollu 1 ion. Neben dem politischen Ziele des Sturzes der Autokratie war die
Lösung des wirtschaftlich-sozialen Problems der Agrarnot die Hauptfrage, um die sich die revolutionäre Bewegung und die gesetzgeberische Arbeit der ersten ruhigen Jahre drehte.
Alle anderen Reformen sind mehr oder
minder Konsequenzen des großen Agrarresormwerkes, dessen zweite Hälfte
die Jahre 1906 und 1910 gebracht haben. Zwei einander widersprechende Tatsachen stehen an der Spitze jeder
Betrachmng des russischen Agrarproblems.
Einmal nimmt Rußland in
der Welt-Getreideproduktion eine bedeutende Stellung ein und ist mit seinem 48etreideexport für die Nachbarschaft, besonders Deutschland, zeit
weise gefährlich konkurrierend aufgetreten — es liefert bei wirklich guter
*) S. Kap. V1L
147
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
Emte beinahe ein Drittel der gesamten Quantität, die auf dem Welt getreidemarkte angeboten wird.
Andererseits war in ihm die Hungers
not chronisch geworden, hatte der russische Bauer nicht genug zu essen, —
zu welcher Feststellung man noch nicht einmal die Berechnung brauchte, wieviel Pud
Getreide
auf den Kopf der Bevölkerung kommen und
wieviel auf ihn kommen müßten.
Denn die Tatsache der mindestens
zeitweiligen, akuten Hungersnot stand fest, ist seit Jahren auch in West europa beleuchtet worden und hat zur Revolution wesentlich beigetragen.
Aber die Verhandlungen und Kämpfe um die Beseitigung der Not haben auch gezeigt, daß mit dem vor und während der Revolution fortwährend erhobenen Schlachtmf der „dopolnitelnoje Nadjelenie" (Ergänzung des
Landbesitzes), — daß der Bauer zu wenig Land habe und mehr Land
auf Küsten des Groß- und Kronbesitzes erhalten müsse, — eine Panacee nicht gegeben war. Eine
Agrarfrage
existierte
so,
wie
sie
Staat
schäftigte und Europa interessierte, nur im Kerngebiet.
und
Duma
be
Weder in Finn
land noch in den Ostseeprovinzen, weder in Polen noch auch in Lftauen und im Westgebiet konnte von ihr in diesem Sinne gesprochen werden.
Die bäuerliche Bevölkerung hatte dort auch ihre Nöte, ist aber zum größten Teile, was besonders für die Ostseeprovinzen und Polen gilt, durch die Bauernbefreiung in eine gute und geordnete Lage gekommen, so daß, wenn sich das Bauerntum dieser Gebiete an der Revolution beteiligte,
seine eigene Lage nicht Anlaß dazu war und daher auch nicht die Be
rechtigung dazu gab, die die großmssischen Bauern in ihrer Not finden
konnten. Da es sich aber mit dem großrussischen Element um die Mehr heit der Untertanen des Zaren handelt, so kann man von einem russischen
Agrarproblem schlechthin sprechen, ohne zu vergessen, daß damit so gut wie ausschließlich Großrußland und die Gegenden gemeint sind, in die, wie z. B. West-Sibirien, die großmssischen Verhältnisse mit hinübergenommen
worden sind. Das großmssische Dorf ist es, dessen Organisation und Nöte hier zu (erörtern sind: mit seiner kurzen und breiten Straße, die im Sommer steinhart, im Frühjahr unpassierbar und im Winter eine herrliche Schlitten
bahn ist, mit feinen beiden Reihen aneinandergedrängter Holzhütten, deren innere Einrichtung etwa durch Tolstois „Macht der Finsternis" oder
Gorkis Schriften bekannt geworden ist, mit seiner Kirche, deren blaue und 10*
V. Kapitel.
148
goldene Kuppeln im Sonnenlicht glänzen, mit seiner Staats- oder (meist) Semstwoschule und seiner Kronschnapsschänke, mit seinen Bauem und
Bäuerinnen, deren charakteristische, grellfarbige Tracht von den russischen Malern gern dargestellt wird. Jni Durchschnitt leben etwa 220 Menschen
in einem Dorfe, 8 in einem Hofe,
doch
sind die Verhältnisse
sehr
verschieden: im Zentmm 150—160, in Kleinrußland 3—400 Seelen1). Dieses großrussische Dorf lebte in einer Organisation des landwirt
schaftlichen Eigentums und der landwirtschaftlichen Technik, die, als sie in Westeuropa zuerst genauer durch die Schriften des Frecherm August
von Haxthausen bekannt wurde1), dort Überraschung erregte und seitdem gern als etwas spezifisch Russisches angesehen wurde. Man sah, daß hier das Eigentum an Ackerland, Wald und Weide Gemeindesache war, und zwar so sehr, daß die Gemeinde, die als ein fast unbeschränkter rechtlicher und sozialer Organismus, als eine autonome kleine Demokratie im Staate
für
sich
lebte,
in
Periodisch
wiederkehrenden
Neu-Verteilungen
ihres
Landes souverän dafür sorgte, daß der Anteil des einzelnen daran möglichst
gleich blieb, entsprechend den Verschiebungen, die in der Dorfgemeinde durch die natürliche Bevölkemngsverändemng eintraten. Das schim eine
kommunistische Organisation zu sein, die z. B. von den Slawophilen als
eine Rußland ganz eigenartige Einrichtung gefeiert wurde, die durch sich ein Proletariat und überhaupt eine soziale Frage unmöglich machen sollte, weil den natürlichen Verschiebungen und der Vermehrung der Bevölkemng
automatisch eine entsprechende Neuverteilung des Landes folgte und so landlose Existenzen nicht entstehen konnten. Die liberale Kritik dagegen griff
diese Gebundenheit an, die die bäuerliche Menschheit Rußlands auf einer
niedrigen, kollektivistischen Stufe zurückhielt, und forderte mit ihrer Auf
lösung die Möglichkeit zur freien Betätigung des Individuums auch für den Bauernstand. Man muß sich diese Organisation ganz klar machen, um die eigen
tümlichen Schwierigkeiten der Bauernbefreiung in Rußland und die Frage zu verstehen, warum trotz dieser Bauernbefteiung nach westeuropäischem
Vorbilde Rußland doch in eine Agramot geriet, für deren Erklärung die
*) Die großen Dörfer (über 450) finden sich in der Steppe und im Wolgaund Uralgebiet, die kleinsten (bis zu 20) in den Ostseeprodinzen und Finnland.
*) S. das Literaturverzeichnis.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
149
rückständige landwirtschaftliche Technik und der große staatliche Steuerdmck nicht völlig ausreichten.
Die Gebundenheit, in der der großrussische Bauer lebte, zerfiel in mehrere Elemente. Zuerst die Abhängigkeit vom Herren, die Leibeigenschaft
oder das gutsherrlich-bäuerliche Abhängigkeitsverhältnis, — diese Ge bundenheit ist weder etwas der russischen Entwicklung Eigentümliches,
noch hat sie seit alters im russischen Volke bestanden.
Sie trug dieselben
Züge, die sich für das Gebiet der Gutsherrschaft überhaupt herausgebildct hatten, und sie ist vollständig durch den Staat ausgebildet worden — vom Ukas von 1597, der die Freizügigkeit völlig beseitigte, und vom Gesetzbuch
Alexeis von 1649, das die Leibeigenschaft abschloß, an bis zu den Maß-
nahmm Peters von 1718/22, die die Kopfsteuer und die sog. Revisionen der pflichtigen Leute einführten, wozu noch die Praxis der solidarischen Haft
barkeit der Gemeinde und des Gutsbesitzers für die staatlichen Leistungen
der Bauern trat.
Katharina II. hat diese Rechtsnormen auch in Klein
rußland eingeführt (1783) und so wenigstens für diese erste Gebundenheit gleiche Verhältnisse in Groß- und Kleinrußland hergestellt, weshalb die
Bauernbefteiung Alexanders II. auch Kleinrußland mit einbegreifen mußte. Das zweite Element ist jene Organisation der Feldgemeinschaft, des
ÜDHr1). Sie ist dem Prinzip nach viel älter als die gutherrlich-bäuerlichen Abhängigkeitsverhältnisse, wenn sie auch ihre letzte Ausbildung erst durch die Bedürfnisse des Staates im 17. und 18. Jahrhundert erhalten hat.
In dieser vollen Ausbildung herrschte sie nur in Großrußland, während Kleinrußland Einzelbesitz hatte; die Grenzen beider Besitzformen decken sich
beinahe mit den alten Grenzen zwischen dem Moskauer und dem litauisch-
polnischm Staate, soweit er über Weiß- und Kleinrußland herrschte. Diese kommunistische Organisation der Landgemeinde ist nun nicht etwas Ruß land eigentümliches, sondem ihre Hauptzüge sinden sich im großen und
ganzen in der europäischen Agrargeschichte auch sonst wieder. Der ideelle Anteil des einzelnen an der Ackerflur, der prinzipiell dem des anderen gleich sein soll, die Umteilungen, der Flurzwang, die. Dreifelderwirtschaft, das Gemeineigen an Wald und Weide, die Autonomie der Landgemeinde *) Mir bedeutet Gemeinde und Welt und ist die Versammlung der Stimm berechtigten des Dorfes. Für Feldgemeinschaft im oben geschilderten Sinne ist das russische Wort Obschrschina; bei den Bauern ist indes nur das Wort Mir ge bräuchlich.
150
V. Kapitel.
mit ihren administrativen und rechtlichen Folgen, alles das sind Züge
ebenso der germanischen Markgenossenschaft wie des russischen Mir. Die Auflösung dieser Gebundenheit ist auch in der preußischen Bauernbefreiung
ein integrierender Teil gewesen, der nur gegenüber dem anderm in der öffentlichen Beachtung sehr zurückgetreten ist, weil er weniger politisches
Kampfobjekt war, der aber mit der Verkoppelung, der Gemeinheitsteilungs
ordnung und der Arbeit der Generalkommissionen mindestens ebenso revo lutionierend gewirkt hat, wie die Erklärung der persönlichen Freiheit und Diese Gebundenheit ist aber
die Lösung der Abhängigkeit vom Herrn.
in Rußland, was fast immer übersehen wird, von der Bauernbefreiung der 60er Jahre nicht beseitigt worden.
Man erkannte damals gar nicht
an, daß in ihr Schäden liegen könnten.
Im Gegenteil betrachtete eine
immer einflußreicher werdende Richtung gerade diese Organisation als
etwas wirtschaftlich Heilsames und sozial Gutes, und bis zur Aufhebung
der Kopfsteuer (1883—1889) und der Solidarhaft der Gemeinde für den
auf sie entfallenden Anteil der ©teuern (1904) hat auch der Staat aus ihr den Vorteil gezogen, um deswillen Peter der Große diese ohne Zutun des
Staates erwachsene soziale Organisation staatlich sanktioniert und zu einem Grundstein der ganzen Staatsordnung gemacht hatte. Noch schwieriger war die Behandlung des dritten Elements dieser
bäuerlichen Gebundenheit, das nun allerdings — nicht den
Russen,
sondem den Slawen — eigentümliche Züge der agrarischen Urorganisation
zeigt.
Auf deutschem Boden ist bei allem Festhalten an der Idee des
Gemeineigens der Gedanke des Privateigens für den einzelnen Bauern an
seiner Hufe tatsächlich durchgesetzt worden.
Das war in der russischen
Organisation auch einigermaßen der Fall. Denn Neuumteilungen fanden bei weitem nicht in dem Maße statt, wie man annahm.
Auch hier ist
aus der Gemeinde aller persönlich Berechtigten immer mehr die Real
gemeinde, die sich der natürlichen Vermehrung der Genossen nicht mehr anpaßte, geworden, in die die Markgenossenschaft des Westens übergegangen
ist. Aber der tiefgreifende Unterschied zwischen germanischer und flämischer Entwicklung war, daß dieser Prozeß in der deutschen Entwicklung dem
Individuum, dem einzelnen Bauem, zugute kam, der dann als Familien haupt über seinen Anteil immer mehr privatrechtlich frei verfügte, während
sich in Rußland zwischen dem Mir und dem Einzelnen der Begriff des Familieneigens bis zur Gegenwart lebendig erhielt.
Nicht nur bei den
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
161
Russen, sondern bei allen Slawen — mit Ausnahme der Polen — blieb
die Familie als Lebensgemeinschaft und primitive Arbeils- und Erwerbs genossenschaft ihrer Mitglieder, die diese für sich arbeiten läßt und sie aus
dem Gesamtertrag emährt, die sogenannte Hauskommunion oder Groß familie, lebendig.
Es war eine Genossenschaft von Verwandten bis zum
zweiten, dritten Grahe, die auf demselben Hofe saßen und gemeinsam das EigeMum
an
diesem Hofe hatten.
Geschlechtsältesten,
des
Hausvaters
Sie
standen
unter
(Domochozjain);
die
Leitung des Beziehungen
untereinander waren nur durch die Tradition geregelt, aber gerade darum um so fester. Man muß also diese patriarchalische Großfamilie mit ihrem
besonderen Familienrecht, die auch durch die Bauernbefteiung nicht ver schwand, und den Mir auseinanderhalten, in dem jeder erwachsene — kopf steuer- und heerdienstpflichtige — Bauer seinen Anteil am „Seelen"-
lanb1) oder das Anrecht darauf besaß und besitzt.
Oder anders ausge
drückt: es sind zu trennen der „Krestjamn" (Bauer) als Mitglied des Mir und der „krestjanski Dwor" (Bauernhof) als die Einheit der dörflichen Landwirtschaft, unter Lettung des Domochozjain eine Reihe physischer
Personen in einer auf Familien- und Arbeitsgemeinschaft begründeten
Gruppe umfassend, die durch den Domochozjain die ihnen
zustehenden
Nadjelrechte wahrnehmen und genießen. Dieser Unterschied ist bis in die Gegenwart von allen nichtrussischen Beobachtern des Agrarproblems so gut
wie völlig übersehen worden. Freilich existierten auch, da der Staat keine
Veranlassung hatte, diese Großfamilie rechtlich genauer zu fassen — woran er sich hielt, das war der übergeordnete Mir —, diese familienrechtlichen
Beziehungen jahrhundertelang im Halbdunkel des Gewohnheftsrechts, oft sehr wenig hervortretend, aber das Leben des Bauernvolks auf das tiefste bestimmmd. Das macht folgende Betrachtung noch klarer. Der Mir hat die Entstehung eines Proletariats und die Abwanderung
nach der Stadt nicht aufhalten können. Gleichwohl blieben die Beziehungen seiner nach der Stadt, in die Fabrik abgewanderten Glieder zu ihm be stehen; sie blieben ihrer Heimatgemeinde nach wie vor „angeschrieben". ’) Nadjel — Anteil innerhalb der Flur der Obschtschina. — Seele (Duscha)
oder Bauernseelc ist der köpf- und heerdienstpflichtige Bauer; Revisionsseele ist jeder männliche Leibeigene jedes Alters „vom Alten bis zum letzten Jungen"
(so im Ukas Peters über die erste Revision von 1718/19); man rechnete dieses Alter von 14 bis 60 Jahren.
152
V. Kapitel.
Tatsächlich
bedeutete
das,
abgesehen
von den
Paßscherereien, immer
weniger; was konnte die Solidarhaft seiner — oft tausende von Werst entfemten — Gemeinde für ein Glied des Mir, das in der Stadt als proletarische Existenz lebte, bedeuten? Dagegen der Zusammenhang mit seiner Familie, die Vorstellung daß ihm als Glied der Familie auch noch ein
Teil am Nadjel, wenn auch nur ideell, zustünde, die blieb auf das stärkste erhalten.
Sie sitzt auch heute noch in diesen Tausenden von Dworniki
(Portiers mit polizeilichen Funktionen), Jswoschtschiki (Droschkenkutschern), Dienstpersonen der großen Städte usw. ganz fest. Sie zu zerstören und so
ein tatsächliches Proletariat auch rechtlich zu einem solchen zu machen,
m. a. W. außer der Gebundenheit durch den Mir auch diesen urflawischen Familieneigentumsbegriff zu beseitigen, das war die eigentliche große
Schwierigkeit in der Agrarreform. Zu alledem ist noch eine Tatsache der russischen Agrargeschichte
hervorzuheben. Neben der bäuerlichen Siedlung stand seit Anfang die GrundHerrschaft, dann die Gutsherrschaft in einer Organisation und mit einem
Charakter, die der westeuropäischen durchaus entsprachen*). Darin lag von
vomherein für den Mir die Unmöglichkeit, seine nach Ansicht der Slawophilen so großen Vorteile betätigen zu können.
Denn trotz aller Kriege
wuchs doch die Bevölkemng des Moskauer Staates. Es hätte also auch
das Land wachsen müssen, das einem Mir für seine wachsende Familien
zahl zur Verfügung stand. Diese Erwartung drückt sich auch darin aus, daß in der Ackerflur, deren Einteilung bis in die Gegenwart erhalten ist, eine feste Gewinneinteilung nicht festzustellen ist. Aber das zur Besiedlung freibleibende Land verringerte sich sehr rasch.
war scharf ausgebildet.
Das fürstliche Bodenregal
Aus ihm folgte die Möglichkeit zu Verleihungen
von Land an die fürstlichen Diener und an die Kirche, die die Moskauer Fürsten auch in großem Maßstabe vornahmen. Diesem Prozeß der Ein
engung des freien Landes entzog sich das Bauerntum zuerst durch Ab
wanderung in einer großen, immer weiter nach Osten vorschreitenden Kolonisation „wüster" Gegenden.
Hauptsache an der Wolga.
Aber diese fand ihre Grenzen in der
Dann mußte sich die wachsende Bevölkemng
mehr und mehr auf derselben Landfläche einrichten, da der fürstliche,
*) S. die ganz dmchgeführte Vergleichung von Pawlow-Silwanski, Feodalism w udjelnoj Rossij. (Petersburg 1910.)
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
153
kirchliche und gutsherrliche Besitz alles andere in Beschlag genommen
hatten.
Die Familienanteile in der einzelnen Gemeinde mußten also
bei neuen Teilungen immer kleiner werden.
Der Unterschied gegen die
deutsche Entwicklung liegt dann darin, daß in Deutschland die einzelne Hufe immer weiter geteilt, in Rußland aber das ganze, dem Mir gehörende
Land immer von neuem verteilt wurde.
Praktisch kam dieser Ätomisie-
rungsprvzeß der Dorfflur auf dasselbe hinaus wie im Westen, aber der
Zusammenhang mit der Dorfgemeinde wurde durch den erhalten bleibenden Begriff des Familieneigens hier viel stärker konserviert als dort. Zu Beginn der Reform Alexanders II. war so der Mir die unterste
Zelle des sozialen Organismus, die nur durch ihren Gemeindevorsteher
(Starosta) mit dem Staate zusammenhing. Abgesehen von den wenigen, wenn auch freilich tiefgreifenden staatlichen Verpflichtungen lebte dieser
Mir vollständig für sich, ein wahrer Mikrokosmos, autonom in Ver waltung, Gericht und Recht. Der Gutsherr, — der Edelmann war —,
war an den Gemeindeversammlungen ebensowenig beteiligt wie der Staat. Die Hauptaufgabe dieser Gemeindeversammlung mit dem Ältesten an der
Spitze, deren stimmfähige Mitglieder alle in der Gemeinde berechtigten Bauernseelen toaren1), war die in bestimmten Abständen nm vorzu nehmende Umteilung des Landes, die gemäß dem Wachstum der Bevöllemng souverän vorging und ihrm Willen den einzelnen Mitgliedern gegenüber auf die barbarischste Weise zum Ausdmck bringen konnte. Auf diese Weise zerfiel die Ackerflur — da nun auch wieder innerhalb der
Familie die weitgehendste Realteilung galt und stattfand — immer mehr in eine Masse kleiner Parzellen.
Natürlich mußten sie im Flurzwang be
stellt werden, für den ein rohes, nicht durchaus festes Dreifeldersystem
galt: Wintergetreide — Sommergetreide — Brache. Die Technik der Acker bestellung war dabei so, wie sie seit Jahrhunderten gewesen war: kein künstlicher Dünger, der altmodische Pflug, äußerste Extensität.
Privat
eigentum war nur am Hof (Usadba), Vieh, barem Geld und außerdem an dem Land vorhanden, das außerhalb der Flur des Mir vom einzelnen
erworben war — was an sich möglich war. Das sog. Anteil-(Nadjel-) Land gehörte dem Mir und war mr zu — allerdings oft sehr lange nicht
unterbrochener — Nutzung den einzelnen Bauernseelen in einer Größe
*) Bei Abwesenheit des Bauern vertrat ihn in der Dorfversammlung die Frau.
V. Kapitel.
154
zugeteilt, die jeweilig der von ihrer Familie umfaßten Kopfzahl wenigstens
theoretisch entsprechen sollte. Diese Summe von Familien im Mir haftete solidarisch für den Anteil an Rekruten und Kopfsteuer, der auf das Dorf
fiel.
Und diese Bauem dienten ihrem Gutsherrn durch Zahlung des
Obrok (Pachtrente) für ihr Land, dessen Obereigentümer der Gutsherr
ja kraft fürstlicher Verleihung war, und durch Leistung von Frondiensten
auf dem Teile des gutsherrlichen Landes, das im gutsherrschaftlichen Eigen betriebe genutzt tourbe1). Etwa die Hälfte des Großgrundbesitzes hatte die
Leibeigenen nur auf Abgaben (in Natura und Geld) gestellt, d. h. auch das eigentliche Gutsland ausgegeben, verpachtet.
Dann nutzte die Bauern
gemeinde zu ihrem Mir-Land auch das ganze Eigenland des Herrn samt dem Walde. Für diesen Teil der Bauern war daher die Emanzipation be
sonders empfindlich, weil sie ihnen nicht nur die gemeine Weide auf den
Feldern der Gutswirtschaft, sondern auch die landwirtschaftliche Nutzung
eines Teiles ihres, bisher von ihnen genutzten Gebietes entzog. Von den Ab gaben (Gesamtname dann Obrok) lebte der Gutsbesitzerstand im großen und
ganzen naturalwirtschaftlich, da von einem nennenswerten Getreideexport noch nicht die Rede war. Er war dem Staate dafür haftbar, daß von seinen
Bauern Kopfsteuer und Rekmtenzahl eingingen, wie der Staat es ver langte,
und
genoß
für
diese
VerpflichMng
weitgehende
staatliche
Rechte in Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit gegenüber seinen Bauern. Die
vollständige Rechtlosigkeit des Bauem, die so entstand und ihn der Will kür des Gutsbesitzers preisgab, die Abhängigkeit des Bauern vom Willen seines Herrn, die sogar das Recht zum Verkauf ohne Land, wie zur Ver schickung nach Sibirien und zur Wgabe zum Militär gab, das waren eben
die Erscheinungen der Leibeigenschaft, gegen die sich der Widerspmch schon im 18. Jahrhundert richtete. Diese Verhältnisse haben aber auch nicht einen gesunden Grundbesitzer-
stand geschaffen. Der Typus des Gutsbesitzers war vorlviegend der kleinere
Besitzer, der unter 100 Seelen hatte, — denn nach der Zahl der Seelen bemaß sich der Wohlstand, nicht nach der Zahl der Dessjatinen, die wertlos waren, wenn niemand sie bebaute — und als Obrok-Gutsbesitzer seine
Einnahmen gewöhnlich fern vom Gute verzehrte. Die Bequemlichkeit, zu
*) Die Einheit der dem Gutsherm zu leistenden Fronden und Wgaben hieß Tjaglo.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
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der diese Organisation des Lebens verführte, verhinderte auch bei den
Gutsherren jede Ausbildung des wirtschaftlichen Sinnes und führte in
dieser guten alten Zeit oft zu einer Verlottemng der Adelsfamilien,
wie sie Saltykow-Schtschedrin in seinem düstersatirischen Roman „Die Herren Golowlew" so kraß und scharf gemalt hat.
Dabei glaubte der
Menschenfreund — Puschkins Eugen Onjegin! — auf diese Obrokorganisation noch stolz sein zu müssen.
Auf diese Verhältnisse wurde die Bauernbefreiung angewendet, die sich
nur auf Kern-Rußland bezieht.
Für Polen datiert sie aus den Jahren
1807 und 1864, für die Ostseeprovinzen aus den Jahren 1804,16,17,
19, 49, 56 63 und 68; von Finnland mit seinen den skandinavischen verwandten Agrarverhältnissen ist vollends abzusehen.
Ihre Hauptgmndsätze warm: 1. die Person des Sauern wird frei — damit war zunächst, allgemein und praktisch ebenso bedeutungslos, dieselbe
große Idee ausgesprochen, wie in Steins berühmtem Patent. Land blieb zunächst Eigentum des Gutsherm.
2. Das
Der Bauer wurde nur
dauernder Nutznießer des Bauernlandes, dessen Größe von der Gesetz
gebung bestimmt wurde: im Durchschnitt sollten 3^ Dessjatinen (also 14
preußische Morgen) auf die Bauernseele kommen. 3. Die Ablösung des gutsherrlichen Eigentumsrechts sollte für das Gehöstland überall erfolgen,
für das Ackerland nur mit Zustimmung des Gutsherm. Die Regiemng bestimmte die Sätze, die von nun an als Entgelt des Bauem für die Lösung
der bisherigen Abhängigkeitsverhältnisse zu zahlen waren und durch eine
Kapitalzahlung ganz abgelöst wurden; für die Jahreszahlungen auf dieses vorgeschossene Kapttal wurde seitdem der alte Name Obrok in der Um
gangssprache beibehalten.
Es wurde berechnet, indem man den Jahres-
Satz mit 6% kapitalisierte. Da-aber die Bauem zu einer solchen Geld
zahlung nicht in der Lage waren und der AblösungsprozeA an dessen Ende nach dem Willen der Regierung das freie Eigentum des Bauem am Boden stehen sollte, auf diese Weise auf dem Papier stehen geblieben wäre, folgte der Staat auch darin dem Vorbilde anderer Bauembefreiungm,
daß die Regiemng das Geld vorschoß und m 5% tragenden Bankbillets
(Loskaufscheinen) den Gutsbesitzem auszahlte. Von den Bauem trieb der Staat dafür 6% der Ablösungssumme ein, worin Zinsen, Kosten und die
Amortisation steckten, die in 49 Jahren, also 1920, beendet sein sollte. Das sind die sog. Loskaufsgelder, die für die Bauem eine immer steigende Last
V. Kapitel.
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wurden und deren Rest im Jahre 1905 (Ukas vom 16. November) für 1906
zur
Hälfte
und
vom
1.
1907
Januar
vollständig
erlassen
worden ist. Durch dieses Verfahren, das den Staat in eine große finan
zielle Erschütterung hätte bringen können, ist die Ablösung sehr befördert
worden. Die Gutsherren aber, die schon vor der Bauernbefreiung vielfach hoch verschuldet waren, weil der Ertrag ihrer Güter zur Befriedigung der
seit Katharina II. sehr gestiegenen Luxusbedürfnisse nicht ausgereicht hatte, griffen gern nach dem baren Gelde, das ihnen in Gestalt der Pfandbriefe
Sie haben freilich diesen überstürzten Übergang aus
M die Hände floß.
der Naturalwirffchaft mit Geldschulden in eine völlig geld- und kreditwirtschaftliche Gestaltung ihrer Lebensweise nicht so gut überstanden wie der
Staat.
Das Befreiungswerk betraf 10 Millionen gutsherrlicher Bauern mit 33% Millionen Dessjatinen, 9,6 Millionen Kronsbauem mit 57
Millionen
Dessjatinen,
900 000
Apanagebauern
mit
4,3
Millionen
Dessjatinen und 1,8 Millionen Hofleute*) und andere Bauernkategorien mit 21,6 Millionen Dessjatinen, im ganzen 22,3 Millionen Bauern und
116,8 Millionen Dessjatinen. Damit
das
wurde
Fundament
eines
modemen
Aufbaues
der
Staats- und Wirtschaftsordimng gelegt. Hat es das erstrebte Ziel erreicht:
die Sicherstellung des Bauernstandes, der zur Erfüllung seiner Verpflich tungen gegen Staat und Gutsbesitzer fähig war? Der erste Eindruck war gewaltig:
hast
„Du
gesiegt,
Nazarener!",
rief
Alexander
Herzen
Alexander II. zu. Rasch aber traten Ernüchterung und Enttäuschung ein. Die Rückstände der Loskaufszahlungen wuchsen bald erschreckend an, und
trotz der pekuniären Vorteile hielten immer noch genug Gutsbesitzer den
Gang
der
Ablösung
werden mußte.
auf,
so
daß
diese
1881
obligatorisch
gemacht
Und beide Hindemisse, die Rückstände der Loskaufs
zahlungen und die Rückständigkeit der Gutsbesitzer, stellten sich der Reform
des Steuersystems möglich,
entgegen; die Aufhebung der Kopfsteuer war erst
wenn tritt diesen
gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältnissen ganz
reiner Tffch gemacht war.
Jedenfalls sah man schon in den ersten Jahrzehnten nach der Be-
sreiung, daß der Bauernstand wirffchaftlich nicht vorankam. Schon in den *) Der Teil der leibeigenen Bevölkerung, der auf den Gutem im unmittel baren Dienste der Gutsherren lebte.
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70er Jahren wurde die Behauptung statistisch untersucht und begründet,
daß die Landmasse, die in der Befreiung den Sauern zugewiesen war, zu klein und die dafür zu zahlende Ablösung zu hoch berechnet gewesen
sei. „Der Bauer bekam weniger Land, als er brauchte, und mußte mehr dafür bezahlen, als es wert war", so wurde dieses Urteil bald verall gemeinert und übertrieben.
Fast wesentlicher noch war, daß die Be
freiung auf halbem Wege stehen blieb, indem sie nicht auch den Mir auf löste. Denn damü trat an Stelle des Gutsherm nun die Gemeinde, die des
Mir und die durch die Verordnung über die Bauernbefreiung errichtete Wolost, die, mehrere Mirgemeinden zusammenfassend, seitdem die Polftische
Landgemeinde als untersten staatlichen Bezirk darstellt, sozial aber schon eine Samtgemeinde ist.
Dadurch wuchs die Macht der Gemeinde über chre
Glieder noch mehr:-sie konnte die Prügelstrafe verhängen, sogar zur Zwangs ansiedlung nach Sibirien verschicken, sie verteilte wie bisher die Landanteile,
erhob die Steuern, trieb diese bei und hielt auch die Abgewanderten fest, da
sie die Pässe zu erteilen hatte. So hatte sich gegen den früheren Rechts stand nur soviel geändert, daß jetzt jedes ausgleichende und helfende Moment
aus der patriarchalischen Zeit weggefallen war, weil die Gemeinde eher
noch härter und drückender über ihren Gliedern waltete als vordem der Herr. Die Folgezeit aber suchte die agrarischen Verhältnisse eher nach
rückwärts als vorwärts zu organisieren.
Zwar rührte sie nicht an die
Ablösungsgesetzgebung, Wohl aber hemmte sie mit Absicht und Erfolg den weiteren Übergang des Landes in PrivateigenMm.
Man suchte nur
(in Gesetzen von 1886 und 1893) die Dispositionsrechte der Gemeinde
versammlung und auch des Einzelnen mehr unter die Staatskontrolle zu bringen, aber den Mir selbst konservierte man rechtlich wie tatsächlich.
Zwar fühlte man, daß in ihm die Hauptursache der wachsenden Schwierig keiten des Bauerntums lag, aber man hielt an ihm fest, weil man meinte, er verhindere die Entwicklung der Bauernstand,
wenn
auch
persönlich
Grotzfamilie nach wie vor gebunden.
eines
frei,
Proletariats.
So blieb
an Landgemeinde und
Diese Gebundenheit wirkte um so
schlimmer, als sie in keiner Weise zu der kapitalistischen Wirtschaft, zu
der nun auch der Bauernstand gezwungm wurde, paßte; alles überlebte
und Rückständige war konserviert und schützte doch nicht vor den Schäden des kindringenden Kapitalismus.
Mit der persönlichen Freiheit konnte
V. Kapitel.
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der Bauer nichts anfangen, solange ihn der Flurzwang, das Gemeinde
eigentum, die Umteilung, der Familienbesitz fesselten; sie bestand für ihn lediglich in dem Rechte, Personalschulden zu machen, solange ihm der
Dorfwucherer (der Kulak) borgte. Denn er konnte von ihr nicht einmal durch Abwandemng in die Stadt vollen Gebrauch machen, da ihn die
alten Fesseln der ständischen Gebundenheit ja auch dahin begleiteten. Was bis zur Revolution an gesetzlichen Maßnahmen dazu erlassen wurde,
doktorte am Problem nur hemm und verbaute sich selbst die Möglichkeit zu durchgreifender Hilfe.
Aber auch den Gutsbesitzem bekam der Übergang in die neuen
Verhältnisse nicht.
Sie wußten mit den gewaltigen Summen baren
Geldes, die ihnen zuströmten, nichts anzufangen und verjubelten es in
der Hauptsache.
Diese fette Zeit dauerte bis Ausgang der 80er Jahre.
Dann kamen die Wirkung dieser Verschwendung und der Rückgang der Weltgetreidepreise zusammen, um auch dem Adel die Unsicherheit des Fundaments klar zu machen, das die Bauembefreiung aus Schuld des
Staates und der beteiligten Schichten geschaffen hatte — wie das der traurige Vers von Nekrassow so schlagend und richtig ausdrückt:
„Ja, ja, die starke Kette brach Und sprang in Stücke ganz. Das eine Stückchen traf dm Herm, Die andem trafm uns/") Diese Wirkungen traten für den Adel schon in den achtziger Jahren,
für den Bauernstand in vollem Umfange in den ersten neunziger Jahren hervor. Seit 1890/91 wurde es von Jahr zu Jahr eindringlicher und erschreckender klar, daß sich im Lande die Hungersnot chronisch festsetzte.
1897 gab das Finanzministerium ein großes statistisches Werk über den
„Einfluß der Ernten und Getreidepreise auf einige Seiten der mssischen
Volkswirtschaft" heraus. Da war berechnet, daß pro Kopf der mssischen Bevölkemng im Jahre 19 Pud Getreide zur Emähmng und 7% Pud
zur Fütterung des Viehs notwendig seien, daß aber in nicht weniger als 40 Gouvernements des europäischen Teiles das bäuerliche Anteilsland
diesen Nahmngsbedarf
nicht
zu decken vermochte.
70%
der ganzen
x) Aus dem realistisch echten und melancholisch reizvollen Werke: „Koran
na Rusi schit choroscho?" (,/JBer lebt glücklich in Rußland?') geschrieben 1873—76.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
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bäuerlichen Bevölkemng konnten nach diesen Aufstellungen ihren eigenen nicht mehr
Nahrungsbedarf
aufbringen.
Das
Land
und die
euro
päische öffentliche Meinung standen vor der Tatsache, daß der gewaltige
Getreidexport Rußlands und seine großartige weltpolitische Betätigung
durch permanente Unterernährung seines Bauerntums erkauft wurden, auf dessen Kraft dieser Staat noch in ganz anderem Maße mhte als Westeuropa.
Mißernten und Hungersnöte hatte es auch schon vorher seit der Bauernbefreiung gegeben. Jetzt aber litt Kemrußland entweder im ganzen
oder zu seinem größeren Teile chronisch daran. Bis zur Revolution erlebte es (ganz oder zu einem so großen Teile, daß es im ganzen empfindlich zu merken war) Mißernten in den Jahren 1891, 1892, 1896, 1897,
1898, 1899, 1900, 1901, 1905, danach 1906, 1907 und 1911. Selbst
in den fruchtbarsten Gebieten, in den Strichen der schwarzen Erde, hörte der Notstand nicht auf und mußten von Jahr zu Jahr größere Auf
wendungen des Staates und besonders der Semstwos, die darin Außer ordentliches
leisteten, versuchen, der Agrarnot
zu steuern.
Aus
dem
Boden mußte, da die Bevölkerung sehr stark zugenommen hatte — 1861
waren es 45, 1900 85 Millionen Köpfe — immer mehr herausgeholt werden, aus einem Boden, der im Süden zwar von unerschöpflicher Fruchtbarkeit ist,
sich
aber jetzt für
Aussaugung seiner Kraft rächte.
hatte
in
dem
Menschenalter
geringsten Fortschritt gemacht. Währung
und
seinen
eine jahrhundertelang betriebene
Denn die landwirtschaftliche Technik
seit
Beginn
der
Befreiung
nicht
den
Und trotzdem mußte der Staat, um seine
ausländischen
Kredit halten
zu
können,
durch
Steuerdruck die Bauern zwingen, gleich nach der Emte mehr zu ver kaufen, als sie zum Unterhalt entbehren konnten. Diese unbestreitbare agrarische Not mochte ihre Gründe außerhalb des
Mir haben, zumal es den Gegenden des Hofsystems im Westen, Südwesten
und Süden, die übrigens auch regellose Gemengelage und Besitzzer splitterung haben, gleichfalls schlecht ging. Aber das wurde in diesem Jahr
zehnt auch unwiderleglich bewiesen, daß der Mir weder die Entstehung
dieser Agramot noch die eines Proletariats hintangehalten hatte. Rußland
hatte nicht nur Ansätze eines städtischen Proletariats, sondem — was schlimmer war — zweifellos ein ländliches, ein landloses Proletariat,
das nach der slawophilen Theorie wegen der Existenz des Mirs gar nicht
V. Kapitel.
160
möglich hätte sein dürfen. Wenn durch die Umteilungen für die wachsende Bevölkerung gesorgt war — woher kamen dann die Arbeitermassen in den
großen Zentren für die Jndustriepolüik Wittes? Wenn der Mir richtig
funktioniert hätte, dann hätte es kein landloses Proletariat in dem Sinne
geben dürfen, daß Sauern, die früher (d. h. nach 1861) Land besessen
hatten, ein Menschenalter später keines mehr hattm, und ferner mußte bei gleichgebliebenem Landvorrat und gestiegener Bevölkerung eine ungeheure
Zersplitterung, geradezu eine Pulverisiemng der Bodenanteile eingetreten
sein. Beides traf aber nicht zu. Denn es gab 40 Jahre nach Beginn der Bauernbefreiung Bauern, die ihren Landanteil eingebüßt hatten, und die
Zersplitterung des Besitzes war zwar außerordentlich groß, stellte sich
aber als nicht so groß heraus, wie sie nach den gegebenen Voraussetzungen
hätte sein müssen. Wenn in einer Feldgemeinschaft das Umteilungssystem nach Revi
sionsseelen galt, was wohl das typische war, so hatte jeder Bauernhof so viel Anteile erhalten, als 1859, d. h. bei der 10. und letzten Revision,
Revisionsseelm zu chm gehört hatten. In den achtziger Jahren begann daher unter dem Druck der vielköpfigen Familien der Umteilungsmodus
nach „vorhandenen Seelen" oder nach „Essern" sich durchzusetzen. Dieser
Umschwung brachte eine Periode eifriger und häufiger Umteilungen mit
sich.
Trotzdem zeigte die genaue Untersuchung*), daß, während sich die
Bevölkerung von 1848—1893 um 45% % vermehrt hatte, die Zahl der
am Mir Anteilsberechtigten in dem Menschenalter seit Beginn der Be freiung stark zurückgegangen war. Proletariat gewordm.
Aus den anderen war ein landloses
Ebenso ergab sich, daß die Zahl der Höfe —1858:
8,1905:12 Millionen — nicht entsprechend der Bevölkerungszunahme ge stiegen war, und auch die auf den Hof kommende Kopfzahl zeigte keine
wesentliche Veränderung. Ein erheblicher Teil der Bauern erhielt also — das bewies diese Statistik unwiderleglich — trotz des Mir keinen Anteil
mehr am Land, diese vom Boden losgerissenen Elemente sind in die Städte, in die Fabriken, nach Sibirien abgeflossen. Dementsprechend zeigte
die Volkszählung von 1897 einen Stillstand in der Bewegung der Bevölkemng da, wo sie 20 Jahre vorher am stärksten gewesen war, im
ZeMmm und im Gebiet der Schwarzerde, dafür eine Steigerung an der *) Besonders in der von Witte veranlaßten Arbeit von P. Lochtin, Bensemelny Proletariat. (Moskau 1905.)
161
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik. Peripherie.
Fast durchgängig waren z. B. die Fabrikarbeiter des Mos
kauer Gouvernements derartige „Bauern", die tatsächlich einen Anteil an der Dorfflur nicht mehr hatten, gleichwohl aber von der Dorfgemeinde noch festgehalten wurdm, in ihr weiter solidarisch für den Steuerameil mit hafteten und in Paß- und Militärdienst-Angelegenheiten von ihr ab
hängig blieben.
Der Mir hatte seine Aufgabe, die natürliche Zunahme
der Bevölkemng in sich aufzunehmen und ihr in sich Nahrungsspielraum zu gewährm, nicht erfüllt, oder anders ausgedrückt: die Umteilungen des
Bodens, die den Verschiebungen in der Dorfbevölkerung folgen sollten,
hatten tatsächlich im letzten Menschenalter überhaupt viel weniger statt gefunden, als man sich vorgestellt hatte, und zwar wurden sie von Süden
nach Norden zu immer seltener: im Norden, wo der Bauer düngen muß, war sein Verhältnis zu der von ihm gerade bebauten Scholle enger und
fester als im Süden, wo das nicht nötig ist oder nicht für notwendig er achtet wurde. Ja, trotz aller rechtlichen Schranken war sogar eine große
Ungleichheit in der Besitzverteilung entstanden. Wie wenig kam doch diese scheinbar alles regelnde und beherrschende Staatsgewalt an den Einzelnen wirklich heran, wenn sich eine solche Umbildung ohne die Staatsgewalt, ja eigentlich gegen sie, vollziehm konnte! Die Reform von 1861 hatte Höfe
verschiedener Landgröße geschaffen, da die Familien zahlenmäßig ver schieden waren.
Danach sammelten schon von vornherein einzelne Höfe
mehr Anteile auf sich. Diese haben dann im Laufe der Jahrzehnte diese Anteile noch auf Kosten der Anteile erweitern können, die eingezogen wurden, weil in der Familie arbeitsfähige Erwachsene fehlten oder weil der Hausvater zum Militär einberufen war oder vor allem, weil Höfe
mit ihren Zahlungspflichten meinde im Rückstände waren.
((Steuern,
Loskaufsgeldern)
bei der Ge
So ist irregulär, vielfach durch Unrecht
und Gewalt, der Mir zur engeren Realgemeinde geworden wie die deutsche Markgenossenschaft, und wenn Umteilungen noch stattfanden, so vollzogen
sie sich ost nur unter dieser stärkeren Minderheit.
Von hier erklärt sich
auch die Figur des Dorfkulaks und die auf den ersten Blick ganz un verständliche Erscheinung, daß bei kollektivem Eigentum an der Dorfflur
und bei der Unmöglichkeit hypothekarischer Verschuldung ein landloses Proletariat entstand und die zurückbleibende Dorfgemeinde ihrer Mehr heit nach in die Schuldknechtschaft eines einzelnen oder einer Minderheit
geraten konnte.
Hoetzsch, Rußland.
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V. Kapitel.
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So war dieses System, das einmal Vernunft gewesen war, jetzt Unsinn, frühere Wohltat unerträgliche Plage geworden.
Es konservierte
einen Rechts-Zustand wie zum Hohn, weil unter ihm und durch ihn die
Dorfbevölkemng hungerte. Es hielt, weil der „Peredjel", die Umteilung, immer noch als Möglichkeit über der ganzm Organisation schwebte, das
Jndividualeigentum, allen technischen Fortschritt und alle kapitalistische
Aufwendung mit Gewalt fern. Und auch die wirtschaftlich Stärkeren in der Gemeinde laborierten an der Erschlaffung des Bodens. Für den Staat
aber hatte diese Lage die unangenehme Folge, daß die Bauern mit den —
von ihm ja vorgeschossenen — Loskaufszahlungen in hoffnungslosen Rück stand kamen und daß auch die Steuererträge zurückgingen.
Das Bild ist nicht vollständig, wenn, wie es meist geschieht, diese Agrarnot lediglich als Not der Bauern dargestellt wird.
Die Bauern
befreiung war hier, wie überall, der Beginn der Mobilisierung des Grund
und Bodens.
Durch die Ablösungssumme, die der Staat den Bauern
vorschoß und den Gutsherrn einhändigte, kam in die bis dahin säst ganz
naMralwirtschaftliche Urproduktion Kapital herein.
Die Kapitalisierung
der Urproduktion ist überall von Schmerzen und Schwierigkeiten begleitet gewesen, in Rußland aber wurde dieser Übergang besonders ins Schlimme
verkehrt, weil man dem Kapitalismus den Weg nur halb frei machte und
weil man die bei jeder Lösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeits
Verhältnisse rasch akut werdende Landarbetterfrage nicht einmal angriff. So von heute auf morgen gezwungen, sich in neue VerhälMisse zu finden, hat sich der Adel Rußlands überhaupt nicht in sie hereingesunden. Die
Folge war: er hat das Land nicht in seiner Hand halten können. Der Grundbesitz umfaßte vor der Revolutton, im Jahre 1905, in
Kern-Rußland (47 Gouvernements, also ausschließlich der Ostseeprovinzen, Polens und Finnlands) im ganzen 388 Millionen Dessjatinen. Davon betmg der Besitz der Krone, Kirche usw.: 154,7 Millionen Dessjatinen, und
zwar Kronsbesitz**) 137,4*), Schatull- und Apanagenland') 7,8, Kirchen- und *) Staatsrechtlich heute — Domänm, verwaltet vom Landwirtschafts ministerium, Abteilung für die „gossudarstwmnhja Jmuschtschestwa" (— Domänen). *) Mit den Ostseeprovinzen hat Rußland 138 Mill. Dessj. Domänen