161 60 15MB
German Pages 470 [476] Year 2003
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 169
Kai Kauffmann
Rudolf Borchardt und der >Untergang der deutschen Nation< Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-18169-9
ISSN 0081 -7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Guide-Druck GmbH, Tübingen
Inhalt
Vorbemerkung
ι
Einleitung 1. Zur allgemeinen Forschungslage und zum eigenen Interpretationsansatz 2. Die Genese der narzißtischen Persönlichkeit 2.1. Zum psychoanalytischen Konzept des Narzißmus 2.2. Das Trauma der Kindheit und Jugend 2.3. Die Identitätskrise der Studienzeit und die Selbsterwählung zum Dichter-Seher der deutschen Nation 3. Ubergangsformen der Selbstartikulation und der Zeitkritik . . 3.1. Asthetizistische Lyrik 3.2. Asthetizistische Kulturkritik 4. Die Inszenierung der Kulturgeschichte 4.1. Diskursgeschichtliche Perspektiven auf die Kulturhistoriographie um 1900 4.2. Borchardts Konzeption der dichterischen Geschichte< . .
4
I.
Die versagende Nation: Deutschland Imago ι. Die Krisis des Wilhelminischen Kaiserreiches (Schriften und Reden 1906-1918)
4 14 15 21 35 41 41 46 53 54 64 80 80 80
1.1. Volk und Nation in der Geschichtsrhetorik Borchardts . . 1 . 1 . 1 . Volk und Nation als Idee 1.1.2. Idee und Tradition der deutschen Nation 1.1.3. Krisis und Katastrophe der deutschen Nation in Neuzeit und Moderne; Borchardts Pläne zu einer >Geschichte des Unterganges der Deutschen N a -
80 80 85
tion< 1.1.4. Zum Aufbau der folgenden Darstellung 1.2. Borchardt und die Krise der deutschen Kultur: >Der Brief an den Verleger< (1906) 1.3. Deutschland und die Krise der europäischen Kultur: >Weltfragen< (1906/07)
89 96 97 m V
ΐ·4· Programme der schöpferischen Restaurationc Die verlorene >Denkschrift< (1907) und die >Ankündigung< (1907/08) .
121
1.5. Der deutsch-europäische Entscheidungskampf: Weltkriegsreden (1914-1916)
131
2. Das Interim der Weimarer Republik (Schriften und Reden 1918-1933)
145
2.1. »Seelische Reformation« statt politischer Revolution: Die Berliner Vorträge Einleitung in den Geist der Zeit< und die Bremer Reden des Jahres 1918/19
145
2.2. Historische Revisionen der deutschen Nationsbildung im Interregnum der Weimarer Republik: Die Redekampagne von 1927
166
2.3. Der totalitäre Konservatismus< im politischen Umfeld der Weimarer Republik: Borchardts Reflexionen zur Theorie und Praxis des Konservatismus (1930-1933)
192
3. Die Katastrophe des Dritten Reiches (Briefe und Fragmente I 933 _ I 945)
210
3.1. Der Schock der nationalsozialistischen Machtergreifung: Politische Briefe und das Buchprojekt >Interregnum< (i933ff·) 3.2. Die Analyse des deutschen Zwangscharakters: >Der Untergang der deutschen Nation< (1943/44) 3.3. Das Maskenspiel der Geschichte: >Anabasis< (1944) II.
210
218 . . . .
Der feindliche Dichter: Stefan George Imago 1. Die Idee des Dichters und des Dichterischen
230 255 255 255
i . i . Die Bedeutung H u g o von Hofmannsthals und Stefan Georges
258
2. Der Dichter als Richter der Zeit: >Rede über Hofmannsthal< (1902-1907)
263
3. Klassische Dichtung des historischen Ubergangs: Kritik des Siebenten Ring< (1909)
268
4. Der kulturpolitische Kampf um die geistige Führung: >IntermezzoAufzeichnung Stefan George betreffend< (um 1936) III. Der fehlende Herrscher: Von Wilhelm II. bis Hitler Imago 1. Die Leerstelle des Herrschers
VI
284 296 296 296
2. Der problematische Herrscher des Deutschen Reiches: >Der Kaisen (1908) 3. Die Phantasmagorie eines weifischen Kaisertums in wittelsbachischer Reichsverweserschaft: Von Konservatismus und Monarchismus< (1930) zu >Rupprecht von Bayern< (1932) . . . 4. Das Wunsch- und Schreckbild des Diktators: >Führung< (1931) und >Der Fürst< (1932) 5. Der echte >Duce< und der falsche >FührerBesuch bei Mussolini (1933) und >Der Sieg Adolf Hitlers< (um 1932/33) IV. Das gesuchte Heimatland: Preußen zwischen Berlin und Königsberg Imago 1. Die Bedeutung des Landschaftsdenkens bei Borchardt vor und nach 1918/19 2. Exkurs: Das Verhältnis zu Josef Nadler und der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften 3. Die Abwendung vom modernen Preußen und die Verfluchung der revolutionären »Narrenhölle« Berlin 4. Der vorübergehende Rückzug in die >Renaissancelandschaft< der Früh-Hohenzollern: >Rheinsberg< (1919/21) 5. Die Einkreisung von Königsberg als »ideeller Heimat«: L u dolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt< (1926/27) . . . . 6. Der »dankbare Sohn« der preußisch-deutschen Universität: >Aus der Bonner Schule< (1908) und >Friedrich Leo< (1944) . . 7. Epilog: >A word on Eastern Prussia< (um 1943/44)
301
317 329 345
353 353 3J3 361 368 3 76 386 414 433
Literaturverzeichnis
437
Anhang: Daten und Dokumente zur Familiengeschichte
451
Namensregister
457
VII
»Ein Brief ist dies Buch aus einem einzigen Grunde, und einem, wie alles was ich hier schreibe, einfachen. Ich erzähle um etwas bekannt zu machen, und weil es mir keine Ruhe läßt, bis ich es bekannt gemacht habe. Dies ist meine Rechtfertigung vor mir und meine einzige, für Lesen und Schreiben. Mir graust vor beidem. Kein Wasser dünkt mich rein und kalt, kein Schmerz hart genug und kein Feuer zu heiß, um mich von dem schwarzen Aussatze der verschriebenen Seele gesund zu fegen. Mir widert selbst die Herrlichkeit und Adelung der Sprache insofern als sie schon Geschriebenes gefressen hat, hinter mir, und Schrift speien will, vor mir aus. Zwänge mir nicht Etwas die Schreibfeder und regierte sie, ich säße lieber einsam, den Rücken gegen Dich, und gedächte. [...] Darum erzähle ich nichts von dem, was Du erwarten magst. Aber wenn Du Dir den allereitelsten und albernsten Menschen in den ersten Zwanzigern, den Du kennst, noch etwas stolzer auf eingebildete Weisheit als er ist, denken wolltest; und dabei noch etwas im Grunde verzagter, in Stunden deren Stimme er überhören möchte; noch etwas strotzender und röter vor Lust an prahlerischer, tierischer Jugend; und dabei im Ernste noch etwas schüchterner, verlegener und unsicherer als die ...« (Fragment eines Vorwortes zum nie geschriebenen Buch Annus Mirabilis, um 1918/20)
Vorbemerkung
Neue Erkenntnisse über Borchardts Familiengeschichte, die sich kurz vor dem Abschluß dieser Habilitationsschrift ergeben haben, scheinen wichtig genug, um eine Vorbemerkung zu rechtfertigen. Sie betreffen besonders den Problemkomplex des Judentums. Gerhard Schuster, der Herausgeber der Gesammelten Briefes hatte im Sommer 2001 ein Schreiben von Borchardts Vater gefunden, in dem das Grab der Großmutter Emilie, geborene Leo, auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg erwähnt wird. 1 Durch meine anschließenden Recherchen bei der Jüdischen Gemeinde wurde bestätigt, daß Emilie und auch ihr Mann Rudolf Borchardt d. A. auf diesem Friedhof beerdigt worden sind; der Grabstein des Ehepaares ist unversehrt erhalten. Diese Information wirft ein ganz neues Licht auf Borchardts Verhältnis zum Judentum, hatte er doch sowohl in der Autobiographie >Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt< (1926/27) und dem offenen >Brief an den Herausgeber des »RingNeuen Lexikon des Judentums< verbreitet, die Borchardts seien bereits während der Befreiungskriege zum Calvinismus übergetreten.2 Die nächste Überraschung folgte, als ich auf dem Friedhof den unversehrten, ganz in der Nähe des Eingangs stehenden Grabstein der Großeltern fand. Denn Emilie Borchardt ist nicht, wie ihr Enkel im ersten Satz des 1904 geschriebenen Prosatextes >In Memoriam< behauptet,3 um 1898/99, sondern am 1
2
3
Brief von Robert Martin Borchardt an Rudolf Borchardt vom 7.3. 1907. Im Privatbesitz der Familie Borchardt. Vgl. Julius H . Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Uberarb. Aufl. Gütersloh 2000, S. 134. Prosa VI, S. 9: »Emilie Leo / Witwe Rudolf Borchardt des Alteren war geboren am 24ten November 1820 zu Königsberg und starb achtundsiebzig Jahre alt zu Berlin [...].«
1
2i. Februar 1902 gestorben. Borchardt kannte das richtige Datum, wie die Einordnung des gleichzeitig entstandenen Gedichtes >In Memoriam< in die chronologische Folge des >Buches Vivian< beweist.4 Die Erklärung für diese zweite Mystifikation muß dabei ansetzen, daß Borchardt Ende Januar 1902 mit dem Vater gebrochen hatte und aus dem Elternhaus zu Hofmannsthal geflohen war - am 21. Februar wohnte er den ersten Tag in Rodaun. Die durch den Tod der verehrten Großmutter gesteigerten Schuldgefühle wurden von ihm verarbeitet, indem er das Sterbedatum weit zurückverlegte, und zwar in das Jahr seiner Erweckung zum Dichter-Seher der deutschen Kulturnation. Das >In Memoriam< suggeriert, die Großmutter habe noch kurz vor dem Ableben die »Hefte mit den ersten öffentlich gemachten Gedichten ihres Enkels«' gelesen und als einziges Mitglied der Familie erkannt, daß Borchardt zum Nachfolger von Lessing, Winckelmann und Goethe berufen sei, womit sie zur Legitimationsinstanz für den Bruch mit dem Vater gemacht wird. In diese psychologische Erklärung paßt das Gedicht >In MemoriamSkribentenFabrikaktion< statt, in der die meisten der in Berlin verbliebenen Juden verhaftet und deportiert wurden. In der Familie Borchardt gibt es die Überlieferung, Ro4
5
6
2
Vgl. Rudolf Borchardt: Vivian. Briefe - Gedichte - Entwürfe 1901-1920. Hg. v. Friedhelm Kemp u. Gerhard Schuster. Marbach a.N. 1985, S. 165. Vgl. Gedichte, S.I25f. Prosa VI, S. 10. Die Formulierung paßt eigentlich nur auf die Gedicht-Publikationen in den drei >InselZehn Gedichte< aus dem Jahre 1896. Das heißt, in dem Text selbst entsteht ein Widerspruch zwischen dem angeblichen Todesjahr der Großmutter und dem tatsächlichen Veröffentlichungsdatum der Insel-Hefte. Eine weitere Kontamination liegt vor, wenn behauptet wird, die Großmutter habe bei dem letzten Besuch ihres Enkels auf »frische Bücher« hingewiesen, nämlich »Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und Goethes Winckelmann im neusten Weimarer Band«, war doch der >Winckelmann< der Sophien-Ausgabe bereits 1891 erschienen! Vgl. Gedichte, S. i i j f .
salie habe sich selbst umgebracht, um ihrer für den nächsten Tag angekündigten Deportation zuvorzukommen. In der Zeit zwischen September 1939 und März 1943 scheint Borchardt nichts mehr von seiner Mutter gehört zu haben, aber er mußte befürchten, daß sie als Volljüdin - nach der Klassifikation der Nürnberger Gesetze - in die Maschinerie der Nazis geraten war. Dies galt auch für seine Schwester Helene Wirtz, die anders als Vera Rosenberg und Philipp Borchardt nicht emigriert war. In einem Brief an Hans Feist vom 12. September 1942 erkundigt er sich in verschlüsselter Form unter anderem nach den Schicksalen der Mutter und der Schwester, die ihm zu diesem Zeitpunkt also unbekannt waren. 7 Vor diesem Hintergrund liest man die Schriften >Der Untergang der deutschen Nation< (1943) und >Zur deutschen Judenfrage< (1943), die auf die »Ausmordung, Austreibung, und Auszehrung« des Judentums in der gräßlichen »Tragödie des nationalsozialistischen Deutschland« 8 anspielen, jedoch verbissen am Ideal der kulturellen Assimilation festhalten, mit noch größerer Irritation als zuvor. Auch die >Anabasis< (1944), in der die mit Borchardts Flucht, Verhaftung und Verschleppung von Italien nach Tirol endenden Vorgänge des Sommers 1944 geschildert werden, bekommt eine zusätzliche Dimension, selbst wenn Borchardt wahrscheinlich nicht als Volljude in ein Konzentrationslager, sondern als Auslandsdeutscher zurück ins Reich transportiert werden sollte. Borchardt mußte seit Jahren Angst haben, ins K Z deportiert zu werden. Doch wird davon auch in der >Anabasis< nicht direkt gesprochen. Indirekt spiegelt sich die persönliche Betroffenheit in den dort berichteten Tischgesprächen über die Verfolgung der Königsberger Juden und in den Reflexionen über die nationale Identität oder Nicht-Identität ethnischer Mischungen. A n den drei Fällen wird deutlich, wie wenig Basisdaten über Borchardts Leben bekannt sind und wie wichtig ein solches Faktenwissen f ü r das Verständnis seines (Euvres wäre. Insbesondere die Frage der deutsch-jüdischen Sozialisation von Borchardt, die sich nicht auf die Zeit der Kindheit und Jugend beschränkt, gilt es im Hinblick auf sein Werk neu zu überdenken. Die Zeitgenossen, angefangen von Willy Haas über Theodor Lessing bis hin zu Theodor W. A d o r n o und Werner Kraft, die auf der Bedeutung des Jüdischen für Borchardt insistierten, haben zumindest ein Problem getroffen, das in der jüngeren Forschung - und auch von mir - unterschätzt worden ist. 7
8
Vgl. Briefe 1936-1945, S. 506. In einem nicht abgesandten Brief an Hugo Schäfer aus dem Jahre 1942 deutet Borchardt an, daß das Leben seiner in Hamburg wohnenden Schwester bedroht wäre, wenn ihr - aus einer »Mischehe« stammender - Sohn im Weltkrieg fiele: »Der einzige Sohn meiner Schwester Wirtz ist bisher am Leben - ihr Leben hängt fast zu qualvoll an dem seinen.« (Ebd., S. 45 5) Gerhard Schuster hat inzwischen herausgefunden, daß Helene Wirtz noch Anfang 1945 nach Theresienstadt deportiert wurde; nach ihrer Befreiung durch die Alliierten lebte sie wieder in Deutschland. Prosa IV, S.371. 3
Einleitung
ι.
Zur allgemeinen Forschungslage und zum eigenen Interpretationsansatz
Obwohl Rudolf Borchardt (i 877-1945) in keiner deutschen Literaturgeschichte der Jahrhundertwende fehlt und er allgemein als einer der bedeutendsten Lyriker und Essayisten seiner Zeit gilt,1 ist er, verglichen mit Hugo von H o f mannsthal, Stefan George oder Rainer Maria Rilke, doch ein wenig gelesener und kaum erforschter Autor. Dafür ist er selbst in erheblichem Maße mitverantwortlich. Borchardt hat sich sein Leben lang als >outsider< inszeniert, der mit dem deutschen Literatur- und Politikbetrieb nichts zu tun haben wollte. Seit 1906 wohnte er, länger unterbrochen nur durch den 1. Weltkrieg, fast durchgängig in Italien und kam bloß gelegentlich zu Geschäftsterminen und Redekampagnen nach Deutschland. Wie ein >Dämon< tauchte der Dichter-Seher in den Hörsälen deutscher Universitätsstädte auf, beeindruckte und verwirrte das Publikum mit der Kraft seiner Sprache und der Macht seiner Bildung, um dann wieder in der geheimnisvollen Ferne zu verschwinden. Sein Werk, dessen Umfang noch nicht einmal die wenigen Freunde, etwa Hofmannsthal, 2 kannten, wurde erst in den zwanziger Jahren durch die Auswahleditionen der G e s a m melten Schriften< im Rowohlt Verlag einem breiteren Bildungspublikum zugänglich. Diese Jahre, in denen er auch als politischer Rhetor und Publizist hervortrat, sind die Zeit seiner größten Bekanntheit. Aber selbst damals war er eher eine mythen- und legendenumwitterte Gestalt als ein vielgelesener Autor. Nach 1933 durfte Borchardt, da er sich weigerte, in den nationalsozialistischen
4
1
Zur literarhistorischen Einordnung vgl. bes. Klaus Günther Just: Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Geschichte der deutschen Literatur seit 1871. Bern / München
2
Hugo von Hofmannsthal teilt Rudolf Pannwitz am 1 2 . 1 1 . 1917 mit: »Sie fragen nach Borchardts anderen Arbeiten (deren es in Menge gibt, geschriebene und andere, vorgeblich geschriebene, wohl nur hallucinierte), warum er sie nicht zugänglich macht, warum das alles so absichtlich mit Dunkel u. Schwierigkeit umgeben ist - darüber kann ich nicht viel sagen. Das ist eben, genau das, eine Last an der ich mich überhoben habe.« (Hugo von Hofmannsthal / Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907-1926. Hg. v. Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1993, S. 1 j8f.) Vgl. auch Hofmannsthals Brief an Pannwitz vom 5.5. 1918 (ebd., S. 222).
1973·
>Reichsverband deutscher Schriftsteller einzutreten, nicht mehr in deutschen Verlagen veröffentlichen, wenn er auch nicht - wie häufig zu lesen ist - zu den verbotenen Schriftstellern gehörte. Bis zu Borchardts Tod am 10. Januar 1945 erschienen, abgesehen von einem Bremer Privatdruck, seine Schriften nur noch in schweizerischen und österreichischen Verlagen. Als der 2. Weltkrieg vorbei war, behinderte vor allem der betonte Konservatismus und Nationalismus die Rezeption seines Werks. Diejenigen, die Borchardt retten wollten, nahmen daher den >Dichter< vor dem >Politiker< in Schutz. Das gilt nicht nur für die Auswahl in der Reihe >Verschollene und Vergessene< (1954), sondern auch für das Buch >Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte< (1961) von Werner Kraft - die erste umfassende, in Israel entstandene Monographie überhaupt - und den Essay >Die beschworene Sprache< (1968), mit dem Theodor W. Adorno einen Sammelband Gedichte einleitete.3 Obgleich das Werk eine solche Trennung von Poesie und Politik eigentlich nicht zuläßt, kommt vor allem Adorno das Verdienst zu, Borchardt vor dem völligen Vergessenwerden bewahrt zu haben. Die deutsche Literaturwissenschaft beschäftigte sich bloß vereinzelt mit den Gedichten und Erzählungen, der Auffassung des Dichterischen, der Beziehung zu Hofmannsthal und der Ubersetzung von Dantes >Divina CommediaDante Deutsche Studien zu Rudolf Borchardts Übertragung der >Divina CommediaGesammelten Werke< in vierzehn Einzelbänden vorliegt, von denen - zählt man die Reden dazu - nicht weniger als acht essayistische Prosa enthalten, und die 1994 in Angriff genommene Edition der >Gesammelten Briefe< voranschreitet, sind zum ersten Mal die philologischen Voraussetzungen für eine umfassende Rezeption gegeben. Gleichzeitig kommt dieser Rezeption der >cultural turn< in der Literaturwissenschaft entgegen, bei dem die Diskurse der Kultur, der Kulturkritik, der Kulturhistoriographie und der Kulturpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert verstärkt in den Blick der historischen Forschung geraten. Die Beiträge zu den Borchardt-Tagungen der letzten anderthalb Jahrzehnte6 haben sich mehr und mehr dem essayistischen Prosawerk zugewandt und versucht, Borchardts Verhältnis zu kulturellen und politischen Strömungen wie dem Asthetizismus oder der konservativen Revolution zu klären, um ihn so im Diskursfeld des Wilhelminischen Reiches und der Weimarer Republik zu verorten. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß sich die teilweise erregt geführte Diskussion auf einzelne Texte, besonders die Reden Schöpferische Restauration< (1927) und >Führung< (1931), konzentrierte, die eine bedenkliche Nähe zum Faschismus, wenn nicht Nationalsozialismus, besitzen. Auf diesem Weg kommt man jedoch allzu schnell zu dem Punkt, wo man entweder über den versponnenen Ästheten oder den gefährlichen Ideologen den Kopf schüttelt. Der Zugang zu einem Werk, das in seiner ganzen Breite und Tiefe überhaupt erst zu erschließen ist, läßt sich so nicht finden. Die Beschränkung auf die argumentationslogische Analyse einzelner Schriften und Reden, aus der dann die diskursgeschichtliche Einordnung des Autors bzw. (Euvres folgt, ist gerade bei Borchardt problematisch. Und zwar aus mehreren Gründen: Erstens fehlen bis heute Basisdaten, ohne die jede Interpretation zum Drahtseilakt wird. Das betrifft schon Borchardts Biographie, die überall in die Argumentation seiner Werke hineinspielt. Wie in der Vorbemerkung geschildert, hat sich bei den Recherchen zu dieser Arbeit herausgestellt, daß Borchardts Angaben über die Konversion der eigenen Vorfahren im 19. Jahrhundert, auf die sich seine Stellungnahmen zur deutschen Judenfrage< stützen, größtenteils Mystifikationen sind. Die bisherige Forschung hat diese Mystifikationen ungeprüft übernommen und daher die Kontroversen mit Willy Haas, Max Brod, Martin Buber und Josef Nadler nicht richtig bewertet. Auch die Basisdaten zur Bibliographie sind unzureichend. Ob, um ein anderes Beispiel zu nennen, das unveröffentlichte Fragment >Der Sieg Adolf Hitlers< vor oder nach der Machtergreifung geschrieben wurde, ist nicht sicher, was die 6
6
Vgl.: Horst Albert Glaser (Hg.): Rudolf Borchardt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums. Frankfurt a.M. / Bern / N e w Y o r k / Paris 1987. Ernst Osterkamp (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Berlin / N e w York 1997. Andreas Beyer / Dieter Burdorf (Hg.): Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg 1999. Kai Kauffmann (Hg.): Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt. Bern 2002 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 4).
Interpretation enorm erschwert. - Zweitens ist es die Eigenart von Borchardts Denken und Schreiben, daß sich die konkreten Argumente innerhalb eines abstrakten Strukturrahmens fortgesetzt verschieben. 7 Borchardt nimmt zwar bestimmte Topoi aus den Kulturdiskursen der Epoche(n) auf, die in seinem Werk auch immer wiederkehren, doch wendet er sie in den einzelnen Schriften und Reden so um und setzt sie so ein, wie es seinen jeweiligen, nicht zuletzt von der lebensgeschichtlichen Lage und der zeitgeschichtlichen Situation abhängigen Interessen entspricht. Seine casuistische Rhetorik läßt sich nicht, anders als der A u t o r suggeriert, auf eine stringente Logik der Argumentation festlegen, die problemlos in die Topographie der Kulturdiskurse einzupassen wäre. U n d drittens - dieser Punkt hängt eng mit dem vorangegangenen zusammen - darf die essayistische F o r m von Borchardts Schriften und Reden nicht ausgeblendet werden. Die Beantwortung der Frage etwa, wie sich das sowieso kaum zu fassende Programm der schöpferischen Restauration< zur Ideologie der k o n s e r vativen R e v o l u t i o n bzw. des >neuen Nationalismus< (Stefan Breuer) 8 verhält, ist weniger aufschlußreich als die Analyse der literarisch-rhetorischen Verfahren, mit deren Hilfe in den einzelnen Schriften und Reden ganz unterschiedliche Bilder der Kulturgeschichte entworfen werden. Erst über eine solche A n a lyse, die auf die spezifische >Textur< der Werke eingeht, lassen sich tiefer gegründete Beziehungen zu bestimmten Diskursen der Literatur und der Historiographie feststellen, so zu einer spekulativen Kulturgeschichtsschreibung, wie sie ähnlich von Theodor Lessing oder Rudolf Pannwitz betrieben wurde. Damit bin ich bei dem Ansatz meiner Studien zum essayistischen Prosawerk angekommen, die sich immer weiter von den Positionen der bisherigen F o r schung entfernt haben. Es war mein ursprünglicher Plan, die Logik, Topik und Stilistik von Borchardts kulturkritischem, kulturhistorischem und kulturpolitischem Denken und Schreiben an exemplarischen Texten zu untersuchen, die in den Diskurszusammenhang der Epoche(n) eingebunden werden sollten. D a f ü r bot sich das bei Borchardt zentrale Themenfeld der Geschichte der deutschen Nation im 19. und 20. Jahrhundert an. Auf diese Konzeption geht die Gliederung des Hauptteils in die vier Kapitel >NationDichterHerrscher< und >Landschaft< zurück. Im Laufe der Vorarbeiten entschied ich mich aber f ü r
7
Die Umkehrung gilt allerdings auch: Alle Einzelpositionen und Einzelrelationen verschieben sich, aber die Grundstruktur bleibt bestehen. Diese Eigenart von Bewegung (Transformation) im Stillstand (Stagnation), die mit dem narzißtischen Charakter des Autors zusammenhängt, ist übrigens auch der G r u n d dafür, daß man sich so schlecht an die verschiedenen Texte erinnert. Man behält die wiederkehrenden T o p o i und Strukturen, nicht die abweichenden Positionen und Relationen, und ist dann beim Wiederlesen erstaunt über den eigenen >Dreh< jeder Schrift, um ihn später erneut zu vergessen.
8
Vgl. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. 2., durchges. u. korr. A u f l . Darmstadt 1995.
7
die Kombination einer chronologischen und einer kulturtopographischen Methode, mit der das Gleiten von Borchardts Rhetorik im Rahmen feststehender Argumentationsstrukturen besser erfaßt werden kann. Das chronologische Vorgehen in den einzelnen Kapiteln hat nicht nur den Vorteil, die Verschiebungen in Borchardts (Euvre sichtbar zu machen, sondern ermöglicht es auch, diese Verschiebungen mit den Begebenheiten der Lebensgeschichte einerseits und den Ereignissen der Zeitgeschichte andererseits in einen Zusammenhang zu bringen. Ein solches Vorgehen eignet sich besonders für die lange Kette jener Texte - angefangen vom >Brief an den Verleger< (1906) über den >Eranos-Brief< (1924) und >Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt< (1926/27) bis hin zur >Anabasis< (1944) - , in denen Autobiographie und Kulturhistoriographie, Kulturkritik und Kulturpolitik direkt miteinander verknüpft sind. Doch selbst bei historischen Texten, die keine expliziten Bezüge zur Lage des Autors und zur Situation der Zeit herstellen, kann auf diese Weise nachgewiesen werden, in welchem Maße biographische Motive und kulturpolitische Interessen in der literarischen Konstruktion verarbeitet worden sind. Je länger ich mich mit Borchardt beschäftigte, desto klarer wurde mir die Bedeutung seiner psychischen Persönlichkeit für die Strukturen des literarischen Werkes. Da ich die Vorbehalte gegen biographische, psychologische oder psychoanalytische Interpretationen teile, denen es vorrangig um die Person des Autors geht, möchte ich betonen, daß die Fragen der literarischen Gestalt und des historischen Gehalts im Mittelpunkt meines Interesses standen und auch jetzt noch stehen. Ohne die Einbeziehung der Psychologie konnte ich aber Fragen wie die folgenden nicht hinreichend beantworten: Warum brechen Borchardts Schriften fast immer ab, bevor die grandios angelegten Kulturentwürfe ausgeführt werden (Totalisierung und Fragmentierung)? Woher kommen die Antithetik und die Asymmetrie ihrer Konstruktion, in der das Positive so viel diffuser bleibt als das Negative (Idealisierung und Entwertung)? Wieso sind die geschilderten Personen bzw. Figuren der Kulturgeschichte so häufig indirekte Selbstporträts (Spiegelung)? Weshalb neigen die direkten Selbstdarstellungen zur Mystifikation (Schwindelei)? Wie erklären sich die eklatanten Verstöße gegen die Argumentationslogik, die sogar innerhalb eines Textes stattfinden (Verschiebung)? Woher rühren die starken Schwankungen des Reflexions- und des Stilniveaus (Motorik)? Auf welche Weise lassen sich die Unterschiede der Aggressivität in den nicht abgeschickten Briefen und den öffentlich gehaltenen Reden zur Politik deuten (Sublimierung)? Diese Reihe von Fragen kann auf das Feld der Literatursoziologie ausgedehnt werden: Warum gelingt es Borchardt im Unterschied zu anderen >Dichter-Sehern< wie Stefan George oder Rudolf Pannwitz nicht, einen Kreis von Jüngern oder - nach Art von Hofmannsthal Freunden um sich aufzubauen (Α-Sozialität)? Wieso weigert er sich umgekehrt, irgendeinem Zirkel beizutreten (Autonomie)? Was brachte ihm die dauerhafte Trennung von Wohnort und Wirkungsstätte, die doch seinem literari8
sehen Erfolg abträglich war (Rückzug)? Ich belasse es bei diesen Andeutungen, die allesamt in dieselbe Richtung weisen. Es ist Borchardts narzißtische Persönlichkeitsstruktur, die sich nicht nur in seinem ganzen Leben, sondern auch in seinem gesamten Werk ausdrückt. Diese These ist nicht völlig neu. Zahlreiche Zeitgenossen, die Borchardt mehr oder weniger gut kannten, haben intuitiv den Zusammenhang zwischen der seelischen Problematik und dem dichterischen Ingenium erfaßt. Insbesondere der hochstaplerische Wesenszug, der das wichtigste Kriterium des Narzißmus (Grandiosität) erfüllt, ist immer wieder geschildert worden. Theodor Lessing, der neben Rudolf Alexander Schröder 9 die eindringlichste Charakteristik Borchardts gegeben hat, schreibt in seinen Erinnerungen >Einmal und nie wied e r (1935): [F]ür diesen körperlich unscheinbaren, aber straff gerechten, immer ritterlichen, immer männlichen, immer heldisch gerichteten M a n n gab es nichts Alltägliches, N ü c h ternes, sondern was die Zauberhand anpackte, das ward zu G o l d , und aus den geringsten, ja läppischen Begegnungen mit der Wirklichkeit filterte die übersteigernde Phantasie solche Geistigkeit, daß man nie wissen konnte, ob er beichtete oder verbog. [...] A b e r auch den Propheten glich er, den Fanatikern und Ketzerrichtern, die, gleich dem ihm wesensverwandten Karl Kraus, v o m Wortgeist und Sprachrausch her schöpferisch werden. - Ich kannte bei Borchardt auch Züge, die im Licht des gemeinen M e n schenverstands einfach als Prahlhanserei, Aufschneiderei, ja als Schlimmeres zu betrachten wären und dennoch zusammenhängen mit G r u n d w u r z e l n der dichterischen Seele, deren erhabene Bildkräfte überwuchert wurden von einem unmenschlich rechthaberischen Willen zur großen Leistung. 1 0
Auf Lessing kann sich berufen, wer zwischen der psychologischen Analyse des Autors und der literarhistorischen Interpretation des OEuvres vermittelt. In der jüngeren Zeit hat der Soziologe Stefan Breuer das Narzißmus-Konzept Heinz Kohuts auf eine ganze Reihe von Autoren aus dem George-Kreis (neben dem >Meister< die >Jünger< Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters, Max Kommerell, Ernst Glöckler u.v.m.) und auch auf Schriftsteller aus dem George-Umfeld (Alfred Schuler, Ludwig Klages, Ludwig Derleth, Rudolf Pannwitz, Hugo von Hofmannsthal, Georg Simmel) angewandt und dabei den >Gegenkönig< Borchardt als einen typischen Vertreter des psychisch motivierten ästhetischen Fundamentalismus< beschrieben." Daß seine Deutung nicht richtig durchge-
9 10
V g l . das Zitat auf S. 1 8 9 dieses Buches. Zit. nach: Borchardt - H e y m e l - Schröder. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a . N . Bearbeitet von Reinhard Tgahrt, Werner Volke, E v a Dambacher u. Hildegard Dieke. Marbach 1978 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseum. Katalog 29), S . 3 6 7 . In Lessings Buch J ü d i s c h e r Selbsthaß< (Berlin 1 9 3 0 , bes. S. 4of.) wird diese Persönlichkeitsstruktur kulturpsychologisch erklärt.
11
V g l . Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan G e o r g e und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1 9 9 5 , bes. S. 1 4 8 - 1 6 8 .
9
d r u n g e n ist, liegt nicht n u r an der harschen P o l e m i k gegen »heilige Dichter< u n d ihre B e w u n d e r e r , sondern mindestens eben so sehr an D e f i z i t e n der A r g u m e n tation, die hier k u r z benannt w e r d e n müssen. Z u m einen stellt B r e u e r eine allgemeine T h e s e auf, o h n e sie bei jedem A u t o r gründlich z u ü b e r p r ü f e n . W e n n er eine i n d i v i d u a l p s y c h o l o g i s c h e A n a l y s e der Fallgeschichten v o r n ä h m e , fielen i h m die g r o ß e n U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n den Persönlichkeitsstrukturen auf, die nicht alle unter d e m B e g r i f f des N a r z i ß m u s subsumiert w e r d e n k ö n n e n . S o hat s c h o n B o r c h a r d t in d e m A u f s a t z >Nach z w a n z i g Jahren< auf den G e g e n s a t z hingewiesen z w i s c h e n seiner eigenen N e i g u n g , das Selbst a b z u s c h ü t t e n , 1 2 u n d der T e n d e n z H o f m a n n s t h a l s , das Selbst in den A n d e r e n z u suchen; 1 3 u n d die H o f m a n n s t h a l - F o r s c h u n g spricht seit lang e m v o n der »Schizophrenie als dichterischer S t r u k t u r ^ ' 4 obgleich m . E . auch der B e g r i f f d e r S c h i z o p h r e n i e die Selbstinszenierung in den M a s k e n s p i e l e n des H o f m a n n s t h a l s c h e n Werkes nicht richtig t r i f f t , w e i l d u r c h ihn das E x t r e m der D e z e n t r i e r u n g u n d D e p e r s o n a l i s a t i o n ü b e r b e t o n t w i r d . S o unsystematisch,
12
13
14
10
Der Aufsatz von 1935 erinnert an den ersten Besuch Hofmannsthals in der Villa Mansi, deren Saaldecke eine Inschrift des früheren Bewohners trägt: »Ego Solus Mansi, ich allein bin Mansi, ich allein bin geblieben, ich bin allein geblieben« (Prosa VI, S. 221). Borchardt führt auf dieses Wort seinen unwiderstehlichen Wunsch zurück, die Villa anzumieten, ein gutes Beispiel für seine Selbstbespiegelungen in der Geschichte. Prosa VI, S. 222f.: »Ich glaube, er hat keine andere wirkliche Leidenschaft gekannt, als die nach fremdem Schicksal. >Wie ist das bei Dir?Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt< und >Brief an den Verleger< liefern so viele Erinnerungsbilder der eigenen Kindheit und Jugend, daß die emotionale Verunsicherung des Kindes, vor allem von Seiten der Eltern, und die daraus folgende narzißtische Abschließung des Selbst gegenüber der Umwelt evident werden. Zudem deuten sie diese Erinnerungsbilder in einem allgemeinen Erklärungsrahmen der Kulturgeschichte, indem sie auf die typische Situation von Kindern großbürgerlicher Familien in der neudeutschen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts hinweisen. Schließlich zeigen sie, wie der Heranwachsende seine labile, stets von der Gefahr der »Dekomposition« 1 5 bedrohte Ich-Identität durch eine Phantasieproduktion stabilisiert, bei der sich das Selbst zum Dichter der Nation und zum Seher der Geschichte erhebt. Im wesentlichen sind damit die narzißtischen Strukturen von Borchardts Persönlichkeit und ihre phantasmagorischen Transformationen im Werk richtig skizziert. Meine Studien knüpfen an diese Schilderungen an. Sie werden den Zusammenhang von Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion in Borchardts CEuvre genauer untersuchen, wobei natürlich die Mystifikationen und Rationalisierungen des Autors kritisch hinterfragt werden. Auch bleibt die Arbeit nicht bei der psychologischen Diagnose einer narzißtischen Persönlichkeitsstruktur stehen, für die das literarische Werk bloß das Symptom einer pathologischen Störung wäre. Vielmehr leitet sie aus der narzißtischen Struktur der Persönlichkeit das produktive Vermögen der ästhetischen Einbildungs-, rhetorischen Uberzeugungs- und historischen Erkenntniskraft her, die eine phantas15
So im >Brief an den Verlegers Prosa VI, S. 29. 11
matisch-konstruktive und eine kritisch-destruktive Tendenz besitzt. Deswegen läßt sich die Arbeit auf die Lektüre der literarischen Werke ein und billigt ihnen einen hohen Eigenwert zu. In den vier Kapitel des Hauptteils treten die psychologischen Aspekte über weite Strecken ganz hinter den ästhetischen, rhetorischen und historischen Perspektiven zurück, bis die Interpretation an einen Punkt kommt, wo sie sich wieder auf psychologische Motive zurückverwiesen sieht. Dabei werden auch die Grenzen von Borchardts Einbildungs-, Überzeugungs- und Erkenntniskraft markiert. Insgesamt zielt die Arbeit auf eine nicht-reduktionistische, weil auf hermeneutischer Vermittlung beruhende Synthese der verschiedenen Ansichten von Autor und Werk im Rahmen der Zeit. In der geistesgeschichtlichen Forschung nach der Jahrhundertwende hätte man von der >Gestalt< gesprochen, die zu umreißen wäre. Ich ziehe den sowohl in der Persönlichkeitsforschung (David Rapaport) als auch in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Begriff des >Stils< vor. Nach dem Verständnis von Roland Barthes umfaßt der Stil (le style) sämtliche vertikalen Strukturen und Transformationen, die, aufsteigend von den Tiefenschichten des Körpers und der Seele bis hinauf zu den Oberflächenphänomenen des Denkens, Sprechens und Verhaltens, in ihrer Gesamtheit die Eigenart eines Autors im Gegensatz zu den horizontalen Allgemeinformen der Sprache/Schrift (Pecriture) ausmachen. In dem Aufsatz >Was versteht man unter Schreibweise?< (>Qu'est-ce que l'ecriture?Tod des Autors< verfügt haben und den Menschen in der Geschichte nur noch als dezentriertes >Subjekt der Geometrie< von fiktionalen Diskursen auffassen. Ich führe
' 6 Abgedruckt in: Roland Barthes: A m Nullpunkt der Literatur. Frankfurt a.M. 1 9 8 2 , S. 1 5 - 2 5 , hier: S. i6f.
12
das naheliegende argumentum ad hominem nicht aus, daß der gerade bei ihnen häufig anzutreffende Personenkult die eigenen Theorien in Frage stellt, und verweise auch nur beiläufig darauf, daß Derrida in seiner 1996 erschienenen Schrift >Le monolinguisme de l'autre< die Philosophie der Dekonstruktion auf das eigene Trauma der kulturellen Entwurzelung in Algerien zurückgeführt und sie damit repersonalisiert und rehistorisiert hat 17 - eine verblüffende Analogie übrigens zu Borchardts Problem der Heimatlosigkeit. Mein eigentliches Gegenargument ist, daß die starren Antithesen zwischen Autor oder Diskurs, Individualität des Menschen oder Konstruktion der Schrift, Realität oder Fiktionalität der Geschichte etc. am lebendigen Wesen der Literatur (und der Literaturwissenschaft) als einer Form der Vermittlung vorbeigehen. Borchardt ist sicherlich ein gutes Beispiel dafür, wie ein bedrohtes Ich sich nur im unabschließbaren Prozeß des Redens und Schreibens behaupten kann. Man mag darin einen Beweis für die generelle, in der Moderne manifest werdende Problematik des >Subjekts< sehen. Aber wer durch die sich verschiebende Rhetorik seiner Werke hindurch nicht die gleichbleibende Stimme eines eigen- und einzigartigen Menschen hört, der an sich selbst leidet, der hat von Borchardt zu wenig verstanden. Viel stärker als die vorhersagbaren Einwände von Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten beunruhigen mich die Fragen, ob ich in den Studien die richtige Balance zwischen Person und Werk gefunden habe und ob auf beiden Seiten Würdigung und Kritik gerecht austariert sind. Mit diesem Zweifel stehe ich in der Tradition der Borchardt-Interpreten, die, wie die hin- und herschwankenden Äußerungen von Theodor Lessing oder Rudolf Alexander Schröder exemplarisch zeigen, selten zu einem eindeutigen, positiven oder negativen Urteil gelangen. Es handelt sich dabei nicht um die Opposition >kleiner Mensch< versus >großer Dichten. Die Deformation, von der Lessing spricht, ist auch eine des Dichterischen. Das gilt für die essayistischen Schriften, die in dieser Arbeit behandelt werden, ebenso wie für das hier aus Gründen der wissenschaftlichen Ökonomie ausgeklammerte poetische und übersetzerische (Euvre; man denke beispielsweise an die grandiose, aber auch tyrannisch mit der italienischen Dichtung und der deutschen Sprache verfahrende Umbildung von Dantes >Divina CommediaKranke< und >Uble< in Borchardt auf ihn selbst zurückfalle, so daß er für seine Schwächen bitter büße. So wie er als Mensch seine Freunde ein ums andere Mal verprellt hat, so stößt er als Schriftsteller seine Leser immer wieder ab. Das scheint mir der tiefste G r u n d dafür zu sein, daß er anders als Hofmannsthal, George und Rilke niemals einen Kreis von vorbehaltlosen Bewunderern um sich geschart hat.
2.
Die Genese der narzißtischen Persönlichkeit
I m folgenden wird das psychoanalytische Konzept des Narzißmus nur soweit dargestellt, wie es zur Beschreibung von Borchardts Persönlichkeit erforderlich ist. Dies heißt, daß auf die metapsychologischen Debatten zwischen H e i n z K o h u t und O t t o F. Kernberg nicht eingegangen wird, sondern die empirischen Kriterien für die Diagnose und Deskription im Vordergrund stehen. Diese Kriterien werden auf Borchardts Autobiographie bezogen, die zwar keine sicheren Rückschlüsse auf die präödipalen Ursachen erlaubt, aber doch die E n t wicklung seiner narzißtischen Persönlichkeitsstörung in den späteren Stadien der Kindheit und Jugend nachvollziehbar macht.
18
14
Auch die Rezension des Bandes >Handlungen und Abhandlungen*, die Ewald Volhard im Literaturblatt der f r a n k f u r t e r Zeitung* (15.9. 1929) veröffentlichte, läßt die Ambivalenz des Leseeindrucks erkennen, selbst wenn das Endurteil - aus ideologischen Gründen - klar negativ ausfällt: »So entstand ein Buch, das man mit Unbehagen liest, mit mehr Unbehagen als ein schlechtes oder mittelmäßiges. Es berunruhigt vielleicht, aber es bewirkt nichts. Es zerstört im Nachsatz zu oft die gute Gesinnung, zu der der Vordersatz nötigt, und strömt nirgends verändernd, formend, wirkend in uns ein, zerrt uns vielmehr immer wieder vom Aufhorchen zur Entäuschung, vom Erstaunen zur Mißbilligung, von Bewunderung zu Abneigung. Es ist ein >beinahe< gutes Buch.«
2.1.
Z u m psychoanalytischen K o n z e p t des N a r z i ß m u s
A u s g e h e n d von Sigmund Freuds Schrift >Zur E i n f ü h r u n g des Narzißmus< ( 1 9 1 4 ) , haben v o r allem amerikanische Psychoanalytiker seit den f ü n f z i g e r J a h ren Theorien der narzißtischen Persönlichkeitsstörung e n t w o r f e n und auch Kriterienkataloge f ü r die Diagnose ausgearbeitet. N e b e n den Arbeiten v o n H e i n z K o h u t 1 9 sind die Beiträge v o n O t t o F. Kernberg 2 0 hervorzuheben, der den N a r z i ß m u s als B e w ä l t i g u n g s f o r m einer zugrundeliegenden BorderlineStörung versteht. A b 1980 sind die psychoanalytischen Kriterien teilweise in psychiatrische
Klassifikationssysteme
(DSM-III, DSM-IV)
aufgenommen
worden.21 G e m e i n s a m ist den psychoanalytischen Erklärungsmodellen die A n n a h m e , daß E m p a t h i e - D e f i z i t e der Mutter gegenüber dem K i n d , die durch den Vater nicht kompensiert werden, zu einer Störung in der R e i f u n g des >Selbst< oder w i e K e r n b e r g diesen Begriff einmal mit Verweis auf E r i k H . E r i k s o n übersetzt 2 2 - der >Ich-Identität< führen. Verschärft w e r d e n kann der K o n f l i k t durch übersteigerte E r w a r t u n g e n der Eltern, daß ihr K i n d etwas Besonderes sei, die mit der mangelnden Z u w e n d u n g nicht im Einklang stehen. D e m K i n d gelingt es nicht, ein normal integriertes Ich auszubilden, weil zwischen den Allmachtswünschen des >Ideal-Selbst< und den Ohnmachtserfahrungen des >Real-Selbst< kein Ausgleich möglich ist. A l s A b w e h r r e a k t i o n auf die fortgesetzte Frustration durch die Eltern k o m m t es stattdessen zu einer dauerhaften Spaltung der Selbst-Repräsentanzen innerhalb des Ich, bei der die eine Seite des Selbst - das sogenannte Größenselbst - das Ideal der Wunscherfüllung unverändert aufrechterhält, w ä h r e n d die andere Seite die Realität der Wunschversagung anerkennt. Stärker als K o h u t betont K e r n b e r g , daß gleichzeitig eine analoge Spaltung der Objekt-Repräsentanzen innerhalb des Ich stattfindet: D a das K i n d keine befriedigenden Beziehungen zu den Eltern zu entwickeln vermag, projiziert es einerseits seine Wünsche auf Ideal-Objekte, die aber unter seiner H e r r schaft bleiben sollen, und negiert andererseits die A n s p r ü c h e der R e a l - O b j e k t e auf eigenständige Geltung. S o w o h l bei den Selbst-Repräsentanzen w i e bei den Objekt-Repräsentanzen handelt es sich u m Vorgänge der Idealisierung auf der einen und der E n t w e r t u n g auf der anderen Seite. O b w o h l die verschiedenen
19
20
21 12
Vgl. bes.: Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a.M. 1973. Ders.: Die Heilung des Selbst. Frankfurt a.M. 1979. Vgl. bes.: Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. Frankfurt a.M. 1978. Ders.: Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategien. Stuttgart 1985, bes. S. 261-346. Vgl. auch die Aufsätze unterschiedlicher Autoren in: Ders. (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart / New York 1996. Vgl. Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen. 4. Aufl. Weinheim 1998, bes. S. 279-287. Vgl. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, S. 359. r
5
Teile und Seiten in einer kohärenten, wenn auch pathologischen Form des Ich integriert sind - das macht den Unterschied des Narzißmus zu den (manifesten) Borderline-Störungen 25 und den klassischen Psychosen aus - , ist ihr inneres Verhältnis sehr labil. So wechseln narzißtische Persönlichkeiten zwischen Phasen der Hypomanie und Uberstimulation, in denen die Phantasien eigener Größe durchbrechen, und Phasen der Apathie und Depression, wenn die Diskrepanz zur Realität erkannt werden muß, in rascher Folge hin und her. In Krisensituationen extremer Verunsicherung des Selbstwertgefühls kann eine zeitweilige Regression in nicht-integrierte, psychosenahe Formen eintreten, mit Gefühlen der Fragmentierung, paranoiden Vorstellungen und panischem, autoaggressivem oder antisozialem Verhalten. 24 Die Selbst-Phantasien eigener Größe und Macht sind das wichtigste Kriterium narzißtischer Persönlichkeiten. 25 Diese haben das ständige Bedürfnis nach exzessiver Darstellung der eigenen Person und der Bewunderung durch andere. Umgekehrt reagieren sie überaus empfindlich auf jede Kritik von außen, da durch diese der verborgene, von den Größenphantasien überdeckte Minderwertigkeitskomplex verstärkt wird. Die >narzißtische Kränkung< des grandiosen Selbst führt einerseits zum Ausbruch >narzißtischer Wutnarzißtischer Schamnarzißtischem Neidnarzißtischer Wutnarzißtischen Rückzugs der unter extremen Umständen den Charakter einer panischen Flucht annimmt. In Zweierbeziehunscheffel-stellens des lichtes ist. es ist irgend eine zarte schuld und irgend ein noch zarteres schuld gefühl dar.« (Hofmannsthal / Pannwitz, Briefwechsel
1907-1926,
S . 4 0 / f . ) Damit hat er allerdings nur jene Seite von Borchardts Persönlichkeit erfaßt, die das Größenselbst an einem direkten A u s d r u c k hindert und auch für die fragmentarische F o r m der Schriften verantwortlich ist. 27
Ein Lieblingswort Borchardts. In der >Anabasis< schreibt er: » U m mich unterzuordnen, wie ich es freiwillig Jahrelang im Weltkrieg, mein Lebenlang Hofmannsthal und in singulären Verhältnissen der Huldigung den höchsten menschlichen Symbolen gegenüber nicht nur gethan, sondern aus tiefem Bedürfnis gethan hatte, bedurfte es des Enthusiasmus, der in der Verleugnung des eigenen Selbst nur eine höhere sublimere F o r m der Freiheit findet, die unerschöpfliche Freiheit des Gebens.« ( D L A Marbach. A : Borchardt. Bi 10.)
28
Vergleiche Borchardts Reaktionen nach dem Erscheinen von Rudolf Kassners >LysisAltester Deutscher DichtungLügen< erkennt und voller Scham und Angst befürchtet, daß die >Betrügereien< auffliegen. Da sich die Gefühlszustände des Selbst abwechseln und auch vermischen, oszillieren die erzählten Geschichten häufig zwischen Wahrheit und Unwahrheit, werden Elemente der Fiktion mit Elementen der Realität amalgamiert, woraus das Zwitterwesen einer Mystifikation entsteht. Insgesamt ist die Realitätswahrnehmung und -darstellung egozentrisch: Das Ich setzt alle Daten der Außenwelt in eine affektive Verbindung mit sich, die kognitive Trennung zwischen Subjekt- und O b jektsphäre ist schwach ausgeprägt. Ein wichtiges Merkmal ist auch der Umgang mit der Sprache. Laut S. Bach benutzen narzißtische Persönlichkeiten die Sprache in einer autozentrischen, unkommunikativen Art und Weise, um ihr Selbstwertgefühl zu regulieren: »Es gebe eine auffälligen Bruch zwischen Worten und Perzepten und den Eindruck, daß die betroffene Person eher mit sich selbst spreche oder daß ihre Worte endlos kreisten. Ein Verlust an Flexibilität für Perspektiven führe zu einer Überabstrahierung, Konkretisierung oder zu einer Fluktuation zwischen diesen Extremen.« 36 Sie brillieren durch die Beherrschung der Sprache, die sie mit narzißtischer Libido besetzen. So haben sie ein autoerotisches Verhältnis zu den Worten, das auf andere faszinierend, aber auch >affektiertFlexibilität f ü r P e r s p e k t i v e n ausklammert, die bei Borchardt innerhalb der fixierten Grundstruktur (s. A n m . 33) sehr hoch ist, trifft diese Charakteristik auf seine Rhetorik zu. Vgl. Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, S. 281.
19
sehen Gleichgewichtes« und dergleichen mehr schilderten. 38 Kohut sieht in dieser Umwandlung von psychischen Kräften in die poetische Gestaltung von Kunstwerken einen Fortschritt, ermögliche sie doch eine »dauerhafte (sublimierende) Abfuhr für die narzißtischen Spannungen des Patienten, die vorher eine schwere Bedrohung für seine psychische Gesundheit waren und ihn wiederholt in gefährliche Zustände affektiven Ungleichgewichts gebracht hatten«. 39 Umgekehrt bemerkt er bei einem Schriftsteller, der als Patient zu ihm kam, daß dieser vor Beginn der Behandlung daran scheiterte, die Energien des grandiosen Selbst im Schreibprozeß zu >neutralisierenexhibitionistische Libido< direkter zwischen dem Selbst und dem >narzißtisch besetzten Werk< hin- und herfließen, als das in der Wissenschaft (im streng objektiven Verständnis) zugelassen wird. 4 ' Für Psychoanalytiker können diese begabten Personen zum therapeutischen Probem werden, wenn sie die Therapie lediglich zur Verfeinerung ihrer Selbstdarstellung und den Therapeuten als bloße Spiegelperson benutzen. Literatur- und Kunstwissenschaftler sind eher bereit, in narzißtischen Strukturen ein kreatives Potential sehen, etwa im Sinne von Heinrich Heines Versen »Krankheit ist wohl der letzte Grund / Des ganzen Schöpferdrangs gewesen; / Erschaffend konnte ich genesen, / Erschaffend wurde ich gesund.« aus
38 39 40
41
20
Kohut, Narzißmus, S . 3 6 1 . Ebd., S.364. Kohut, Die Heilung des Selbst, S. 1 »Im Bereich seiner schriftstellerischen Arbeit und es muß noch einmal betont werden, daß diese Arbeit eigentlich den größten Beitrag zur Stärkung seines erwachsenen Selbstwertgefühls hätte leisten können und das wichtigste Ventil für umgewandelte grandios-exhibitionistische narzißtische Spannungen durch Kreativität hätte darstellen sollen - führte der strukturelle Defekt, der durch das Mißlingen der mütterlichen Spiegelungsfunktionen verursacht worden war, zu Erfahrungen erschreckender und lähmender Uberstimulierung. Er besaß keine ausreichenden Strukturen, um die Grandiosität und den Exhibitionismus zu lindern und zu neutralisieren, die aktiviert wurden, wenn seine Phantasie mobilisiert wurde. Daher empfand er oft Spannung und Erregung, wenn er schrieb, und mußte dann entweder seine Phantasie unterdrücken - zum Schaden von Originalität und V i talität seines Produkts - oder überhaupt zu arbeiten aufhören.« Vgl Kohut, Narzißmus, S. 348.
den >SchöpfungsliedernZur Einführung des Narzißmus< zitiert.42 (Der junge Borchardt hat Heine als einen Seelenverwandten betrachtet und in einem Fragment gebliebenen Aufsatz aus dem Jahre 1906 das Psychodrama dieses Dichters zu beschreiben versucht 43 , eine Analogie, deren Stichhaltigkeit man in verschiedenen Phänomenbereichen überprüfen könnte.) Tatsächlich wird ja bei Dichtern und Künstlern immer wieder eine Verbindung zwischen ihrer narzißtischen Persönlichkeit und der ästhetischen Fähigkeit behauptet, eine Behauptung, die allerdings gewöhnlich auf einem alltagssprachlichen, nicht psychologisch fundierten und differenzierten Verständnis von Narzißmus beruht. Gegenüber beiden Positionen wäre zu zeigen - und dies soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel von Borchardt geschehen - , daß die Kreativität narzißtischer Dichter- und Künstlerpersönlichkeiten charakteristische Stärken und Schwächen besitzt und die von ihnen versuchte Selbststilisierung und Selbststabilisierung durch Kunst- und Kulturproduktion die Chancen des grandiosen Gelingens wie die Gefahren des desaströsen Scheiterns birgt.44
2.2.
Das Trauma der Kindheit und Jugend
Rudolf Borchardt wurde am 9. Juni 1877 in Königsberg als zweites Kind und ältester Sohn des Kaufmanns und späteren Bankiers Robert Martin Borchardt und seiner Frau Rosalie (»Rose«) Bernstein geboren. Wenige Wochen nach der Geburt sollen Mutter und Kind nach Moskau zurückgekehrt sein, wo die ursprünglich aus Königsberg stammende Familie seit längerem ansässig war. 1882 zogen die Borchardts nach Berlin um. Standesgemäß wohnten sie im Neuen Westen, genauer am Kronprinzenufer 5 - heute steht an dieser Stelle das Bundeskanzleramt. Rudolf hatte sechs Geschwister: Else (geb. 1876), Philipp (geb. 42
Sigmund Freud: Studienausgabe. B d . III: Psychologie des Unbcwußten. H g . v. A l e x -
43
Vgl. das 1906 entstandene und erst jetzt veröffentlichte Fragment >Versuch über H e i -
44
Werner Strodthoff (Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus. Bonn 1976),
ander Mitscherlich, Angela Richards u . J a m e s Strachey. Frankfurt a.M. 1 9 7 5 , S. 52. nes in: A k z e n t e 49/2 (2002), S. 1 5 0 - 1 5 2 , bes. S. i 5 o f . der einen vergleichsweise präzisen Begriff des Narzißmus auf G e o r g e anwendet » D e r Begriff >Narzißmus< ist von hier aus weiter gefaßt für alle jene Eigenschaften und Tendenzen Georges, mit denen er das eigene Ich zum Zentrum macht, mit denen er sich auch sich selbst gegenüber zurechtstilisiert, sich unabhängig zu machen glaubt von seiner U m w e l t , sich seine Dichtung als eigenentworfenen, zeitüberhobenen R a u m schafft und mit verschiedenen Gestalten anreichert, die, jede für sich, die eigenen Wünsche und Träume als Möglichkeiten erscheinen lassen« (S. 1 8 3 ) - , betont die tragischen Konsequenzen des narzißtischen A u t o n o m i e - W u n s c h e s in der Dichtung: »Dieser A n s p r u c h aber muß verhängnisvoll werden; in der engagierten A b k e h r v o m >alltäglichen< Leben, in den >hohen< und dünnen Sphären des >schönenLebensauch w o keiner es ahntVersagen< wird in der Autobiographie durch Todschweigen vergolten. Denn bloß ein einziges Mal, an der soeben zitierten Stelle, wird Rose Borchardt in der Autobiographie als Individuum genannt, was natürlich alles andere als der von Werner Kraft vermutete »Zufall« 5 2 ist. Bor-
50
Prosa VI, S. i 2 i . Ebd., S. 122. Eine ähnliche Schilderung findet sich in Walter Benjamins >Berliner Kindheit um neunzehnhundert< (Fassung 1932/33), nur daß dort die Mutter dem Kind gute Nacht sagt, bevor sie in die Gesellschaft entschwindet. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhausen Frankfurt a.M. ly/iff., hier: Bd. IV, S. 264-266. Vgl. aber auch Benjamins Vorwurf, als Kind nicht genügend Liebe von seiner Mutter bekommen zu haben, im nicht abgeschickten Brief an Gert und Egon Wissing vom 27.7. 1932 (zit. in: Willem van Reijen / Herman van Doorn: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Frankfurt a.M. 2001, S. 14). >2 Kraft, Rudolf Borchardt, S. 15. !I
23
chardt hat sie mitsamt ihrem ganzen Familienzweig, den Lepkes und Bernsteins, abgespalten und getilgt, eine vielsagende Geste des stummen Hasses und ein öffentlicher Akt der verborgenen Rache, der noch zu ihren Lebzeiten erfolgt. Übrigens ist sie auch von den Geschwistern Philipp und Vera als eine uneinfühlsame Mutter und überhaupt als eine seelen- und geistlose Person geschildert worden, die sich nur für die Mode und das Divertissement interessiert habe.53 Allerdings ist zu bedenken, daß sie in schneller Folge sieben Kinder bekam, womit ihre bereits durch die Gesellschaftsfunktion der Repräsentation eingeschränkte Fähigkeit zu empathischem Familienverhalten weiter beeinträchtigt wurde. Auch sah sie wie viele Frauen der Zeit ihre eigentliche Aufgabe darin, den Mann gegen alles Unangenehme abzuschirmen, das seinen Zorn hätte erregen können. Welche Gründe auch immer den Ausschlag gegeben haben mögen, Borchardt hat ihr jedenfalls schon in dem autobiographischen Gedicht >Wannsee< von 1 9 1 1 , das sich zwischen Konfession und Mystifikation bewegt, die Mütterlichkeit abgesprochen. Dort stehen die an das Neue Testament (Mat. 7, 9) und die >Elektra< des Sophokles (Motiv des Vater-, Mutter- und Kindermordes!) anklingenden Verse »da sonst für Brot / nur Stein um Stein in meine Hände stieß, / Was anderen Mutter war und mir so hieß«,54 die sich nicht, wie Kraft glauben wollte," auf die deutsche Nation beziehen, auch wenn das Verhältnis des Erwachsenen zu Deutschland nach dem Muster des Mutter-Bildes strukturiert ist.' 6 Die Metapher trifft den Mangel an >narzißtischer Nahrung< (Kohut 57 ), aus dem sich die Persönlichkeitsstörung entwickelt. Der Vater, der unbeschränkt über die Familie herrschte, hat diesen Mangel nicht ausgleichen können. Die Autobiographie, die eine indirekte Wiederannäherung und posthume Liebeserklärung an den Vater 1st.58 zeichnet das Porträt einer gespaltenen Persönlichkeit, die ihre weichen und zarten, offenen und frei53
54
55
5< 57 58
2
4
Die als Typoskript überlieferten Lebenserinnerungen von Philipp Borchardt und Vera Rosenberg, geb. Borchardt, befinden sich im Familienbesitz. Eine Publikation von Auszügen in der Schriftenreihe der Rudolf Borchardt-Gesellschaft ist geplant. Ich danke für das Recht, auf sie gelegentlich verweisen zu dürfen. Gedichte, S. 227. Die Elektra des Sophokles spricht bei ihrem ersten Auftritt zum Chor: »Und seh - das Äußerste von alledem an Frechheit! / Den eigenhändigen Mörder uns im Bett des Vaters / Mit der elenden Mutter - wenn denn >Mutter< / Man die soll nennen, die mit dem zusammenschläft!« (V. 271-274). Und in der Wiedererkennungsszene mit Orest ruft sie aus: »Mutter heißt sie! Doch einer Mutter handelt sie nicht gleich« (V. 1194). Zit. nach: Sophokles: Elektra. Übersetzung u. Nachwort v. Wolfgang Schadewaldt. Stuttgart 1969, S. 14 u. S. 54. Kraft, Rudolf Borchardt, S. 45: »[S]o ist es ganz unmöglich, daß er in diesem Verse seine lebende Mutter gemeint hätte [...]. Man braucht es auch darum nicht anzunehmen, weil sich mühelos die Deutung einstellt, daß, was ihm nur Mutter hieß, eben: Deutschland gewesen ist.« Vgl. dazu S. 80 dieses Buches. Vgl. Kohut, Narzißmus, S. 329. Vgl. S. 398-401 dieses Buches.
en Eigenschaften unter dem Druck der Berufsgeschäfte und Zeitumstände »verdrängt« - wie Borchardt selbst mit dem »Modewort« der Psychoanalyse sagt - und durch die gegenteiligen Züge eines modernen »Herrenmenschen« ersetzt h a t . " Das Schicksal des Vaters, den die Kinder als einen »groß aufgebauten, dröhnend schreitenden, dröhnend sprechenden, tiefernsten, ja bitterstrengen« 6 0 Mann fürchten und zugleich bewundern, 61 sei gewesen, daß er »einen Menschen in sich abgetötet und einen neuen erzwungen hatte, - halb abgetötet und halb erzwungen, wie das zu gehen pflegt, und daß aus dieser gewaltsamen Selbstbehandlung eine disharmonische Natur hervorgegangen war, halb eine dramatische, aus der herrschenden und der erstickten Stimme gebildet, halb eine durchaus gewalttätige, da die Vergewaltigung des eigenen Ich naturgemäß nicht an der eigenen Grenze stehenbleibt, sondern über sie hinaus mit allen natürlichen Faktoren die sie auf ihrem Wege findet weiter anbinden muß, um sich in eine Art unharmonische Harmonie mit ihnen zu setzen«. 62 Der junge Borchardt wünscht vergeblich einen Vater, der sich - anstelle der Mutter - liebevoll über das Bett des Kindes beugt und später stolzerfüllt den Weg des Jugendlichen begleitet, bis dieser als Mann gleichberechtigt neben ihm stehen kann. 63 Und tatsächlich muß es kurze Augenblicke gegeben haben, in denen der Vater die Maske der Strenge und Härte fallen und Liebe und Stolz durchblicken ließ. Noch der Schreiber der Autobiographie, der bekennt, er habe sein Leben lang im widersätzlichsten Kampf gegen den Vater gestanden und nichts getan »außer darum weil er wollte daß ich das Gegenteil täte und würde«, 6 4 versucht sich mit ihm zu identifizieren und - gegen die Mutter - zu verbünden, ein Akt nachgetragener Liebe. In der psychoanalytischen Literatur findet sich der Hinweis, daß narzißtische Persönlichkeiten häufig die erstgeborenen in der Reihe von mehreren, in kurzen Abständen aufeinander folgenden Geschwistern sind. 6 ' Das dürfte vor allem damit zu erklären sein, daß einerseits auf den Erstgeborenen besondere Erwartungen der Eltern liegen, andererseits die ihnen zukommende Aufmerksamkeit nach der Geburt von Geschwistern geringer wird. Nun ist Borchardt zwar nicht das erste Kind, aber doch der älteste Sohn, mithin der Stammhalter der Familie. Wie in früheren Briefen, 66 so ist auch in der Autobiographie sein
59 60 61 62 65
65
66
Prosa VI, S.94. Ebd., S.69. Vgl. ebd., S. 9 6f. Ebd., S.93. Vgl. ebd., S. 92. Ebd., S.93. Vgl. Akhtar, Deskriptive Merkmale und Differentialdiagnose der narzißtischen Störung, S.24; Kohut, Narzißmus, S. 138, S.282 u. S.289. Brief an Friedrich Wolters vom 1 7 . 1 0 . 1906: »Es ist zwar immer noch, so lange ich in der Heimat die Stelle die mir zukommt nicht einnehmen kann, Exil die einzige mögli-
25
Gefühl artikuliert, als ältester Sohn nicht angemessen behandelt zu werden, verknüpft mit dem Neid auf die von der Mutter herausgeputzten Schwestern: »Die Schwestern waren als Mädchen zierlich und frisch gekleidet und gehalten, auf mich meinte ich würde nichts verwandt, und ich haßte meine verwaschenen und lieblos eben gerade aufs Passende und Unzerlöcherte hergerichteten Anzüge. Vor Trotz und zorniger Kränkung weinend, die Fäuste in die Augen gepreßt, sehe ich mich aus dem dunklen Hausgange widerstrebend von einer lachenden und strafenden Erzieherin ins Freie gezerrt und grollend phantastische Rachepläne brütend neben den anderen das Pflaster stampfend [.,.].« 67 Besonders die älteste Tochter Else, die von Philipp und Vera als Ebenbild der Mutter geschildert wird, ist wohl bevorzugt worden. Die Eltern scheinen aber doch die besonderen Talente ihres Sohnes im gesellschaftlichen Rahmen herausgestellt und sich selbst mit seinem Erfolg beim Publikum geschmückt zu haben. Borchardt erinnert sich, daß er schon früh dazu aufgefordert worden sei, Gedichte vor Verwandten und Bekannten zu deklamieren, womit er Rührung und Bewunderung geerntet habe;68 vor allem der in der Freizeit passioniert lesende und amateurhaft dichtende Vater wird diese Darbietungen des Sohnes initiiert und honoriert haben. Freilich erinnert sich Bochardt auch an die Ohrfeige, die er von seiner Großmutter Emilie während einer Kutschfahrt durch den Tiergarten erhielt, als er mit >kindischer Selbstgefälligkeit< bemerkte, sie habe sich letztlich so darüber gefreut, daß er eine poetische Neigung zur Natur verspüre.
che DaseinsForm für mich und wird es fürs erste bleiben. Aber es ist mir und mächtigen Fürsprechern gelungen, meiner Familie deutlicher als bisher zu machen, was einem ältesten Sohne wie mir zusteht. Als Ergebnis dieser Verhandlungen, zu deren Erfolge die unerwartet grosse Wirkung des Joram viel beigetragen hat, hat sich ein Ubereinkommen lassen, das endlich ein quälendes Missverhältnis zwischen meiner Art und meinen Grenzen aufhebt, und mich für immer in Stand setzt, herrschaftlich zu existieren.« (Briefe 1895-1906, S. 43 jf.) Die von der Familie gewährte Unterstützung für das >herrschaftliche< Leben in Italien, mit dem Borchardt im folgenden prahlt, wurde nach dem Tod des Vaters verringert. Vgl. dazu die Briefe der Jahre 1 9 1 0 / 1 1 , in denen Borchardt gegenüber seiner Mutter den Anspruch auf das ihm zustehende Erbteil anmeldet und dabei auf seine besondere Stellung in der Familie hinweist, der er auch als einziger einen Namen in der Kultur gemacht habe. Vgl. bes. Brief an Rose Borchardt vom 30.1. 1 9 1 1 , in: Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. 3 3 3 - 3 5 1 . Der Brief endet mit den Worten: »Stärkeren Familiensinn als ich, ein herzlicheres Gemeinschafts und Zusammenhangsgefühl, ein thätigeres Interesse am Leben jedes Angehörigen hat wie Du sehr wol weisst keins Deiner Kinder. Aber Wunden die mich an dieser Stelle treffen, der einzigen weichgebliebenen an meinem hartgewordenen Leibe, sind unheilbar, wenn nicht zu einer schleunigen Amputation geschritten wird von der es heisst >reiss es aus und wirf es von Dirberühmte Kinder< und darin stand er neben dem Kardinal Mezzofanti, der alle Sprachen der E r de als Kind zu lernen begonnen hatte. [...] Das Kind das statt mit seines Gleichen mit sich selber spielt und seine stummen Umgebungen zu seinen Gespielen und Dienern belebt, das gleichzeitig keinen Altern neben sich hat, vielmehr diesen, da es ihn nicht entbehren kann, aus sich selber supplieren muß, verwandelt sich w o l oder übel in einen kleinen Demiurgen, mit dem die Welt neu anhebt. E t w a s von diesem dumpfen Gefühle weiß ich noch in mir lebendig wenn ich mir die Reden zu vergegenwärtigen suche, mit denen ich in jenen halbverschatteten Räumen mir selber in zehnerlei Rollen Ratschläge gab, Trost zusprach, A u f g a b e n stellte, Sprachen beizubringen versuchte und was derlei mehr ist: indes ich gleichwol ich selber blieb, und den mineralisch bunten Stieglitz an der schwarzen Ebenholztür und den Meißner Papageien im durchbrochenen Porzellankäfig nah zu einander bringend beiden aufs kindisch zutraulichste die Freiheit versprach sobald nur auch mir, der ich gefangen und versteinert und geflügelt sei wie sie, das T o r der Verzauberung sich aufgetan hätte und die Freiheit sich erschlossen. 7 7
Dieser Selbstanalyse muß nichts hinzugefügt werden. Ausdrücklich bezeichnet Borchardt die damaligen Phantasiespiele als Urszene des späteren Dichtertums: »Zum ersten Male im Leben erfuhr ich an mir die Notwendigkeit, dasjenige was mir widerfahren wollte, in einen Zusammenhang mit mir selber zu bringen, unwiderstehlich. Alles in mir war in eine Tätigkeit besonderer Art versetzt, spann, verband, verwandelte, schaltete aus, belebte, übersah.« 78 Das ist eine Vorausdeutung auf die dichterische Berufung zur schöpferischen Restauration»Tausendundeine Nacht«Brief an den Verlegen (ebd., S. 2of.) teilt er mit, er habe sich oft mit einem Jüngling verglichen, der weit entfernt von seiner zahlreichen Familie vereinsamenden Gedanken nachhänge, und schildert danach in der Art einer »Novelle« die Vernichtungsphantasie, daß bei einem großen Fest, an dem er selbst nicht habe teilnehmen können oder wollen, die ganze Sippe mit einem Schlag in den Untergang gerissen worden sei. Ebd., S . 1 5 3 . Ebd., S.108. 2
9
Die beiden Szenen veranschaulichen das positive und das negative Potential seiner narzißtischen Phantasie, die Kraft der Belebung und die Kraft der Zerstörung: »Hier war meine Liebe, dort begann ich, fast ohne das Wort zu kennen, zu hassen, weil ich mich schämte fürchten zu müssen.« 84 Wichtig ist eine weitere Bestimmung, die für die eine wie die andere Seite gilt. Borchardt braucht vorstrukturierte Objekte, die er konstruktiv oder destruktiv verwandeln kann. Im Zusammenhang mit dem Zeichenunterricht der Kindheit berichtet der Erzähler, ihm sei vorgeworfen worden, daß er sich auf das detailgenaue »Illuminieren fertiger Bilder und Umrisse« beschränke, statt frei zu zeichnen und locker zu aquarellieren; und er merkt dazu an: »Jene besondere Art kindlicher Phantasie, die einem Ausdrucksbedürfnisse an sich, wenn es auch nur einen einzigen vorschwebenden Zug energisch durchsetzt, alles Vollendete aus sich selber leiht, war nicht die meine.« 8 ' Tatsächlich ist es ein Charakteristikum seiner gesamten Schriftstellerei, daß er ohne Vorlagen nicht arbeiten kann. So wie er als Dichter und Ubersetzer auf die Tradition angewiesen ist, so benötigt er als Kulturkritiker und Kulturpolitiker die Geschichte. Das >Ich< konsumiert gewissermaßen die vorgefundenen Materialien und transformiert sie in eigene Produkte. Auf diese Weise wird einerseits das Bedürfnis nach Selbstbetätigung und Selbstbestätigung gestillt, andererseits das ständig vom Gefühl der inneren Leere und Labilität bedrohte >Ich< durch die äußere >Welt< erfüllt und gehalten. Das Subjekt kommt ohne die Objekte nicht aus, auch wenn diese fortgesetzt umgewandelt und entwertet werden. Borchardts besondere Neigung und Befähigung zum kulturgeschichtlichen Essay, der bereits gestaltetes Material reflexiv und projektiv umformt, entspringt aus der narzißtischen Art seiner Phantasie. Umgekehrt läßt sich daraus auch das Unvermögen erklären, eigenständige Figuren zu erfinden und plastisch auszubilden, das in den Dramen und Erzählungen am deutlichsten hervortritt. Diese Überlegungen sollen an anderer Stelle weitergeführt werden. 86 In diesem Abschnitt reicht es, wenn durch die bisherige Lektüre der Autobiographie nicht nur die Genese von Borchardts narzißtischer Persönlichkeit, sondern auch der Charakter und die Funktion der phantasmagorischen Produktion evident geworden sein sollten. Die Erinnerungen an die Schulsituation im Französischen Gymnasium bringen strukturell nichts Neues mehr. B o r chardt erzählt, daß er weder mit dem Unterrichtstil der Lehrer, die auf die Bedürfnisse sensibler Kinder keine Rücksicht nahmen, noch mit dem Sozialverhalten der aus Aufsteiger-Familien stammenden Mitschüler zurechtkam. Diese 84
Ebd., S . 1 6 0 .
85
Ebd., S . 1 4 1 .
86
Vgl. den Abschnitt zu Borchardts Inszenierung der Kulturgeschichte< (bes. S. 5 8 - 7 9 dieser Einleitung). D e r eigentlich geplante Abschnitt zu seinem Stil des essayistischen Schreibens entfällt, soll aber demnächst durch einen eigenen A u f s a t z ersetzt werden (vgl. A n m . 2 3 7 auf S.79).
3°
hätten sich mit ihrer Gewitzheit in den Vordergrund gespielt, während er in seinen Leistungen immer mehr nachgelassen habe und schließlich in die hintersten Reihen der Klasse abgerutscht sei: »Entsetzt, enttäuscht, außer sich bis zum Wütenden, sahen die Erwachsenen dieser kläglichen Niederlage zu, während ich selber in dem Gefühle, von lauter Feinden umgeben zu sein, mich hilflos und kindlich verstockte.« 87 Schließlich habe er die Quarta-Versetzung nicht geschafft und sei vom Französischen Gymnasium genommen worden. Interessanterweise gibt es aus dem Familienkreis der Borchardts eine andere Version der Schulgeschichte. Die Schwester Vera erzählt in ihren 1941 geschriebenen Lebenserinnerungen: Seine Laufbahn im franz. Gymnasium hat wohl wenig mehr als ein Jahr gedauert. Ich selbst war damals etwa drei Jahre alt und weiss über die Vergänge dieser Jahre natürlich nur aus Familienlegenden zu berichten. Es scheint, dass Eltern und Schule vor Allem an seinem Hang zum >Fabulieren< Anstoss nahmen. Man ist heute in Bezug auf Kinderpsychologie klüger und infolgedessen nachsichtiger gegen ein phantasiebegabtes Kind und würde die Tatsache, dass ein achtjähriger Knabe seinen Kameraden erzählt, der König von Siam habe seinem Onkel ein goldenes Lineal geschenkt, nicht als Beweis moralischer Verworfenheit betrachten. Diese schreckliche Moritat war nach der Familienüberlieferung der Grund für Rudolfs Entfernung aus der Schule und damit aus dem Elternhaus. 88
Zu der Legende paßt, daß in der Autobiographie der Neid des Kindes auf Mitschüler durchscheint, die mit der Üppigkeit ihrer Elternhäuser prahlten.89 Was auch immer den Ausschlag gegeben haben mag, das furchtbare Ende der Schulgeschichte war jedenfalls, daß Borchardt von seinen Eltern in die pädagogische Provinz< nach Marienburg und später Wesel abgeschoben wurde. Der letzte Satz der Autobiographie, der den Kreis zum ersten schließt, teilt mit, wie Borchardt auf diese >Opferung< und >Entwürdigungfreien Schulen< zum Sammelbecken von gescheiterten Gymnasiasten aus dem Großbürgertum geworden. Borchardt sagt also mit Recht, daß er kein Ausnahmefall gewesen sei. Und er ist ja auch bei weitem nicht der einzige, der entsprechende Kindheits- und Jugenderfahrungen literarisch und historisch beschrieben hat. Bereits vor der Jahrhundertwende melden sich in den kulturellen Diskussionen die Vertreter der >Jugend< zu Wort, die auf die seelischen Verletzungen ihrer Generation in der als >Ubergang< begriffenen Zeit nach der Reichsgründung hinweisen. Das te. Bd. 4: 1 8 7 0 - 1 9 1 4 . V o n der Reichsgründung bis z u m E n d e des Ersten Weltkrieges. München 1 9 9 1 . Vgl. ferner: Ulrich Herrmann / Susanne Renftle / L u t z Roth (Hg.): Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie. München 1986. 94
V g l . Prosa V I , S . 1 0 8 - 1 1 8 .
95
Vgl. dazu den von James C . Albisetti und Peter Lundgreen verfaßten Abschnitt » H ö here Knabenschulen« in: Berg, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, S. 2 2 8 278. Vgl. bes. ebd., S. 2 7 2 , die Tabelle der »Berechtigungen niederen Grades«, die für bestimmte Berufskarrieren nötig waren.
33
Lebensgefühl, einer >zerrissenen Generation< anzugehören, die ihre seelische Gesundheit in einer neuen geistigen Identität finden muß, ist ein Topos der damaligen Kulturkritik. Retrospektiv wird es in den Autobiographien und Memoiren geschildert, die vermehrt seit den zwanziger Jahren erscheinen. Wenn man Walter Benjamin anführt, dessen Anfang der dreißiger Jahre begonnene Prosasammlung >Berliner Kindheit um neunzehnhundert< der Bilder habhaft zu werden sucht, in denen »die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt«,' 6 so ist allerdings zu bedenken, daß er sowohl vom Jahrgang als auch vom Kulturbewußtsein her schon zur nächsten Generation zählt. Die Frage drängt sich auf, ob die ähnliche Sozialisation von >Kindern der Bürgerklasse< auch zu einer signifikanten Häufung von narzißtischen Charakteren in Borchardts Generation geführt hat. Eine Antwort, die besser begründet wäre als die von Breuer in den Raum gestellte Generalthese zum ästhetischen FundamentalismusBrief an den Verleger< von 1906 und noch einmal im sogenannten >Eranos-Brief< von 1924 beschrieben, wobei auch dargestellt wird, wie er das eigene >Bildungsproblem< stellvertretend für die junge Generation löst. Da der >Brief an den Verleg e r im ersten Kapitel dieser Arbeit ausführlich interpretiert wird, beschränke ich mich hier auf eine knappe Zusammenfassung und kurze Kommentierung des Werdegangs; dennoch wird es zu gewissen Redundanzen kommen. Nach Borchardts Schilderung hat er das Gefühl der Einsamkeit, das ihn in der Marienburger und Weseler Gymnasialzeit nicht verließ, durch den Willen zu einer weit über die Normalität hinausgehenden Bildung zu kompensieren versucht. Das gelang ihm unter der Obhut von Friedrich Witte, eines promovierten Altphilologen, offenbar besser als auf dem Französischen Gymnasium. Daß er sich nach dem mit Auszeichnung bestandenen Abitur für das Studium der Altphilologie entschied, dürfte nicht nur mit dem Vorbild des Lehrers zu tun gehabt haben, sondern auch mit dem Wunsch, der Gemeinschaft jenes Faches anzugehören, das damals noch immer das höchste Renommee in der Ö f fentlichkeit genoß. Auf geradezu ideale Weise schien es die elitäre Geltung mit einer fast familiären Organisation zu verbinden. 97 In dem angestrebten Amt des Universitätsprofessors sah Borchardt die Möglichkeit, sich vom Vater, der ein Brotstudium wünschte, zu emanzipieren und ihm andererseits auch wieder zu imponieren. Rudolf, der sein Studium auf Geheiß des Vaters in Berlin (1895/96) beginnen mußte, aber nach einem Jahr der Bewährung nach Bonn (1896-1898) wechseln durfte, glückte es auch rasch, das Interesse der Hochschullehrer zu wecken und ins Seminar aufgenommen zu werden. Ubertreibungen nicht scheuend, meldete er seine Erfolge nach Hause.' 8 Trotzdem konnte ihn die Wissenschaft auf Dauer nicht befriedigen. Im Sommersemester 1898 verließ er Bonn, ohne sich von irgendwem zu verabschieden, und verschwand für einige Monate nach Italien. Mit dem Wintersemester 1898/99 nahm er das Studium in Göttingen wie97
98
Vgl. dazu Thomas Poiss: Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo). In: Osterkamp, Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, S. 56-72, hier: S. 58. Z u Borchardt als »dankbarem Sohn der deutschen Universität« vgl. S . 4 1 4 - 4 3 3 dieses Buches. So schreibt er am 2 7 . 1 1 . 1898 an Vera Borchardt: »Von der art und weise wie ich mein leben aufbaue hast du w o l durch die briefe an die eitern hin und wieder etwas gehört.« (Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , 5 . 4 3 . ) U n d zwei Jahre später, am 1 1 . 1 0 . 1 9 0 0 , wieder an die Schwester: »Alle Erfolge, alle grosse Meinung und Schätzung in der ich stehe, alle Leistungen die ich aufzuweisen haben werde, werden mir das eine nie ersetzen können, was ich bitterlich vermisse, Heimat, Liebe.« (ebd., S. 1 1 0 . ) Ausführlicher zit. auf S. 430 dieses Buches.
35
der auf, um bei dem bekannten Latinisten Friedrich Leo zu promovieren. Die Göttinger Zeit, während der Rudolf fast wie ein Sohn im Hause der mit den Borchardts verwandten Leos verkehrte, endete jedoch mit einem moralischen und akademischen Desaster, dessen Hintergründe bis heute nicht geklärt sind." Nach wilden Liebes- und Duellgeschichten, einem Nervenzusammenbruch und einem Sanatoriumsaufenthalt in Bad Nassau setzte Borchardt die Arbeit an der grandios entworfenen Dissertation, von der vermutlich kein zusammenhängendes Stück niedergeschrieben war, 100 nicht fort und kehrte auch nicht mehr nach Göttingen zurück. Zum Jahreswechsel 1901/02 teilte er dem Vater mit, daß er sein Studium nicht beenden wolle, und flüchtete aus dem Elternhaus nach Wien, w o er einige Wochen mit Hugo von Hofmannsthal umging und auch Richard Beer-Hoffmann, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Rudolf Kassner traf. In den nächsten Jahren führte er ein unruhiges Wanderleben, hauptsächlich in Italien und der Schweiz, bis er sich 1906 dauerhaft in Lucca niederließ. Insgesamt bildeten die Jahre zwischen 1898 und 1906 die Zeit einer Identitätskrise, die aber zu einem auf höherer Stufe integrierten Selbstbild führte. Als Grund für den Abbruch der Universitätskarriere gibt Borchardt sowohl im >Brief an den Verleger< als auch im >Eranos-Brief< an, daß die von ihm angestrebte, alle Kulturtraditionen der europäischen Menschheit umfassende Bildung in dem Wissenschaftsbetrieb der modernen Universität nicht mehr zu erlangen war. Diese Unzufriedenheit über die Entwicklung der Universität teilte 99
100
36
Die einzige öffentlich zugängliche Informationsquelle ist weiterhin der am 10.5. 1902 geschriebene Brief von Friedrich Leo, der Borchardt bei Hofmannsthal nicht mehr erreichte (vgl. Briefe 1895-1906, S. 193-201). Die erwähnten Lebenserinnerungen von Philipp Borchardt und Vera Rosenberg enthalten Informationen zum Aufenthalt Rudolfs in einem Göttinger Krankenhaus, zum Abbruch der Dissertation und zur Flucht aus dem Elternhaus. Das von Philipp erwähnte Gutachten des Göttinger Psychiaters Cramer hat sich ebenso wenig erhalten wie die Kurakte in Bad Nassau. Um die Dissertation, deren Thema über die Jahre mindestens dreimal gewechselt hat, ranken sich Legenden. Im Göttinger Seminar soll Borchardt einmal zwei Stunden über ihren Gegenstand extemporiert haben. Aus dem Brief von Leo, der >Druckbogen< erwähnt, hat man geschlossen, daß es dabei um die Dissertation gehandelt haben muß. Nach der Auskunft von Ulrich Ott, dem Mitherausgeber der >Gesammelten Werkes könnte sich diese Erwähnung aber auch auf eine von Arnim betreute Edition beziehen, an der Borchardt vielleicht als Mitarbeiter beteiligt war. - Als Philipp Borchardt seinen im Krankenhaus liegenden Bruder besuchte, stöberte er im Auftrage von Friedrich Leo, der die Arbeit fast beendet glaubte, nach dem Manuskript, fand aber keine Aufzeichnungen. Sein Bruder habe ihm auf Rückfrage mitgeteilt, es läge gar nichts Schriftliches vor; bei den häufigen Besprechungen mit Leo hätte er von leeren Blättern abgelesen. Vera Rosenberg berichtet, es sei bloß ein Sack mit Zetteln vorhanden gewesen. - Sicher ist nur, daß Borchardt sich in den Briefen des Jahres 1902 als Doktor ausgab; die lateinisch geschriebene Kurzbiographie >Rudolfi Borchardt Vita< (um 1902) enthält die Lüge: »1902 Schloß er in Halle seine Dissertation ab und wird zum Doktor der Philosophie promoviert.« (Prosa VI, S. 553.)
er mit zahlreichen Angehörigen seiner Generation, bei denen die Kritik am Historismus und am Positivismus sich häufig mit der Frustration über die Verschlechterung der Berufssituation und des Sozialstatus durch die akademische >Uberfüllungskrise< verband. In seinem Fall dürfte die Diskrepanz zwischen dem unverminderten Bedürfnis, sich als Demiurg aufzuführen, und der Aussicht, immer mehr zum Spezialisten zu werden, entscheidend gewesen sein. 101 Das im >Brief an den Verlegen beschriebene Gefühl des Jugendlichen, ein »königlicher Erbe< zu sein, dem »ohne sein Zutun eine Minute tausend abgerissene Fäden von tausend Lebenswebstühlen in die Hände spielt auf daß er allein das Gewebe gestalte«, 102 ließ sich im arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb nicht aufrechterhalten. Wenn man so will, kollidierte hier eine individuelle Bedürfnisstruktur mit einer institutionellen Versagungsstruktur. Die Strategie, seine geistige Identität durch humanistische Bildung und akademische Anerkennung zu stabilisieren, erwies sich als Fehlschlag. Der >Brief an den Verleger« läßt durchblicken, daß ihn die Aufgabe des akademischen Lebensplans an den Rand der psychischen »Dekomposition« brachte.Die Enttäuschung über das Versagen der Universität sei deshalb so verstörend gewesen, weil sie die Empfindung der Heimatlosigkeit intensiviert habe. Man kann nicht stark genug hervorheben, daß der im Text mehrfach variierte Schlüsselbegriff »Heimatlosigkeit« (»Denn meine Art ist die des Heimatlosen«), 103 der die alten Gefühle der Vereinsamung in sich aufnimmt, zugleich eine entscheidende Transposition und Transformation in Borchardts Selbstbewußtsein anzeigt, durch die er schrittweise der Identitätskrise entkommt. Mit ihm wird nämlich das individuelle Trauma, für das der Jugendliche allein die familiäre Situation verantwortlich gemacht hatte, auf kulturhistorische Prozesse bezogen und in eine nationale Dimension verlagert. Er habe in der Krisenzeit, so sagt Borchardt rückblickend, den Zusammenhang seines persönlichen Leids ICI
102 105
Die Briefe aus der Bonner und der Göttinger Zeit lassen die Spannung zwischen narzißtischen Größenphantasien und wissenschaftlicher Selbstdisziplinierung erkennen. Als Borchardt den Plan der Dissertation umzusetzen versucht, verkämpft er sich an vielen Fronten und verliert den Zusammenhang. A m 1 8 . 1 1 . 1901 schreibt er an O t t o Deneke: »Meine Papiere sind, in einem attristierenden Zustande von Unordnung und Zusammenhangslosigkeit angekommen, ich habe zuerst versucht, die Lücken durch erneute Durcharbeitung des Materiales aufzufüllen, bin aber jedesmal wenn ich mit diesen Unglücksdingen gekämpft habe, in ein G e f ü h l des Wundgerungenseins hineingekommen, das schlimmer w a r als andere was ich auszuhalten hatte. So habe ich mich k u r z resolviert, aus diesem Rattenkönig von Problemen ein kleines herauszuschneiden, das ganz exakte saubere Arbeit zulässt und eine ambitionslose kleine Dissertation zu werden verspricht. Es werden wieder Zeiten kommen, die mir den L u x u s wissenschaftlichen Ehrgeizes gestatten.« (Briefe 1 8 9 5 - 1 9 0 6 , S. iÖ4f.) F ü r Borchardts Ehrgeiz, den er nicht aufgeben konnte, w a r die spezialisierte Wissenschaft schlicht die falsche F o r m . Prosa V I , S . 2 1 . Ebd., S.24.
37
mit den sozialen und kulturellen Traditionsbrüchen in der deutschen Gesellschaft erkannt und eingesehen, daß die Heimat- und Identitätslosigkeit ein allgemeines Problem der jungen, nach der Reichsgründung geborenen Generation sei. 104 Bezeichnend ist, daß er auf diese Erkenntnis zunächst mit »Schrekken, Verzweiflung, selbst Haß« reagierte: »Ich war noch eitel genug auf mein einsames und distinguiertes Unglück nicht verzichten zu wollen.« 105 Dann habe er sich jedoch durch die Erkenntnis entlastet, ja gerettet gefühlt: Denn was ich eigentlich habe sagen wollen ist dies: Daß zwischen jener Zeit, in der ich mir eines einzigartigen Schicksals bewußt zu sein glaubte, und zwischen dem heut, da mich mein wahres Abseits beseligt und bereichert, Jahre liegen, in denen ich mich nur dadurch rettete daß ich meine Angelegenheiten als die Allgemeinen empfinden durfte, Zeiten in denen ich es empfand daß das Geschehen innerhalb der Nation ihrem einzelnen Kinde einen neuen Begriff seiner Ursprünge und seines Weges mitgeteilt hatte
Wie aus dem Zitat hervorgeht, entwirft Borchardt im >Brief an den Verleger< ein Drei-Phasen-Modell der eigenen Bewußtseinsentwicklung zwischen 1895 und 1906. Die erste Phase der >kindischen< Eitel- und Einsamkeit im Studium ist bereits dargestellt worden. In der zweiten Phase schließt er sich der jungen Generation an, die sich als kollektives Opfer der Wilhelminischen Kulturkrise begreift und ihre gemeinsame Rettung in der Reformierung der deutschen Kunst sucht. Konsequenterweise wechselt der Ich-Erzähler des >Briefes< an dem Punkt, an dem er auf den Asthetizismus zu sprechen kommt, in die Wir-Form über. In diesem Zusammenhang ist an seine 1898 beginnende >seelische Verwandlung< durch Stefan George und Hugo von Hofmannsthal zu denken, 107 die drei Jahre später ihren öffentlichen Ausdruck in der Publikation von Gedichten in der Zeitschrift >Die Insel< findet. Dabei bleibt es jedoch nicht. In der dritten Phase sieht Borchardt allmählich ein, daß der Asthetizismus der Jahrhundertwende unfähig ist, die tief in der Geschichte angelegten und das ganze Leben der deutschen Kultur-Nation durchziehenden Brüche zu heilen. Die frühesten Signale einer Distanzierung finden sich in der 1902 gehaltenen >Rede 104
,os 106 107
38
Ebd., S. iyf.: »Ich hatte erkannt daß mein persönliches Unglück oder was mir so erscheinen wollte vielmehr das unpersönlichste, im Grunde das mindest interessante gewesen war. [...] Ich werde die Bestürzung niemals vergessen, mit der ich erkannte, daß ich die Erfahrungen und ihre Folgen, Symptome und Leiden, daß ich mit einem Worte einen großen Teil meiner Seele mit einem ganzen Jahrzehntsausschnitt aus der höheren Gesellschaft des Volkes teilte.« Ebd., S. 28. Ebd., S.29. Vgl. bes. die Briefe an Heinrich Goesch vom 8.8. 1899, 28. 8. 1899 und 18.7. 1900 (in: Briefe 1895-1906, S. 62f., S. 78 u. S. 103), an denen nachzuvollziehen ist, wie sich Borchardt zuerst demütig als Anhänger, dann immer entschiedener als Vorkämpfer der ästhetischen Bewegung stilisiert.
über Hofmannsthal< und dem etwa zur selben Zeit geschriebenen »Epilog zur »Insel·« 1 0 8 M i t der Kritik am Ästhetizismus ist die Kritik an der eigenen D i c h tung der vergangenen J a h r e verbunden, die eine generationstypische » M i schung aus Eitelkeit und U n r u h e , aus melancholischer R h e t o r i k und selbstbelauernder Koketterie« 1 0 9 gewesen sei. Diese Selbstkritik, durch die Borchardts dichterische B e g a b u n g und geschichtliche B i l d u n g v o n allen E g o i s m e n geläutert und auf Ideale verpflichtet w i r d , räumt das letzte Hindernis aus dem Weg, auf dem er - nolens volens im Alleingang - v o n nun an die deutsche K u l t u r - N a tion in umfassender Weise wiederherzustellen sucht. Wenn nicht alles täuscht, sollte der in Italien geschriebene »Brief an den Verlegen z u m ersten M a l das P r o g r a m m der »schöpferischen Restauration< begründen und entfalten; w i e so viele Programmschriften Borchardts, die folgen werden, ist er freilich F r a g ment geblieben. Ich habe bewußt die kulturhistorische Argumentation im >Brief an den Verlegen vernachlässigt und ihre Anschlüsse an die kulturpolitischen Diskurse des Ästhetizismus und des Nationalismus bloß angedeutet, 1 1 0 weil v o r allem die Strategie der Selbstrettung und Selbsterhöhung kenntlich werden sollte. D a s narzißtische Ich, das sein kindlich-jugendliches Selbstgefühl unter den Bedingungen des Erwachsenseins nicht mehr aufrechtzuerhalten vermag, rettet sich erst durch die Geschichtserkenntnis, das Schicksal seiner ganzen Generation zu erleiden, und verwandelt dann diese Erkenntnis in das Selbstbewußtsein, als einziger seiner Generation - v o r der er sich ins >wahre Abseits< zurückzieht die K u l t u r - N a t i o n wiederherstellen zu können. O d e r anders ausgedrückt: D a s Ich vertauscht die narzißtische E m p f i n d u n g , ein singuläres Dasein zu besitzen, vorübergehend mit dem historischen Bewußtsein, den typischen Weg der G e neration zu gehen, u m schließlich die scheinbaren Gegensätze in der metahistorischen Idee aufzuheben, der einzig legitime Repräsentant der deutschen K u l tur-Nation zu sein. Dieses Selbstbild des Dichter-Sehers der N a t i o n , in dem die A s p e k t e des M ä r t y r e r s , des Propheten und des Messias vereint sind, hat B o r chardt nicht mehr revidiert. Entsprechend heißt es in der A u t o b i o g r a p h i e v o n 1 9 2 6 / 2 7 , daß die »Geschichte meines Lebens die Geschichte des Z u s a m m e n bruchs der deutschen Uberlieferung gewesen ist und des Versuchs eines Einzelnen, diese aus den T r ü m m e r n zu ergreifen und in sich herzustellen«. 1 1 1 A u s p s y choanalytischer Sicht ist Borchardts Lebensgeschichte insofern w i e d e r typisch, als narzißtische Persönlichkeiten dazu neigen, ihre am E n d e v o n Kindheit und 108
109 110 111
Vgl. Kai Kauffmann: Stilmuster. Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder, die 7nse/-Zeitschrift und das Wes/>encs-Jahrbuch. In: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Hg. v. Andreas Beyer u. Dieter Burdorf. Heidelberg 1999, S. 195-212, hier bes.: S. 199-201. Prosa VI, S.27. Vgl. dazu genauer S. I05f. u. S. 125-128 dieses Buches. Prosa VI, S. 147. Vgl. auch den >Eranos-BriefZarathustra< (1883-1885) zur Verbreitung einer Kunstmetaphysik beigetragen, die sich häufig mit der Kulturkritik an der Wilhelminischen Zeit paarte. Ebenso stark war der Einfluß von Paul Lagardes »Deutschen Schriften« (1878/81) und Julius Langbehns >Rembrandt als Erzieher« (1890). Das Dilemma der Selbststilisierungen bestand darin, daß die Posen, die individuelle Distinktion verschaffen sollten, ihre Funktion verloren, wenn sie von zu vielen nachgeahmt wurden. Ebenso wie die kulturellen Konzepte, mit denen sie verknüpft waren, nutzten sie sich ab. Aus der Konkurrenz auf dem öffentlichen Markt resultierte der Druck zur permanenten Innovation und Radikalisierung, zur Veränderung und Überbietung. So galt die ästhetizistische Pose Stefan Georges, der in den neunziger Jahren die Erneuerung der deutschen Kunst verkündet hatte, nach der Jahrhundertwende als überholt. Ihre zeitgemäße Variante war eine kulturpolitische Haltung, die auf die Wiederherstellung der ganzen Nation zielte. Nicht nur Borchardt, der den Verbrauch der älteren Kunstreligion und Kulturkritik genau registrierte, sondern auch andere Schriftsteller inszenierten sich als geistige Führer der Nation." 4 Neben George, der mit dem Jahrgang 1900/01 der »Blätter für die Kunst« sein Programm änderte, 11 ' wären Arthur Moeller van den Bruck, Gustav Wyneken und viele mehr zu nennen. Wie oben begründet, liegt mir Breuers Intention fern, alle Personen, die sich um die Jahrhundertwende als »Propheten, Gurus, Erlöser«" 6 aufgeführt ha112
113
114
116
40
Kohut, Narzißmus, S. 364!·.: »[D]ie isolierte, pathetische und intensive Besetzung neugefundener Ideale braucht (ähnlich wie bei der »Sendungsidee« des Paranoiden) noch nicht das erfolgreiche Durcharbeiten der narzißtischen Positionen anzuzeigen, sondern einfach deren Auftreten in neuem Gewände.« Vgl auch Kohut, Die Heilung des Selbst, S. 22, w o von der Hingabe an kulturelle - religiöse, ästhetische oder politische - Ideale die Rede ist. Vgl. u.a. Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987. Vgl. genauer S-98f. dieses Buches. Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. A m Beispiel des George-Kreises 1890-1945. Tübingen 1998, bes. S. 348-354. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 12.
ben, zu Narzißten zu erklären. Genau umgekehrt ist es meine These, daß der Narzißt Borchardt die kulturellen Rollen und Muster der Jahrhundertwende, zu denen auch bestimmte Diskurse der Poesie, der Kritik und der Historiographie gehören, auf charakteristische Weise für seine Selbstinszenierung nützt. Mit anderen Worten: Er wandelt sie zu eigenen Ausdrucksformen um.
3.
Ubergangsformen des Selbstartikulation und der Zeitkritik
Diese These soll nun in zwei Schritten demonstriert werden, die auf Borchardts Konzept der Kulturhistoriographie hinführen. Sie bilden wieder eine Stufenfolge in seiner Bildungsgeschichte, deren Beziehungen zur Diskursgeschichte der Jahrhundertwende aber im folgenden stärker herausgearbeitet werden. 3.1.
Asthetizistische Lyrik
Vermutlich hat Rudolf schon am Ende der Schulzeit eigene Gedichte geschrieben. Ein einziges, >Der Rhein< betitet und auf das Frühjahr 1894 datiert, hat sich zusammen mit Übersetzungen russischer Lyrik der Romantik (A. Tolstoi, Lermontow) im sogenannten Logbuch Robert Martin Borchardts erhalten, »auf Papas Wunsch hier eingetragen«." 7 1896 ließ er in Bonn den Zyklus der >Zehn Gedichte< privat drucken, der seiner Schwester Helene zugeeignet ist. Bezeichnenderweise wird er durch das Gedicht >Erneuerung< eingeleitet, dessen Verse von der dichterischen Verwandlung des >Bösen< ins >Milde< sprechen und selbst einen Akt der Sühne mit dem Ziel der Wiederannäherung darstellen. Nicht von ungefähr erwartet der einsame Sprecher, der seinen >bangen seufzer< unterdrückt, daß ihm, gleichsam als Lohn für solche Selbstbeherrschung, die holden >schwesterchöre< (!) der Musen antworten: Böse hände, die der goldnen leier saiten einst in argem spiel zerrissen werden neu sie nun bespannen müssen, böse worte böser ungetreuer lippen, die sich freventlich erkühnt, werden nun in neu erglühtem feuer, werden nun in langentwöhnten küssen rasch gesühnt. Wie? Du schlössest schon die herbe lippe, dass den bangen seufzer niemand höre? und nun werden bald die holden chöre, bald die schwesterchöre deiner Musen von des felsens grottentiefer klippe deinen melodieen sanft erwidern, 1,7
Im Privatbesitz der Familie Borchardt.
41
und ein flug von mildgedämpften Hedem flattert auf in dem erwärmten busen. 1 ' 8
Der Sprecher des Gedichtes, das sowohl autobiographisch wie poetologisch gelesen werden soll, weiß um den Reiz, aber auch die Gefahren dieses Doppelspiels. Er verspricht, die Dichtung nicht mehr zum Ausdruck seines Zornes und Hasses zu mißbrauchen, weil sich ihm ansonsten die Musen versagen würden. Die wahre Dichtung, so heißt es ja noch in der Autobiographie von 1926/ 27, muß vom Gefühl der reinen Liebe beseelt sein. Tatsächlich bemühen sich die >Zehn Gedichte« um eine Milderung der Affekte und eine Glättung der Form. Allein die >Chöre aus einem lyrischen Drama TantalusZehn Gedichte< in den vermutlich 1904 entworfenen Plan der >Gesammelten Gedichte< aufgenommen," 9 und auch die 1913 bzw. 1920 erschienenen Ausgaben der >Jugendgedichte< enthalten nichts von ihnen. Im >Eranos-Brief< wird diese Verwerfung mit der Unangemessenheit der Form begründet, die zwar der Schulmanier der Zeit, nicht aber den Gefühlskonflikten seines Lebens entsprochen habe: Was ich lebte, wie hätte ich es ausdrücken sollen? So drückt sich gar nicht das Leben aus, sondern das Ausdrucksbedürfnis im Vacuum, eine höhere singende Gesprächigkeit im Innern. Der eigentliche Konflikt und Gehalt verlor sich im Wälzen und Rollen von sprengenden Halbgedanken, verlebte sich in einem wilden Lesen, Untersuchen, Finden, Verfolgen, Notieren, Sammeln - endlich in den Freiheitsbewegungen eines stoßenden körperlichen Lebens, das gegen seine Knospen stemmte, und das ins Dichterische hinein so ausgangslos war wie die geistige Empörung. 1 2 0
Aus dieser Stummheit wurde Borchardt erst 1898 durch die Lektüre von George und Hofmannsthal befreit. Bei ihnen fand er dichterische Ausdrucksformen, die er sich aneignen konnte. Die Sätze an Hofmannsthal - »wie es kam, daß Dein schon ausgedrücktes Daseins meinem noch unausgedrückten, unausdrückbaren ahnungslos beizustehen begann, wie Du es mir verwandelt und bestimmt hast« 121 - , die der so Angeredete von sich wies, weil er sich als bloßes Medium von Borchardts Selbstdarstellung, damals wie heute, mißbraucht fühlte, 122 treffen zumindest eine Seite dieses Prozesses. In der Tat benötigte Borchardt die Vorbilder George und Hofmannsthal, um eigene Ausdrucksformen 1,8
Gedichte II / Übertragungen II, S . 7 1 . Vgl. Borchardt, Vivian, S. 1 6 3 - 1 6 5 . I2 ° Prosa I, S. i2of. Man vergleiche diese Stelle mit dem Roland Barthes-Zitat auf S. 12 dieses Buches. 121 Prosa I, S.92 122 Vgl. Brief an Borchardt vom 4.2. 1924, in: Borchardt / Hofmannsthal, S. 330-334.
42
in der Dichtung zu entwickeln. O h n e die »abgeglänzte Spiegelung«" 3 der beiden wäre dies nicht möglich gewesen. Was aber faszinierte ihn so an ihrer Dichtung? Die A n t w o r t ist im Prinzip schon gegeben. Von George und Hofmannsthal konnte er lernen, wie sich psychische Gehalte, Ängste und Wünsche, in literarische Gestalten: Bilder, Gesten und Figuren umsetzen lassen, wie aus den Leiden der einsamen Seele das W u n der einer von vielen anerkannten Dichtung wird. Ihn beeindruckten die Ausdrucksmöglichkeiten einer Dichtung, die zurecht als >Nervenkunst< bezeichnet worden ist. 1 2 4 Borchardt hat, das führt die >Rede über Hofmannsthal< vor A u gen, die Lyrik Georges wie die Gedichte und kleinen Dramen Hofmannsthals durchgängig als Konfession aufgefaßt, eine persönliche Beichte, die freilich in die F o r m von Gleichnissen gekleidet ist und deswegen auch eine allgemeine Geltung zu erreichen vermag. E r selbst hat sich im Bild des sanftmütigen Träumers Claudio aus >Der T o r und der Tod< wiedererkannt; aber mindestens ebenso nahe war ihm die Gestalt des grausamen Herrschers in Georges >AlgabalChören aus einem lyrischen D r a m a Tantalus< zu spüren, denen aber noch die angemessenen Ausdrucksmittel fehlen und die gerade deswegen mit den poetologischen Bildern des Scheiterns enden - der prometheische Dichter-Held erleidet Schiffbruch: wogenabgrund wirst du sehen wenn im stürm dein schifflein schaukelt, jedes trugbild wird vergehen, Ebd., S.127. 124
I2i
Vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1983. Zum unterschiedlichen Stil von Borchardts und Georges Dante-Ubersetzungen, die als Beispiel dienen können, vgl. Kai Kauffmann: »Deutscher Dante« ? Ubersetzungen und Illustrationen der Divina Commedia 1900-1930. In: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten. Hg. v. Lutz S. Malke. Leipzig 2000, S. 129-152 (Katalog der Staatlichen Museen zu Berlin). Hier: S. 135-143. 43
das du kühn dir vorgegaukelt, nie den schätz, den du erflehtest, wirst du froh in armen halten, nie die blume, die du sätest, wird dir ihren reiz entfalten, und von deinem ganzen leben, deinem trotzgen herrschertreiben, deinem hoffen, deinem streben, deinem wünschen, deinem sehnen, wird dir nichts im elend bleiben als dein stolz und deine tränen. 1 2 6
Ganz anders klingt sechs Jahre später das thematisch und motivlich verwandte, doch mit dem grandiosen Bild der Dichter-Heldenfahrt endende >Sonett an sich selben, das nicht von ungefähr auch ein Dank an den Lehrmeister H o f mannsthal ist. Borchardt trug das Sonett (das in den >Jugendgedichten< den Titel >Sonett auf sich selbst< bekam und an weiteren Stellen signifikant verändert wurde) am 22. Februar 1902 in das Gästebuch von Hofmannsthal ein, bei dem er insgesamt sieben Tage wohnte. Es ist dies eine zweideutige Geste, mit der sich Borchardt vor dem Dichter der Seele verneigt und zugleich als Seinesgleichen behauptet. In der Fassung des Gästebuches lautet das Gedicht: A u s Sturm und Traum auffahrend, w o ich saß In einen Spiegel starrt ich lang hinein, U n d wußte nicht von mir, und sah mit Pein Ein fremdes Haupt feindlich aus tiefem Glas Emporgesandt. V o n finsterer Schatten Schein Die L i p p e überwildert, schien etwas D u m p f hinzureden zwischen A n g s t und H a ß Ich betete: ich möchte dies nicht sein! W i r sind nicht, was w i r sind. D e r Himmel, kaum V o m M e e r sich lösend, hängt mit Dunst beschwert U n d bebt von Nässe. Gieße mir noch Traum In meinen Becher, und mit N o r d w i n d gährt Die wundervolle See, und mit wildem Schaum, D u r c h den das heilige Schiff mit Helden f ä h r t . 1 2 7
Ernst Osterkamp hat in einem Aufsatz, der die vielfachen Motivbezüge des Sonetts zur romantischen Tradition, zur neuromantischen Literatur des Fin de Siecle und, last not least, zum Werk Hofmannsthals herausarbeitet, überzeugend gezeigt, daß das Gedicht trotzdem nicht als rein rhetorisches Spiel mißverstanden werden darf. Vielmehr artikuliere sich in ihm die »existentielle Pro-
126
Gedichte II / Übertragungen II, S . 7 5 .
127
Borchardt, Vivian, S. 96.
44
blematik des jungen Borchardt«, 128 freilich, und das ist wieder die andere Seite der Medaille, nur mittelbar in einer höchst artifiziellen Form. Osterkamp entziffert als Erlebnisgehalt des Sonetts den wenige Wochen zuvor erfolgten Bruch Borchardts mit dem Vater (Quartette) und die Entscheidung für die Dichtung im Zeichen Hofmannsthals (Terzette). Von daher versteht er das Sonett als ein autobiographisches und ein poetologisches Gedicht. Wie sehr er mit dem autobiographischen Bezug recht hat, beweist eine inzwischen im Nachlaß von Otto Deneke aufgetauchte Vorfassung des Sonetts, die auf den 25. Januar 1902 datiert 1st. 129 Sie befindet sich übrigens auf der Rückseite eines Porträtphotos von Borchardt aus Bad Nassau. Eine psychoanalytische Lektüre hat keine Schwierigkeiten, das Sonett als Ausdruck des Narzißmus (nicht der Schizophrenie!) zu deuten und in den zwei Teilen des Gedichtes die zwei Seiten des Selbst zu sehen. Insofern geht das Gedicht über das konkrete Erlebnis des Winters 1901 /02 hinaus, was die von Osterkamp bemerkte - und etwas bedauerte Tendenz zu einer abstrakten Selbststilisierung in der späteren Fassung der >Jugendgedichte< (1913; 1920) erklärt. Schwieriger ist es, aus den von Osterkamp angeführten Spiegelmotiven den psychostrukturellen Unterschied zwischen Borchardts und Hofmannsthals Dichtung herauszulesen. Doch scheint es kein Zufall, daß in Hofmannsthals Werken triumphale Bilder nach Art von Borchardts Schlußstrophe entweder gar nicht vorkommen oder sofort wieder dementiert werden. So fehlt Claudio in >Der Tor und der Tod< und dem Kaufmannssohn im >Märchen der 672. Nacht< - Gestalten, die gemeinhin als narzißtisch bezeichnet werden - gerade der Zug der Grandiosität. Insgesamt trennt Borchardt von Hofmannsthal - und verbindet ihn mit George daß seine Dichtung so stark auf die eigene Person zentriert ist. Die 1901 entstandenen Gedichte des geplanten >Buches Vivian< gestalteten die Gefühlserlebnisse oder richtiger: Gefühlsphantasien und Gefühlsprojektionen, deren idealisiertes Liebesobjekt die Nassauer Kurbekanntschaft Margarete Ruer war. Als Borchardt vermutlich im Jahr 1905 die >Gesammelten Gedichte< zusammenstellte, schwebte ihm eine autobiographische Ordnung vor, die im Mittelteil das entscheidende Jahr zwischen April 1901 und April 1902 nachbilden sollte. Die Orientierung an Georges Gedichtband >Das Jahr der Seele< (1897) ist deutlich. Aus diesem Plan ging spätestens 1907 das bis in die dreißiger Jahre verfolgte Projekt des >Annus Mirabilis< hervor, eine Synthese aus »Prosa und Vers Minnetheorie und verschleierter Autobiographie, Seelenanalye und 128
129
Vgl. Ernst Osterkamp: Plädoyer für eine kritische Neuausgabe von Rudolf Borchardts Lyrik; zugleich ein Versuch, das >Sonett auf sich selbst< zu verstehen. In: Glaser, Rudolf Borchardt 1877-1945, S.249-277, hier: S.271. N S U B Göttingen. Cod. Ms. Otto Deneke, Nr. 16. Das Sonett paßt damit genau in die chronologische Ordnung des (projektierten) Bandes der >Gesammelten Gedichtes wo es als letzte Nummer in der Reihe >Finsterer Winten vor dem >In memoriam - auf den Tod von Emilie Borchardt* (gest. 21.2. 1902) steht; vgl. Borchardt, Vivian, S. 16 5. 45
Literaturgeschichte«. 1 ' 0 Der Titel knüpft an John Drydens >Annus Mirabilis< an, der in vierhundert gereimten Vierzeilern die wichtigsten Ereignisse der englischen Nationalgeschichte im Jahre 1665/66 schildert, während die Form an Dantes >Vita Nova< erinnert, insofern die autobiographischen Gedichte in eine kommentierende Erzählung eingebettet werden sollten. Wenn man die Entwicklung der Projekte nachvollzieht, von denen keines realisiert wurde - statt den >Annus Mirabilis< zu schreiben, übersetzte und erläuterte Borchardt die >Vita NovaEpilegomena zu Dante I< (1923), die separat herausgegebene Einleitung zur Ubersetzung der >Vita Nova< (1921): »Liest man nun, von den Vorstufen zu dem >Annus Mirabilis< kommend, diese nachgelieferte Einleitung, [...], so drängt sich der Eindruck auf, daß Borchardt hier, wenn er von dem jungen Dante spricht und diesen charakterisiert, immer zugleich den jungen Borchardt im Sinn hat, den Borchardt des unbegreiflichen Vivian-Jahres. Wir haben ein Palimpsest vor uns: überall schlägt das selbstbiographische Muster durch, und in der Schilderung dessen, was der junge Dante war, was er prätendierte, wie er irreging und sich verfehlte, klingen hörbar Selbstkritik und Verwerfung der eigenen Unbegreiflichkeit nicht nur während des Vivian-Jahres mit.« (Borchardt, Vivian, S. 173.) Vgl. ebd., S. I73f., ausgewählte Stellen der >EpilegomenaRede über Hofmannsthal< (gehalten am 8. September 1902, geschrieben 1905/06, veröffentlicht 1907) und den >Epilog zur »InselUnzeitgemäßen Betrachtungen< hatte sich die Kulturkritik zu einem eigenen Genre der Literatur entwickelt, das um 1900 seine stärkste Konjunktur erlebte.' 33 Als Borchardt 1906 seinen »Brief an den Verleger< schrieb, bemerkte er, das Genre sei »unfehlbar diskreditiert«, seit »jeder deklassierte Lehrer und jeder entlaufene Pfaffe, jeder talentlose Maler und jeder Snob sich anmaßt zu erziehen«, 134 was ihn selbst nicht daran hinderte, noch einmal in die Rolle Nietzsches, Lagardes und Langbehns zu schlüpfen, um sie und ihre Nachahmer zu übertrumpfen. Der Einfluß des frühen Nietzsche auf die Kulturkritik des jungen Borchardt ist so stark, daß hier ein kleiner Exkurs erlaubt scheint. 135 Ahnlich wie in der >Geburt der Tragödie< wird im »Gespräch über Formen< und in der »Rede über Hofmannsthal· das Leben als Urquell oder Urkraft aller Kultur aufgefaßt. Das Leben drückt sich zunächst im Dasein des Volkes bzw. der Nation aus, das aber von sich aus noch keine klaren Konturen besitzt. Erst das Genie des Künstlers und Dichters verleiht ihm eine fest umrissene Gestalt. Ohne die Begriffe des Dionynischen und des Apollinischen aus der »Geburt der Tragödie< zu übernehmen, hält Borchardt an der dort entwickelten Auffassung von Leben und Kunst, Gehalt und Gestalt fest. Es ist die Kunst, die das Leben zur Anschauung bringt, indem sie seine Geheimnisse in der Form von Gleichnissen ausspricht. Das heißt aber nicht, daß die Kunst im Leben aufgeht. Im Gegenteil setzt sie
133
134 135
Form um 1900. In: Beyer / Burdorf, Jugendstil und Kulturkritik, S. 29-50. Sowie: Ders.: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2 0 0 1 , 8 . 4 5 5 465. Ferner: Heide Ellert: >»... daß man über die Künste überhaupt fast gar nicht reden soll«. Zum Kunst-Essay um 1900 und zur Pater-Rezeption bei Hofmannsthal, Rilke und Borchardt. In: ebd., S. 51-72. Außerdem: Botho Strauss: Distanz ertragen. In: Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Piatons Lysis Deutsch. Mit einem Essay von Botho Strauß. Stuttgart 1987, S. 99-118. Zum Diskurs der Kulturkritik vgl. - neben Hepp, Avantgarde - u.a.: Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern / Stuttgart 1963. Hans-Joachim Lieber: Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende. Darmstadt 1974. Barbara Beßlich: Wege in den >KulturkriegRede über HofmannsthalUnzeitgemäßen Betrachtung^ »Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes.«' 57 Hier setzt bei Nietzsche wie später bei Borchardt die Kritik an der Kultur oder richtiger: der Unkultur (Zivilisation) der Gegenwart an, die unter dem Namen der »Moderne« erscheint. In der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung< wird das chaotische »Durcheinander aller Stile« beklagt, in dem der »Deutsche unserer Tage« lebe. 1 ' 8 Entsprechend wird in der >Rede über Hofmannsthal< die anarchische Verwilderung der künstlerischen, speziell der literarischen Produktion moniert, die auf die anderen Lebensäußerungen des deutschen Volkes übergegriffen habe. 139 In beiden Fällen richtet sich die Kritik gegen die Meinung der Öffentlichkeit, das deutsche Volk habe bei Sedan nicht nur einen militärischen Sieg über Frankreich, sondern auch die kulturelle Vorherrschaft über Europa, ja die ganze Welt errungen. Nietzsches Gegenthese von 1873, daß sich die militärische Sieg in eine kulturelle Niederlage - »die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen ReichesUnzeitgemäßen Betrachtungen folgt in der >Rede über Hofmannsthal< auf die Kritik der allgemeinen Kulturzustände die Würdigung einzelner Kulturschöpfer, die den Aufbruch in eine neue Zeit verkörpern.
136 1,7
138
139 140
48
Reden, S.69. Friedrich Nietzsche: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. 6 Bde. 5. Aufl. München / Wien 1966, hier: Bd. 1, S. 140. Ebd., S. 140. Georg Simmel übernimmt schon in dem Aufsatz >Dantes Psychologie< von 1884 die Kritik an der »Stillosigkeit« des modernen Zeitalters, die er als typisches Charakteristikum von Ubergangszeiten bezeichnet. Vgl. dazu Klaus Lichtblau: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«. Zur Eigenart des Ästhetischen im kultursoziologischen Diskurs der Jahrhundertwende. In: Bruch / Graf / Hübinger, Kultur und und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 2, S. 8 6 - 1 2 1 , hier: S. 99. Vgl. Reden, S. 54. Nietzsche, Werke, Bd. 1, S. 137. In Borchardts Rede >Die neue Poesie und die alte Menschheit (1912) heißt es entsprechend: »Das tiefste, das seelenvollste und seelenwärmste Volk Europas hat in den Jahrzehnten, in denen es die politische und wirtschaftliche Hegemonie Europas an sich nahm, die geistige Hegemonie Europas sich entgleiten lassen müssen.« (Reden, S. 110.)
Die Dichter Stefan George und H u g o von Hofmannsthal erscheinen, wenn auch in unterschiedlichem Maß, als Wegbereiter der >kommenden KulturGespräch über Formen< gilt das gleiche in bezug auf Ulrich von Wilamowitz. Es handelt sich um narzißtische Inszenierungen, bei denen das Subjekt, unabhängig davon, ob die Objekte entwertet (Wilamowitz; partiell auch George) oder idealisiert (Hofmannsthal) werden, die absolute Macht für sich selbst beansprucht. Daß Borchardt, wie er im Zusammenhang mit der >Rede< an Hofmannsthal schrieb, dessen »Lehensmann und weiter nichts« 1 4 2 sein wollte, wird durch andere Briefe widerlegt.' 43 Schon vor dem Druck der >Rede< brachte er Hofmannsthal in eine innere Abhängigkeit von ihm, indem er sein Wissen um die Seele des anderen durchblicken ließ, auch einmal das Stück eines »herausgerissenen Correkturbogens« 1 4 4 zuschickte, aber wegen eigener Skrupel die Publikation nicht fertigstellte; Hofmannsthal, der sich dieser unbewußten Psychotechnik nicht entziehen konnte, reagierte auf die »quälende und gewissermaßen deprimierende Situation« mit Anfällen von »Hypochondrie ».' 4 ' Als die >Rede< endlich vorlag, war er über sie wie später über den >Eranos-Brief< tief verstimmt, weil er sich von Borchardt seelisch vereinnahmt und öffentlich gegen George ausgespielt sah. N u r nebenbei sei vermerkt, daß Borchardt alle Kritiker (v.a. Richard M. Meyer, Kurt Breysig, Georg Simmel, Ludwig Klages), die
141 142
143
144
145
Vgl. genauer S . 2 5 8 - 2 6 8 dieses Buches. Brief an H u g o v o n H o f m a n n s t h a l v o m 21.2. 1907, in: Borchardt / H o f m a n n s t h a l , S-4SIn d e m Brief v o m 1 1 . 1 0 . 1 9 0 6 verteidigt sich Borchardt gegen die (leider nicht schriftlich überlieferten) E i n w ä n d e H o f m a n n s t h a l s , der K o r r e k t u r f a h n e n der >Rede< gelesen hatte. D o r t heißt es u.a.: »Sie haben das Recht einen Kritiker zu verlangen, der w e n n nicht s o hoch über d e m Publikum, d o c h mindestens ihm g a n z so ferne steht wie Sie. D e n n ich bin, u m es ganz grob zu sagen, nicht d a z u da, das P u b l i k u m selber zu Ihnen zu führen, s o n d e r n nur dazu, v o n allen denen bestohlen zu werden, denen das einmal gelingen wird. Was in Z u k u n f t über Sie schreibt, vermittelt nicht zwischen dem Pub l i k u m und Ihnen sondern zwischen d e m P u b l i k u m und mir, wie f ü n f z i g Jahre hindurch alle Kritik Schillers auf H u m b o l d t s Aesthetischen Versuchen beruht hat.« (Borchardt / H o f m a n n s t h a l , S. 30.) S o H o f m a n n s t h a l im Brief an B o r c h a r d t v o m 18.2. 1907, in: B o r c h a r d t / H o f m a n n s thal, S. 36. Ebd., S., 36 u. S.38.
49
f r ü h e r als er über G e o r g e und H o f m a n n s t h a l geschrieben und ihn selbst auf die beiden hingewiesen hatten, in der >Rede< verschweigt. D i e Kulturkritik im >Gespräch über Formen< und in der >Rede über H o f mannsthal< ist noch weitgehend den Vorstellungen des Asthetizismus verhaftet. Allerdings deutet der E i n w a n d gegen G e o r g e , »Die Welt regeneriert sich nicht an Gedichten«, 1 4 6 eine Distanzierung an, die sich im >Epilog zur »InselAnkündigung< einer eigenen, weniger literarisch als politisch ausgerichteten Kulturzeitschrift zur endgültigen Trennung führt.' 4 7 W ä h rend Borchardt im >EpilogInsel< auf das Fehlen eines einheitlichen P r o g r a m m s z u r ü c k f ü h r t , noch glaubt, daß immerhin die v o n R u dolf Alexander Schröder gestalteten H e f t e als Stilmuster einer künftigen K u l turzeitschrift dienen könnten, betrachtet er fünf Jahre später die gesamte >Insel< als Zeugnis einer historisch gewordenen Übergangszeit. Ü b e r die ästhetizistische »Ideologie«, 1 4 8
die zwischen
1890 und
1900 den Kulturdiskurs
in
Deutschland bestimmt habe, sagt die 1907/08 geschriebene >AnkündigungAnkündigung< klingt das Bekenntnis, das Borchardt den Beiträgern der geplanten Zeitschrift abverlangt, ziemlich chauvinistisch: »Sie sind deutsch und bekennen sich dazu, vor allem deutsch und zum zweiten und dritten Male deutsch zu sein.« Doch folgt sogleich die Erläuterung: »Deutsch nicht im Sinne von heut freilich, sondern im Sinne einer Vergangenheit und einer Zukunft.« 1 ' 2 Und damit kommt die gesamte Kulturtradition des Abendlandes mit ins Spiel. Denn Borchardt betrachtet im Anschluß an den Bildungsgedanken der Klassik und Romantik die deutsche Nation als Erbin der europäischen Menschheit. 1 ' 3 N u r hält er eine strenge Auswahl für nötig, weil nach seinem Urteil manche Formen, besonders die aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Formen der westlichen Zivilisation, sowohl dem deutschen als auch dem europäischen Wesen widersprechen und sie, wie sich bei ihrer Übernahme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gezeigt hatte, den Aufbau der universalen Kultur-Nation nicht fördern, sondern gerade verhindern. Zur Selektion und Transformation des Erbes ist, das versteht man inzwischen, einzig ein Dichter-Seher der Geschichte fähig, der eine Idee der deutschen Nation und eine Vision der europäischen Menschheit besitzt. So läuft die ganze Argumentation darauf hinaus, daß sich Borchardt zum absolutistischen Souverän über die gesamte Kulturwelt erklärt. Am besten läßt sich sein narzißtischer Herrschaftsanspruch dort durchsetzen, w o er nicht durch die realen Machtverhältnisse behindert wird: im Geisterreich der Geschichte.
I!I
Vgl. Kauffmann, »Deutscher Dante«?, S. i38f. " 2 Prosa IV, S. 203. ' » Vgl. S. 85-87 dieses Buches. 52
4·
Die Inszenierung der Kulturgeschichte
Seit Ende der achtziger Jahre haben sich Wissenschaftshistoriker verstärkt bemüht, die Kulturdiskurse um 1900 zu erforschen. 1 ' 4 Dabei standen die akademischen Fächer, von der Geschichte über die Philosophie, Theologie und Pädagogik bis hin zur Soziologie, 1 " im Mittelpunkt des Interesses, während publizistische und belletristische Formen, etwa der Zeitschriften- oder Buchessay, höchstens am Rande berührt wurden. Das ist schon deshalb problematisch, weil sich keine klare Trennung zwischen wissenschaftlichen und, um einen anderen Begriff in die Diskussion zu bringen, weltanschaulichen Kulturdiskursen vornehmen läßt. Ja, es ist geradezu paradox, wenn Historiker aus Sicht der wissenschaftstheoretischen Debatten um 1900 die Krise der Fachinhalte, der Erkenntnis- und der Darstellungsformen beschreiben, jedoch die in den kulturgeschichtlichen Diskursen zu beobachtenden Tendenzen der Transgression und der Universalisierung, der Subjektivierung und der Rhetorisierung nicht weiter verfolgen, weil diese offenbar ihrem eigenen, wieder gefestigten Wissenschaftsverständnis widersprechen. Von der »Ent-Disziplinierung«, die Otto Gerhard Oexle auf dem Weg zu einer heutigen »Historischen Kulturwissenschaft« für nötig hält, 1 ' 6 sind die Wissenschaftshistoriker weiter entfernt als die von ihnen erforschten Kulturgeschichtler der Jahrhundertwende. Daß Stefan Haas, der als erster den Versuch einer fachübergreifenden Darstellung gemacht hat, von einem Kollegen mit den Worten abgekanzelt wird, selten sei eine »kulturtheoretisch derart ambitionierte Studie so stringent am Thema vorbeigeschrieben worden«,"' 7 paßt leider ins Bild. Die Lücken in der Diskursgeschichte können in der Einleitung dieser Borchardt-Monographie nicht ausgefüllt werden. Der folgende Abschnitt wird sich weitgehend damit begnügen, wissenschaftshistorische Tendenzen und Probleme im Hinblick auf Borchardts Inszenierung der Kulturgeschichte zu skizzieren.
1,4
I,!
1.6
1.7
Vgl. Stefan Haas: Historische Kulturforschung 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität. Köln / Weimar / Wien 1994. Vgl. auch: Bruch / Graf / Hübinger, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Vgl. ferner: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880-1945. Frankfurt a.M. 1997. Ferner: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt a.M. 1999. Vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt a.M. 1996. Vgl. Otto Gerhard Oexle: Auf dem Wege zu einer Historischen Kulturwissenschaft. In: König / Lämmert, Konkurrenten in der Fakultät, S. 1 0 5 - 1 2 3 , hier: S. 109. Gangolf Hübinger: Konzepte und Typen der Kulturgeschichte. In: Küttler / Rüsen / Schulin, Diskursgeschichte 4, S. 1 3 6 - 1 5 2 , hier: S. 139.
53
4-i.
Diskursgeschichtliche Perspektiven auf die Kulturhistoriographie um 1900
Die meisten der heutigen Forscher halten es für nicht gerechtfertigt, die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf Grund von eindeutigen Paradigmen in feste Epochen zu gliedern, sei es nach dem Schema Politikgeschichte -Kulturgeschichte - Geistesgeschichte oder dem Muster Historismus - Positivismus - Asthetizismus.' 58 Lutz Raphael hat gegen solche Periodisierungen unter anderem eingewandt, daß die Mehrheit der Geschichtwissenschaftler auch nach 1880 an dem Primat der Politik festhalte, während sich eine ganze Reihe von anderen Disziplinen - etwa die neu entstehende Soziologie - an dem Paradigma der Kultur ausrichte.' 59 Innerhalb des von Ranke, Droysen und Mommsen geprägten Faches blieb zum Beispiel der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, der im >Leipziger Labor< mit dem Völkerpsychologen Wilhelm Wundt, dem Geographen Friedrich Ratzel, dem Ökonomen Karl Bücher und dem Chemiker Wilhelm Ostwald zusammenarbeitete, eine Randfigur. 160 Ahnliches gilt eine Generation später für die zum Teil aus der Schule von Kurt Breysig in den Kreis Stefan Georges übergegangenen Geistesgeschichtler, die eine Verschmelzung von Wissenschaft und Dichtung anstrebten. 101 Gegen vorschnelle Periodisierungen spricht auch, daß sich mit dem Schlagwort Kulturgeschichte - wie mit dem der Geistesgeschichte - durchaus unterschiedliche Konzepte verbanden. Da bereits innerhalb der akademischen Diskussion um 1900, die durch die Institutionen und Methoden der Wissenschaft noch vergleichsweise stark reglementiert war, pluralistische Ansätze zu beobachten sind, muß man mit der Typen- und Epochenbildung vorsichtig sein."52 So differieren die Kulturgeschichten eines Jacob Burckhardt und eines Karl Lamprecht, obgleich ihre anthropologischen und psychologischen Grundkonzepte miteinander verwandt sind, unter anderem in der Gewichtung der individuellen Akteure gegenüber den kollektiven Potenzen, was für ihre
1,8
Eine Ausnahme ist Carola G r o p p e , die mit einem Modell arbeitet, das vier Wissenschaftlergenerationen zwischen 1890 und 1 9 3 3 unterscheidet. Vgl. Carola G r o p p e : Die Macht der Bildung. D a s deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1 8 9 0 - 1 9 3 3 . Köln / Weimar / Wien 1 9 9 7 , bes. S. 7 0 - 8 0 . Vgl. auch meine Rezension: Kai K a u f f mann: Lautlose Stille trat ein. Carola G r o p p e zum Verhältnis von Dichtung und W i s senschaft im George-Kreis. In: Frankfurter Rundschau v o m 9 . / 1 0 . 4 . 1998.
159
Vgl. L u t z Raphael: Die » N e u e Geschichte« - U m b r ü c h e und N e u e W e g e der G e schichtsschreibung in internationaler Perspektive ( 1 8 8 0 - 1 9 4 0 ) . In: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs 4, S. 5 1 - 8 9 .
160
Vgl. Louise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht: Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984.
,6
' Vgl. Kolk, Literarische Gruppenbildung, S. 1 3 8 - 1 5 0 u. S. 3 1 2 - 5 3 9 , hier bes. S. 347.
,6z
V g l . die Vorschläge v o n Hübinger, Konzepte und T y p e n der Kulturgeschichte, S. 1 3 6 - 1 5 2 .
54
unterschiedlich starke Rezeption im 20. Jahrhundert mitverantwortlich ist. Die Verabsolutierung einzelner Gemeinsamkeiten würde hier zu einem ähnlich schiefen Urteil führen, wie wenn man Borchardt mit den Geistesgeschichtlern des George-Kreises in einen Topf würfe. Dennoch lassen sich bestimmte Tendenzen der Historiographie skizzieren, die von gemeinsamen Problemen ihren Ausgang nehmen. Zu diesen gehört die Frage, wie mit der Menge der Daten, die von den immer stärker spezialisierten Einzelwissenschaften über die immer komplexer werdende Wirklichkeit erhoben werden, umzugehen ist. Die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Kulturgeschichten einte der Wunsch nach umfassenden Synthesen, die zusätzlich zur Politik der Staaten auch die an Bedeutung gewinnenden Bereiche der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Wissenschaften und der Künste integrieren sollten. Man wollte sich nicht mit der Sammlung des Fachwissens in Handbüchern begnügen, die in dieser Zeit zu der üblichen Darstellungsform der Historiographie wurden. 16 ' Lamprecht veröffentlichte zwischen 1891 und 1909 eine zwölfbändige >Deutsche Geschichte< mit dem Anspruch, die gesamte Entwicklung der Nation, von der Urzeit bis zur jüngsten Gegenwart, systematisch darzustellen. Nach längeren Vorbereitungen gründete er 1909 das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichten Kurt Breysig, der 1900 den ersten Band einer Kulturgeschichte der Neuzeit< vorlegte, die »Sozialgeschichte« und »Geistesgeschichte« aller europäischen Nationen vereinen sollte, trieb mit dem fünf Jahre später erschienenen Buch >Der Stufen-Bau und die Gesetze der WeltGeschichte« die Universalisierung noch weiter.' 64 Auf die Behauptung eines umfassenden Wissens gründete die Kulturgeschichte ihren Anspruch auf »Führerschaft«, den bereits Eberhard Gothein in der Abhandlung >Die Aufgaben der Kulturgeschichte« (1889) gegenüber den Vertretern der historistischen Politikgeschichte angemeldet hatte. Die Einarbeitung bislang nicht berücksichtigter Informationen über die deutsche Nation bzw. die anderen Länder und Völker der Erde erschien als Bedingung dafür, daß die traditionelle Funktion der Geschichtswissenschaft, nicht nur Interpretationen der Vergangenheit, sondern auch Orientierungen für die Gegenwart und Zukunft zu liefern, in den modernen Zeiten erfüllt werden konnte. Dabei geriet die Kulturgeschichte freilich in Zielkonflikte: Erstens nahm die Detailgenauigkeit dadurch ab, daß eine Panoramaperspektive gewählt wurde.
l6) 164
Vgl. Raphael, Die »Neue Geschichte«, S. 72. Zu Breysig vgl. Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie. Lübeck / Hamburg 1971. Die nach Lamprechts Vorbild geplante Gründung eines Berliner »Seminars für Vergleichende Geschichtsforschung« ist 1907/08 am Widerstand der Kollegen gescheitert, vgl. Ernst Nolte: Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas. Berlin / Frankfurt a.M. 1991, S. 88.
55
Im sogenannten Lamprecht-Streit 165 der neunziger Jahre schlug dem Leipziger, der gerade als Positivist den größten Wert auf die Richtigkeit der Daten und die Schlüssigkeit ihres Kausalnexus hätte legen müssen, der Hohn der Historisten entgegen, die ihm genüßlich die Fehler seiner Kompilationen vorhielten. Zweitens hinkten die großen Synthesen nach Art der >Deutschen Geschichte* - die mit Ergänzungsbänden den Anschluß an die Gegenwart zu erreichen suchte hinter der Kulturentwicklung her. So sind die letzten Bände der >Deutschen Geschichte* von der Öffentlichkeit mit Enttäuschung aufgenommen worden, weil sie nicht mehr am Puls der Zeit waren. Drittens gelang es nicht, die dem Drama nachempfundenen Erzählformen des Historismus, 1 ( 6 in denen sich die Handlungen von Individuen effektvoll beschreiben ließen, so auf die Geschichte von Kollektiven zu übertragen, daß über die Fachleute hinaus ein größeres Lesepublikum gefesselt worden wäre. Bei Breysig führten diese Zielkonflikte zu einer Spaltung der schriftstellerischen Produktion in wissenschaftliche und publizistische Darstellungen, von denen die einen den positivistischen Prinzipien der Lamprechtschen Kulturgeschichte verpflichtet blieben, während sich die anderen, die den »Sinn unserer Zeit« deuten wollten, den ästhetizistischen Ideen der georgeanischen Geistesgeschichte annäherten. Derselbe Breysig, der im Lamprecht-Streit für eine streng kausal argumentierende Historiographie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kollektive votiert und in der Kulturgeschichte der Neuzeit* über den Gelehrten erklärt hatte, »was er erstrebt, ist die Kenntniß des Stoffes selbst, was er sich ersehnt, ist nur Wiedergabe, nicht Wandlung der Wirklichkeit«,' 6 7 verkündete in der Schrift >Von Gegenwart und
l6
' Vgl. Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992, S. 1 4 1 - 1 6 0 . 166 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M. 1991. 167 Kurt Breysig: Kulturgeschichte der Neuzeit. Vergleichende Entwicklungsgeschichte der führenden Völker Europas und ihres sozialen und geistigen Lebens. Bd. 1: Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung. Berlin 1900, S. 205. Ebd., S. 213^, heißt es: »Alles was das Menschengeschlecht in historischer Zeit an Einsichten in das Weltganze gewonnen hat, verdankt sie den Erfahrungswissenschaft, [...] nicht aber den Konstruktionen der Gedankenpoeten.« Das paßt allerdings nicht zu seinem Programm einer nicht nur deskriptiven Wissenschaft: »fS]ie will die Wirklichkeit nicht sowohl kopieren, als meistern. Die Folge ist erstlich, daß sie sich die Freiheit herausnimmt, geeignete Stücke und Theile der Realität zu wählen [...]. Zum zweiten aber pflegt sie, um ihre Resultate zu gewinnen, sich nicht allein auf den beobachtenden Verstand, sondern fast ebenso sehr auf die kombinierende Phantasie zu verlassen.« (Ebd., S. 227L) Auch das Kapitel »Die Gemeinsamkeiten bildender und erkennender Geistesthätigkeit« (ebd., S. 248-253) zeigt, daß Breysig nicht recht weiß, ob er die Unterschiede oder die Ubergänge betonen soll. Ein anderes Symptom ist, daß er sein Buch als »Versuch« (ebd., S. X I V ) bezeichnet, der kein Einzelwissen, sondern ein »Gesammtbild« des Zeitalters (mit vorläufiger Geltung) liefern solle, gleichzeitig aber erklärt: »Ich habe den höchsten Werth darauf gelegt, daß mein Buch sich [...] durch-
56
von Zukunft des deutschen Menschen< (1912) die heroische Weltanschaung der schöpferischen Individuen.' 68 Entsprechend wechselten Form und Stil der Darstellungen. Aus diesem Dilemma befreiten sich nicht nur die Georgeaner Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters oder Berthold Vallentin, sondern auch Borchardt durch die Entscheidung für eine »dichterische Geschichte< im Dienste des Lebens und der Nation. Ein weiteres Problem, das die Geschichtswissenschaftler am Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam erkannten, aber auf unterschiedlichen Wegen zu lösen versuchen, ist die Krise des Objektivitäts- und des Wahrheitsbegriffs. Die Lehre des Historismus, die eine Konvergenz zwischen den erkenntnisleitenden Ideen des Historikers und den wirklichkeitsbestimmenden Mächten der Geschichte annahm, beruhte letztlich auf der Geschichtsphilosophie des Idealismus. Die lange erhoffte Gründung des nationalen Einheitsstaates, die die sittliche Vernunft des Hegeischen Weltgeistes zu bestätigen schien, verzögerte in der deutschen Historiographie die Einsicht, daß dieses Konzept durch die beschleunigten Fortschritte der Naturwissenschaften und die wachsenden Auseinandersetzungen in der Gesellschaft um materielle Güter und kulturelle Werte sowohl auf der methodologischen wie auf der gegenständlichen Seite in Frage gestellt wurde. Seit den achtziger Jahren sahen sich aber die Historisten verstärkt dem Vorwurf der Positivisten ausgesetzt, subjektiv die - an den bloß postulierten >freien Willen* des handelnden Individuums gebundenen - Zwecke der sittlichen Vernunft in die Geschichte zu projizieren, statt die objektiven Ursachen geographischer, psychosozialer, ökonomischer oder sonstiger Art zu rekonstruieren. Der durch die Debatte zwischen Eberhard Gothein und Dietrich Schäfer präludierte Lamprecht-Streit verstärkte in den neunziger Jahren die Anstrengungen, den geschichtlich ausgerichteten »Geisteswissenschaften« oder »Kulturwissenschaften« eine gesicherte Grundlage zu verschaffen. Den Lösungsansätzen von Wilhelm Dilthey, Wilhelm Wundt, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und Max Weber ist bei allen Differenzen die Konzentration auf Erkenntnistheorie und Methodenlehre gemeinsam.' 6 ' Es wird je-
168
169
aus von den großen oder kleinen halbwissenschaftlichen Darstellungen unterscheidet, die wesentlich mehr die litterarische Wirksamkeit, als die objektive Zuverlässigkeit im A u g e haben. Diese Essays [...] sind sicherlich o f t sehr lehrreich und anregend [...], aber ich möchte meine Arbeit, so sehr ich sie selbst als Versuch betrachte, ihnen nicht zugesellt wissen, da sie umgekehrt zunächst von wissenschaftlichem Bedürfniß ausgeht.« (Ebd., S . X V I I . ) Andererseits schreibt Breysig am 1 2 . / 1 4 . 8 . 1 9 1 7 3 η seinen abtrünnigen Schüler Berthold Vallentin: »Ich bin Forscher, ich will Forscher sein - das heißt unter anderem Nicht-Priester, Nicht-Dichter.« (Zit. nach K o l k , Literarische Gruppenbildung, S. 3 74.) Ich sehe im Gegensatz zu K o l k nicht, wie sich die beiden Formen von Breysigs Geschichtsbetrachtung und -darstellung in einem Gesamtkonzept miteinander vermitteln lassen. Vgl. Gunter Scholtz: Z u m Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftli-
57
weils eine Logik und Methodik der Geistes- oder Kulturwissenschaften ausgearbeitet, die sich von den Verfahren der Naturwissenschaften unterscheidet und doch die Geltung von Aussagen sicherstellt. Damit soll auch der radikale Zweifel an den Begriffen der Erkenntnistheorie (Subjekt, Objekt, Logik, Kausalität, Wirklichkeit, Wahrheit etc.) überhaupt abgewehrt werden, den Nietzsche formuliert hatte. Nach dem Urteil von Gunter Scholtz gelingt es den Theoretikern am Ende des 19. Jahrhunderts, »die Kulturwissenschaften als wahrheitsfähige Wissenschaften zu rechtfertigen; weit weniger aber, überzeugend ihre Aufgabe in der Gesellschaft zu bestimmen oder gar sich über Sinn und Ziel der Geschichte und des menschlichen Daseins zu äußern. Dergleichen Fragen gelten jetzt als metaphysisch und werden den >Weltanschauungen< übergeben.« 170 Das scheint nur bedingt richtig, sonst hätten sich nicht so viele Wissenschaftler zu den »Ideen von 1914« bekennen können. Doch mag die methodologische Reglementierung der Disziplinen die wissenschaftlichen Spielräume verkleinert und die weltanschauliche Sinnlücke vergrößert haben. Dagegen wehrten sich zum einen wissenschaftliche Grenzgänger, die trotz massiver Widerstände ihrer Fachkollegen an einer Universitätskarriere festhielten, zum anderen literarische und publizistische Außenseiter, die zwar eine akademische Ausbildung durchlaufen hatten, aber dann in den Kulturbetrieb übergingen. Zu der ersten Kategorie gehörten beispielsweise Breysig und Simmel sowie, ein bis zwei Generationen später, Gundolf, Wolters, Vallentin, Kantorowicz, aber auch Nadler und Benjamin; zur zweiten unter anderem Borchardt, Moeller van den Bruck, Lessing, Pannwitz und Spengler. Schon in der Krisenzeit der Jahrhundertwende und nicht erst, wie Lutz Raphael sagt, 17 ' nach der Katastrophenerfahrung des 1. Weltkriegs verlagerte sich die öffentliche Funktion der Sinndeutung von den Fachwissenschaftlern auf die Repräsentanten der >freischwebenden Intelli-
chen Denkens (1880-1945). I n : Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs 4, S. 1 9 170 171
58
5°· Ebd., S. 22. Raphael, Die »Neue Geschichte«, S. 74: »Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte sich, daß selbst die fachinternen Aufbrüche vor 1914 kaum noch den Zuspitzungen existentieller Krisenerfahrungen in der Welt der Gebildeten genügten. Propheten und Experten reduzierten nun die Bedeutung der Fachhistoriker für die Kulturdeutungen ihrer Zeitgenossen. [...] In den innenpolitisch durch den Ersten Weltkrieg tiefgreifend erschütterten Staaten Mittel-, Süd- und Osteuropas steigerten sich vielfach die Orientierungswünsche der Bildungsschichten über eine verbindliche historische Sinndeutung hinaus zur fundamentalistischen Sinnstiftung: Der Bildungsglaube setzte vor allem in Deutschland ungeahnte Deutungswünsche und Gestaltungskräfte frei. In Spenglers Untergang des Abendlandes oder den historischen Arbeiten des GeorgeKreises präsentierten Vertreter der literarisch-ästhetischen Kultur selbstbewußt intellektuelle Gegenentwürfe zur etablierten Historiographie und erzielten damit großen Erfolg beim Publikum.«
genz< (Karl Mannheim), die über die Medien des Kulturbetriebs das Orientierungsbedürfnis des gebildeten Publikums befriedigten. Das wachsende Selbstbewußtsein der nicht-wissenschaftlichen >Propheten und Experten< ist nicht ohne die Wirkung von Nietzsches Lebens- und Kulturphilosophie zu erklären, die sowohl kritische wie kreative Energien freisetzte. Bekanntlich hatte Nietzsche in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen die historistische Form der geschichtlichen Forschung und Bildung angegriffen, weil sie nicht dem Leben diene, und in seinen späteren Schriften den objektiven Geltungsanspruch des wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs als schädliche Illusion entlarvt. Im Gegenzug hatte seine >Künstlermetaphysik< alle »freien Geisten zur schöpferischen »Umwertung aller Wertes zur Setzung eines subjektiven Lebenssinnes aufgefordert und dabei angedeutet, daß geniale Persönlichkeiten mit dem »Willen zur Macht< ihren selbstgeschaffenen Sinn auf andere Menschen übertragen und auf solche Weise Gemeinschaften wie das Volk oder die Nation stiften können. Dies ließ sich unter anderem als Aufruf zu einer von den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses befreiten Geschichtsdeutung verstehen, die sich hauptsächlich nach den Kriterien ästhetischer Stimmigkeit, rhetorischer Kraft und kulturpolitischer Wirkung richtet. Theodor Lessing hat diese radikale Lösungsvariante des Historismus-Problems in der Schrift »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen< (1919) formuliert, wobei allerdings seine eigene Haltung zwischen dem schopenhauerschen Bewußtsein der Sinnlosigkeit und dem nietzscheanischen Willen zur Sinngebung schwankt. Merklich durch Georg Simmeis Untersuchung »Die Probleme der Geschichtsphilosophie< (1892/1905) beeinflußt, faßt er die Geschichtsdeutung letztlich als einen seelischen Vorgang auf, bei dem individuelle und kollektive Bedürfnisse die Form bestimmten: Geschichte sei, so heißt es an einer Stelle prägnant, die »ichbezügliche Spiegelung unseres eigenen Bildes«.' 72 Die kulturgeschichtlichen Entwürfe eines Borchardt, Moeller van den Bruck, Lessing, Pannwitz oder Spengler fanden in dem von Nietzsche eröffneten Freiraum historischer Einbildungskraft statt. 175 Die Phantasie des Historikers, die natürlich immer eine gewisse Rolle bei der Ermittlung und Verknüpfung der Tatsachen gespielt hatte, wird zum wichtigsten Faktor. Das persönliche Vermögen zur »schöpferischen Synthese« (Wilhelm Wundt), das nicht mehr an die gemeinschaftliche Methode der wissenschaftlichen Analyse zurückgebunden ist, gewinnt das Ubergewicht. Dabei unterscheiden sich die Autoren 172
I7J
Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Mit einem Nachwort von Rita Bischof. München 1983, S. 22. Vgl. dazu Christoph Bialas: Krisendiagnose und Katastrophenerfahrung. Philosophie und Geschichte im Deutschland der Zwischenkriegszeit. In: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs 4, S. 189-216, bes. S. 209211. Vgl. meine Überlegungen in: Kauffmann, Rudolf Borchardts Rhetorik der »Politischen Geographies S. 58-61.
59
durch das Maß an rationaler Selbstkontrolle und den Stil ihrer rhetorischen Selbstinszenierung. Während Spengler die Phantasie von subjektiven Projektionen zu reinigen sucht, damit sie die (angeblich) objektiven Formgesetze der Weltgeschichte schauen kann, und sich als seriöser Philosoph gibt, reizt Pannwitz die Freiheit der Imagination aus und treibt seine »Gedankenkunstwerke« bis zu dem Punkt, an dem sie etwas Närrisches bekommen. In dem Buch >Die Krisis der europäischen Kultur< (1917) stehen Sätze - etwa: »gotik und renaissance romantik und klassik metaphysik und physik religion und caesar ist der gleiche gegensatz«' 74 die die spekulative Suche nach historischer Erkenntnis als absurde Komödie erscheinen lassen. Ob darin ein Moment von bewußter Selbstironisierung des eigenen Dichter-Sehertums liegt, das zumindest Borchardt und Spengler ganz fremd ist, bleibe dahingestellt. Die Befreiung von den wissenschaftlichen Regeln ermöglichte einen spekulativen oder, wie man auch sagen kann, essayistischen Umgang mit den Materialien und Strukturen der Kulturgeschichte. Pannwitz vergleicht einmal die Kultur mit einem »hexenkessel« und bezeichnet es als die eigentliche Aufgabe des Kulturphilosophen, »immer wieder die elemente zu scheiden und zu werten«.' 75 Zu seinem Geschäft gehört jedoch auch, bislang getrennte Elemente zu vereinen. Alte Verbindungen, die zum Repertoire der gängigen Kulturdiskurse gehören, werden getrennt und durch neue Beziehungen ersetzt. Wichtig ist nicht nur, daß es sich dabei um einen iterativen Prozeß handelt, bei dem »immer wieder« andere Konstellationen hergestellt werden oder doch hergestellt werden könnten, sondern auch, daß rhetorische Figuren die Geschichtsbilder konstituieren. Vor allem die Figuren der Analogie und der Antithese - »gotik und renaissance romantik und klassik metaphysik und physik religion und caesar ist der gleiche gegensatz« - erlauben es, die gesamte Geschichte einzubeziehen und sie in dramatischer Form zu gestalten. Mit dem »Zauberstab der Analogie« (Novalis) und dem >Richtstab der Antithese< hat Spengler sein Riesenwerk >Der Untergang des Abendlandes< konstruiert. Der von Lamprecht, Breysig und anderen unternommene Versuch, Kulturgeschichte als Universalgeschichte der Menschheit zu treiben, der innerhalb der Wissenschaft scheitern mußte, konnte außerhalb gelingen, weil dort andere Mittel gestattet waren. Es ist - besonders gegenüber den Gralshütern der Wissenschaft von damals und heute, die verächtlich von Scharlatanerie sprechen - zu betonen, daß die essayistische Kulturhistoriographie um 1900 spezifische Fähigkeiten erforderte und eigene Zwecke erfüllte. Die Produzenten dieses Diskurses mußten über ein hohes Maß an Bildung verfügen, das sich auf viele Kulturbereiche erstreckte. >Freie Geister< wie Borchardt übertrafen die Fachwissenschaftler sowohl durch die Interdisziplinarität ihrer Bildung wie durch die Originalität der Auslegung 174 175
60
Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg 1947, S. 3 1 . Ebd., S.154.
und Anwendung des Wissens. Zweitens mußten sie in der Lage sein, die Geschichte auf die Gegenwart und Zukunft hin zu perspektivieren. Wenn Borchardt >Uber Alkestis< (1911/20) schreibt, bezieht er die älteste Antike auf die jüngste Moderne, so wie Pannwitz und Spengler in ihren Darstellungen der europäischen bzw. menschheitlichen Kulturgeschichte immer die Krise des eigenen Zeitalters im Blick haben. Dazu gehörte ein Gespür für verborgene Ursachen und latente Tendenzen. Drittens bedurfte es einer kritischen Kraft, um konventionell gewordene und ideologisch besetzte Geschichtsbilder in Frage zu stellen. Borchardts Polemik gegen die protestantische Ausrichtung der deutschen Kulturgeschichte auf die Achse Luther-Goethe-Bismarck ist dafür ebenso ein Beispiel wie Pannwitz' Protest gegen die antifranzösische und antislawische Orientierung der herrschenden Nationalhistoriographie. Viertens bedurfte es eines kreativen Vermögens, um alternative Geschichtskonzeptionen zu entwerfen, die als Denk- und Leitbilder für die >kommende Kultur< dienen konnten. So eröffnet Lessings in dem seit 1914 mehrfach umgeschriebenen Buch >Europa und Asien< einen Spielraum der Reflexion, in dem die Wertesysteme unterschiedlicher Menschheitskulturen miteinander verglichen werden.' 76 Andere Autoren, etwa Moeller van den Bruck und Spengler, neigten eher dazu, in Form von Axiomen und Direktiven eigene Geschichtsdeutungen vorzutragen und mit ihnen bestimmte Kulturwerte zu propagieren. Und fünftens wurde ein literarisch-rhetorischer Stil verlangt, der den geschichtlichen Stoff durch dramatische Zuspitzungen zum Leben erwecken und das gebildete Publikum in Bewegung setzen sollte. Dieser Stil unterscheidet sich, wie man beim Vergleich von Breysigs >wissenschaftlichen< und >weltanschaulichen< Schriften sehen kann, von der akademischen Prosa durch den forcierten Einsatz rhetorischer Mittel, die dem genus sublime der Konfession und dem genus humile der Polemik entstammen; die mittlere Tonlage ist selten. Obwohl jeder Autor eine eigene Variante ausprägt, gibt es doch ein gemeinsames Set von Denk- und Redefiguren. Die Essayisten der Kulturgeschichte gehörten zu jener »social freischwebende[n] Intelligenz«,' 77 die der Wissenssoziologe Karl Mannheim in der Schrift Ideologie und Utopie< (1929) - selbst ein »Essay«' 78 über Kulturgeschichte! - samt ihrer Genese analysiert hat. Ihre Funktion bestand sowohl in der historischen Reflexion als auch in der (geist-)politischen Produktion kultureller Werte. Mannheims Haltung gegenüber dieser Gesellschaftsgruppe war insofern zwiespältig, als er konkret ihre partikularen Ideologien kritisierte,' 79
176
Vgl. Theodor Lessing: Europa und Asien oder Der Mensch und das Wandellose. Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit. 2. Aufl. Hannover 1923. 177 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 199j, S. 135. 178 Mannheim, Intelligenz und Utopie, S.47. ,7 » Vgl.ebd.,S.222f. 61
die in der Weimarer Republik immer heftiger miteinander stritten, prinzipiell aber die Utopie formulierte, der seiner Aufgabe und Verantwortung bewußte Intellektuelle könne auf Grund der »Fähigkeit zur erweiterten Umschau« den Punkt finden, »von wo aus Gesamtorientierung im Geschehen möglich ist, Wächter zu sein in einer sonst allzu finsteren Nacht«.' 80 Nach dem Untergang aller Ganzheitsutopien im Totalitarismus nationalsozialistischer oder stalinistischer Prägung ist hauptsächlich die Mannheimsche Kritik weitergeführt und die Rolle der Intellektuellen bei der >Zerstörung der Vernunft< verdammt worden. Diese Ideologiekritik trifft auf die Zeit der Weimarer Republik in einem hohen Maß zu. Bezogen auf die Ära des Wilhelminischen Reiches, muß man aber der freischwebenden Intelligenz - ohne sie umgekehrt zu verherrlichen zubilligen, daß sie eine wichtige Funktion erfüllte, die von keiner anderen Gruppe, weder den Wissenschaftlern noch den Politikern, wahrgenommen wurde. U m die Metapher von Pannwitz noch einmal aufzugreifen: die kulturellen Spekulationen stellten so etwas wie ein Laboratorium dar, in dem veraltete Synthesen aufgelöst und nach neuen gesucht wurde. Dies geschah während der Wilhelminischen Zeit in einer bestimmten Problemkonstellation, die dadurch gekennzeichnet war, daß auf der einen Seite die geistigen Traditionen zusehends durch die gesellschaftliche Modernisierung ausgehöhlt wurden, während auf der anderen Seite die staatlichen Institutionen wie Schule und Universität und politische Autoritäten wie der Kaiser an den kulturellen Konventionen festhielten. Es gab einen Bedarf an innovativen Ideen, deren verändernde Wirkung gleichzeitig durch konservative Strukturen beschränkt wurde. Man sollte diese Konstellation nicht mit der Lage der Weimarer Republik gleichsetzen, in der die alten Strukturen beseitigt, aber noch nicht durch neue ersetzt waren; daß viele Intellektuelle aus allen Lagern, unter ihnen auch Borchardt, trotzdem mit der radikalen Kritik fortfuhren, ist ihr Anteil an der Tragödie der Weimarer Republik. Die freie Reflexion und Spekulation hatte um 1900 ihren öffentlichen Ort in den Medien des Literatur-, Kunst- und Kulturbetriebs. Insbesondere die immer zahlreicher erscheinenden Kulturzeitschriften, die das ganze Spektrum zwischen Ästhetik und Politik abdeckten und das große Publikum des gebildeten Bürgertums erreichten, boten eine Bühne.' 81 Borchardt versuchte seit 1905 wie180
'8l
62
Ebd., S. 140. Der Aspekt der Ideologiekritik wird von Dirk Hoeges (Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und »freischwebende Intelligenz« in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. 1994) betont, der Aspekt der Utopie von Dietz Bering (Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart 1978, S. 295-303). Vgl. Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885-1910. 2. Aufl. Stuttgart 1965. Vgl. bes. Karl Ulrich Syndram: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst- und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches ( 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ) . Berlin 1989. Sowie Birgit Kulhoff: Bürgerliche
derholt, eine eigene Kulturzeitschrift zu gründen, die seinen Direktiven folgen sollte. 182 Die von den Zeitschriften nachgefragte literarisch-publizistische Form war der Essay, der parallel zur Entwicklung des Mediums seinen Bereich über die Inhalte ästhetischer Bildung hinaus erweiterte. Da aber die großen kulturphilosophischen, kulturhistorischen und kulturpolitischen Entwürfe nach Art von Borchardts >Weltfragen< (1906/07) oder Lessings >Europa und Asien< den Rahmen der Zeitschriften sprengten, erschienen sie im Medium des Buches. Auf Grund ihrer Textur sind sie jedoch, wenn nicht als eine extreme Art des Essays, 1 ® 3 so doch als eine Form des essayistischen Diskurses zu bezeichnen. Das gilt auch für eine dritte Form, die Rede, die meist in Foren der universitätsnahen Öffentlichkeit stattfand. Borchardt hat seit der Göttinger >Rede über Hofmannsthal< fast ausnahmslos in universitären Räumen gesprochen, wobei die Einladung jedoch von akademisch-literarischen Gesellschaften zu kommen pflegte, was übrigens auf die in der Differenz fortbestehenden Austauschbeziehungen zwischen dem wissenschaftlichen und dem essayistischen Diskurs hinweist. 1 ® 4 In diesem Zusammenhang ist auch der Graf Hermann Keyserling zu nennen, der 1920 in Darmstadt die >Schule der Weisheit«, eine Gesellschaft für freie Philosophie« mit angeschlossenem Verlag (Otto Reichl) gegründet hat und seitdem ein reges Vortrags- und Publikationswesen über kulturphilosophische, kulturhistorische und kulturpolitische Weltanschauungsfragen unterhielt, dessen Programme eine eigene Untersuchung verdient hätten.
182
l8j
184
Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich ( 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ) . Bochum 1990. Vgl. dazu Kai Kauffmann: Philologische Anmerkung zu Rudolf Borchardts Text Ankündigung. In: G R M , N F 50 (2000), S. 103-105. Ferner: Rudolf Hirsch: Zur Vorgeschichte zweier Zeitschriften. Unveröffentlichte Briefe Hugo von Hofmannsthals und Rudolf Borchardts zu den Zeitschriften »Neue Deutsche Beiträge« und »Corona«. In: Philobiblon X V (1971), S. 277-287. Interessant ist, wen er 1919 als Beiträger der (nie realisierten) Zeitschrift >Titan< vorschlägt. Er nennt - neben Hugo von H o f mannsthal und Rudolf Alexander Schröder - Josef Nadler, Oswald Spengler, Rudolf Pannwitz, Ernst Troeltsch, Ricarda Huch, Reinhard Goering, Hugo Bieber und Charlotte Westermann. Vgl. Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 2.8. 1919, in: Borchardt / Hofmannsthal, S. 258-260. Christian Schärf (Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 203) spricht in bezug auf Pannwitz und Spengler von monströsen »Großessays«. Christoph König, der in seiner Habilitationsschrift (Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001) auch auf den »Universitätsrhetor« Borchardt eingeht (S. 174-197), verzerrt m.E. das Verhältnis, weil er die Dichter, Essayisten und Rhetoren nach der Elle der Wissenschaft mißt, als seien sie alle verhinderte Professoren. Das wird zumindest Hofmannsthal und Borchardt nicht gerecht. Borchardt unterhielt sein Leben lang Beziehungen zu Wissenschaftlern wie Konrad Burdach, Josef Nadler oder Werner Jaeger, die von wechselseitigem Interesse bestimmt waren, doch blieb er seiner >dichterischen< Mission treu.
63
4-2.
Borchardts Konzeption der dichterischen Geschichte*
Als Uberleitung bietet es sich an, zuerst Borchardts Äußerungen zu einzelnen Historikern unterschiedlicher Zeiten anzuführen, bevor dann seine eigene Konzeption der dichterischen Geschichte* l8s vorgestellt wird. Wissenschaftsgeschichtliche Analysen von >Diskursen< darf man von Borchardt allerdings nicht erwarten. Obwohl er sich natürlich über die Differenzen zwischen den Generationen, Methoden und Ideen bewußt ist, zählt er beispielsweise Schlosser, Niebuhr, Ranke und Mommsen (zusammen mit Wilhelm Humboldt, Jacob Grimm, Lachmann, Diez, Gervinus und anderen) in einem Atem auf. 186 Sie verkörpern für ihn allesamt die romantische Tradition der deutschen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, die aus dem dichterischen Geiste Herders entstanden sei. Was er an ihnen bewundert, ist weniger die Fähigkeit zu historischer (bzw. philologischer) Kritik, die beim durchaus gewürdigten Fortschritt der Wissenschaft niemals das Ubergewicht gewinnen darf, als vielmehr die Begabung für >dichterische< Synthesen auf Grund von >sittlichen< Ideen. Im Unterschied zum Historismus kommt es Borchardt aber nicht mehr darauf an, daß die sittlichen Ideen mit dem göttlichen Weltplan übereinstimmen, sondern daß sie den Aufbau eines in sich geschlossenen Gesamtbildes der Geschichte ermöglichen. Damit werden die Maßstäbe der historischen Wirklichkeit und der geschichtsphilosophischen Wahrheit weitgehend durch das Kriterium der ästhetischen und ideologischen Einheitlichkeit der Weltanschauung 187 ersetzt. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Borchardt über die »Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert< von Treitschke schreibt: »Tragisch stand im Risse dieser schicksalsvollen Zeit ihre einzige dichterische Großtat, das einzige Epos der Epoche, Treitschkes Deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, von vollendeter und hinreißender poetischer Wahrheit und ohne den Schatten der historischen Einsicht, leidenschaftlich liebevoll, und völlig unvernünftig, eine Stilisierung aus Erlebnis und Glauben, aber bewirkt mit den wie bei Tacitus mißbrauchten Mitteln Klios, die es verschmähen darf, ihre Schwestern nur zu geleiten, denn Leiterin ist sie oder nichts.« 188 Aus dem Zitat geht hervor, daß der Historiker allerdings auch ein Leitbild liefern muß. Der Wert seiner Geschichtsdarstellung bemißt sich nicht zuletzt danach, ob die eigenen, leidenschaftlich durchlebten Ideen die ganze Nation bewegen und in die Zu-
185
V o n »dichterischer Geschichte* spricht die Rede >Das Geheimnis der Poesie* von 1 9 3 0 ,
786
Vgl. v.a. die Reden >Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr< von 1 9 1 4 (Prosa V ,
vgl. Reden, S. 1 3 8 . S. 2 j j ) und >Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts* v o n 1 9 2 7 (Reden, S. 340), die Schrift >Vertikal-Europa< von 1 9 2 9 (Prosa V , S. 3 7 4 ) sowie die Anthologie »Deutsche Denkreden* von 1 9 2 5 . 187
Vgl. u.a. Prosa I, S.406.
188
Ebd., S . 1 1 1 .
64
kunft weisen können. Damit ergänzt Borchardt das Kriterium der Einheitlichkeit (»poetische Wahrheit«) durch die Kriterien der rhetorischen Wirksamkeit und der politischen Richtigkeit (»historische Einsicht«), Wie Treitschkes »Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhunderts so erfüllt nach seinem Urteil auch Jacob Burckhardts »Kultur der Renaissance in Italien< lediglich die ersten beiden Bedingungen.' 8 ' Immer wenn Borchardt über andere Geschichtsschreiber urteilt, kehren die nämlichen Kriterien wieder, die man insgesamt unter den Nenner des Dichterischen oder Schöpferischen bringen kann. Am deutlichsten sind sie vielleicht in der Laudatio >Josef Nadler. Zur Verleihung des Martin Bodmer-Preises der Gottfried Keller-Stiftung< (1929/30) ausgedrückt, die den Autor der »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften gegen den positivistischen Vorwurf verteidigt, er habe bloß mythologische Fiktionen erschaffen: [H]inter Treitschkes Werk steht eine ebenso mythologische petitio principii - die gottgewollte Epiphanie des Preußenstaates - wie hinter dem Rankes - das Hegeische Weltbild wie hinter dem Mommsens - die politische Werteskala des Achtundvierzigers - wie hinter unzähligen anderen - das gute und das böse Prinzip in vorbestimmtem Dualismus. Die Helden der Heroengeschichtsschreibung waren, vor dem Auge der strengen Forschung, ein Mythus? Die >Massen< der Lamprechtschen Gegengeschichtsschreibung sind nur der Gegenmythus. Die Forschung mag sich auf reine Kritik beschränken. Der erste Schritt zur Darstellung ruft die neuen Mächte der Einbildungskraft auf und stellt sie unter das schöpferische Gesetz, das der Gestaltung. [...] Seien also die Helden von Nadlers riesigem Gestaltenbau [...] dichterische Konkretionen oder erdachte Abstraktionen - und sie werden bestenfalls das erste, schlimmernfalls wohl auch einmal das andere sein - die Seele des Buches ist nicht positivistisch, sondern durch und durch divinatorisch und visionär, von einer ins Innerste und Mächtigste hinein empfangenen Erfahrung des nationalen Ganzen und der universalen Weltordnung angestoßen, die in sich unerschütterlich ist, und nur durch ein neues Bild aufgehoben werden kann, nicht durch Zensur und Kritik. 1 ' 0
Nadler sei es nicht nur gelungen, die deutsche Literaturgeschichte auf neue Weise zu integrieren und zu dramatisieren, sondern auch »Wertsetzungen« 1 ' 1 vorzunehmen. Es ist klar, daß Borchardt die positivistische Richtung der Geistes- und Kulturwissenschaften im ganzen nur ablehnen konnte. Ähnlich wie schon in der Rede »Dichten und Forschen^ 92 hat er in den späten »Epilogemena zu Homeros und Homer< die Beschränkung auf eine analytische Erforschung der Fakten (die »Überlastung des geschichtlichen Mikroskops«) als entscheidenden Irr189
190 191 192
Zu Burckhardt vgl. v.a. die Rede »Mittelalterliche Altertumswissenschaft von 1929 (Prosa III, S. 71-92) und den Aufsatz »Dante< von 1928 (ebd., S. 98). Zur Kritik des Renaissance-Begriffs als eines großartigen, aber irreführenden »Illusionsbildes< vgl. auch S. 169 u. S. 176 dieses Buches. Prosa I, S.S. 4 o 7 f. Ebd., S.406. Zu Borchardts Sicht von Nadler vgl. genauer S. 361-368 dieses Buches. Vgl. Reden, S. 207.
65
tum des Positivismus benannt, da ohne eine synthetisierende Gestaltung durch die Phantasie (den »schaffenden Spiegel« Goethes) überhaupt keine Geschichte geschrieben werden könne. 193 Doch hat er von den Positivisten im einzelnen mehr gelernt, als man nach diesen Äußerungen vermuten würde. Abgesehen von der philologischen Methode, die er in seinen literaturhistorischen und literaturkritischen Schriften teils als divinatorisches, teils als polemisches Instrument einsetzte, eignete er sich unter anderem geopolitische (Ratzel), völkerpsychologische (Wundt) und sozialökonomische (Lamprecht) Argumente an. Daß er diese Perspektiven in seine Betrachtung der Kulturgeschichte integrierte, unterscheidet ihn deutlich von der auf individuelle >Gestalten< konzentrierten Geistesgeschichte der Georgeaner. Man vergleiche etwa den Essay >Pisa< mit dem Buch >Kaiser Friedrich II.< von Kantorowicz. Borchardt hat die Diskussion um dieses wissenschaftlich umstrittene, aber öffentlich sehr erfolgreiche Buch zum Anlaß genommen, in einem 1930 geschriebenen Artikel die >Pseudognostische Geschichtsschreibung< des gesamten George-Kreises zu attackieren. Seine Entlarvung der verschiedenen >Gestalten< der Geistesgeschichte als bloße Verkleidungen Georges führt zu der grundsätzlichen Kritik, daß die versuchten »Setzungen« 194 nicht nur geschichtslos, sondern auch sinnlos seien, weil sie sich in einem sektiererischen Kult um eine einzige Person erschöpften, statt eine nationale Tradition oder gar >Religion< für ganz Deutschland zu stiften. Borchardt sah in den Büchern der Georgeaner die Perversion der von ihm angestrebten dichterischen Geschichte, wobei der Einwand gegen die pseudohistorischen Travestien Georges ein Problem seiner eigenen Schöpfungen spiegelt. Überhaupt sieht Borchardt dort am schärfsten, w o er auf geistig verwandte Geschichtsschreiber trifft. Von daher lassen sich seine Kritiken häufig als Selbst-Kritiken lesen. Das beste Beispiel dafür ist der große, bezeichnenderweise nicht abgeschickte Brief an Pannwitz vom 6. September 1918, in dem Borchardt das ausgerechnet von Hofmannsthal zugesandte und empfohlene Buch >Die Krisis der europäischen Kultur< verreißt. Dort fragt Borchardt rhetorisch: »Wie soll ich denn beginnen, ohne Sie tief zu verwunden, ohne Sie heilen zu können, ohne an die Wurzeln Ihrer Mentalität zu schneiden!« Und fährt dann fort: W i e soll ich Ihnen begreiflich machen, was Ihnen als ein heut Uneinbringliches fehlt und immer fehlen wird, um den Problemen denkend und formend gerecht zu werden, die Ihr D r a n g zur Universalität sich stellt? Wie soll ich Ihnen den Unterschied erklären, den Sie nicht fühlen können - den Unterschied zwischen dem endlich im concisen Apergu niedergeschlagenen Resümee der Welterforschung bei Montesquieu und Burckhardt oder bei Polybius oder bei V i c o und C r o c e , und den fanatischen Improvisationen, die Ihre Fruchtbarkeit häuft, diesen nachgerade völlig sophistischen G e b ä u 193
P r o s a l l , S . 9 5 u. S . 7 0 .
194
Prosa I V , S. 298. V g l . auch S. 294.
66
den zu denen alles Material aus zehnter Hand ist, und denen der erzogene Blick anfühlt, dass nicht ein einziges Detail zuverlässig, zweifellos, auf Durcharbeitung und Nachhaltigkeit prüfbar ist? Dass Sie immer wieder imstande sind ein geschichtliches Phänomen leidenschaftlich neu zu sehen, mit Ihren schöpferischen Augen sich körperhaft herzublitzen, das ist eine allerschönste Ergänzung Ihrer dichterischen Kraft zu Gestaltung. Es ist wirkliches Apercu ursprünglicher Art, rechtmässig wie eine Ahnung über die sittliche Welt oder Gott oder die Seele. Aber von da zum raisonnierten Organon der Zusammenhänge läuft nicht ein weiter, sondern überhaupt kein Weg, wie ein jeder weiss der auch nur ein Stück davon mit Fäusten und Sohlen zu erarbeiten gesucht hat.'95 In diesen Sätzen scheinen Stärken und Schwächen der dichterischen Geschichte durch, von denen Borchardt die ersteren f ü r die eigene Person beansprucht und die letzteren bloß den Konkurrenten zuschreibt. A n einer späteren Stelle des Briefes berichtet er, der »tiefe niederdrückende Eindruck, den mir die Lektüre Ihrer Krisis, bei vieler Bewunderung für Ihre Leistung, gelassen hat«, sei durch eine erneute Lektüre bis zum Entsetzen über den Frevel an Wahrheit, Geist und Gott gesteigert worden. 1 9 6 Die erregte Reaktion, bei der sich letztlich die Tendenz zur Entwertung durchsetzt, ist für Borchardts narzißtischen Charakter typisch und wiederholt sich immer dann, wenn jemand in seine Domäne eindringt. Sofort nachdem >Der Untergang des Abendlandes< erschienen war, plante er einen »Anti-Spengler«' 97 mit dem Titel >Die Ewigkeit der Abendländer gegen Herrn Oswald Spenglers geistiges Verbrechen verteidigtIdeen zur Kulturphilosophie«, die mit den Worten eingeleitet wird: »Mit dieser Herder-Auswahl verfolgen wir zwei Absichten: Herder als Kulturphilosoph sollte der Gegenwart nahegebracht, gleichzeitig sollten ziemlich vergessene Schriften von ihm weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden. Dabei glauben wir nicht nur eine literarische Ausgrabung zu veranstalten, sondern auch einen Beitrag zur Lösung modernster prinzipieller Fragen zu bieten. Denn >Kulturphilosophie< ist uns heute zum erneuten Problem geworden, seit wir aus der Zersplitterung zur Synthese unserer Erkenntnis hinaufstreben. Dabei ist das so wichtige Gebiet schon wieder von dilettantischen Produktionen überschwemmt worden - gegen alle diese Irreführungen sei Herders gewichtige Stimme hier neu erweckt.« (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Kulturphilosophie. Hg. v. Otto Braun u. Nora Braun. Leipzig 1 9 1 1 , S.V.) Borchardt, der sich nach 1918 noch einmal intensiv mit Herder auseinandergesetzt hat, sollte Anfang der zwanziger Jahre eine eigene, programmatisch gedachte Auswahl in der Bremer Presse edieren. Obwohl er dafür Vorschüsse vom Verlag bezog, ist auch aus diesem Plan nichts geworden. Vgl. die Briefe an Willy Wiegand (nach 28.3. 1925; 28.7. 1925; 19.4. 1927) in: Briefe 1924-1930, S. 72, S. 94f. u. S. 200f.
203
Prosa I, S . 1 1 6 . Vgl. Brief an Arthur Eloesser, ca. Mitte April 1921, in: Briefe 1 9 1 4 - 1 9 2 3 , S. 330. Prosa I, S . 1 1 7 .
204 205
69
»Formen lyrischer Prophetic«. 2 0 6 Insgesamt läuft die Schilderung des HerderErlebnisses auf die Rechtfertigung von Borchardts Biographie und die Heiligung seiner Dichter-Existenz hinaus: »[I]ch hatte meinen Halbgott gefunden, und in seiner Geschichte, der Geschichte des menschlichen Geistes, Legende und Evangelium der mir zugeordneten Nachfolge [...].« 2 ° 7 Und weiter: »[I]ch begriff, daß die Gegenstände meines Studiums und meiner Qualen - Wissenschaft und Leidenschaft - Geschichte des deutschen Volkes und Geschichte des menschlichen Geistes im Sinne meiner eigenen höheren Biographie waren, und daher alle im Flusse, alle lebendig, alle noch unentschieden, noch mitten in ihrem Drama. Erforschung war Handeln, Leben, Schaffen. Schaffen war Beschwören, Hervorzaubern, Beleben, Wiederherstellen. Denken war Erinnern. Erinnern war Vorverkündigen.« 2 ° 8 Hier kommt es vor allem auf die von Herder übernommene Idee an, daß die Geschichte der Menschheit eine >zweite Schöpfung« ist, in deren Fortgang sich einzelne Völker und Nationen ausbilden, aber auch ihre jeweiligen Traditionen immer wieder aufs neue miteinander vermitteln. Was bei Borchardt allerdings ausfällt, ist die - bei Herder anders als bei Hegel religiös verankerte - Vorstellung einer Teleologie der Kulturentwicklung. Zwar soll es im geistigen Drama um moralische Werte wie >TreuePflichtFreiheit< oder >Ordnung< gehen, doch werden diese Werte nicht in einem geschichtsphilosophischen Konzept begründet und miteinander verknüpft. U n d auch als einzelne bleiben sie historisch ziemlich unbestimmt. Wenn man Borchardts kulturgeschichtliche Schriften auf diesen Punkt hin betrachtet, so erkennt man, daß die moralischen Ideen zu expressiven Gesten werden in einem rhetorischen Prozeß, bei dem die Bewegung (im mehrfachen Sinn) das Entscheidende ist. Mit dieser Uberführung substantieller Ideengehalte in affektive Ausdrucksformen, die immer wieder die gleichen Posen der Liebe, des Hasses, des Leids, des Trotzes, der Anziehung und der Abstoßung vorführen, hängt zusammen, daß trotz der ungeheuren Dynamisierung des geistigen Dramas die Geschichte in sich zu kreisen scheint. Ein weiterer Unterschied zu Herder ist die Betonung des agonalen Charakters. Wie viele Kulturphilosophen und -historiker seiner Zeit, die von Nietzsche, Darwin, Haeckel oder Chamberlain beeinflußt sind, begreift Borchardt die Geschichte als eine niemals ruhende Auseinandersetzung zwischen gegensätzlichen Kräften und Mächten, was sich auch in der militanten Metaphorik seiner Werke zeigt: Kulturgeschichte ist Kulturkampf, ja Kulturkrieg. Freilich bewahrt ihn der Gedanke der Transformation vor Ideologien völkischer oder gar rassistischer Art. Keine Gestalt, die irgendwann in der Geschichte hervorgebracht worden ist, bleibt im Kampf der Kräfte und Mächte auf Dauer unver-
206 207 208
7°
E b d , S . I I 9. Ebd., S . 1 1 7 . Ebd, S.n9f.
ändert erhalten. Vielmehr kommt es zu einer wechselseitigen Durchdringung der Gegensätze, bei der allmählich neue Gestalten entstehen. Das geht über einen friedlichen Austausch zwischen Völkern und Nationen weit hinaus, da die Kulturformen aller Beteiligten angegriffen und dekomponiert werden. Borchardt beschreibt diese Vorgänge bevorzugt in erdgeschichtlicher Metaphorik als Verschiebung, Unterwanderung, Uberlagerung oder Sprengung. Fortgesetzt ergeben sich kleinere oder größere Traditionsbrüche. Dadurch werden die Beteiligten permanent gezwungen, ihr altes Wesen in neuer Form oder, anders ausgedrückt, die Identität des Geistes in der Varietät der Gestalt wiederherzustellen. Mit der Formulierung »altes Wesen in neuer Form« ist bereits eine logische Schwierigkeit von Borchardts Geschichtsdenken angedeutet, das sich wie noch genauer beschrieben werden soll - rhetorisch zwischen drei Sphären (metaphysische Ideen, historische Traditionen, aktuelle Probleme) verschiebt. Im geistigen Drama der Borchardtschen Kulturgeschichte gibt es unterschiedlich geartete Rollen-Typen. Nicht nur Individuen - Dichter, Künstler, Denker und Herrscher - wie bei den Georgeanern, sondern auch Kollektive Stämme, Völker, Nationen, Städte, Regionen, Staaten und Kontinente - wie bei Lamprecht und Nadler sind beteiligt. Borchardt hat in seinen Besprechungen der Nadlerschen Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaftern die Einführung kollektiver »Helden« begrüßt, weil sich dadurch die Kulturgeschichte noch reicher instrumentieren und stärker dramatisieren läßt.209 Er selbst mißt in der Gruppe der Individuen den Dichtern, in der Gruppe der Kollektive den Städten und den Regionen, den Völkern und den Nationen die größte Bedeutung zu; die Rolle des Herrschers wird nur mit problematischen Akteuren besetzt. Deshalb stellt der Hauptteil dieser Arbeit seine Begriffe des Dichters, des Herrschers, der Städte-Landschaft und der Völker-Nation genauer dar und geht auf sein Urteil über einzelne Akteure näher ein. In den vier Kapiteln »Die versagende Nation: Deutschland«, »Der feindliche Dichter: Stefan George«, »Der fehlende Herrscher: Von Wilhelm II. bis Hitler« und »Das gesuchte Heimatland: Preußen zwischen Berlin und Königsberg« wird auch deutlich werden, wie die Akteure im Drama aufeinander bezogen sind. Borchardts Inszenierungen der Kulturgeschichte werden schon durch die Vermehrung der Rollen-Typen, die - anders als etwa bei Nadler, wo die Kollektive die Individuen determinieren - selbständige Faktoren sind, sehr komplex. Die Komplexität wird jedoch durch andere Besonderheiten noch weiter gesteigert. Erstens verändern sich die allgemeinen Rollen des Dichters, des Herrschers, der Stadt, der Nation etc. mit den Zeiten. Zweitens gestalten die einzelnen Akteuren diese Rollen ganz unterschiedlich, wobei sie ihre einmal gefundene Gestalt aus freiem Willen oder gezwungen durch die Gewalt der Ereignis-
209
Vgl. S. 363^ dieses Buches.
71
se immer wieder radikal verwandeln können. 210 Oder richtiger: Borchardt formt ihre Gestalt nach seinen jeweiligen Bedürfnissen um, wie sich beispielsweise an den widersprüchlichen Goethe-Bildern der Redekampagne des Jahres 1927 sehen läßt. 211 Drittens gibt es wechselnde Perspektiven, aus denen das Bühnengeschehen der Geschichte betrachtet wird. Borchardt verschiebt den Standort des Betrachters sowohl im Raum als auch in der Zeit. So wird Deutschland mal von Preußen, mal von Bayern, mal von Italien, mal von England aus dargestellt und das 19. Jahrhundert erscheint hier aus der Nahsicht der Zeitgenossen, dort aus der Fernsicht der Vor- oder der Nachfahren. Insbesondere die Zeitperspektive springt häufig um, da in Borchardts Geschichtsdenken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eng aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig beleuchten sollen. Im Extremfall kommt es zur Uberblendung aller drei Zeitperspektiven. Die Rede >Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts< von 1927 belehrt jene Zuhörer, die in der »Naivität des positivistischen Dünkels« befangen sind, daß »in der Geschichte die Epochen nicht nacheinander stehen, sondern nebeneinander und durcheinander«. 2 ' 2 Damit ist schon gesagt, daß das Verhältnis der Zeiten selbst in einem unerhörten Maß dramatisiert wird. Alexander Kissler hat in einer Studie über Borchardts Geschichtsdenken die Wechselbeziehungen zwischen Vergangenheit (Tradition), Gegenwart (Kritik) und Zukunft (Vision/Utopie) analysiert und die Tendenz zur Aufhebung der Chronologie damit erklärt, daß das Ich des Dichter-Sehers seinen absoluten Deutungsanspruch gegenüber der Geschichte durchzusetzen versucht. 213 Es handelt sich um einen eskalierenden Prozeß: Zunächst verwirft der Dichter-Seher seine eigene Zeit. Dann entwirft er Gegenbilder der Vergangenheit, in der er einen Vorschein der Zukunft zu erkennen sucht. Je genauer er die Epochen der Vergangenheit betrachtet und je stärker er sie auf die Gegenwart bezieht, desto mehr entpuppen sich aber die vermeintlichen Idealzeiten als Problemphasen im Drama der Geschichte. Das führt zu ei2I
° So heißt es in dem Artikel >Das Verbrechen der Dreibundserneuerung< des »Spectator Germanicus< (1912) über Italien: »Die Gewalt der Geschehnisse, die nicht widerrufbar sind, drängt es weiter, unter der Wirkung leichterrungener Triumphe und leerer Machtentfaltung vor geringfügigen Objekten hat der Charakter des Volkes sich blitzschnell transformiert, in Wahrheit seine alte Vorliebe für den Schein anstatt des Wesens, für Blenden, Gelten und Beneidetwerden nur neu entdeckt.« (Prosa V, S. 145.) Zu dieser Argumentation, die zwischen der alten Identität und der neuen Form Italiens hin- und herspringt, vgl. genauer Kauffmann, Borchardts Rhetorik der »Politischen Geographies S. 35-39. 211 Vgl. dazu S. 1 7 7 - 1 8 7 dieses Buches. 2,2 Reden, S.333. 213 Vgl. Alexander Kissler: »Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht«. Individuum und Geschichte in den Reden und Essays Rudolf Borchardts. In: Weimarer Beiträge 45 (1999), S.218-237.
72
nem immer weiteren Zurückgehen in der Geschichte, bis von ihr nichts Ideales mehr übrig ist. Zum Schluß kann sich der Dichter-Seher nur noch mit einem Sprung aus der Geschichte in eine Sphäre des >Ewigen< retten. Diesen Endpunkt meint Kissler, wenn er schreibt, Borchardt zeige trotz »eines dezidiert historischen Ansatzes [...] hier ein das Geschichte geradezu negierendes Denken, dessen Sehnsucht in einer nur als religiös zu bezeichnenden Hoffnung auf Errettung aus dem hic et nunc in eine überzeitliche, azyklische, untragische Realität besteht«.2'4 Die letzte Instanz, auf die sich der Dichter-Seher in seinem Prozeß gegen die Zeit(en) berufen kann, ist die Sphäre >metaphysischer< Ideen, die nur ihm zugänglich ist. Theoretisch müßten sich somit drei hierarchisch geordnete Sphären in seinem Denken unterscheiden lassen, nämlich die Dimension der Ewigkeit (metaphysische Ideen), die Dimension der Geschichte (historische Traditionen) und die Dimension des Lebens (aktuelle Probleme). Praktisch steht man aber vor der Schwierigkeit, daß die drei Dimensionen bis zur Unkenntlichkeit ineinander geschoben werden, daß Ideen, Traditionen und Probleme ein unentwirrbares Knäuel bilden. Der Frage etwa, was denn die metaphysische Idee der deutschen Nation sei, entgegnet der Dichter-Seher stets mit dem Verweis auf die historischen Traditionen der deutsch-europäischen Menschheit, wie er umgekehrt die Frage, worin das deutsche Wesen von Traditionen bestehe, da doch die Kultur durch die Probleme des Lebens fortgesetzt zur Verwandlung der Formen gezwungen werde, nur mit dem Anruf der Idee beantworten könnte. Letztlich bleibt ihm die Versicherung, er selbst, der von den Göttern der Geschichte erwählte Dichter-Seher der Nation, wisse schon, was »deutsch« sei. Da Borchardt willkürlich zwischen den Sphären hin- und hergleitet, sollte man nicht von einer >GeschichtsmetaphysikGeschichtsrhetorik< sprechen. Am radikalsten hat Borchardt seine Auffassung der tragischen Geschichte und der dichterischen Geschichtsschreibung in den 1944/45 niedergeschriebenen >Epilogemena zu Homeros und Homer< formuliert. Der Vergleich mit dem 1911 verfaßten Aufsatz >Uber AlkestisPhantastik< der Geschichtsschreibung auf der anderen Seite gesteigert werden. In dem frühen Aufsatz hatte Borchardt den mythischen Gehalt der Alkestis-Sage vom Schutt der hellenischen und hellenistischen Aus- und Umformungen befreien wollen und erklärt, dazu »müssen wir versuchen, über die Kluft von Jahrhunderten, die das mythische Bild von der ausgebildeten Sage, blinde Sehnsucht von den Gestalten einer organischen Geschichte scheiden, uns an den Trümmern alter Heerstraßen fortzuhelfen, die hie und da aus der Ruine einer unvergleichlichen Geschichte zufällig
214
Ebd., S.231. 73
auftauchen«. 2 ' 5 Und weiter: »Wir müssen nicht erst sagen, daß es halb das Spiel einer träumenden Phantasie ist, das uns die zusammengebrochene Tradition herzustellen gestattet, und daß sich die folgende Darstellung von den Kombinationen unserer gelehrten Zeitgenossen nur dadurch unterscheidet, daß ihre Illusion nicht die des Panoramas ist; daß sie mit einem Wort darauf verzichtet, in enormen Distanzen spazieren zu gehen, wie im eigenen Krautgärtchen [.. .].« 2 ' 6 Hier spricht der Dichter-Seher- der die mit ihm konkurrierenden Universitätsprofessoren als »Landpastoren« abkanzelt, weil sie das Pathos der Distanz und, damit verbunden, das Ingenium der Phantasie nicht aufbringen noch vom Bruchstückhaften und Zufälligen einer bestimmten Uberlieferung. In den >Epilogemena< wird das Fragmentarische und Kontingente der Überlieferung zu einem allgemeinen Gesetz des Geschichtsverlaufs erhoben und daraus abgeleitet, daß nicht die Methode der Kritik, sondern nur das Ingenium der Phantasie zur Geschichtsschreibung befähigt: Es gibt keinen geistigen Unterschied zwischen einer zerstörten Uberlieferung und einer erhaltenen. Jede Uberlieferung ist zerstört. Die Motive, auf die alles ankommt, sind auch dort, w o scheinbar überliefert, immer verloren. [...] Zerstörte Uberlieferungen sind nicht dazu da, daß die geschichtliche Kritik Grad und Herd der Zerstörung bis in den Skrupel bestimmt und darüber hinaus, um ein Wort Hegels zu variieren, sich zu ihrem Nichtwissen ein gutes Gewissen macht [...]. [...] Mit solchen Mitteln wird nicht Geschichte geschrieben, es wird mit ihnen auf Geschichte verzichtet. 2 ' 7
Das Verfahren der historischen Kritik gehe von falschen Voraussetzungen aus, da die geschichtlichen Tatsachen, die sie von den falschen Uberlieferungen befreien will, gar nicht existierten: Jede vermeintliche Tatsache sei ein »Begriffsbild« 2 ' 8 oder Sinnbild, und zwar vom Augenblick der Wahrnehmung an. 2 ' 9 Wenn aber eine kritische Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit prinzipiell unmöglich und praktisch schädlich ist, weil dabei überhaupt kein Bild entsteht, so bleibt als einzig sinnvolles Verfahren die phantasmagorische Imagination (träumende Phantasie) eines historischen »Mythus« übrig, den Borchardt als »richtungsgebendes geschichtliches Begriffsbild« 2 2 0 definiert. Dies heißt auch, daß Geschichte stets in doppelter Weise auf die Gegenwart bezogen ist: Sie wird aus der eigenen Zeit heraus entworfen, selbst wenn ihr Bild 2
" P r o s a l l , S.242. Ebd., S.2 4 2f. 2.7 Ebd., S.96. 2.8 Ebd., S.97. 219 Nachdem schon Nietzsche in der >Morgenröte< über die sogenannten historischen Tatsachen ausgerufen hatte, »Facta! Ja Facta ficta!« (Nietzsche, Werke, Bd. 2, S. 1 1 9 1 ) , ist diese ästhetisch-rhetorische Auffassung der Geschichtsformung von Denkern wie Georg Simmel und Theodor Lessing theoretisch entfaltet worden. Vgl. bes. Georg Simmel: Die historische Formung. In: Fragmente und Ausätze. Hg. v. Gertrud Kantorowicz. Hildesheim 1967. 220 P r o s a l l , S.105. 2,i
74
gegen deren (Un-)Geist gerichtet ist, und wirkt als Sinnsetzung auf die Gegenwart zurück. Die >richtige< Imagination und Motivation der Geschichte kann nur einem schöpferischen Genie gelingen, das in Analogie zum absoluten musikalischen Gehör über den »absolute[n] geschichtliche[n] Sinn«221 verfügt. Der geschichtliche Sinn, der durch sein »völlig freies, dienstloses und zweckunbewußtes Hausen in der Fülle der geschichtlichen Erscheinung [...] zur Identität mit der Geschichte selber«222 reift - auf die erkenntnistheoretische Frage, wie sich nach dem bisher Gesagten noch von Identität sprechen läßt, würde Borchardt mit einer rhetorischen Ausflucht zum metaphysischen, kontrafaktischen Wesen der Geschichte reagieren - , ist das Vermögen, aus den »zufällig überlieferten Spuren, Wirkungen, Resten eines versunkenen geschichtlichen Ganzen« durch »ausfüllenden Gesamtblick« 223 wieder eine Totalität herzustellen. Natürlich ist das Kriterium des so geschaffenen Gesamtbildes nicht die »objektive« Richtigkeit - es gibt ja keine Tatsachen - , sondern seine »Richtigkeit in sich selbst, die Evidenz eines sich selbst gehörenden und in allen seinen Organen auf seinen eigenen absoluten Gehalt wie auf ein schlagendes Herz bezogenen Körpers, der dadurch, daß er mit sich selber im Einklänge steht, sich der ungeheuren Forderung des höchsten Einklanges mit dem Geheimnis des Geschehens bis an die Grenzen des Menschen nähert«.224 Borchardt vergleicht diese geheimnisvolle Evidenz mit der Uberzeugungskraft und »Wirkung des gedichteten Kunstwerks«, 22 ' weist also auf den ästhetischen und rhetorischen Charakter der geschichtlichen Imagination hin. Besonders der Handlungs- und Wirkungsaspekt ist zu beachten. Obwohl der geschichtliche Sinn ohne bewußte Zwecke in der geschichtlichen Erscheinung haust, gibt er dieser durch sein unbewußtes Handeln eine neue Orientierung. Darin machen sich die seelischen Kräfte des jeweiligen Geschichtsschreibers bemerkbar. So erklärt Borchardt, vom geschichtlichen Sinn lasse sich der »energische Antrieb« nicht trennen, der »ganz eigentlich Charakter ist, und der als das unsichtbare Löwenmark des nur im Aggregat umgebauten eigentlichen Forscherfleißes in das Geschichtsbild der darstellenden Phantasie eingewandert ist«. Und er begründet mit diesem Antrieb die »heroische Überlegenheit« der Genies über die »Kleinmeister« der Historiographie. 226
221
222 223 224 225 216
Ebd., S. ι ο ί . Vgl. S. 63, w o der absolute geschichtliche Sinn, der »inappellabel« ist, gegen die historisch-philologische Kritik der Wilamowitz-Schule entscheidet, daß die >Ilias< wie auch die >Odyssee< von einer Person gedichtet worden ist. Ebd., S . 1 0 1 . Ebd., S.102. Ebd., S.104. Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. 75
Die Argumentation in den >Epilegomena< zielt darauf ab, daß der DichterSeher durch seine Gestaltung der Geschichte in das geistige Drama eingreift. Borchardt selbst wird zum Heros, der gegen andere >große Geister< wie Wilamowitz (Antike) oder Burckhardt (Renaissance) ins Felde zieht, um die verhängnisvolle Wirkung der von ihnen geschaffenen Geschichtsbilder auf die deutsch-europäische Kultur zu bekämpfen. Dabei nimmt er Partei für die >causae victaeWerden< und dem >Gewordenen< denkt, die sich in der Einleitung des fünften Bandes (1885) von Theodor Mommsens >Römischer Geschichte< (und zitiert am Anfang von Georg Simmeis >Probleme der GeschichtsphilosophieÜber das Studium der Geschichte
Römischen Geschichte< hin. Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). H g . v. Hans-Jürgen Dahme. Frankfurt a.M. 1989, S. 303 (Gesamtausgabe, Bd. 2). 230
Schon T h e o d o r Lessing hat das Problem diskutiert, daß immer »Sieger die Geschichte von Besiegten« schreiben, und als Alternative zu dieser »tätigen« oder »ästhetischen« Einstellung eine »leidende« oder »ethische« Einstellung zur Geschichtsschreibung erwogen; er blieb aber dem ersten Paradigma verhaftet (vgl. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, S. 6 3 - 7 1 ) . Rita Bischof schreibt dazu: » M a n kann Lessings Geschichte als Sinngebung
des Sinnlosen vielleicht am ehesten dadurch charakterisie-
ren, daß sie z w a r beständig eine Alternative von ethischer und ästhetischer G e schichtsphilosophie formuliert, die damit implizierte Entscheidung jedoch immer wieder hinausschiebt.« (Ebd., S. 286.)
76
Schreibung. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, daß die »wahre Geschichte« gegen die als >wirklich< überlieferte Geschichte erfunden, erträumt werden muß. Die »wahre Geschichte« wird für Borchardt - darin stimmt er auf verblüffende Weise mit Walter Benjamins metaphysischen Thesen >Über den Begriff der Geschichte< und dessen Spekulationen im >WahlverwandtschaftenPassagenwerkDer Untergang der deutschen Nation< mit den Worten: Meine Ordnung und Darstellung ist dadurch bestimmt, daß ich als ein Deutscher schreibe, nur als ein Deutscher, und in Allem als ein Deutscher. Da es es aber nicht eine äußerliche Geburts- und Sprachzugehörigkeit ist, ein Deutscher zu sein, sowenig wie ein Engländer zu sein oder ein Franzose, sondern nur das Bewußtsein einer nationalen Uberlieferung und eines nationalen Erbes diese Zugehörigkeit zu Charakter erhebt, so schreibe ich als ein Deutscher, der diese Uberlieferung und dies Erbe als seine Pflicht und als sein Recht, und überhaupt als seinen Sinn als Mensch seines Volkes in sich trägt. Zu diesem überlieferten nationalen Erbe gehört ein in Jahrhunderten entstandenes und durch sie geheiligtes Verhältnis des Deutschen zu allen Mächten sittlicher und geistiger Natur, die Europa zum Erdteil, und diesen zum herrschenden gemacht haben: zu Religion und Recht, zur sittlichen Pflicht des Menschen und der sittlichen Grenze der Staatsmacht, zur Schranke zwischen Lebensrechten und Lebensachtung: und zu allen Nationen, toten und lebenden, die jedermann als Träger dieser Mächte bekannt sind, jedem Volke als Vorfahren, Nachbarn, Lehrer, Miterben dieses Gemeinbesitzes vor Augen stehen.3
Solche Bekenntnisse, die für historisch ungeschulte Ohren aggressiv und militant klingen, müssen im Sinne eines kulturkonservativen Nationalismus verstanden werden, dem es um die Wiederherstellung des »deutschen Geistes« als Inbegriff der europäischen Kultur ging. Borchardt hat - läßt man das Buchfragment >Weltfragen< (1906/07) und den Zeitschriftenaufsatz >Der Kaisen (1908) beiseite - sowohl den kulturpolitischen Chauvinismus und den machtpolitischen Imperialismus des Wilhelminischen Kaiserreichs als auch den rassenpolitischen Nationalsozialismus des Dritten Reiches abgelehnt. Er läßt sich auch nicht unter die Bezeichnung >neuer Nationalismus< subsumieren, durch den Stefan Breuer den Begriff der konservativen Revolution« ersetzen will. 4 Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es sinnvoll, zunächst Borchardts Wortgebrauch zu klären. Vor kurzem hat der Historiker Wolfgang Schuller die Definitionen von >Nation< im politischen Werk Borchardts zusammengestellt und ist bei seiner Analyse zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die Bedeutung des Begriffs weitgehend mit dem damals und heute üblichen Verständnis deckt: »Rudolf Borchardts Nationbegriff unterschied sich, nüchtern genommen, in nichts von dem, was seinerzeit und was heute als Nation definiert wird - ein meist durch gemeinsame Sprache und durch gemeinsame Geschichte geprägter Personenverband, dessen Zusammengehörigkeit durch ein gemeinsames Bewußtsein davon, eine Nation zu sein und den Willen dazu, hergestellt wird.« 5 Für Borchardt bestehe der stellenweise vernachlässigte Unterschied zum >Volk< im Moment des Willens, durch den die >Nation< als geistige Einheit geschaffen 3 4 5
Prosa V, S. 503^ Vgl. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, bes. S. 180-202. Wolfgang Schuller: Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt. In: Kauffmann, Dichterische Politik, S. 1 1 - 2 5 , hier: S. 24. 81
und bewahrt werde. Das ist im wesentlichen richtig, auch wenn Borchardt nur in bestimmten Kontexten klar zwischen >Volk< und >Nation< trennt. So unterscheidet er in der Debatte um den deutschen Föderalismus die geschichtlich gegebene Vielfalt der deutschen Völker von der angestrebten Einheit der deutschen Nation, die sich im >Reich< verwirklichen soll. Gewöhnlich werden >Volk< und >Nation< jedoch fast synonym gebraucht. Daher wird in den folgenden Ausführungen noch nicht zwischen diesen Begriffen oder richtiger: Ideen differenziert. Weil Schullers Analyse zu nüchtern ist, entgeht ihm Borchardts Abwendung von den Diskursen der Staatswissenschaften seiner Zeit. Es ist ein bewußter Zug gegen diese Staatswissenschaften, daß Borchardt >Volk< und >Nation< nicht als positivistische Begriffe, sondern als metaphysische Ideen auffaßt, Ideen, die in der historischen Entwicklung der Menschheit zur Erscheinung kommen sollen. Schon in seinen frühen Schriften wird der göttliche Ursprung von >Volk< und >Nation< betont, aus dem die als fortlaufende Schöpfung gedachte Kulturgeschichte hervorgeht. Borchardt setzt sich z.B. von der Politischen Geographie Friedrich Ratzels durch die Uberzeugung ab, daß >Volk< und >Nation< keine natürlichen Gegebenheiten, sondern geistige Wesenheiten im geschichtlichen Werden sind. 6 Für ihn werden >Volk< und >Nation< nicht durch geographische Grenzen oder rassische Blutsbande, ja noch nicht einmal durch psychische Mentalitäten, soziale Normen, juristische Gesetze oder politische Verfassungen zusammengehalten, sondern durch die höchsten >moralischen< Werte. Seine Definitionen orientieren sich nicht an Ratzel oder Wundt oder Anschütz, vielmehr an Herder und, stärker noch, an Fichte. 7 Geistesgeschichtlich betrachtet, geht Borchardt ein Jahrhundert hinter die positivistischen Staatswissenschaften zurück, indem er sich die idealistischen Geschichtsphilosophien der deutschen Aufklärung, Klassik und Romantik anverwandelt. Er formt sie zu einer lebensphilosophisch aufgeladenen und kulturkritisch zugespitzten Geschichtsrhetorik um. Es ist in der Einleitung beschrieben worden, wie sehr die in der Bonner Studienzeit einsetzende und in den späteren Arbeitsphasen immer wieder aufgenommene Herder-Lektüre die 6
V g l . dazu Kauffmann, Rudolf Borchardts Rhetorik der Politischen Geographies S. 2 7 - 2 9 .
7
A u c h sprachlich ist er Fichte am nächsten, der das >Volk< folgendermaßen definiert: »Dies nun ist in höherer v o m Standpunkte der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Worts, ein V o l k : das G a n z e der in Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der E n t w i c k lung des Göttlichen aus ihm steht. Die Gemeinsamkeit dieses besondern Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt, und eben darum auch in der zeitlichen, diese Menge zu einem natürlichen, und von sich selbst durchdrungenen G a n z e n verbindet.« (Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. 5., durchges. A u f l . . H a m b u r g 1 9 7 8 , S.128.)
82
Grundzüge von Borchardts Geschichts- und Kulturdenken geprägt hat. In diesem Zusammenhang muß kaum betont werden, daß dabei den Ideen von >Volk< und >Nation< eine zentrale Bedeutung zukommt. Für Borchardts Historiographie heißt das konkret, daß Völker und Nationen als Hauptakteure im »geistigen Drama< der Kulturgeschichte dargestellt werden. Gleichwohl gibt es wichtige Differenzen. Im Unterschied zu Herder, der ein einziges durch die göttliche Schöpfung geschaffenes Urvolk annimmt, aus dem sich im Zuge einer prästabilierten und deshalb harmonisch verlaufenden Entwicklungsgeschichte alle Völker der Menschheit herausbilden, geht Borchardt von mehreren Urvölkern (>Varietätendämonisch< nennt, haben die Mission, als geschichtliche Gestalten auf Erden zu erscheinen. Jedes Volk soll, seinem besonderen >Genius< entsprechend, eine Kulturtradition von dichterischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Formen aufbauen. Doch waltet über den Völkern ein tragisches Gesetz des Schicksals, weil ihre geschichtlichen Gestalten nicht nur lebenserhaltenden Transformationen, sondern auch lebensbedrohlichen Fragmentierungen und Katastrophen unterliegen. N u r selten gelingt es, die aufgebaute Tradition über längere Zeit zu erhalten. Borchardt kann an Goethes >Urworte, orphisch< nicht glauben, die vom Dämon sagen: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« 9 Deswegen ist für ihn die Idee und nicht, wie im romantischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts, die Tradition der erste und letzte Bestimmungsgrund des Volkes. 10
8
9
10
Fichte bezeichnet in den >Reden an die deutsche Nation< die Griechen und die Deutschen als Urvölker der Menschheit (vgl. ebd., S. 72 u. S. 106). Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hg. v. Erich Trunz. 14 Bde. München 1981 (Hamburger Ausgabe). Hier: Bd. 1, S. 359. Rudolf Kayser hat in einer Rezension der Rede >Führung< von 1931 bemerkt: »Hier [...] wird auch dieser Widerspruch deutlich, daß nach Borchardts eigener Meinung eine deutsche Nation nicht besteht, andererseits aber von ihrer Tradition die Rettung erwartet wird. Dieser Widerspruch entsteht leicht bei jeder rein idealistischen Geschichtsauffassung, die das Wesen deutscher Vergangenheit für die Zukunft schöpferisch machen will.« (Bücher der Zeit. In: Die Neue Rundschau, Jg. 42, H. 8 [August 1931], S. 282.) In theoretischer Hinsicht trifft dieser Einwand die Geschichtsauffassung Borchardts nicht, da der Dichter zu den ewigen Ideen der Nation flüchten kann, wenn deren zeitliche Gestalt untergegangen ist. In praktischer Hinsicht ist natürlich ein Konservatismus nicht durchzuhalten, der auf die Verwirklichung der Idee in der Tradition gänzlich verzichtet. So ist Borchardts Rhetorik dadurch gekennzeichnet, daß sie zwischen den Argumenten der >Idee< und der >Tradition< hin- und herwechselt, so wie es für ihre jeweiligen Zwecke dienlich erscheint.
83
Immer wieder gibt es Epochen des Traditionsbruchs, in denen die Idee eines Volkes aus der Geschichte der Menschheit gänzlich oder teilweise verschwindet. In Borchardts Augen ist der Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am Ende des Mittelalters die größte Katastrophe der Geschichte; aber auch die weiteren Erschütterungen der deutschen Kulturtradition in Neuzeit und Moderne sind schwere Krisen eines Volkes, die die gesamte Menschheit mitbetreffen. In solchen Epochen ist es die Aufgabe des Dichters, den Geist seines Volkes divinatorisch zu erfassen und die Gestalt schöpferisch wiederherzustellen. Je weniger er von diesem Geist in der Gegenwart verwirklicht findet, umso mehr ist er auf die Vergangenheit verwiesen; fällt die geschichtliche Tradition völlig aus, bleibt die dichterische Schau übergeschichtlicher Ideen. Praktisch läuft das auf die Selbstermächtigung des Dichters hinaus, der willkürlich darüber entscheidet, was dem Geist seines Volkes entspricht und was nicht. Bekanntlich fühlte Borchardt sich selbst dazu berufen, diese Aufgabe in der Krise des deutschen Volkes an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu erfüllen. Als er im >Eranos-Brief< von 1924 auf sein frühes HerderErlebnis zu sprechen kommt, sagt er: In mir selber [...] hatte ich Deutschland zu suchen oder zu ergänzen: und sage ich Deutschland, so meine ich die mir durch Sprache und Charakter vorgeschriebene Varietät, durch die allein mir Europa gehörte, - sage ich Europa, die Varietät, durch die mir das Menschliche alleine zugänglich war; unmöglich mich vom anderen Pole, dem urmenschlichen und gottmenschlichen herzuusurpieren wie Herder hatte tun können. 11
Es ist geistesgeschichtlich aufschlußreich, daß Borchardt selbst gegenüber Herder, der doch der Wiederentdecker von >deutscher Art und Kunst< war, die schicksalhafte Zugehörigkeit zum eigenen Volk betont. Man kann daran erkennen, daß die kulturkonservative Auffassung des deutschen Geistes< durch den forcierten Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts nicht völlig unberührt geblieben ist, auch wenn sich Borchardt (genauso wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Thomas Mann oder Karl Vossler) von der Radikalität eines Heinrich von Treitschke, Paul Lagarde und Houston Stewart Chamberlain deutlich abhebt. Es ist nicht zuletzt ein anderer aus dem deutschen Idealismus übernommener Grundgedanke, der seinen Nationalismus mäßigt: die Idee einer wechselseitigen Bildung der Völker. Ähnlich wie Herder betrachtet Borchardt die Kulturgeschichte als einen dialektischen Prozeß, in dem die einzelnen Völker nur dann bestehen können, wenn sie sich fortwährend mit anderen austauschen und vermitteln. Auf diese Weise ist auch die im vorangegangenen Zitat beschworene Idee von Deutschland an die Ideen von Europa und der Menschheit zurückgebunden. Ein Volk, das sich lediglich um die Bewahrung des Eigenen 11
84
Prosa I, S. 118.
bemüht und auf die Anverwandlung des Fremden verzichtet, stirbt als Kulturform auf Dauer ab. Borchardt hat die italienische Renaissance und die französische Revolution auch deshalb kritisiert, weil er in ihnen Tendenzen zu einem als Separatismus mißverstandenen Nationalismus sah, der dazu geführt habe, daß zwei ehemals bedeutende Völker vorübergehend (Italien) bzw. fortwährend (Frankreich) aus der Kulturgemeinschaft Europas und der Menschheit ausgeschieden seien. Vor allen Dingen aber hat er sich mit seinen Arbeiten als Dichter, Ubersetzer und Historiker, die immer deutsch-europäisch angelegt sind, gegen den Kulturchauvinismus der Wilhelminischen Zeit gewandt. Denn für ihn bestand die besondere Mission des deutschen Volkes gerade darin, die gesamte Kulturtradition Europas und der Menschheit in sich aufzunehmen und neu zu beleben. Mit Bezug auf das Bildungs- und Erziehungsideal der Goethezeit heißt es im >Eranos-BriefNationalgeistes< sei, der eben dadurch zum Repräsentanten des >Weltgeistes< werden könne, hat Friedrich Schiller in seinem bekannten, vermutlich 1801 entstandenen Gedichtentwurf >Deutsche Größe< lediglich auf den Punkt gebracht. 14 Die »translatio
12 13
14
Ebd., S.99. Vgl. u.a. Conrad Wiedemann: The Germans' Concern about their National Identity in the Pre-Romantic Area: An Answer to Montesquieu? In: Concepts of National Identity. Hg. ν. Peter Boerner. Baden-Baden 1986, S. 1 4 1 - 1 5 3 . Ders.: Zwischen N a tionalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeit der deutschen Klassiker einen Nationalhelden zu finden. In: Aufklärung 4, H . 2 (1989), S. 7 5 - 1 0 1 . Ders.: Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage. In: Klassik im Vergleich. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1991, S. 541-569. Friedrich Schiller: Gedichte. Hg. v. Georg Kurscheid. Frankfurt a.M. 1992, S.738: »Er [der Deutsche, K . K . ] ist erwählt von dem Weltgeist, während des Zeitkampfs an dem
85
imperii* wird hier in einem geistigen Sinn, das heißt als >translatio studiiReden an die deutsche Nation< von 1808 an, in denen die vom »Untergange«17 bedrohte deutsche Nation als künftige »Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt«18 apostrophiert wird.
Ifi 17 18
86
ewgen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu bewahren was die Zeit bringt, Daher hat er bisher fremdes sich angeeignet und es in sich bewahrt, Alles was schätzbares bei andern Zeiten und Völkern aufkam, mit der Zeit entstand und entschwand, hat er aufbewahrt [...] Nicht im Augenblick zu glänzen und seine Rolle zu spielen sondern den ganzen Prozeß der Zeit zu gewinnen. Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit [...].« Vgl. Kai Kauffmann: Kulturelle Aneigung und Ausschließung. Die Funktion der Ubersetzung für die nationale Identitätsbildung in Deutschland um 1800 und 1900. In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Hg. v. Michael Böhler u. Otto Horch. Tübingen 2002, S. 117-137. Vgl. auch ders.: »Deutscher Dante«? Übersetzungen und Illustrationen der Divina Commedia 1900-1930. In: Dantes Göttliche Komödie. Drukke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten. Hg. v. Lutz S. Malke. Leipzig 2000, S. 129-152 (Katalog der Staatlichen Museen zu Berlin). Prosa V, S . 2 j 5 . Vgl. Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 21. Vgl. auch ebd., S. 19. Ebd., S.233.
Es kommt bei ihm jedoch ein Motiv hinzu, das für Fichte aus begreiflichen Gründen keine Rolle mehr spielte: der Rückbezug auf die - als Umsetzung einer metaphysischen Idee verstandene - historische Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Das bedeutet, daß er den alten, in der deutschen Reichspanegyrik und Reichspublizistik überlieferten Topos der >translatio imperiiWeltfragen< (1906/07) über die Doppelrede >Die Antike und der deutsche Völkergeist< (1927) bis hin zu dem Einleitungskapitel von >Der Untergang der deutschen Nation< (um 1943) - wird dargestellt, wie der Geist der Griechen und der Römer auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation übergegangen ist. Klammert man aus, daß Borchardt in der letztgenannten Schrift diese >translatiotransformatio< mit sich bringt, als ein von Anfang an mit schweren Konstruktionsfehlern behaftetes und deshalb am Ende völlig gescheitertes Projekt beschreibt, so kann man sagen, daß in seinem ganzen Werk das Kaiserreich des Mittelalters als diejenige Gestalt der Kulturgeschichte aufgefaßt wird, die der nationalen und universalen Idee von Deutschland, Europa und der Menschheit am meisten entsprochen hat. Besonders die Blütezeit der Staufer stellt das historische Ideal dar, an dem die anderen Epochen der Kulturgeschichte gemessen werden. 1 ' Hier findet Borchardt die - aus griechischen und römischen Kulturformen hervorgegangenen - deutschen Seelenwerte wie Liebe, Treue, Milde, Pflicht, Zucht, Gehorsam und Ordnung, welche - freilich ihrerseits geschichtlich übersetzt - für alle anderen Völker und späteren Zeiten gelten sollen.20 Allerdings, und dieses Paradox ist für Borchardts Denken äußerst charakteristisch, konzentriert sich sein kulturgeschichtliches Interesse gerade auf Epochen des Traditionsbruchs, in denen die ewige Idee und die zeitliche Gestalt der Wirklichkeit in einen Widerspruch geraten. Stärker als alles andere faszinieren 19
10
Vgl. Fred Wagner: Rudolf Borchardt and the Middle Ages. Translation, Anthology and Nationalism. Frankfurt a.M. / Bern / Cirencester 1981; Susanne Hofmann: Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts. Paderborn / München / Wien / Zürich 1995. Zu Hofmann vgl meine Rezension in: G R M , N F 48 (1998), S . 2 5 7 f . Borchardt spricht in seinem Brief an Rudolf Alexander Schröder vom 13.7. 1907 von der »Haltung ganzer Epochen der Menschheit, von der Einheit des Mittelalters, der Antike, der Renaissance, des Rococo« und zählt dann die Ideale »der καλοκαγαθία, der cortesia und Höveschheit, der gentilezza und der urbanitas, der milte und staete, des Epheben, des Ritters, des Cortigiano, des Gentleman des Offiziers« auf (Borchardt / Schröder, Bd. 1, S. 82f.). Das ist ein Beispiel für die analoge Ubersetzung geistiger Werte im Transformationsprozeß der Kulturgeschichte.
87
ihn die Probleme des >Übergangs< zwischen dem veralteten Ideal, das in seiner bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten und auch nicht mehr wiederherzustellen ist, und dem erneuerten Ideal, das sich in seiner künftigen Form höchstens erahnen läßt. So gibt es von Borchardt keine Bücher über die >Staufische Klassik< (ebenso wenig wie Werke über die >Weimarer KlassikMittelalterlichen Altertumswissenschaft begriff, fast auschließlich mit dem sogenannten »Interregnum* des 13. und 14. Jahrhunderts. Der Plan zu einer Tetralogie oder Pentalogie von Staufer-Dramen, die Dante-Schriften und das Pisa-Buch beschreiben den ebenso furcht- wie fruchtbaren Augenblick am Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in dem die niemals ganz verwirklichte Idee der Vergangenheit ein letztes Mal aufleuchtet, die Probleme der Gegenwart erhellt und eine mögliche Lösung der Zukunft Vorscheinen läßt. Nach Borchardts Auffassung setzt mit dem Ausgang des Mittelalters die Krise des deutschen Volkes ein, weil die Deutschen ihre mittelalterliche Gestalt als Reichsnation verlieren, während andere Völker - besonders die Franzosen und die Engländer - die neuzeitliche Form der Staatsnation erreichen. Der Dreißigjährige Krieg, der die habsburgischen Träume von einer Erneuerung des Imperiums als Vielvölkerreich scheitern läßt, besiegelt das unglückliche Schicksal für die kommenden Jahrhunderte. Auch die hohenzollernsche H o f f nung, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erfolgte Gründung des Deutschen Reiches als kleindeutscher Einheitstaat brächte die Erlösung, erweist sich als Illusion. Im historischen Uberblick betrachtet, erscheint die gesamte Geschichte Deutschlands vom späten 13. bis zum frühen 20. Jahrhundert als eine Zeit des Interregnums, in der es nicht gelingt, die metaphysische Idee und historische Tradition mit den kulturellen und politischen Bedingungen der Neuzeit und Moderne in Übereinstimmung zu bringen. So enden die zyklischen Versuche, das deutsche Volk entweder als Reichsnation zu restaurieren oder aber als Staatsnation zu formieren, immer wieder im >BankrottBrief an den Verleger« (1906) beschäftigt sich Borchardts Werk mit eben jenen Problemen der deutschen Nationsbildung, die Helmut Plessner
21
88
In dem bislang nicht editierten Fragment >«Der Deutsche 1928'« ( D L A Marbach. A: Borchardt, Po 1 3 ) werden die »weltgeschichtlich stetig wiederkehrenden Tage« benannt, an denen »uns öffentlich die Bank zerbrochen wird und wir mit den ersten leeren Händen wieder am Pranger stehen«: »1200 Blüte des Hohenstaufenreichs, der Poesie des Frauendienstes und der Sitte, 1350 nach den zwei Höllenjahren des Schwarzen Todes die völlige moralische, politische, aesthetische struktive Zahlungsunfähigkeit des eben noch mächtigsten und züchtigsten Volkes. U m 1500 das Weltreich Karls des Vten, Reformation, Humanismus, höchste Stadtblüte, Primat der Künste Gewerbe, Wissenschaften, Erfindungen, 1648 die zertretene Leichenstätte Deutschlands, über der in Münster die Lebensreste, Rechte und Grenzen ausgewürfelt werden. U m 1800 das was jeder weiss, um 1928 das w o w o n wir hier reden.«
in seiner Schrift >Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche< ( 1 9 3 5 ) - besser bekannt unter dem späteren Titel >Die verspätete Nation< (1959) - kulturgeschichtlich analysiert hat. 22 Wie bei Plessner liegt der Schwerpunkt des Interesses im 19. Jahrhundert.
1,1.3.
Krisis und Katastrophe der deutschen Nation in Neuzeit und
Moderne;
Borchardts Pläne zu einer >Geschichte des Unterganges der
Deutschen
Nation< Daß Borchardt die Krisis des deutschen Volkes in der Neuzeit und Moderne als die Geschichte einer nicht geglückten Nationsbildung verstanden hat, belegt ein Kapitelschema, das wahrscheinlich am 1. Januar 1 9 1 9 entworfen worden ist: Geschichte des Unterganges der Deutschen Nation 1 Capitel 2 Capitel 3 Capitel 4 Capitel 5 Capitel 6 Capitel 7 Capitel 8 Capitel 9 Capitel 10 Capitel
die Nationsbildung und die Mängel ihrer Anlage die ausgebildete Nation die Aufzehrung der Gesellschaft die Zerstörung der Tradition die Materie und der Nihilismus die europäische Situation der Krieg der Fluchtversuch und die Verleugnung die Zerstörung der Nation die Rückkehr ins historische Chaos. 23
Dieser Plan, auf den Borchardt 1922, 1933 und 1943 zurückgekommen ist, steht unter dem unmittelbaren Eindruck der Flucht von Kaiser Wilhelm II., der Kapitulation des deutschen Heeres und der Revolution des deutschen Volkes, was den katastrophischen, ja apokalyptischen Tenor erklärt. Doch die Ansicht, 22
23
Vgl. Helmut Plessner: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Frankfurt 1982, S. 11-223. Die Berührungspunkte zwischen Borchardt und Plessner sind so zahlreich, daß ein Vergleich den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Der wesentliche Unterschied in der Betrachtung und Beurteilung ist hier allerdings festzuhalten: Der Ideologiekritiker Plessner hätte die Geschichts- und Kukurspekulation Borchardts als eine Variante des deutschen Geistes interpretiert, der, anders als dies bei den westlichen Nachbarn möglich war, in der Neuzeit keinen Begriff der Staatsnation entwickeln konnte und deswegen besonders sensibel und radikal auf die Differenzierungsprozesse und Dekompositionstendenzen der Moderne reagierte. Für den Zivilisationskritiker Borchardt wäre diese Interpretation wieder nur ein Beispiel für das westliche Mißverständnis von Geschichte und Kultur gewesen, das den deutschen Geist infiziert hat und die deutsche Nationsbildung weiterhin verhindert. D L A Marbach. A: Borchardt, Po 9. Faksimiliert wiedergegeben in: KulturStiftung der Länder (Hg.): Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar. Rudolf Borchardts Nachlaß. Marbach a.N. 1990, S. 8. 89
daß die Nationsbildung nicht in den richtigen Bahnen verlaufen ist, stammt bereits aus der Vorkriegszeit. Schon die 1902 gehaltene >Rede über Hofmannsthah übt fundamentale Kritik an der deutschen Kultur der Gegenwart. Diese Zeitkritik wird in dem 1906 verfaßten >Brief an den Verleger< und der 1907/08 geschriebenen >Ankündigung< erstmals zu der Geschichtstheorie eines Traditionsbruchs erweitert, der mit der Gründung des Deutschen Reiches eingetreten sei. Schon in diesen Jahren sieht Borchardt die nationale Problematik in einem europäischen Kontext. Dies ist einer der Gründe, warum er das mit dem Verleger Julius Zeitler vereinbarte »Buch über deutsche Fragen«24 durch ein Buch mit dem Titel >Die Kultur des dritten Italien und ihren Gegensatz zum germanischen Norden< ersetzen will - ein Buch freilich, das sich »der lateinischen Contraste nur bedient um herauszuheben was ich deutsch finde, was ich deutsch wünsche, nicht immer NeuDeutschland, sondern viel sehr viel AltDeutschland«.2' Auch aus diesem auf ca. dreihundert Seiten veranschlagten Buch, das teilweise in den Stil einer »Denkschrift«, ja eines »politischen Pamphlets«26 verfallen sollte, wird nichts, dafür beginnt Borchardt mit den noch umfassender angelegten >Weltfragen< (1906/07). Die Disposition zu diesem Werk, das seinerseits Fragment bleibt, weist in vielen Punkten auf die späteren Buchpläne voraus.27 Obwohl bereits im >Brief an den Verleger< das Stichwort vom völligen »Untergang«28 der Tradition fällt, drückt Borchardt in seinen Schriften bis 1918 immer wieder die Überzeugung aus, daß die Deutschen trotz mancher Verirrungen auf dem Weg zu einer Nation sind. So ist der Aufsatz >Der Kaiser< (1908) nicht nur eine vernichtende Kritik an den kulturellen und politischen Fehlentwicklungen des Deutschen Reiches, etwa dem Journalismus und dem Parlamentarismus, sondern auch ein flammendes Plädoyer für Wilhelm II., den Gestalter der werdenden Nation und Führer des kommenden Reiches.29 Erst die Abdankung des Kaisers, die Auflösung der Monarchie und die Ausrufung der Republik erschüttern Borchardt so stark, daß er die deutsche Geschichte des späten 19. und des 20. Jahrhundert nur noch als fortschreitenden Verfall begreifen kann. Jetzt erst konzipiert er seine >Geschichte des Unterganges der Deutschen NationReden 24 25 26 27 28 19
90
So der >Brief an den Verleger«, in: Prosa V I , S. 1 1 . Brief an Julius Zeitler vom 28.8. 1905,1η: Briefe 1895-1906,8.368. Ebd., S.369. Vgl. Prosa V, S . 5 3 5 f . Prosa VI, S . 2 1 . Vgl. S. 3 0 1 - 3 1 7 dieses Buches.
an die deutsche Nation< (1808) darstellen sollen; auch die Parallelen zu Ernst Moritz Arndts Werk >Geist der Zeit< (1806-1819) und Friedrich Schlegels Schrift >Signatur des Zeitalters< (1820-1823) dürften beabsichtigt sein. Diese Vorträge sind nur teilweise überliefert, doch läßt sich sowohl die Themenfolge als auch die Argumentationsstruktur erschließen.30 Wenn die von Gerhard Schuster vorgeschlagene Datierung des oben zitierten Kapitelschemas auf den 1. Januar 1919 (nicht, wie früher angenommen, auf den Februar 1922) stimmt, 31 dann hat Borchardt von Anfang an intendiert, die Vortragsreihe in ein Buch mit dem an Edward Gibbons >History of the Decline and Fall of the Roman Empire< erinnernden Titel >Geschichte des Unterganges der Deutschen Nation< umzuarbeiten. Am 25. Dezember 1919 teilt er Hugo von Hofmannsthal mit, er »arbeite an der Redaktion der vorjährigen Berliner Vorlesungen >Einltg i. d. Geist der Zeit< die Ende Januar erscheinen sollen«. 32 Aber erst zwei Jahre später wird das Werk wieder erwähnt. A m 27. Februar 1922 schreibt Borchardt in einem nicht abgeschickten Brief an den Rowohlt-Verlag, mit dem er über eine Reihe von Publikationen verhandelt: Die hauptsächlich mich beschäftigende neue Arbeit ist ein Werk grossen Umfanges und einzigartigen Charakters: [...] Das Buch heisst »Geschichte des Unterganges der Deutschen NationDeutscher Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert< (1879-1894) das Vorbild genannt wird, zu dem Borchardts Werk ein Gegenstück oder, genauer ausgedrückt, eine Widerlegung sein soll. Während Treitschke die Reichsgründung von 1871 als Schlußpunkt, als Akt der Apotheose dargestellt hatte, in dem sich die Bildung der deutschen Nation vollendet, will Borchardt sie als den Wendepunkt zur Katastrophe hin erweisen. Treitschke, der als Historiker neben den Politiker Bismarck tritt, ist der große Kontrahent Borchardts im Lager der Konservativen, dem nicht zufällig im >Eranos-Brief< ein Denkmal gesetzt wird. 3 ' Im Brief an den Rowohlt-Verlag ist auch davon die Rede, daß fast gleichzeitig mit der deutschen Ausgabe englische und italienische Ubersetzungen erscheinen müßten. Borchardt behauptet sogar, er habe seiner politischen Überzeugung gemäß »in erster Linie für England, nicht für Deutschland geschrieben: das Buch ist in jeder Zeile ein unausgesprochener Appell an die englische Einsicht in die durch die Ereignisse geschaffene Lage, und daher, unbeschadet seiner inneren Consistenz, eine politische Tendenzschrift«. 36 Und er fügt hinzu, daß an französische Übersetzungen wegen der »unversöhnlichen Haltung des Buches gegen Frankreich« 37 kaum zu denken sei. Diesem Übersetzungsplan liegt wieder Borchardts Geschichtsidee von Europa (oder genauer: von >AlteuropaNeueuropa< im Widerspruch steht) zugrunde, nach der Deutschland mit England und Italien eine Schicksalsgemeinschaft verbindet, aus der sich Frankreich am Ende des Mittelalters ausgeschlossen hat.38 Angesichts der Bestimmtheit, mit der Borchardt die Disposition umreißt und die Manuskriptlieferungen für die nächsten zwölf Monate ankündigt, ist es erstaunlich, daß es keine einzige Zeile der >Geschichte des Unterganges der Deutschen Nation< gibt. Vermutlich hatte er die Niederschrift noch gar nicht begonnen, als er - wie immer in Geldnot - dem Verlag das Werk anbot und dafür nicht weniger als 90000 Mark als Gesamthonorar verlangte. Offenbar wurde das Projekt danach nicht mehr weiterverfolgt. Daß aber die Idee in Borchardt fortlebte, bezeugt eine Stelle aus dem >Eranos-BriefMittelalterliche Altertumswis-
Borchardt fühlte sich nicht in der Lage, als Historiker den Untergang der deutschen Nation panoramatisch zu beschreiben, solange das Geschichtsdrama noch im vollen Gange war, also sein gesamter Verlauf noch gar nicht übersehen und beurteilt werden konnte. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, als DichterPolitiker, der das Zeitgeschehen persönlich miterleidet und mitgestaltet, die Vorgänge perspektivisch und parteiisch zu schildern, um sie möglicherweise in eine andere Richtung zu lenken. Tatsächlich wählt er in den zwanziger Jahren andere Formen als die große Geschichtserzählung, wenn er seine Einblicke in das Schicksal der deutschen Nation darstellt. Er wählt nämlich die Formen des privaten oder öffentlichen Briefes, der Rede, des Essays und der Autobiographie. Neben dem >EranosBrief >selbst sind hauptsächlich die großen Reden >Der Dichter und die GeschichteDie Antike und der deutsche Völkergeists >Mittelalterliche Altertumswissenschafts >Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts', Schöpferische Restauration< (alle 1927) und >Führung< (1931) zu nennen. Hinzu kommt die Autobiographie >Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt« (1926/27) mit ihren Exkursen zur Kulturgeschichte. Es gibt zwingende Gründe in Borchardts Persönlichkeitsstruktur und Kulturphilosophie - so lautet eine Kernthese der folgenden Kapitel - , daß er seine Ansichten vom >Untergang der deutschen Nation< gerade in diesen Formen mitgeteilt hat. Ob es ihm möglich gewesen wäre, sie in die »Geschichtsform« ä la Gibbon, Ranke, Droysen, Mommsen und Treitschke »umzusetzen«, erscheint sehr fraglich. Allerdings hegt er noch zweimal, nämlich 1933 und 1943, den Plan eines großen Geschichtswerks. Wie schon 1918/19 hängen diese Projekte mit Ereignissen zusammen, die den Untergang der deutschen Nation zu besiegeln scheinen. Wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Borchardt rasch als den nächsten Akt der Katastrophe beurteilt hat, konzipiert er ein englisches Buch mit dem Titel »Interregnum, Being an Inquiry into the Causes of German disorders past & recentDie Kultur des dritten Italien und ihr Gegensatz zum germanischen Norden< schreiben und bis Weihnachten liefern wolle. Es verging wieder ein Jahr, in dem sich Borchardt gelegentlich aus Italien, Deutschland und der Schweiz meldete und Zeitler von tiefer Niedergeschlagenheit' 2 und langer Bettlägerigkeit 53 berichtete, bis er den großen >Brief an den Verleger begann, der höchstwahrscheinlich als Vorwort zu dem (dann doch nicht geschriebenen) Italien-Buch gedacht war. 54
49 50 51 52 53 54
Briefe 1895-1906, S. 107. Prosa VI, S . u . Briefe 1895-1906,8.367. Vgl. Brief an Julius Zeitler vom 1 4 . 1 2 . 1905, in: Briefe 1895-1906,8.387. Vgl. Brief an Julius Zeitler vom 28.2. 1906, in: Briefe 1895-1906, S.406. Die Angabe im >Brief an den Verlegers »es werden, wenn Sie zum ersten Male diese Zeilen im Drucke vor sich sehen, genau zwei und ein halbes Jahr verflossen sein seit Sie [...] ein Buch über deutsche Fragen von mir verlangten« (Prosa VI, S. 11), wider-
97
Man muß diese Vorgeschichte kennen, um Inhalt, Form und Ton des B r i e fes an den Verleger< zu verstehen. Denn die (wiederum Fragment gebliebene) Schrift ist zunächst einmal eine Rechtfertigung dafür, daß Borchardt das Buch über deutsche Fragen wenigstens in der vereinbarten Form nicht mehr verfassen will. Daß diese Rechtfertigung, die doch bereits in dem privaten Schreiben vom August 1905 erfolgt war, zu einem öffentlichen Vorgang gemacht wird, deutet jedoch von Anfang an auf weiterreichende Intentionen hin. Der Beginn des >Briefes< läßt allerdings noch nicht erahnen, daß dieser sich zu dem autobiographischen Bekenntnis einer individuellen Lebenskrise und Lebenswende ausweiten wird, einem Bekenntnis, das mit der historischen Erkenntnis einer nationalen Kulturkrise und dem politischen Entschluß zu einem nationalen Kulturprogramm ^schöpferische RestaurationBrief< selbst eine neue Form schafft, um aus persönlichem Erleben über deutsche Fragen zu handeln. In den ersten Abschnitten des >Briefes< wird die Weigerung, das von Zeitler verlangte Buch zu schreiben, mit der Diskreditierung des Genres der Kulturkritik in der Öffentlichkeit begründet." Borchardt, der mit Paul de Lagarde (>Deutsche SchriftenUnzeitgemäße Betrachtungen«, 1873-1876) und, versteckt, Julius Langbehn (>Rembrandt als ErzieherBriefes< begründet, warum die »schicklichste Art von 57
58
Vgl. Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen »Ring«-Kreises 1 9 1 8 - 1 9 3 3 . Berlin 2000, S. 1 1 - 3 3 . Die Parallelen zwischen dem jungen Borchardt und dem frühen Moeller sind verblüffend. Petzinna (ebd., S. 12), schreibt über Moeliers Lebensweg: »1902 verließ Moeller aus unklaren Gründen Berlin. Die nächsten Jahre lebte er in Paris, 1906 Schloß sich ein weiteres Jahr in Italien an, sodaß Moeller erst im Herbst 1907 wieder nach Deutschland zurückkehrte, um für kurze Zeit Militärdienst zu leisten. Die Gußform seiner späteren Rolle als nationaler Erwecker hatte er sich bereits in Deutschland zugelegt.« Seit 1904 veröffentlichte Moeller Bücher und Schriften zur deutsch-europäischen Kulturproblematik, u.a >Die Deutschen< (8 Bde., 1 9 0 4 - 1 9 1 0 ) , >Die Zeitgenossen (1906), >Nationalkunst f ü r Deutschland< (1909), >Erziehung zur Nation< ( 1 9 1 3 ) , >Die italienische Schönheit ( 1 9 1 3 ) , >Der preußische Stil< (1916). Aus einem Brief an Hans Schwarz vom 29.4. 1925 geht hervor, daß er in dieser Zeit - ähnlich wie Borchardt eine Autobiographie plante: »[I]mmer ernsthafter denke ich denn auch daran, eine Rechenschaft über mein Leben zu geben - über >Unser LebenAnkündigung< gelangt man ohne weiteres zu der autobiographischen Erzählung des >Briefes< zurück. Stellt doch der >Brief< dar, daß Borchardt in der Entwicklungsgeschichte der eigenen Persönlichkeit den »allgemeinen deutschen Konflikt« so intensiv wie kein anderer durchlebt hat. Zu Beginn scheint es nur um den Gegensatz zu gehen, der sich zwischen der Innenwelt des heranwachsenden Borchardt und der Außenwelt der Wilhelminischen Zeit auftut. Der Gymnasiast, der auf der Schule kaum gelesene Autoren wie Pindar und Livius, Goethe und Moliere verschlingt und sich über das geforderte Latein, Griechisch und Französisch hinaus Englisch und Italienisch einverleibt, ist wie der Student der Philologie und Archäologie, der unersättlich nach Sanskrit und Arabisch greift, von einem dunklen Bildungsdrang beseelt, der »den Menschen zu seinen Ursprüngen rückwärts treibt«.72 Noch unbewußt knüpft er damit an die Bildungstradition des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik an, deren Versuche, das gesamte Erbe der Menschheit für die deutsche Kulturnation fruchtbar zu machen, nach der Staatsgründung nicht fortgesetzt worden waren. Er selbst, so wird im >Brief< berichtet, habe sich in seiner Jugend wie ein königlicher Erbe gefühlt, dem »ohne sein Zutun eine Minute tausend abgerissene Fäden von tausend Lebenswebstühlen in die Hände spielt auf daß er allein das Gewebe gestalte«.73 Indem Borchardt diese Metapher erzählerisch entfaltet, gibt er dem Antagonismus zwischen den eigenen Bestrebungen und den Tendenzen der Wilhelminischen Zeit eine mythische Dimension. Von Geburt an, so wird dem Leser bedeutet, sei er, Borchardt, vom Schicksal dazu berufen gewesen, die geistige Alleinverantwortung für die deutsche Nation und die europäische Menschheit zu übernehmen.
71
Vgl. die Politische Notiz< von 1912, in: Prosa V, S. 549. Prosa VI, S.16. " Ebd., S . 2 1 . 72
103
Der >Brief< soll Borchardts Bildungsgeschichte bis zu dem Punkt schildern, an dem er sich seiner Verantwortung bewußt stellt. Dieser Erkenntnis- und Entscheidungsprozeß läuft aber nicht ohne tiefe Lebenskrisen ab. Während das Kind noch intuitiv seiner Berufung folgt, beginnt der reflektierende Jugendliche an ihr zu zweifeln, weil er bemerkt, daß er selbst von den Kulturproblemen der Zeit nicht nur äußerlich berührt, sondern innerlich zerrissen ist: Nicht genug, sagte ich mir, daß indes du dich deutsch nennst ein fremdes Blut in deinen Adern jeden deiner Wünsche, jede Regung, die andern unbewußt kommt und geht, zwiespaltet und bewußt macht: so muß dich nun noch ein fremdes Schicksal deines einzelnen Bodens berauben und schon dein Geschlecht als ganzes hatte keinen. Nun muß jedes der Vorbilder, jeder der Lebensläufe, an die du dich um Aufschluß wendet, mit seiner Sicherheit und Wurzelkraft, ja mit der frommen Schönheit, mit der jedes auf seiner Wurzel blüht, deine Flüchtigkeit beschämen statt sie zur Stätigkeit hinaufzuheilen.« 74
Das Bewußtsein, durch den Verlust der preußischen Heimat, an die sich seine vom Juden- zum Christentum konvertierte Familie gerade erst zu assimilieren begonnen hatte, auch persönlich entwurzelt zu sein, wird durch die Erfahrungen der Universitätszeit gesteigert. Denn der Student, der die Schule in dem Wahn verlassen hatte, ein Jüngling könne das Leben beginnen, indem »er sich auf Betrachtung beschränke«, und von dem Irrglauben beherrscht war, daß »alle Möglichkeiten des deutsch-geborenen Mannes [...] im Professor gipfeln«, 75 muß nicht nur den Verfall der Bildungsinstitutionen beobachten, sondern auch einsehen, daß die von ihm autodidaktisch befolgte Bildungstradition zumindest in der Gestalt, in der sie von Herder, Goethe, den Humboldts, Schlegels und Grimms aufgebaut worden war, keinen Ausweg aus der Kulturkrise bietet, weil sie den nach 1871 geänderten Lebensbedingungen und Lebensbedürfnissen der deutschen Nation nicht mehr entspricht. Damit findet er den allgemeinen deutschen Konflikt zwischen den überlieferten Lebensformen und den neu entstandenen Lebensgehalten, von dem die >Ankündigung< redet, in der eigenen Persönlichkeit wieder, die ihr elitäres Selbstgefühl aus einer Bildung bezieht, die sie gleichzeitig als historisch überholt erkennt. Aus diesem Konflikt, den der Zwanzigjährige noch nicht lösen kann, resultiert die Unruhe seiner Seelenstimmung, die zwischen Hybris und Melancholie schwankt, ebenso wie die Unruhe seiner Lebensführung: der häufige Universitätswechsel und, nach dem Abbruch des Studiums, die langen Auslandsreisen. Mit bewegenden Worten, die den Schleier des Geheimnisses jedoch nirgends lüften, schildert Borchardt seinem damaligen Kommilitonen und jetzigen Verleger die Irrungen und Wirrungen der Jahre zwischen 1895 u n d 1906: »In Berlin habe ich begonnen, in Bonn haben Sie mich gekannt, in Göttingen habe ich wenn nicht geen-
74
Ebd., S.26. > Prosa VI, S . 1 7 .
7
104
det doch abgebrochen. Was dazwischen liegt ist Unaussprechliches, was sich davon aussprechen läßt sind Reisen, und reisen ist alles was ihm gefolgt ist.«76 In keiner anderen Schrift seines CEuvres hat Borchardt so nachdrücklich die persönliche Lebenskrise bekannt. Aber natürlich ist die Beichte rhetorisch in ein Erzählkonzept integriert, das auf den Moment der Lebenswende, der Offenbarung und Erweckung, hinführt. In der Einleitung ist der dialektische Dreischritt beschrieben worden, der Borchardt von dem Kindheitsgefühl, ein einsames Opfer zu sein, über die Geschichtserkenntnis, das Schicksal einer ganzen Generation zu teilen, zum Sendungsbewußtsein des Dichter-Sehers bringt, alleine die deutsche Nation wiederherstellen zu können und zu müssen.77 In der mittleren Phase findet er vorübergehenden Anschluß an die Jugend-Bewegung des Ästhetizismus. Folgerichtig wird an dieser Stelle des >Briefes< die bisherige Ich-Form durch die Wir-Form der Erzählung ersetzt. Auf den verbleibenden Seiten des Fragments beschwört Borchardt geradezu die Gemeinsamkeiten einer nicht mehr nur betrachtenden, sondern gestalterisch tätigen Generation, die, ausgehend von der Erfahrung der Entwurzelung und Zerklüftung, nach der Einheit eines neuen Stils, der Ganzheit einer neuen Kultur sucht. Um den behaupteten Zusammenhang der jungen Generation nicht gleich wieder in Frage zu stellen, werden im >Brief< - anders als in der >Rede über Hofmannsthal< - keine Personen oder Richtungen hervorgehoben, doch ist vor allem an Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und die >Blätter für die Kunst< zu denken, die Borchardt im Jahre 1898 kennenlernte, wodurch sich nach eigenem Bekunden sein Verhältnis zu Leben und Welt, seine »Stellung gegen alle kunstmässig geprägte Sprache aller Zeit und aller Völker völlig verrückte« 78 und er sich erst als Teilnehmer, dann als Führer einer umfassenden Bewegung begriff. 79 Eine Richtung wird im >Brief< allerdings doch genannt, aber nur, um sie auszugrenzen. Laut Borchardt fehlt den Vertretern der sogenannten >Heimatkunst< die Einsicht, daß zu den alten Kulturtraditionen der deutschen Gaue und Stämme nach der Reichsgründung von 1871 kein Weg zurückführt. Damit gehören sie in geistiger Hinsicht nicht zur jungen Generation. Denn deren Zusammenhang stellt sich überhaupt erst durch das Bewußtsein her, daß der Heimat- und Traditionsverlust nicht einfach revidiert werden kann, sondern durch eine andere, höhere Integrationsform der Kultur kompensiert werden muß. Damit ist der entscheidende Punkt im >Brief< erreicht, an dem das Negative ins Positive, der Verlust in einen Gewinn gewendet wird. Die Angehörigen der jungen Generation erkennen nicht nur, daß sie gerade durch ihre Heimatlosig-
76 77 78 79
E b d , S.26. Vgl. S. 38-40 dieses Buches. Brief an Karl Wolfskehl vom 3 1 . 3 . 1901, in: Briefe 1895-1906, S. 134. Vgl. S. 26of. dieses Buches. 105
keit eine Schicksalsgemeinschaft bilden, sie erkennen auch, daß diese Heimatlosigkeit die Voraussetzung für die Schaffung einer neuen Identität der deutschen Nation und Totalität der deutschen Kultur ist: Indem w i r jeder das Eigene teils verloren teils frei dahingegeben hatten, wurde zum ersten Male seit es Geschichte gibt das gesamte Volkserbe Eigentum jedes einzelnen. [...] Z u m ersten Male, seit es deutsche Geschichte gibt, w u r d e der gesamte zugängliche Vorrat deutscher Möglichkeiten der selbstverständliche und disponible Besitz des Einzelnen, der an keiner einzigen und einzelnen dieser Möglichkeiten durch seine G e burt ausschließend beteiligt war. Ein ungeheurer H o r i z o n t des Gewinstes tat sich auf. Wer eben noch beklagt hatte, daß Deszendenz und Landschaft ihm nicht die Wege wies, fand sich plötzlich durch die Nation, deren Bild sich eben wieder hergestellt hatte, ja fast zum ersten Male offenbarte, fast mythisch determiniert. 8 0
Daß Borchardt von einer »neuen Offenbarung« spricht, ist gerade in bezug auf die besonders ausgeprägte Problematik seiner eigenen Herkunft verständlich. Für einen Außenseiter wie ihn, der weder zum ethnisch verwurzelten Judentum (Generation der Urgroßeltern) noch zum landschaftlich gebundenen Preußentum (Generation der Großeltern) noch zum wirtschaftlich losgelösten Kapitalistentum (Generation der Eltern) zurückkehren konnte bzw. wollte, bot sich die Identifikation mit einem kulturell formierten Deutschtum an, wobei dieses Deutschtum allerdings im Sinne einer elitären Bildungsidee definiert wird, die gegen die bornierte Kulturrealität des Wilhelminischen Reiches gerichtet ist. »Für das Reich dieser Welt«, so umschreibt Borchardt den Gegensatz zwischen Idee und Realität der Nation, »entschädigt sich die enterbte oder die verzichtende Seele dadurch daß sie ihr Tiefstes auf ein Reich bezieht, das nicht von dieser Welt ist, die geschichteschaffende Negation durch die kühnste Idealität selbst in der Praxis ausgleicht«. 8 ' Auf diese Weise verstanden, löst die Idee des Deutschtums das kollektive Identitäts- und Distinktionsproblem: Die Außenseiter der jungen Generation, die keine besondere Heimat besitzen, werden zu Vorkämpfern der künftigen Nation, weil nur sie sämtliche Kulturtraditionen aufnehmen und weiterführen können, aus denen sich das kommende Reich bilden wird. Mit dem emphatischen Bekenntnis zur jungen Generation und zur künftigen Nation bricht der >Brief< ab. Borchardts Hinweis auf das Heute, »da mich mein wahres Abseits beseligt und bereichert«, 82 verrät jedoch, daß die letzte Erkenntnis, die zur endgültigen Entscheidung über den richtigen Lebens- und Schaffensweg führt, noch nicht mitgeteilt worden ist. Was in der Erzählung seiner Bildungsgeschichte aussteht, ist eine weitere Offenbarung, durch die Borchardt seiner geistigen Alleinverantwortung gewahr wird. Er muß einerseits erkennen, daß die junge Generation in eine ästhetizistische Sackgasse geraten 80 81 82
Prosa V I , S . 3 o f . Ebd., S . 3 1 . Ebd., S.29.
106
ist, 8 ' und andererseits, daß nur er, der als einziger über das gesamte Kulturerbe der Menschheit historisch verfügt, auch das poetische Ingenium besitzt, dieses Erbe für die künftige Nation fruchtbar zu machen, wodurch die Idee der Nation überhaupt erst eine lebendige Gestalt erhält. Dazu muß er aber auch entscheiden, welche Teile (Selektion) des Erbes in welcher Form (Transformation) zum Aufbau der deutschen Nation verwendet werden können. Dieser schwierige, von Phasen des Selbstzweifels unterbrochene Entscheidungsprozeß fällt in die Jahre zwischen 1904 und 1906, also gerade in die Zeit vor der Abfassung des >BriefesBeichte des Bocchino BelfortiDurantDivina CommediaWorms< (datiert 24.7. 1906) und schickt ihn an Zeitler. Dort distanziert er sich von der jüngeren Generation der achtziger Jahrgänge: »In den Jahren, in denen wir uns gegen die Feigheit der Alteren mit so leidenschaftlichen Hoffnungen auflehnten, scheinen sie schon wieder eine neue Resignation zurechtgemacht zu haben, deren letzte Spitze sich am Ende nur gegen uns selber richten kann.« (Prosa III, S. 2 5 7.) Er stellt also die im Fragment des »Briefes« beschworene Gemeinschaft der Jugend wieder in Frage.
84
Ein frühes Zeugnis für diesen Zusammenhang ist der in Volterra geschriebene Brief an Karoline Ehrmann vom 25.10. 1904, der die erfüllte Zukunft vorwegnimmt, in der »die Gestalten wachsen die ich beschwöre und die Formen sich runden die ich will, und die ungeheure Werkstatt frei braust von der aus die Fäden ins Unendliche fliessen, sich an das grösste der Vergangenheit lebendig anknüpfen; und ein einziger Wille das ganze beherrscht, ein Wille der aus nur diesem Hause heraus das Volk ergreifen und bestimmen will« (Briefe 1895-1906, S.249). Vgl. auch den Brief an den Bruder Philipp Borchardt vom 27.6. 1905, der sich mit dem Leben der Eltern auseinandersetzt und im Gegenzug das eigene Kultur- und Familienprogramm formuliert (ebd., S. 354-366). Zu Borchardts Vorstellungen von Liebe, Ehe und Familie, die als Ideen der Kultur gegen die Begriffe der Zivilisation ausgespielt werden, und seinem obsessiven Kinderwunsch vgl. bes. die Brautbriefe vom 29.8. 1904, 2 7 . 1 . 1905 u. 10.4. 1905 (ebd., S.234-238, S.265-272 u. S.305-316). Als 1918/19 die deutsche Nation restlos untergegangen und die Ehe mit Karoline kinderlos gescheitert ist, startet Borchardt ein neues Kultur- und Familienprogramm, vgl. S. 147-166, bes. S. 159f. dieses Buches.
107
obernder, sein Schicksal jugendlich jagender Norden römisch zur Provincia Germania zusammen, in mir war Wolfram und Lessing, Holbein und der Meister von Liesborn, in mir Brahms, das Portal von Chartres, die dithmarsische Ballade von der Rosenblume, 2. Könige X X I I I , Hartmann von Aue und der ganze Goethe [...].« 8s Man ahnt, daß Borchardts nationales Kulturprogramm universale Züge haben wird - eine Geste, mit der die normalen Leser beeindruckt und die konkurrierenden Kulturproduzenten ausgestochen werden sollen. Die unermeßliche Weite des Blicks, der mühelos zwischen den entferntesten Punkten der Vergangenheit und Zukunft hin- und herschweift, ist der Ausweis des wahren Prophetentums. Es ist anzunehmen, daß Borchardt die kulturphilosophische Idee der deutschen Nation und das kulturpolitische Programm der schöpferischen Restauration im Fortgang des >Briefes< entfalten wollte. Der >Brief< sollte ja nicht nur die auf dem Verhältnis von Germania und Romania fußende Beziehung zwischen Deutschland und Italien erhellen, sondern darüber hinaus den Zusammenhang des Italien-Buches mit Borchardts bisherigen und künftigen Werken erweisen. Weshalb aber wurde dieser Plan nicht umgesetzt? Vielleicht bemerkte Borchardt, daß sich der Text zu einer ebenso ego- wie gigantomanen Seelenund Weltdarstellung auszuwachsen begann, die zumindest nicht mehr als Vorwort in ein Buch über >Die Kultur des dritten Italien< paßte. Vielleicht erkannte er auch die Schwierigkeit, daß sich das Verhältnis zwischen der eigenen Bildungsgeschichte und der allgemeinen Bildungsgeschichte der deutschen Nation umso schwerer beschreiben ließ, je stärker sich der Kulturhorizont erweiterte. Möglicherweise konnte er in der einmal gewählten Form der autobiographischen Erzählung die kulturellen Probleme und Ideen nicht so umfassend auf den Begriff bringen, wie es zur Begründung seines Programms der schöpferischen Restauration< nötig gewesen wäre. Jedenfalls beschritt er in dem wenig später begonnenen Buch >Weltfragen< einen anderen Weg, nämlich den Weg der kulturphilosophischen, kulturhistorischen und kulturpolitischen Abhandlung. Daß auch dieser Versuch abgebrochen wurde, deutet allerdings darauf hin, daß er allgemein damit überfordert war, die behaupteten Verhältnisse, Beziehungen und Zusammenhänge vollständig darzustellen. Wir werden im Laufe dieser Studien viele Formen des Abbrechens untersuchen und dabei eine für Borchardt charakteristische >Rhetorik des Fragments< herausarbeiten, die ihre tieferen Gründe in seiner narzißtischen Psyche hat. Warum auch immer der >Brief< nicht abgeschlossen wurde, er ist auch als Fragment ein faszinierender Text, der mit einer spektakulären Geste, der Vision des »Deutschen«, über seine Abbruchkante hinausweist. (Wenn man den >Brief< als eine narzißtische Inszenierung des Dichter-Propheten betrachtet, so erkennt man in dieser Geste zumindest einen provisorischen Abschluß des 8
> Prosa VI, S.23.
108
Schreibprozesses.) Borchardt gelingt es, die psychologische Analyse der eigenen Persönlichkeitsproblematik und die historische Kritik der allgemeinen Kulturproblematik der Wilhelminischen Zeit aufeinander zu beziehen, und zwar so geschickt, daß eine getrennte Betrachtung der beiden Seiten kaum mehr möglich ist. Obwohl er anders als in der Autobiographie von 1926/27 die familiären Ursachen der »Leiden meiner Kindheit« - das heißt vor allem das gestörte Verhältnis zu den Eltern - weitgehend ausblendet, weil er ja gerade keinen bloß individuellen Fall schildern will, erzählt er eine überzeugend motivierte Geschichte seiner Persönlichkeitsentwicklung, in der das Gefühl der Heimatlosigkeit durch das Sendungsbewußtsein »wirklicher nicht eingebildeter Distinktion« sublimiert und die Gefahr des >Zerfließens< durch die Wiederherstellung der Form gebannt wird. Diesem inneren Prozeß, so heißt es an einer Stelle hellsichtig, verdanke er »den Haß gegen alle Dekomposition, so täuschend und so dreist sie sich um mich her als Differenzierung aufzuspielen wagt«. 86 Mit Recht hat Kurt Flasch von diesem Satz gesagt, er charakterisiere wie kein anderer Borchardts psychische Disposition und das durch diese Disposition motivierte Programm der schöpferischen Restauration*, das gegen die Desintegrationstendenzen der Moderne gerichtet sei.87 Stefan Breuer hätte ihn, wie überhaupt den ganzen >BriefBriefes< ist es, daß Borchardt in seiner individuellen Lebensgeschichte auch die generationstypischen Züge herausarbeitet. Wenn er die Gefühle der Desintegration und Desorientierung beschreibt, um dann die Idee der Nation als Heilsbotschaft zu verkünden, trifft er tatsächlich eine weit verbreitete Stimmungslage der Jugend nach der Jahrhundertwende. Man mag einwenden, daß weder die Selbststilisierung des Kranken, der zum Arzt wird, noch die Diagnose noch das Rezept originell sind. Beispielsweise schreibt Moeller van den Bruck in einem privaten Brief des Jahres 1908: Auch ich habe, und gerade als moderner Mensch, schwankend gestanden, dort w o heute unsere Jugend steht und vor lauter Relativismus keinen Halt mehr sieht. Sollten die Menschen nicht da ihren Halt wieder finden können, wo ich ihn gefunden? 88
u 87
88
Sämtliche Zitate aus: Prosa VI, S. 28f. Vgl. Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000, S. 174^ Arthur Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann, 22.1. 1908. Zit. nach Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, S. 17.
109
Wer aber den >Brief< mit Moeliers Buch >Die Zeitgenossen (1906) vergleicht, nimmt einen wichtigen Unterschied wahr. Moeller liefert nämlich zunächst eine allgemeine Physiognomie der deutschen Kultursituation, auf die dann einzelne Portraits von Literaten und Künstlern folgen, die für die Ubergangszeit repräsentativ sein sollen. Ein ähnliches Verfahren wendet er in dem achtbändigen Werk >Die Deutschem (1904-1910) an, das, mit Borchardts Worten zu sprechen, den gesamten Vorrat deutscher Möglichkeiten durchmustert, um die Wesenszüge der Nation an den Gestalten der Kulturgeschichte wiederzuentdecken.89 In beiden Fällen fehlt eben jene Verbindung von Autobiographie und Kulturgeschichte, die dem >Brief< seine weitaus höhere rhetorische Überzeugungskraft verleiht. Indem Borchardt eine durch das Leben bzw. Erleben vermittelte Beziehung aufbaut zwischen der eigenen Person und der Zeit - wobei er die richtige Balance finden muß zwischen der Behauptung der individuellen Erwählung und der Beschreibung der generationstypischen Erfahrung, weil auf der einen Seite der Verdacht des andauernden Realitätsmangels (bloß eingebildete Distinktion< des Ich) naheliegt und auf der anderen Seite die Gefahr des erneuten Identitätsverlustes (>Zerfließen< in der formlosen Masse) droht werden die Authentizität der Kulturkritik und die Autorität des Kulturvisionärs erheblich gesteigert. Erst durch das Gegen- und Miteinander von Individuum und Epoche entsteht der überwältigende Eindruck eines mythisch-religiösen Schicksalsdramas, an dessen Ende der von Gott geprüfte Prophet vor sein Volk tritt, um das Kommen eines neuen Zeitalters anzukündigen. Die Verknüpfung von Lebensbekenntnis (Konfession und Apologie) und Geschichtserkenntnis (Kritik und Anklage) in der Form eines zwischen Privatheit und Öffentlichkeit angesiedelten Briefes stellt die eigentliche Innovation dar, die Borchardt am Genre der Kulturkritik vornimmt. Ihre Möglichkeit ist bereits in einigen Schriften Nietzsches - nicht zuletzt im >Ecce Homo< - angelegt, doch wird sie erst im >Brief< konsequent durchgeführt. Borchardt war sich bewußt, eine für seine Zwecke bestens geeignete Form geschaffen zu haben. Als er in einem an Anton Kippenberg, den Leiter des Insel-Verlages, gerichteten Brief vom September 1907 neben dem Projekt der sogenannten >Münsterausgabe< mittelalterlicher Literatur auch den Plan eigener >Vermischter Schrif-
89
Die ersten fünf Bände schildern »verirrte«, »führende«, »verschwärmte«, »entscheidende« und »gestaltende Deutsche«, der (vorläufig) abschließende sechste Band faßt diese Einzelzüge in der Gestalt Goethes zusammen. Goethe erscheint als Inbegriff aller >deutschen Möglichkeiten«. (Aus analogen Motiven wollte Borchardt den »ganzen Goethe« in die Euphorionausgabe aufnehmen.) Wie aus einer Verlagsankündigung im >GoetheDie Werte der Völker« in sieben Bänden: 1) Rasse und Nation, 2) Die italienische Schönheit, 3) Der französische Zweifel, 4) Der englische Menschenverstand, 5) Die deutsche Weltanschauung, 6) Der amerikanische Wille, 7) Die russische Seele.
110
ten< vorstellte, sprach er unter anderem von einem Aufsatzband >Kritische und darstellende ProsaBriefes an den Verlegen. Auch später griff er auf dessen Muster zurück, wenn er den Antagonismus zwischen seiner Person und der Epoche beschreiben und das Programm der schöpferischen Restauration< begründen wollte. Insbesondere der >Brief< in der >EranosWeltfragen< (1906/07)
Borchardt hat das angekündigte Buch über >Die Kultur des dritten Italien* nicht geschrieben. Stattdessen konzipiert er gegen Ende des Jahres 1906 das weit umfassender angelegte Werk >WeltfragenWelträtsel< (1899) anzeigt. Aus der Disposition des Ganzen sowie den Fragmenten der Einleitung und dreier Kapitel geht hervor, daß dieses Werk den Zusammenhang zwischen der Kulturkrise der deutschen Nation und der Kulturkrise der europäischen Menschheit erweisen sollte. Es hätte sich um eine Fortsetzung des >Briefes an den Verlegen in einer anderen, nicht mehr Individual- und Nationalgeschichte, sondern National- und Menschheitsgeschichte verknüpfenden Form gehandelt. Die beiden Schriften müssen als korrespondierende Teile einer Geschichtskonstruktion angesehen werden, in der die Schicksale Borchardts, Deutschlands und Europas aufeinander bezogen sind, und zwar so, daß der Gegensatz, der zwischen Borchardt und Deutschland auftritt, sich auf depotenziertem Niveau zwischen Deutschland und Europa wiederholt. So ergibt sich eine abfallende Geschichtskurve, bei der die Distanz zwischen metaphysischer Idee und historischer Realität immer weiter wächst. Die Einleitung erläutert die Generalthese des Werkes, daß »heut wieder jede Weltfrage richtig gestellt deutsche Frage ist und jede deutsche Frage richtig beantwortet Weltfrage«. 91 Borchardt konstatiert, daß diese Verbindung seit dem Eintritt der germanischen Völker ins römische Reich bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges - der Paralysierung der deutschen im europäischen Organismus - historisch gegeben war, um dann zu postulieren, ihre Wiederherstellung müsse in der heutigen Situation zum politischen Prinzip und Programm werden, wenn die »Erneuerung der Nation« 92 kein leeres Wort bleibe solle. 90 91 92
Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. 130. Prosa V , S. 537. Ebd., S.537. III
Durch sein Buch möchte er vor allem den politisch Handelnden bewußt machen, daß Deutschland nur dann eine Identität als Nation finden kann, wenn es seine geschichtliche Stellung gegenüber den anderen Nationen Europas erkennt und seiner daraus erwachsenden Verantwortung für die Menschheit gerecht wird. Doch darf dies nicht in dem Sinn verstanden werden, in dem gezwungenermaßen »der Deutsche des Interregnums zwischen 1650 und 1850 Weltbürger war« (Kosmopolismus), und auch nicht in dem Sinn, in dem »heute der obere Abschaum und die untere Hefe der nationalen Flut international in der Welt aufzugehen, seine Grenzen zu verleugnen sucht« (internationaler Liberalismus und Sozialismus): Sondern in dem einzigen Sinne, daß Deutschland als die jüngste N a t i o n Europas z u m ganzen übrigen E u r o p a in einem notwendigen Gegensatze besteht, einem Gegensatze der die eigentliche zentrale Frage Europas und darum der Welt ist. In dem einzigen Sinne, daß der germanische Kern des europäischen Gefüges das einzige Zentrum der Fermentation, der Bildung und Umbildung, einer tiefen weit wirkenden, heilkräftigen und heiligen Beunruhigung und Erneuerung der Säfte ist. [...] Die Wortführer des nichtdeutschen, daher mit Notwendigkeit antideutschen Europa, die lateinischen Nationen und das England das in Momenten innerlicher Tiefstände immer latinisiert, begreifen dies große Unterscheidungsmerkmal Deutschlands unter dem Begriffe des Rückschrittlichen und der R e a k t i o n . "
Bereits hier zeichnet sich die kulturphilosophische, kulturhistorische und kulturpolitische Frontlinie ab, die sich durch die >Weltfragen< zieht: Auf der einen Seite findet man Deutschland, das die Tradition germanischer >Lebensformen< (Kultur) weiterführt und wiederbelebt, auf der anderen Seite die übrigen, von Frankreich angesteckten und angeführten Nationen Europas, die diese Tradition verabschiedet haben und dafür andere, neulateinische >Lebensformen< (Zivilisation) ausbilden. Laut Borchardt zerreißt der so verstandene Gegensatz aber nicht nur die Einheit Europas, sondern auch die Einheit der deutschen Nation. Es existiert gewissermaßen eine Heimatfront, an der die mit dem Ausland verbündeten Vertreter des sogenannten Fortschritts gegen die >Reaktion< kämpfen. Es gibt, wie Borchardt in der Einleitung der >Weltfragen< noch etwas nebulös formuliert, »Gesinnungsreste in gewissen Teilen der Gesellschaft, es gibt daher auch entsprechende Parteimeinungen und Parteien, es gibt schließlich den Ausdruck solcher Parteien als Presse, Literatur, geistige Äußerung im allgemeinen, die das Staatsleben, die gesellschaftliche Entwicklung, die allgemeinen Daseinsformen Deutschlands anders zu gestalten suchen als der Dämon der Nation es verlangt«94 - von hier aus ist es zur Dolchstoßlegende von 1918/19 nicht mehr weit. In dem großen Fragment des zweiten Kapitels, das die >Krise des Weltbildes< beschreibt, wird betont, daß sich die Kritik keineswegs auf die spezifischen "
Ebd., S . 5 3 7 f .
»4 Ebd., S . 5 3 8 .
112
Gesinnungen des Liberalismus oder Sozialismus beschränkt, die sich in bestimmten Parteien und Presseorganen artikulieren; vielmehr richtet sie sich generell gegen die europäische Gesinnung des 19. JahrhundertsBrief an den Verleger< geschildert hatte, mit den germanischen Wanderungen analogisiert, die das Ende der Antike herbeigeführt und das Mittelalter eingeleitet hatten. Wie in der Vergangenheit soll Deutschland auch in der Gegenwart das »Zentrum der Fermentation« sein, von dem die Umbildung Europas ausgeht. Der Unterschied ist nur, daß sich am Ende der Neuzeit nicht mehr kaum geformte Stämme und frei herumziehende Völker durchdringen, sondern kulturell gefestigte und territorial begrenzte Nationalstaaten gegenüberstehen. Von daher stellt sich die Frage, in welcher Weise sich die Umbildung Europas vollziehen soll. In den >Weltfragen< läßt Borchardt keinen Zweifel daran, daß er die Politik des 19. Jahrhunderts, die das nach dem Dreißigjährigen Krieg geschaffene Gleichgewicht zwischen den europäischen Staaten mit diplomatischen Mitteln zu bewahren suchte, für geschichtlich überholt hält. Und aus seinen Bemerkungen über den Russisch-Japanischen Krieg von 1905 - den er als eigentlichen Anstoß bezeichnet, über die politische Geographie der Gegenwart und Zukunft nachzudenken" 4 - ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß er ein militärisches Vorgehen Deutschlands befürwortet, um die Krise Europas zu beenden: 112
Prosa V, S.554. " " Ebd, S.535. 114 Vgl. ebd., S.42. Vgl. auch den Brief an Karoline Ehrmann vom 12.3. 1905, in dem es u.a. heißt: »Wenn doch die Japaner Phantasie hätten! Welch ungeheures Epos könnte hieraus entstehen! Alles ist ja schon an sich geradezu mythisch. [...] Das Schicksal, das Fatum, die tragische Verblendung, das Ringen zwischen zwei Welten, zwei Rassen, zwei Kulturen zwei Richtungen der wollenden Seele. [...] Diese Ereignisse berühren wirklich so ungeheuer gross, dass man wie beim künstlerisch gestalteten Leben, bei der Tragödie und beim Epos, gar keine alternative Sympathie fühlt, sondern nur anschaut, anschaut und ausruht.« (Briefe 1895-1906, S. 294L) 118
[I]ndem Japan unter rechtzeitiger Besinnung auf seine eigene Kulturstufe [...] das Feld wagte statt von K o n f e r e n z zu Konferenz, von Kongreß zu Kongreß, von Mission zu Mission nach neueuropäischer A r t zu kompromittieren, indem es sich selbst einsetzte und den Gegner zum Einsatz zwang, hat es E u r o p a zum ersten Mal wieder gezeigt wie Geschichte als F o r m entsteht, welches f ü r ein Volk die legitimen Mittel sind sich zu verwandeln und real fortzuschreiten, und daß die Erdoberfläche mit ihrem Menschenaufwuchs um tragfähig zu sein zunächst verwandlungsfähig sein muß.">
Auch wenn man Borchardts Eigenart berücksichtigt, kulturelle und politische Prozesse als >Kampf< aufzufassen und in einer dementsprechenden Metaphorik zu beschreiben" 6 , kann man diese Sätze nur als indirekte Aufforderung zum Krieg interpretieren. Die Formulierungen sind in den >Weltfragen< von 1906 sogar aggressiver als in den Weltkriegsreden zwischen 1914 und 1916, die zwar für die >Vorwärtsverteidigung< der deutschen Kultur eintreten, aber - wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt - die Annexion anderer Staatsgebiete ablehnen. Bereits 1906 ist Borchardt klar, welche Erzfeinde im Kriegsfall aufeinandertreffen würden: Nach dem bisherigen Verlauf der Geschichte können es nur Deutschland und Frankreich sein. Daher steht auch der Ausgang ihres Kampfes fest: So wie der Dreißigjährige Krieg den Untergang Deutschlands und den Aufstieg Frankreichs in Europa besiegelt hatte, so würde der durch die Freiheitskriege von 1 8 1 3 / 1 4 und den Einheitskrieg von 1870/71 vorbereitete Weltkrieg zum umgekehrten Resultat führen. Borchardt vergleicht die kulturelle und politische Lage des heutigen Frankreich mit der Situation Italiens kurz vor dem Zusammenbruch des Imperium Romanum und bemerkt eine völlige Ubereinstimmung im Inneren und Äußeren. Aus dem »Verlust jedes höheren Lebensgefühls« werde unvermeidlich der »Untergang geschichtlicher Selbständigkeit im Politischen als Ohnmacht eines namenlos gewordenen Knechtsvolks« 1 1 7 folgen. Umgekehrt ist nicht zu verhindern, daß Deutschland, wenn es der Berufung zum kulturellen >Herrenvolk< nachkommt, auch seine angestammte Stellung als politische Vormacht in der Welt wieder einnehmen wird. Betrachtet man die >Rede über Hofmannsthal< (1902), den >Brief an den Verleger« (1906) und die >Weltfragen< (1906/07) in ihrer Abfolge, so erkennt man, daß die Kritik an den deutschen Zuständen der Wilhelminischen Zeit immer stärker in ein Modell der europäischen Geschichte integriert wird. Die Kategorien, die Borchardt dabei verwendet, sind keineswegs originell, sondern in den kulturphilosophischen Diskussionen der Jahrhundertwende geradezu topisch. Besonders ist hier auf die starke Wirkung von Houston Stewart Chamberlain hinzuweisen, der in seinem Bestseller >Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts*
116
"7
Prosa V , S.43. In diesem Sinn spricht die sogenannte >Notiz< (Mai 1 9 1 4 ) von der »legitimen Form, in der Nationen sich erneuern«, nämlich der »Form des Kampfes« (ebd., S. 196). Prosa V , S. 40. 119
(1899) den Gegensatz zwischen den germanischen und den romanischen Völkern Europas beschworen und den Sieg Deutschlands im Kampf um die Weltherrschaft vorhergesagt hatte." 8 Obwohl Borchardt rassenbiologische Begründungen ä la Chamberlain scharf ablehnt, läuft seine kulturhistorische Argumentation auf das gleiche Weltbild hinaus. Auch der Gegensatz zwischen der deutschen Kultur und der französisch geprägten Zivilisation gehört zu den Topoi des Nationalismus, der um die Jahrhundertwende in der konservativen Publizistik aufkommt. Bei den drei Schriften Borchardts ist zudem aufschlußreich, daß die Argumentation, die in der >Rede< noch auf die Literatur beschränkt ist, sich im >Brief< auf alle Bereiche der Bildung ausdehnt, um dann in den >Weltfragen< auch noch die Politik einzubeziehen. Insgesamt kommt es nicht nur zu einer Historisierung und einer Nationalisierung, sondern auch zu einer Politisierung des Kulturbegriffs. Das entspricht wieder einer allgemeinen Tendenz in der konservativen Publizistik, die den Kulturbegriff zu einer Waffe in der innen- und außenpolitischen Diskussion entwickelt. 119 Daß Borchardt in den >Weltfragen< von der »vollkommenen Einsamkeit« 120 seines Kampfes gegen die öffentliche Meinung in Deutschland spricht, gehört zur rhetorischen Selbststilisierung des Propheten und stimmt mit der historischen Realität nicht überein. Helmuth Plessner hat die Politisierung des Kulturbegriffs nach 1900 als Versuch gedeutet, die Identitäts- und Legimitationsprobleme des Deutschen Reiches zu lösen, dem im Gegensatz zu Frankreich und England eine Staatsidee gefehlt habe. 121 Welche Rolle die antinomische Formel >Kultur und Zivilisation in der deutschen Kriegspublizistik von 1914 bis 1918 spielen sollte, ist aus der einschlägigen Forschung bestens bekannt. 122 Die mangelnde Originalität der kulturphilosophischen Kategorien und kulturpolitischen Parolen, die er mit der Gegenwart teilt, kompensiert Borchardt (auch) in den >Weltfragen< durch die Kühnheit der Geschichtsvision, die tief in die Vergangenheit zurückgreift und weit in die Zukunft vorausweist. Paradoxe Thesen wie die vom »Machtzuwachs des vorprotestantischen Christentums« sollen das Publikum verblüffen und mitreißen. Das ist eine waghalsige Strategie, weil die Generalthese, daß »jede Weltfrage richtig gestellt deutsche Frage ist und jede deutsche Frage richtig beantwortet Weltfrage« nur durch die fort-
118
Vgl. Houston Steward Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. München 1899. 119 Vgl. Berthold Petzinna: Wilhelminische Intellektuelle. Rudolf Borchardt und die Anliegen des »Ring«-Kreises. In: Kauffmann, Dichterische Politik, S. 63-79, bes. S. 66f. Vgl. auch: Rüdiger vom Bruch / Friedrich Wilhelm Graf / Gangolf Hübinger: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900. In: dies., Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 1, S.9-24, bes. S. 1 1 - 1 3 . ,2 ° Prosa V, S . 2 1 . 121 Vgl. Plessner, Gesammelte Schriften VI, bes. S. 36—57. 122 Vgl. zuletzt Flasch, Die geistige Mobilmachung.
120
gesetzte Behauptung von Analogien und Antinomien, Tendenzen und Gegentendenzen aufrechtzuerhalten ist, deren Traum- und Wunschcharakter gerade im Einzelfall offenbar wird. Nicht nur im Religionskapitel der >WeltfragenDas Reich als beginnende Kulturform< sogar der Raum für die Gliederungspunkte freigelassen worden ist. Knapp zwei Jahre später hat es Borchardt im Aufsatz >Der Kaiser< riskiert, die Generalthese der >Weltfragen< an der Person Wilhelms II. zu exemplifizieren, mit dem verheerenden Ergebnis, daß er sich in der Öffentlichkeit als Geschichtsprophet und Kulturpolitiker blamiert sah. 123 Man kann sich vorstellen, um wieviel mehr die >Weltfragen< auf teils verärgerte, teils belustigte Ablehnung gestoßen wären.
ι .4.
Programme der »schöpferischen RestaurationDenkschrift< (1907) und die »Ankündigung* (1907/08)
Es ist geschildert worden, wie Borchardt sowohl aus autobiographischer als auch aus weltgeschichtlicher Perspektive die Kulturzustände der Gegenwart kritisiert und dabei den Kulturbegriff politisiert. Im >Brief an den Verleger* und im Buchfragment >Weltfragen< fanden sich auch Andeutungen eines Kulturprogrammes, das die Wiederherstellung Deutschlands und Europas zum Ziel hat. Dieses Kulturprogramm wird von Borchardt in zwei Schriften der Jahre 1907/08 theoretisch entfaltet und propagandistisch aufbereitet, nämlich zum einen in der »Denkschrift über die Notwendigkeit und Grundsätze der Herausgabe älterer deutscher Literatur*, die das Fundament für die >Münsterausgabe< mittelalterlicher Literatur legt, zum anderen in der »Ankündigung* einer als Parteiorgan gedachten Vierteljahrsschrift mit dem Arbeitstitel »Hesperus*. Beide Schriften stehen im Zusammenhang mit dem Insel-Verlag, den Borchardt zum Instrument der Kulturpolitik umfunktionieren möchte. 124 »Ich bringe«, so schreibt er am 13. Juli 1907 an Alfred von Heymel, »der Insel [...] einen Complex ganz dunkler und vager Machtmittel und ganz präciser Kulturabsich-
125 124
Vgl. S. 3 1 1 - 3 1 6 dieses Buches. Vgl. Gerhard Schuster: Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag. Zu einem unbekannten Brief an Anton Kippenberg. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe. Nr. 80 (24.9. 1982), Beilage Buchhandelsgeschichte 1982/83, S. B97-B114.
121
ten, eine ganze durchgedachte Ideologie zu, für deren Umsetzung ins Leben mir [...] die eigenen Mittel glatt versagen«.12' Sein Programm für die Insel, bei dem es um die positive und negative Selektion vergangener und gegenwärtiger »Kulturstufen«126 im Interesse einer zukünftigen »Gesamtkultur«127 gehe, sei der Ausdruck der »höheren Tendenzen der Nation, jener society in the making«.128 Wie Borchardt im selben Brief mitteilt, ist sein Programm teilweise in die >Denkschrift< eingegangen, die seit dem Spätsommer oder Frühherbst 1907 als Grundlage für die Verhandlungen mit dem Insel-Verleger Anton Kippenberg dient. Obwohl der etwa sechzig Seiten umfassende Text in mehreren Abschriften existiert haben muß, scheint kein Exemplar erhalten zu sein.129 So ist man wieder auf einzelne Hinweise, besonders die Briefe, beschränkt, die zumindest die ungefähren Umrisse und Inhalte des Ganzen erkennen lassen. Klar ist, daß Borchardt im Insel-Verlag zwei umfangreiche Editionsprogramme mittelalterlicher Literatur des 12. bis 14. oder 15. Jahrhunderts130 (>MünsterausgabeEuphorionausgabeBuch Joram< (Mai 1907) hatte Borchardt erklärt, es werde »von der Einbeziehung des echten, nicht des romantischen deutschen Mittelalters in unser aller Erbe abhängen, ob wir als Nation wieder zu Vermögen und Kontinuität gelangen sollen oder nicht«.132 So mußte der >MünsterausI2! 126 127 128 129
130 131 132
122
Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. i o i f . Ebd., S.109. Ebd., S . 1 1 0 . Ebd., S.107. Weder im Nachlaß von Borchardt noch im Archiv des Insel-Verlages ist ein Manuskript oder Typoskript der >Denkschrift< zu finden. Den von Borchardt geforderten Druck verzögerte Kippenberg, bis alle Verhandlungen gescheitert waren. Auch die Pläne der Jahre 1915 und 1922, den Text in einem Band mit mehreren Reden bzw. Denkschriften zu publizieren, kamen nicht zur Ausführung. Vgl. die Verlagsankündigung in der Broschüre >Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr< (Heidelberg 1915) und den Brief an Wolf Przygode vom 20. 5. 1922 (Briefe 1 9 1 4 - 1 9 2 3 , S.429). Vgl. Brief an den Insel-Verlag vom 3. Juli 1909, in: Briefe 1 9 0 7 - 1 9 1 3 , S. 246. Ebd., S.427. Prosa I, S.325.
gabe< die größere Bedeutung zukommen. Gerhard Schuster hat rekonstruiert, daß sie ursprünglich auf mindestens sechzehn Bände angelegt war.' 33 Der im Januar 1908 mit dem Insel-Verlag geschlossene Vertrag, der laut einem späteren Brief immer noch acht Bände vereinbarte, 134 sah für die ersten vier >Höfische Minnesängen, den >Tristan< von Gottfried von Straßburg, den >Meier Helmbrecht< von Wernher dem Gartenaere und die >Ditmarschenchronik< des Neocorus vor. 135 An einer anderen Stelle werden darüber hinaus Wolfram von Eschenbach (>Parzival